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Aide Rehbaum
Sog der Ferne
Aide Rehbaum
Sog der Ferne Hessische Abenteurer, Pioniere und Auswanderer im 18. und 19. Jahrhundert
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Inhaltsverzeichnis Einführung Wissbegierige Abenteurer Ausgelassener Student wird Diplomat — Konstantin Reitz Unter die Hufe eines Büffels gekommen — Wilhelm von Harnier Zwischen Tennisplatz und Kanonen — Der Diplomat Gustav Adolf Schenck zu Schweinsberg Ein Jurist bei „emancipierten Bestien“ — Graf Carl von Schlitz gen. Görtz Im Friesennerz aus Robbendarm auf den Aleuten — Carl Heinrich Mercks Jahre in Sibirien Hessisches Grab in australischer Wüste — Das Leben des Ludwig Becker Botaniker schmuggelt Rinden unter Lebensgefahr — Justus Karl Haßkarl Auf Elefantenrücken durch Indien — Die Gebrüder Schlagintweit Mit allen japanischen Wassern gewaschen — Johann Justus Rein Zwei Jahre lang Strapazen im Eis — Carl Weyprechts Expedition
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Glückssucher Mit Sklavenhändlern auf den Weltmeeren — Der Pfarrer Johann Christian Hoffmann Weltumsegler und Universitätsmamsell — Das Ehepaar Georg Forster und Therese Heyse Russischer Minister aus Hanau — Georg Graf von Cancrin Zweimal Massaua und zurück — Der Frankfurter Eduard Rüppell Vom Veterinär zum Kriegsminister — Otto Philipp Braun aus Kassel Glückliches Asyl in Ägypten — Der Architekt Friedrich Heßemer Wie wird man russischer Topograph? – Johann von Blaramberg Nicht nur ein Papagei trägt seinen Namen — Carl Benjamin H. von Rosenberg
83 89 99 107 115 122 129 138
Heilsbringer und Profiteure Väter des brasilianischen Bergbaus — Wilhelm v. Eschwege und Friedrich Varnhagen Wegbereiter der Industrialisierung in Brasilien — Georg Wilhelm Freyreiß Bekehrung um jeden Preis — Der Missionar Matthäus Gorth Allein seligmachende Wahrheit — Die protestantische Mission rund um den Globus Staatlich geprüfte Koloniallandwirte — Die deutsche Kolonialschule und Ernst Albert Fabarius
145 152 158 165 170
Wegbereiter Abenteurer und Pionier — Hans Staden und Graf Friedrich Kasimirs Kolonie „Hanauisch-Indien“ Weltumsegler, Naturforscher, Landwirt — Georg Heinrich v. Langsdorff Verführung zur Auswanderung nach Brasilien — Julius Friedrich Koehler Gießener unter dichtenden Kannibalen — Ernst Dieffenbach in Neuseeland Kuno Damian Schütz zu Holzhausen und seine Siedler in Peru Heidenmission und Versuchsplantage in Togo — Adam Mischlich Weiße waren für den Kochtopf zu salzig — Reisenotizen von Johann Theodor Kleinschmidt
175 183 192 201 206 212 220
Karrieristen, Soldaten, Unzufriedene Ein Kunstsinniger und ein Offizier — Reiseberichte der Freiherrn Riedesel zu Eisenbach Lieber Förster im Dschungel als arbeitslos — Sir William Schlich
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Das Gegenüber Vom Souvenir zum Kinderschreck – Zur Geschichte afrikanischer Migration nach Hessen
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Nachwort Bildquellen
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Einführung Wo und bei wem liegen die Wurzeln, dass Europa das Traumziel so vieler geworden ist? Sterben in Massen aus ihrer Heimat flüchtende Menschen auf der Suche nach einer neuen, fühlen andere die ihre bedroht und meinen, sie verteidigen zu müssen. Entgegen Assimilierungsansprüchen von außen an der Identität festzuhalten, ist zutiefst menschlich. Jemanden von der Teilhabe auszuschließen, sorgt auf beiden Seiten überall auf der Welt buchstäblich für Sprengstoff. Was trieb die Pioniere an, in Gegenden aufzubrechen, über die nur vage Gerüchte vorlagen? Über die man sich vorher weder informieren, noch auf Karten orientieren und aus denen man erst nach Jahren, wenn überhaupt, zurückkehren würde, ganz zu schweigen von gesundheitlicher Vorsorge? Welche Voraussetzungen musste man mitbringen, um wenigstens zu überleben? Lockte es einige nicht heim? Mangelte es ihnen an Phantasie, um sich die Strapazen vorzustellen? Verschwendeten sie, während sie das exotisch Neue klassifizierten, einen Gedanken daran, was daheim ihr Staunen und ihre Mitbringsel auslösen würden? Wäre die Kolonialisierung ohne den illegalen Export von Schösslingen des Chinchonabaums zu dem Zeitpunkt und Umfang durchführbar gewesen? Spürten die Beobachteten, woher der Wind wehte? War es nicht ein genialer Schachzug, den Kannibalen herauszukehren, um die Fremden abzuschrecken? Vorsichtiger verhielten sich die Sentinelesen auf den Andamanen im Indischen Ozean, die bis heute weitgehend in Ruhe gelassen werden. Denn bitter bezahlt wurde von anderen Völkern die Erkenntnis, dass Geschenke verpflichten. Dass die weißen Eindringlinge, meist ohne es zu durchschauen, zwar in lokalen Konflikten
instrumentalisiert wurden, aber das soziale Gleichgewicht durcheinanderbrachten, wurde den Indigenen zum Verhängnis. Rein zahlenmäßig wären die Kolonisierten überlegen gewesen. Sie hätten sich mit der lokalen Bevölkerung verbünden müssen, anstatt sie als (zwangs-)rekrutierte Schutztruppe (40–50000 Mann stark) brutal zu drangsalieren. Forscher reisten im Auftrag, um im Hinblick auf eine Ansiedlung das Terrain zu sondieren, fragten im besten Falle hinterher im Sinne der Bewohner (Dieffenbach), ob es nicht möglich sei, bei der Kolonisation des Landes derart vorzugehen, dass „der treffliche Menschenschlag seiner Ureinwohner erhalten bliebe“. Für die Sponsoren ist Lord Stanley ein stellvertretendes Paradebeispiel: „Die Eingeborenen müssen sich ihr (der Kolonisation) unterwerfen oder zu Grunde gehen.“ Der Aufbruch der Pioniere geschah aus der europäischen Enge, die unter dem Etikett „gute alte Zeit“ eine Art Schutzraum vorgaukelt. Die heimatliche Basis, zu der man zurückkehrt und die nur Sicherheit vermittelt, wenn sie unverändert bleibt, war einer rasanten Entwicklung unterworfen. Die, die von Afrika als dem Unverfälschten, noch nicht von der Moderne zerstörten Refugium träumten, standen diametral denen entgegen, die Kolonien als unerschöpfliche Rohstofflieferanten verstanden wissen wollten. Auch aus dem Leben der unbekannten hessischen Mitstreiter, die keine Koryphäen der Royal Geographical Society waren, lassen sich allgemeine Schlüsse gewinnen. Die zwischen 1990 und 2010 in der Wochenendbeilage der Gießener Allgemeinen publizierten Lebensbilder wurden aktualisiert. Die Verfasserin, 2019
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Ausgelassener Student wird Diplomat Konstantin Reitz
Konstantin Reitz
Wenige Hessen verschlug es im Laufe der Jahrhunderte nach Afrika.1 Unter den Entdeckern und Forschungsreisenden hat Reitz seinen festen Platz. Konstantin Reitz wurde am 30. März 1817 in Bobenhausen im Vogelsberg geboren, da sein Vater dort drei Jahre vorher Revierförster geworden war.2 Versetzt nach Dieburg 1824, zog er 1829 mit der
Familie nach Eberstadt bei Darmstadt. Aufgrund einer Erkrankung an Gicht musste er auf eine Stelle in Rodheim bei Friedberg verzichten und kehrte stattdessen als Forstinspektor nach Dieburg zurück, wo man ihn inzwischen zum Ehrenbürger ernannt hatte. Ein Jahr seiner Kindheit verbrachte Konstantin bei seinem Onkel3 mütterlicherseits in Leihgestern, besuchte die Volksschule und lernte vom Onkel Grundkenntnisse in Latein.4 Dann wurden alle Brüder acht Jahre lang von Hauslehrern unterrichtet. In einem Brief schreibt Reitz5: „Es gewährte mir von Jugend auf ein unsägliches Vergnügen, die wilden Elemente zu betrachten und an ihrem Anblick mein Herz zu laben, das dann voller dem erhabenen Schöpfer des Weltalls entgegenschlug.“ Dafür bot sich sicherlich bei Wanderungen in Begleitung des Vaters reichlich Gelegenheit. Er befasste sich gern mit humanistischen Studien und muss recht sprachbegabt gewesen sein. Am 12. Februar 1835 immatrikulierte er sich in Gießen als Student der Forstwirtschaft.6 Schnell soll er sich sogar bei Gastrollen an benachbarten Hochschulen einen Namen als ausgezeichneter Fechter mit unverwüstlich guter Laune gemacht haben. Seine ausgelassenen Studentenstreiche im Rahmen der Burschenschaft Hassia (sie gehörte zu den verbotenen Korps, die von Zeit zu Zeit auf
Stammbaumausschnitt Reitz
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staatlichen Druck aufgelöst und heimlich neu gegründet wurden) brachten ihn dauernd in Schwierigkeiten mit den Disziplinarbehörden. Die Vergehen waren: Übertretung der Feierabendstunde, wegen Lügens in einer anderen Disziplinarsache bezüglich eines auf der Ganseburg auf krummen Säbeln vollzogenen Duells (3 Tage Karzer)7, als Duellant bei einem 1835 im Hotel „Englischer Hof“ vorgefallenen Duell (14 Tage Karzer), Übertretung der Karzerordnung (12 Stunden Karzer).8 Als ihm das Stipendium, bestehend aus einem Mittagstisch, entzogen wurde, machte er sich gegenüber dem Stipendiatenephorus noch darüber lustig, indem er das Essen als ungenießbar bezeichnete. Sein Verwandter Roemheld zählt ihn zu den „aufrechten, charaktervollen und freiheitsliebenden jungen Leuten“, die damals Verfolgungen aller Art von den allmächtigen kleinlichen Schreiberseelen und Zopfträgern am grünen Tisch zu erdulden hatten.9 Der Gipfel war aber dann seine Teilnahme an der Beerdigung eines Kommilitonen am 2. August 1836. Roemheld schreibt: „Es scheint, dass die Leichenfeierlichkeiten ausdrücklich nur unter der Bedingung genehmigt worden waren, dass keine Abzeichen getragen würden. Doch die akademische Jugend war der ewigen Bevormundung müde und beschloss, es auf eine Kraftprobe ankommen zu lassen. So wurde denn bei der Beerdigung der ganze studentische Pomp entfaltet, der bei solchen Gelegenheiten üblich war. Nun war die heimliche Vereinigung aufgeflogen und man zog die Teilnehmer zur Verantwortung. Die Hochschule fand Reitz für schuldig, an der Stiftung der verbotenen landsmannschaftlichen Verbindung Hassia teilgenommen, das Amt eines Chargierten bekleidet und entgegen der Vorschrift an der Beerdigung teilgenommen zu haben, obwohl er für die Einhaltung der Verfügung insbesondere verantwortlich war.“ Nach drei Semestern reichte es der Uni, er flog raus. Eine von zahlreichen Anekdoten über ihn zitiert Esselborn: Reitz stellte abends die Lampe ins Fenster, weil er bei der Stipendiatenaufsicht verschleiern wollte, dass er nicht zu Hause war. Als er aus der Kneipe heimkam, stellte er sich auf die Straße und rief laut: „Konstantin, Konstantin. Ochst das Kamel schon wieder bis Mitternacht!“10
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Er ging nach Dieburg zurück und besuchte den Unterricht in Mathematik und Physik11 an der frisch eröffneten Höheren Gewerbeschule, die etliche Jahre später auch der Nordpolarforscher Weyprecht besuchen sollte. In dieser Zeit befreundete er sich mit dem Mundartdichter Ernst E. Niebergall, der offenbar als Hauslehrer bei seinen jüngeren Geschwistern angestellt war und ebenso wie Reitz ohne Studienabschluss und mit Disziplinarverfahren die Universität Gießen verlassen hatte.12 Viermal verweigerte die Forstbehörde Reitz die Zulassung zur Staatsprüfung, da ihm die erforderlichen Nachweise für besuchte Vorlesungen fehlten. Der Vater bestand jedoch auf einem Studienabschluss, so blieb Konstantin nichts anderes übrig als nach Gießen zurückzukehren. Bei diesem letzten Versuch wurde er, weil er „einen rohen Lümmel verprügelt (hatte) und wegen in trunkenem Zustand begangener Exzesse“ zuerst zu zwei Wochen strenger und zwei Wochen einfacher Karzerhaft verurteilt, aber bereits ein halbes Jahr später riss den Beamten endgültig der Geduldsfaden. Wegen in trunkenem Zustand verübten Unfugs verwies man ihn wieder für ein Jahr der Universität und entzog ihm das akademische Bürgerrecht.13 Zwei Monate lang traute er sich nicht, seinem Vater das Desaster zu gestehen. Auf Vaters ausdrücklichen Befehl kehrte er nach Dieburg zurück und half ihm vom Sommer 1840 bis Oktober 1841 im Forst. Freund Niebergall hatte inzwischen sein Studium abgeschlossen und eine Lehrerstelle in Darmstadt angetreten. Im November 1841 siedelte Konstantin nach Grünberg über, um sich dort auf seine Doktorprüfung vorzubereiten.14 Vielleicht wählte er diesen Aufenthaltsort, weil er dort Bekannte hatte, unter Umständen sah er sich nur sicherer vor den Verführungen des Studentenlebens in der „Großstadt“. Dann legte er im August 1842 ohne weiteres Studium und ohne eine Dissertation eingereicht zu haben, seine mündliche Promotion in Gießen ab. Promotionen ohne jeglichen Leistungsnachweis waren um die Mitte des 19. Jahrhunderts an kleinen Universitäten möglich.15 Obwohl er keinerlei Lehrerausbildung besaß, erhielt er eine Stelle am Lautenschlägerschen Institut in Darmstadt als Reallehrer. Er muss ein
Khartum um 1888
tollkühner, abenteuerlustiger und risikofreudiger Geist, offen für alles Neue gewesen sein. Ihn packte die Reiselust, nachdem sein Freund Niebergall überraschend gestorben war. Es ist nicht klar, ob er gekündigt worden war oder ob er nur einen befristeten Vertrag hatte. 1844 reiste er in die Schweiz zu einem Verwandten, dem Anatomieprofessor Wilhelm Vogt. In dessen Garten hatten die Studenten seinerzeit, sicher vor der Verfolgung des Universitätsrichters, die Handhabung von Schläger und Säbel geübt, wie Roemheld begeistert beschreibt. Er war Mitwisser des Frankfurter Attentats von 1833, sein Sohn war ebenso in politische Umtriebe verwickelt gewesen. Hier jedenfalls fand Konstantin Menschen, die einen anderen Maßstab an die innere Freiheit anlegten und sich für Fragen der Naturwissenschaft und Erdkunde aufgeschlossen zeigten. Anscheinend konnte Reitz aus zufälligen Begegnungen nützliche Kontakte machen. So folgte er der Einladung eines reichen Kaufmannes nach Marseille und fuhr auf einem von dessen Schiffen nach Algier. In Algier besuchte er verschiedene deutsche Ansiedlungen, wie er seinem Verwandten Wilhelm Dieffenbach berichtet.16 Ihn interessierte, ob sich das Land für deutsche Auswanderer eig-ne. Die Lebensbedingungen und Aussichten veran-
lassten ihn zu einer Warnung, aber aus privatem Antrieb nutzte er die Gelegenheit für umfangreiche geographische, ethnographische und statistische Studien und ergänzte sie durch eigene Beobachtungen. Damit war die Saat für seine spätere Entwicklung gelegt. Auf der Rückkehr traf er den englischen Konsul in Mailand und vermittelte einen so günstigen Eindruck von sich, dass dieser ihn als Hofmeister für seine Kinder anwarb. Etwa ein Jahr unterrichtete er bald außer den Kindern des Konsuls auch noch andere der gehobenen Gesellschaft und widmete sich eifrig dem Erlernen des Italienischen. 1845 fand er weitere wertvolle Kontakte und Anregungen auf einer Gelehrtenversammlung in Neapel. Um sich intensiver den archäologischen und landschaftlichen Kostbarkeiten der Gegend widmen zu können, beschloss er, sich den Unterhalt dort wieder durch Unterrichtsstunden zu verdienen. Viele gutbetuchte Ausländer verbrachten den Winter in Neapel, so dass an Schülern kein Mangel war. Als sich sein Aufenthalt immer mehr verlängerte, holten ihn hier politische Verhältnisse ein, ähnlich denen, wie er sie in Deutschland hinter sich gelassen hatte. König Ferdinand II. versuchte alle freiheitlichen und politischen Rechte für das Volk zu unterdrücken. Konstantin wurde der Boden unter den Füßen zu
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heiß, nachdem auch junge Leute aus den Familien, mit denen er im Verkehr stand, in der Festung inhaftiert worden waren. Kurzentschlossen packte er sein Bündel und reiste mit zwei im Sommer 1847 gerade in Neapel befindlichen Freunden nach Sizilien und Ägypten.17 In Kairo erhielt er eine Anstellung im Sekretariat des dortigen österreichischen Konsuls. Er bewies hier Umsicht und Tüchtigkeit, offenbar hatte er das geeignete Umfeld endlich gefunden, denn er wurde 1848 zum Archivar und Protokollist des österreichischen Generalkonsulats in Alexandria befördert. Bereits zwei Monate später überließ ihm sein Chef vertretungsweise auch den Posten des Kanzlers mit einem festen Jahresgehalt von 960 Gulden. Außerdem bekam er die Funktion des Kassenwarts der Konsularkassen. Im Herbst des gleichen Jahres vertrat er als Verweser des Generalkonsulats seinen Chef, als dieser auf Reisen war. Er hat sich demnach in rasendem Tempo mit Sprache und Lebensart eines fremden Landes vertraut gemacht und berichtet darüber einem Freund18: „Ich habe mich mit Energie bald in die mir seither gänzlich fremden Geschäfte hineingearbeitet, und du würdest höchlich erstaunt sein, den alten, an ein poetisches, unabhängiges Leben gewöhnten Konstantin jetzt mit Ruhe und Umsicht die vielseitigen Geschäfte erledigen zu sehen. Administration, Justiz, Diplomatik und hundert Gegenstände verschiedener Art besorge ich in italienischer, französischer, deutscher und nach und nach selbst in arabischer Sprache.“ Er berichtet von einem Choleraausbruch in einer Kairoer Vorstadt. „Ich für mein Teil habe keine Furcht und verlasse mich auf mein gutes Glück ... Ich will jedoch für den unvorhergesehenen Fall meines Todes meinen Eltern einige Andeutungen über meinen Vermögenszustand geben, damit meine geringen Habseligkeiten seiner Zeit reklamiert werden können. Du wirst darüber lachen. Übrigens habe ich immer einige hundert Gulden in Reserve, obgleich du mich als sorglosen, nicht an Kleinigkeiten klebenden Lebemann kennst, der generös das verbraucht, was er mit Mühe verdient.“ Reitz lebte in einem kleinen arabischen Haus mit drei Zimmern und einer abessinischen Haushälterin. Außer zu seinem Chef, dem schwedischen Kanzler und einzelnen Arabern blieb ihm nur wenig Zeit für gesellschaftliche Kontakte. Kurze
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sachliche Nachrichten sandte er ab und zu als freier Mitarbeiter zur „Augsburger Allgemeinen Zeitung“, einem an Auslandsreportagen interessierten Blatt. Sein Posten bot wieder Gelegenheit zu Begegnungen: 1849 kamen Alfred Brehm und Freiherr von Müller auf der Fahrt von einer strapaziösen Expedition aus Kordofan zurück. Brehm berichtete, Reitz sei sogleich rege, ihnen alle Unannehmlichkeiten der Ankunft in einer fremden Stadt fernzuhalten, mietete für sie eine Privatwohnung, besorgte Frachtwagen und erwies sich als ein in jeder Hinsicht gefälliger Mann.19 Brehm hatte dann während der Wartezeit auf seinen Reisebegleiter für eine weitere Expedition Zeit zu intensiverer Freundschaft. Neben Jagdbegebenheiten und einem Ausflug mit Eduard Rüppell berichtet er unter anderem von einem Besuch bei einer levantinischen Familie: „Nach Wunsch des Hausherrn sollte Dr. Reitz von zwei erwachsenen Töchtern eine heiraten, aber, wie es in Ägypten auch bei den levantinischen Christen üblich, dafür einen Mahlschatz von tausend Speziestalern entrichten. Die Mädchen waren wunderbar schön und nach Meinung ihres Vaters mehr als tausend Speziestaler wert, doch will uns Europäern selbst in Ägypten die Sitte nicht gefallen, Frauen mit Geld zu kaufen, weshalb diese Heirat unterblieb.“20
Reiseroute von Reitz
Ehe Reitz die Stelle als Vizekonsul des neu errichteten Konsulats in Khartum am 4. Januar 1851 für ein Jahresgehalt von 1500 Gulden, einer Kanzleipauschale von 1000 Gulden sowie den tariflichen Konsulatsgebühren an Stelle des zunächst dafür vorgesehenen Freiherrn von Müller antrat, führten ihn amtliche Verhandlungen nach Wien und eine Mission zum Bundesrat nach Frankfurt a. M. Von dort aus machte er einen Abstecher
nach Dieburg. Zum Dienstantritt erhielt er drei Regierungsbefehle des Vizekönigs: Einer garantierte die Befreiung von jeder Zollkontrolle an der Grenze zu Nubien, er durfte Lasttiere zu Regierungspreisen mieten und für seine Post an das Generalkonsulat von Alexandria die Regierungskuriere nutzen. Der ägyptische Generalgouverneur in Khartum sollte ihm zudem ein Stück Land nach Konstantins Wahl zum Bau eines Wohnhauses mit Garten unentgeltlich abtreten. Reitz erwarb das Haus eines Kaufmanns und richtete es als Konsulatsgebäude ein.
Unterschrift von Reitz auf einem Brief
Seine Freunde Brehm und der Arzt Vierthaler befanden sich derweil in Khartum in finanzieller Bedrängnis, weil der Expeditionssponsor von Müller sie auf dem Trockenen hatte sitzen lassen. Khartum bestand erst seit rund dreißig Jahren und war aus einem Militärlager entstanden, das Mehmed Alis Truppen 1822 oberhalb des Zusammenflusses des Blauen und Weißen Nils aufgeschlagen hatten. Brehm schildert die Stadt in nichts weniger als leuchtenden Farben: Gestank, labyrinthische Gässchen, Hitze, Ungeziefer, Kothaufen und armselige Häuser ohne Fenster bewohnt von einem Völkergemisch und mit einem Bazar ausgestattet, der das reichste Warenlager Zentralafrikas gewesen sein soll. Lazarett und Kaserne schildert von Müller in den „Fliegenden Blättern“ als die Schrecken aller Schrecken, so übelriechend, erstickend dumpfig und schmutzig erscheinen sie ihm.21 Die Europäer schlossen sich in der Fremde einer unwirtlichen, feindselig empfundenen Umwelt zusammen. Brehm ist entsetzt von der Gesellschaft und qualifiziert sie ab als den Abschaum ihrer Nationen, der weder vor Sklavenhandel noch Vielweiberei zurückschrecke.
Und dennoch blüht gerade hier Reitz in seiner Aufgabe auf, hier kann er selbständig arbeiten, alle Talente einbringen, ja Not und Mangel zugunsten eines Ziels auf sich nehmen. Er will den Abstand aufholen, der zu den ebenfalls kurz vorher neu gegründeten Konsulaten von Frankreich und England durch die Pflichtvergessenheit und Hinhaltetaktik Baron v. Müllers entstanden ist. Das Rennen um günstige Absatzmärkte ist in vollem Gange. Reitz muss nun den Verträgen Geltung verschaffen, die das Osmanische Reich mit Europa geschlossen, der Generalgouverneur des Sudan aber bislang ignoriert hatte. Kraftvoll und unermüdlich förderte er die Handelsinteressen im heutigen Äthiopien und lieferte Konsularberichte zu den handelspolitischen Verhältnissen im Sudan und in Äthiopien. Als erstes kämpfte er für die Zollfreiheit der von Innerafrika nach Ägypten verschifften Waren. Danach nahm er sich die Vereinfachung, Beschleunigung und Preissenkung der Warenlieferung aus dem Süden vor. Ins Blickfeld geriet die Karawanenstraße von Kordofan nach Dongola, wo 30000 Zentner Gummi alljährlich befördert wurden. Diesmal konnte er den Generalgouverneur nicht gewinnen. Auf einer nach Süden unternommenen Reise 1851 wollte er an Ort und Stelle die Möglichkeiten der Einflussnahme untersuchen. Der Generalgouverneur war christenfeindlich eingestellt und hintertrieb die Missionierung, als er merkte, dass der Kontakt zu den einheimischen Schwarzen sich besser gestaltete als gedacht. Österreichische Missionare, die zu den Schutzbefohlenen des Konsulats gehörten, waren in Bedrängnis geraten, weil einer von ihnen ohne Erlaubnis den Weißen Fluss befahren hatte. Reitz gelang es bei der Gelegenheit, dem Gouverneur die Vergeblichkeit seiner Intrigen und Machenschaften klar zu machen und seinen Alleinhandelsanspruch zu brechen. Damit verhinderte er wahrscheinlich eine bereits vorbereitete Gefangennahme des Missionars durch eine Handelsexpedition. Trotz der Rührigkeit der Christen war ihnen unter den Bari kein dauerhafter Erfolg beschieden. Der Bericht über die Angelegenheit hat sich nicht erhalten, nur die Absendung lässt sich nachweisen. Im Jahresbericht des Marienvereins wird ein überaus positives Bild von Reitz gezeichnet.22 Wir hören von seltener Gewandtheit im Umgang mit
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den Machthabern und veredelndem Einfluss auf die fremden Handelsleute. „Seine Gegenwart verbürgt den Fremden die vollkommenste Sicherheit und blieb nicht ohne Einfluss auf mildere und gerechtere Anwendung der Regierungsmaßregeln, wo sonst, auch gegen die eigenen Untertanen, mehr die Willkür gewaltet hatte.“ Seine strenge Rechtlichkeit hatte ihm allgemeine Achtung und Zutrauen aller Kreise eingetragen. Nach einem Jahr war die Freiheit des Handels auf dem Weißen Nil realisiert, das Ansehen des Konsulats war fest begründet, so dass die örtlichen Behörden teils aus Furcht, teils aus Achtung Reitz keinen nennenswerten Widerstand mehr entgegensetzten. Am 9. Mai wurde Reitz für seine Verdienste zum Honorarvizekonsul ernannt und der Generalgouverneur wegen seines willkürlichen Benehmens von Kairo aus abgelöst. Die Umtriebigkeit von Reitz fiel noch besonders ins Auge, da sein englischer Kollege das glatte Gegenteil darstellte und – statt einen Antrittsbesuch beim Generalgouverneur zu machen – lieber in Kordofan sei nen Hobbies lebte. Als sowohl der neu ernannte Generalgouverneur als auch der Gouverneur kurz hintereinander starben, entstand eine brisante Situation, denn aufrührerische Räuberstämme bedrohten die Grenzen. Die nach der Beerdigung anwesenden Großen der Vereinigten Königreiche riefen Reitz zu ihrer Versammlung hinzu und baten um seinen Rat. Sein Vorschlag für einen Übergangsregenten wurde einstimmig angenommen. Die österreichische Regierung lobte seine Umsicht und Klugheit, wie er bei allem Eifer Schwierigkeiten zu vermeiden wusste. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass ihm das in die Wiege gelegt worden wäre! Vor Reitz war wohl nachgewiesen worden, dass der Nil ab Khartum schiffbar war, aber es war durch die einunddreißig Katarakte ein gefährliches Unterfangen mit Expeditionscharakter. Reitz wollte es nun beweisen, dass die Fahrt auch mit wertvoller und regelmäßiger Fracht machbar war.23 Deshalb wollte er eine Ladung Tiere für den Tierpark in Schönbrunn auf diesem Weg nach Alexandria bringen. Auf eigene Kosten beschaffte und beförderte er eine Auswahl von zweihundert Stück als Geschenk für den Kaiser, die er sich buchstäblich von Munde absparte. Da er kein Schiff zu mieten fand, musste er auch noch eine Barke kaufen.
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Sie wurde zusätzlich noch mit siebzehn Kisten völkerkundlichen und naturwissenschaftlichen Inhalts beladen.
Kasa Haylu (Tewodros II.), um 1860
Im August 1852 startete er zu der strapaziösen Tour, auf der er sich fast allein um die Tiere kümmern musste, da seine schwarzen Diener sich weigerten. Die Hitze hielt ihn davon ab, nachts noch die mitgenommenen Akten zu studieren.24 Fünfundfünzig Tage braucht der Transport für die Strecke bis Alexandria, von wo die Tiere nach Triest befördert wurden. Reitz kehrte jedoch von Wadi Halfa aus wieder zurück in den Sudan. Lapidar lautet sein Kommentar: „Jetzt, da ich jene Katarakte ... persönlich kennen gelernt habe, muss ich zweifeln, dass ich viele Nachahmer in dieser Schifffahrt finden werde.“ Ein herzlicher Empfang wurde ihm bereitet, der neue Generalgouverneur schien von den besten Absichten erfüllt und sehr an Rat und Ansichten von Reitz interessiert. In den Besprechungen mit den Provinzstatthaltern machte dieser die Vorschläge des Konsuls zum Gegenstand ausführlicher Besprechungen. Um die Statthalter nach Landessitte zu beeindrucken, spielte Reitz auf allen Registern möglicher Prunkentfaltung, von der Galauniform, der Schiffskanone mit einundzwanzig Böllern, Regimentsmusik, Flaggen, Feuerwerk, nicht zu reden von den fünfzig Platten mit Speisen. Kronleuchter hatte er sich aus der koptischen Kirche ausgeliehen. Wie immer nutzte Reitz die Gelegenheit, um Freiheit des Handels und den Schutz der Karawanenwege zu empfehlen.
In zähen Verhandlungen mit einem Araberstamm gelang es Reitz, den Handel mit Elfenbein vom Osten nach Norden umzulenken und erbeutete Zähne künftig über den Geschäftsführer der österreichischen Handelsgesellschaft zu verkaufen. Als nächstes richtete sich sein Blick nach Äthiopien, damals Abessinien genannt. Dieses Land wurde seit langem von mehreren Statthaltern mit einem Kaiser an der Spitze beherrscht. Seit 1769 hatte der Kaiser an Macht verloren und war abgesetzt worden. Ab 1838 herrschte Ali über den mittleren Teil des Landes mit Gondar als Hauptstadt. Seine Rivalen waren Ubie und Kasa. Als Reitz seine Reise antrat, hatte (Ras) Ali seine Ansprüche auf die Oberherrschaft, die ihm von Kasa streitig gemacht wurde, noch nicht aufgegeben. Ras Lij Kasa Haylu wurde 1818/20 in Quara, im Osten des T‘anasees, als Sohn eines Häuptlings aus dem gestürzten salomonischen Herrscherhaus geboren, war früh verwaist und, von habgierigen Verwandten aller Mittel beraubt, in Armut aufgewachsen. Durch seinen Onkel erhielt er eine Erziehung in einem Kloster im T‘anasee, lernte die Psalmen auswendig und legte sich eine gediegene Bildung in äthiopischer Geschichte und Literatur zu. Während kriegerischer Wirren floh er aus dem Kloster und fristete sein Leben als Wegelagerer. Die immer größer werdende Räuberbande, die er um sich scharte, eroberte ihm schließlich die Provinz seines Vaters zurück. Seine Ziele steckte er immer weiter, überfiel die Republik Gallabat und machte reiche Beute, zwang die bisherige Besitzerin der Provinz, ihn als Lehnsherr anzuerkennen. 1845 heiratete er die Tochter Ras Ali II. Reitz berichtet, dass Kasa auch den Sudan angegriffen habe und in einer Schlacht oberhalb Sennar zurückgeschlagen worden sei. Während schwerer regionaler Auseinandersetzungen hatte Kasa Ende 1852 Verbindung zu Konstantin Reitz aufgenommen; ein Brief des Fürsten an Reitz trägt ein Siegel mit der Umschrift: Dagazmac Kasa of Qwara. Reitz musste also sowohl zu Ras Ali II., der sich als letzter Nachfolger des Kaisers fühlte, als auch Kasa und Ubie Beziehungen knüpfen, wenn er etwas erreichen wollte. Die Gelegenheit bot sich ihm, als eine Gesandtschaft Ras Alis II. vom Vizekönig von Ägypten durch Khartum zurückreiste. Ende 1852 brach er in deren Begleitung auf, trennte sich aber in Doka von ihnen und zog mit dem Karawanenführer
Schech Kanfur zu einer Reise ins unerforschte Innere Afrikas los. Abessinien sollte wieder an den seit hundert Jahren durch Bürgerkrieg unterbrochenen Nilhandel angeschlossen und der englische Einfluss geschwächt werden. Dazu wollte Reitz mit den Verantwortlichen vor Ort konferieren. Kasa hatte allmählich die Kontrolle über den Nordwesten Äthiopiens erlangt. Es kam zu weiteren Fühlungnahmen mit Österreich. Sobald sich die politischen Verhältnisse verbesserten, sollten die Handelskontakte durch an der Sache und nicht nur am Profit interessierte österreichische Unternehmer aufgenommen werden. Als Anreiz diente Zollfreiheit, solange der Fürst lebte. Reitz rechnete nicht mit der baldigen Realisierung. „Abyssinien, das täglich mehr in sich selbst verfällt, scheint mir bald an den Punkt anzulangen, wo es ebenfalls in die Gewalt einer an Intelligenz und bürgerlichen Tugenden überlegenen, europäischen Macht fallen wird, und dies muss zu seinem eigenen Vorteil und dem der es unterwerfenden Macht geschehen.“ Gondar ein Städtchen mit 5–6000 Einwohnern, zerfiel in einen mohammedanischen und einen christlichen Teil mit vielen Handwerkern, Fabriken, zweistöckigen Häusern in unglaublich schmutzigen, engen und krummen Gässchen. Die Europäer25 wurden in einem Kasa gehörigen baufälligen Turm untergebracht und erlebten eine Flut von Bittstellern. Selbst ein Fürst, den er seiner Meinung nach bereits reichlich mit Geschenken bedacht hatte, bettelte schamlos um immer mehr. Im Laufe von zehn Tagen erlebte Reitz drei große, durch Mutwilligkeit entfachte, Brände in seiner Nähe. Nachdem Heuglin noch eben einen Leoparden im Nachbarhaus erschoss, der sich während der Nacht dorthin verirrt hatte, brachen sie mit dem abessinischen Dolmetscher Gabriel zum Fürsten Ubie ins Gebirge auf. Die übrige Begleitung blieb zur Bewachung des Gepäcks zurück. Sein Aufenthalt in der Residenz Ubies dauerte fünf Wochen, da der erkrankte Fürst ihn nicht empfangen konnte. Reitz entschloss sich daher, den Grund seines Kommens dem Fürsten schriftlich zu unterbreiten. Der beabsichtigte Handelsvertrag gelang durch Ubies Vermittlung eines gebürtigen Mannheimers, der als Baumeister des Fürsten dort lebte. Auf ein Treffen mit Ali verzichtete Reitz schließlich, da die Kämpfe zwischen ihm und Kasa die Gegend immer
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gefährlicher für Reisende machten. Kasa traf sich noch einmal mit den Reisenden und stellte ihnen Transporttiere zur Verfügung. In seinem Vorbericht über die Verhältnisse zwischen dem Blauen Nil und dem T‘anasee klagt er über seinen einheimischen Reisebegleiter. Dieser prahle mit Raub- und Mordgeschichten, stehle den Einheimischen an manchen Orten die Ziegen und verlange Lösegeld. Reitz schenkte den Bestohlenen das Geld, um skandalöse Szenen zu vermeiden, die durch Lanzenstiche zwischen Kanfurs Leuten und den Tagruris zu eskalieren drohten.26 Als erster gebildeter Reisender gelangte Reitz östlich des Nils nach Habesch als einziger auf dem Karawanenweg zwischen Abuharas und Gondar. Fenzl betrachtet als wesentliches Ergebnis die vollständige Erforschung des Atbara-Stromes von den Quellen bis zur Mündung. Bis dahin hatte man noch den Takazzé für den Hauptstrom gehalten, der sich jetzt als Zufluss herausstellte.27 In seinem sehr knapp gehaltenen Bericht sind seine Erkenntnisse zu gangbaren Waren, deren Preise und Transportkosten zusammengefasst, die Wasserstellen, Namen, Entfernungen und Bodenverhältnisse verzeichnet. Nach Möglichkeit sucht er die Märkte auf und beschreibt, welche Waren dort angeboten oder gesucht werden. „Die Provinz Galabat, die ich in einer Breite von circa 15 Stunden durchreiste, ist sehr reich an Holz,
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Getreide, Baumwolle. Letztere wird in bedeutender Menge, in der jetzigen Jahreszeit beiläufig hundert Kamelladungen in Abyssinien eingeführt, welches dagegen Sklaven, Pferde, Maultiere, Esel, Wachs, Kaffee und Elefantenzähne aus dem Distrikt Wochin liefert. Die abyssinischen Kaufleute lagern unter den prachtvollen Baumgruppen am linken Ufer des Chors bei Metamme. Einem derselben nahm mein Führer, Schech Kanfur, eine 15-jährige abyssinische Christin mit Gewalt ab, die derselbe geraubt hatte und den Mohammedanern als Sklavin zu verkaufen in Begriff stand.“ In Metamme und in der ganzen Provinz Galabat kursierten seit 1780 nur k. u. k. Theresientaler, die extra für den Afrikahandel hergestellt waren, und als Scheidemünze ägyptische Piasterstücke. Die ganze Reisegesellschaft litt unter Ruhr und wurde wegen des dadurch erzwungenen Aufenthalts von der Regenzeit überrascht. Nach etwas über einem Monat erlag Konstantin Reitz am 25. Mai 1853 in Doka dieser Krankheit im Alter von nur 36 Jahren.28 Sein treuer Reisegefährte und Amtsnachfolger Dr. Theodor Heuglin (1824–1876) bestattete ihn in einem Felsengrab. Posthum wurde ihm in Anerkennung seiner Verdienste das Ritterkreuz des Franz-Josef-Ordens verliehen. 1855 wurde Kasa als Tewodros (Theodor II.), Kaiser von Äthiopien (1855–1868).
1 K. Weidmann, Deutsche Männer in Afrika, Lübeck 1894: Außer Semler sind das Christian Pfrank, Kaufmann aus Frankfurt, 1888 in Sansibar; Ottomar Thieme, Pflanzer aus Darmstadt 1891 Tanga; Müller de la Fuente aus Frankfurt 1890–91 in Lewa; Missionare: Georg Heinrich Winiger geb. 1745 in Arolsen, 1774–1783 in Ägypten/ Abessinien; D. Schwinn aus Erbach geb. 1750; J. A. Halter 1821–39 (geb. 1785 Wächtersbach) in Enon; K. Bastian geb. 1863 + 1890 in Kamerun; C. Burkardt geb. 1852 + 1882 Liberia; P. Buss geb. 1851 +1881 Liberia; B. Groh geb. 1861 Westküste seit 1887; J. Menge geb. 1826, Westküste seit 1851 + 1852; A. Mischlich geb. 1864, Westküste seit 1890; K. Schönfeld geb. 1841 Goldküste 1863– 66; K. Walther geb. 1865, Kamerun 1891; O. F. Gutberlet, in Ägypten ab 1861; P. Diehl aus Ehringshausen geb. 1837, 1870–93 in Okahand-ja; M. Dönges aus Wetter bei Marburg, geb. 1832, ab 1854 in Afrika; Esselen aus Hofgeismar, geb. 1817, seit 1841 in Südafrika; C. Wagner, geb 1811 in Waldeck, ab 1841 in Afrika; Karl Herrmann aus Arolsen geb. 15. April 1863, Mitglied der Wissmann-Expedition zur Bekämpfung eines Araberaufstandes, lebte in Dar-es-Salaam; Adolf Schiel, geb. 1857 in Frankfurt, kam 1877 ins Transvaal, wurde 1884 von den Buren zum Anführer im Krieg gegen die Zulus gewählt. Er siegte, handelte einen Waffenstillstand und Waffenbrüderschaft aus. Vereint gegen die Häuptlinge Oham und Usipebu. Emil Pirazzi geb. 3. August 1832 Offenbach schrieb „Vom Main bis an den Nil“, 1856. 2 Nur im Familienarchiv. 3 Nicht beim Großvater, wie Esselborn schreibt. 4 Lateinisch geschriebener Lebenslauf bei den Akten im Universitätsarchiv. 5 Darmstädter Zeitung 1852 (Nr.354, 2016): Brief aus Abu Hammed vom 2. 9. 1852. 6 In den Universitätsakten finden sich sogar die Namen seiner Quartiergeber: SS 1835 und WS 1835/6 Hofgerichtssekretär Bapst, 22 1836 Kaufmann Hensler, WS 1839/40 Kaufmann Zimmer. 7 Urteil des Großherzogl. Hofgerichts der Provinz Oberhessen. Studentische Disziplin und Akademische Gerichtsbarkeit in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Namensregister zu den in den Disziplinargerichtsprotokollen der Universität Gießen aufgeführten Studenten, bearb. Thorsten Dette und Lutz Schneider. Berichte und Arbeiten aus der Universitätsbibliothek und dem Universitätsarchiv Gießen, Bd.48, Gießen 1997; Universitätsarchiv Allg Nr.1297. 8 a. a. O. und Universitätsarchiv Allg Nr.1308. 9 F. Roemheld, Konstantin Reitz. Ein vergessener Vorkämpfer für abendländische Kultur in Afrika. In: Mitteilungen des Österr. Staatsarchivs 12, 1959, 289. 10 K. Esselborn, Aus der Studentenzeit von Constantin Reitz. In: Quartalblätter des Histor. Vereins d. Großherzogtums Hessen NF6, 1920, 391. 11 K. Esselborn schreibt Chemie. 12 Vor Abschluss eines Disziplinarverfahrens durfte keine Prüfung abgelegt werden. Roemheld 293. 13 Er selbst behauptet, weil er ohne Kopfbedeckung durch die Straßen gegangen war. 14 Im Stadtarchiv Grünberg kein Hinweis auf seinen Aufenthalt. Frdl. Mitteilung Friedel Hedrich. 15 Frdl. Mitteilung Thorsten Dette, Archivamtmann und F. Kössler, Verzeichnis der Doktorpromotionen an der Universität Gießen von 1801–1884. Berichte und Arbeiten aus der Universitätsbibliothek Bd.17, Gießen 1970. 16 Didaskalia des Frankfurter Journals 14. und 15. 11. 1844 Nr.315, 316. 17 Dort traf er den Frankfurter Forschungsreisenden Eduard Rüppell. 18 22.7.1848 bei Roemheld, 302 Verbleib unbekannt. 19 Alfred Brehm, Tierleben Bd.1, Hildburghausen 1863–1869, 375. 20 Ders. Bd.2, 233. 21 W. v. Müller, Fliegende Blätter aus meinem Tagebuche, geführt auf einer Reise in Nordost-Afrika in den Jahren 1847, 1848, 1849, Stuttgart 1851, 81. 22 Jahresbericht des Marienvereins Heft 2, 41. 23 W. v. Müller, Fragmentarische Mitteilungen über die in Afrika gemachten Reisen. In: Verhandlg. der Kaiserl. Leopold. Karol. Akademie der Naturforscher Bd.XIV, 2. Abtlg., 1850, 418. 24 Wiener Zeitung vom 22. und 30. 10. 1852. 25 Reitz ist in Begleitung von Heuglin, seinem Stellvertreter, zwölf Dienern, einem Nubier und zunächst Kaspar Krüger. 26 E. Frenzl, Bericht über die von Herrn Dr. Constantin Reitz, k. u. k. österr. Vicekonsul für Innerafrika auf seiner Reise von Chartum nach Gondar in Abyssinien gesammelten Notizen. In: Denkschriften der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Math.-naturw. Klasse Bd.8, 1854. 27 Sitzungsbericht der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Math.-naturw. Klasse Bd.11, 1853, 851. 28 M. Tamcke, Daheim und in der Fremde: Beiträge zur jüngeren Geschichte und Gegenwartslage der orientalischen Christen, 2002, 329.
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Unter die Hufe eines Büffels gekommen Wilhelm von Harnier Die sogenannte Burg in Echzell war mehr als ein Jahrhundert im Besitz der Familie Harnier. Dort hing der Schädel des Büffels, der Wilhelm tödlich verwundete, und andere Jagdtrophäen und Waffen. Als Wilhelm am 9. April 1836 in Darmstadt geboren wurde, bildeten Abstammung, Beziehungen und Vermögen der Familie für den Lebensweg die scheinbar besten Voraussetzungen.1 Sein Großvater war im Juni 1823 überraschend gestorben und Wilhelm von Harnier senior trat seinen Dienst beim Hofgericht in Darmstadt an. Für die Kirchenbehörde konnte er als Assessor mit Sitz und Stimme bei dem Kirchen- und Schulrat beider Deputationen künstlerische Ambitionen mit administrativer Arbeit verbinden, z. B. wirkte er in Seligenstadt und Oppenheim denkmalpflegerisch beim Abbruch und der Wiederherstellung von Kirchenbauten und Grabdenkmälern. Die nächsten Stufen auf der Karriereleiter waren Oberkonsistorialrat und Legationsrat im auswärtigen Department. Beide Elternteile waren an Tuberkulose erkrankt, die nicht mal eine Kur in Südtirol aufhalten konnte. Akribisch notiert er den Gesundheitszustand im Tagebuch. Kurz nach seiner Frau, am 14. August 1838, starb Wilhelm von Harnier an seinem Geburtsort München. Die Kinder wurden bei Vaters Lieblingscousine Marianne Harnier und ihrem Mann Friedrich Ulrich Rivalier von Meysenburg in Kassel aufgenommen, während der Vormund Joseph Freiherr von Münch-Bellinghausen ihr Vermögen sachkundig sicherte. Dieser war 1846/47 in Frankfurt a. M. Diplomat bei der kurhessischen Bundestagsgesellschaft. Die Brüder erhielten nun privaten Vorbereitungsunterricht, Klavier- und Zeichenstunden. 1847 kamen die Brüder gemeinsam auf das Bendersche Institut, eine private höhere Schule in Weinheim. Der Ältere wechselte zwei Jahre später aufs Gymnasium in Karlsruhe, Wilhelm dagegen blieb bis 1852/3. Die Schule betonte die körperliche Ertüchtigung, bot Studien- und Wanderfahrten, Theateraufführungen und Gartenarbeit, Tätigkeiten, die ihn wappnen sollten gegen die Krankheit
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seiner Eltern. Tagebücher zeigen Wilhelms Beobachtungsgabe von Land und Leuten auf Fahrten zur Schwäbischen Alb, zum Harz, in die Schweiz und Norditalien. Wilhelm bemühte sich zudem, als Landschaftszeichner in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.
Wilhelm von Harnier, jun.
Zur Offizierslaufbahn entschloss er sich 1852. Der Sechzehnjährige wurde Kornett im Großherzoglichhessischen Garde-Kavallerie-Regiment ChevauxLegers in der Darmstädter Marienplatzkaserne. Da der Vormund dem elterlichen Schicksal vorbeugen wollte, hatte er auch den Berufswunsch befürwortet. Trotz allem wurde 1854 bei Wilhelm eine beginnende Lungenschwindsucht diagnostiziert und er deshalb – wie im Großherzoglichen Regierungsblatt mitgeteilt – im Leutnantsrang aus dem aktiven Militärdienst ausgeschieden. Wirtschaftlich sorgenfrei unternahm der jugendliche Frührentner unterschiedliche Reisen, zuerst in Kurorte, nach Frankreich und Italien. Aus klimatischen Gründen wurde schließlich ein Aufenthalt in Ägypten geplant. Ein weiterer Grund für die Reise mag
Stammbaumausschnitt Harnier
Eduard Rüppell gewesen sein, der Sohn des Geschäftspartners seines Onkels Louis. Dieser hatte sich während der Arbeit in England ebenfalls einen hartnäckigen Husten geholt und war 1816, eben zweiundzwanzig, zur Gesundung nach Ägypten geschickt worden. Er war zuletzt 1850 von dort zurückgekehrt. Dieser zum Forscher gewordene Kaufmann muss ein prägendes Vorbild für Harnier gewesen sein. In seinen Briefen schildert Wilhelm dem Bruder seine Reiseeindrücke anfangs auf dem Schiff entlang der dalmatinisch-albanischen Küste, Korfu und Alexandria, der Bahnfahrt nach Kairo und des Lebens im Shepherd’s Hotel, das bis heute existiert. Hier nahm er auch noch Aquarellunterricht. Mit dem Schiff ging es weiter nach Assuan, dem nubischen Tempel von Philae und zurück nach Theben. Mit Rullmann, einem Arzt, brach er in den Libanon auf, um der Sommerhitze in Kairo zu entfliehen. Viele Zeichnungen sind der Ertrag der Tour. Im September schloss sich ein Abstecher nach Syrien an. Im Winter war er zurück in Kairo und vergnügte sich auf der Jagd. Innerhalb von drei Monaten erlegte Wilhelm 150 Enten. Zur Regelung von Erbschaftsangelegenheiten, die wegen seiner Volljährigkeit anfielen, kehrte er kurz nach Hessen zurück, aber im Herbst 1858 plante er, auf Rüppells Spuren nach Abessinien zu ziehen. Zwei Monate später erreichte er Khartum. Da er Gondar wegen Aufständen ausfallen las-
sen musste, fuhr er auf dem Blauen Nil bis an die abessinische Grenze und kehrte dann nach Kairo zurück. Ausführlich beschreibt er Flora und Fauna, Bauweise und Einrichtung nubischer Dörfer. Eine reiche Ausbeute naturhistorischer und ethnologischer Gegenstände und eine Sammlung Zeichnungen brachte er mit, sowie die Begeisterung für weitere Unternehmungen. Vom Lungenleiden war er zwar geheilt, dafür hatte er sich Durchfall eingehandelt.
Ein Tukul, Aquarell Harniers 1857
Im Frühjahr 1860 reiste er noch mal nach Deutschland, um die letzten Forschungserträge abzuliefern. Ein Aufsatz erschien in Petermanns Mitteilungen. Damit in Zukunft das Ergebnis professioneller und systematischer zustande käme, ließ er sich vom Leiter der Zoologischen Sammlungen in Darmstadt, Jakob Kaup2, die nötigen Kenntnisse vermitteln. Aus Echzell nahm er sich
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den jagderfahrenen Gärtner Repp mit, ein weiterer Deutscher stieß in Kairo zu ihnen, ein Kaufmann, der auch jagen und präparieren konnte: Erich Wilcke. Ziel waren diesmal die Quellen des Nils, wobei es ihm anscheinend eine Beruhigung war, in noch nie von Deutschen betretenen Landstrichen Gesellschaft zu haben. Gleichzeitig tummelten sich förmlich Franzosen, Engländer und Italiener. Alle wollten die Quelle als erste entdecken.
geholt, zumal die keine Rücksichten auf ihren Glauben nehmen müssen (den Begleitsoldaten war verboten verendetes Wild zu essen). „Am Sumpf angelangt gewahrten wir ringsherum hinter den Büschen und im Gras versteckt Schwarze, welche wie hungrige Wölfe auf Beute lauerten.“3 Manchmal wird das Wild durch ihren Lärm und Geschwätz vertrieben. Nilpferdherden von zwanzig bis dreißig Tieren sind keine Seltenheit. Begeistert schildert Harnier seine Ausflüge in die Wälder westlich des Nils, in denen Ebenholz, Alook, Tamarinden, Platanen, Leberwurstbäume und
Szene in Kairo, Aquarell Harniers 1857
Am 6. Dezember 1860 berichtet Harnier aus Khartum: „Meine Begleitung besteht aus dem Jäger und Präparator Wilcke aus Preußen, dem Jäger und Koch Repp aus Hessen, fünfzehn Dongolanern als Soldaten unter dem Anführer Sater ... Die Schiffsmannschaft besteht aus dem Reis, dem Steuermann und acht Matrosen.“ Zwei Sklavinnen bereiten das Durrahbrot für die ganze Mannschaft, die mit dreißig Musketen ausgerüstet ist. Vierzehn Tage hat er für die Vorbereitungen der Fahrt gebraucht, die neun bis zehn Monate dauern soll. Er brennt vor Begierde zu jagen und zu sammeln. Da südlich von Khartum das Ufer des Nils sehr langsam abfällt, können die Schiffe nicht näher als hundert Schritt heranfahren. So lässt sich Harnier mit seinem Begleiter regelmäßig an Land tragen. Selbst Finken werden geschossen. Manchmal ist eine Präparation nicht möglich, weil zu grober Schrot verschossen wurde und die kleinen Körper unwiederbringlich zerfetzt sind. Aus heutiger Sicht ein sinnloses Herumgeballere. „Nachdem wir sie (die Marabuts) der kostbaren weißen Federn beraubt hatten, wurden sie weggeworfen.“3 Des Öfteren können sie das erlegte Wild nicht wiederfinden oder nicht vor der Dunkelheit transportieren. So verrottet es eben oder wird von den Einheimischen
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Kandelaber-Wolfsmilch wachsen.4 Harnier hatte mit disziplinarischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Da seine Leute vorher nur Sklavenhändlern dienten, kopierten sie deren Verhalten gegenüber der Bevölkerung. Das duldet Harnier nicht. Sein fiebernder Kollege, der auf dem Schiff zurückbleibt, berichtet ihm mehrfach, dass die Besatzung heimlich verabredet, Harnier einfach am Ufer zurückzulassen und nach Norden zu segeln. Er kann es nicht verhindern, dass ein Teil der Mannschaft,
den er zur Regenzeit heimschickt, auf dem Rückweg nach Khartum Uferbewohner versklavt, um sich einen Nebenverdienst zu verschaffen. Eine Expedition von Franzosen, mit der sie mehrfach zusammentreffen, hat denjenigen den Tod angedroht, die Harnier als Träger helfen sollten, weiter in den Süden vorzudringen. Natürlich ist ihnen klar, dass dieser in Khartum von ihrem Verhalten berichten wird. Sie hausen wüst gegenüber den Schwarzen, beschlagnahmen Nahrungsmittel, schlagen und vergewaltigen die Bewohner, zünden ihre Hütten an. Harnier schenken sie für seine Sammlung ein Nilpferdembryo. Die Schwarzen verlassen teilweise ihre Dörfer und warten ab, bis die Rohlinge weg sind. Der Deutsche hat bereits beobachtet, dass die Schwarzen sich wehren und nur angreifen, wenn man ihnen vorher Ursache dazu gegeben hat. Er findet Reste der Bananenpflanzung eines türkischen Kaufmannes, der zwei Jahre zuvor ermordet worden war, nachdem er das Vieh der Nachbarn geraubt hatte, um es dann gegen ihr Elfenbein zurückzutauschen. Dieses Verhalten verschlechtert natürlich nachhaltig die Einstellung der Schwarzen gegen die Eindringlinge und Harnier hat auch darunter zu leiden. Für die Zukunft sieht er voraus, dass sich die angestaute Wut irgendwann entladen wird. In Gondokoró ist es beinahe soweit, denn dort haben die Khartumer Kaufleute die Bewohner vertrieben oder versklavt und ihre leeren Hütten bezogen. Sie erschießen wahllos Ansässige, um deren Elfenbein zu rauben. Der begleitende Missionar Pater Morlang kennt einen der Schwarzen von einem früheren Aufenthalt und erfährt dadurch von einem geplanten Überfall, der einen Viehdiebstahl rächen soll. Rechtzeitig wird er verhindert.5 Andererseits trifft Harnier einen italienischen politischen Flüchtling, der als Elefantenjäger das Fleisch inklusive Haut als Leckerbissen an die Schwarzen verteilt, die sonst von Fisch leben. Der Bericht Harniers erbrachte wohl nichts wissenschaftlich Neues. Sein Reiz besteht im Ton: Detailliert erhalten wir Landschaftsbeschreibungen des Ufersaums, der Berge und ihres Bewuchses. In manchen Dörfern wird nach dem Geschäft getanzt. Da er sich überall meist nur kurz aufhält, sind seine Milieubeschreibungen Momentaufnahmen. So erwähnt er die Frisur der Nuer: „Der Kopf wird 3–4 Zoll dick mit gedürrtem Kuhmist beklebt,
der mit Wasser zu einem Teig angemacht wird, diese Kruste lassen sie einige Zeit darauf, bis die Haare die gewünschte rothe Farbe und die Länge von 5 Zoll und die eigenthümliche Weichheit erlangt haben (ein neues unseren Haarkünstlern anzuempfehlendes Mittel).“ Petermann hebt in dem Vorwort zu Harniers Tagebuch hervor, wie erfreulich die zeichnerischen Fähigkeiten des Autors sind. Eduard Vogel war 1853 an der von Prinz Albert empfohlenen, aber noch nicht ausgereiften Kameratechnik gescheitert.
Bajudasteppe im Sudan, Zeichnung Harniers 1857
„Bei der Abfahrt unseres Schiffes von der Insel, als es schon eine gute Strecke im Fluss war, bemerkten wir an der Stelle, wo wir gelegen hatten, einen Neger, der gerade damit beschäftigt war, sich ein paar Hosen, welche der Steuermann am Ufer hatte liegen lassen, anzuziehen. Er brauchte längere Zeit, bis es ihm gelang, dieses ihm völlig unbekannte Manöver auszuführen, während unsere Leute den Missetäter um die Herausgabe des Kleidungsstückes anriefen. Er bekümmerte sich sehr wenig darum und ließ sich nicht irremachen und entfernte sich höchst zufrieden.“6 Für die Regenzeit baute Harnier mitten unter den Einheimischen mit Hilfe seiner zahlreichen Begleitung ein eigenes Dorf. Zum Bau einer mitunter zweistöckigen Tukul beginnt man mit dem spitzen Strohdach. Das Gerüst aus Ebenholz, dem wegen seiner großen Härte die Termiten nichts anhaben können, verbinden die Männer durch Schlingpflanzen, die Bedeckung machen die Frauen, danach bildet man die Wände aus getrockneten Lehmziegeln. Mehrere Tukul werden in einer Seribah zusammengefasst. Die Helfer mit dem Baumaterial werden durch kupferne Ringe, Durrah und Tabak entlohnt. Glasperlen sind weniger beliebt als große Schmuckfedern und Eisenhacken, die sie aber selber herstellen. Harnier studiert
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Bestattungssitten, Tänze und Wahrsagerei und stellt fest, dass Schmiede die einzigen bekannten Handwerker sind. Die Leute wälzen sich gerne in Asche und nehmen eine graue Farbe (bei den Bor und Kitsch) an, wenn die Asche aus verbranntem Kuhmist besteht. Er findet aber auch rote Asche in für diesen Zweck reservierten Haufen in den Dörfern der Elliah. Wird in seltenen Fällen ein Rind geschlachtet, das sonst als Brautpreis für die Töchter gebraucht wird, dann wird auch die Haut nach dem Abflämmen der Haare mitgegessen und nicht gegerbt. Im März leiden fast alle seine Leute unter Fieber. Am 7. Mai stirbt Wilcke an einem Fieberanfall, am 6. August folgt ihm Repp. Das Klima ist mörderisch, in der Überschwemmungszeit ist man praktisch vom Wasser eingeschlossen, ohne Chance Hilfe zu holen. Wilhelms eigene Gesundheit ist schwer angeschlagen. Jeden halben Tag muss er trotzdem seine Behausung nach
Termiten absuchen, die sonst alles kurz und klein fressen. Dabei helfen ihm geschenkte Hühner, die aber ebenfalls nach und nach verenden. In den Koffern verschimmelt die Wäsche. In den letzten Monaten seines Lebens erlegt er dreißig Büffel. Am 26. August nimmt ihn das erste Schiff, das nach der Überschwemmung wieder nach Süden fährt, zur Missionsstation mit. Dort genießt er es zwar, wieder mit Landsleuten zu reden. Hier ereilt ihn aber sein Schicksal. Ein von ihm angeschossener Büffel greift seinen Diener an. Als er das Tier von seinem Opfer ablenken will, gerät er selbst ins Visier. Missionare finden den toten Jäger nach seinem letzten Schuss bis zur Unkenntlichkeit zerstampft. Sie regeln alle Formalitäten vom Totenschein, der Versteigerung der Expeditionsausrüstung bis zum Rücktransport der wissenschaftlichen und künstlerischen Ausbeute.7
Reiseimpressionen, Lithographien nach Zeichnungen von W. v. Harnier
1 Familie kam im 17. Jh. als Glaubensflüchtling aus dem Wallis (wallonisch?). 2 Derselbe, bei dem auch Rosenberg und Becker lernten. Siehe dort. 3 Wilhelm von Harniers Reise am Nil. In: Petermanns Mitteilungen. Ergänzungsheft 11, 1866; A. v. Harnier (Hrsg.), Wilhelm von Harniers Reise am Oberen Nil 1860–1861, Darmstadt 1866, 30; G. Bott: Wilhelm von Harnier. Darmstadt 1975, 5–10. 4 Kigelia africana wegen seiner Früchte im Deutschen so benannt, Euphorbia cooperi. 5 Harnier 1866, 40. 6 Ders. 46. 7 E. Franz, Vom Kavallerieleutnant zum Afrikaforscher – Wilhelm von Harnier. In: K. Schleucher (Hrsg.) Darmstädter draußen. Ihr Leben im Ausland. Zum 650-jährigen Stadtjubiläum Darmstadts (1330–1980), Darmstadt 1980, 296ff. Tagebücher, Briefe, Skizzenbücher, Zeichnungen und Aquarelle von seinen Reisen in Ägypten und im Libanon, im Sudan und zu den Nilquellen befinden sich im Hess. Staatsarchiv Darmstadt; Briefe publiziert bei: Samuel Thomas Soemmerring. Briefwechsel November 1792– April 1805, Basel 2001 (= Samuel Thomas Soemmerring. Werke, Bd.20).
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Zwischen Tennisplatz und Kanonen Der Diplomat Gustav Adolf Schenck zu Schweinsberg Fulda, verschiedene Deutschordenskomture und einen Johanniterkomtur zu Basel und Rheinfelden oder wählten den Militärdienst. Neben ihnen war ein preußischer Diplomat vergleichsweise unbedeutend.
Großvater Ferdinand Schenck zu Schweinsberg, Lithographie 1830
Die Geschichte der Familie Schenck zu Schweinsberg, die seit 1532 zur Althessischen Ritterschaft gehörte, ist eng mit den politischen, militärischen und religiösen Auseinandersetzungen der regionalen Territorialfürsten verbunden. Über Jahrhunderte war das Zentrum der Sippe der trotz Stadtrechten bäuerliche Ort Schweinsberg. Die Besitzungen der Familie lagen in Oberhessen. Die heute noch blühenden Linien Schweinsberg und Hermannstein reichen bis ins 12. Jahrhundert zu Guntram Vogt, dem Erbauer der Burg Schweinsberg und zeitweise Amtmann zu Grünberg, zurück.1 Das erbliche Ehrenamt „Erbschenk in Hessen“ hat den hessischen Kurstaat überdauert und bis 1918 als preußisches Erbamt in Kurhessen fortbestanden. Der jeweilige Familienälteste führt noch heute den traditionellen Titel. Seit der Reformation ist die Familie überwiegend evangelisch, doch sind zwei prominente Mitglieder der Hermannsteiner Linie in ihrer Jugend wieder katholisch geworden. Etliche Angehörige der Familie waren landgräflich hessische und erzbischöflich mainzische Räte und Amtleute, stellten Domherren zu Mainz, zu Wetzlar und Worms, mehrere Fürstäbte zu
Gustav Adolf Schenck zu Schweinsberg
Gustav Adolf gen. Gustolf wurde als Sohn des Carl Schenck zu Schweinsberg und der Charlotte geb. Jungk am 24. März 1843 in der Försterei Sterbfritz geboren. Sein Vater war der dritte Sohn des Justizministers der ersten Regierung unter der Verfassung von 1831 in Kurhessen Ferdinand Schenck zu Schweinsberg. Während es Carl nur zum Schmalkaldischen Forstmeister brachte, leitete sein jüngerer Bruder Wilhelm 1848 das kurhessische Außenministerium. Die Verhältnisse des späteren Freiherrn scheinen eher bescheiden gewesen zu sein. Gustolfs Voraussetzungen verschlechterten sich mit dem Tod der Mutter, als der Junge zehn Jahre alt war. Mit neunzehn war er Vollwaise.2 Er besuchte die Schule in Weinheim an der Bergstraße. Dort stand auch das Erlernen eines Handwerks im Lehrplan. Gustolf lernte Tischlern. Nach dem Abitur studierte er Jura in Marburg und Göttingen. Nach einem Jahr als Assessor in Kassel trat er 1874 in den Dienst des Auswärtigen Amtes.
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abreißen und durch eine neue ersetzen. 1883 zählte man über 100000 Einwohner. Damit wurde Teheran zur größten Stadt Persiens, besaß aber weder Kanalisation noch Wasserleitung und nur wenige gepflasterte Straßen.
Teheran 1854
Nāser ad-Din Schah circa 1870
Diese Anstellung verlangte mehr Investitionen als es Einkünfte brachte, er verdiente sich die Mittel dafür durch Nachhilfestunden und war stolz, seine Karriere aus eigener Kraft ohne Beziehungen geschafft zu haben. Die adlige Abstammung allein beschleunigte sein Fortkommen, denn Bismarck begünstigte junge, sprachgewandte Adlige aus den für Preußen neugewonnenen Provinzen, weil sie von Hause aus den nötigen Schliff im Umgang mitbrachten. Nach zwei Jahren im Innendienst kam Gustolf als Legationssekretär nach Peking, 1880 als Legationsrat nach Madrid und 1881 wurde er Ministerresident in Santiago de Chile. Südamerika unterhielt Handelsbeziehungen, aber kaum politische Kontakte mit Deutschland, die Stellen hatten eher geringe Wichtigkeit. In Chile hätte er sich zwar auch um die deutsche Schule in Valparaiso kümmern können, doch Bismarck stand auf dem Standpunkt, dass die Auslandsdeutschen keine Deutschen mehr seien und das Auswärtige Amt für sie nicht zuständig. Seine nächste Station war Persien, wo Nāser al-Dīn Schah seit 1831 regierte. Der vergrößerte während seiner Regierungszeit das ursprüngliche Stadtgebiet Teherans um das Fünffache, ließ die alte Stadtmauer aus Lehm
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Die Babi-Bewegung (Baha’i) und die mit ihrer Niederschlagung verbundene Gewalt zeigten freilich an, dass das Land in Gärung begriffen war. Unter Nasreddins Vorgängern hatte sich Napoleon um die Freundschaft Persiens bemüht und 1807 eine Botschaft in Paris eingerichtet. Seine Unterstützung im Kampf gegen Russland mit der Entsendung von Technikern und Offizieren blieb ergebnislos. 1809 wurden diese Kontakte widerrufen und stattdessen England mit einer Botschaft versorgt. Versuchte Russland sich nach Süden auszudehnen, legte sich nun England ins Zeug, verlangten die Engländer Vorrechte, trat Russland als Beschützer auf. Obwohl traditionsgemäß ein Schah sein Land nicht verlassen durfte, reiste Nasreddin auf Druck des Großwesirs selbst in den Westen.3 Er sollte sich das „Reich Bismarcks“ als Beispiel ansehen, um sich zu informieren, wie andere Regierungen Fortschritte bewirkten. Eine Folge waren mehr Gesandtschaften am Hof von Teheran. Von der drei Monate dauernden ersten Reise 1873 gibt es ein mageres Reisetagebuch, das möglicherweise in seinem Umkreis verfasst wurde.4 Es enthält geographische Beschreibungen und Ereignisberichte, aber kaum persönliche Kommentare. Eine fiktionale Version spielt dagegen mit erfundenen Authentitätsbeweisen und wird immer wieder aufgelegt.5 Die Route führte per Eisenbahn von Russland nach Berlin, Wiesbaden, London, Paris, Genf, Mailand, Turin und Wien. Der Schah
Bazar von Teheran, 1873
besuchte die Weltausstellung, worüber Akten im Haus-, Hof- und Staatsarchiv sowie viele Journale der Zeit Aufschluss geben. Der Besuch war von langer Hand vom neuerdings etablierten österreichischen Gesandten auf Wunsch Kaiser Franz Josefs geplant und wurde eine Publikumsattraktion. Der Unterhalt des persischen Trosses soll 10000 Gulden verschlungen haben.6 Darüber hinaus blieben viele Händler auf unbezahlten Rechnungen sitzen. Die Erscheinung des Schahs überwältigte: „(Er trug) zu beiden Seiten der Brust, am Gürtel und am Krummsäbel mit großen Diamanten und Edelsteinen besetzte, vom Golde strotzende, persische Nationalkleidung.“ Im Gegensatz zum üblichen Brauch hatte sich der Schah auf die Mitnahme von drei Ehefrauen beschränkt, schickte sie aber von Russland aus nach Hause, da es zu viele Schwierigkeiten mit der Etikette gegeben hatte.7 Es schien ihm weit simpler, befristete Ehen dort einzugehen, wo man sich längere Zeit aufhielt. Die Kinder wurden den aus festen ehelichen Beziehungen entstandenen gleichgestellt. In Tattendorf in der Nähe von Laxenburg, wo man den Staatsgast untergebracht hatte, war noch hundert Jahre später ein offenes Geheimnis, dass dort „Nachkommen“ des persischen Schahs lebten, deren Großmütter mit
kleinen Weingütern abgefunden worden sein sollen.8 Die „Spenersche Zeitung“, das „Freie Blatt“, die „Schlesische Zeitung“ überschlugen sich im Ausbreiten von Anekdoten, die die „Rückständigkeit“ der Gäste genüsslich ausbreiteten, sei es die Sitte, auf dem Boden hockend zu essen oder die Behandlung der Frauen. „Im Kaiserpavillon wird der Schah während einer Begrüßungsansprache, die er nicht verstehe, höchst ungeduldig und, da er spucken will, öffnet er das Fenster und spuckt mit größter Seelenruhe auf die rund um den Pavillon versammelte glänzende Gesellschaft.“ Immerhin vergaß er sich anscheinend nicht so weit wie ein deutscher „Prinz“ bei der Expo 2000 in Hannover.9 Der Schah dürfte von der Berichterstattung Kenntnis erlangt haben, denn es soll seine Angewohnheit gewesen sein, sich speziell Berichte, die Persien betrafen, aus ausländischen Zeitungen vorlesen zu lassen. Außer vielen Manövern, die ihm zu Ehren veranstaltet wurden, kam es in Berlin auch zu einer Feuerwehrübung vor dem Schloss. Die „Spenersche Zeitung“ schrieb am 5. Juni 1873: „Erwähnen wir zum Schluss unseres Resumé noch des fast drolligen, immerhin aber charakteristischen Gerüchts, dass Nassr-Edin, der in seiner Eigenschaft als Schah von Persien dem Papst die Herrschaft der Welt streitig macht,
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beim Abschied zu dem Czaren geäußert habe, er hätte ihn bisher nur als seinen Vasallen betrachten können, infolge des ihm zu Theil gewordenen großartigen und herzlichen Empfangs sähe er sich jedoch aus Dankbarkeit nunmehr veranlaßt, seinem kaiserlichen Wirthe – Rußland zu schenken. Hoffen wir, daß auch unser Abhängigkeitsverhältnis von dem Herren der Welt auf ähnlich coulante und unblutige Art gelöst werden möge, ganz abstrahirt von den Hühnern und Widdern, mit deren Blut die Schwellen der fürstlichen Wohnung auch bei uns besprengt worden sind.“ Nach der Reise wurde der Großwesir entlassen und der Reformwille ließ nach. Beeindruckt von Dampfmaschinen und Eisenbahnen, beauftragte der Schah jedoch belgische Ingenieure mit dem Bau der ersten acht Kilometer langen Eisenbahnstrecke von Teheran nach Rey. Ein aus Kassel stammender eingebürgerter Engländer richtete dem Schah den Telegraphen ein. Es war der Sohn des Gründers der Nachrichtenagenteur Reuters Paul Julius Freiherr von Reuter, journalistisch-industrieller Unternehmer (1816–1899). Fasziniert vom gerade erfundenen Telegraphen hatten den Vater die Ereignisse von 1848 auf die Idee gebracht, die neue Technik für die Weltpresse zu nutzen. Sein Sohn Herbert baute in Ostindien und China das telegraphische Netz mit Hilfe von Siemens aus, führte z. B. einen Courierdienst von Peking zum Handelsmittelpunkte Kiachta ein. 1872 bewilligte ihm der Schah von Persien das ausschließliche Recht, Eisenbahnen zu bauen, die Zollpacht und die Controlle der natürlichen Hilfsquellen des Landes. Zusätzlich zum Einstandspreis verlangte er 25 Prozent vom Profit für sich, um seinen Luxus zu bezahlen. Aufgrund von Protesten der einheimischen Wirtschaft musste der Schah einen Rückzieher machen und tröstete den Baron mit der Erlaubnis, die Persische Bank ins Leben zu rufen, mit dem alleinigen Recht Geld zu drucken.10 Bei der Entwicklung des Zollsystems half Belgien, bei der Modernisierung des Postwesens Österreich. Russland leistete militärische Unterstützung. Die Regierungsreformen hatten eher experimentellen Charakter. Die Bildungsreform, die Reform des Militär- und Steuerwesens, die Industrialisierung blieben auf der Strecke. Da Nasreddin anscheinend die rivalisierenden Länder England und Russland gegeneinander auszuspielen verstand, erhielt er
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dem Land zwar die Unabhängigkeit, nutzte sie aber nur zur eigenen Machterhaltung, statt zur Entwicklung des Landes.11 Sein Herrschaftsmonopol reichte kaum über Teheran hinaus zu den dreiundzwanzig Provinzgouverneuren, um sich über Stammesrivalitäten durchzusetzen, zumal wegen fehlender Infrastruktur eine Kommunikation kaum möglich war, kein einfaches Feld für einen ausländischen Diplomaten von Schencks zögerlicher Art. Von der zweiten Reise des Schah 1878 ist noch weniger überliefert. Wien stand jedoch wieder auf dem Programm. Der 1875 eingerichtete Kronrat wurde einige Jahre nach der zweiten Reise wieder aufgelöst. In den folgenden drei Jahren bildete eine österreichische Elitetruppe persische Offiziere und Soldaten aus. Die dritte Reise dauerte 1889 sechs Monate und zwölf Tage und führte von Frankreich, Holland, Belgien und Deutschland nach Großbritannien. In England wurde er sehr kühl empfangen und von seinem Gefolge getrennt, in Russland konnte er sich frei bewegen. Auf der Rückreise besuchte der Schah BadenBaden und nächtigte wie viele berühmte Häupter im heute noch florierenden „Brenner’s Park-Hotel“. Aus der Hotelchronik geht hervor, dass sich der König der Könige gegenüber den Hotelmitarbeitern immer sehr zurückhaltend verhielt.12 Hier legte der Großwesir seine Abrechnung vor. Obwohl der Schah überall eingeladen gewesen war, verschlang die Reise mindestens 160000 Tuman.13 Der bekannte Minister Amir Kabir plädierte für eine Öffnung des Landes. Gleichzeitig wurde Persien immer mehr das Objekt vor allem britischer, später auch russischer Interessen. Der britische Konsul in Buschehr stieg bald zur einflussreichsten Persönlichkeit auf. Wegen chronischen Geldmangels vergab der Schah Konzessionen an Ausländer, stieß jedoch zum ersten Mal bei den Tabakbauern auf heftigen Widerstand, als er die Tabakkonzession an den Engländer Talbot verschachern wollte. Für eine Zahlung von 15000 Pfund Sterling jährlich und ein Viertel des Reingewinns in die Privatkasse des Schahs hätte dieser fünfzig Jahre lang den Tabakhandel kontrolliert. Die Bauern sollten ihre gesamte Tabakernte an das britische Unternehmen verkaufen, das heißt die vorher unabhängigen Bauern wurden plötzlich zu Landarbeitern einer
Krupps Kanone auf der Pariser Weltausstellung 1867
britischen Firma degradiert. Mullahs riefen deshalb eine „Tabakfatwa“ aus und die Perser rauchten nicht mehr. Talbot und der Schah scheiterten mit ihren Plänen. Aus Protest steckten zahlreiche Tabakbauern ihre Ernte in Brand, statt sie abzuliefern. Auch die Händler begannen den von ihnen gelagerten Tabak zu verbrennen, um einer Beschlagnahmung zuvor zu kommen. Sogar die Frauen von Naser al-Din Schah sollen das Wasserpfeiferauchen eingestellt haben. Die Männer begannen sich zu bewaffnen, machten ihr Testament und hielten ihre Frauen an, Lebensmittelvorräte anzulegen. Die ausländischen Botschaften fragten bei der Regierung um verstärkten Schutz an. Am 27. Dezember 1891 kam es zu einem Volksaufstand, den Schenck miterlebt haben muss. Yahya Dolatabadi berichtet: „Nahezu alle Geistlichen versammelten sich im Haus von Mirza Schirazi, der Basar wurde geschlossen und die Volksmassen zogen zunächst zum Haus von Mirza Schirazi und später zum Palast von Naser alDin Schah. Dort setzten sie die Minister fest und verprügelten diejenigen, die die Entscheidung des Schahs verteidigten. Der Kronprinz Kamran Mirza redete auf die Menge ein, um sie zu beruhigen, hatte jedoch keinen Erfolg. Die Menge drang in den Palast ein. Daraufhin gab Kamran Mirza den beistehenden Wachen den Befehl, in die Menge
zu schießen. Mehrere Demonstranten wurden tödlich getroffen. Die Menge hob die Toten auf und zog mit ihnen zum Haus von Mullah Ashianti.“ Der Schah musste nachgeben und den Briten für das geplatzte Geschäft 500000 Pfund Entschädigung bezahlen. Historiker halten diese Revolte für den Anfang vom Ende seiner Herrschaft. Am 23. Mai 1893 schrieb I’timad as-Saltana in sein Tagebuch, seit acht Monaten heiße es in den ausländischen Vertretungen, der Schah sei verrückt geworden. Dabei zitiere man eine Mitteilung des Wesirs Amin as-Sultan, der Herrscher wünsche sich, dass alle außer Aziz as-Sultan mit seinen Dienerinnen und den Haustieren zu Stein werden sollten. Ein Attentäter erschoss 1896 Schah Nasir beim Besuch eines Heiligtums. Der Premierminister lud sich den Herrscher auf und fuhr mit ihm im Wagen nach Teheran zurück. Auf dem Weg winkte der Minister mit dem Arm des Verstorbenen aus der Kutsche heraus, um den Anschlag so lange zu vertuschen, bis die Nachfolge geregelt war. Der Gesandtenposten des Deutschen Reichs in Peking, zu dem Schenck 1893–1896 versetzt wurde, schien ein ruhiger Schreibtisch, obwohl sich Schenck hier mit seinem Vorgänger von Brandt, dem besten Chinakenner, messen lassen musste. Im Juli 1894 erbat China Vermittlung im Konflikt mit Japan. Am 14. Oktober 1894 schrieb von Marschall
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an Schenck: „Unter dem 7. d. Mts. hat der hiesige englische Botschafter im Auftrage seiner Regierung schriftlich angeregt, in dem chinesisch-japanischen Kriege zu intervenieren. Grundlage der Intervention sollte die Unabhängigkeit Koreas, die von den fremden Mächten zu garantieren wäre, und einer von China zu zahlende Kriegsentschädigung sein. Eine identische Aufforderung war an die Kabinette von St. Petersburg, Paris, Rom und Washington ergangen ... Es wird mir von Interesse sein, zu erfahren, welchen Eindruck dort (in China) die englische Demarche … gemacht hat.“ Zunächst zeigten die Deutschen kein Interesse, dann keimte jedoch Sorge, gegenüber Frankreich, England und Russland ins Hintertreffen zu geraten. Erst im März des nächsten Jahres telegraphierte Schenck: „Namens der chinesischen Regierung bittet Li-Hung-Chang um vertrauliche Verwendung in Japan für maßvolle Friedensbedingungen. Im Hinblick auf Li-Hung-Changs erprobte Freundschaft versprach ich, seine Bitte Eurer Durchlaucht zu unterbreiten.“14 Die Ablehnung chinesischen Vermittlungsersuchens sollte die Japanern dahin bringen, die Deutschen rechtzeitig zu informieren, falls die Großmächte chinesisches Gebiet oder andere Vorteile erhalten würden. Ein deutlicher geäußerter Wunsch hätte Misstrauen bei den andern Europäern erweckt. Der Kaiser selbst befürchtete, Deutschland könne leer ausgehen, im Falle dass Japan chinesisches Gebiet verteilen sollte. Schenck befürwortete: „… wenn auch Deutschland die Gelegenheit zum Erwerb eines Stützpunktes für seine bedeutenden Handelsinteressen in Ostasien ausnützen könnte.“ In einem Telegramm vom 23. November 1894 schlug er Kiautschou, die Pescadores-Inseln oder Formosa vor.15 Der Prinz Kung hielt ihn bezüglich einer Überlassung eines Platzes für eine Kohlestation lange hin „bei aller Freundschaft, die man für Deutschland hege, sei es doch unmöglich in Verhandlung zu treten.“ 1750 hatten Handelsbeziehungen zwischen deutschen Staaten und China begonnen. als ein Amsterdamer Kaufmann den Auftrag erhielt, die „Königlich Preußische Asiatische HandlungsCompagnie von Emden auf China“ zu gründen. Die Zahl der Schiffe, die Tee, Seide und Porzellan im Tausch mit Wolltuch transportierten, blieb jedoch überschaubar.16 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreichten die Beziehungen eine
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neue Qualität, die das Reich der Mitte politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich und militärisch mehr beeinflusste als umgekehrt. Im Jahre 1861 schloss das widerstrebende China mit den zu den fernen „Barbaren“ zählenden Deutschen auf Drängen der Engländer und Franzosen einen Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag, demzufolge Preußen in die Reihe der anderen westlichen Großmächte aufrückte. Diese tummelten sich in dem Riesenland, das sich nach der Niederlage im Zweiten Opiumkrieg17 und dem Taiping(Bauern)-Aufstand18 innen wie außen in einer Existenzkrise befand. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts hatte die Waffenentwicklung in China stagniert. Die inkompetente und verantwortungslose Regierung wie der korrupte und unbewegliche Beamtenapparat bremsten jeden Reformversuch. Nun wuchs eine Bewegung, die sich an westlichen Vorbildern orientierte und in chinesisch-deutschen Rüstungsgeschäften kulminierte. Entscheidungsträger dieser Bewegung hingen der Überzeugung an, die chinesische Kultur stünde auf einer geistig höheren Entwicklungsstufe als die westliche. Die westliche Wissenschaft eigne sich lediglich für den praktischen Gebrauch. Wenn China nicht zu einer Kolonie herabsinken wolle, müsse es sich moderne Waffentechnik aneignen. Erste Hoffnungen bezüglich einer Niederlassung hatte die „Augsburger Allgemeine Zeitung“ 1843 geäußert, doch die Politiker waren skeptisch geblieben und wollten sich damit begnügen, aus den Vorstößen Englands Nutzen zu ziehen und Konsulate zu errichten. Der überwiegende Teil des deutschen Handels lief über London. Die im Ersten Opiumkrieg unsystematisch gekauften Waffen hatten reinen Statuscharakter für die Offiziere.19 Die Versuche der eigenen Herstellung mit unmodernen Maschinen überzeugten nicht, die Werften für Kriegsschiffe blieben klein. Den einheimischen Ingenieuren fehlte das Know-how für den Nachbau westlicher Technik. Das passte den expansiven deutschen Produzenten wie Krupp, Gruson, Vulcan, Bochumer Verein, Mauser genau ins Konzept. Da auch die Rohstoffe importiert werden mussten, lagen die Preise höher als bei den importierten Fertigwaren. Die Westmächte unterstützten die chinesische Regierung, indem sie Militärberater
Schantung und das Kiautschou-Gebiet 1912
entsandten, Waffen verkauften und an Kampfeinsätzen gegen die Taiping teilnahmen. Sie wetteiferten untereinander um die Zahl an Beratern, während China im Bewusstsein der wachsenden gefährlichen Abhängigkeit die Konkurrenzsituation der Europäer für sich nutzen wollte. Im März 1861 traf eine preußische Expedition mit vier Schiffen unter Friedrich Graf zu Eulenburg in China ein, um Handelsverträge abzuschließen. Nach dem Vertrag von 1861 umfasste das Handelsaufkommen Nadeln, Tuche, Streichhölzer, Luxusartikel und Feinmechanik gegen Gewürze, Seide und Tabak. Chinesische Delegationen besuchten Krupp in Essen. Mit dem Nachzügler des Kolonialismus hatte China im Gegensatz zu den anderen Europäern noch keine Interessenkonflikte zu bewältigen gehabt. Die Deutschen galten deshalb als friedfertig und als Gegengewicht zu den aggressiven europäischen Mächten. „Die Deutschen sind anderer Natur als die übrigen Europäer, achten China und planen keine Intrigen, weswegen man ihnen nicht mit der sonst gebotenen Vorsicht zu begegnen brauche.“20 Besonders Krupps Hinterladergeschütze aus Gussstahl und das Dreysesche Zündnadelgewehr hatten es den chinesischen Besuchern angetan. Eine bessere Werbung als die Siege über Österreich 1866 und über Frankreich 1871 hätte sich Krupp
nicht wünschen können. Ergebnis war die erste Waffenbestellung im selben Jahr, der die Bestückung etlicher chinesischer Küstenbefestigungen mit Kruppkanonen folgten, so dass der irische ZollGeneralinspekteur Robert Hart 1875 beklagte, dass man in Tianjin und anderen chinesischen Städten Befestigungen aus dem Boden stampfe und von den Beamten ständig das Wort „Krupp“ höre.21 Der Kauf von Artillerie und Eisenbahnen galt als „Zivilisierung“.22 Als Krupp wegen zweifelhafter Geschäftspraktiken und Preiserhöhungen in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre in eine Krise geriet, standen andere deutsche Wettbewerber schon in den Startlöchern. Darunter fand sich sogar der preußische Staat, der noch brauchbares, aber technisch überholtes Kriegsgerät unter Vermittlung von Handelsfirmen, Zwischenhändlern und Gesandten an chinesische Provinzgouverneure diskret loswerden wollte. Der chinesische Gesandte in Berlin Hung brachte lebhaftes Interesse an Krupp in Essen und Vulcan in Stettin zum Ausdruck.23 In den 90er Jahren erfuhr die Vulcan-Werft, dass die chinesische Flotte durch zwei Kreuzer verstärkt werden sollte. Die Firma bat das Auswärtige Amt um Hilfe bei der Auftragserteilung.24 Krupps Vertreter in China berichtete dem Gesandten Schenck zu Schweinsberg, in dessen Gesandtschaft sie auch nächtigten, der Vizekönig werde durch Fürsprecher
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der englischen Konkurrenz unschlüssig gemacht. Dem Vertreter Vulcans, Mandl, versprach der Gesandte, sich für das Unternehmen einzusetzen25: „Den Prinzen Ching … hoffe ich bald zu sehen und werde dann nicht ermangeln die guten Dienste, welche der „Vulcan“ bisher der chinesischen Regierung geleistet, wieder in Erinnerung zu bringen.“ Bei einem Diner, das ihm Ching zwei Wochen später im Tsungli Jemen gab, konnte er diese Absicht verwirklichen, ohne aber mehr als die unverbindliche Zustimmung seines Gastgebers zu erhalten.26 Der neue, in derlei Dingen wohl wenig geübte deutsche Gesandte hatte die Lage verkannt.27 Die Flotte erhielt zuletzt nur je zwei Torpedoboote von Vulkan und zwei von Schichau. Schenck berichtete auch vom Eisenbahnbau, der wegen der Feierlichkeiten zum 60. Geburtstag der Kaiserin in finanziellen Problemen steckte und sich durch eine Anleihe Entlastung versprach.28 Seine Proteste gegen das Bauverbot von großen Petroleumbehältern in Shanghai durch die Firma Arnhold Karberg & Co. machten keinen Eindruck. Erst als sich die Firma darüber hinwegsetzte, gab die chinesische Regierung schließlich nach. Das Auswärtige Amt durchschaute, dass die deutsche Industrie kein Interesse hatte, sich ausländische Konkurrenz heranzuziehen. Stattdessen lag es im Interesse Europas, die industrielle Entwicklung Chinas möglichst zu behindern.29 War der Fortschritt jedoch unvermeidlich, wollte sie zumindest mit Einrichtung und Maschinen ihren Profit machen. Kolonien hielt man für das beste Mittel, die Wirtschaft im Mutterland zu unterstützen. Kaiser Wilhelms Ziel, das Eulenburgs zweites Anliegen war, eine ständige Gesandtschaft bzw. einen Flottenstützpunkt einzurichten, lehnten die Chinesen ab. Daraufhin schloss sich das Deutsche Reich mit Russland und Frankreich zum Ostasiatischen Dreibund zusammen. Die Flotte sollte im Frieden den deutschen Interessen Nachdruck verleihen und im Krieg die deutschen Handelswege schützen bzw. die gegnerischen stören. Darüberhinaus sollte eine chinesische Kolonie auch für die deutsche Flotte im Reich Reklame machen und mit den finanziellen Belastungen versöhnen. Freiherr Schenck zu Schweinsberg handelte sehr zurückhaltend und ließ die zaghaften Anweisungen des Auswärtigen Amtes ruhen. Selbst nach chinesischem Urteil betrieb er seine Anregungen „in etwas zarter
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Art“. So verpasste er den rechten Moment und geriet in die Rolle des Sündenbocks, zumal er sich in Holstein30 bereits einen Feind gemacht hatte. Kiautschou wurde von Anfang an dem Konzept einer Musterkolonie unterworfen: Alle Einrichtungen, die Verwaltung, die Nutzung und dergleichen mehr sollten den Chinesen, den Deutschen und der Welt die besonders effektive deutsche Kolonialpolitik vor Augen führen. Die Hafenstadt Tsingtau war als Stapelplatz und Umschlaghafen für europäische Waren für das chinesische Hinterland gedacht. Unter den 83000 Einwohnern 1897 waren nur 1,1 Prozent Europäer. Nach Schencks Zeit bauten die Deutschen die Eisenbahn, das Post- und Telegraphenwesen auf.31 Auch mit Missionsangelegenheiten musste sich Schenck beschäftigen. Als es 1894 zu einem Zusammenstoß zwischen Christen und Nichtchristen in Chouzsien kam, erhielt Schenck von Marschall die Anweisung, sich in Anbetracht der Tatsache, dass „die letzte fremdenfeindliche Bewegung noch immer nicht zur Ruhe gekommen, er möge den Bischof in freundlicher Form auf die Zukunft vertrösten, im übrigen aber sich seiner Interessen der chinesischen Regierung gegenüber wie bisher nachhaltig annehmen.“32 Die Bemühungen um das Protektorat Kiautschou und die Förderung der Mission trugen erst 1897 Früchte: Der Mord an zwei schwedischen Missionaren war endlich willkommener Vorwand zur Verwirklichung des alten Planes, die Bucht zu besetzen. Durch Marschall von Bieberstein war Schenck bis dahin protegiert worden, aber als das Reich sich zum Handeln entschloss, musste er abberufen werden. Schenck tauschte seinen Posten 1898 mit v. Heyking und erreichte Tanger. Der Kaiser sagte, er habe Heyking persönlich ausgesucht. „Schenck hat uns dort, auf gut hessisch gesagt, in den Dreck geritten, während wir unter Brandt die erste Stellung hatten. Das muss wieder anders werden.“ Nur der Vollständigkeit halber sei vermerkt, dass der Nachfolger nach anderthalb Jahren ebenfalls in Ungnade abberufen wurde.33 Der Beginn der diplomatischen Beziehungen mit Marokko war 1873, als der erste Gesandte das feindliche Frankreich durch einen natürliche Verbündeten „umzingeln“ wollte. Nur drei Deutsche lebten 1875 in Marokko: ein Leuchtturmwärter, ein Tischler und ein Kaufmann. Nun wurden Dol-
metscher, Sekretäre und Hilfskräfte eingestellt. 1884 waren es zwölf Deutsche. Bismarck wollte dritte Macht in einem Handelsvertrag werden, erklärte aber 1880 in der Madrider Marokkokonvention, dass Deutschland kein Interesse an Marokko habe. Die Gesandtschaft in Tanger bemühte sich um freundschaftliche Verbindungen zum Großwesir Mohamed Ben-Larbi, aber unter englischem Einfluss verbot Sultan Hassan I., Getreide und Vieh nach Deutschland auszuführen.34
Deutsche Ministerresidenz in Tanger, 1884
Die Gesandten der Großmächte spielten in Tanger vor allem Tennis. Auch hier waren es wieder Waffen, die eine Wende in der Zuneigung brachten. Deutsche Bauingenieure bauten zwei mit Kanonen bestückte Türme in Rabat und Essaouira. 1889 reisten mehrere marokkanische Diplomaten zur Inthronisation Wilhelms II. nach Berlin und im Jahr darauf gelang der Handelsvertrag endlich.
Als Schenck Marokko erreichte, war die Lage durch die Ermordung zweiter Deutscher in den Jahren zuvor, aber auch durch den Beginn der deutschen Kolonialpolitik wieder angespannt. Selbst aussichtsreiche Unternehmerinitiativen wie von Mannesmann wurden von England und Frankreich beim Sultan hintertrieben, was auf die Errichtung eines französischen Protektorats hinauslief. Obwohl man Schenck den Wechsel dadurch versüßte, dass er Wirklicher Geheimer Rat mit der Anrede „Exzellenz“ wurde, empfand er: „Seine Majestät hat geruht, mich kalt zu stellen.“ Dabei musste er sich noch beglückwünschen, denn Holstein hätte ihn am liebsten gleich nach Mexiko geschickt, das noch unbedeutender war als Marokko. Dessen politische Bedeutung wuchs erst nach Schencks Ausscheiden, das er aus gesundheitlichen Gründen mit 55 Jahren 1899 einreichte. Die geographische Lage Tangers machte die Stadt um die Jahrhundertwende zum Zentrum europäischer Diplomatie und Wirtschaft. Eine internationale Krise löste die Rede Kaiser Wilhelms II. anlässlich seines Besuches der Stadt 1905 aus, in der er eine Erklärung zur fortwährenden Unabhängigkeit Marokkos abgab. Zu dieser Zeit lebte der unverheiratete Gustav Adolf winters in Berlin, im Sommer in Schweinsberg. Bis zu seinem Tode 1909 beschäftigte ihn die Jagd auf Hühner.
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1 K. A. Eckhardt, Die Schenken zu Schweinsberg, Beiträge zur Geschichte der Freiherren Schenck zu Schweinsberg Heft 3, Schweinsberg 1953; ADB 31; K. A. Eckhardt, Die Schenken zu Schweinsberg. In: Hess. Jb. f. Landesgesch. 3, 1953, 96–149; K. E. Demandt, Der Personenstaat der Landgrafschaft Hessen im Mittelalter (Veröff. d. Hist. Komm. f. Hessen 42), Marburg 1981, 2.Teil, 739–751; W. A. Eckhardt, Zur Geschichte von Burg und Stadt Schweinsberg, In: Schweinsberg 650 Jahre Stadt, Marburg 1982, 15–20; H. Becker, Familiensoziologische Untersuchungen hessischer Ganerbenfamilien des 14. bis 17. Jahrhunderts am Beispiel der Schenken zu Schweinsberg und der von Hatzfeld, Diss. Berlin 1983 maschinenschriftlich); F. v. Petersdorff, Stammtafeln der Freiherren Schenck (Schenk) zu Schweinsberg, Schweinsberg 1997. 2 G. Franz, Lebensbilder aus dem 19. Jahrhundert (Beitr. z. Gesch. d. Freiherren Schenck zu Schweinsberg 1, Schweinsberg 950 [um einen Quellenanhang erweit. Sonderdruck aus: Lebensbilder aus Kurhessen und Waldeck 1830–1930, hrsg. von Ingeborg Schnack (Veröff. d. Hist. Komm. f. Hessen und Waldeck 20), Bd.4, Marburg 1950, 331–363. 3 M. Edjtehadi, Zerfall der Staatsmacht Persiens unter Nasir ad-Din Schah Qagar (1848–1896). Einblicke in die Machtverhältnisse am Teheraner Hof nach den Tagebüchern I’timad as-Saltanas, Berlin 1992, 62. 4 E. Krüger, Das Reisetagebuch Nasir ad-Dins. Ein autobiographisches Zeugnis? In: Die Welt des Islam Bd.XIV, 1973, 171ff. 5 Nasreddin von Persien, Ein Harem in Bismarcks Reich – das ergötzliche Reisetagebuch, Tübingen 1975. 6 Die Übernachtung in einem Luxushotel kostete damals 30–60 Gulden. 7 J. E. Polak, Persien. Das Land und seine Bewohner, Leipzig 1865. 8 I. Wirtz, Joseph Roths Fiktionen des Faktischen. Das Feuilleton der zwanziger Jahre und „Die Geschichte von der 1002. Nacht“ im historischen Kontext, Berlin 1997, 134 Anm.34. 9 Bußgeld für den Pinkel-Prinz. Ernst August von Hannover. In: Focus 27, 2000. 10 Münchener Neuest. Nachr. Nr.101, 2.3.1899, 2; Meyer’s Conversationslexikon Z, R17 (1896), 679; Ad. Kohut, Berühmte israelit. Männer und Frauen ll (1900), 395; L. Fränkel. In: ADB Bd.53, 1907, 319f. 11 N. Keddie, Iran under the later Qajars 1848–1922. In: The Cambridge History of Iran, vol.7, 1991, 181. 12 Frdl. Auskunft Bärbel I. Göhner, Leiterin PR & Kommunikation Brenner’s Park-Hotel. Schah Nasir ad-Din besuchte Baden-Baden 1873, 1878 und 1889: ausführlich: Margot Fuss, Baden-Baden. Kaiser und Könige. Rund um den Gausplatz. Rund um den Bertholdplatz, Baden-Baden 1994, 77–85. Frdl. Auskunft Heike Kronenwett M. A. Stadtarchiv Baden-Baden. 13 Damaliger Wert 1 Tuman = 8,20 Mark. 14 Die große Politik der europäischen Kabinette 1871–1914. Bd.9, 1927. 15 A. J. Irmer, Die Erwerbung von Kiautschou 1894 bis 1898, Bonn 1930. 16 Chunxiao Jing, Mit Barbaren gegen Barbaren. Die chinesische Selbststärkungsbewegung und das deutsche Rüstungsgeschäft im späten 19. Jahrhundert, Europa-Übersee Bd.13, Münster 2002, 55ff. 17 Erster Opiumkrieg zwischen dem Kaiserreich China und Großbritannien war ein militärischer Konflikt 1839–1842, durch den China zur Öffnung seiner Märkte und der Duldung des Opiumhandels gezwungen wurde. Zweiter Opiumkrieg 1856– 1860 zwischen dem Kaiserreich und England/Frankreich. 18 Der Taiping-Aufstand (1850–1864) war eine Konfrontation zwischen dem Kaiserreich unter einer Gruppierung um Hong Xiuquan. Im Taiping-Aufstand starben wahrscheinlich 20 Millionen Menschen. 19 Fan Baichuan, Die Geschichte der Huai-Armee, Chengdu 1994, 109. 20 L. Jing, Wahrnehmung des Fremden: China in deutschen und Deutschland in chinesischen Reiseberichten Vom Opiumkrieg bis zum Ersten Weltkrieg. Diss. Freiburg 2001, 33. 21 Chu/Liu (Hrsg.), Li Hung-chang and China’s Early Modernization, New York 1994, 75. 22 Krupps Mitarbeiter C. Hagemann an den preußischen Konsul in Guangdong Hitzeroth, 7.11.1867 HA Krupp WA IV 548. 23 Schenck A129, 6.10.1893 GA 1808. 2. 24 H. J. Staue an A A, Vulkan 10.5.1892, BA Deutsche Botschaft China Nr.481. 25 Schenck an A A, 14.10.1893, BA Deutsche Botschaft China Nr.481. 26 Schenck A135, 30.10.1893, GA 452.27. 27 Stoecker, Deutschland und China im 19. Jahrhundert, Berlin 1958, 224. 28 Schenck B26,13.2.1894, GA 316.127. 29 A A an Schenck 2.1.1894, GA 997.1. 30 Friedrich August Karl Ferdinand Julius von Holstein (1837–1909,) deutscher Diplomat zwischen 1890 und 1906. 31 Deutsches Koloniallexikon Bd.2, 1920. 32 A A. An Schenck 12.3.1894, GA 217.21b. 33 E. v. Heysking, Tagebücher aus vier Weltteilen, 1926. 34 A. Ben Abdelhanine, Deutsch-marokkanische Beziehungen 1873–1914, Aachen 1998, 13.
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Ein Jurist bei „emancipierten Bestien“ Graf Carl von Schlitz gen. von Görtz
Graf Carl von Schlitz gen. von Görtz
Am 7. Dezember 2018 jährte sich der Todestag des Grafen von Schlitz, Carl Wilhelm Ferdinand Herrmann, der laut einem Chronisten zu seiner Zeit nicht nur regional in hohem Ansehen stand, zum 133. Male. Bis zu seinem neunten Lebensjahr wurde der am 15. Februar 1822 geborene Junge von Stadtpfarrer Ludwig Christian Dieffenbach unterrichtet, dann schickte man ihn nach Schnepfenthal am Thüringer Wald in die Erziehungsanstalt von Christian Gotthilf Salzmann und Johann Christoph Friedrich Gutsmuths, die hier ab 1784 eine neue Schulform aufgebaut hatten. Dazu gehörten neben den üblichen Fächern Sportunterricht und praktische Arbeit. Es ist anzunehmen, dass der Einzug ins Internat mit dem Tod der Mutter zusammenhing. Mit fünfzehn Jahren wechselte er aufs Gymnasium nach Nürnberg. Seine Musikalität wurde an den Anstalten sehr gefördert. „Er spielte vortrefflich nach dem Gehör und ihn am Klavier phantasieren zu hören, war ein großer aber Wenigen gebotener Genuss“, schreibt Dieffenbach. Warum sich der Vater offenbar wenig um ihn kümmerte, erwähnt der Chronist nicht.1 Selbst die Ferien verbrachte Carl Wilhelm bei seinem Onkel mütterlicherseits, der auch einer seiner Paten war.
Der Vater hatte offenbar noch einmal geheiratet. Stärkeren Einfluss hatte sein Vormund Freiherr von Breidenbach zu Breidenstein. Warum braucht ein Kind einen Vormund, wenn der Vater noch lebt? Noch bevor sich Carl 1840 in Bonn für Jura immatrikulierte, verstarb der Vater 1839. Zu diesem Anlass weilte der Erbe der Standesherrschaft kurze Zeit in Schlitz. In Göttingen, wo auch Verwandte studierten, promovierte er 1843. Trotz des Einspruchs seiner Verwandten begab er sich nach Abschluss der Ausbildung von 1844 bis 1847 auf Weltreise, ohne Auftrag, zum Vergnügen und als Selbsterfahrung, gewissermaßen in der Tradition der „Grand Tour“, der adligen Kavalierstour, die der Erziehung den letzten Schliff zu geben hatte. Im Gegensatz zu anderen Adligen, die sich als Söldner im Ausland verdingten, schaute er sich wirklich in Amerika, China und Indien um. Das kostete ihn das fünfundzwanzigfache des jährlichen Lohns seines bestbezahlten Angestellten. Und er veröffentlichte ein Buch darüber. Die Reise ging über Liverpool nach New York. Der Adlige aus dem ländlichen Vogelsberg machte dort die Erfahrung, dass man sich für Spaziergänge besser andere Orte suchen solle als die Straßen der Stadt. „In diesen rennt Alles seinen Geschäften nach, und ehe mir diese Thatsache einleuchtete wurde ich mehrmals fast umgerannt, weil ich das allgemeine rasche Tempo nicht einhielt.“ Als Jurist richtete er sein Augenmerk auch auf die Rechtsverhältnisse insbesondere das Gefängnissystem.2 Von New York berichtet er: „Mitten in einem ziemlich prosaischen Stadtteil ist das Stadtgefängnis im ägyptischen Stil hineingeschneit. Es ist an sich ein großes schönes aber unheimlich aussehendes Gebäude von Granit, mit mehreren Stockwerken aus Einzelzellen bestehend. Im Gefängnishof finden sehr verständiger Weise die Hinrichtungen, abgeschlossen vom Zulauf der rohen Neugier statt.“3 In Philadelphia untersuchte er die Behauptungen eines Zeitungsartikels, wonach die inhaftierten Deutschen allesamt irre seien und fand dieses Urteil nicht bestätigt. Er hörte sich die Ge-
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Reiseroute von Schlitz
schichten der Häftlinge deutscher Abstammung an. Da diese sich sehr ähnelten, formulierte er daraus realistische Hinweise für Auswanderer, welche Berufe wo nachgefragt würden, welche Schwierigkeiten bei der Landwirtschaft zu erwarten seien und ähnliches mehr. Karl war ein Befürworter deutscher Auswanderung, er kannte schließlich die Not in den armen Vogelsbergdörfern aus eigener Anschauung, riet jedoch von tropischen Ländern generell ab. Geradezu als verderblich beurteilte er Westindien, Demerara4, Java, Indien, Brasilien, Mittelamerika samt der Mosquitoküste (Honduras/ Nicaragua). In der Überzeugung, dass die Gefangenen bei Gemeinschaftsunterbringung praktisch nicht geläutert würden, sondern eher weiter auf die schiefe Bahn gerieten, plädierte er für individuellere Behandlung. Im Hochsicherheitsgefängnis Sing Sing wurde das sog. Auburnsche System angewandt, eine besondere Art des Vollzugs der Freiheitsstrafen, welche zuerst 1823 im Staatsgefängnis zu Auburn im Staat New York an Stelle des Einzelhaftsystems eingeführt wurde. Man sperrte die Sträflinge nachts einzeln in Schlafzellen und bei Tag bestand in den Arbeitssälen Redeverbot. Bis dahin hatte man die Gefangenen weder getrennt noch zum Schweigen verurteilt. Das Auburnsche System verbreitete sich außer in Nordamerika in Frankreich und in Belgien, in Deutschland dagegen befürchtete man Trotz, Heuchelei und Tücke durch den zusätzlichen
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Zwang und verneinte positiven Einfluss auf die Verbrecherstatistik. Die Todesstrafe sah er als die traurigste Notwendigkeit des Staates.5
Von-Buseck-House 2013 in Pennsylvania (Foto: RJ Fiorenzo)
Unweit Erie besuchte er Baron Louis von Buseck.6 Dieser besaß Anteile einer schon vom Vater begonnenen Ansiedlung von etwa 150 Morgen, „zum großen Theil schon kultiviert, zum Theil noch aus Urwald bestehend, dessen Bebauung er sich mit ebenso viel Energie als Anspruchslosigkeit widmete. Der deutsche Edelmann legte mit seinem Knecht wacker Hand an bei allen landwirtschaftlichen Arbeiten und bahnte sich seinen Weg durchs Leben vielleicht mühselig, aber ehrenvoll und seines Standes würdig.“ Mit ihm und dessen Bruder Clemens, der in einem Blockhaus lebte, verbrachte Schlitz angenehme Tage, erhielt vielseitige Informationen und überraschende Einsichten: So teilten der deutsche Knecht und eine weibliche Gehilfin
den Mittagstisch des Barons, etwas Unerhörtes, das in der Heimat sicher nie in Frage gekommen wäre. Zu seinem Erstaunen gebärdeten sich diese untadelig. Zu anderen (europäischen Anm. d. Verf.) Bedingungen fände man in Amerika keine Dienstboten.
Erste Baumwollmaschine, William L. Sheppard 1869
Das Vieh lebte auf den riesigen Arealen innerhalb des umzäunten Besitzes frei, von den Schweinen, „emancipierten Bestien, denen man unbewaffnet am besten aus dem Wege geht“, konnte Buseck nicht mal die Anzahl angeben. „Er bekümmerte sich nicht um sie, und nur kurze Zeit davor hatte er nach dem Beispiel seiner Nachbarn eine ganze Anzahl ohne weiteres todtgeschlagen, weil sie ihm lästig wurden, und bei dem allgemeinen Schweinereichtum von Absatz keine Rede war.“ Sogar in allen amerikanischen Städten sah Carl sie herumlaufen.7 Ein fettes Schwein von einhundert Pfund kostete zehn Gulden, ein gewöhnliches achtundvierzig Kreuzer bis ein Gulden. Außerdem besuchte von Goertz den berühmten deutschstämmigen Homöopathen Hering8, dem er von seinem ehemaligen Lehrer in Schnepfenthal, Dr. Lenz, Grüße zu bestellen hatte. Die beiden standen zum Thema Schlangengift in Briefkontakt. Karl betrachtete die Homöopathie noch skeptisch, bewunderte jedoch die amerikanische Akademie. Die Reise war durchaus nicht gefahrlos. In New Orleans waren im Sommer 1843 täglich einhundertfünfzig Menschen an Gelbfieber gestorben. Von Florida schiffte er sich zu den Westindischen Inseln Kuba, Haiti, Puerto Rico und die Kleinen Antillen ein. In seinem Reisebericht ließ er sich vergleichend auch zu seinen Beobachtungen der Sklaverei aus. Nirgends in der christlichen Lehre fand er ein Verbot derselben. Zwar war
der Import von Sklaven in Amerika seit 1808 verboten, der nationale Handel florierte nach wie vor. Lediglich eine halbe Million Schwarze waren frei, drei Millionen unfrei. Naiv beurteilt er ihre Situation, von Ausnahmen abgesehen, als besser als die weißer Fabrikarbeiter. Ihm schwebt nicht eine plötzliche Freilassung vor, die viele Sklaven angeblich gar nicht wünschten, sondern eine langsame Abdrängung in tropische Gefilde. Seit in der Karibik die Sklaverei abgeschafft sei, wäre die Produktivität unglaublich gesunken. Eine Seele spreche er ihnen zwar nicht ab, aber in jeder andern Hinsicht fänden sie bei ihm kein gutes Urteil. Seine Informanten waren ja auch Sklavenhalter.8 Über Guyana und Panama führte ihn die Route nach Peru. Seine Andenexpedition spart er in der Publikation aus mit Hinweis auf kundigere Veröffentlichungen. Nach Überquerung des Pazifiks folgten Aufenthalte in Hongkong, Kanton, Singapur und Java. Dort besuchte er auch den Park von Buitenzorg bei Batavia und müsste seinem Landsmann Haßkarl begegnet sein.9 Er schwärmt aber nur von den Zimt- und Muskatnussbäumen und den in praktischer Höhe kultivierten Parasitenpflanzen, so dass man die Orchideen bewundern könne. Die Kultivierung der Chinarinde lag noch in der Zukunft.10 Über Ceylon und Madras erreichte er Kalkutta und durchquerte den indischen Subkontinent mit einem Abstecher in den Himalaya. Er fiel von Elefantenrücken, probierte Kamele und einheimische Gefährte. In Kalkutta verfügte er über fünf Diener, aber unterwegs reiste er lieber allein. „So konnte es passieren, dass ich in den gastlichsten Häusern hungerte, weil es keinem der zahlreichen Aufwärter der Familie einfiel, für den Gast bei Tisch zu sorgen.“ Über Bombay, Aden, Suez, Kairo und Alexandria erreichte er Europa wieder in Triest. Noch während der Reise erschienen etliche Briefe in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“, die gerne Berichte von Weltreisenden druckte, und in der Zeitschrift „Das Ausland“. Im Jahre seiner Rückkehr überrollten ihn Ehren auf allen Ebenen. Er wurde Ehrenritter des Ritterlichen Ordens St. Johannis, der Großherzog beförderte ihn vom Major zum Oberst à la suite, d. h. er war zum Tragen einer Regimentsuniform berechtigt, aber ansonsten zunächst ohne dienstliche Stellung, nahm als Mitglied der 1. Kammer der Landstände seinen
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ererbten Sitz ein und heiratete eine Prinzessin zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg. Auf Ordensgebiet rückte er 1854 zum Rechtsritter und 1868 zum Kommendator für den hessischen Teil auf. Als solcher baute er die alte Kommende in Nieder-Weisel zum Hospital aus. Ehrenhalber erreichte er 1858 den Generalmajorsrang, ohne dass von militärischen Übungen oder Manövern die Rede gewesen wäre. Mit seiner Gemahlin bezog er das väterliche Schloss in Schlitz. Der erste Sohn wurde aber dennoch unter Obhut der mütterlichen Familie in Darmstadt entbunden. Als dieser ein Jahr alt war, zog die Familie nach Berlin, wo der Vater als Gesandter und bevollmächtigter Minister des Großherzogs am preußischen Hof das Wohlwollen des Preußenkönigs erlangte. Es blieb ihm außerdem Gelegenheit, in Moabit das Gefängniswesen zu studieren. Während dieser Zeit wurde der zweite Sohn geboren. Zurück in Schlitz starb der Erstgeborene, noch nicht einmal vier Jahre alt. Außer dem Jahr 1864, das er wieder in Berlin zubrachte, lebte er in Schlitz und beteiligte sich in zahlreichen Ausschüssen des Landtags. Dort wurde er als vorzüglicher Redner geschätzt, seine umfassenden Kenntnisse und sein Gerechtigkeitssinn gepriesen, so dass er nach dem Tod des Grafen zu Erbach-Fürstenau 1874 zum Präsidenten der 1. Kammer ernannt wurde. Seine diplomatischen Fähigkeiten wurden mehrfach vom Großherzog in Anspruch genommen, einmal zur Vorbereitung von Verlobung und Heirat des Großherzogs mit Alice von Großbritannien 1862 in London, zum zweiten Mal in Petersburg. Außerdem wirkte er an den Höfen in Hannover, Dresden, Braunschweig, Mecklenburg und Kassel als Gesandter. Von Schlitz aus unternahm er zwei längere Reisen nach Italien (1854/55) und zum Genfer See (1866/67). Militärisch engagierte er sich 1866 statt im Kampfgetümmel bei der Rettung und Pflege Verwundeter in Aschaffenburg, Frohnhofen und Laufach. Dafür erhielt er zu allen sonstigen hessischen Orden auch noch die Rettungsmedaille. Der Kaiser von Österreich verlieh ihm das Großkreuz der Eisernen Krone. Als Generaletappendelegierter der Südarmee setzte er sich 1870 in Versailles und Corbeil ein und erkrankte darüber selbst so schwer, dass er sich nie wieder ganz erholte. Besonders hoch wurde ihm angerechnet, dass er seinen Sohn
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als Begleitung mitnahm. Die Schlitzer Bevölkerung empfing den Grafen mit Fackelzug, Musik und Gesang, und von vielen Staatsoberhäuptern wurde er mit Orden und Ehrenzeichen überschüttet. Seine Familie ist im zwölften Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnt, lässt sich aber laut Kneschke angeblich bis ins 9. Jahrhundert zurückführen.11 Möglicherweise war sie aus Kärnten zugewandert.12 Ihr oblag das Erbmarschallamt des Hochstifts Fulda. Der Beiname Görtz könnte aus einer Adoption oder einer Erbeinsetzung unter der Bedingung dieser Namensführung resultieren. Kneschke schreibt, er sei seit dem 15. Jahrhundert nachweisbar, das Gothaische Taschenbuch vermerkt jedoch Otto von Schlitz seit 1218 mit dem Beinamen, der allmählich der Hauptname wurde. Die Familie teilte sich unter den Söhnen des Friedrich Wilhelm (+ 1728) und der Anna Dorothea v. Haxthausen in zwei Linien (GörtzSchlitz und Görtz-Schlitz-Wrisberg), die ältere Linie im Vogelsberg war Mitglied im wetterauischen Reichsgrafenkollegium 1804 und führte den Freiherrentitel seit dem 17. Jahrhundert. Außer der Armenpflege lagen ihm und seiner Gattin das Hospital in Schlitz am Herzen, das er zur Kranken- und Siechenanstalt mit Suppenküche, einem Kindergarten und einer Handarbeits- und Sonntagsschule mit Volksbibliothek und einer Erziehungsanstalt für verwahrloste oder verwaiste Mädchen ausbaute. An der Ausstattung nahm er regen Anteil und stellte vier Diakonissen ein. Der Kreis Lauterbach wählte ihn in die erste außerordentliche hessische Landessynode, wo er sich für die Kirchenverfassung einsetzte. Der Graf von Schlitz war der Patronatsherr aller Schlitzerländer evangelischen Gemeinden. Er hatte als Kirchenpatron besondere Rechte und Pflichten: Bauunterhaltung der Kirchengebäude, Beheizung der Kirchen und Pfarrhäuser, Verwaltung der Legate zu Gunsten der Schlitzerländer Schulen und der Diakonissen, die nicht nur das Hospital betreuten, sondern die auch als Gemeindeschwestern eingesetzt waren. Die Landeskirchenleitung hatte bei der Besetzung der Pfarrstellen in Schlitz, Hartershausen, Queck und Hutzdorf dem Patron gegenüber eine Präsentationspflicht. Ohne die Zustimmung des Grafen besetzte die HessenDarmstädtische Kirchenleitung keine evangelische Pfarrstelle. Unter Carl Wilhelm funktionierte das noch. Die Wogen schlugen hoch, als Carls Urenkel
Erbgraf Otto Hartmann 1928 zur katholischen Kirche übertrat. Neben allem beruflichen Einsatz widmete sich Carl den Waldungen, Baulichkeiten und gestalterisch der allgemein zugänglichen Parkanlage im englischen Stil. Er veröffentlichte eine Broschüre über die Baukunst, sammelte Kupferstiche und Fotos berühmter Bauten. Mehrere Verwandte nahm er für längere Zeit bei sich auf, teils um sie erziehen zu lassen, z. B. seine Nichte Prinzessin Lucie zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg, deren Güter in Rumänien er auch verwaltete. Seine letzte Sorge galt der Kirchenrenovierung von Üllershausen.
Einen Tag später erkrankte er an einem schweren Nierenleiden. Der entschiedene Anhänger der Homöopathie holte einen entsprechenden Arzt aus Berlin, der ihm aber nicht mehr helfen konnte.13 Zur Beerdigung einen Monat später hielt auch Prälat Habicht14 eine Rede unter Anteilnahme von Vertretern sämtlicher standesherrlicher Häuser des Großherzogtums. Der Chronist G. Chr. Dieffenbach lobte vor allem die allen Werken zugrundeliegende christliche Gesinnung, die im Patronatsrecht für Kirche und Schule, der Kirchenrestaurierung und seiner Teilnahme an Gottesdiensten und Hausandachten Ausdruck fand.15
1 G. Chr. Dieffenbach, Lebenslauf des erlauchten Grafen und Herrn Carl Wilhelm Heinrich Ferdinand Hermann von Schlitz genannt Görtz, Schlitz 1885 ; Thomas Notthoff, Das Erlebnis des Fremden. Zur Weltreise des Carl Heinrich von Görtz 1844– 1847 als eine frühe Form des Tourismus. In: HJfL Bd.63, 2013, 59ff. dokumentiert im StA Darmstadt F23 A Nr.335/1,4,5,7. 2 C. v. Görtz, Reise um die Welt in den Jahren 1844–1847, Stuttgart 1864; Die Notizen eines früheren Reisenden waren ihm vermutlich nicht bekannt: Daniel Herbert, Graf Heinrich Trajektiv v. Solms-Braunfels. Ein Soldatenleben im 17. Jahrhundert. Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 158, Darmstadt 2011. 3 a. a. O. Bd.I, 70. 4 Mit Demerara bezeichnet er das seit 1807 britische Guyana, das nach der allmählichen Sklavenbefreiung 1834 unter Arbeitskräftemangel litt und die Einwanderung förderte, um die Sklaven zu ersetzen a. a. O. Bd. I, 343. 6 Von Buseck House (c. 1815) was built about 1815 in West Millcreek, south of Wheaton Road (now known as 5021 West 38th Street) on land owned by Irish immigrant John Nicholson (1764–1828). The house was owned for a time by the John Wheaton family. For over 150 years it was owned by Louis von Buseck (1812–1893) and his descendants. Louis was born Ludwig Heinrich von Buseck in Germany, the second son of Baron Carl Philip von Buseck. [http://www.kidderwachter. com/projects/current/von-buseck-house-c-1815] (Zugriff: 5.9.2019) Carl Philip Wilhelm v. Buseck lebte zeitweise in der Hofburg am Ortseingang von Alten-Buseck. Sein Lebensstil führte 1827 zum Konkurs. Die Familienüberlieferung seiner amerikanischen Nachfahren berichtet, er sei 1832 zu einem Jagdausflug nach Amerika gereist. Die Auswanderung von Carl Philipp Wilhelm mit zwei Söhnen (Clemens Ernst und Ludwig Carl Alexander Casimier Theodor) war eher eine Art Flucht vor dem Schuldturm und diversen Prozessen. Seine Frau blieb mit vier Kindern im Alter von 2 bis 12 Jahren in Hessen. Drei außereheliche Kinder spielten keine Rolle. 1835 reiste sie ihm mit zwei Söhnen nach Amerika nach. Familie bis ins 14. Jahrhundert zurückzuverfolgen. HStAD G 26 A Nr. 474/9 Regulierung der Schulden des Rittmeisters Karl v. Buseck zu AltenBuseck; HStAD F 23 A Nr. 311/84 Erbansprüche von Louis Frh. von Buseck (* 1812), und Friedrich Frh. von B. (* 1814), Söhne 2. Ehe des 1852 in Butzbach verstorbenen hess. Rittmeisters Karl von Buseck, Ansiedler in Erie, Pennsylvania, USA. 1 Brief betrifft den Besuch Graf Carls in Erie während seiner Weltreise. 7 a. a. O. Bd.I, 353. 8 E. Haehl, Geschichte der Homöopathie, Berlin 1936: Hering war Mitbegründer 1835 der Nordamerikanischen Akademie für homöopathische Heilkunst. 9 a. a. O. Bd.I, 396. 10 a. a. O. Bd.II, 279. 11 E. H. Kneschke, Neues allgemeines Adels-Lexicon, Bd.3, 1861. 12 C. Spangenberg, Adelsspiegel, Schmalkalden 1591. 13 Der Homöopath Hofrat Rau war 1840 schon gestorben. siehe: Rehbaum, Eine Revolution erschüttert die Medizin: Zur Geschichte der Homöopathie im Großherzogtum Hessen. In: Hessische Heimat aus Natur und Geschichte Nr.7, 2005. 14 Es war früher Dekan in Grünberg und als solcher 1859–1870 Direktor der Sparkasse. 15 G. Chr. Dieffenbach, Carl Graf und Herr von Schlitz, genannt von Görtz. in: Wochenblatt der Johanniter-Ordens-Balley Brandenburg 27 Nr.2, 1886, 7.
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Im Friesennerz aus Robbendarm auf den Alëuten Carl Heinrich Mercks Jahre in Sibirien Carl stammte aus einer schon zu seiner Zeit bekannten Familie Darmstadts. Er wurde als ein Stiefneffe des Kriegsgerichtsrats Merck am 19. November 1761 geboren. Unter seinen Vorfahren waren etliche Apotheker, so lag es nahe, dass er in Gießen und Jena Medizin studierte. Sein großes Interesse an der Natur wurde entscheidend von Johann Heinrich beeinflusst, einem Halbbruder seines Vaters. 1 Dieser Onkel, der engen Kontakt zu Goethe, Herder und Wieland pflegte, war 1773 drei Monate lang als Begleiter und Hofmeister im Fürstenzug nach Petersburg gereist, um die Darmstädter Prinzessin Wilhelmine dem Zaren Paul zuzuführen. Dabei hatte er ausgiebig Gelegenheit, die Verhältnisse am Zarenhof zu beobachten und verurteilte den mit asiatischem Pomp entfalteten Despotismus. Ihm war klar, dass der russische Hof Riesensummen für seinen Luxus auf dem Rücken der Leibeigenen verbrauchte. Deshalb riet er danach allen Freunden und Bekannten ab, nach Russland zu übersiedeln2, machte aber seinen Neffen mit einem der führenden Wissenschaftler seiner Zeit aus St. Petersburg, dem Deutschen Peter Simon Pallas, bekannt. Pallas bearbeitete
Stammbaumausschnitt Merck
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gerade die Ergebnisse der Expedition von Bering, Steller und Gmelin und Carls Onkel publizierte dessen Werk in Deutschland als Verleger. „Ein Staat, in welchem ein Volk durch das Gesetz die ursprünglichen Rechte der Natur entbehrt, kann nicht verfehlen, die häufigsten Auswanderungen zu verzeichnen, er hat kein anderes Mittel, dem abzuhelfen, als neue Erwerbungen. Denn wie soll er die Fremden in sein Land ziehen, vor allem freie Fremde, wenn er ihnen nicht ein leichteres Los ermöglicht als seinen Untertanen? Und wie sehr widerspricht eine solche Bevorzugung der Natur? Ein Vaterland, das eine Mutter ist für die Kinder, die es annimmt, aber eine Stiefmutter für ihre eigenen?“ Katharina II. lockte massenhaft deutsche Siedler ins Land und förderte deren produktive Entfaltung, ließ ihnen ihre Menschenrechte, dachte aber nicht im Traum daran, die russischen Bauern mit gleichen Rechten auszustatten und dadurch den Adel gegen sich aufzubringen. 1763 hatte sie eine Volkszählung in Sibirien veranlasst und in einem Ukas versucht, die Lebensbedingungen und Besteuerung der einheimischen Bevölkerung zu verbessern – mit geringem Effekt.3 Die 186000 Einwohner sollten
165000 Rubel Steuern pro Jahr zahlen und das auch noch, als ihre Zahl längst durch Krankheiten wie Syphilis, Typhus und Pocken auf ein Viertel geschrumpft war. Die Promyshlenniki (Pelzhändler) erledigten den Rest, indem sie das Wild über Gebühr dezimierten und als Zwischenhändler die Einheimischen mit Dumpingpreisen in die Verschuldung stürzten.4 Steuerbeträge wurden von den staatlichen Schreibern in die eigene Tasche gewirtschaftet und als nicht bezahlt verbucht. Mehrere Völker waren zum Zeitpunkt von Mercks Reise bereits ausgestorben.5
Carl Heinrich Merck
Nachdem ihm sein Onkel den Weg auf einen Platz an der Akademie der Wissenschaften geebnet hatte, ein Jahr nach der Promotion 1784, reiste Carl nach Russland.6 In Irkutsk nahm er die Stelle eines Hospitalarztes an, „wo 20tausend Menschen auf einmal zur Arbeit kommandiert werden können, ohne dass man dafür Tagelohn wie bey uns zahlt“.7 Fast will es scheinen, als habe ihn sein Schicksal nach Sibirien geführt, damit er dort für 800 Rubel pro Jahr die große Aufgabe seines Lebens finde, denn im Jahr seiner Ankunft ließ die Zarin eine „Geheime astronomische sowie geographische Expedition zur Befahrung des Eismeers und zur Beschreibung seiner Küsten sowie zur Feststellung von Inseln in diesem Meer zwischen dem asiatischen und dem amerikanischen Kontinent“ unter der Leitung von J. Billings und G. Sarychew vorbereiten.8 Aufgrund solcher Unternehmungen galt das Land vielen namhaften Aufklärern im 18. Jahrhundert als
Das Reisegebiet
Reich der ungehinderten Entfaltung. Der Arzt Merck wurde als „Kenner der Naturwissenschaften und der Botanik“ zur Teilnahme eingeladen. Er bekam diese Chance nur, nachdem Schichtmeister und Kollegienassessor Patrin wegen Krankheit in Irkutsk zurückgelassen werden mussten, Merck gerade vor Ort war und entscheidende Leute kannte. Ohne langes Bedenken überwand er seine, von Zeitzeugen belegte, jugendliche Schüchternheit. Während trotz aller Achtung vor den berühmten Namen der Petersburger Akademie sein Onkel Johann die Leibeigenschaft abstieß, scheinen solche Skrupel den Jüngeren nicht geplagt zu haben. Natürlich hatte die Expedition auch einen politischen Hintergrund. Sie sollte das Fußfassen der Russen auf beiden Seiten des Nordpazifik einleiten und dem Wettlauf anderer Interessenten (England und Frankreich) zuvorkommen. Dazu sollte die Expedition mit Vorrang die Spitze des Festlandes vom Kap Tschussotoki bis zum Ostkap an der Beringstraße und die zwischen Kamtschatka und Amerika gelegene Inselgruppe der Alëuten, möglichst auch die benachbarte amerikanische Küste erforschen und kartographieren. Diese aufwändige Fahrt erbrachte jedoch wenig entscheidend Neues, denn die Alëuten und auch ihre Verbindung zur anderen Seite des Pazifik waren seit den zwei Expeditionen von Bering/Tschirikow9 1728 und 1741 bzw. derjenigen von Gwosdew/ Fedorow 1732 bekannt. Bering hatte auf der ersten Expedition das 1648 entdeckte Kap Deschnew auf der Tschuktschen-Halbinsel von Kamtschatka aus umfahren und die erste zuverlässige Karte erstellt. Die zweite Expedition erkundete die Nordküste Sibiriens mit einer Seehandelsroute vom Weißen Meer nach Kamtschatka. Auf der Inselkette, die Sibirien mit Nordamerika verbindet,
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trafen sie erstmals auf Bewohner und waren von der Seetüchtigkeit ihrer Boote beeindruckt. Die Kontaktaufnahme mit Japan missglückte. Eines der Schiffe verlor vierzehn Männer der Besatzung, nachdem diese auf einer der Inseln gelandet waren. Hierbei blieb ungeklärt, ob sie massakriert wurden oder verunglückten. Skorbut und Trinkwasserknappheit dezimierten die restliche Mannschaft. Selbst Bering war auf der später nach ihm benannten Insel ums Leben gekommen. An der Vorbereitung und Durchführung der Merckschen Expedition waren alles in allem 10000 Menschen beteiligt. Es war das bis dahin größte Forschungsunternehmen der Menschheit.10 Kamtschatka hatte der deutsche Agronom Johann Karl Ehrenfried Kegel 1841–1847 eingehend bereist und sehr anschaulich beschrieben.11 Der Gouverneur, der sich nur für Pelze interessierte, hatte mit allen Mitteln seine Reisen und Besichtigungen zu verhindern versucht, die Siedler gegen ihn aufgehetzt, Reisepapiere verweigert, Lieferungen verzögert und Falschmeldungen nach Moskau gesandt. Um zu verhindern, dass Kegels kritischer Bericht, der das und die gängige Korruptionspraxis aufdeckte, in der Versenkung verschwinden würde, schmuggelte sein Sohn das Manuskript heimlich außer Landes.
Itelmenischer Hundeschlitten aus Kamtschatka, 1. Hälfte des 19.Jahrhundert (Museum f. Anthropologie und Ethnografie, St. Petersburg)
Die Reise Mercks unter Leitung des Engländers in russischen Diensten Kapitän Joseph Billings12 dauerte von 1786 bis 1794. Das gesamte Material für den Bau von zwei Schiffen und deren Ausrüstung musste von Irkutsk die Lena abwärts, über Jakutsk nach Ochotsk transportiert werden, ab Jakutsk in so kleine Portionen verpackt, dass Packpferde sie
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tragen konnten. Die 800 Meilen von Jakutsk nach Ochotsk bewältigten sie zunächst auf Pferden, dann mit Hundeschlitten. Im Frühjahr wurde die Reise unbequem, denn die Hundeschlitten hatten keine Beschläge unter den Kufen und schlugen auf den tief gefurchten Wegen häufig um. Es war extrem schwierig, die Hunde zu bremsen oder umzuleiten, wenn sie mal ein Tier gewittert hatten.13 Ochotsk war ein Dorf mit 132 Holzhäusern und einer Kirche. Sauer schreibt, dass die meisten der Kosacken ständig betrunken seien. Im Frühjahr fielen sich die Hunde vor Hunger gegenseitig an und das erste Pferd, das über Land bei ihnen eintraf, wurde von ihnen zerrissen. Die Bauzeit der Expeditionsschiffe nutzte Carl mit anderen Teilnehmern für Exkursionen in die umgebenden Berge, beispielsweise den Kolyma entlang bis zum Nordpolarmeer, wie sein Kollege Sarytchew in einem ausführlichen Tagebuch beschrieb. Die Reisenden bauten am Jasaschna Boote, aber selbst im Juli war das Eis auf dem Nordmeer unpassierbar. Am 13. Mai brannte Mercks Hütte mit dem gelagerten Wodka in einer Siedlung der Luchagir ab. Oft blieb Mercks wissenschaftliche Neugier ungestillt. Sarytschew notiert: „Die hiesigen Bewohner (in Alaseja) erzählen, dass 100 Werst unterhalb der Niederlassung aus dem sandigen Ufer der Kadaver eines elefantengroßen Tieres bis zur Hälfte ausgewaschen sei. Er stehe aufrecht, sei völlig unversehrt und noch von der Haut bedeckt, an der stellenweise langes Haar zu sehen sei. Dr. Merck wollte ihn recht gern sehen, da der Platz aber weitab von unserem Weg lag und dazu noch hoher Schnee gefallen war, konnte er seinen Wunsch nicht befriedigen ... An der gesamten Küste des Eismeeres liegen Knochen und Fangzähne solcher Tiere in der Erde.“14 Auf dem Weg von Nishni-Kolymsk nach Srednekolymsk flussaufwärts erfor sich Merck seine Zehen. Sie übernachteten in den Jurten der Einheimischen oder auch im Freien. „Zwar hatten wir dreifache warme Rentierkleidung an, doch die Kälte schien unerträglich und ließ beinahe das Blut erstarren. Es war unmöglich, auch nur eine halbe Stunde auf dem Pferd zu sitzen, man musste beständig zu Fuß gehen und sich dadurch erwärmen ... Damit uns Wangen und Nasen nicht erfroren, kamen wir schließlich auf den Gedanken, uns Masken aus Fries herzustellen, die zwar durch den Atem vereisten und sich nicht
gerade angenehm tragen, uns aber viel nützen. In diesem fürchterlichen und lächerlichen Aufzug glichen wir mehr Vogelscheuchen als Menschen ... Unsere Kleidung legten wir niemals ab, und nach dem Abendessen, das gleichzeitig Mittagsmahl war, legten wir uns in einer in den Schnee gewühlten Grube schlafen,“ berichtet Sarytschew weiter. Dennoch erkrankte niemand.
Bewohner Sibiriens
Am 19. November gelangten sie an den Fluss Aldan. „Beim Eintritt in eine Jurte hatten wir alle rechtzeitig die Maske abgenommen, nur Herr Merck hatte dies nicht getan, und kaum hatte er in diesem Aufzug die Schwelle der Jurte überschritten, als sich eine Jakutin wie eine Irrsinnige auf ihn stürzte, ihm unter heftigen Geschrei ins Gesicht zu schlagen und die Maske herunterzureißen begann. Der Doktor war äußerst erschrocken und begriff nicht, was mit ihm geschah, da er durch die bereifte Maske hindurch die Gegenstände noch nicht unterscheiden konnte. Die Jakutin brach schließlich zusammen. Später stellte sich heraus, dass sie an einer Krankheit litt, die vom Schreck ausgelöst wurde und an der vor allem alte Jakutinnen leiden.“15 Die Einheimischen trockneten und buken Fisch, zerrieben ihn zu Mehl und lagerten es in Behältern für den Winter, um es bei Gelegenheit als Zugabe in Suppe zu verwenden.16 Den Winter 1787/88 blieb Merck in Jakutsk und nutzte die Gelegenheit, abseits der Poststraßen zu Pferd in Begleitung des Zeichners Woronin die Ufer des Wiljui zu erkunden. Der Weg führte durch Lärchen- und Birkenwälder, in Regionen mit Tannen und Fichten, schließlich Wiesen und vielen
Seen. Er beschreibt die Fischarten, Kleinstädte und Kirchen, Gesteinsarten und Kohlelagerstätten. „Die Jakuten sammeln Steine, die das Hochwasser zurückgelassen hat und schmelzen daraus Eisen für ihre Messer.“17 Merck erwähnte ein Rindersterben. Da die Einheimischen in der Furcht, das kostbare Fleisch werde vergammeln, in kürzester Zeit eine Unmenge Fleisch in sich hineinstopften, litten sie an Durchfall. Den nächsten Winter verbrachte Merck in Ochotsk, unternahm Trips nach Tauisk, zur Insel Taleck und zum Fluss Arman. Inzwischen war das zweite Expeditionsschiff vom Stapel gelassen. Unglücklicherweise lief es kurz nach der Abfahrt auf Grund und wurde dabei so irreparabel demoliert, dass man die Reste lieber verbrannte, um das verbaute Eisen wieder zu gewinnen. Mit dem anderen Schiff erkundeten die Abenteurer als erstes die Ostküste Kamtschatkas und erlebten ein Erdbeben. Die Bewohner erinnerten sich, dass 1696 aus Anadyrsk der erste Russe zu ihnen gekommen und ein Jahr geblieben war. Die Ureinwohner Kamtschatkas, Korjaken und Itelmen, hatten seitdem bereits viele Gewohnheiten der Russen übernommen, konnten aber noch von den früheren Zuständen erzählen. Auf Kamtschatka beobachtete Merck die Tänze der Leute, in denen sie Bären, Wale und Gänse oder deren Jagd imitierten. Zum Rasieren benutzten sie Steinklingen. Während sie im Winter Schlitten mit Holzkufen verwendeten, wurden im Sommer vorn Fischbein und hinten Walknochen darunter genagelt. Bei einer der Touren geriet die Gruppe in einen schweren Schneesturm. Die Deutschen, die sich gewohnheitsgemäß für die Nacht entkleidet hatten, waren, als es ihnen das Zelt wegriss, ohne Kleidung dem Wetter direkt ausgesetzt. Ein Ankleiden war erst möglich, als der Schneefall nachließ. Die Begleiter lagen dagegen in ihren Pelzen, deckten sich erst mal mit einem Zelt ab, über das sie Schnee häuften. Fast alle Teile eines Tieres wurden verwertet. Aus dem Schlund kleiner Seehunde fertigte man auf den Kurilen Stiefel, ihren Magen verwendete man als Ölbehälter. Zur Nahrung dienten außer Fisch Beeren, Lauch, Rinde und Kräuter. Solange man davon zehrte, bekam niemand Skorbut. War man im Winter gezwungen, auf Mehlbrei umzusteigen, erkrankten besonders die Männer, da diese ihre Tage meist verschliefen.
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Vom 9. Mai bis 14. Oktober 1790 dauerte die erste Fahrt Billings Richtung Amerika. An vielen Inseln segelten sie vorbei, aber auf Unalaschka landeten sie. „Der Doktor (d. h. Merck) hatte inzwischen die verschiedensten Kräuter gesammelt und gepresst“, schreibt Sarytschew. In der Siedlung Illiuliuk fanden sie eingetiefte Hütten mit einem Dach aus Treibholzpfosten, mit Gras abgedeckt und mit Erde beworfen. Der Einstieg war von oben über einen getreppt geschnittenen Baumstamm. Das Innere war in Abteile für jede Familie unterteilt. Als Schlafunterlage dienten Grasmatten. Die Frauen galten als sehr geschickte Näherinnen und Flechterinnen. Dabei benutzten sie Nähnadeln aus Möwenfüßen. Von den geschenkten eisernen Nadeln brachen sie als erstes das Öhr ab und zogen den Faden nur über die verbleibende Gabel. Auf der Insel, die nur von Büschen bewachsen war, erlebten sie beim Schein von Öllampen und dem Klang von Trommeln die Tänze der Bewohner. Auf Andreianov gab es Maskentänze für die Fremden. Gäste wurden mit einer großen Portion Waltran begrüßt, der mit einer Muschel als Löffel gegessen wurde, und der Delikatesse rohe Walflossen. Während Sarytschew mit Unterstützung der Einheimischen Messungen und Lotungen eines Hafens unternahm, besichtigte Merck einen frisch gefangenen Wal.18 Die Expedition sollte nebenbei das angeschlagene Image der Russen wieder korrigieren. „Ich hatte Befehl mich eingehend über die schlechte Behandlung der Inselbewohner durch mehrere, zwei Jahre vor uns hier gewesene russische Jäger zu informieren. Anlass war die Anzeige des Sergeanten Builow, der sich bei diesen Jägern befand, um Jassak (Steuerabgabe in Pelzen) einzusammeln. Viele Aleuten konnten mir bestätigen, dass Builows Aufzeichnungen richtig waren.“ Am 19. Mai 1791 starteten sie mit einem neuen Schiff zur zweiten Fahrt. Die Insel Tanaga fanden sie dünn besiedelt von einigen alten und wenigen jungen Männern und Frauen. Merck gelang es, viele Informationen zu sammeln auch zu den Sitten, bevor diese sich durch Kontakte zu Russen veränderten. Diesmal erfuhr er etwas zum Schöpfungsmythos der Alëuten auf Unalaschka19: Ein Hund, der von Westen gekommen sein soll, gebar auf der Westseite von Umnak ein oder zwei Wesen, die vorne wie ein Mensch aussahen
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und hinten behaart waren. Jede neue Generation war menschenähnlicher. Als zu viele auf der Insel waren, besiedelten sie die anderen Inseln. Gegenstand ihrer Verehrung war die Sonne. Bei der Jagd benutzten die Männer zum Abschießen ihrer Pfeile schmale Schleuderbrettchen statt Bogen. Parkas aus der Haut von Alks (Vögel) wurden mit den Federn nach innen getragen.
Unalaschka um 1790
Um eine erneute Schwangerschaft zu verhüten, vergrub eine Frau nach einer schweren Geburt nicht die Nachgeburt. Von allen Jagdergebnissen naher Verwandter bekamen Mutter und Kind einen Anteil. In der Hütte platzierten die Bewohner einen Behälter, in dem Urin gesammelt wurde. Dieser diente als Seifenersatz. Beim Essen verwendeten sie Messer, indem sie in ein Stück Fleisch bissen und dann nah am Mund den Happen abschnitten. Merkwürdiges wusste Merck auch über einzelne Bestattungssitten zu berichten. Männlichen Leichen wurden die Eingeweide entnommen und durch Moos ersetzt. Voll bekleidet, in Sitzposition zusammengebunden, bestattete man sie mit ihren unbrauchbar gemachten Besitztümern (Boot, Pfeilen und Speeren). Männer hängten sich den in einen Sack eingenähten Leichnam ihrer Frau übers Bett, Mütter den eines toten Kinder und zwar so lange, bis ein neues geboren war. Die Chefs verfügten über einen Jungen, der ihr Boot und sonstigen Besitz in Ordnung halten musste und sie bediente. Beim Tod des Chefs wurde früher der Junge stranguliert und mit bestattet, bei reichen Frauen musste in gleicher Weise die Dienerin folgen. Sehr alte Männer oder Altersschwache brachten sich um, wenn sie eine Last für die Gruppe geworden waren. Zu diesem Zweck begleiteten sie eine Jagdgesellschaft und blieben dann im Eis zurück, ertränkten sich oder baten Freunde sie umzubringen. Diese Sitten waren dabei zu verschwinden.20
Auf den Kodiak-Inseln waren Saunahütten aus Steinen mit Grasbedeckung beliebt, in denen die Bewohner häufig badeten und auch schliefen. Diese Hütten sollen sie durch die Russen (Promyslenniki) kennengelernt haben. Davor und danach badete die ganze Hochzeitsgesellschaft in heißen Quellen gemeinsam. Der Bräutigam sammelte dazu Feuerholz, um das Badewasser zu heizen. Bis zur Geburt des ersten Kindes lebte das neue Paar bei den Eltern der Braut.21 Auch nach einer Entbindung mussten alle Bewohner einer Siedlung, egal zu welcher Jahreszeit, baden. Nach Mercks Bericht waren die Alëuter erst spät geschlechtsreif. Die Halbwüchsigen bekamen erst mit zwanzig ihre Menstruation und verzierten sich dann am Kinn mit einem Tatoo. Männer konnten so viele Frauen heiraten, wie sie versorgen konnten. Eltern hatten ein Interesse daran, ihre Söhne so lange wie möglich von Frauen fernzuhalten. Das Frischgeborene wurde mit Urin gewaschen, dann mit kaltem Wasser und schließlich über einem Strohfeuer gewärmt. Einmal beobachtete Merck eine Mutter, die zwei verschieden alte Kinder säugte und ihnen außerdem Nahrung vorkaute. Früher sollte eine Lebensdauer von 100 Jahren nicht selten gewesen sein, zu Mercks Zeit fielen die Menschen Krankheiten oder Hunger zum Opfer. Die Insulaner aßen Fisch nur gekocht in Tontöpfen, die zerbrechlich waren. Gegen die klimatischen Verhältnisse waren sie extrem widerstandsfähig. Im Sommer trugen die Männer mitunter nur eine Genitalbedeckung aus einem Stückchen Fell, auch im Winter trugen sie niemals Hosen unter ihren Parkas. Hatte eine Familie viele Söhne, dann wurde ein Junge zum Mädchen erklärt und musste weibliche Aufgaben erledigen, Mädchenkleidung tragen und mit Mädchen umgehen. Diese Kinder heirateten später meist nicht. Sarytschew beschreibt einen solchen Mann, der ganz wie eine Frau tätowiert und geschmückt war und einem anderen den Haushalt führte.22 Die Frauen flochten aus Seegras so feste Körbe, dass man Wasser darin transportieren konnte. Mit den Festlandamerikanern tauschten sie Steine und Pelze gegen fertige Kleidung aus verschiedenen Fellen. Etliche Tabus sind überliefert. Wenn die Ehefrau schwanger war, vermieden es Männer mit einem Beil zu arbeiten aus Angst, das könnte das Kind töten.
Frauen durften während der Menstruation keine Männerkleidung reparieren, sonst bissen Seelöwen ins Boot. Während einer Entbindung durfte sich kein Mann in der Hütte aufhalten und alle Behälter in der Hütte mussten abgedeckt sein.23 Wer bei der Jagd den ersten Treffer auf ein Tier landete, dem gehört es, er durfte Stücke an die anderen verteilen. Wenn sie von Unwetter auf See überrascht wurden, banden sie ihre Boote zusammen und befestigten
Prinz-Wilhelm-Sund 1790
an der Außenseite die aufgeblasenen Blasen von Seehunden wie Rettungsringe. So schwierig die Kommunikation war, konnte eine gefährliche Situation durch einen loyalen Dolmetscher durchgestanden werden. Der verriet den Plan der Einheimischen, dass sie die Fremden, sobald diese an Land übernachteten, ermorden wollten und ihre Kleidung entwenden. Da sie die Flinten nur als Stöcke betrachteten, glaubten sie, mit ihren Messern besser bewaffnet zu sein. Den Dolmetscher wollten sie leben lassen, weil er nicht weit von ihnen beheimatet war.24 Die Menschen durchlochten sich unterhalb der Lippen und setzten dort Steine oder Knochenteile als Schmuck ein. „Die Matrosen hatten einen Amerikaner zu sich zum Abendessen eingeladen, es gab Buchweizenkascha. Der Amerikaner nahm einen Löffel voll in den Mund, schluckte ein wenig hinunter. Da sie ihm aber offensichtlich nicht schmeckte, spie er sie wieder aus und zwar in die Schüssel, aus der die Leute aßen. Über diese Ungezogenheit waren die Matrosen so erbost, dass sie ihn schlagen wollten. Wir eilten wegen des Lärms rasch zu Hilfe. Der Arme begriff nicht, warum man böse auf ihn war und verlangte eine Erklärung. Als wir ihm sagten, dass es eklig sei, in die Kascha zu speien, und dass nun niemand sie mehr essen würde, antwortete er mit unzufriedener Miene, sein
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Mund sei nicht unrein und seine Stammesgenossen hätten das, was er schon gekaut habe, nach ihm stets mit Vergnügen gegessen.“25 Statt weiter nach Osten zu segeln, entschloss sich Billing nach Norden abzudrehen. Gegenüber von St. Lawrence betrat er erstmals in dieser Region amerikanischen Boden, Kap Rodney, wo man in Zelten halb aus Walrossfell und halb aus Waldärmen lebte, durch die mehr Licht ins Innere drang. Nur einzelne Messer fanden sie aus Eisen, anderes Werkzeug oder Behälter aus Stein, Knochen oder Holz. Ohne die Zustimmung ihrer Frauen waren die Männer nicht bereit etwas zu tauschen. Wie die Alëuten nähten sie Regenkleidung aus den Därmen der Wale. Im Sommer liefen sie barfuß. Auf St. Lawrence sahen die Reisenden viele Dörfer aus Treibholz erbaut. Da es unmöglich war, zu dieser Jahreszeit durch die Beringstraße bis zur Mündung des Kolyma zu segeln, marschierte Merck zusammen mit zwölf Mann über die Tschuktschen-Halbinsel durch die nackte Felsenlandschaft bis dorthin. Hier lebten sowohl Nomaden mit Rentierherden als auch Sesshafte.26 Während sie sich mit Rentierschlitten vorankämpften, beobachteten sie Schamanen bei der Krankenheilung. Die Reisenden schlossen sich den Führern an, teilten deren kärgliche Nahrung und litten unter ständigen Diebereien.27 Selbst wenn der Dieb überrascht wurde, zeigte er keinerlei Schuldbewusstsein, sondern erklärte, er habe selbst den Tabak nötig. Gegenüber den „Wilden“ sollte aber jegliche Gewalt vermieden werden. Schließlich wurde den Expeditionsteilnehmern hinterbracht, dass jüngere Tschuktschen sie wegen ihrer Tauschmittel an Glasperlen, Tabak oder Eisen ermorden wollten. So konnten sie Vorsorge treffen und den Coup verhindern. Von Nishni-Kolymska nach Ferdani fuhren sie mit Schlitten und setzten dann mit Pferden bis Jakutsk den Weg fort. Merck berichtete Pallas in zahlreichen Briefen detailliert von allen Tierarten, Pflanzen und völkerkundlichen Beobachtungen. Am Ende seiner sibirischen Jahre resümierte Merck: „Es war schwer sechs
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Monate mit den Einheimischen zu leben, die nicht die Spur von regulierenden und einschränkenden Gesetzen kennen. Selbst ein Vatermörder hat keinen Verweis seiner Nachbarn zu befürchten. Diebstahl bewerten sie als besonderes Talent eines Menschen. Sie wechseln von Freundschaft zu tiefstem Hass ohne jeden Übergang.“ Nach seiner Rückkehr ließ sich der gesundheitlich angeschlagene Merck in Petersburg nieder. Für seine hervorragenden Leistung wurde er zum Kaiserlich-Russischen Hofrat ernannt. Alle Teilnehmer bekamen ein extra Jahresgehalt und die leitenden Persönlichkeiten bzw. deren Witwen später eine lebenslängliche Pension. Es ist unbekannt, wann genau Merck heiratete, ob noch während einer der Aufenthalte in Jakutsk oder erst in St. Petersburg. Er übte noch einige Jahre seine ärztliche Praxis aus und starb dort Ende Januar 1799. Drei Jahre zuvor hatte er noch einmal seine Vaterstadt besucht. Laut der Instruktionen Katharinas II. sollten alle Tagebücher und Aufzeichnungen am Ende der Expedition vollständig und versiegelt abgeliefert werden. Seine Aufzeichnungen wurden zu Pallas auf die Krim geschickt und galten lange als verloren.28 Anscheinend hat Pallas, der 1810 Russland verließ, das Mercksche Tagebuch, das er für seine Russisch-Asiatische Zoologie herangezogen hatte, mitgenommen. Es wurde 1935 durch Zufall von einem Studenten in einem Leipziger Antiquariat entdeckt, der umgehend die Familie informierte.29 Es befindet sich heute im Familienarchiv. In dem 2014 (mitsamt dem Vokabular für siebzehn auf Kamtschatka üblichen Dialekte) ungekürzten Druck ist zu erkennen, dass sich Merck generell einer Beurteilung der Verhaltensweisen indigener Völker und eines erhobenen Zeigefingers enthielt. Erkannte er doch ihren effizienten Umgang mit allen zur Verfügung stehenden spärlichen Ressoucen. Bis heute ist nicht alles
Material ausgewertet.
1 In seiner Jugendzeit engagierte sich sein Verwandter
Johann Heinrich bei einer Preisaufgabe Katharinas II. 1765: Ist es dem gemeinen Wesen nützlicher, dass der Bauer Land oder dass er bloß bewegliches Eigentum habe und wie weit kann sich sein Recht auf das eine oder das andere erstrecken? 2 Merck an Lenz 8.5.1776. In: J. H. Merck, Briefe Hrsg. Von H. Kraft, Frankfurt a. M. 1968. 3 H. Lansdell, Durch Sibirien. Eine Reise vom Ural bis zum Stillen Ozean, Jena 1881, 275. 4 S. S. Schaschkow gibt ihnen die Schuld an einer Vernichtung der Aleuten. Historische Studien Bd.2, 297. 5 1608 zählte man beispielsweise noch 300 Familien der Arinzen, 1753 waren nur fünf Personen übrig, von denen nur eine noch die Sprache konnte. N. Jadrinzew, Sibirien. Geographische, ethnologische und historische Studien, Jena 1886; F. Müller, Unter Tungusen und Jakuten. Erlebnisse und Ergebnisse der Olenek-Expedition, Leipzig 1882; allgemeine Informationen auch: M. Jadrinzew, Sibirien. Geographische, ethnographische und historische Studien, Jena 1886; G. Maydell, Reisen und Forschungen im Jakutskischen Gebiet Ostsibiriens in den Jahren 1861–1871, St. Petersburg 1893/1896. 6 Akademie der Wissenschaften gegründet 1724 : Im Ausland wurden Professoren angeworben. 1733–1746 hatten die ersten russischen Schüler Posten übernommen. Arbeiten von Ausländern wurden nicht publiziert, z. T. aus Angst, feindliche Mächte könnten sie nutzen. Wissenschaftler durften erst nach Ausscheiden aus der Akademie populärwissenschaftlich veröffentlichen. W. Hintzsche (Hrsg.), Die große Nordische Expedition: Georg Wilhelm Steller (1709– 1746) ein Lutheraner erforscht Sibirien und Alaska. Eine Ausstellung der Franckeschen Stiftungen zu Halle, Gotha 1996. 7 A. Grasshoff, Johann Heinrich Merck und Russland. In: Gesellschaft und Kultur Russlands in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, Halle 1982. 8 P. Littke, Die Geschichte Russisch-Alaskas. Vom Zarenadler zum Sternenbanner, Essen 2003, 105. 9 Bei der zweiten Expedition befanden sich auch die Süddeutschen J. Gmelin und G. Steller. Siehe: W. Hintzsche (Hrsg.) 1996. 10 a. a. O. 60ff. 11 W. F. Gülden (Hrsg.), Forschungsreise nach Kamtschatka. Reisen und Erlebnisse des Johann Karl Ehrenfried Kegel, Köln 1992. Da er bis zu seinem Lebensende in Russland blieb, wäre er im Gefängnis gelandet, wenn sein Manuskript im Ausland publiziert worden wäre. 12 Genau deshalb war er nach Russland gegangen, nachdem er vorher auf Cooks dritter Reise nur als Assistent des Astronomen teilgenommen hatte. Billings Bericht liegt unpubliziert in St. Petersburg, Marinearchiv. Auszüge bei Sarytchew und Sauer. 13 G. A. Sarytschew, Reise durch den Nordostteil Sibiriens, das Eismeer und den Östlichen Ozean, Gotha 1954, 58. 14 a. a. O. 98. 15 a. a. O. 101. 16 Merck 19. 17 Auch H. Lansdell, Durch Sibirien. Eine Reise vom Ural bis zum Stillen Ozean, Jena 1881, 275. 18 Sarytschew 153. 19 1792 gab es 2500 Einwohner auf Unalaschka, vor Ankunft der Russen zehnmal so viel. N. Jadrinzew, Sibirien. Geographische, ethnologische und historische Studien, Jena 1886. 20 Merck 77. 21 Merck 205. 22 Sarytschew 161. 23 Merck 175. 24 Merck 122. 25 Sarytschew 169. 26 Merck 195. 27 Mercks Manuskript „Beschreibung der Tschuktschen“ liegt in der Handschriftenabteilung der Staatlichen SaltykowStschedrin-Bibliothek in St. Petersburg. 28 Sarytschew 251. 29 R. A. Pierce, Siberia and Northwestern America 1788–1792. The Journal of Carl Heinrich Merck Naturalist with the Russian Scientific Expedition Led by Captains Joseph Billings and Gavriil Sarytchev, Materials for the Study of Alaska History, Nr.17, Kingston 1980; D. Dahlmann, A. Friesen, D. Ordubadi (Hrsg.), Carl Heinrich Merck. Das sibirischamerikanische Tagebuch aus den Jahren 1788–1791, 2009; diess. Beschreibung der Tschuktschi, von ihren Gebräuchen und Lebensart sowie weitere Berichte und Materialien, Göttingen 2014; Rezension dazu: K. Küntzel-Witt In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 6 (2016), 9–10.
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Hessisches Grab in australischer Wüste Das Leben des Ludwig Becker Am 9. September 1808 erblickte in Offenbach im Haus des Lottodirektors Ernst Friedrich Becker und dessen erster Ehefrau Amöne geb. Weber aus Rödelheim der Sohn Ludwig Philipp Heinrich das Licht der Welt. Mit dem Neunjährigen und mindestens vier Brüdern (Karl, August, Ernst und Ferdinand) zog die Familie um nach Darmstadt, weil der Vater zum Rechnungsjustifikator an der Hofkammer ernannt worden war. Dementsprechend besuchte Ludwig das Darmstädter Gymnasium und aufgrund seines Talents die Museumszeichenschule. Aus dem gleichen Jahr, in dem er seine Mutter verlor, sind die ersten Auftragsillustrationen des Achtzehnjährigen für den Zoologen Johann Jakob Kaup erhalten: Publiziert sind sie in dem dreibändigen Werk „Das Thierreich in seinen Hauptformen“. Neben seiner Arbeit im Dienst der Druck- und Verlagsfirma H. L. Brönner, bildete er sich im Städelschen Institut in Frankfurt a. M. fort und malte auch Portraits und Miniaturen. Diejenigen, die er für den Großherzog malte, wurden 1945 in Schlesien zerstört, wohin die Bestände des Schlossmuseums ausgelagert waren.1 Im April 1840 wurde Ludwig zum Großherzoglichen Hofmaler ernannt, einem Posten, den er aus familiären Gründen nur vier Jahre ausübte. Da er auch einen Hofmalerposten in St. Petersburg ausgeschlagen hatte und nach Mainz übersiedelt war, um seinen erkrankten Bruder, den Graveur Carl Heinrich zu pflegen, kam er in finanzielle Nöte und hätte gern seine Sammlung an den Großherzog verkauft. Der hatte aber an den etwa einhundert Zeichnungen von Rembrandt und Raphael, mittelalterlichen Schnitzereien und Münzen kein Interesse. Eine naturkundliche Reise führte ihn entlang des Rheins bis in die Schweiz, zum Teil mit dem berühmten Paläontologen Louis Agassiz, der in Mainz zu Besuch weilte, wodurch sich sein Interesse an der Naturforschung noch vertiefte. 1847 kaufte Ludwig beim Antiquar S. Jourdan in Mainz ein Totenbildnis mit der Inschrift „Shakespeare“ und hörte dort von einer Gipsmaske, die
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fünf Jahre zuvor von einer Auktion der Hinterlassenschaft des Reichsgrafen Ludwig von Kesselstatt übrig geblieben sein sollte. Beim Trödler Wilz spürte er sie auf, verglich sie mit Bildnissen und Büsten und war überzeugt, die echte Totenmaske des Dichters in den Händen zu halten.
Frederick Schoenfeld, Portrait Beckers
Die einen schreiben, er sei auf Einladung eines Interessenten mit der Maske nach England gereist, eigenen Angaben zufolge hatte er aber als Grenadier in der hessischen Armee gedient und musste seine deutsche Heimat aufgrund seiner „liberalen“ Ideen gezwungenermaßen verlassen.2 Vielleicht beteiligte er sich in der Bürgergarde in Mainz an der Revolution von 1848.3 Man weiß nicht genau, wo er sich die nächsten zwei Jahren aufhielt, möglicherweise bei August und Karl (+1849) in Düsseldorf. Im Sommer 1850 hielt Ludwig jedenfalls Vorträge vor der British Association for the Advancement of Science in Edinburgh über geologisch-morphologische Themen. Im Gepäck hatte er die Totenmaske, deren Identität bis heute umstritten ist.4 Ludwig übergab sie Richard Owen vom Britischen Museum, der sie zumindest ausstellte.5 Beinahe hätte
das Britische Museum die Maske angekauft, wenn zweifelsfrei zu klären gewesen wäre, ob der Vorbesitzer in England gewesen war. Während Ludwig als Reisebegleiter eines jungen Lords von Liverpool aus nach Australien aufbrach, wurde sein Halbbruder Ernst 1851 Privatsekretär von Prinz Albert.6
Sturm-Höhle, Van Diemens-Land (Tasmanien), 1851
Der Dreimaster „Hannah“ brachte die beiden Touristen in drei Monaten zuerst nach Pernambuco und Rio de Janeiro. Im März 1851 landeten sie in Launceston Tasmanien und erkundeten die Insel mehrere Monate lang. Den Winter verbrachten sie im Haus des Gouverneurs Sir William Denison in Hobart. Zwei Jahre lang grub Ludwig in Bendigo, in der vergeblichen Hoffnung reich zu werden, nach Gold und hielt die Landschaft in Zeichnungen fest. Dann entschied er sich für die aufstrebende Stadt Melbourne und wurde in den sechs folgenden Jahren Mitbegründer von allen kulturellen und wissenschaftlichen Organisationen dieser Stadt. Für das „Philosophical Institute“ schrieb er viele Artikel. In der deutschen Gemeinschaft der Stadt war er eine führende und angesehene Persönlichkeit, galt als ungewöhnlich, aber geistreich. Schon bald beteiligte er sich an Kunstausstellungen, wurde Mitbegründer der Victorian Society of Fine Arts und gab eine bebilderte Biographien-Sammlung „Men of Victoria“ heraus. Er korrespondierte mit dem Ornithologen und Zoologen John Gould, bekannt als der Vater der Vogelkunde in Australien, zog als erster ein Leierschwanzküken auf und sandte Zeichnungen der Eier an Ornithologen in Deutschland und Frankreich. Der berühmte deutsch-australische Botaniker Ferdinand von Mueller benannte drei Pflanzen nach Becker. Auf die Besiedelbarkeit dieser Weltgegend hatte Georg Forster mehrfach hingewiesen.7 Neu-Hol-
land weise günstige klimatische Bedingungen auf.8 Obwohl vom ganzen Kontinent nur ein winziger Teil des Küstenstreifens bekannt war, erwarte er – allein aufgrund des Vergleichs mit Neukaledonien –, „dass die inneren Gegenden des Landes unendliche Schätze der Natur enthalten, die dem ersten und civilisierten Volk zu Theil und nützlich werden müssen, welches sich die Mühe geben wird, sie aufzusuchen.“ Durch sein Essay „Neu-Holland und die brittische Strafkolonie in Botany Bay“ (1787) hatte die Leserschaft in Deutschland von der Kolonisierung Australiens durch britische Strafgefangene erfahren.9 Der Aufsatz beschreibt detailliert den geographischen, geologischen, zoologischen und ethnographischen Wissensstand der Zeit über den Kontinent. Wieder diskutiert er die Frage der Kolonisierung. Er glaubte, dass die Europäer durch Zivilisierung der Aborigines deren Lebensverhältnisse auf lange Sicht verbessern würden. „Wie leicht finden vierzig oder fünfzig Menschen, die in der Gegend, wo die Niederlassung geschehen soll, herumirren, einen anderen, zu ihrer Absicht eben so bequemen Platz!“ Über die mit einer Vertreibung, die Forster hier zutreffend voraussagte, entstehenden Probleme dachte er nicht weiter nach.10
Malle-Sandkliff am Darling-Fluss
Die eingewanderten Deutschen kämpften seit 1855 für das aktive wie auch passive Wahlrecht, das viele Australier, die aus England stammten, ihnen nicht zugestehen wollten. Ein Leser schreibt im Adelaide Observer: „Unsere teutonischen Freunde haben guten Grund, dankbar zu sein für das Asyl, das Südaustralien ihnen gewährt hat ... und sie sollten dies dankbar anerkennen und ihre Freiheit in Ruhe genießen.“11 Trotzdem waren die Deutschen erfolgreich: Sie gewannen das Recht zu wählen und für das Parlament zu kandidieren. Aufgrund seiner Studien über die australischen Ureinwoh-
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ner und landeskundlicher Berichte wurde Becker zum korrespondierenden Mitglied des Vereins für Erdkunde in Darmstadt ernannt, hatte also immer noch Verankerung in der alten Heimat. In dieser Funktion berichtete er auch über die Erkenntnisse anderer Forscher über das Landesinnere, z. B. Babbage oder Gregory, und fertigte Kopien ihrer Zeichnungen und Karten dazu an.12 Für die Royal Society of Victoria entwarf er das Siegel und saß 1860 im Beirat. Viele trieb nun die Gier nach Gold in diesen Kontinent. Ludwig versuchte Bruder Ferdinand nach Australien zu holen, denn er fragte an, wie viel Geld dieser für die Überfahrt benötige.13 Über die erwähnten Vereine lernte Ludwig Becker die berüchtigten Entdecker Polizeioberst Robert O’Hara Burke und den Geometer W. J. Wills kennen, die sich für eine Süd-Nord-Durchquerung des australischen Kontinents bewarben. Der Ire Burke hatte sieben Jahre lang in der Österreichischen Armee gedient und sprach fließend Deutsch.
William Wills bekam einen Platz in der Expedition wegen der Unterstützung von Georg Neumayer, Direktor des Melbourner Observatoriums. Die drei Deutschen auf der Expedition waren: Hermann Beckler, Arzt und botanischer Sammler; Wilhelm Brahe und Ludwig Becker, offizieller Zeichner, Naturforscher und Geologe. Im Oktober schlugen sie ein Zwischenlager in Menindee unweit des Darling Rivers auf. Burke war in Eile und richtete Proviantdepots in Balranald und in Menindee ein. Robert Burke hätte Becker niemals mitgenommen ohne die Fürsprache von Mueller, Neumayer, dem Gouverneur von Victoria, Sir Henry Barkly.
Ein Käfer
Langhaarige oder Wanderratte, Ludwig Becker 1861
Nicht lange vor seiner Abreise ins Landesinnere veröffentlichte Becker in 38 Reimversen mit Karikaturen den Comic „Ein Australisch Lied“ über die Abenteuer eines deutschen Auswanderers, der nach Australien kommt. Am 6. Juli 1860 erwähnte der Redakteur der deutschsprachigen „Melbourner Deutsche Zeitung“ das Lied. Der letzte Reim scheint Beckers Lebensgefühl zusammenzufassen: „Der alte Gott, wie’s Sprichwort spricht, verlässet keinen Deutschen nicht!“ Als Ideen für eine Expedition zum ersten Mal diskutiert worden waren, hoffte Ferdinand Mueller, Australiens größter Botaniker des 19. Jahrhunderts, dass sie nach Spuren des verschollenen Forschungsreisenden Ludwig Leichhardt suchen könnten.
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Beckers Verdienst sollte sich auf £ 300 belaufen. Seine Aufgabe bestand laut John Macadam, Sekretär des Erforschungskommittees, darin, Proben zu sammeln, ein Tagebuch zu führen und täglich Illustrationen anzufertigen. Becker war am 20. August 1860 bereits über 50 Jahre alt, als die fragwürdige Expedition sich in Melbourne auf den Weg machte. Er hatte Kamele aus Indien importieren lassen und mit zwei Dutzend solcher Tiere wurde die Expedition ausgerüstet. „Wie aus seinen Tagebüchern hervorgeht, war Becker inmitten eines Haufens verrückter Entdecker, die wild entschlossen alles falsch machten, was falsch zu machen war, offenbar als einziger bei Trost.“14 Er richtete sich aber anscheinend unterwürfig nach allen Anweisungen. Die erste Sendung schickte er von Swan Hill, von Menindee einige Proben. Burke wurde ungeduldig über die Zeitverluste beim Sammeln der wissenschaftlichen Daten. Am 1. Oktober eröffnete er Beckler und Ludwig: „Nun, meine Gentlemen, von nun an müssen Sie Ihre wissenschaftlichen Untersuchungen aufgeben und stattdessen so arbeiten wie alle ... Ihr habt euer Material, das Ihr mitnehmt, einzuschränken.“
Die Entscheidung über die Route war weniger als einen Monat vor dem Start gefallen: von Cooper’s Creek zum Golf of Carpentaria. Burke erhielt seine Instruktionen nachgeschickt. Die Eile war groß, weil gleichzeitig der südaustralische Entdecker McDougall Stuart eine ähnliche Tour plante und man sich von ihm nicht übertrumpfen lassen wollte, die erste Durchquerung geschafft zu haben. Sir Henry Barkly, Gouverneur von Victoria 1856–1863, beschrieb es als einen Wettlauf. In der Eile verschwand auch eine Liste mit Beckers Ausrüstungswünschen. Sie liefen ohne Pause vierundzwanzig Meilen. Becker hatte seit drei Tagen nichts gegessen und zwei Nächte keinen Schlaf. Aber auf Vorhaltungen behauptete Mr. Landell: „Ich kann nicht anhalten. Beladene Kamele würden nicht wieder aufstehen, sobald ich ihnen einmal erlaube sich hinzulegen“. Sein einziges Zugeständnis war, dass er Beckers drei Kamele mitführte und er selbst nach einer Pause nachkommen konnte. Am folgenden Tag packte Becker wohlweislich Brot und Wasser in eine extra Tasche, die zugänglich war. Man muss es sich so vorstellen, dass er nach dem Laden von 200 Pfund schweren Säcken Mehl und Zucker den Strick über die Schulter nehmen musste und durch die ödeste Gegend, die er je gesehen hatte, mehr von den Kamelen gezogen wurde, als dass er sie selber führte. Die Sandhügel waren über 100 Fuß hoch, der Boden aufgeheizt, der lose Sand nur notdürftig von Grasbüscheln gehalten.15 Landell, der in Menindee kündigte, schreibt in einem Bericht an das Kommittee, dass Burke ihn aufforderte, Becker am Reiten zu hindern. Er wollte diesen Mann um jeden Preis entmutigen, denn wenn Becker die Expedition bis zum Ende begleiten würde, dann würde jeder denken, es könne keine besondere Leistung sein, wenn sogar ein 52-Jähriger die Strecke schaffe. Er musste warten bis alle schliefen, bevor er Ruhe für seine Zeichnungen und Einträge fand. Außer den Kamelen wurden auch Pferde, Wagen, Nahrungsmittel für zwei Jahre mitgenommen. Entgegen den Anordnungen teilte Burke die Gruppe, die Transportmittel und den Proviant, ein Teil mit Becker wartete in Menindee, während die anderen den Golf erreichen und wieder zurückkehren sollten. Derweil verzweifelte Becker, weil er keinerlei Kontakt zum Kommittee herstellen konnte, und brach das Tagebuch ab. Am 14. Oktober begann für Becker die letzte Phase. Er schreibt:
„Ich verließ das Camp um halb sieben, als der Unfall passierte. Mein Pferd trat mir auf meinen Fuß und zersplitterte den Nagel der großen Zeh, indem die Hälfte davon durch das Fleisch bis auf den Knochen gedrückt wurde. In großer Agonie ritt ich weiter und erreichte McClouds um halb zehn abends.“ Nur drei Tage später stellte ihn Burke vor die Alternative: „Würden Sie lieber beim Depot bleiben oder mit mir zum Coopers Creek? Falls Sie bei der Gruppe bleiben wollen, sind Sie willkommen, aber ich muss Ihnen sagen, dass Sie dann keine Zeit haben werden für wissenschaftliche Beobachtungen, weder ein Pferd noch ein Kamel zum Reiten, sondern den ganzen Weg laufen müssen und dieselbe Arbeit tun wie alle. Ich antwortete: Sir, ich fürchte mich nicht vor Arbeit, obwohl Sie sicher kräftigere Männer als mich finden würden, aber den ganzen Weg zu laufen, ist ganz unmöglich, denn als Folge meines Unfalls bin ich lahm und kaum in der Lage zu stehen.“16
Aborigines in Menindee
Im Lager Rat Point erkrankten Becker und Purcell, der Koch, sehr schwer. Wright versuchte nach Cooper’s Creek zu gelangen, erreichte aber nur Bulloo und drehte um. Der Arzt Beckler harrte bei den Kranken aus, dessen immer knapperen Berichte am 22. Oktober enden, und schrieb am 8. April seinem Bruder von der Krankheit Beckers und der Unwahrscheinlichkeit einer Genesung: „Was für einen Auf-
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schrei wird es deshalb in Melbourne geben, wenn ich ihn hier bestatte!“ Wright wollte die Kranken nach Menindee zurückschicken, aber Becker sagte, er könne nicht mal einen Tag reisen. Unterdessen ließ Burke weitere vier Mann unter Kommando Brahes in Cooper’s Creek und brach mit Wills, King und Gray, sechs Kamelen, einem Packpferd und Nahrung für zwölf Wochen zum Golf auf. Sie brauchten vier Monate für die 1500 Meilen, Gray starb auf dem Rückweg.
auf gut Glück wieder nach Menindee. Burke, Wills und King waren viel zu geschwächt, um Mount Hopeless zu erreichen. Nur King überlebte bei den Aborigines, nachdem die andern beiden gestorben waren. Er wurde durch A. W. Howitts Suchtrupp im September gefunden. Burke gewann zwar den Wettlauf von Süd nach Nord, aber seine Route war nicht nachvollziehbar, denn er machte keine Aufzeichnungen, beobachtete nichts wissenschaftlich, nur McDougall Stuart fand eine Route, die unter allen Wetterbedingungen praktikabel war. Ludwig Becker wurde in Zeitungen und Zeitschriften sowohl in Australien als auch in Deutschland betrauert. In Ballarat errichtete man 1863 zur Erinnerung einen Glockenturm für die verstorbenen Entdecker Burke, Wills, Gray und Becker. Ein Metallzaun, drei Holzpfosten und eine Platte markieren sein Grab in Queensland.18
v. l. n. r.: Alfred Hewitt, John King, Ludwig Becker
Als sie am 21. April 1861 das Basislager wieder erreicht hatten, war Brahes Gruppe gerade am Tag zuvor in Menindee mit sechs Kamelen, zwölf Pferden, aller Kleidung und den meisten Lebensmitteln aufgebrochen, in der Annahme, die andern hätten es nicht geschafft. Da Burke nicht damit rechnete, Brahe einholen zu können und mit zwei Kamelen die 400 Meilen überhaupt zu überleben, entschied er sich, die 150 Meilen nach Mount Hopeless zu laufen und hinterlegte eine diesbezügliche Nachricht. Brahes Gruppe erreichte Wrights Lager am Bulloo am 28. April. Einen Tag vorher hatten Aborigines das Lager überfallen. Während der Zeit war Becker die meiste Zeit bewusstlos gewesen und starb am 29.17 an Skorbut und Amöbenruhr. Bis einen Monat vor seinem Tod hatte Becker auch meteorologische Beobachtungen angestellt. Begraben wurde er nahe den Gräbern von Purcell und Stone, die ein paar Tage früher gestorben waren. Kleidung, Bettsachen und Zelt wurden verbrannt, die anderen Sachen gelangten nach Melbourne. Brahe kehrte zurück zum Cooper’s Creek, um auf Burke and Wills zu warten. Er fand die von Burke zurückgelassenen Hinweise nicht und zog deshalb
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Die Route: 1 Bulloo, 2 Cooper’s Creek, 3 Mt. Hopeless, 4 Menindee, 5 Melbourne
Die Aquarelle und Zeichnungen, die er während der Expedition produzierte, die die teuerste (mehr als £ 60000 und sieben Tote) in der Geschichte der australischen Forschungsreisen wurde, gehören zu den sinnträchtigsten und schönsten Landschaftsbildern der australischen Wüste. Im Unterschied zu anderen, die die Wüste als Feind betrachtet haben, fand er sie faszinierend und hielt mit Hilfe von Experimentaltechniken (teilweise durch seine Umstände gezwungen) die einmaligen Lichteffekte fest. Zwischen 1847 und 1914 wanderten 55900 Deutsche nach Australien aus. Die Deportation von Sträflingen beendete England 1868.
Mündung des Bamamero Creek in den Darling-Fluss
1 M. Tipping, Ludwig Philipp Heinrich Becker, Artist and Naturalist with the Burke and Wills Expedition, Melbourne 1979, 5. 2 Deutsche Einwanderer [https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_in_Australien] (Zugriff: 19.8.2019). 3 E. G. Franz (Hrsg.), Hessische Entdecker. Forschungsreisen in fünf Erdteilen. Ausstellung der Hess. Staatsarchive zum Hessentag 1981, Darmstadt 1981, 309. 4 H. Hammerschmidt-Hummel, Die authentischen Gesichtszüge Williams Shakespeare, 2006. 5 Nach dem Tod von Ludwig und Prinz Albert brachte Ernst die Maske zurück nach Darmstadt. 6 Sie befand sich im Beckerschen Anwesen, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Zum Schutz vor den Amerikanern wurde sie eingemauert. 1960 angekauft vom Bürgermeister. 7 Siehe Forster. 8 G. Forster, Reise um die Welt. In: Werke in Vier Bänden, Bd.1. Hrsg. Gerhard Steiner, Frankfurt, 1967, 195. 9 G. Forster, Neu-Holland und die brittische Strafkolonie in Botany Bay. In: Werke in vier Bänden, Bd.2 [Schriften zur Naturgeschichte, Ansichten vom Niederrhein], 225–248 noch vor dem Auslaufen der „Ersten Flotte“ unter Kapitän Philip, die im Januar 1788 nach der Landung in Port Jackson und der Gründung der Stadt Sydney den Beginn der modernen europäischen Geschichte Australiens markieren sollte. 10 Da Forster ihren Lebensstil nicht als Wohnen und deshalb das Land als herrenlos betrachtete, entwickelte er weder mora lische noch juristische Skrupel. G. Fischer, Auf den Spuren Georg Forsters: Die deutschen „48er“ Emigranten in Australien. In: Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften Nr.16, 2006. 11 Zitiert in G. Fischer, Enemy Aliens. Internment and the Homefront Experience in Australia 1914–1920 (St. Lucia, 1989), 27. 12 Notizblatt des Vereins für Erdkunde und verwandte Wissenschaften zu Darmstadt und des Mittelrheinischen Geologischen Vereins Nr.2, 1860, 59ff. 13 E. G. Franz (Hrsg.), Hessische Entdecker. Forschungsreisen in fünf Erdteilen. Ausstellung der Hess. Staatsarchive zum Hessentag 1981, Darmstadt 1981, 30. 14 Deutsche Einwanderer [https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_in_Australien] (Zugriff: 19.8.2019). 15 M. Tipping, Ludwig Philipp Heinrich Becker, Artist and Naturalist with the Burke and Wills Expedition, Melbourne 1979; Abdruck der Berichte. 16 a. a. O. Bericht vom 17. Oktober. 17 Die angegebenen Todesdaten variieren vom 27., dem 28. und 29. 18 Die Glocke: Illustrirte Zeitung, Bd.4, 1862, 117¸ L. Jörn (Hrsg.)¸ Koloniale Vergangenheiten – (post-)imperiale Gegenwart. Vortragsreihe im Rahmen des Jubiläums „550 Jahre Albert-Ludwigs-Universität“, SS 2007 und WS 2007/08 in Kooperation mit dem Historischen Seminar und dem Romanischen Seminar der Universität, Berlin 2010.
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Botaniker schmuggelt Rinden unter Lebensgefahr Justus Karl Haßkarl Die Familie Haßkarl suchte ihre Wurzeln in Schweden, wo der Name Hasskårl geschrieben wird. Der Vater Traugott war Beamter der Oberrechnungskammer des Königreichs Westphalen in Kassel. Dort wurde Justus Karl am 5. Dezember 1811 geboren. Seine Mutter Auguste war die Tochter Oberstleutnants von Germann.1 Am Ende der napoleonischen Zeit arbeitete der Vater zuerst in Naumburg/Saale, dann war er Bergamtsrevisor in Siegen, 1817 am Oberbergamt in Bonn, wo Justus das Gymnasium besuchte. Im Jahre 1827 verließ er die Schule und trat als Lehrling in den Botanischen Garten zu Bonn-Poppelsdorf ein. Durch den Beruf des Gärtners hoffte er, in fremde Länder reisen zu können. Nach der Ausbildung wechselte er zu kärglichen Bedingungen an den Botanischen Garten Düsseldorf als Demonstrator bei den Vorlesungen des Gartendirektors M. F. Weyhe, der ihn in die wissenschaftliche Botanik einführte. Dort vereinnahmte ihn der Miltärdienst zu den Pionieren. Auf der Artillerieschule gefiel es ihm mehr als dem Vater lieb war. Widerwillig kehrte er als technischer Leiter an den Botanischen Garten Düsseldorf zurück. Der Zuverdienst eines Untergebenen durch Privatstunden war jedoch seinem Chef ein derartiger Dorn im Auge, dass ihm gekündigt wurde.
Justus Karl Haßkarl ca. 1875
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Den ersten Aufsatz veröffentlichte Haßkarl über die Blütenverhältnisse eines ostasiatischen Nadelbaums 1834, als Student der Naturwissenschaften an der Universität Bonn. Anlässlich einer Tagung „Deutsche Naturforscher und Ärzte“ vertrat er den erkrankten Assistenten am Naturhistorischen Museum und ordnete die Sammlung seines Geologieprofessors G. A. Goldfuß. Unter den Gästen befand sich ein holländischer Reeder, der die Naturwissenschaften unterstützen wollte. Goldfuß empfahl ihm, seinem Schüler die Reise nach Java zu ermöglichen. Abgesprochen war, dass er auf einem seiner Schiffe frei hinüberfahren und als Gast bei einem Verwandten des Handelsherrn leben sollte. Nach etlichen Verzögerungen erreichte Haßkarl ein Jahr nach der Abfahrt die Insel. Doch welch ein Drama! Der anvisierte Gastgeber dachte nicht daran, das Versprechen seines Verwandten zu halten und setzte den Deutschen umgehend vor die Tür. Als das Reisegeld des Gestrandeten fast aufgezehrt war, rettete ihn Dr. A. Fritze, ein Landsmann, aus der Not. Java bezeichnet Alfred R. Wallace als die vielleicht schönste und interessanteste tropische Insel der Erde.2 Ihre 38 Vulkane liegen im fruchtbarsten, produktivsten und bevölkerungsreichsten Teil der Malayischen Inselgruppe. Die Insel erstreckt sich über 600 Meilen in die Länge und ist 60–120 Meilen breit, ihre Fläche entsprach damit ungefähr der Großbritanniens. Buitenzorg ist die regenreichste Stadt Javas mit circa 320 Gewittern jährlich. Selbst in der „Trockenzeit“ muss ab Nachmittag mit schweren Regenfällen gerechnet werden, die bis in die Nacht hinein andauern können. Heute sind die Urwälder weitgehend verschwunden. 1799 hatte der niederländische Staat der bankrotten Ostindischen Kompanie den Überseebesitz abgekauft. Für einige Zeit okkupierten ihn Frankreich und England, aber nach dem Wiener Kongress 1816 erhielt Holland die Kolonie zurück. 1820 gründete der Deutsche Reinwardt den Botanischen Garten, Dr. Blume wurde zunächst sein Assistent und, als Reinwardt 1822 nach Europa zurückkehrte, sein
Nachfolger. Meyers Konversationslexikon von 1874 schreibt zu der Stadt Bogor oder Buitenzorg („Ohne Sorge“): „Die Hauptstadt ist aus einem Landgut entstanden, das seit 1745 dem jedesmaligen Generalstatthalter zum Nießbrauch angewiesen war, liegt reizend am Fuß des 2202 m hohen Salak (dieser war 1699 das letzte Mal mit einer Schlammlawine ausgebrochen3), enthält hübsche Privatgebäude, die Wohnungen der holländischen Beamten, welche zur Stärkung ihrer Gesundheit einen Teil des Jahres hier zu verbringen pflegen. Die Stadt hat über 1200 Häuser und besteht aus einem javanischen und einem chinesischen Teil.“ Der Garten „’s Land Plantentuin“ ist heute 87 ha groß. Von 1825 bis 1830 tobte ein blutiger Guerillakrieg gegen die Kolonialmacht. Mit Hilfe des „indirect rule“ hielt man danach die Bauern ruhig, indem man deren alte Herrscher als Befehlsempfängern scheinbar an der Macht ließ. Der Garten wurde 1826 mit dem Gouverneurspark vereinigt und nebenbei von Dr. Blume betreut, der hauptamtlich als Militärarzt arbeitete. Damals konnte man andere Naturwissenschaften nur als Nebenfächer der Medizin studieren. Als Blume 1826 Java verließ, um in Leiden Direktor des Reichsherbariums zu werden, folgte ihm auf medizinischem Sektor der erwähnte Dr. Fritze aus Nassau, Hobbybotaniker und -geologe. Kollege Dr. Blume wurde von Holland aus zur grauen Eminenz der Botanik. Einerseits nutzte er weitreichende Beziehungen, um junge Wissenschaftler zu fördern, solange er – so ging das Gerücht – deren Erkenntnisse unter der Hand als seine ausgeben konnte. Wurden ihm die Jungen andererseits zu selbstbewusst, boykottierte er sie ganz schnell und zerstörte Hoffnungen, indem er sich nicht wie verabredet um die Drucklegung eingesandter Manuskripte kümmerte. Unter den Fittichen Fritzes (+1839) stand der abenteuerlustige Mediziner und Querkopf Franz Wilhelm Junghuhn, dem er durch Inspektionsreisen Gelegenheit zum botanischen Studium verschaffte. Nun versorgte er Haßkarl 1837 mit einer Schreiberstelle. Das linderte zwar vorerst die größte Sorge, war auf lange Sicht für den dafür Überqualifizierten hinsichtlich einer Karriere als Botaniker hinderlich. Ohne finanzielle Reserven brauchte man einen sehr langen Atem,
denn für die Niederländer stand der Profit im Vordergrund, an der Erforschung wurde hinten und vorne gespart. Gouverneur de Kock etablierte ein neues Ausbeutungssystem, das „Kultuurstelsels“, das waren Regierungsplantagen, auf denen die Einheimischen Frondienst leisten mussten, um den holländischen Markt u. a. mit billigem Indigo aufzufüllen. Außerdem wurden 800000 Javaner mit an den Haaren herbeigezogenen Beschuldigungen mit Zwangsarbeit bestraft. Grauenvoll klang Haßkarl deren Kettengerassel im Ohr. Dem nächsten Gouverneur van den Bosch war aufgefallen, dass die Fruchtbäume des Palastgartens sehr wenig Ertrag abwarfen. Um dies zu verbessern, stellte er den einfachen Gärtner Teysmann als technischen Direktor ein und auf Dr. Fritzes Anregung Haßkarl als wissenschaftlichen Direktor. Er sollte die Pflanzen katalogisieren. Beider Chef war der Franzose Diard.4
Titanwurz im Botanischen Garten Bonn
Der jüngere Haßkarl unterrichtete nun Teysmann in Botanik, um die Fehler in den Pflanzenbenennungen auszumerzen. In den meisten Veröffentlichungen schreibt man den Fortschritt der exakten Botanik diesem Teysmann zugute, dessen Aufsätze in niederländischen Zeitschriften Haßkarl in späten Jahren zusammengefasst in deutschen botanischen Magazinen vorstellte und auswertete. Wallace fand dreißig Jahre später einiges zu kritisieren: „Die Wege waren mit Kieselsteinen belegt, die ein längeres Umherwandern unter der tropischen Sonne sehr ermüdend und schmerzhaft machten. Die Gärten sind wunderbar reich an tropischen und speziell malayischen Gewächsen, aber ihre Anordnung lässt zu wünschen übrig.“ Seiner
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Meinung nach waren zu wenige Arbeitskräfte für die Pflege abgestellt, so dass in europäischen Treibhäusern viele Pflanzen prächtiger gediehen als dort, wo sie mitunter nicht der optimalen Witterung ausgesetzt waren. Allerdings imponierten die Alleen aus über 200 Palmenarten und Bambusgebüsche aus fünfzig verschiedenen Arten. Daneben wuchsen 883 Orchideenarten und als Höhepunkt die Titanenwurz (Amorphophallus titanum), ein Aronstabgewächs mit einem über zwei Meter hohen Blütenstand, der auch im Bonner botanischen Garten einen jährlichen Besuchermagneten bildet. Fast alle Weltreisenden in dieser Gegend besuchten den Garten, unter anderem vermutlich auch Hermann zu Solms-Laubach5, Redaktionsmitglied der Zeitschrift für Botanik (1842–1915). Haßkarl wurde zwar nicht von Reiseschriftstellern erwähnt, hatte aber laut R. Kräusel entscheidenden Anteil am späteren Ruhm des Forschungsinstituts.6 Als er anfing, belief sich die Zahl der kultivierten Pflanzen auf 800 Arten, am Ende auf 3000, einige Hundert davon beschrieb er erstmals.7 In der Zeitschrift „Flora“ zeigten seine Schilderungen, dass er nicht nur ein Botaniker war, sondern sich in gleich kompetenter Weise auch der vulkanischen
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Besonderheiten seiner Umgebung annahm (wofür Junghuhn nur Häme übrig hatte). 1842 erstieg er von Samarang aus den Berg Japara in Mittel-Java.8 Er folgte sechs Stunden lang der großen Heeresstraße bis Demak, dem Sitz eines lokalen Regenten unter holländischer Aufsicht. Einheimische wiesen ihn auf das „ewige Feuer“ hin. Dabei handelte es sich um mehrere Öffnungen „von 8–14 Zoll Durchmesser, welche aber bloß eine, etwa 1 Fuß tief mit verbrannter Erde gefüllte, trichterförmige Vertiefung zeigten, aus welcher sich ... ein Gas entwickelt, das in Berührung mit der Luft sogleich sich entzündet. Die Flamme ist bei Tageslicht kaum zu erkennen, obgleich man mit Leichtigkeit andere brennbare Stoffe daran entzünden kann, sie soll aber bei nacht eine grünliche Farbe haben, und sich selbst dann zeigen, wenn in der Regenzeit die ganze Umgebung und der Ort der Gasentwicklung selbst unter Wasser stehen, welches die Inländer der Nachbarschaft vergleichen mit dem Entzünden des auf ein Teller ausgegossenen Branntweins; sie fürchten dies Feuer mehr als dass sie dasselbe verehren.“ Im Dorfe Kampong stieß er auf Kessel mit schlammigem Wasser gefüllt, welches durch aufsteigende Gase in fortwährendem Aufwallen begriffen sei: ,,Ein anderes in den Kalkfelsen geformtes Becken war gefüllt mit schmutzigem, stinkenden Wasser, nachdem dasselbe heraus geschöpft war, kam sogleich braungelbes Erdöl aus einer kleinen zwischen den Felsbrocken befindlichen Öffnung heraus ... Ich ließ dasselbe mit einem Wisch von Reisstroh auffangen und in einen großen Topf abstreichen, es hat einen penetranten Geruch, faden Geschmack und ist ohne besonders auffallende Eigenschaften, frisch will es nicht brennen, thut solches jedoch, wenn es einige tage gestanden hat. Die Inländer, welche in der Gegend wohnen, wenden es gerne bei Ausschlagkrankheiten an.“ Ein weiteres vulkanisches Phänomen beschrieb er an den Schlammquellen von Kuwu. Eine horizontale Fläche aus grauem Schlamm war an den meisten Stellen von der Sonne getrocknet elastisch begehbar, „jedoch an einzelnen Stellen so weich, dass nur mit Hilfe darauf gelegter Leitern, welche für den Fremden noch mit Matten bedeckt werden,“ ein Begehen möglich ist. Diese Fläche hob sich von Zeit zu Zeit blasenförmig, gewann an Ausdehnung und zerplatzte unter Freisetzung von
nach Jod riechenden Dämpfen mit einem dumpfen Knall, wobei der wegspritzende Schlamm bis 50 Fuß Entfernung mit lautem Geplatsch auftraf. Die Unternehmungen waren nicht ungefährlich, einmal fand er in den Ziegelruinen und Grabhügeln von Cheribon Tigerspuren neben dem Feuerplatz der vergangenen Nacht. Gerade noch mal mit dem Schrecken kam er davon, als er, die Einheimischen nachahmend, ein Alangalang-Grasfeld abflämmen wollten, um seinen Begleitern ein vereinbartes Signal zu geben. Beinahe hätte der drehende Wind seine Unterkunft vernichtet. Auf jeden Fall verausgabte er sich derart bei Reisen innerhalb Javas, dass seine Gesundheit litt. Nach sieben Jahren Aufenthalt war er beinahe zu schwach, um das Schiff zu erklimmen, mit dem er seinen dreijährigen Urlaub antreten wollte. Vor seiner Heimkehr suchte er in Amsterdam noch den holländischen Kolonialminister auf und erlangte eine Bewilligung zur Anschaffung von Büchern, Mikroskop und anderen Hilfsmitteln. Wenig später heiratete er eine ehemalige Düsseldorfer Schülerin. Der plötzliche Tod des ihn unterstützenden Gouverneurs von Java (Merkus) veranlasste den vorzeitigen Abbruch des Urlaubs. Da dessen Nachfolger Rochussen jede alte Absprache des Amsterdamer Ministeriums ignorierte und Justus nur Steine in den Weg legte, kündigte dieser nach kurzem Intermezzo und kehrte zu seiner Familie nach Düsseldorf zurück. Von der ihm zustehenden Rente sah er keinen Heller. Es gelang ihm zwar, 1847 Mitglied in der wissenschaftlichen Gesellschaft der Leopoldina zu werden, wo er zwanzig Jahre später einen ausführlichen Katalog der Pflanzen vorlegte9, aber eine angemessene Stelle bekam Haßkarl auch in Europa nicht. Es war ungeschickt gewesen, den Weg fern der Universität gewählt zu haben. Anscheinend fehlte ihm auch das Talent, nützliche Verbindungen zu knüpfen. Um seine wachsende Familie zu ernähren, arbeitete er als Syndikus bei der Handelskammer in Düsseldorf, als Stenograf und Übersetzer bei Gericht und redigierte die Reiseberichte von Junghuhn, obwohl der ihn wissenschaftlich brüskiert hatte. Nach entbehrungsreichen Jahren griff Justus deshalb nach dem Strohhalm, den ihm 1852 das holländische Kolonialamt anbot. Man versprach ihm das Amt des Direktors der Chinakultur, wenn er lebendes Pflanzenmaterial des Chinarindenbaums
(Chinchona) aus Südamerika nach Java bringen und dort in Plantagen kultivieren würde. Der Raubbau an den Bäumen in ihrem Ursprungsgebiet zwischen 19° südlicher bis 10° nördlicher Breite hatte 1845–48 Weddell mit Schrecken festgestellt. Wo Alexander v. Humboldt bei Loxa noch ganze Wälder aus Chinabäumen vorgefunden hatte, schrumpften die Wälder dramatisch (1873 ausgerottet). Reinwardt schaffte es genausowenig wie viele nach ihm10, die Regierung zu Anbauversuchen zu überreden. Nun schien Gefahr im Verzug. Junghuhn, der gerne der Retter gewesen wäre, behauptete später, aus sittlichen Motiven dem bedürftigen Kollegen das prestigeträchtige Projekt überlassen zu haben. Haßkarl hatte unter anderem Blume im Verdacht, die geheimen Pläne dem „Hamburgischen Correspondenten“ ausgeplaudert zu haben. Es bestand die Gefahr, dass die Auslandsdeutschen den Artikel lesen würden und alarmiert wären, sobald Haßkarl auftauchte. Die Lage war lebensgefährlich, denn in Peru stand die Todesstrafe auf die Ausfuhr jeglichen Teils dieses Baums. Das erste vorgesehene Schiff hatte Gelbfieber nach Europa gebracht. Aus Sorge vor einer Ansteckung mietete Haßkarl eine Kabine für sich allein. Ohne irgendwelche spanischen Sprachkenntnisse erreichte er auf dem Londoner Dampfer „La Plata“ mit einem Pass auf den Namen „Herr Müller aus Cassel“ Südamerika. Wichtigste Ausrüstung waren ein eisernes Feldbett, eine Luftmatratze und drei Barometer. In Ecuador vereitelte die gerade begonnene Regenzeit eine Waldbegehung, deshalb fuhr Justus bis Callao weiter.11 Um 1840 war der Export von mindestens einer Million Pfund Rinde nach Europa ein großes Geschäft, denn der Preis war besonders hoch, wenn „auf feuchte Jahreszeiten heiße, austrocknende folgen, welche die Zersetzung von tierischen und vegetabilischen Substanzen begünstigen ... (und) die Bildung von Kohlenwasserstoffgasen hervorrufen, die eingeatmet das Blut vergiften ...“ Die Ärzte glaubten, sogenannte Miasmen (Ausdünstungen des Bodens) als Ursache der Fieber benennen zu können. Man zahlte 40 Taler für ein Pfund Chinin. Ein Baum erbrachte rund achtzig Kilogramm frische Rinde, die für den Verkauf noch getrocknet werden musste. Chinin galt als Mittel gegen Fieber aller Art, besonders gegen periodische und intermittierende Krankheiten, chronische Nervenleiden, anhaltende
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typhöse Fieber und Infektionskrankheiten. Kein Ersatz, den man während der napoleonischen Kontinentalsperre versuchte (Wandflechten Baobab, Mahagoni, Weide, Lebensbaum, Rainfarn, Berberitze, Weißdorn und viele andere), reichte an die Wirkung des Chinins heran. Die Verbreitung der Chinchona zwischen 750 bis 2700 m Höhe erstreckte sich zwar auch nach Ecuador und Bolivien hinein mit zahlreichen Arten, aber Mitte des 19. Jahrhunderts hatte nur die peruanische Rinde ökonomische Bedeutung. Die Händler in Lima, die Haßkarl als Pflanzensammler getarnt auf dem Markt ausfragte, schöpften aufgrund seiner vielen Fragen Verdacht und zeigten ihn an. Zum Glück glaubte niemand den Anschuldigungen. Ausgerechnet beim Präsidenten des hohen Gerichtshofs in Lima fand er erste Unterkunft, lernte Spanisch von den Töchtern der Familie und wurde zu einer Konferenz hinzugezogen, die sich mit der Ansiedlung deutscher Bauern befasste.12 Unter Begleitung eines Indianers zog er in die Berge, im Gepäck Tauschwaren wie Rosenkränze, Scheren, Messer, Angeln und Perlen und zwecks zusätzlicher Motivation für die Tippgeber Kokablätter. Zu der ersten Ladung Pflanzen packte er auch Erde des Standorts und Wolle zur Tarnung in die Wardschen Kisten. Während ein eingeweihter Mittelsmann in Lima die Kisten verschickte, erkundete Justus, wie vor ihm nur Weddell, die Wachstumsbedingungen im Verbreitungsgebiet, beobachtete die Feuchtigkeit, die Lichtverhältnisse und mögliche Abhängigkeiten zu den verschiedenen Arten. Um Samen zu sammeln, musste man im August das Verbreitungsgebiet erreichen. Er hatte 2000 Pesos in der Hauptstadt hinterlegt, der Finanzminister gab ihm dafür ein Schreiben, gegen das ihm jeder Subpräfekt des Landes Geldsummen auszahlen musste. Dadurch vermied er, schweres Silbergeld mitschleppen zu müssen. Die geschmuggelten Pflanzen gingen jedoch ein, da sich der Weitertransport in Panama zu lange verzögerte.13 Die Samen wurden in Leyden von Prof. de Briese angezogen und die Pflänzchen ausgerechnet in der Obhut Junghuhns verschifft, der von einem Europaurlaub nach Java zurückkehrte. Er setzte „die Pflanzenschösslinge, die er mit dem Schiff „Minister Pahud“ aus dem Botanischen Garten Leyden nach Java brachte“, in Tij Nivuan 1855 ein. Statt die Pflänzchen, wie Haßkarl
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angewiesen hatte, in Zuchtbeeten aufzuziehen, setzte er sie in frisch gerodeten Waldboden, wo die meisten ein Opfer der Insekten, der Nashörner oder wilder Kühe wurden. Die Lage in Peru wurde prekärer, da eine Revolution den Einfluss der Regierung im Süden entzog, diese aber günstigerweise von seinem Vorhaben ablenkte. Haßkarl, der schon selbst am Erfolg seiner ersten Sendung zweifelte und deshalb noch weiter nach Chinchonabeständen suchte, wurde in manchen Regionen für einen Spion der Regierung gehalten. Sooft wie möglich übernachtete er bei Deutschen. Während seine Träger Flüsse auf glatten Baumstämmen überquerten und die Mulis hinüberführten, robbte er bäuchlings über den Abgrund oder hangelte sich auf allen Vieren über schwankende Seilbrücken. Stürze blieben nicht aus. Die Arten der Pflanze hatten unterschiedlichen Gehalt an Chinin. Justus schulte seinen Blick für die verschiedenen Qualitäten der Rinde, die zum Glück in frischem Zustand gut zu unterscheiden waren, da die Schnittflächen sich an der Luft unterschiedlich färbten. Bei neun Monaten Dauergeniesel war die Trocknung der Rinde problematisch. In Bolivien standen Soldaten an den Zufahrtsstraßen in die Gebiete, in denen der immergrüne Baum mit den weiß oder purpurfarbenen Blütenrispen wuchs. Zumindest gelang es, die inzwischen wertlose Empfehlung der Regierung in eine anerkannte der Revolutionäre umzuwandeln. Obwohl ihn die einheimischen Händler auch in Urubamba, nördlich Cuzco, bereits angezeigt hatten, transportierte er seine fünfhundert, auf anderthalb Fuß Länge zurückgeschnittenen, Schösslinge in Pisangblättern und Wolle verpackt bei Nacht und Nebel unter den Augen bestochener örtlicher Behörden an die Küste. Der Militärkommandant von Peru, der beim englischen Konsul wohnte, musste das Ausreisevisum bewilligen. Selbiger Konsul hatte nun gerüchteweise von dem Schmuggel erfahren und wollte die Pflanzen kaufen. Haßkarls Abstreiten irritierte ihn nicht. Justus konnte ihn schließlich nur abwimmeln, indem er behauptete, die Pflanzen wegen der nötigen Transportaufsicht direkt an die britische Regierung übergeben zu wollen. Daraufhin riet der Konsul seinem Gast, die Ausreisebewilligung auszustellen. Um seine Lüge zu untermauern, schiffte Justus seine einundzwanzig
Kisten in Islay auf einem britischen Schiff ein, das er jedoch in Callao gegen die Fregatte „Prinz Friedrich der Niederlande“ eintauschte. Der Kapitän fühlte sich und sein Kriegsschiff durch diesen Auftrag zu einem Schmuggelkutter degradiert und nutzte jede Gelegenheit, das Unternehmen scheitern zu lassen. Anstatt die klimatisch günstigere Strecke um Kap Hoorn zu nehmen, wählte er die Strecke über den heißeren Stillen Ozean. Sie gerieten in einen Taifun und wurden abgetrieben zu den Djildoinseln. In Makassar behauptete der Oberst, „die Mannschaft sei zu abgearbeitet und könne nicht bis Batavia weiter.“ In Makassar eilte Haßkarl zum Gouverneur und verlangte ein Kriegsschiff. „Wissen Sie, wie teuer das ist?“, wurde er gefragt. Er solle auf das vierzehntägig laufende Dampfschiff warten. Seit 21. August waren die Pflanzen jetzt in den Kisten eingeschlossen. Am 8. Dezember ging es endlich weiter, nachdem Justus dem Gouverneur jegliche Verantwortung für das Absterben der Pflanzen übertragen wollte. In Batavia sollten sofort alle Kisten per Boot an Land gebracht werden. Gouverneur de Kock stellte ihm mit der Bemerkung, er wolle wohl wie ein König empfangen werden, erst für den folgenden Tag indische Segler in Aussicht. Jetzt platzte Haßkarl der Kragen: „Wäre mir in Peru solche Hilfe zutheil geworden, wie hier von den Beamten desselben Gouvernements, welches das größte Interesse an meinem Unternehmen haben müsste – dann hätte ich dasselbe nie zur Ausführung bringen können.“ Am Ende waren viele Pflanzen eingegangen, andere hatten Triebe gebildet, die verdorrt waren, nur achtundsiebzig Pflanzen waren zu retten. Etliche Exportversuche waren früher fehlgeschlagen. Condamines hatte 1738 vergeblich versucht, Pflanzen nach Europa zu bringen, Weddell brachte immerhin Samen nach Paris. 1851 vermittelten Jesuiten den Export nach Algerien. Das hätten die Franzosen fast wieder preisgegeben, weil von 1100 Soldaten nach einem halben Jahres nur noch achtzig Mann lebten. Aber weder dort noch auf Réunion gelang die Anzucht. Zur selben Zeit, während Haßkarl zwei Jahre lang unerkannt die Wälder des Landes bereiste, gelang ein erster Pflanzversuch der Engländer durch Clements Markham in Indien. Er hatte McIvor, den schottischen Oberaufseher der Regierungsgärten
in Ootavamund, beauftragt, die Lagen ausfindig zu machen, auf denen die Chinchona-Pflanzen angesiedelt werden könnten. Über Jahrzehnte pflanzte McIvor, testete unterschiedliche Pflanzorte, Düngung, Beschneidung, Varianten und tauschte Informationen mit den botanischen Gärten in Kalkutta, Singapur, Kew und Java.14 Verschiedene Erntemethoden bedingten einen unterschiedlichen Gehalt an Alkaloid. Auf Ceylon schlug der Versuch fehl, weil man die Biochemie der Pflanzen nicht berücksichtigt hatte. Erst nach zehn Jahren merkten die Verantwortlichen, dass die Qualität ihres Produktes weit hinter derjenigen von Java zurückblieb. Als Heilmittel kannte man die Chinarinde schon 1630. Aber es musste erst der Corregidor von Luxa vom sogenannten Wechselfieber geheilt werden, bevor sie ihren weiteren Siegeszug antreten konnte. 163915 war sie nach Spanien und 1643 nach Rom zu Kardinal de Lugo gelangt. Deshalb war das Medikament auch unter dem Namen „Jesuitenpulver“ bekannt. Ab 1663 verkauften es auch deutsche Apotheken. Obwohl Pellicioni16 1768 das Chininpulver als Malariaprophylaxe empfohlen hatte, lehnten die meisten Ärzte aus rein theoretischen Erwägungen das Chinin selbst bei einer Therapie ab.17 Die Krankheit war durchaus nicht auf die Kolonien beschränkt. Der Garnisonsphysikus Medicus berichtet von einer Malaria von Juli bis Ende November 1761 in Mannheim18, die er zwar nicht mit der gleichzeitigen Schnakenplage in Beziehung setzen konnte, aber durch konsequenten Einsatz der Chinarinde mit Erfolg behandelte. Stolz erklärte er: „In der peruvianischen Rinde scheint jenes Etwas verborgen zu sein, das sich dem Begriff eines Spezifikums nähert.“ In der Gegend von Mannheim, die oft überschwemmt wurde, steckte sich 1781 und 1783 auch Friedrich Schiller an, als seine ersten Dramen dort aufgeführt wurden. Die meisten Ärzte ignorierten die Beobachtung von Medicus und hielten es mit Hufeland: „Das souveräne und einzige Mittel beim Wechselfieber ... ist das Opium.“19 Auch an der Nordseeküste wurde 1826 bei einer Malariaepidemie in Folge von Deichbrüchen und 1845 nach einer Sturmflut Arsenik und Opium verabreicht, weil es billiger war als Chinin. Seit 1820 war durch Pelletier und Chaventou bekannt, dass das wirksame Alkaloid
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als heftiges Gift gegen mikroskopische Organismen wirkt und Gärung und Fäulnis bekämpft.20 Ohne den Wardschen Kasten wäre Haßkarl der Export von Samen und jungen Pflanzen nicht gelungen.21 Bei Haberlandt hört sich das etwas anders an.: „Es dürfte hier die geeignete Stelle sein, mit einigen Worten auf die Leistungen des botanischen Gartens Buitenzorg in bezug auf die Einführung neuer Kulturpflanzen hinzuweisen. In den Jahren 1852–54 hat der Garten einen wesentlichen Anteil an der Akklimatisierung des Chinarindenbaums (Chinchona Calisaya) und anderer Arten genommen, welche bekanntlich in Südamerika zu Hause sind und heutzutage auf Java in den Regierungsplantagen mit großem Erfolg kultiviert wird. Das erste Chinarindenbäumchen auf Java hat Teijsmann im botanischen Garten ausgepflanzt. Die Stecklinge bildeten im Verein mit den aus Samen gezogenen Pflänzchen, die Haßkarl mitgebracht hatte, den Grundstock für die Ausbreitung. Schon nach zwanzig Jahren wurden in den Regierungsplantagen über zwei Millionen Chinabäume gezählt.“22 Als habe sich die Welt gegen Haßkarl verschworen und wolle seinen Namen auslöschen, so hört es sich an. Das versprochene Amt wurde ihm vom Gouverneur verweigert, man ließ ihn ohne jede Hilfe allein mit seinen Pflanzungen in einer elenden Hütte in 1600 m Höhe. Batavia scheint ein Nährboden für Intrigen aller Art gewesen zu sein. Nun drängte sich zu allem Überfluss Junghuhn ins Chinarindengeschäft. Und Haßkarl beutelte das Schicksal, denn trotz allem scheint er seine Zukunft auf Java geplant zu haben, seine Familie war schon unterwegs. Doch das Schiff mitsamt seiner Frau Anna geb. Medenbach, seinen vier Töchtern und der Gouvernante sank vor der englischen Küste. Als Justus den frisch angekommenen Kolonialminister Pahud in Batavia begrüßen wollte, stellte er fest, dass Junghuhn mit seiner geschwätzigen Art den Minister für sich eingenommen hatte. Justus erlitt einen körperlichen Zusammenbruch, kam mit Amöbenruhr ins Krankenhaus und wurde nur nach Europa entlassen, weil die Medikamente nicht mehr halfen. Folge seines verlängerten Genesungsurlaubs war die Entlassung. Sein Nachfolger in Buitenzorg wurde ausgerechnet Junghuhn23, der 1848–1855 in Holland am meisten gegen ihn gearbeitet hatte, alles
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besser wusste und sich die Wiederaufforstung auf die Fahnen schrieb. Für 1000 Gulden Pension unterschrieb Haßkarl leichtsinnigerweise, auf alle zukünftigen Gewinne zu verzichten, während der neue Leiter mit 15000 Gulden Jahresgehalt rechnen konnte. Nicht genug, auf einmal war für alle Schutzmaßnahmen der Pflanzen Geld bewilligt, für das Haßkarl vergeblich gekämpft hatte. Junghuhn, der sich als Inspektor vorher oberflächlich mit der Baumpflege vertraut gemacht hatte, kreidete dem Vorgänger die Unterlassung in gehässiger Weise öffentlich an.24 Die ihn rechtfertigenden Artikel seines alten Kollegen Teysmann im „JavaBoden“ zeitigten keinen Erfolg.25 1861 behauptete das „Bataviaasch Handelsblad“, dass im Falle eines Krieges, der den Schiffsweg nach Europa unterbrechen würde, die Zufuhr von Chinin aus Java den Bedarf von Indien decken würde. Immerhin überlebte Haßkarl seinen Widersacher und hatte die Genugtuung, in der Zeitschrift „Flora“ darauf hinzuweisen, dass nach dem Tode Junghuhns endlich die ertragreicheren Chinchonaarten kultiviert wurden. „Die vor April 1864 (dem Sterbemonat Junghuhns) in die dunklen Wälder gepflanzten Chinabäume können nicht in gehörige Entwicklung kommen, ja viele sterben durch übermäßigen Schatten und Feuchtigkeit. Seit April werden die Wälder gelichtet.“ Empfehlenswert war laut Haßkarl eine schüttere Bepflanzung von Akazien als Schattenspender, denn in voller Sonne wuchs der Baum nur strauchartig und bildete nicht genug Rinde, mit zu viel Schatten kam er nicht zur Blüte. Außerdem hatte Junghuhn die beste Sorte vernachlässigt und stattdessen eine mit wenig Chiningehalt bevorzugt vermehrt, da er englischen chemischen Analysen misstraute. Nach Junghuhns Tod wurden 25 Prozent der Kosten eingespart, indem man 100 Arbeiter entließ. 125–140 Gärtner und 8 Aufseher pflegten die Plantagen unter der Leitung des Apothekers v. Gorkum. Aufgelassene Kaffeefelder forstete man mit der minderwertigen Chinaqualität zur Versorgung der einheimischen Bevölkerung auf. Der botanische Direktor von Buitenzorg Dr. De Vrij war Chininexperte und sorgte mit einem höchst kommerziellen Führungsstil für einen höheren Anteil des Alkaloids in der Rinde, indem er die Bäume nur in begrenzten Höhenlagen anbaute. Seine Produktion wurde in London und Amsterdam aufbereitet und durch ein rein
niederländisches Kartell verkauft.26 Jeder Händler, der das Monopol zu unterlaufen versuchte, wurde ruiniert. Überall, wo die Malaria ein lokales Problem darstellte, wurden mehr oder weniger erfolgreiche Pflanzversuche unternommen: an der Westküste Sumatras, auf Celebes, den Molukken, Australien und Brasilien. Von seiner kleinen Rente lebte Haßkarl in Königswinter bei Bonn, später in Kleve, wo er Johanna Franziska, Tochter des Ministerialbeamten William Anthony Medenbach, heiratete, eine Schwester seiner ersten Frau, mit der ihm ebenfalls kein langes Glück beschieden war. Im Rheinland veröffentlichte er seine grundlegenden botanischsystematischen Werke. Bei der 48. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Graz 1875 wurde er zum Vorsitzenden der nächsten Sitzung gewählt. Den Ehrendoktor erhielt er in Greifswald.27 Die Niederländer überreichten ihm das Ritterkreuz des Ordens vom niederländischen Löwen und das Kommandeurkreuz des luxemburgischen Ordens von der Eichenkrone, die Preußen 1870 den Kronenorden und die Akklimatisierungsgesellschaft Paris eine goldene Medaille, die ihm nichts nutzte. Beinahe vergessen starb er am 5. Januar 1894. Die Botanische Staatssammlung, die 1813 auf Veranlassung von König Maximilian I. Joseph von Bayern als „Herbarium Regium Monacense“ gegründet worden war und der Akademie der Wissenschaften zugeordnet wurde, beherbergt heute ein Gefäßpflanzen-Herbarium von Haßkarl mit Commelinaceae aus Indien. Es gelangte dorthin als
Geschenk von Dr. Kriechbaumer.28 Der Botanische Garten Leyden müsste noch ein Chinaherbarium beherbergen, wie eines von Junghuhn.29
Chinarinde (Chinchona oblongifolia) 1830
Diverse Pflanzen tragen seinen Namen: Euphorbiaceen Hasskarlia, Furcraea tuberosa Hasskarl, Ligustrum ovalifolium Hasskarl, Agave cubensis Hasskarl seien hier nur herausgegriffen. Haßkarl war im übrigen nicht der erste hessische Botaniker in dieser Weltgegend gewesen.
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1 E. G. Franz (Hrsg.), Hessische Entdecker. Forschungsreisen in fünf Erdteilen. Ausstellung der Hess. Staatsarchive zum Hessentag 1981, 25ff. 2 A. R. Wallace, Der Malayische Archipel. Die Heimath des Orang-Utans und des Paradiesvogels. Reiseerlebnisse und Studien über Land und Leute, Braunschweig, 1869, 140. 3 Ders. 157. 4 K. Müller, Die Verpflanzung des Chinabaums und seiner Kultur. In: Unsere Zeit. Deutsche Revue der Gegenwart, NF 9, 1873, 62ff; 1842 kamen weitere Botaniker an: Zollinger, Schwaner, Bleeker. Junghuhn lebte von 1848–1855 nicht auf Java. Ausführlich In: R. Sternagel, Der Humboldt von Java. Leben und Werk des Naturforschers Franz Wilhelm Junghuhn 1809– 1864, 2011 und 2018. 5 Veröffentlichung in den Annales du Jardin botanique de Buitenzorg. 6 R. Kräusel In: NDB 8, 1969, 50. 7 Weniger bekannt in ihrer Bedeutung sind die diesem Garten angegliederten botanischen und landwirtschaftlichen Institute. Von dem Gedanken ausgehend, dass die tropische Landwirtschaft nur in den Tropen selbst wirksam gefördert werden könne, wurden sie von dem 1911 verstorbenen Prof. Dr. Melchior Treub mit der Absicht begründet und ausgebaut, dem Pflanzungswesen, zunächst Javas und Sumatras, das nötige wissenschaftliche Rüstzeug zu bieten. Deutsches Koloniallexikon, Leipzig 1920. 8 Die Vulkane sind bis heute aktiv. 1883 besonders heftiger Ausbruch des Krakatau vor der Küste Javas, Ausbrüche 1919, 1931, 1963, 1965, 1991, 2017; Hortii malabarici Rheedeani Clavis locupletissima. In: Verhandlungen der Leopold-Carolin. Academie der Naturforscher, 1867 (134 Seiten) und Plantarum genera et species novae aut reformatae javenses. In: Flora 25, 1842 Beibl. 2, 1–56; Plantae Javanicae rariores asjectis nonnullis exoticis in Javae hortis altis descriptae, Berlin 1948. 10 Müller 1873 nennt noch Blume und Korthals 1827 die niederländischen Professoren Miquel, Mulder, de Briese, später Junghuhn. Blume und Junghuhn reklamierten das Verdienst für sich. In: Kölnische Zeitung 27. 6.1856. 11 S. Winkle, Geißeln der Menschheit. Kulturgeschichte der Seuchen, 2. Aufl. Düsseldorf 1997, 771 In letzter Minute war ihm ein neuer Pass ausgestellt worden. 12 Bei der Konferenz war auch ein Herr Schütz anwesend, der in späteren Jahren bei einer Auswanderungsaktion nach Texas eine dubiose Rolle spielte. 13 H. Krieger, Der Raub des China-Baums, Braunschweig 1924; Krömcke, J. K. Hasskarl, Breslau 1926. 14 1880 übertraf die ostindische Produktion diejenige von Südamerika, wurde aber vor allem in Indien selbst verbraucht. 15 H. Hobhouse, Fünf Pflanzen verändern die Welt, Stuttgart 1985, 24 schreibt 1648. 16 Sopra l’efficaccia e virtu della China-China sulla cura profilattica delle Febbre acute putride ed epidemiche. 17 G. A. Schindler, Georg Ernst Stahl und seine Schule, Leipzig 1834. 18 Fr. Casimir Medicus, Sammlung von Beobachtungen aus der Arzneywissenschaft, Zürich 1764 und 1766. 19 C. W. Hufeland, Enchiridion medicum oder Anleitung zur medicinischen Praxis, Berlin 1836. 20 Dachte man zunächst, die Wirkung des Chinins beruhe in der Stärkung der Magenfunktion, so versuchte der Homöopath Hahnemann durch einen Selbstversuch nachzuweisen, dass die Fähigkeit, „ähnliche“ Symptome zu erzeugen, ursächlich für die Heilwirkung von Chinarinde bei Malaria sein könne. Möglicherweise war das Fieber bei ihm aber auch eine allergische Reaktion. A. Rehbaum, Eine Revolution erschüttert die Medizin: Zur Geschichte der Homöopathie im Großherzogtum Hessen. In: Hessische Heimat aus Natur und Geschichte Nr.7, 2005; Das erste Licht in die Entstehung der Malaria warf 1880 der französische Militärarzt Laveran in Algier, der im Blut Erkrankter unter dem Mikroskop die Erreger sah. A. Laveran, Deuxième note relative à un nouveau parasite trouvé dans le sang des malades atteints de la fièvre palustre. Bull. de l’ Acad.de med. 1880. 21 Der Physiker und Hobbybotaniker Nathaniel Bagshaw Ward erfand 1830 eine zusammenklappbare Terrariumkiste aus Holz und Glas, in der ein versiegelter Luftraum dank der eingeschlossenen Luftfeuchtigkeit einen abgeschlossenen Lebensraum darstellte, in dem ein Jahr lang Pflanzen überleben konnten. 22 G. Haberlandt, Eine botanische Tropenreise. Indo-Malayische Vegetationsbilder und Reiseskizzen, 2.Aufl. Leipzig 1910, 71. 23 Der Militärarzt F. W. Junghuhn (1809–1864) verdingt sich nach der Flucht aus zehnjähriger Festungshaft als Arzt im holländischen Kolonialdienst und erreicht 1835 das damalige Batavia. Nach ausgiebigen Reisen veröffentlicht er „die Topographischen und Naturwissenschaftlichen Reisen durch Java“ (1845) und „Die Battaländer auf Sumatra“ (1847). 24 Zustand der angepflanzten Chinabäume auf Java zur Zeit des Besuchs Sr. Excellenz des Generalgouverneurs von Niederländ.-Indien, Ch. F. Pahud, zu Ende Juni und Anfang Juli 1857. In: Bonplandia 1858. 25 „Bijdrage tot de geschiedenis der Kina-Kultuur op Java“ (1861) und „Open brief aan Dr. Fr. Junghuhn te Bandong. 11.,15., 18. 10.1862). 26 Hobhouse nennt Haßkarl nicht. 27 Richard Kräusel, in: NDB 8, 1969, 50. 28 Dazu schreibt er auch in Flora 49, 1866 und im Bulletin du Congrès internat. de Botanique et d’horticulture 1865. 29 Die Chinakultur auf Java. In: Flora 44, 1861, 607f; 49, 1866, 481ff.
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Auf Elefantenrücken durch Indien Die Gebrüder Schlagintweit
Stammbaumausschnitt Schlagintweit
Die Akademikerfamilie stammte aus Oberösterreich und spaltete sich in einen katholischen und einen evangelischen Zweig. Der als Sohn eines Bäckers geborene Joseph promovierte 1816 und gründete später eine private Augenheilanstalt in München, in der er mehr als 18000 Augenkranke behandelte. 1836/7 leitete er zudem das Cholerahospital des Grafen von Arco-Valley. Da seine Frau früh starb, stellte er Erzieher für seine Söhne ein, die sie neben dem Gymnasium Privatunterricht besonders neue Sprachen und Naturwissenschaften lehrten. Das war einer der Gründe, warum die beiden ältesten Brüder schon am Beginn ihres Studiums in der Lage waren zu publizieren. Der Vater starb 1854 an der Cholera, ohne den Erfolg seiner Söhne zu erleben. Drei Brüder studierten in München und Berlin: Herrmann, Adolf und Robert. Die beiden älteren unternahmen zusammen mit Eduard zwei Reisen in die Alpen und schilderten in Zeitschriftenaufsätzen ihre Beobachtungen. Herrmann schrieb sich auf Wunsch des Vaters erst für Medizin ein, fand aber kein Interesse an dem Fach. Er promovierte 1848 mit einer Abhandlung über ein Gerät zur Winkelmessung und habilitierte sich 1851 in Berlin für physikalische Geographie. Den Winter 1851 verbrachten beide in England und fanden in der dortigen Gelehrtenwelt etliche Gönner. Adolf, der 1849 promoviert hatte, habilitierte sich 1853 für Geologie in München. Robert1 hatte seine Brüder in das Gebiet der Zugspitze begleitet und unternahm im Herbst 1853
selbständig eine Erforschung des Kaisergebirges. Sein Ergebnis floss mit eigenhändigen Zeichnungen in das Werk der Brüder ein. A. v. Humboldt kannte die beiden Älteren seit 1849 und empfahl sie König Friedrich Wilhelm IV., als die Direktoren der Ostindischen Kompanie geeignete Persönlichkeiten zur Aufnahme der magnetischen Untersuchungen von Indien und dem eben zugänglich gewordenen Kaschmir suchten. Die Feststellung des Einflusses der Gesteinsarten auf die Magnetnadel war die besondere Zielaufgabe der Reisenden im größten Gebirgssystem der Erde. Einwände von britischer Seite mit Hinweis auf ihre Jugend und ihre Nationalität wurden dadurch entkräftet, dass man eine Gemeinschaftsaktion daraus machte. Der englische König übernahm 1000 Pfund jährlich2, die Kompanie zahlte gleich viel, den Rest trug der preußische König. Freiherr Christian v. Bunsen3, preußischer Gesandter am englischen Hofe, und der bayerische Gesandte Freiherr v. Cetto setzten sich unermüdlich dafür ein. Adolf, der nach London übersiedelt war, weitete in Verhandlungen das Aufgabengebiet aus und setzte die Erlaubnis durch, dass Robert trotz der öffentlichen negativen Stimmung in den Medien gegen die „Bevorzugung der Fremden und die Entsendung einer ganzen Familie“ als Assistent mitfahren durfte, obwohl er noch studierte. Auf dem Dampfer „Indus“ schifften sie sich am 20. September 1854 ein und legten die Strecke von Southampton über Malta nach Alexandria, mit der Eisenbahn nach Suez, von dort wieder
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Brüder Schlagintweit: v. l.: Robert, Herrmann Adolf
per Schiff nach Aden und schließlich ins damalige Bombay (heute Mumbai) in sechsunddreißig Tagen zurück. In Bombay empfing sie der Sohn des Chemikers Liebig, damals Militärarzt der Ostindischen Kompanie, dessen Vater sie bereits viele wichtige Ratschläge zu verdanken hatten. Er half bei Unterbringung, Transport und später der Aufklärung über das Schicksal Adolphs. Von Mumbai nach Madras bildeten sie eine Karawane von zwanzig Kamelen mit zwölf Treibern. Die Brüder, der Führer, die Butler ritten zu Pferd, die Diener liefen zu Fuß. Sechs Träger waren nötig, um alle Instrumente mitzuschleppen. Die Mannschaft wurde bis Simla, am Fuße des Himalaya, fünfmal ausgewechselt. Nur ein einziger Diener machte die ganze Reise mit. Herrmann überliefert uns sogar teilweise die Preise. Zwei Kamele kosteten pro Monat 33 Rupis (= 3 ₤ 6 Sh). Auf unterschiedlichen Strecken in Madras angekommen, bestiegen sie schließlich ein Schiff und erreichten Kalkutta. Von hier aus erforschte Robert auf sich gestellt als einer der ersten Europäer den Amarkantak-Gebirgsstock, dessen Bewohner als die rohesten Völker Indiens verrufen waren. „So viel als möglich hatte ich schon früher Erkundigungen einzuziehen versucht“, schreibt er, „die mich in dem Beschluss bestärkten, alles so einzurichten, dass ich von der spärlichen und rohen Bevölkerung, der ich zu begegnen erwarten konnte, ganz unabhängig war. In Jablpur begannen meine Vorbereitungen, die zunächst darin bestanden,
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mich und meine Leute mit Pferden, Zelten und fünfzehn Kamelen auszurüsten und uns überdies noch für sechs Wochen mit Lebensmitteln zu versehen. Ein großer Teil meiner Diener verlangte entlassen zu werden, nachdem sie im Bazar so viel Schlimmes über die Reise gehört hatten.“ Mit der Erhöhung des Gehalts konnte er sie aufhalten. Robert selbst saß auf einem Elefanten, der wegen wundgelaufener Füße nach acht Tagen zurückgeschickt werden musste. Jeder verfügte über eine Flinte, einen Säbel und einen Spieß. Es war schwierig, die verschreckten Bewohner dazu zu bewegen, die Fremden zu führen. Meistens warteten sie Stunden, bis die Geflüchteten sich in ihre Siedlung zurückwagten. In der Nacht konnte es passieren, dass sie trotz brennender Feuer von einem Tiger belästigt wurden. Auf langen Strecken mussten Schlingpflanzen ausgehauen werden, da noch nicht einmal Kamele ohne Gepäck durch das Dschungeldickicht kamen, Dornen zerfetzten ihre Kleider. Zwei Kamele mussten erschossen werden, als sie sich bei einer Bachdurchquerung die Beine gebrochen hatten. Selbst wenn die Brüder getrennt unterwegs waren, hatten sie Begleiter. „Besonders störend ist“, berichtet Robert, „dass jeder Hindu wegen der Kastenvorurteile, die überall so sehr die Arbeitsfähigkeit der indischen Völker einschränken, eine Stunde oder zwei damit zubringt, sein eigenes Mahl zu kochen.“4 So benötige nur deshalb jeder acht bis zehn Diener, weil jedem von seiner
Kaste nur bestimmte Handgriffe erlaubt waren. Ein Hindu wasche noch nicht mal einen Teller, auf dem vorher Rindfleisch lag, das müsse ein Mohammedaner machen. Ein Hindukammerdiener reinige keine rindsledernen Stiefel, um Hunde kümmerten sich nur Parias, jedes Pferd benötige einen Knecht und zwei Grasschneider, der eine erledige nicht die Arbeit des andern, ein Hausdiener halte es für unter seiner Würde ein Paket zu tragen, ein anderer trage nur Wasser. Sie hatten außer einer Reihe von Trägern immer sorgfältig ausgesuchte Führer und Dolmetscher dabei, Indo-Briten oder Indo-Portugiesen, die auch zeitweise in Stationen zurückblieben und den Abtransport der gesammelten Informationen und Andenken organisierten. Natürlich erhielten sie vielfältige Unterstützung durch die britischen Verwaltungsbeamten, besonders Lord Elphinstone, Gouverneur von Bombay. In den Phasen der Trennung standen die Brüder untereinander in Briefverkehr.5
Die Routen der Brüder in Indien
Adolf wandte sich in die zentralen Gebirge und Robert nahm die Regionen um die Städte Rewah und Gwalior in Augenschein, letztere ein Hügelland von der Größe Bayerns und Hessens zusammen, aber mit nur etwas mehr als drei Millionen Einwohnern.
Herrmann widmete sich der Provinz Assam und dem Gebiet des heutigen Bangladesh zum großen Teil per Boot. Während der Regenzeit zog er sich ein schleichendes Fieber zu. Ein Geschwür auf dem Rücken musste von einem einheimischen Begleiter aufgeschnitten werden. An den Folgen litt er zeitlebens, auch wenn er sich im gemäßigteren Klima der Khassia-Berge etwas erholte. Sein Schwerpunkt lag auf anthropologischen Messungen6 und dem Sammeln gut beglaubigter Schädel und ganzer Skelette, ethnologischer und zoologischer Objekte. Ein Vorstoß über das Gebiet der Lamas hinaus bis zur Wasserscheide des südlichen Hauptkammes des Himalayas musste unterbleiben, da die Lamas Träger und Führer verweigerten. Stattdessen gelang ihm ein Besuch von Britisch-Sikkim, wo er in den Klöstern Gegenstände der buddhistischen Religion zusammentrug. Während Bhutan und das unabhängige Sikkim unzugänglich blieben,7 bereiste er mit Zustimmung des Herrschers ungehindert einen Monat lang Nepal. Adolf und Robert erforschten zeitgleich Hindustan und die nördlichen Gebirge. Auf dem Gletschereis des Pindar in 5000 m Höhe schmerzen ihnen Kopf und Augen. Müdigkeit und Blutsturz schrieben sie der dünnen Luft zu, während ihre Begleiter darin Ungunst der Götter sahen und die Opferung von Schafen verlangten. 63 Gletscher trugen sie auf ihre Karten ein und kauften von den Karawanen tibetische Handschriften und andere wertvolle Handelsgegenstände. Durch Verkleidung entzogen sie sich der Bewachung einer chinesischen Grenzpatrouille, wurden aber von dieser wieder eingeholt und verloren wertvolle Zeit in Verhandlungen mit einem Mandarin in Daba, der ihnen zwar den Besuch des 5351 m hohen Tschoko-La gestattete, aber nicht des Ortes Gartok. Die Besteigung des 7752 m hohen Kamot mussten sie wegen Sauerstoffmangels abbrechen. Robert suchte die Wallfahrtsorte im Quellgebiet des Ganges auf, als Adolf sich wieder in Verkleidung weitere Bergbesteigungen vornahm. Im April 1856 fanden sich alle drei Brüder in Simla ein und brachen gemeinsam zur Erforschung des westlichen Gebirges auf. Die südlichste Kette, der Himalaya, zeigt besonders im Quellgebiet des Ganges eine üppige Vegetation: in einer Höhe bis 3000 Fuß Palmen, Baumfarne, Bambus, Feigen und Gummibäume; von 6000–9000 Fuß gepflegt
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wirkende Wälder voller Blütenpracht, von denen Robert ungehemmt schwärmt.8 Bald trennten sie sich wieder. Herrmann strebte auf der östlichsten Route nach Ladakh, Robert stieg von Kulu, nach Lahol und Rupehu über den Baralatschapass und traf ihn in Le wieder, Adolf besuchte die Zanskar und die Hochtäler von Balti und vermaß monatelang eine Unmenge Gletscher am Südrand des Pamir, darunter den 65 Kilometer langen Boltorogletscher. In der Nähe des zweithöchsten Berges der Erde kam Adolf als erster Europäer mit den räuberischen Kundschut, einer tibetischen Kolonie in Berührung und wehrte einen Überfall ab. Robert und Herrmann betraten als erste Europäer währenddessen Turkistan. Um ganz sicher zu sein, dass nicht erst die dritte Gebirgskette, der Künlün, die Wasserscheide nach Indien bildete, zogen sie verkleidet abseits jeglichen Pfades durch die Hochsteppen zwischen den Kämmen jenseits der zweiten, Karakorum genannten Gebirgskette.
mitgeführten Vermessungsgeräte benutzten sie nur heimlich abseits des Lagers. Manche Messung musste unterbleiben, da sie zu auffällig gewesen wäre. Ihre Köpfe hatten sie geschoren. Auch ihrem Reisebegleiter war klar, dass ihnen die mitgeführten bayerischen bzw. preußischen Pässe nichts nutzen würden. Alle drei Brüder trafen sich anschließend unbeschadet in Kaschmir wieder und nahmen in Rawalpindi Standquartier. Robert fertigte hier die ersten Verzeichnisse. In diesen Teil Indiens führte noch keine Eisenbahn. Die Sammlung musste auf hundert Kamelen, zahlreichen Pferden und Menschen unter unsäglichen Strapazen durch die sandigen Steppen Ratschputanas zum Indus gebracht und dort auf Schiffe verladen werden. Indusabwärts dauerte die Fahrt noch mal einen Monat über Katsch und Gutscherat nach Bombay. Den Indus entlang trat Robert die Heimreise an. Am 14. Mai 1857 schiffte er sich von Ceylon (heute Sri Lanka) aus nach Europa ein.
Le, Hauptstadt von Ladakh
Von Le brachen sie auf mit 6 Reitpferden, 13 Packpferden und einer kleinen Herde von 15 Schafen und Ziegen. Robert staunte über die Menge wilder Pferde, Yaks, Schafe, Antilopen und Gazellen, die sich auf Wildwechseln durch die fast vegetationslosen Hochtäler zielstrebig von einem Grasflecken zum nächsten bewegten. Den Mangel an Vögeln führte er auf das fast gänzliche Fehlen von Insekten zurück.9 Besonders auf dem nördlichsten Teil der Strecke war es gefährlich, von Militär, Polizeitruppen oder Karawanen als Ausländer erkannt zu werden. Nepal und Lhasa befanden sich im Krieg. Erkundigungen in den Bazaren konnten sie nicht einziehen, weil sie damit gleich Verdacht erregt hätten. Die festen guten Bergschuhe wurden aus dem gleichen Grund durch Filzlappen ähnlich Gamaschen ersetzt. Die
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Transport: 1 Palki, 2 Postwagen, 3 Elefant, 4 Lastkarren
Die gewöhnliche Art des Reisens war für Europäer der Palki, eine horizontale Sänfte in Form eines Kastens aus Holz, der etwa zwei Fuß länger war als der Reisende, drei Fuß breit und hoch.10 An der Seite sah man durch Schiebetüren mit Jalousie hinaus, Matratze und Kissen sorgten für einigen Komfort. Je drei oder vier Mann vorn und hinten trugen den Kasten an einer Stange. Die Ablösung für die Träger schritt nebenher. Das Gepäck an Bambusstangen einer Waage ähnlich über der Schulter baumelnd, legten die Träger, nur mit einem
Schurz um die Hüfte und einem Tuch um den Kopf etwa 3,5 englische Meilen in der Stunde zurück. In Nepal bestand das Transportmittel aus dem Dari, einer Bambusstange, an der eine Hängematte aus Segeltuch hing. Von Bangalore nach Madras benutzten die Brüder eine Art Postwagen, der Platz für einen liegenden Mann innen und einen Diener außen bot. Entlang des Hauptweges CalcuttaPanjab transportierten Zebuochsen das Gepäck mit Lastkarren.11 Nach Sikkim trug Hermann ein Elefant, der unterwegs ein Junges gebar. Die kurz zuvor fertiggestellten ersten Strecken der Eisenbahn wurden ebenfalls genutzt. Anfang 1857 brach Adolph mit circa zweiundzwanzig Leuten wieder auf (sonst heuerte er bis einhundertzwei Leute an). Er durfte durch Vermittlung von Sir John Lawrence die Grenzgebirge zu Afghanistan untersuchen, änderte unterwegs aber seine Pläne und wandte sich wieder dem Hochgebirge zu. Er wollte den Künlün östlicher übersteigen als seine Brüder im Vorjahr. Um unbeachtet zu bleiben, wählte er abgelegenste Wege. Mit dem Übertritt nach Turkestan begannen die Schwierigkeiten. Pferde wurden gestohlen, verdächtiges Gesindel stellte sich ein. Adolf schickte Diener nach Yarkand, um Nachrichten über die politische Lage zu sammeln. Einige kamen nicht zurück. Vali Khan hatte die Herrschaft an sich gerissen. Die Schädel seiner Gegner sammelte er als Pyramide außerhalb der Hauptstadt Kaschgar. Im Schutze eines chinesischen Angriffs schüttelte Adolf zwar in Yarkand seine Beobachter eine Stunde nach seiner Ankunft ab, es war aber ein großer Fehler, sich in Kaschgar unverfroren bei Vali Khan zur Audienz anzumelden, denn dieser ließ seinen lästigen Gast enthaupten. Von seinen Begleitern wurde einer sofort ermordet, drei kamen in Haft, einer wurde als Sklave verkauft. Ende September wurde Vali Khan durch Chinesen aus Kaschgar vertrieben und floh nach Kokand. Der kaiserlich russische Konsul Petrowsky veranlasste 1888 auf Initiative russischer Geographen die Errichtung eines Denkmals für Adolph in Kaschgar, das aber Sven Hedin 1902 vom Hochwasser zerstört vorfand. Er sah im russischen Konsulat noch die gerettete Tafel, die aber mittlerweile verschwunden ist. Herrmann und Robert wurden in der Heimat mit Ehrungen überhäuft. Robert bekam siebzehn Orden und Medaillen, beide unverheirateten
Männer erhielten den erblichen Adelsstand des Königreichs Bayern. Sie erwarben das Sommerschloss Jägersburg bei Bamberg für ihre Sammlung und zur Bearbeitung ihrer Ergebnisse. Zügig veröffentlichten sie ihr vielbändiges Werk hauptsächlich in englischer Sprache. In Erfüllung ihrer Aufgabenstellung hatten sie herausgefunden, wie und warum die magnetischen Messungen von den Gesteinsarten der Gebirgsmassive beeinflusst werden. Für jede Provinz hatten sie hydrographische, topographische und geologische Daten gesammelt, die Geschichte und politischen Verhältnissen eruiert und bewerteten den Handelsverkehr. Fast fünfhundert Aquarelle und Kohlezeichnungen bereicherten die Veröffentlichung, die Sammlung umfasste 14000 Objekte. Während Herrmann 1882 seinen mitgebrachten Leiden erlag, tourte Robert als Vortragsreisender – auch diesbezüglich ein Pionier der Wissensverbreitung – durch die Welt und erwarb dadurch ein Vermögen. Auf einer der Veranstaltungen hörte ihn mit regem Interesse der Großherzog Ludwig III. von HessenDarmstadt. Daraufhin ermutigte er Robert 1864 zur Habilitation12 und erteilte ihm an der Universität Gießen einen Lehrauftrag als außerordentlicher Professor, jedoch ohne Planstelle und ohne Einkommen. Robert hielt nun zwar Vorlesungen über die physische Geographie Indiens, Zentralasiens und Nordamerikas, seinen Lebensunterhalt musste er aber weiterhin mit Vortragsreisen durch die größeren Städten Mitteldeutschlands und der Schweiz, Österreich-Ungarns und der russischen Ostseeprovinzen erzielen. Akribisch erstellte er eine von Eitelkeit strotzende, völlig sinnfreie Statistik, die auch so absurde Gesichtspunkte erfasste wie die Wochentage, an denen er sprach, die Dauer und den Beginn der Vorträge, ob Damen anwesend waren oder nicht, zu welchen Jahreszeiten er wie häufig unterwegs war, die Menge der Zuhörer pro Ort, seine Auslagen, Anzahl der benutzten Hotels und wer die Organisatoren waren. Das Recherchematerial für die Vorträge band er in fünfundzwanzig Folianten. Wenn er wieder einmal nach einer Veranstaltung nachts im Schnellzug (der brauchte von Erfurt nach Pforzheim 13,5 Stunden!) oder im offenen Extrapostschlitten zum nächsten Auftritt reiste, träumte er des Öfteren von seinem Stammgasthaus in Gießen, der „Restauration
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Busch (C. Stein)“. Befriedigt registrierte er bei 1000 Vorträgen nur zweimal eine falsche Verladung seines Gepäcks, aber keinen einzigen Unfall und kein einziges Mal eine mangelhafte Organisation. Wenn sich sechshundert Zuhörer in einem Saal drängten, dann schmolzen schon mal die Eisplacken von Scheiben und Decken, so dass das Wasser in Kübeln aufgefangen und rausgetragen werden musste. 13
Unter wachsender Anteilnahme der Presse erweiterte er 1868 und 1880 seine Vortragsreisen auf Amerika. Vor der ersten Reise ließ er von einem Engländer in Wiesbaden seine Vorträge übersetzen und übte, indem er sie auswendig lernte, die richtige Aussprache. Im „English Club“ in Köln hielt er sie zur Probe und war von seinem Erfolg geschmeichelt: „... man überraschte mich mit einem Honorar, einem Lorbeerkranz und der Ehrenmitgliedschaft.“14 Unterwegs sammelte er weiteres Material für Beschreibungen über Amerika. Seine Abhandlung über die pazifischen Eisenbahnen beinhaltet die Vorgeschichte der ersten Durchquerung Nordamerikas, die Planung, Landschenkungen der Regierung an Privatgesellschaften, die Infrastruktur und Ausrüstung wie Bahnhöfe und Schlafwagen. Er beschrieb die Orte entlang der Bahn mit ihrer Wirtschaft, Auffälligkeiten in Sitten und Recht, und vermerkt gewissenhaft, wie viele Deutschstämmige unter welchen Umständen dort hausen. Von Dodge City beispielsweise, dem Hauptumschlagplatz für Rinder, Häute und Felle, könne die Minimalordnung nur durch Lynchgesetze aufrechterhalten werden, versicherte er. In San Francisco erkrankte er 1880 an einer Lungenentzündung, 1882 in Schlesien wurde er wieder krank, Rheumatismus kam dazu und 1885 führte eine Rippenfellentzündung zu längerem Siechtum. Seine letzte Ruhe fand er am
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6. Juni 1885 auf dem Alten Friedhof in Gießen.15 Ein Mitbringsel befand sich zumindest 1977 noch auf dem Gleiberg bei Gießen: der Schädel eines Wasserbüffels.16
Grabstein Robert v. Schlagintweits auf dem Alten Friedhof, Gießen (Gräberfeld XV)
Bruder Eduard wählte eine militärische Laufbahn und fiel beim 6. Chevauxlegerregiment im Gefecht zu Kissingen.17 Während der Indienreise hatte Emil in Berlin Jura studiert und die Korrespondenz mit König Wilhelm IV. und Humboldt vermittelt. Er katalogisierte die Sammlungen und übergab sie teilweise an das Völkerkundemuseum Berlin und andere öffentliche Anstalten, die Manuskripte blieben in München. Gleichzeitig lernte er Tibetisch bei einem mongolischen Lama und veröffentlichte 1863 Aufsätze über buddhistische Handschriften, wofür ihn die bayerische Akademie der Wissenschaften zu ihrem Mitglied ernannte. Seinen Lebensunterhalt sicherte er als Bezirksamtmann in Zweibrücken, seiner Leidenschaft frönte er als Privatgelehrter durch Kontakte mit der indi-schen Regierung. Er sammelte so viel seltenes Quellenmaterial18, dass es ihn zu einem Indienwerk befähigte, „wie es selbst England über die größte seiner Kolonien nicht besitzt.“19 Den Nachlass der Brüder verwaltet der Deutsche Alpenverein.
Literaturauswahl: Hermann S., Reisen in Indien und Hochasien, 4 Bde. Jena 1869; Robert S.; Bemerkungen über die physikalische Geographie des Kaisergebirges, Berlin 1948; ders., Die Pazifik-Eisenbahn in Nordamerika, Leipzig 1870; ders., Californien. Land und Leute, Leipzig 1871; ders., Die Mormonen oder die Heiligen vom jüngsten Tage, Köln 1878; ders., Neue Pfade vom Missouri-Strom zum Stillen Meer, Köln 1883; ders., Neue Untersuchungen über die physikalische Geographie und die Geologie der Alpen, Leipzig 1854; Emil S., Die Könige von Tibet, München 1866 Abh. d. Kgl. Akad. d. Wiss.; ders. Gottesurteile der Inder. Rede vor der Kgl. Akad. d. Wiss. 1866; ders. Indien in Wort und Bild, 1890 „Über den Himalaya. Die Expedition der Brüder Schlagintweit nach Indien und Zentralasien 1854 bis 1858«, 2016 (Katalog zu einer Ausstellung im Alpinen Museum des DAV München); Hermann Kreutzmann, Tod und Vergessen in Kaschgar. Adolph Schlagintweits tragisches Ende und das Schicksal seines Denkmals. In: Tegernseer Tal 162, 2015, II; ders. Die Gebrüder Schlagintweit und ihre Reise zu einem fremden Stern auf Erden. In: Tegernseer Tal 114, 1993; ders. Vom Tegernsee dorthin, wo sich mein Herz bestürmt. In: Tegernseer Tal 158, 2013/II
1 W. Wolkenhauer. In: Hessische Biografien, Bd.I, 389. 2 G. Bernbeck, Der Alte Friedhof in der Stadt Gießen, 3. Aufl. Gießen 1997, 59. 3 Ein gelehrter Diplomat. Familie Bunsen und ihr berühmtestes Mitglied Christian Carl Josias. In: Hessische Heimat aus Natur und Geschichte Nr.26, 1996. 4 H. Schlagintweit, Reisen in Indien und Hochasien, 4 Bde. Jena 1869; Bd.1, 86. 5 a. a. O. Bd.1, 259. 6 Emil wertete für sein Buch später 730 Menschenvermessungen aus und 275 Gesichtsmasken aus 85 verschiedenen Stämmen aus. 7 E. v. Schlagintweit, Sikkim, das Durchzugsland von Indien nach Tibet. In: Dt. Rundschau f. Geographie u. Statistik Bd.X, 1888, 338. 8 R. v. Schlagintweit, Physikalisch-geographische Schilderung von Hochasien. In: H. Uhlig, W. Haffner (Hrsg.), Zur Entwicklung der vergleichenden Geographie der Hochgebirge. Wege der Forschung Bd.223, Darmstadt 1984, 1ff. 9 a. a. O. 55ff. 10 E. v. Schlagintweit, Indien, 1890, 9 ff. 11 Gepäckkarren bei Emil v. Schlagintweit 1890. 12 Wolkenhauer In: Ausland Nr.26, 1885, 516. 13 Robert von Schlagintweits als Manuscript gedruckter und nur zur Privatvertheilung bestimmter Bericht über die 1000: von ihm zwischen Freitag dem 21. Oktober 1864 und Dienstag dem 2. April 1878 in Europa und Nordamerika gehalten: öffentlichen populär-wissenschaftlichen Vorträge. 14 Wolkenhauer In: Ausland Nr.26, 1885, 518. 15 H.-G. Gundel, Professorengräber auf dem alten Friedhof in Giessen, Gießen 1978, 6. 16 G. Bernbeck, 1997, 60. 17 F. Hoenig, Das Gefecht bei Kissingen, 2.Aufl. 1913. 18 Die Ghilzaistämme in Afghanistan. Dt. Rundschau f. Geographie u. Statistik X, 1888, 1ff. 19 Petermanns Monatsberichte Febr. 1882.
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Mit allen japanischen Wassern gewaschen Johann Justus Rein Geboren wurde Johannes am 27. Januar 1835 in Raunheim nördlich Rüsselsheim, wo sein aus Mainzlar1 stammender Vater als Zollbeamter arbeitete. Ein halbes Jahr nach der Geburt des Sohnes übernahm er einen ererbten Bauernhof in Mainzlar bei Gießen.2 Johannes besuchte die Volksschule in diesem Dorf und anschließend die Privatschule des Pfarrvikars Dr. Georg Christian Dieffenbach, der später nach Schlitz übersiedelte. Je länger man sich mit der Bildungselite dieser Zeit beschäftigt, umso mehr fällt auf, wie freundschaftlich oder sogar verwandtschaftlich vernetzt die Persönlichkeiten untereinander waren. Unter den Dieffenbachs gab es auch einen weitgereisten geographischen Forscher gerade eine Generation vorher. Wir wissen nicht, ob Rein ihm während seines Studiums begegnete, sicher wird er von ihm gehört haben.
1855 am Waisenhaus Frankfurt a. M., dann 1855– 56 an der Scheib-Geisowschen Erziehungsanstalt. Die Ritter- und Domschule Reval, wo die estnische Ritterschaft ihre Kinder ausbilden ließ, lockte ihn 1858–60. Er nutzte seinen Standort zu Reisen im Ostseeraum, erwanderte sich die baltischen Länder und Finnland. Sein Staatsexamen legte er in Dorpat ab. Meinungsverschiedenheiten in Disziplinarsachen mit dem Kuratorium der Revaler Schule bewogen den Direktor und vier Lehrer, darunter auch Rein, zum Austritt. Während dieser Zeit lernte er seine beiden späteren Ehefrauen kennen. Nach seiner Prüfung kehrte er nach Gießen zurück. Seine Promotion „Über das Klima, den Boden und die Vegetationsverhältnisse Estlands“ reichte er 1861 jedoch an der Uni Rostock ein.
Lehrerseminar Friedberg
Johann Justus Rein
Mit knapp 16 Jahren legte er am Realgymnasium Gießen am 12. Februar 1851 das Abitur ab und entschloss sich, in Gießen Mathematik und Naturwissenschaft zu studieren, hörte fünf Semester Botanik und Chemie bei Liebig, beendete aber aus familiären Gründen eine Ausbildung am Lehrerseminar Friedberg. Seine erste Stelle war
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Mit Empfehlungen verschiedener Gießener Professoren reiste er nach London, um im Britischen Museum und in den Royal Botanic Gardens Kew zu arbeiten. An Ort und Stelle bot sich überraschend die Möglichkeit der Bewerbung um eine Hauslehrerstelle bei Sir Harry Ord, der damals Gouverneur auf den Bermudainseln war und seine drei Söhne auf das Examen an der Royal Engineer School in Woolwich vorbereiten lassen wollte. Diese Anstellung bot die Aussicht Beruf und Reiselust ideal zu verbinden. Vor der Einstellung prüfte ihn ein Geistlicher, der misstrauisch gegenüber allen ausländischen Zeugnissen war, in Mathematik. Er war der Ansicht, die Bewerber um solche Stellen in England würden häufig versuchen zu täuschen.3 Johannes überzeugte aber seinen Inquisitor von
seinen Qualitäten. Zuerst hielt Rein den Unterricht in Brighton ab, wo die Lady noch wohnte, und dann in Hamilton auf den Bermudas. Rein selbst maß dieser Zeit viel Bedeutung für seinen weiteren Lebensweg bei, da die ihm neue andersartige Natur eine Fülle von Anregungen bot.
Familie Rein
Als die beiden älteren Schüler ihren Abschluss hatten, unternahm Rein eine Reise nach Kanada und den USA. 1863–68 fand er sich an der höheren Gewerbeschule in Frankfurt a. M. als Lehrer für Englisch, Chemie und Trigonometrie, später an der Musterschule. Als Direktor der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft (1864–70;1873) verwertete er seine Beobachtungen in fünf Abhandlungen über die Bermudas, (in denen er auch gegen die Darwinsche Korallenriff-Theorie Stellung nahm) und richtete die Eduard-Rüppell-Stiftung (zu Ehren des Äthiopienreisenden) ein, die jungen Forschern das Reisen ermöglichen sollte. Seinen Posten nutzte er unter anderem aber auch, sich mit dem Stande, den Strömungen und Richtungen, sowie mit der Literatur der verschiedenen Zweige
der Naturwissenschaften, vertraut zu machen. Mit dem Geologen Karl v. Fritsch bereiste er 1872 Marokko und die Kanarischen Inseln. Egal, wohin es ihn verschlug, überall schaffte er sich Freiraum, um neben seinen eigentlichen Pflichten seinem Forscherdrang zu frönen. Dann bekam sein Berufsweg eine neue Wendung. Der Handelsminister Heinrich Achenbach fragte an, ob Rein bereit sei, im Auftrag der preußischen Regierung 1874/75 nach Japan zu reisen. Im Vorwort zu seiner späteren Publikation betont er, wie schwer es ihm wurde, seine Familie zurückzulassen. Das hinderte ihn aber nicht, die Fahrt optimal zur Gewinnung weiterer Eindrücke auszunutzen: Ein Abstecher führte Rein zur Weltausstellung nach Wien und nach Ägypten, die Rückfahrt organisierte er über Kalifornien. Vor Rein wäre keine Landeserkundung in Japan möglich gewesen, denn bis zur Meiji-Restauration 1868 war Japan gegen Ausländer fast völlig abgeschottet. Deshalb waren seine Informationen besonders wertvoll. Im 17. Jahrhundert hatte es schwere Christenverfolgungen gegeben, deren Ursache zum Teil im Verhalten der portugiesischen Jesuiten lag. Die Holländer mussten streng überwacht auf der seit 1634 vor Nagasaki künstlich erbauten Insel Deshima, einer Fläche von 170 x 70 Metern leben. Lediglich die Deutschen Kaempfer und Siebold, beides Ärzte bei der Ostindischen Kompanie, und ein Schwede hatten Stippvisiten von dort aus unternehmen können. Kaempfer bildete einen Japaner, der für ihn dolmetschte, zum Arzt aus. Nur zur Huldigung des Shoguns bekam er zweimal während seines Aufenthalts die Erlaubnis zum Verlassen der Insel und saugte
Stammbaumausschnitt Rein
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seine Eindrücke auf dem Weg wie ein Schwamm auf. Siebold dagegen heiratete zwar eine Japanerin und durfte sich in der Nähe von Nagasaki ein Haus kaufen, aber als er in Tokio in den Besitz einer geheimen modernen Karte Japans gelangte, musste er nach einem Hochverratsprozess 1830 das Land verlassen.4 Noch 1861 wurden Ausbrüche von Fremdenhass beschrieben. Erst der Kaiser Meiji (Meiji-Tenno) öffnete Japan Schritt für Schritt der europäischen Kultur, indem er auch eine Universität deutschen Stils gründete.5 Auslöser war das Angebot der Amerikaner zum Handelsverkehr. Dem Herrscher hatte die Selbstverständlichkeit imponiert, mit der der amerikanische Unterhändler sich geweigert hatte, die Beschränkungen zu akzeptieren, die den holländischen und chinesischen Händlern auferlegt waren. Geblendet von seinem glanzvollen Auftreten und dem Gastgeschenk, einer Eisenbahn, wurde die Beziehung geknüpft und die Einflüsse strömten herbei, die das Land nachhaltig veränderten. Reins Ziel war es, „die eigenartigen, auf hoher Stufe der Vollkommenheit stehenden Industriezweige, sowie den Handel Japans zu studieren und darüber zu berichten.“ Leider schildert er nicht, mit welchen Methoden er seine Informationen erhob. Sicher sind jedoch seine vielfältigen Kontakte. Für ihn war die Landeskunde ein ganzheitlicher Begriff. „Ohne Zweifel sind die Natur eines Landes, die geschichtliche und soziale Entwicklung seiner Bewohner und deren Beziehungen zu anderen Völkern die Grundlage, auf denen Form und Inhalt seines gewerblichen und kommerziellen Lebens, nicht minder wie des geistigen sich entwickeln.“6 Er verfasste den ersten Bericht eines westlichen Besuchers über die Lackindustrie und wurde Schöpfer der Pflanzengeografie Japans. Er ließ sogar in einer eigens von ihm eingerichteten Lackwerkstatt in Tokio von einheimischen Kunsthandwerkern typische Stücke fertigen, die er in Berlin dem Preußischen Gewerbemuseum übergab. Weil sich Einheimische bis dahin nicht mit Wirtschaftsgeographie beschäftigt hatten, ist Reins Beschreibung des präindustriellen Japan eine Quelle von unschätzbarem Wert und wird in Japan hoch geachtet. Er legte tiefgehendes historisches Wissen dar, die Sagen und Erzählungen des Volkes, die Sitten und Gebräuche, Kenntnisse über die
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ethnische Zusammensetzung und die Infrastruktur. Kurzum er entwirft das umfassende Bild eines Landes.7 Er geht auch auf die Ainos ein, eine Urbevölkerung mongolischer Abstammung, die nur in einzelnen Küstenregionen lebte und sich in Aussehen, Verhalten und Interessen von den später eingewanderten Japanern unterschied. Rein schildert sie als freundliche, gutmütige, furchtsame und unterwürfige Menschen mit starkem, glatt schwarzem Haarwuchs. Ihre Sprache, Religion und Sitten waren zu seiner Zeit, abgesehen von den auffallendsten Erscheinungen, so wenig erforscht wie die der Gilänen im nördlichen Sachalin. Rein erwähnt, dass der Bär in ihren Ritualen eine Rolle spielte.
Aino-Familie
Rein stand seinem Forschungsobjekt weder überheblich, noch missionarisch oder herablassend gegenüber. „Das japanische Volk zeigt viele löbliche Eigenschaften, welche uns sympathisch berühren und bei anderen Orientalen wenig oder gar nicht auftreten. Wie der Anblick der schönen Natur den Ankömmling im Reiche Nippon erfreut, so wird er auch durch die Reinlichkeit seiner Bewohner, durch ihr freundliches, humanes Wesen, dem Würde und Selbstbewusstsein nicht fehlen, durch ihre Intelligenz und Empfänglichkeit für die Schönheiten
der Natur und die Vorteile der abendländischen Zivilisation angenehm überrascht und für sie eingenommen.“ Er empfindet die Bewohner als neugierig, aber wenig mitteilsam bezüglich ihrer politischen Verhältnisse. Manch negatives Urteil anderer Reisender muss er relativieren: Nepotismus, grobe Sinnlichkeit und den Mangel an Ausdauer will er festgestellt haben. Die japanische Jugend scheint ihm die folgsamste, die er bis dahin erlebte, obwohl zu seiner Verwunderung in der Erziehung Schlagen verpönt war, genauso wie jede lärmende Äußerung. Andererseits sah er auch kalt berechnende Grausamkeit. Rein selbst hat vorwiegend die Lichtseiten kennen gelernt und wurde nur einmal von einem betrunkenen Soldaten in eine unangenehme Situation gebracht.
Riu-Kiu-Insulaner
Mit Vergnügen beschreibt er die tägliche Badezeremonie. „Im ersten Fall (des privaten Bads) ist die Badewanne (furo) eine ziemlich tiefe Holzbütte mit stumpfeiförmigem Querschnitt, doch weit unter Körperlänge. An ihrem spitzen Ende führt ein kleiner Schornstein aus Eisenblech empor, der unten mit einer kleinen Kohlenfeuerung in Verbindung steht und das umgebende Wasser zu wärmen hat. Der furo befindet sich je nach Umständen in der Nähe der Küche oder in einem besonderen Badezimmer an der Hof- und Gar-
tenseite. Gegen 5 oder 6 Uhr nachmittags oder auch einige Stunden später, wird das Wasser geheizt und dann der Reihe nach vom Hausherrn bis zum niedrigsten Dienstboten benutzt.“ Seife ist nicht gebräuchlich. Kopf und Hände werden außerhalb mit frischem Brunnenwasser gewaschen. Der furo steht auf einem Lattengitter, alles ist tadellos rein. Eine neue Zahnbürste mit einer Schale Kochsalz stehen neben einer Schale frischen Wassers. Manchmal beobachtete er allerdings auch, dass die Badewanne draußen neben dem Haus stand und die Bewohner – unbesehen wes Geschlechts und wie viele Passanten vorbeikamen – darin badeten. In den öffentlichen Bädern wurde der Service noch durch blinde Masseure ausgedehnt. Sehr anschaulich beschreibt er die Bauweise der Häuser aus einer Holzkonstruktion mit Papierfenstern, Fußbodenmatten, verschiebbaren Holzwänden und ihrem Mangel an Mobiliar. Als Heizung war lediglich ein Kohlebecken bekannt, Küchenrauch füllte das ganze Haus. Entsprechend häufig waren Brände. Rein kannte Japaner, die achtmal in ihrem Leben abgebrannt waren.8 „Für die kälteren Landesteile ist deshalb ein behagliches Wohnen in einem japanischen Haus selbst dem abgehärteten Eingeborenen kaum möglich.“ Eine Spezialabhandlung widmete sich einem Binnenlandweg von Tokio, über Kofu nach Kioto9, eine andere Seebeben, Obstsorten, der Besteigung des Fujisan oder der Seidenindustrie. Die von ihm vorgefundenen Zustände änderten sich im Anschluss aufgrund der zunehmenden Öffnung gegenüber westlichen Industrieländern sehr rasch. Von den Zeitgenossen wie Richthofen wurde dieses Werk als eine der besten geographischen Monographien bezeichnet. Der erste Band stellte die physische Geographie dar: z. B. Topographie, Geologie, Wasserverhältnisse, Wetter, Flora/ Fauna, die Geschichte und Zivilisation, sowie die Ethnographie. Im zweiten Band fand die Darstellung der Wirtschaft breiten Raum wie Landund Forstwirtschaft, Seidenraupenzucht, Bergbau und Kunsthandwerk. Sein Augenmerk bezog auch die Schilderung der Herstellungstechniken ein. Da sich in den 1870er Jahren an den deutschen Universitäten allmählich die Geographischen Lehrstühle herausbildeten, genügten als Qualifikation für den Lehrstuhl seine vielen Reisen, die darauf basierenden gehaltvollen
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Berichte sowie die Lehrerausbildung. Während er seine mitgebrachten Sammlungen noch ordnete, stand er vor der Wahl zwischen einem Posten beim Handelsministerium und einer Professur in Marburg oder Kiel. Er entschied sich für letzteres und richtete den ersten Lehrstuhl ein. 1876–83 lehrte er als Professor für Geographie in Marburg und übernahm in diesen Jahren auch zweimal das Dekanat. 1883 ging er nach Bonn. Hier trat er die Nachfolge von Richthofen an, der ebenfalls aufgrund seiner Chinareise mit dem Neuaufbau des Lehrstuhl beauftragt gewesen war. Im Wintersemester 1884/5 saß Prinz Friedrich Leopold von Preußen unter seinen Hörern, 1886/7 Fürst Atsumaro Konoye, der spätere Präsident des japanischen Herrenhauses.10 1897 nutzte er einen Internationalen Geologen-Kongress zu Petersburg, um von dort aus zusammen mit seinem Schwager, einem russischen Admiral v. Rein, Westturkestan bis Samarkand zu bereisen. Ein besonderer Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit lag bei der Entdeckungsgeschichte, sogar koloniale Fragen fanden Berücksichtigung. Bei der Weltausstellung in Chicago 1893 fungierte er als Preisrichter. Außerdem war er seit 1900 Dozent für Warenkunde an der Handelshochschule Köln und besuchte später in deren Auftrag die Weltausstellung in Paris 1900. Nicht nur seine Schüler waren voll des Lobes. A. Philippson schreibt, er „war nachsichtig und aufmunternd, wo er eifriges Streben bemerkte, auch wenn der Erfolg zunächst zu wünschen übrig ließ, aber unnachsichtig streng gegen Faulheit und Nachlässigkeit.“11 Darunter zählte für ihn auch das Zu-Spät-Kommen in seine Vorlesungen, die er grundsätzlich früh um 7 Uhr beginnen ließ. Erziehung zu Pflicht und Pünktlichkeit waren ihm wichtig. In seiner Bonner Zeit entfaltete er eine reiche Vortragstätigkeit in verschiedenen Städten. „Wenn nach einem der Studienausflüge, die Rein vielfach gemeinsam mit dem Professor der Geologie, zu meiner Zeit (Kerps Zeit) mit Professor Rauff veranstaltete, oder nach einer Einladung in Reins gastliches Haus die Studierenden beim letzten und allerletzten Glase Pilsener zusammen saßen, dann gingen diese nicht auseinander, ohne sich mit Handschlag das Versprechen zu geben, am anderen Morgen pünktlich um 7 1/4 im Kolleg zu erscheinen.“
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In seinen circa 50 Publikationen schrieb er über die Alpenländer, den Atlas Marokkos, die Bermudas, die Pflanzengeografie und kulturgeschichtlichen Aspekte von Reis, Mais, Tee, Coca und Cola. Er erwies sich als profunder Kenner Spaniens, besonders der Sierra Nevada und der Provinz Huelva. Die meisten namhaften Gipfel hatte er bestiegen und umfangreiche Beobachtungen hinterlassen, man kann sagen im Selbstversuch. Die spezifische Bergkrankheit mit Atemnot, Depressionen, Angstzuständen, Übelkeit und Schwindel analysiert er an sich selbst12 bei Besteigung des Mulhacen. Beiläufig registriert er aber auch die Geschichte der Dörfer, die Entwicklung der Seidenzucht vom 7. Jahrhundert bis 1851, als eine Raupenkrankheit den Bestand nahezu vernichtete, und schwelgt in der Beschreibung Granadas. Auch Skandinavien, England und die USA konnte er aus eigener Anschauung beurteilen. In der Geographischen Zeitschrift erschien 1900 ein Aufsatz über die La Plata-Region in Südamerika13, in dem er profunde historische Kenntnisse auch der früheren Reiseliteratur belegt. Der Aufsatz bearbeitet vor allem die Eroberungen aus der Zeit Karl V., der aufgrund seiner Kriege häufig in Geldnot war und wiederholt bei den deutschen Handelshäusern Fugger und Welser Kredit nehmen musste. Rein schildert, wie Karl V. verschiedene große Expeditionen dadurch unterstützte, dass er den Leitern umfassende Privilegien einräumte. Die Bewohner der angesegelten Länder und deren Meinung dazu spielten in seinen Überlegungen zeittypisch keinerlei Rolle. An der Expedition des D. Pedro de Mendoza beispielsweise nahm auch der Deutsche Ulrich Schmidt aus Straubing im Auftrag der Welzer & Niedhart teil, eine der Firmen mit Standort in Sevilla, die die Ausrüstung stellten. Das von ihm benutzte Schiff hatte Tauschartikel geladen, die gegen die Silberschätze der Bewohner aufgewogen werden sollten. Schmidts Schilderung über seinen Gewinn von fünfzig Sklaven nach der Teilnahme an Raubzügen und die Mitleidlosigkeit der Freibeuter, die das Elend über die Bevölkerung brachten, verwertete Rein exemplarisch. Zahlreiche Ehrungen wurden ihm zuteil. Der Geheime Regierungsrat war Ehrenmitglied der Royal Geographic Society ab 1888 und der Japan Society of London, Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina seit 1880.
Erst im Alter von 75 Jahren hängte er 1910 seine Lehrtätigkeit an den Nagel, bevor ihn eine längere Krankheit am Genuss des Lebensabends hinderte. Am 23. Januar 1918 verstarb er in Bonn und wurde auf eigenen Wunsch ohne akademisches Zeremoniell, aber im Beisein einer japanischen Abordnung auf dem Kessenicher Bergfriedhof beigesetzt. Seine Briefe aus Japan edierten Matthias Koch und Sebastian Conrad 2006.14 In Japan hält die Präfektur Ishikawa sein Andenken hoch. Dort steht seit 1980 ein Denkmal, ein Tunnel wurde 2000 nach ihm benannt. Alljährlich zelebriert man das Rain Matsuri-Fest und eine gleichnamige Zeitschrift erscheint.
Grab Reins auf dem Kessenicher Bergfriedhof
1 Johann Justus Rein: ein Raunheimer erforschte Japan. Schriften des Heimatvereins, 1982; H. Hormann, „Johannes Justus Rein. Ein prominenter Mainzlarer“ In: V. Hess und G. Felde (Bearb.), Magistrat der Stadt Staufenberg (Hrsg.): Daubringen – Mainzlar. Spuren der Geschichte zweier oberhessischer Dörfer und ihrer Bevölkerung. Staufenberg: Stadt Staufenberg, 383–385; M. Koch, S. Conrad (Hrsg.), Johannes Justus Rein. Briefe eines deutschen Geographen aus Japan 1873–1875. Monographien aus dem Deutschen Institut für Japanstudien Bd.40, 2006. 2 W. Lauer, Johannes J. Rein. In: Colloquium Geograficum 10. Vorträge aus Anlass des 50. Todestages von Johannes Justus Rein, 1969, 8–12; J. Hohmann, J. J. Rein. Ein Raunheimer erforschte Japan, Raunheim 1982 mit Abbildung seines Geburtshauses. 3 H. Kerp, J. J. Rein. Festschrift zum 70. Geburtstag, Bonn 1905. 4 Er gab in Leiden sein mehrbändiges Werk heraus: Nippon. Archiv zur Beschreibung von Japan, 1832–1858. 5 Lehrer waren u. a. Edmund Naumann (Geologie), Erwin Knipping (Meteorologie), Max Fesca (Bodenkunde), Karl Rathgen (Volkswirtschaft), Erwin Bälz (Medizin). 6 J. Hohmann, J. J. Rein. In: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Mathematik und Naturwiss. 150 Jahre Rhein. Fr.-Wilh.-Univ. Bonn 1818–1968, Bonn 1970, 199. 7 Japan. Nach Reisen und Studien 2 Bde. 1881–6. 8 Rein Bd.1, 485. 9 Der Nakasendo in Japan. In: Petermanns Geogr. Mitteilungen, Ergänzungsheft 59, 1880. 10 Kerp a. a. O. 11 A. Philippson, J. J. Rein. In: Petermanns Geogr. Mitteilungen 64, 1918, 80. 12 Beiträge zur Kenntnis der spanischen Sierra Nevada, Wien 1899. 13 Erläuterungen zur Geschichte der Eroberung und Besiedlung der La Plata-Länder sowie der Einführung von Pferden und Rindvieh und deren Verwilderung. In: Geographische Zeitschrift 6. Jg., 1900, 297ff. 14 Im 40. Band der Monographien aus dem Deutschen Institut für Japanstudien.
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Zwei Jahre lang Strapazen im Eis Carl Weyprechts Expedition Vor genau 130 Jahren kehrte ein gebürtiger Hesse triumphal aus der Arktis zurück, wo er zwei Jahre lang die unglaublichsten Strapazen ertragen hatte. Carl Weyprecht hatte zusammen mit seinem Kollegen Julius Payer und der Expeditionscrew – erstmalig glaubhaft bezeugt – das später so genannte Franz-Josefs-Land betreten. Das war seit 1596 die bedeutendste Landentdeckung im europäischen Sektor der Arktis.1 Reiselustige pilgern derzeit auf seinen Spuren auf russischen Eisbrechern und atomkraftgetriebenen U-Booten ins Franz-Josefs-Land.2 Carl wurde in Darmstadt3 als dritter Sohn von insgesamt fünf Geschwistern in der Grafenstr. 41 am 8. September 1838 geboren. Der Vater gab früh aus Gesundheitsgründen seinen Beruf als Advokat auf und war 1842 mit seiner Familie nach König umgezogen, um eine Stelle als Kammerdirektor des Erbach-Schönbergischen Fürstenhauses anzutreten.4 Die Weyprechts hatten lebhafte Kontakte mit einem ganzen Kreis gebildeter Menschen der höheren Stände. In seinem Elternhaus ging die Prinzessin zu Hohenlohe ein und aus. Das Interesse
Stammbaumausschnitt Weyprecht
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an fernen Ländern äußerte sich in fiktiven Reisen auf dem Atlas, mit denen sich an Winterabenden die Familie die Zeit vertrieb. Aus der großen Bibliothek des Vaters holten sich dann die Kinder den Stoff für ihre Traumreisen.5 Karl, seine Geschwister und Kameraden wurden in ihrem Haus neben dem Schloss zuerst von Privatlehrern unterrichtet, dann besuchte er 1852 kurze Zeit das Gymnasium und wechselte ein Jahr später auf die Gewerbeschule in Darmstadt. Früh stand sein Entschluss fest, Seeoffizier zu werden, und dafür benötigte er eher naturwissenschaftlich-mathematische Kenntnisse als alte Sprachen. Als Knabe soll er sich durch seine Munterkeit, durch sein freundliches Benehmen und sein gutes Herz Freunde gewonnen haben. Man suchte den sympathischen Jungen auf, bevorzugte ihn, lobte seinen klaren Kopf und seinen Fleiß. Zur österreichischen Marine ging er laut Littrow, weil die deutsche kaum existierte, der Eintritt in die englische schwierig war, aber die österreichische sich kräftig entwickelte. Koldewey formuliert es so: „Die Deutschen waren in Folge der früheren unglücklichen politischen Zerrissenheit
gerade in nautischen Unternehmungen und Forschungsexpeditionen schmachvoll hinter allen Nationen Europas zurückgeblieben, trotzdem wir eine so große Handelsmarine, die drittgrößte der ganzen Welt, und eine so umfangreiche und tüchtige seemännische Bevölkerung aufzuweisen haben.“6 Der Arbeitgeber seines Vaters mag hier vielleicht hilfreich gewirkt haben. Der Adel brachte gerne nachgeborene Söhne in Armeen anderer Nationen unter. Außerdem gehörte Österreich zum Deutschen Bund.7 Ab 1856 absolvierte Carl als provisorischer Seekadett in der k. u. k. Kriegsmarine seine Ausbildung auf der Fregatte Schwarzenberg, stationiert in Pula (Istrien). Danach beteiligte er sich an einer Flottenreise um das Mittelmeer an Bord der Korvette „Erzherzog Friedrich“, die unter anderem in Tripolis Zedernholz für den Bau der Votivkirche in Wien abholte, aber auch Landausflüge ins Landesinnere von Beirut, Athen, Saloniki, Konstantinopel, Izmir, Alexandria, Tunis und Neapel ermöglichte.8 1862 fuhr er als Linienschiffsfähnrich auf der Schraubenfregatte „Radetzky“ unter Kommandant Tegetthoff, 1863– 65 als Instruktionsoffizier auf dem Schulschiff „Hussar“und erklomm die militärische Stufenleiter. Am 23. Juli 1865 lernte er während seines Urlaubs bei einer Sitzung des „Geographischen Vereins“ in Frankfurt a. M. den deutschen Geographen August Petermann kennen. Petermann hatte als Royal Geographer an der Quelle aller eingehenden Meldungen gesessen und wurde dann als Leiter der Geographischen Anstalt von J. Perthes in Gotha bis 1878 zum Förderer vieler Unternehmungen.9 Petermann gab 1865 in Frankfurt a. M. zu bedenken, „dass wir seit Jahrzehnten unsere Entdeckungsreisenden, als Regel Einer nach dem Anderen, in dem Innern der gefahrvollsten Continente, ganz besonders in Afrika, hinmorden lassen, sei es von den fanatischen Einwohnern, sei es von dem tödtlichen Klima, während dergleichen Gefahren und Opfer bei arktischen Expeditionen höchstens nur als seltene Ausnahme vorkommen.“10 Weyprecht hatte sich bereiterklärt, mit 3000 Gulden oder 2000 Thalern eine Expedition auszustatten und zu führen.11 Als erstes Ziel umriss Petermann, von Tromsö oder Hammerfest aus fünf Monate zwischen Spitzbergen und Novaja Semlja zu kreuzen. In einem diesbezüglichen Brief will Carl die Bedenken seiner Eltern zerstreuen: „Nun
zu einem anderen Kapitel. Daß Ihr mein Projekt, an der deutschen Nordfahrt theil zu nehmen, mit nicht sehr günstigen Augen anseht, dachte ich
Carl Weyprecht
mir. Ich versichere Euch, theuerste Eltern, es war dies der einzige Grund, warum ich nicht schon einen Monat früher Herrn Dr. Petermann meine Vorschläge machte.“ Er rechtfertigt, dass es kein Strohfeuer der Begeisterung sei, denn er hätte sich schon länger mit dem Gedanken getragen und viel dazu gelesen. Außerdem plane er noch zwei bis drei Monate an der Sternwarte Triest dafür zu lernen. So eine Expedition sei nicht gefährlicher als ein Krieg mit Italien. „Du meinst, theuerster Vater, meine Theilnahme könne mir in meinem Fortkommen schaden. Dieß auf keinen Fall. Ich glaube Disponibilität erlangen zu können und bleibe auf diese Art voll im österreichischen Dienst, beziehe sogar, mit Rücklassung eines Zehntels meine Gage bis zum Eintreffen weiter.“ Eine Beförderung kann er nicht vor Ablauf von fünf bis sechs Jahren erwarten. Bis dahin ist er längst zurück. Eine ärztliche Untersuchung scheint ihn auch für tauglich erklärt zu haben. „Es tut mir leid, lieber Vater, dass du überhaupt glaubst, ich könnte dir den Vorwurf machen, als sprächst du von der ganzen Expedition wie ein Blinder von der Farbe. Weit entfernt hiervon vertraue ich soviel auf dein Urteil, dass ich bereit bin, gegen meinen innigen Wunsch zurückzutreten, wenn dein Widerwille durch alles eben Gesagte nicht behoben werden kann.“12
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Reiserrouten der „Isbjörn“ und der „Tegethoff“
Ausgerechnet ein Krieg mit Italien verhinderte fürs erste das Unternehmen. 1866 kämpfte die österreichische Flotte bestehend aus sieben Panzern, sieben Holzschiffen à 35 Geschützen und sieben kleinen Kanonenbooten gegen vierzehn Panzerfregatten, zehn bis zwölf Holzfregatten mit 40–54 Geschützen bei der Insel Lissa (Vis) südwestlich von Split in der Adria. Weyprecht war der jüngste Offizier an Bord der Panzerfregatte „Drache“. Er beschreibt in einem Brief die Ereignisse: „Baron Moll, (sein Kapitän an der Reeling) litt seit zwei Tagen an einer starken Augenentzündung und sah fast nichts. Einen Moment, ehe ihn die verhängnisvolle Kugel erreichte, nahm er das Glas vor die Augen und sagte mir: „Weyprecht, Sie müssen die Augen heute doppelt öffnen, ich sehe gar nichts.“ Ich bückte mich übers Sprachrohr, gab ein Kommando in die Batterie und fand mich, als ich mich aufrichtete, von oben bis unten mit Blut und Gehirn bespritzt. Sein kopfloser Leichnam lag mir zu Füßen.“ Bis der dienstälteste Offizier das Kommando übernahm, führte Weyprecht mit größter Ruhe und Umsicht das Schiff. Dafür bekam er den Orden der Eisernen Krone 3. Klasse mit
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Kriegsdekoration. Vom Recht auf Erhebung in den Ritterstand machte er keinen Gebrauch.13 Später versah er seinen Dienst auf dem Raddampfer „Elisabeth“ in mexikanischen Gewässern zur Verfügung Kaiser Maximilians, dessen Untergang er deutlich voraussah. Die Einstellung der Zinszahlungen für die mexikanischen Auslandsschulden hatte zur Invasion der betroffenen Gläubigerstaaten Großbritannien, Spanien und Frankreich geführt. Während sich die ersten beiden nach einem Abkommen zurückgezogen hatten, eroberten die Franzosen weiter und besetzten die Hauptstadt. Die von ihnen einberufene Versammlung hatte 1864 die Monarchie ausgerufen und auf Betreiben Napoleons III. die Kaiserkrone dem Bruder des österreichischen Kaisers angeboten. Als die USA den Rückzug der Franzosen erzwang, hatte der Kaiser weder Rückhalt im Volk noch Schutz, denn binnen kurzem hatte er sich die Ultrakonservativen und die Kirche zu Gegnern gemacht. Beim Neujahrsempfang 1867 beobachtete Weyprecht, wie armselig es bereits zuging. „Ein Husar bereitet die Fleischspeisen, die Frau eines
Kammerdieners die Mehlspeisen; Koch ist keiner mehr da, der Hof liegt überhaupt in den letzten Zügen ... Die Umgebung des Kaisers besteht aus zwei Pfaffen ... ferner dem früheren österreichischen Schiffsleutnant, einem Doktor und einem Haushofmeister.“14 Vom Hof war abgezogen, wer konnte, die österreichische Legion, von Franzosen eskortiert, auf dem Rückweg nach Europa. Einige Soldaten bildeten ein neues Regiment und dienten in der national-mexikanischen Armee, um aufgehängt zu werden, sobald der Kaiser weg war. Geld war schon länger keines mehr da. Auf Weyprechts Schiff war das kaiserliche Tafelservice und Silber im Wert von 150000 Talern in einunddreißig Kisten verstaut. Er schreibt am 22. Mai 1867: „Man darf sich nicht der Illusion hingeben, als schütze ihn (Maximilian) seine hohe Abkunft und Stellung, vor einem derartigen Schicksal (vom Kriegsgericht erschossen zu werden), eher noch tut es die gütliche Intervention der Amerikaner zu seinen Gunsten, obwohl auch diese, wie viele behaupten, ihm eher geschadet als genützt haben soll, da man hier unter keiner Bedingung eine fremde Einmischung in die inneren Verhältnisse dulden will.“15 Der Kaiser weigerte sich, mit den Franzosen das Land zu verlassen und als Gescheiterter nach Europa zurückzukehren. Untätig mussten die Österreicher ein Jahr lang in mexikanischen Gewässern kreuzen, ob der Kaiser sich nicht vielleicht doch noch retten wollte. Weyprecht nutzte das Warten für astronomische und meteorologische Studien. Als die „Elisabeth“ im Hafen von Vera Cruz von Republikanern blockiert wurde, gingen ihr die Lebensmittel aus. Das von Weyprecht befehligte Boot, das Nachschub heranschaffen sollte, geriet in einen bedrohlichen Sturm. Der einzige Ausweg war die absichtliche Strandung. Nach sechs Tagen brachten Matrosen Hilfe, aber Weyprecht, der bei den Trümmern und den Vorräten ausgeharrt hatte, musste umgehend mit Malaria für Monate ins Krankenhaus nach Havanna.16 Nach dieser Episode ernannte ihn Kaiser Franz Joseph zum Linienschiffsleutnant. Da seine geographischen Interessen inzwischen bekannt waren, wurde er Mitglied der Kommission zur Küstenaufnahme Dalmatiens unter Baron Oesterreicher. Sein nächster Auftrag führte ihn Dezember 1870 in Begleitung der Astronomen Gebrüder Weiss und Prof. Oppolzer nach Tunis, um eine totale Sonnenfinsternis zu verfolgen.
Bei dieser Gelegenheit erlitt er vermutlich einen Sonnenstich, an dessen Folgen er noch länger zu leiden hatte. Hitze konnte er fortan überhaupt nicht mehr vertragen. Es war bitter, den Posten bei der ersten deutschen Nordpolarexpedition, den ihm August Petermann wieder angeboten hatte, aus gesundheitlichen Gründen Karl Koldewey überlassen zu müssen. Er sollte aber noch eine zweite Chance erhalten. Noch vor der Tunisreise lernte Weyprecht den Oberleutnant der Tiroler Kaiserjäger Julius Payer kennen, der sich gerade bei der zweiten deutschen Polarexpedition durch seine karthographischen Arbeiten ausgezeichnet hatte. Im folgenden Jahr unternahmen beide auf dem Segelschiff „Isbjörn“ mit acht Mann Besatzung die Vorexpedition in das Gebiet zwischen Spitzbergen und Novaja Semlja und fanden es fast eisfrei. Diese Region war bei den zwei deutschen Fahrten ausgespart geblieben, so sammelte man jetzt Daten zur Meerestiefe und zur Temperatur von Wasser und Luft. Weyprecht war überzeugt, dass das Ziel der folgenden Expedition die Erforschung der Polarnatur sein sollte, nicht das Auffinden neuer Länder oder die Erreichung des Nordpols. So stimmte er sich mit Payer in seiner Instruktion ab. Diese Expedition wurde außer von Petermann von Spendenaktionen unterstützt, an denen sich u. a. der Kaiser, das Kriegs-, das Unterrichtsministerium und die Geographische Gesellschaft beteiligten. Es kamen 200000 Gulden zusammen. Einfachste Leute trugen ihr Scherflein genauso dazu bei wie hochwohlgeborene.17 Natürlich kamen Weyprecht auch die Verbindungen mit einflussreichen Männern der Donaumonarchie zu gute, darunter Graf Edmund Zichy und Graf Johann Nepomuk von Wilczek. Graf Wilczek (1837–1922) war unter allen Begeisterten vielseitig wissenschaftlich interessiert, der herausragende tatkräftige Sponsor (40000 Gulden) und Freund, der auch später einige der schriftlichen Hinterlassenschaften der beiden Forscher rettete. Aus eigener Initiative legte er für die Folgeexpedition ein Lebensmitteldepot auf Nowaja Semlja an. Unterstützung kam sogar vom russischen Zaren, der durch einen Erlass seine Untertanen zu jeglicher Hilfestellung verpflichtete, falls die Besatzung auf dem Rückweg durch Sibirien müsse. In Weimar veranstaltete der Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach ein Abschiedsbankett
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für die Forscher. Polarexpeditionen und die damit verbundenen Gefahren und Entbehrungen haben die Weltöffentlichkeit immer wieder bewegt.18
Vor Beginn der Fahrt erhielt Weyprecht am 18. Februar 1872 die österreichisch-ungarische Staatsbürgerschaft. Das Schiff wurde in Bremerhaven unter Weyprechts Mitspracherecht gebaut, da dessen Leben entscheidend auch von seiner Funktionstüchtigkeit abhängen würde. Es war ein Schraubendampfer von 220 t, mit drei Masten und 110 Fuß Länge. Die Kompetenzen von Weyprecht und Payer waren klar verteilt. Carl sollte als Schiffsführer der „Tegethoff“ die Hauptexpedition leiten, für die sie das Erreichen der Behringstraße auf der Nordroute zum Idealziel gesetzt hatten, während Payer für die Ausflüge auf Land das Management übernahm. Schon zur Zeit der Anwerbung seiner Mannschaft litt Weyprecht an chronischem Husten. In seinem Vorwort zum Expeditionsbericht schreibt Payer: „Das vorliegende Werk beginne ich mit der rückhaltlosen Anerkennung der hohen Verdienste meines Kollegen Schiffsleutnants Weyprecht, gegen welche die Erfolge meiner eigenen Anstrengungen nur von geringem Belang sind.“ Die Wirksamkeit und Ordnung schrieb er den Folgen einer selbst auf Polarfahrten seltenen Disziplin zu.19 Nur wenige Stunden nachdem sich das Schiff von der „Isbjörn“ Graf Wilczeks getrennt hatte und früher als die ganze Besatzung dachte, wurde das Schiff im Eis eingeschlossen, das in diesem Jahr schon viel südlicher auftrat als im Jahr zuvor, und trieb ohne Steuermöglichkeit mit dem Packeis dahin. In den folgenden Winterstürmen wurde der Motorsegler stark beschädigt. An Bord herrschte babylonische Sprachenvielfalt, Slawisch, Italienisch, Deutsch,
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Norwegisch, Englisch, Lateinisch, Ungarisch und Französisch, sowie Tiroler Dialekt waren vertreten. Weyprecht hatte die Crew, im Gegensatz zu früheren Expeditionen, aus begeisterungsfähigen k. u. k. Mittelmeermatrosen20, statt eiserprobten, unmotivier-ten Skandinaviern zusammengesucht. Damit rief er zwar Kopfschütteln hervor, aber der Verlauf gab ihm Recht. Sie mussten jederzeit damit rechnen, dass das Schiff trotz verstärktem Kiel und Metallschutz von den gigantischen Eismassen zerdrückt werden könnte. Laut Becker besaß Weyprecht in so hohem Grade das Vertrauen seiner Untergebenen, dass keiner von ihnen Anordnungen hinterfragte.21 In 800 Kisten waren die Lebensmittel verstaut. Sie erlaubten den 24 Mann einen Speiseplan von täglich Kaffee zum Frühstück, Suppe um acht Uhr, Suppe, Fleisch und Gemüse um zwölf, abends Tee, wöchentlich für jeden ein Pfund Butter und alle zusammen drei Flaschen Alkohol. Sechs Personen teilten sich sonntags eine Flasche Wein.
„Carneval im Eis“
Anschaulich beschreibt Payer die Geräuschkulisse während der Eispressungen in den Wintermonaten, die das Schiff mit der Zeit anhoben. Für die Schiffbesatzung begann ein langer Kampf auf Leben und Tod in der arktischen Eiswüste. Das Eis um das Schiff herum spaltete sich unter Pfeifen, Krachen und Ächzen, die einzelnen Stücke stiegen hoch und sanken ab, sie schoben sich auf- und übereinander, bei Zusammenstößen stiegen sie brüllend hoch empor, zerbarsten dabei in herabstürzende Stücke. Im Untergrund schob sich ein neuer Berg empor, der auch wieder zersplitterte. Aber selbst Sprengungen konnten dem Schiff keinen Freiraum verschaffen. Sicherheitshalber bauten sie zwei Häuser, um bei Gefahr vom Schiff übersiedeln zu können, aber diese zerbrachen bald. Die Eisdicke beim Schiff
betrug 30 Fuß. Laut Aufzeichnungen war die niedrigste Temperatur minus 46,2° Celsius.22 Um nicht in den sonnenlosen Polarwintern depressiv und übellaunig zu werden, beschäftigte Weyprecht die Mannschaft sogar mit Iglubau, Scheibenschießen und der Jagd auf Eisbären (67 töteten sie in den zwei Jahren). Lunge und Beine der Bären wurden für die gemeinschaftliche Tafel zubereitet, die Zunge bekam der Schiffsarzt, das Herz der Koch, das Blut die Skorbutkranken, Rückgrat und Rippen die Schlittenhunde, das Hirn die Offiziere. Fett kam in den Vorrat, und die Leber wurde ins Wasser geworfen. Sogar ein Karnevalsfest ist bezeugt.23 Einigen Mitgliedern der Mannschaft brachte Weyprecht das Lesen bei. Der Tod des Maschinisten Krisch durch Tuberkulose und Skorbut war eine zusätzliche Belastung für die Besatzung. Eine dritte Überwinterung war unmöglich, soviel stand fest.24 Als sie am 30. August 1873 auf ihrer treibenden Eisscholle Land erblickten, tauften sie es nach ihrem Kaiser Franz-Josefs-Land und waren so getröstet, wenigstens ein Ergebnis vorweisen zu können. Um die Zeit zu nutzen, unternahm Oberleutnant Payer mit einem Teil der Besatzung im Laufe von mehr als sechs Wochen mehrere Erkundungsfahrten auf Schlitten in das neu entdeckte Land, immer in der Angst, bei Rückkehr unter Umständen das
Schiff nicht mehr wiederzufinden. Es hätte ja sein können, dass das Eis plötzlich das Schiff freigegeben hätte und die beim Schiff Gebliebenen das nutzen mussten. Mit Weyprecht traf er die Vereinbarung, dass eine Rettungsausrüstung für sie am Tag der Abfahrt deponiert werde. Die Vorbereitungen belebten die Lebensgeister. Weyprecht, selbst ein Wunder an Ausdauer und Pünktlichkeit unter derart zermürbenden Umständen, stellte mit der Mannschaft magnetische Beobachtungen an. Erwähnt sei hier nur der ständige Kampf gegen das auf allen Gegenständen sich bildende Eis aus dem Kondenswasser der menschlichen Ausdünstungen. Bei höheren Temperaturen durchnässte es alles wie Regen. Franz-Josefs-Land gehört heute zu Russland und ist eine Gruppe von etwa 60 Inseln mit fast 20000 Quadratkilometern Fläche. Tafelberge aus Basalt und Dolerit bis 1580 m Höhe und große kugelförmige Verwitterungsprodukte und Gletscher kennzeichnen das Landschaftsbild. Die Vegetation beschränkt sich auf Flechten, die Bewohner sind Pinguine, Eisbären, Seehunde und Weißwale. Weyprecht plante schweren Herzens das Schiff aufzugeben. Anfang 1874 sollte es dann so weit sein. Alles, was nicht auf vier Booten bzw. vier Schlitten Platz hatte, musste zurückgelassen werden. Sie beluden jedes der drei kleinen Boote
Küste von Franz-Josef-Land, Stahlstich nach Payer 1872
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mit je einem Schlitten, Werkzeug, Waffen, etwas Geschirr, sechs Lampen, zwei Ölfässern, einem Sack Nähzeug, zwanzig Päckchen Zündhölzern, ein Paar Unterhosen, einem Hemd, einem Unterhemd, zwei Paar Rentierschuhen, Waage, Gewichte, Kochmaschine samt Ersatzteilen, 45 Kilo Pemmikan (getrocknet gepresste Fleischmischung), 150 Kilo Erbswurst, 40 kg Fleischgries, 202 kg gekochtem Fleisch in Büchsen, 49 kg Mehl, 125 kg Brot, 45 kg Schokolade, 115 l Spiritus, 6 kg Salz, 5 kg Fleischextrakt, anderthalb kg Tee und 50 kg Brot für die Hunde. Ausgerüstet mit zwei Wollhemden, einer Wollunterhose, drei Paar Strümpfen, ledernen Wasserstiefeln, einer Mütze, einer Decke und einem Pelz zum Schlafen quälten sich alle 86 Tage lang über Kanäle, Spalten und Eistürme.25 Sobald Weyprecht den Übernachtungsplatz bestimmt hatte, kehrte Payer täglich noch eine Woche lang zum Schiff zurück, um Vorräte zu ergänzen. Ohne Gepäck schaffte er die Strecke in zwei Stunden. Sie schliefen in den Booten und waren zeitweise wieder zur Untätigkeit verdammt, wenn Risse im Eis zufroren, wo sie eigentlich fahren wollten oder Eisbarrieren jedes Weiterkommen verhinderten. Mal sanken sie bis zum Hals ein oder brachen durchs Eis. Die drei Boote größtenteils schleppend und ziehend bewältigten sie in den darauffolgenden zwei Monaten ganze 15 km! Durch die Eisdrift wurde jedes Vorwärtskommen wieder zunichte gemacht. Bei dieser äußerst schwierigen und lebensgefährlichen Aktion soll der Wahlspruch der Mannschaft: „Numquam retro!“ (Niemals zurück) gewesen sein. Damit dämpften sie die Versuchung, wieder zum Schiff zurückzukehren, als sie ihr vergebliches Bemühen feststellten. Um nicht zu schnell die Lebensmittel zu verbrauchen, hielt Weyprecht die Mannschaft mit seinem Beispiel dazu an, ungekochtes Seehundfleisch zu essen. Einmal stand er einem Eisbären gegenüber und die Patrone fiel ihm beim Laden in den Schnee. Er blickte darauf drohend den Bär an und überschüttete ihn mit Schimpfwörtern. Durch die Lautstärke wurden die Kameraden darauf aufmerksam, kamen zu Hilfe und verjagten den verdutzten Bär. Als die Männer offenes Meer erreichten, war das nächste Land fünfzig Meilen entfernt. Diese Distanz schafften sie rudernd in vier Tagen, landeten allerdings viel weiter südlich als das von Wilczek eingerichtete Depot. Der Proviant reichte zu diesem
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Zeitpunkt noch zehn Tage. Wie durch ein Wunder wurden sie von einem russischen Schiff gerettet, neun Tage, nachdem sie endlich offenes Wasser erreicht hatten und ihr letzter Proviant aufgezehrt war. Weyprecht schreibt in seinem Tagebuch am 14. August 1874: „Um 5 Uhr das offene Wasser gesichtet. Arbeiteten uns zu einer Einbuchtung desselben durch und zogen um 7 Uhr die Boote auf einer kleinen Scholle heraus. Wir müssen noch einmal ordentlich schlafen, ehe wir die Seereise antreten. Um uns herum rauscht und braust die Brandung in dem zusammengetriebenen Eisgasch, eine köstliche Musik für unsere Ohren ... Unsere Lage während der Nacht ist eine unangenehme; wir können sehr leicht wieder besetzt oder unsere Scholle zertrümmert werden.“ Es stand nun fest, dass der Golfstrom nicht stark genug war, um freies Wasser im Polarmeer zu bewirken, und dass es keine unveränderliche Eisbarriere gab.
Payer und Weyprecht auf der Titelseite des „Illustrierten Wiener Extrablattes“ am 25. September 1874
Weyprechts Führungsqualitäten sind unbestritten. Einer der Matrosen sagte zu dessen Bruder in Hamburg: „Seither habe ich nur zu einem Herrgott gebetet, jetzt bete ich zu meinem Herrgott und zu meinem Kapitän.26“ Ein Beispiel seines Verhaltens blieb besonders im Gedächtnis. „Kapitän Carlsen putzte sein Gewehr, welches plötzlich losging. Die Kugel flog in den Munitionskasten und wir
alle standen sprach- und rathlos vor Entsetzen herum. Da stürzte Weyprecht entschlossen auf die feuerfangenden Pakete und schleudert sie weit weg aus dem Kasten.“27 Weyprecht ist seinerseits voll des Lobes für seine Leute:28 „Und als wir endlich nach 96 Tagen unserem Retter, den russischen Schoner fanden, da kletterten nicht abgemattete, sieche Schiffbrüchige über die Bordwände, sondern eine abgehärtete, wohldisziplinierte Schiffsbemannung. Und von Freudentränen und Ähnlichem, nur in der Einbildung sentimentaler Naturen existierenden Ausbrüchen zurückgehaltener Verzweiflung war keine Spur zu sehen.“ Auf Wunsch des Kapitäns verzichteten die Matrosen bei den Empfängen zur Verwunderung mancher anwesenden Honoratioren auf ausufernde Besäufnisse, wie sie unter Matrosen sonst üblich waren. Der deutsche Konsul wollte sie gleich an ihrem Ankunftstag in Norwegen mit Damen empfangen. Die Gattinnen sahen, dass alle Gäste unter der Hitze litten und verlangten das Ablegen der Pelze. Darunter trugen sie nur die Wollunterwäsche, die sie am 20. Mai angezogen hatten.29 Den Geruch kann man sich ausmalen. Auf der Heimreise erwarteten sie Einladungen des Königs von Norwegen und Schweden, der Geographischen Gesellschaft in Hamburg und Telegramme aus aller Welt. Sie bekamen das Ritterkreuz des Österreichischen Kaiserlichen Leopold-Ordens. Der Expeditionsleiter verlor bis Wien seine Stimme vor lauter Erzählungen und Feiern. Kurze Zeit lebte er zurückgezogen in Wien und war unermüdlich bestrebt, um nach der Reise unter Aufbietung seiner eigenen Finanzreserven selbst dem schwarzen Schaf der Expedition eine Existenz zu gründen. Danach lebte er länger in Triest und kehrte 1879 nach Wien zurück. Die glänzenden Stellenangebote des Auslands lehnte er alle ab. 1880 besuchte er zum letzten Mal seine Familie in Michelstadt. Am Ende lebte er im Hofzimmer des „Hotel Matschakerhof“ und ging zum Zeitung lesen ins Cafe, wobei er sich nur ungern stören ließ. Für eine Ehe nahm er sich buchstäblich keine Zeit, glänzende Möglichkeiten soll er ausgeschlagen haben. Lediglich der Witwe seines Hausarztes stand er näher. Ihr vertraute er zumindest sein Polartagebuch an, sie besuchte noch nach seinem Tode seine Familie in Michelstadt. Während Payer mit seiner volkstümlichen Schilderung der
Fahrt bekannt wurde, publizierte Weyprecht die wissenschaftlichen Ergebnisse, die ihm in der Fachwelt Anerkennung verschafften. Dabei fanden der Erdmagnetismus und die Nordlichter bevorzugte Abhandlung. Ein anderer Forscher lüftete das Geheimnis der Entstehung dieses Lichtspektakels kurze Zeit nach Weyprechts Tod. Die Unterlagen über die Expedition überstanden, wasserdicht in Kisten verlötet, alle Fährnisse, nur um später durch Krieg, Nachlässigkeit, Diebstahl und Gedankenlosigkeit bis auf wenige Reste zu verschwinden. Erhalten geblieben sind u. a. sein Tagebuch und 130 Briefe. 30 Carl Weyprecht regte 1875 auf dem Naturforschertag in Graz in seinem Vortrag über die „Grundprinzipien der arktischen Forschung“ die Errichtung einer Station für die wissenschaftliche Erforschung der Zirkumpolarregion an, doch erlebte er nicht mehr die Verwirklichung. Als Mitarbeiter der Meteorologischen Anstalt in Wien trug er diese Ideen zusammen mit Georg Neumayer und unterstützt von Wilczek 1879 dem Meteorologenkongress in Rom vor, um ihnen weltweite Anerkennung zu verschaffen. Auf den 1879–81 in Hamburg, Bern und St. Petersburg abgehaltenen internationalen Polarkonferenzen wurden verbindliche Normen für die praktische Durchführung der Pläne Weyprechts ausgearbeitet. Ernst Becker, ein Freund Weyprechts in der Seebehörde, schrieb in einer Triester Zeitung31: „In Begleitung seines Bruders hat er Wien verlassen, schon ein dem Tod geweihter Mann. Freundschaft und Verehrung, deren sich Weyprecht in so reichem Maße erfreute, bot Alles auf, um die Mühseligkeiten der Fahrt zu erleichtern – hatte doch die Direktion der Westbahn einen eigenen Salonwagen zur Verfügung gestellt –, und schon Dienstag früh lag im Hause in Michelstadt nur die entseelte Hülle ... er war ein ganzer Mann, und wer je im Leben ihm nahe kam, nahm diesen Eindruck voll mit sich.“ Er starb am 29. März 1881 in Michelstadt bei der Familie seines Bruders Robert. Auf dem Waldfriedhof in Bad König, im Grab seiner Eltern, ist er bestattet. Auf seine Initiative ging das 1. Internationale Polarjahr 1881 zurück. Elf Nationen errichteten zwei Stationen in der Antarktis und zwölf in der Arktis. Endlich bekam man vergleichbare Daten an unterschiedlichen Orten.
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1 Nähere Auskünfte VHS Odenwaldkreis. 2 FAZ vom 7.8.03 Freddy Langer, Es fährt ein Schiff nach nirgendwo. Eine Reise mit dem Eisbrecher nach Franz-Josef-Land und in die Welt der Imagination. 3 Katalog der Österreichischen Nationalbibliothek: 100 Jahre Franz-Josefs-Land. Zur Erinnerung an die Entdeckungsreise der Österreichisch-Ungarischen Nordpol-Expedition 1872–1874 unter Julius von Payer und Carl Weyprecht. Wien 1973. 4 W. Wolkenheuer. In: Hess. Biogr. Bd.1, 1918, 289f.; E. Ihne, Carl Weyprecht, der hessische Nordpolforscher. In: Gießener Familienblätter 1931, Nr.28. 5 R. Kraft, Forscher im Polareis. Carl Weyprecht. In: K. Schleucher (Hrsg.): Darmstädter draußen. Ihr Leben im Ausland. Zum 650-jährigen Stadtjubiläum Darmstadts (1330–1980), Darmstadt 1980, 323. 6 R. Koldewey, Die 1. deutsche Nordpolar-Expedition im Jahre 1868. Ergänzungsheft 28 zu Petermanns „Geographische Mittheilungen“, Gotha 1871, 2. 7 Es gab durchaus auch andere Hessen, die es in die gleiche Richtung gezogen hatte, u. a.: Prinz Philipp von Hessen-Darmstadt , Prinz Alexander von Hessen bis 1862. 8 E. Franz (Hrsg.), Hessische Entdecker. Forschungsreisen in fünf Erdteilen. Ausstellung der Hess. Staatsarchive zum Hessentag, Darmstadt 1981, 32. 9 Frederick Cook, Wo Norden Süden ist (F. Pohl Hrsg.), Hamburg 1953, 254ff. 10 Von 1818–1854 hatten sie bei 42 Expeditionen und 100 Rettungs-Schlitten-Expeditionen nur einen Teilnehmer verloren. Koldewey IV. 11 Im Vorwort zu R. Koldewey, Die 1. deutsche Nordpolar-Expedition im Jahre 1868. Ergänzungsheft 28 zu Petermanns „Geographische Mittheilungen“, Gotha 1871. 12 Unveröffentlichter Brief in Privatbesitz. 13 Ritter der 3. Klasse erhielten vor 1884 den Ritterstand taxfrei, sobald sie darum nachsuchten. M. Gritzner, Handbuch der Ritter- u. Verdienstorden, Graz 1962, 278. 14 Kraft a. a. O. 330. 15 Der Kaiser von Mexiko, Bruder des Kaisers von Österreich, wurde am 19. Juni erschossen. 16 E. Ihne (Hrsg.), Der Nordpolarforscher Carl Weyprecht. Hessische Volksbücher Bd.17/18, Friedberg 1913, 5. 17 Neben den Tausenden des reichen Finanzmannes figurierten die 50 Kreuzer, welche die arme Köchin für ein Bündel Holz spendete, schreibt Weyprecht. 18 1845 verschwanden 129 Teilnehmer der Franklin-Expedition spurlos sowie die 40 Expeditionen, die die Umstände klären sollten. 19 J. Payer, Die österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1872–1874, Wien 1876. 20 H. v. Littrow, Carl Weyprecht, der österreichische Nordpolfahrer, Wien, Pest, Leipzig 1881, 32. 21 Littrow 1881. 22 B. v. Wüllerstorf-Urbair, Die meteorologischen Beobachtungen an Bord des Polarschiffes „Tegethoff“. In: Denkschriften der Akad. D. Wiss. Mathem.-naturw. Klasse, 43.Bd., Wien 1882. 23 Payer, 1876, 109. 24 Payer, 1876, 190. 25 Teile der Ausrüstung im Marinemuseum Pula sollen während des ersten Weltkrieges von Italienern geraubt worden sein oder z. T. nach Wien ausgelagert. 26 E. Ihne, 1913, 23. 27 Littrow 1881. 28 Unser Matrose im Eise. In: Petermanns Geographische Mitteilungen Nr.5–7, 1876. 29 Payer, 1876. 30 Zu Beginn des 2. Weltkriegs lebte der Großneffe Weyprechts Karl Kolb in USA. Bei seiner Internierung verschwanden die beschlagnahmten Unterlagen. Katalog Wien 1973, 65; C. Weyprecht, Die Metamorphosen des Polareises. Oesterr.-Ungar. Arktische Expedition 1872–1874, 1879; R. Krause, F. Berger and B. Besser: Carl Weyprecht (1838–1881) Seeheld, Polarforscher, Geophysiker. Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Naturwissenschaften, Mathematik und
Medizin, Bd.57, VÖAW: 2008. 31 Littrow, 1881, 7ff.
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Mit Sklavenhändlern auf den Weltmeeren Der Pfarrer Johann Christian Hoffmann Im Jahre 1680 erschien die erste Auflage der Reisebeschreibung eines Pfarrers, der sich in einer Zeit in die Fremde gewagt hatte, als selbst die Reise innerhalb Europas noch ein Wagnis war. Den auf Drängen vieler Zeitgenossen geschriebenen Bericht widmete er seinem Landgrafen Karl1, der ihm eine Audienz gewährte. Wie die Allgemeinen Deutschen Biographien vermerken, wäre der Landgraf selber sehr gerne gereist. Johann Christian wurde im Juni 1651 in Bischhausen bei Eschwege als Sohn des Pfarrers Andreas Hoffmann geboren. Weitere sieben Geschwister wuchsen mit ihm auf. Mit achtzehn Jahren begann er die Ausbildung an der Hohen Landesschule in Hanau, einem Mittelding zwischen Gymnasium und Universität. Wahrscheinlich beeinflusste ihn die Stimmung in dieser Grafschaft ganz nachhaltig, denn der Graf Friedrich Kasimir von Hanau hatte weitgesteckte koloniale Pläne, mit denen er sein Land, das durch den Dreißigjährigen Krieg verarmt war, wieder auf die Beine bringen wollte. Er erließ deshalb einen Aufruf: „Wohlan denn, dapffere Teutschen, machet dass man in der Mapp (=Landkarte) neben neu Spanien, neu Frankreich, neu England auch ins künfftige neu Teutschland finde.“ Es wurde 1669 ein Vertrag geschlossen zwischen dem Hanauischen Geheimrat Dr. Johann-Joachim Becher und der Niederländisch-Westindischen Compagnie über ein 100000 Quadratkilometer großes Landstück im heutigen Französisch-Guyana zur Gründung der Kolonie „Hanauisch-Indien“. Aufgrund dynastischer Auseinandersetzungen der Hanauer Grafen kam der Plan dann doch nicht zur Ausführung.2 Aber zum Zeitpunkt von Hoffmanns Aufenthalt herrschte Hochstimmung. Die Ratifizierung des Vertrags wurde mit einem Freudenfest begangen. Das mag dazu beigetragen haben, in Übersee eine Tätigkeit zu suchen. Er selbst wollte mit seinem Buch „den unermäßlichen denen Holländern auß India zuwachsenden Reichthumb darstellig machen.“3 Ihn zog die „inwiedertreibliche Begierde zur Beschauung frembder Länder ... alß auch genommene Intention
denen blinden Heyden mit meiner geringen Wissenschaft unter des allerhöchsten Segen zu dienen ...“ Am aussichtsreichsten erschien dem 20-jährigen Studenten aus Hanau, sich in Amsterdam bei der holländisch-ostindischen Kompanie eine Anstellung zu suchen. Diese Handelsgesellschaft, seit 1602 mit allen staatlichen Hoheitsrechten ausgestattet, hatte sich im Laufe des Jahrhunderts auf den Molukken, Java, Sumatra, Celebes, Malakka, Ceylon und Kapland festgesetzt. Der Mittelpunkt des Handelsimperiums war Batavia.4 Auf der „Wappen von Gouda“ schiffte er sich am 5. September 1671 ein. Ungewohnt war ihm die Verköstigung an Bord, „dann man ordnete, wie auf allen Schiffen gebräuchlich, sieben und sieben zusammen miteinander zu essen, denen nun wurde vor ihre gantze Reise anstatt des TafelGeschirrs zugestelt zwey Schüssel, ein Saltzfaß, ein Butterfäßlein und sieben Löffel, alles höltzern. Einen umb den andern sahe man die Speise bey dem Koch abholen. Erbsen waren ihr erstes Gericht, demnach eine ziemliche Schüssel voll Stockfisch und endlich diente ihnen Holländischer Käse und Butter zu Schließung ihres Magens. Bier wurde ihnen, anfänglich soviel einem jeglichen beliebig, hernach aber, nach gewisser Maß gegeben.“ Hat er seine Abenteuerlust bereut, als ihn das Meer gleich mit einem heftigen Sturm überraschte? Der Viceschiffsherr, der eine ähnliche Windstärke in seiner langen Praxis in der Nordsee nie erlebt hatte, riet den Passagieren, im Ernstfall mit den 80 Beilen die Masten des Schiffes zu fällen und über Bord zu werfen. Im letzten Augenblick legte sich der Sturm. Während der Fahrt warteten nicht nur Stürme, sondern auch andere Gefahren, einmal ging ein Mann über Bord, sie litten unter Sonnenstich und Skorbut oder sie trafen Schiffe mit Kranken, so die „Amersfoort“, die bereits 64 Leichen ins Meer geworfen und weitere 100 Patienten an Bord hatte. In Kapstadt erfreute die Besatzung der deutsche Kommandeur Johann Conrad von Breytenbach mit Ochsen, Fettschwanzschafen, Kohl, Rüben, Salat, Rosmarin und Petersilie.
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Zeitgenössische Karte
Nach drei Wochen segelte das Schiff weiter nach Ceylon, während Hoffmann sich drei Monate lang in Kapstadt umschaute. Im Jahr zuvor war das Fort geschleift und neu erbaut worden. Am meisten wunderte sich Hoffmann über die einheimischen Hottentotten, die ihm nicht wie Menschen vorkamen und keinen Bekehrungseifer in ihm auslösten. Ihre Sprache verglich er mit dem „Calecunischen Hahnen-Geschrey und dem Knipschlagen, so mit den Händen zugeschehen pflegt.“ Man müsse sich die Nasen zuhalten, weil sie sich unflätig sowohl den Körper als auch die Haare einschmieren. „Die Weiber haben abscheulich lange Brüste, die wie lederne Säcke fast einer halben Ehlen lang niederwerts hangen, so dass sie gar bequemlich dieselbe über die Schulter werffen und ihre auffm Rücken tragende Kinder ohne alle Mühe säugen können.“ Zwar bewundert er ihre Ausdauer beim Laufen, aber der Schmuck aus „Rinderdärmen, die sie so wie sie auß dem Vieh kommen, zum Zierrath umb den Hals hängen“, war gewöhnungsbedürftig. Ihr Reichtum bestand aus Korallen und Vieh, das nur geschlachtet wurde, wenn es altersschwach oder todkrank war. Hoffmann dankte seinem Herrgott, dass er zu denjenigen zählte, denen die Erleuchtung schon gekommen war. Vor dem versammelten Rat ließ er sich ordinieren und zum Lehrer auf Mauritius einsetzen und schiffte sich auf der „De Pyl“ ein, die der neue Befehlshaber
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der Insel Mauritius, Hubert Hugo, kommandieren würde, sobald das Schiff eine Ladung Sklaven aufgenommen habe. Die Einheimischen brachten sie wie Ware an Bord. Sechs Sklaven kosteten acht Taler oder dementsprechend Messingdraht oder Korallen. Auch spanische Matten gefielen den Europäern. Die lokalen Regenten versprachen die Lieferung von Sklaven, vorausgesetzt man habe einen Aufenthalt von ein paar Monaten eingeplant. Da aber die Regenzeit bevorstand, wollte man nicht so viel Zeit verlieren. So begnügte sich der Kommandant mit zweiunddreißig Sklaven. Der Abstecher war nicht von Erfolg gekrönt, da die Stadt zwei Jahre vorher von den Arabern verwüstet worden war und die Sklaven für deren Wiederaufbau gebraucht wurden. Deshalb beschränkte sich der Handel auf Ambra, Gold und einen Teil der 2000 im portugiesischen Fort lagernden Elefantenzähne. Der Prediger Hoffmann machte sich übrigens keinerlei Gedanken über das Schicksal dieser Menschen, äußerte weder Mitgefühl noch Empathie. Beim zweiten Stopp auf Madagaskar erhielten sie das verheißungsvolle Angebot eines lokalen Herrschers über ausreichend Sklaven. Die „Pyl“ hatte zuviel Tiefgang und sandte deshalb das kleinere Begleitschiff aus. Nach etlichen Tagen kam es unverrichteter Dinge zurück. Eine Bootsladung war in der Wildnis verschwunden und die Mannschaft vermutlich massakriert worden.
Auf der Weiterfahrt hatte der Prediger Gelegenheit, ein Paar zu trauen, wie er es ungleicher noch nie gesehen hatte, er eine sehr schöne, verständige Person und sie „so heßlicher Gestalt, unwissend und kindisch, und dazu auß einer schwartzen Bengalischen Sklavin mit einem Holländer gezeugt. Hier befand ich in der That, dass das Sprichwort: Sine Bacho friget Venus; nicht allzeit wahr sey.“ Die Portugiesen hatten 1510 eine menschenleere Insel vorgefunden und sie auf alten Karten als Cirne oder Ciénos (= Schwanen-Insel) nach den dort lebenden flugunfähigen Vögeln verzeichnet.5 Eine wirkliche Besiedlung begann erst 1638 auf der Ostseite der Insel durch Einreise mehrerer holländischer Familien, die mit der Abholzung vor allem der Ebenholzbäume gründliche Arbeit leisteten und aus Batavia das Zuckerrohr einführten. Sie gründeten das Dorf Mahébourg. Dort muss Hoffmann gewirkt haben. Der heutige Name der Insel geht auf den ersten holländischen Statthalter namens Mauritius zurück. 6
Dronte oder Dodo
Der erste Eindruck eines Neuankömmlings auf Mauritius war der Fischreichtum. Innerhalb einer halben Stunde angelten die Matrosen mit sechs Angeln mehr als hundert Fische von drei Pfund Gewicht. Der neue Kommandeur Hugo ließ gleich eine Kirche bauen und stellte die Ordnung wieder her. Die Tiere, die den Wald bevölkerten, waren etliche Jahre zuvor ausgesetzt worden und hatten sich stark vermehrt: Kühe, Hirsche, Ziegen, Schweine, Schildkröten, Gänse, Flamingos, Papageien und andere Vögel. Eine Besonderheit
waren die ungefähr ein Meter großen flugunfähigen Dodos (Raphus cucullatus) aus der Familie der Tauben. Die von Hoffmann beschriebene Fangart wurde bald angezweifelt, er hat wohl auch selbst kein Exemplar mehr gesehen.7 Ausgeführt wurden Zitrusfrüchte, Kokosnüsse, Feigen und Ebenholz. „Ein jedes Element pranget in seinem Überfluss auffs herrlichste“, schwärmt er von dem irdischen Paradies. Im Monat jage das gemeine Volk an die 200 Hirsche und Böcke mit Hunden. Die Schweine werden zu Tode gehetzt und wegen ihrer Magerkeit nicht gegessen. „Die Schildkröthen ... pflegen sich bey warmem und stillem Gewitter auffm Meer liegend zu sönnen, und können ohne Mühe, wann sie sich in den Untiefen aufhalten, mit den Händen ergriffen werden, auff welche Weise ich sie selbst gefangen habe, können wegen ihrer Stärcke mit einem Mann fortschwimmen, wann man sie bekömt, muß man sie umbkehren und auff den Rücken legen, alßdenn können sie nicht mehr weglaufen.“ Derart konnte man sie zwölf Tage lebend aufbewahren. Am liebsten hätte er eine junge Seekuh ausstopfen lassen, um sie mit nach Hause zu nehmen, „wann es seiner zarten Fettigkeit halber nicht verweset wäre.“ Hoffman pries das gesunde Klima, das Fehlen von gefährlichen Raubtieren und giftigem Ungeziefer, „wie sonsten an Indianischen Orten, außgenommen Eidechsen und Skorpione. Das einzige Unheil sei ein Orkan, der alle drei bis sieben Jahre die Insel heimsucht.“ Er erlebte einen am 11. Februar 1674: Gebäude wurden niedergerissen und die Wälder entlaubt. Nach zwei Jahren packte Hoffmann die Reiselust Richtung Batavia. Mit einiger Mühe wurde er vom Rat beurlaubt und segelte mit der „Helena“, die die Holländer von den Engländern gekapert hatten, am 17. März 1675 nach Osten. In Batavia angekommen wurde das Schiff vom Steuergeneral nach verbotenen Waren durchsucht. Kaum war man von Bord, stellte sich eine ziemliche Menge Chinesen ein, die alles kauften, was nicht niet- und nagelfest war, gefolgt von Sütelkrämern mit Zucker-Bier, Palmwein und Früchten. „Viele der Unsrigen luden sich diese ungewohnte Speise und Tranck allzu begierig zum Hals hinein, worauff bey vielen hitzige Kranckheiten, bey einigen auch der bleiche Todt einkehrten.“ Dann
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wimmelte es im Schiff von Landsleuten, die auf Briefe aus der Heimat, Neuigkeiten aller Art und abwechslungsreiche Gesellschaft hofften, bis die Ladung aus Leder und Ebenholz gelöscht wurde.8
Sklavin
Anschaulich beschrieb Hoffmann die Gärten, Lusthäuser, Papier-, Zucker-, Pulver-, Säge- und Getreidemühlen, die Burg mit Wassergraben und die schönen Gebäude der multikulturellen Stadt, deren Schwarze, Chinesen, Javaner, Malayen und andere Asiaten den Holländern Abgaben zahlten. Von den christlichen Kirchen wurde nur die reformierte geduldet. Schmalkalden hatte wohl in den fünfziger Jahren auch evangelische und papistische Christen registriert, die aber nicht öffentlich Gottesdienst abhalten durften.9 Die vortrefflichen Befestigungen waren von den schönsten Reis- und Zuckerfeldern umgeben. „In Summa, Batavia ist eine der berühmten Städte in Asia.“ Das Wort Gottes wurde auch in Malayisch und Portugiesisch vorgetragen. Wieder besuchte er einen Sklavenmarkt. Die Menschenware stammte aus Amboyna, Ternaten, Makassar, Bali, Borneo, Bengalen, Madagaskar und anderen Ländern, „wann sie verkaufft werden sollen, stelt sie der Verkäuffer auf einen offenen Platz, wo sie in Augenschein genommen und sonderlich, wann man an ihrer Gesundheit zweiffelt und sich in Einkauffung einer solchen theuren Wahre vor
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Betrug fürchtet, eigentlich befühlet werden. Die Sclaven so noch jung, wohlgemannieret, starck und dabey gute handwercke gelernet haben, gelten das meiste Geld, so dass einer von 30 biß 200 Reichsthaler zu stehen kömpt, die Sclavinnen können offtermahl kochen, allerley Confect bereiten, Nähen, Würcken, Singen und tantzen, die nun hierin erfahren, sind gemeinlich theurer alß die Mannspersonen.“ Die vornehmsten Einwohner hatten mitunter einen Hausstand von 300 Personen, die sie auch monatlich an die Holländer vermieteten. Handwerker besaßen bis zu zehn Sklaven. Ledige hatten wenigsten zwei, wovon einer beim Gang durch die Stadt einen Schirm über sie halten musste. Hoffmann berichtete von einem Schneider, der, obwohl selbst Leibeigener einer Witwe, ein Haus besaß und eigene Sklaven. Er musste seiner Herrin monatlich 24 Reichsthaler zahlen und erhielt seine Freiheit erst bei ihrem Tode. Unter den Chinesen sah er nur zwei Frauen, die dann auch die typischen kleingewickelten Füße aufwiesen. Mangels chinesischer Frauen kauften die Männer sich Sklavinnen um sie zu ehelichen. Hoffmann wurde von der ansässigen Synode aufgefordert, wöchentlich Gottesdienste auf dem Hauptschiff abzuhalten, an denen laut Anordnung der Kolonialverwaltung alle auf dem Schiff befindlichen Personen teilzunehmen hatten. Sechs Monate hatte der Hesse damit zugebracht, als eine traurige Nachricht aus Ambon kam. Am 15. Februar 1674 hatte ein gewaltiges Erdbeben10 die Insel erschüttert. Hoffmann zitierte aus einem Brief: „... die Leute, welche etwa zu diskutieren bey einander stunden, kunten nicht stehen bleiben, sondern waggelten von- und gegeneinander, das Castel ... auß lauter gehauenen Steinen erbauet, stürtzete sampt 75 Chinesischen Behausungen in einem Augenblick zur Erden und ertödtete in die 79 Seelen, worunter auch Herren Rumphii von Hanau, seine Haußfrau und jüngste Tochter bliebe11 ... die erde thät sich so gewaltig auff, dass durch deren Ritze das unterirdische Wasser in unglaublicher Menge mehr denn 20 Klaffter hoch in die Luft sprützete, unter dessen hörete man anders nichts alß ein grausames Krachen und Pochen, eben alß ob man mit gewaltigen Hamern und Blacken vonunten gegen den Erdboden anstiesse ...“12 Nach der Schilderung muss die Halbinsel Hitu von einem
Tsunami überrollt worden sein. Die acht Fuß dicken Mauern des holländischen Forts waren teilweise abgetragen, ein junger Nadelwald fortgerissen, ein Berg und eine Festung versunken. Als eine Flotte zusammengestellt wurde, die wieder Richtung Heimat segeln sollte und der Admiral Hoffmann als begleitenden Prediger anforderte, setzte ihn die Synode auf dessen Schiff ein. Er ging zwar angeblich mit Freuden zu Schiff, aber so ganz scheint es nicht seinem eigenen Plan entsprochen zu haben. Im November wurden in allen Kirchen der Stadt Bittgottesdienste und ein Fast-/Bettag für eine glückliche Fahrt abgehalten. Mit insgesamt 1329 Seelen traten sie am 24. November 1675 die Heimreise an. Unter der Ladung befanden sich: Baumwolltuch und Leinwand unterschiedlicher Herkunft, Seide, Zimt, Benzoe, Muskatnüssen, Kauris, Salpeter, Kupferstäben aus Japan, Zucker, Ebenholz, Zinn, Muskat, Nelken, Siegellack, Ölkuchen, Borax, Pottasche, Pfeffer, Tamarinde. Der Wert betrug mehr als 1429616 Taler. Johann Christian muss ein privilegierter Passagier gewesen sein. Sicher hatte nicht jeder Zugang zu diesen Listen mit Mengenangaben und Einkaufspreisen. Außerdem druckte er die von Admiral Verburg erlassene Flotten- und Signalorder sowie die Seeschlachtorder ab, die laut Bezzenberger wohl kaum zur Veröffentlichung bestimmt gewesen sein kann. Vielleicht wollte Hoffmann damit die wohldurchdachte Ordnung und Organisation der Holländer herausstellen. Die Fahrt von Batavia zum Kap der guten Hoffnung dauerte bis zum 28. Januar 1676. Sechs Wochen erholte sich die Mannschaft, am 18. März ging es mit zwölf Schiffen weiter, im Mai überquerten sie den Äquator. Glücklich erhandelten sie von den Bewohnern der ShetlandInseln Kabeljau, Heringe, Hühner und Eier. Aber groß war die Freude, als sie auf die zwölf Schiffe stießen, die die Kompanie den Heimkehrenden entgegengeschickt hatte. Diese hatten einen Tag zuvor ein spanisches Schiff von türkischen Piraten befreit, das jetzt mit nach Holland musste. Einen Tag nach der Ankunft am 9. Juli 1676 in Texel betraten Vertreter der Ostindischen Kompanie die Schiffe und befragten jeden, ob es irgendwelche Klagen über die Offiziere gebe. Sie bedankten sich im Namen der Kompanie für die getreuen Dienste, entließen die Leute aus ihrem Eid und setzten
hinzu, dass die verdienten Gelder bereitlägen. Mit einem gemieteten Boot erreichte Hoffmann Amsterdam. Den Reichtum, der aus den Kolonien floss, schilderte er voller Bewunderung. Die Kehrseite für die einheimische Bevölkerung wurde ihm nicht bewusst. Dennoch ist sein Buch ein aufschlussreiches Zeitdokument für die Begegnung mit der außereuropäischen Welt.
Rhinozeros
Er hat keine Abbildungen und detaillierte Beschreibungen der Tiere und Pflanzen überliefert wie dies Caspar Schmalkalden nur wenige Jahrzehnte vor ihm tat. Zu seinem Bild eines Hottentotten schreibt dieser: „Wenn Holland Vieh geschlacht, erquick ich mich mit Därmen. Ein Fell muss meinen Leib bedecken und erwärmen. Sonst lieb ich Dieberey, mehr höre mir nicht an, Ich glup und koller mehr, als dass ich reden kann. Ein Hottentotisch weib, nach viehs Art und Weise bin ich, bezeugt mein Kleid wie auch mein großer Preise. Arbeiten mag ich nicht, acht keine Ehrbarkeit, drumb ich mein Teil für Brodt zu zeigen bin bereit.“ Im Text beschreibt er unkommentiert eine Szene, wie Menschen, zunächst durch tägliche regelmäßige Zwiebackverteilung angelockt, schließlich alle Scheu verlieren und die Schiffswachen nicht mehr beachten. Diese erschießen einen Zudringlichen. Die Freunde des Erschossenen verlangen vom Admiral, dass der Mörder auch erschossen wird. Da er auf weitere Viehlieferungen angewiesen ist und befürchtet, die Einwohner könnten ins Landesinnere wegziehen und er ohne Fleisch da sitzen, lässt er den Täter gefesselt an Bord bringen, wo er ihn freilässt, obwohl er die Hinrichtung versprochen hat. Das Leben eines Hottentotten
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galt für nichts und bedurfte keiner Maßregelung. Auf Mauritius ist der Thüringer Schmalkalden nicht gewesen, sondern von Kapstadt direkt nach Batavia gesegelt. Zum Bild der Sklavin schreibt er: „Wir werden zwar verkauft wie unvernünftig vieh, doch dienen wir getreu und scheuen keine Mühe, den Deutschen helffen wir mit sorge rath und that, so dass Batavian an uns nicht schaden hatt.“ Besonders fasziniert war er von der getrockneten Haut eines Nashorns, „welches groß genug schien, dass ein ziemlicher Ochse darinnen hätte stecken mögen.“ Deshalb fügte er seinem Reisewerk die Malerei eines Chinesen bei, der ein lebendes Exemplar in Batavia gesehen hatte. 1677 heiratete Hoffmann in Breitenbach an der Fulda Katharina Elisabeth Hast, eine Tochter des verstorbenen Dorfschultheißen Hans Curt Hast und dessen Ehefrau Elisabeth geb. Apel. Einer seiner Brüder, der Pfarrer von Rockensüß Johann Dietrich Hoffmann, war bereits mit der älteren Schwester seiner Frau verheiratet. Ein Jahr später verlieh
ihm der Landgraf die Pfarrstelle Heckershausen bei Kassel. Dem Ehepaar wurden drei Kinder geboren, zwei starben bereits in der Kindheit. In Heckershausen starb Johann Christian 1682. Auf die bedrückende Lage der breiten Bevölkerung in den Kolonien machte erst der niederländische Kolonialbeamte auf Java Eduard Douwes Dekker (1820–1887) aufmerksam: „Denn möchte jemand fragen, ob der Landbauer selbst eine diesem Erfolg entsprechende Belohnung genieße, so muss ich hierauf eine verneinende Antwort geben. Die Regierung verpflichtet ihn, auf seinem Grund zu ziehen, was ihr behagt, sie bestraft ihn, wenn er das Hervorgebrachte irgend jemandem anderem verkauft als ihr, und sie selbst setzt den Preis fest, den sie ihm dafür bezahlt. Der Gewinn kann nicht anders erzielt werden, als dass man dem Javaner just soviel ausbezahlt, dass er nicht Hungers stirbt, was, wenn es geschähe, die produktive Kraft der Nation mindern würde.“
1 Karl geb. 3. August 1654 in Kassel; † 23. März 1730) war von 1670 bis zu seinem Tod Landgraf von Hessen-Kassel. 2 G. E. Th. Bezzenberger (Hrsg.), Johann Christian Hoffmann. Ostindische Voyage 1671–1676, Kassel 1983, IV; Beck, Johann Christian Hoffmann – ein Ostindienfahrer (1650–1682) In: idem, Große Reisende, München 1970; O. Perst, Der Familienkreis des Ostindienfahrers J. C. Hoffmann aus Bischhausen. In: Das Werraland 8, 1956, 38–41. 3 Oost-Indianische Voyage oder eigentliches Verzeichnis, worin nicht nur einige merkwürdige Vorfälle ... sondern auch unterschiedliche Länder, frembde Völker, seltsame Thiere und arthige Gewächse etc., Cassel 1680 (Nachdruck 1931). 4 1637 Handelsmonopol mit Japan, Ende 17. Jahrhundert zunehmende Verschuldung, 1795 unter Staatsgewalt der Republik Batavia, 1798 aufgelöst. 5 Diese Vögel starben im 17. Jahrhundert aus, weil die importierten Schweine ihre Eier fraßen. Das Fleisch dieser Vögel war zum größten Teil ungenießbar. W. Ley, Drachen, Riesen, Rätseltiere, 2. Aufl. Stuttgart 1956. 6 Die ersten Siedler verließen 1712 die Insel, weil außer dem Kap kein zweiter Stützpunkt auf dem Wege nach Indien nötig war. Zurück blieben einige hundert Sklaven. 1715 kamen die Franzosen, benannten die Insel in „Ile de France“ um, gründeten den wichtigsten Hafen Port Louis 1735 und 1768 einen botanischen Garten (Jardin Royal de Pamplemousse). Sie siedelten 2000 Kreolen an. C. Darwin, Naturwissenschaftliche Reisen, Braunschweig 1844; C. Keller, Die ostafrikanischen Inseln, Berlin 1898; seit 1968 unabhängig. 7 Reisebericht 47; Dr. Behn. In: Verhandlungen der Leopold-Carolin. Academie der Naturforscher, 1868, Heft 6, 70. 8 1699 durch ein Erdbeben zerstört. Ein Mitreisender auf der Weltumsegelung von James Cook (1728–1779) entwirft von Batavia 1770 ein wesentlich negativeres Bild als Hoffmann: „... Von hundert Soldaten, die von Europa hierher geschleppt werden, sollen, wie man uns versicherte, am Ende des ersten Jahres kaum noch fünfzig am Leben sein … “ 9 W. Jost (Bearb.) Die wundersamen Reisen des Caspar Schmalkalden nach West- und Ostindien 1642–1652, Weinheim 1983, 106; M. Nijhoff, Reisebeschreibungen von deutschen beamten und kriegsleuten im dienst der Niederländischen west- und ostindischen kompagnien, 1602–1797 Johann Christian Hoffmann, Johann Schreyer, Samuel Pierre L’Honoré Naber, Den Haag 1931. 10 1644, 1835 und 1898 wurden weitere registriert. 11 Gemeint ist Georg Everhard Rumpf gen. Rumphius (1628–1702) dessen Todesdatum der Herausgeber S.P. L’Honoré Naber anders angibt. 12 Reisebericht 69, 101.
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Weltumsegler und Universitätsmamsell Das Ehepaar Georg Forster und Therese Heyne Die beiden Protagonisten, die sich 1785 das Jawort gaben, stammten aus gebildeten Elternhäusern. Forster führte seinen Stammbaum bis auf die Familie der Lords Forrester in Schottland zurück. Sein gleichnamiger Vorfahre Georg Forster emigrierte weitgehend verarmt, wie viele andere Engländer und Schotten zu jener Zeit, nach Preußen, in die Region um Danzig. Die Familie stellte mehrere Generationen lang die Bürgermeister von Dirschau.
Georg Forster , Gemälde von J. H. W. Tischbein um 1785
Georgs Vater Reinhold, der entgegen seinem Wunsch Theologie studiert und eine elende Pfarrstelle bei Nassenhuben erhalten hatte, frönte, sobald es ging, seiner wissenschaftlichen Entdeckerlust, kaufte Bücher über seine Verhältnisse und ließ die auf acht Köpfe angewachsene Familie in bedrängten Verhältnissen zurück, als ihm Zarin Katharina II. 1765 einen Auftrag gab: Er sollte den Gerüchten über die miserablen Lebensbedingungen in den Kolonien der Deutschen an der unteren Wolga nachgehen. Während seine Frau nach und nach seine Bibliothek zu Geld machen musste, um die Kinder über Wasser zu halten, arbeitete Reinhold an
einem mit Karten ausgestatteten Memorandum über seine naturhistorischen Beobachtungen in der Kalmückensteppe, garniert mit den Klagen der Migranten insbesondere bezüglich ihrer rechtlichen Lage. Er hatte sich als Helfer in dem Abenteuer seinen ältesten Sohn ausbedungen, den erst zehn Jahre alten Georg, der bei dieser Gelegenheit fließend Russisch lernte. Der Junge sollte nie wieder Zufriedenheit in Ordnung und Sesshaftigkeit finden. Seine Wissbegierde animierte den Vater, sich intensivst mit Linné zu beschäftigen, um seine Fragen zu beantworten. Bald bestimmte der Zehnjährige ohne jede Hilfe nach den Linnéschen Beschreibungen die Pflanzen. Die enge Bindung führte beim Sohn jedoch zu hochmütiger Altklugheit und Überheblichkeit gegenüber seinen Geschwistern.1 Das abschreckende Gerede über die Kolonie im Ausland war berechtigt. Die Versprechungen der Zarin für die Neusiedler wurden nicht eingehalten, ihnen mangelte es an Bauholz, Saatgut und Zuchttieren, der Woiwode schikanierte sie wie Leibeigene. Die Regierung erwartete jedoch von Forster einen positiven Bericht, um ihn als Werbemittel für weitere Einwanderer einzusetzen. Zwar erarbeiteten Forster und ein zweiter reformierter Prediger namens Dilthey auf Verlangen von Katharina II. für die Kolonien ein eigenes Gesetzbuch, das aber nie zur Anwendung kam. Während der Wartezeit auf die Entlohnung besuchte Georg die für die deutsche Kolonie der Stadt von Büsching eingerichtete Petri-Schule in St. Petersburg. Für den negativen Bericht wollte man dem Vater weniger bezahlen, als er sich erhofft hatte, so verzichtete er erbost auf alles. Als Schönredner, Phantast und Besserwisser wird er geschildert. Nicht nur einmal führte sein anmaßendes Verhalten während der späteren Expedition zu Kabinenarrest. Durch seine nörglerische Art brachte er sich lebenslang immer wieder in Schwierigkeiten, die mehrfach sein Sohn ausbügelte. 1766 reisten Vater und Sohn nach England, ohne den Rest der Familie noch einmal aufzusuchen. Georg gab im Alter von dreizehn
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Jahren sein erstes Buch heraus: eine Übersetzung vom Russischen ins Englische von Lomonossow Werk „Kurze Russische Geschichte“, für die das Wunderkind in wissenschaftlichen Kreisen gelobt wurde. Inzwischen beherrschte er sechs Sprachen besser als sein Vater und unterrichtete Gleichaltrige in Französisch und Deutsch. Dreieinhalb Jahre später war die übrige Familie nachgekommen und lebte in London unter dürftigsten Verhältnissen, da das Familienoberhaupt ständig den Kopf voll unrealistischer Pläne hatte. Eine Lehrerstelle verlor er wieder, eine Indonesienexpedition kam nicht zustande. Als der Botaniker Sir Joseph Banks kurzfristig seine Teilnahme an Cooks zweiter Reise absagte, setzte Lord Sandwich vor dem Königlichen Admiralitätskollegium die Wahl Reinhold Forsters als Ersatz durch. Der verlangte als Bedingung wieder die Begleitung seines Sohnes,2 für diesen keine reine Freude. In seinem Bericht ahnt man Georgs Tränen, als er bei der Abfahrt von Plymouth zurückschaut. Da er den Tahitireisebericht Bougainvilles übersetzt hatte, tröstete ihn die Aussicht auf dieses Paradies. Geheimes Ziel jener Expedition war allerdings die Entdeckung und Erforschung eines Südkontinents, der in der Antarktis vermutet wurde. Drei Sommer lang segelten zwei Schiffe durch die Packeisfelder. Der Winter wurde in den milderen Breiten der Südsee verbracht. Dort sollten neue Inseln entdeckt und bekannte gründlicher untersucht werden. Georg zeichnete und studierte zunächst noch unter Anleitung seines Vaters die Tier- und Pflanzenwelt der Südsee. Beobachtungen an dem völlig unbegehbaren Urwald und zum zutraulichen und unbesorgten Verhalten der Tiere im südlichen Teil Neuseelands führten ihn zu dem Trugschluss, dass die Vögel noch nie eine menschliche Gestalt gesehen hatten. Die Schiffskatze richtete ein Blutbad an. Ihm fiel auf, dass die einheimischen Hunde so dumm wie Schafe und zum Kannibalismus erzogen waren, während die europäischen Hunde sich weigerten, gekochtes Hundefleisch zu fressen. Um Naturalien zu sammeln, entfernten sich die Forscher von der Küste und erkletterten Berge. Mehrmals beklagt er die Unsittlichkeit der Matrosen, die sich roh über die Frauen hermachten, wann immer sich Gelegenheit bot. Auf manchen Inseln überfluteten willfährige Frauen das Deck, die
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sich für ein paar Nägel oder andere Kinkerlitzchen Geschlechtskrankheiten holten oder weitergaben. Voller Grimm reagiert er auf die Behandlung der Sklaven in Südafrika und bedauert den „Umsturz der sittlichen Grundsätze“ bei den Einheimischen durch den Kontakt mit den Europäern. Vater und Sohn haben auf dem Gebiet der Botanik viele neue Erkenntnisse gewonnen und eine Vielzahl bis dahin in Europa unbekannter Pflanzenarten beschrieben. So wurde die Pflanzengattung Forstera, aus der Familie der Stylidiaceae nach ihm benannt. Wie ein Besessener musste Georg zeichnen, denn die Fische verloren an der Luft schnell ihre intensive Farbe und die Blätter vertrockneten. Viele der 271 zoologischen und 301 botanischen Zeichnungen waren nur in Umrissen angelegt und mit Farbhinweisen beschriftet, als sie der Vater später an Banks verkaufte.
links: Trommel. Tahiti, Höhe: 32,5 cm. rechts: Holzkeule, Neuseeland; Länge: 32 cm (Universität Göttingen)
James Cook stapelte umsichtig sechzig Fässer Sauerkraut an Bord, aus denen mindestens zweimal pro Woche kredenzt wurde. Fünftausend Pfund gallertartig eingekochte Fleischbrühe schützten wirkungsvoll vor Skorbut, durch den viele Matrosen auf anderen Schiffen ihr Leben verloren. Einunddreißig Fässer zu Sirup eingekochtes Bier wurden allerdings falsch gelagert, gerieten in Gärung und sprengten die Behälter. Dreißig Tonnen Malz waren den Kranken reserviert oder dienten der Prophylaxe. Das Aussetzen von Hühnern, Ziegen, Schafen und Schweinen auf einigen Inseln ist aus heutiger Sicht zu verurteilen, europäische Pflanzen und deren Anbaumethode versuchte er mal eben „im Vorbeigehen“ den Einheimischen zu erläutern, um bei der Rückkehr zu überprüfen, wie alles gediehen war. Cook organisierte das Leben an Bord nach ungewohnt strengen Richtlinien. Die
Mannschaft bezeichnete alle diese Neuerungen als „experimental“: So gab es „experimental beef“, das mit Salz und Zucker gepökelt war, um es saftig zu halten, „experimental beer“ aus konzentrierter Maische mit allerlei Kräutern unterwegs gebraut, sogar „experimental water“, von Seewasser destilliert oder von Eis geschmolzen. Und so verspottete man den Astronom William Wales, die Forsters und den Maler William Hodges „Experimental Gentlemen“.3 In Polynesien betrieb Georg vergleichende Länder- und Völkerkunde. Er hatte genug Sprachgefühl, um zu bemerken, dass die Sprachen der Inseln4 sich meistens nur wenig unterschieden.
Purgiernuss, Jatropha gynandra
Seine Berichte über die Polynesier sind bis heute anerkannt. Forster begegnete den Bewohnern der Südseeinseln mit Einfühlung, Sympathie und weitgehend ohne christlich-abendländische Vorurteile. Er idealisierte nicht den „edlen Wilden“, sondern beobachtete einfühlsamer als andere Völkerkundler seiner Zeit. Geradezu schwärmerisch schildert er Land und Leute von Tahiti, wo das Schiff mehrfach anlandete, das Gefällige ihres Betragens, das sanfte Wesen, die Verzierung ihrer Haut. Die Besatzung sammelte Gegenstände, die auf anderen Inseln wieder gegen Lebensmittel eingetauscht wurden. Die Maori in Neuseeland verzehrten Menschenteile vor seinen Augen, was ihn zu seitenlangen Betrachtungen und Vergleichen zu Ursachen und Reaktionen seiner Umwelt veranlasst. Seine ungeteilte Sympathie erfährt Maheine, der Mitfahrer von den
Gesellschaftsinseln, der in Tränen der Eltern des aufgegessenen Opfers gedenkt, für Georg ein Beweis seiner höheren Kultur. Nur selten sind die Ansichten Georgs aus dem Text erkennbar. So beschreibt er eine Gemeinschaft, in der der Sohn noch zu Lebzeiten des Vaters die Herrschaft übernimmt und der Vater genauso wie alle Untertanen nun durch Entblößung der Schultern Ehrerbietung dem Sohn gegenüber zu demonstrieren hat. Forster kommentiert: „Der Begriff von Blutsverwandtschaft wird also hier ganz hintangestellt, um der königlichen Würde desto mehr Ansehen zu verschaffen, und eine solche Verleugnung der natürlichen Verhältnisse zeigt meines Erachtens einen höheren Grad von Kultur und Einsicht an, als andere Reisende den Einwohnern von Tahiti zugestanden haben.“ Er verglich die verschiedenen Sozialordnungen und Religionen, die er beispielsweise auf den Gesellschaftsinseln, den Freundschaftsinseln, in Neuseeland, den Marquesas und auf der Osterinsel vorfand, und erklärte sie sich mit unterschiedlichen Lebensbedingungen. Auf letzterer Insel wunderte er sich über die geringe Zahl an Frauen und Kindern.5 Die Skulpturen beeindruckten ihn dagegen wenig, allerdings war er zu dieser Zeit erschöpft und wegen geschwollener Beine konnte er nicht von Bord. Die Lebensart der Bewohner von Feuerland kam ihm dem tierischen Zustand näher vor als dem menschlichen, da sie weder Neugier noch Gemütsbewegung zeigten. Er hörte von ihnen nur ein Wort, das sie ständig wiederholten, sie ernährten sich von halb verfaultem Seehundfleisch, hatten kein Interesse an Tausch oder Geschenken und verschmähten sowohl Pökelfleisch wie verschimmelten Zwieback. Östlich von Australien stießen die Seefahrer auf eine Insel: Neukaledonien, erhielten aber dort keinen Nahrungsmittelnachschub. Stattdessen entdeckten sie die kerzengerade gewachsenen Araucarien, aus denen Cook gleich Schiffsmasten anfertigen ließ. Nachdem beide Forsters von den Symptomen einer Fischvergiftung mit Apathie und Bewegungsstarre genesen waren, beschrieben sie dreißig unbekannte Pflanzenarten.6 In seinem Tagebuch nimmt Georg bezüglich des Verhaltens der Europäer kein Blatt vor den Mund: „Die frühen Entdecker und Eroberer sind zu recht der Gewalttätigkeit beschuldigt worden, weil sie die
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unglücklichen Bewohner nicht als Brüder behandelten, sondern als gefühllose Tiere und zum Sport erschossen. Wer würde glauben, dass in unseren aufgeklärten Zeiten, ihre Vorurteile und hitzköpfigen Aktionen die Bewohner der Südsee zur Rache anstacheln mussten. Es war eine Schande für die zivilisierten Europäer, dass sie mit der Zunge Liebe predigen und so wenig Herz haben, dass sie für den Diebstahl einer Eisenstange jemanden umbrachten.“7 Er verabscheute es darüber hinaus, dass ein Tahitianer als Kuriosität zum Bestaunen nach London und später wieder zurückgebracht wurde.
Wilhelm Hodges, View in Pickersgill Harbour, Dusky Bay, New Zealand 1773
Als erste Europäer betraten sie auch Tanna, Vanuatu und die Norfolk-Inseln. Auf der Heimreise mussten alle Mitreisenden außer den Forsters ihre Aufzeichnungen und Tagebücher an Cook abliefern. Nach der Reise steigerten sich die Querelen zwischen dem Kapitän und Vater Forster, als es um die Veröffentlichung ging. Von höchster Stelle wurde entschieden, dass Cook den seemännischen Reisebericht abliefern sollte mit den Illustrationen von William Hodges, während Reinhold den philosophischen Teil übernehmen sollte. Zweimal lieferte er Probekapitel ab, aber Lord Sandwich war mit der sprachlichen Qualität nicht zufrieden. Entgegen aller Konventionen kaufte der König auch nicht Forsters Sammlung. Da Johann Reinhold bereits über die zu erwartenden Einnahmen verfügt hatte, wurde er von seinen Gläubigern nun in den Schuldturm gesperrt. Das Publikationsverbot betraf nicht den Sohn, der nun mit Hilfe der Notizen des Vaters ein Buch herausgab, das 1777 in England und 1779 in Deutschland gewaltiges Aufsehen erregte. An der
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Übersetzung ins Deutsche wirkte der hessische Immigrant Rudolf Erich Raspe (1737–1794) mit. Den Malern William Hodges (1744–1797; 1. Reise) und John Webber (1752–1793; 3. Reise) gelangen gute Skizzen, deren Ausführungen leider zu sehr von antiken Vorstellungen verfälscht wurden.8 Im Jahre 1776 lernte Forster neben anderen, später sehr hilfreichen Kontakten, den Kasseler Minister Hans Martin von Schlieffen kennen, der den Vertrag über die Vermietung nordhessischer Truppen für den Krieg der amerikanischen Kolonien bei Hofe aushandelte. Aus dieser Bekanntschaft resultierte Forsters Einladung nach Kassel, um dem Landgrafen Friedrich II. vorgestellt zu werden. Obwohl Georg noch zwei Jahre vorher gegen den Landesherrn gewettert hatte, machte seine Antrittsrede in der Antiquitätengesellschaft derart Furore, dass ihm Schlieffen bereits am nächsten Tag eine Professorenstelle antrug.9 Das Angebot galt nicht seinem Vater, denn das Gehalt hätte für einen Familienvater nicht gereicht. Georg erhöhte sein Einkommen, indem er zusätzlich im neu eröffneten Kadettencorps lehrte. Alles in allem war es aber eine subalterne und eng umschriebene Rolle, in die er sich in der hessischen Residenz fügen musste, aber immerhin ein Anfang. Das Schiff, das sein Gepäck bringen sollte, strandete vor Jütland, die ganze Mannschaft ertrank, vieles war vom Salzwasser verdorben. Nur sein Schreibschrank war unversehrt geblieben. Professor Heyne aus Göttingen trug ihm die Mitgliedschaft in der Akademie der Wissenschaften an und die Royal Society nahm ihn auf. Beide Auszeichnungen brachten aber kein Geld in die Kasse. Der Unterhalt für seine Familie lastete auf dem 23-Jährigen, was nun zu einem körperlichen Zusammenbruch führte. Auf einer Reise durch Deutschland suchte er für sich und seinen Vater Gönner, Sponsoren, Stellen. Eine Sammlung des Herzogs Ferdinand von Braunschweig unter deutschen Freimaurerlogen befreite die Familie schließlich von ihren drückendsten Schulden, mit der Folge, dass der junge Mann sich eine zeitlang in Geheimbündelei verstrickte, damals eine Modeerscheinung. Immerhin erreichte Georg für seinen Vater eine Professur in Halle. Seine Weltläufigkeit verschaffte ihm im provinziellen Deutschland Achtung unter Kollegen. Er bewahrte die Ungebundenheit seines Denkens und Schrei-
bens vor dem „gelehrten Zunftzwang“ dogmatisch geschlossener Denksysteme, auch wenn die selbst der Aufklärung zu dienen vorgaben. „Eine allein selig machende Philosophie ist mir so zuwider, wie ein allein seligmachender Glaube.“10 Eine enge Freundschaft entwickelte sich mit dem Anatom Samuel Soemmerring, den er mit Schlieffens Hilfe für die neu erbaute Anatomie nach Kassel holte.11 Dieser lag sowohl was die Freimaurer als auch die Rosenkreuzer anging mit ihm auf einer Linie. Unter Einfluss der Rosenkreuzer experimentierte Georg mit der Herstellung von Gold. Deren schwärmerische Brüderlichkeit, womöglich unterdrückte Homoerotik, steigerte seine Lebensangst bis zur Lähmung der Produktivität. 1783 gelang den beiden Männern der Ausstieg. Kassel erschien ihm klein und eng, er erweiterte seinen Horizont zwar um eine reichhaltige Korrespondenz mit den anerkannten Geistesgrößen seiner Zeit, empfing 1779 den Besuch von Goethe und Herzog Carl August (inkognito als Oberforstmeister von Wedel),12 verzettelte sich aber wie sein Vater mit allerlei Plänen und Ideen, für deren Ausführung ihm die Ausdauer fehlte. Mit Geld konnte er kaum besser als sein Vater umgehen, die Lehre lag ihm nicht sonderlich. Forster wurde Prorektor des Collegium Carolinum in der Zeit sinkender Studentenzahlen, so dass entschieden wurde, die Professoren nach Marburg
zu versetzen, 1787 wurde das Anatomiegebäude abgerissen und in Marburg wieder aufgebaut. Schon mit der Aussicht auf eine Professur in Wilna unternahm er eine Studienreise durch verschiedene Bergbaustädte, blieb zehn Tage zur Kur in Teplitz und erreichte Wien, wo er wieder Schulden machte. Oft hatte er Lichtenberg in Göttingen besucht. Bei einem dieser Aufenthalte traf er seine Zukünftige, Therese Heyne. Von der Ehe versprach er sich die Erlösung. Vom österreichischen Kaiser vor Polen gewarnt, langte er in Wilna an und fand nun an allem etwas auszusetzen. Das Haus war renovierungsbedürftig, die Möbel armselig, das Naturalienkabinett lachhaft und der versprochene botanische Garten nicht vorhanden. Die Gerechtigkeit, die er den Bewohnern der Südsee hatte angedeihen lassen, fehlte ihm gegenüber jüdischen Nachbarn und Kollegen. Alles und jedes schien ihm unter seiner Würde, obwohl ihn der König einlud. Wegen Flecktyphus holte er seine Verlobte später. Die Tochter des Altphilologen und Altertumsforschers Christian Gottlob Heyne und seiner ersten Frau Therese Weiß war am 7. Mai 1764 geboren worden. Sie hatte als junges Mädchen die Mutter verloren. Was sie über die erste Zeit in einer Art Autobiografie berichtet, ist wahrhaft erstaunlich: „Sie (die Mutter) war gar keine Hausfrau, wir wurden in Schmutz und Unordnung
Stammbaumausschnitt Forster/Huber
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erzogen, in so einem Grade, daß Ungeziefer uns plagte, und wir weder ganze Hemden noch Schuhe hatten. Sie hatte höchst unelegante Sitten, sie war unschamhaft mit ihrer Person. Ich erinnere mich noch, daß sie in die Hände spuckte, um mir die Haare hinauf zu streichen, wobei ich schauderte ...“ Ihre Kindheit und Jugend hatte sie in Göttingen verbracht, wo ihr Vater an der Universität lehrte. „Scharfrichter Göbel, der hinter uns wohnte, war mir ein werter Bekannter. Sein Sohn studierte, hatte Sammlungen, lehrte mich Knochen und Gerippe kennen; der Vater war ein blasser, freundlicher Mann, erzählte mir von Tieren, wie die aus Mitleid kranken getötet würden ... zeigte mir das Richtschwert, sprach ernst und fromm von dem schweren Amte, das er führe. Weder Vater noch Mutter fragten: wo bist du gewesen?“13 Zwei Jahre nach dem Tod der Mutter heiratete der Vater Georgine Brandes, nur zwölf Jahre älter als die Tochter.
Therese Heyne, Miniatur von Carl L. Kaatz (?) circa 1820
Therese las in der Bibliothek des Vaters und schrieb durch seine Anregung. Statt in der Schule lernte sie von manchem Studenten. Sie berichtet, dass sie als Kind fast gar nichts lernte. Was damals die Erziehung eines Mädchens ausmachte, wie Handarbeiten, Haushaltsführung, Religion o. ä. erwarb sie wohl in zwei Jahren französischem Pensionat in Hannover. Dagegen schätzte sie anregenden Umgang mit interessanten Menschen, hauptsächlich Studenten und Professoren.14 Sie war neunzehn, als sie dem vier Jahre älteren, schon berühmten Georg Forster in Göttingen vor-
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gestellt wurde, der seinen Berliner Buchhändler mit der Suche nach einer Frau für ihn beauftragt hatte. Nach nur wenigen Treffen verlobten sie sich. Georg kam gerade rechtzeitig aus Wilna, um sie aus den Fängen des Literaten Friedrich Ludwig Meyer zu befreien, der in ihr die erste Leidenschaft entzündet hatte. Möglicherweise verleitet von homosexuellen Neigungen schlug Georg ein Dreierverhältnis vor, was Therese ablehnte. So schnell wie möglich heirateten sie und brachen auf. Der Ehekontrakt zeigt die Unterschriften dreier Zeugen: der eine überrascht und verstimmt durch die Eile (Heyne), der zweite missbilligte die Ehe überhaupt (Blumenbach), der dritte begehrte selbst die Braut (Meyer). Umgehend reiste das Paar ab. Auf der Durchreise promovierte Georg mal eben in Halle in Medizin. Die schriftliche (botanische) Arbeit reichte er nach. Mit welcher Stimmung die junge Frau aufbrach, beschreibt sie in einem Brief an ihren Vater 1787: „Wie ich meinen Mann heirathete hatte ich keinen Romanenbegriff von dem Glück der Ehe. Ich hatte die sonderbare Idee heiraten zu müssen um Ihnen eine Last abzunehmen, (sie hatte sieben Geschwister) und da ich in der unglücklichen Stimmung war, es gäb kein Glück, so wars mir beinahe einerlei auf welche Art ich unglücklich war. Die Vorsicht führte mir einen guten, rechtschaffenen Mann zu, und wenn ich meinem Schicksal ohne Schwärmerei gefolgt wär, so wär wohl manches nicht vorgefallen. Ich hatte Achtung und Zärtlichkeit für ihn, allein ich schwärmte mich bei unsern Briefwechseln in Liebe hinein.“ Wir erfahren des Weiteren, dass der Ehemann vier Wochen brauchte, bis Therese ihre Jungfernschaft verlor. Das mag mit ein Grund gewesen zu sein, dass die junge Ehefrau mit Wissen ihres Mannes den schwärmerischen Kontakt zu Meyer brieflich aufrechterhielt. Therese bewältigte den Haushalt und bekennt: „Nun gut also jetzt wend ich mich nach zween Tagen wieder zu meinem Schreibtisch, der Beschäftigung die mir noch meine liebste, aber noch mehr wie sonst die ist der ich nur in den Stunden nachhänge wo ich nichts versäume.“ Ihr Mann war mit der Übersetzung des Berichts von Cooks dritter Reise unter Termindruck, so begann sie ihn bei der Korrespondenz zu unterstützen und trug durch Übersetzungen zum Lebensunterhalt bei. Wirklich eingeweiht in seine Arbeit und
Gedankengänge wurde sie von ihrem Mann nicht. Das Ehepaar führte ein zurückgezogenes Leben, beschränkt auf wenige deutsche Kontakte, was vielleicht befremdet angesichts so umfassender Sprachkenntnisse und ihrer brieflichen Klage, anregenden gesellschaftlichen Verkehr, intellektuelle Anregungen und wissenschaftliche Hilfsmittel zu vermissen. Aus Bemerkungen lässt sich erkennen, dass dem Migrantenehepaar in der Fremde Toleranz und Aufgeschlossenheit in der täglichen Praxis fehlten, ein Beweis misslungener Integration. Bei Verabredung bewachten sie einander streng, „um auch den leisesten Anfall des Verpolackisierens“ sofort zurückzustoßen. „Unsere Freude, unser Glück besteht darin, beruht darauf, daß wir Stolz genug behalten, immerfort Fremdlinge in diesem Land zu bleiben, bis die Jahre der Gefangenschaft und des Exiliums überstanden sind.“ Entgegen der Landessitte konnten sie sich keine Pferde leisten, ein Grund, weshalb den Kranken erspart blieb, von einem Botaniker und Geographen kuriert zu werden. Georg hatte geplant, sein wissenschaftliches Salär durch eine Arztpraxis aufzubessern! In Polen hielten sie es nur zwei Jahre aus. Gar zu sehr im Abseits fühlte sich der Mann von den Zentren Europas. Die Hoffnung auf eine geplante russische Indienexpedition unter seiner Leitung, die von Katharina II. finanziert werden sollte, zerschlug sich, da 1787 der Russisch-Türkische Krieg ausbrach. Die angeblich glückliche Ehezeit endete nach der Geburt der ersten Tochter. Forster wurde schweigsam und verschlossen, verschwieg seiner Frau die üble materielle Lage. Ab 1787 wohnten sie wieder in Göttingen. Dort intensivierte die Ehefrau den Kontakt zu Meyer und wies ihren Mann aus dem Ehebett. Anscheinend durchschaute sie nicht, dass Meyers Briefe den Pathos aus Goethes Werther in fast parodierender Übertreibung nachahmte.15 Mal wieder musste Georg für den Vater in Berlin nach einer anderen Stelle vorsprechen und seinen Schwiegervater anpumpen. Als er zurückkam, war Meyer abgereist. Im folgenden Jahr trat Georg in Mainz die Stelle eines Oberhofbibliothekars an der Universitätsbibliothek an. Mehr als drei bis vier Stunden pro Tag arbeitete er nicht an seinem Arbeitsplatz, sondern mit angestrengtestem Fleiß an
allen möglichen zusätzlichen schriftstellerischen Vorhaben, kam aber niemals in geordnete Verhältnisse. Schon 1789 berechnete er seinen Verbrauch auf 3000 Gulden, während sein Gehalt nur 1600 betrug. Für Therese wendete sich das Leben in dieser Zeit entscheidend, zum einen lebte längere Zeit eine Stiefschwester mit im Haushalt, um deren Erziehung sie sich bemühte,16 zum anderen schloss sich Ludwig Ferdinand Huber, der im selben Jahre am Hof des Mainzer Kurfürsten als Gesandtschaftssekretär angefangen hatte, dem Ehepaar an. Niemand konnte verstehen, was sie an dem als faul und unbeholfen geltenden jungen Mann fanden. Ein Theaterstück, das er verfasst hatte, fiel in Mannheim bei der Uraufführung durch. Forster ermutigte aber Hubers schriftstellerische Ambitionen und beide widmeten sich Übersetzungen, Georg auch Rezensionen, vor allem von exotischen Reisebeschreibungen. Im folgenden Jahre erlebten die drei von Mainz aus die Französische Revolution. Im Frühjahr 1790 unternahm Forster gemeinsam mit dem Studenten Alexander v. Humboldt eine ausgedehnte journalistische Reise, die ihn in die Österreichischen Niederlande, nach Holland, England und Paris führte. Zum einen trieb ihn die Situation zu Hause, aber auch die Jagd nach Geld hinaus. Seine Eindrücke u. a. von den schwelenden Unruhen in Lüttich, dem verächtlichen würdelosen Ruf Deutschlands im Ausland und dem widerwärtigen Reliquienkult in Köln schilderte er in dem zwischen 1791 und 1794 erschienenen dreibändigen Werk „Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich“ im April, Mai und Juni 1790. In England empfing ihn Banks, inzwischen Leiter der Royal Society, sehr kühl, wahrscheinlich, weil die Schulden Reinholds bei ihm noch immer nicht beglichen waren. Währenddessen scheint Huber sich der Frau seines Freundes in jeder Hinsicht angenommen zu haben, ab Ende des Jahres wohnte er sogar in Forsters Hause, die Gerüchte besagten, er sei der Vater der zwei in Mainz geborenen und nach wenigen Monaten verstorbenen Kinder Thereses. Bereits am 30. Juli 1789, kurz nach Bekanntwerden des Sturms auf die Bastille, hatte Georg seinem Schwiegervater geschrieben: „Schön ist es aber zu sehen, was
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die Philosophie in den Köpfen gereift und dann im Staate zustande gebracht hat. … Also ist es doch der sicherste Weg, die Menschen über ihre Rechte aufzuklären; dann gibt sich das übrige wie von selbst.“ Mit einer anderen Bemerkung handelte er sich eine Anzeige eines Mainzer Geistlichen ein, weil er im Zusammenhang mit der Gleichberechtigung den biblischen Adam als das „Geschöpf irgendeiner orientalischen Phantasie“ bezeichnete.17 Georg Forster stieß zu den Männern, die schon zwei Tage später den Jakobinerclub „Freunde der Freiheit und Gleichheit“ ins Leben riefen. General Custine ernannte ihn zum stellvertretenden Präsidenten der vorläufigen Administration. Die Aufgabe war, auf Geheiß der militärischen Besatzung ein demokratisches Staatswesen aufzubauen. Dieses Engagement durchkreuzte für immer die Möglichkeit, in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen zu werden, die ihm eine sichere Lebensstellung verschafft hätte. Forster wurde als Abgeordneter in den RheinischDeutschen Nationalkonvent wählen. Von Januar bis März 1793 war er Redakteur für „Die neue Mainzer Zeitung oder Der Volksfreund“. Therese beschäftigte sich ebenso stark mit den Idealen, die sie später in ihren Schriften verarbeitete. Sie äußert einmal: „Wie ich 18–19 Jahre alt war, jauchzte ich der Todesstunde entgegen. Später wünschte ich lange Jahre beim Gesang des Marseillermarsches zu sterben – das machte mir wohl noch Freude, denn was diese Verse ausdrücken, war doch das lebendigste Gefühl meines Lebens, und wenn ich das je missbilligte, stünde es schlimm um mich, um mein besseres Ich.“ Als Abgeordneter des Nationalkonvents, des ersten demokratischen Parlaments in Deutschland, war Georg nach Paris entsandt worden, um die Angliederung der allein nicht lebensfähigen Mainzer Republik an Frankreich zu beantragen. Der Auftrag wurde zwar angenommen, hatte sich aber durch die Rückeroberung von Mainz durch die Truppen der antifranzösischen Koalition erledigt. Bevor es so weit kam, war Therese Anfang Dezember 1792 aus Mainz mit den zwei Kindern über Straßburg nach Neuchâtel geflüchtet, obwohl sie früher andere Flüchtlinge verurteilt hatte. Diese Abreise bedeutete das Ende ihrer Ehe. Forster machte wieder den Vorschlag einer Ehe zu dritt,
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aber darauf wollte sie sich nicht einlassen. Nach der Hinrichtung des französischen Königs wandten sich alle Freunde, die vorher vielleicht noch mit den neuartigen Ideen geliebäugelt hatten, von Georg ab und der Terror der Revolution begann. Danton, Georgs Mentor, wurde ebenfalls hingerichtet. Dazu schrieb er aus Paris: „Meine einzige Therese! Alles habe ich aufgeboten, um mich zu halten, aber jetzt bricht’s los. O meine Kinder! Wie blutet mein Herz bei diesem Abschied ...“ Noch einmal hoffte Georg, seine Reiseerfahrungen bei einer Expedition nach Indien nutzen zu können. Nachdem er einige Bücher über die indischen Kriege übersetzt hatte, legte er dem Außenminister einen verwegenen Entwurf vor, wie man die indischen Fürsten mobilisieren und gegen die räuberische englische Kolonialmacht unterstützten könnte. Zu diesem Zweck wollte er über Land nach Indien, um Tippu Sahib von Maisur mit Munition zu versorgen und ihm eine Druckerpresse mit persischen Lettern zu bringen. Damit wollte er die Völker Asiens aufklären und zivilisieren18.Mit der politischen Mission hoffte er, naturhistorische Forschung verbinden zu können. Er hatte sogar schon angefangen Persisch zu lernen. Sein Vorschlag blieb, obwohl vom Außenminister wärmstens empfohlen, unberücksichtigt, da wichtigere Probleme anstanden. Zwei Monate nach einem letzten Treffen in einem Dorf an der Schweizer Grenze, das Georg als Spionagefahrt tarnte, starb er völlig mittellos in einer kleinen Dachwohnung in der Rue des Moulins in Paris, – die einen meinten an einer Lungenentzündung, andere an den Spätfolgen des Skorbuts19 andere oder an Malaria.20 Kurz vor seinem Tod datiert ein Brief: „Die Revolution ist ein Orkan. Wer kann ihn hemmen? Ein Mensch, durch sie in Tätigkeit gesetzt, kann Dinge tun, die man in der Nachwelt nicht vor Entsetzlichkeit begreift.“ Von den Zeitgenossen wurde Therese zum großen Teil verurteilt. Sie rechtfertigte sich: Georg habe sie über die Angelegenheiten des Haushalts im Unklaren gelassen und dauernde finanzielle Schwierigkeiten gehabt und darüber hinaus seien ihre sexuellen Bedürfnisse unterschiedlich gewesen. Ihrer Freundschaft habe dies keinen Abbruch getan. Sie heiratete Huber 1794. Aufgrund der politischen Erfahrungen in Mainz hatte Huber seine diplomatische Laufbahn auf-
gegeben und versuchte sich als Schriftsteller und Literaturkritiker durchzuschlagen. Um ihre Lage aufzubessern, übersetzte und schrieb Therese, veröffentlichte aber bis 1811 aus Rücksicht auf den Vater unter dem Namen ihres Mannes. Nach wenigen Jahren wurde Therese von Cotta nach Tübingen und Stuttgart gerufen. Sie war Redakteurin mit journalistischer Verantwortung, musste aber ihre Arbeiten in der Zeitung anonym publizieren. Nachdem die „Allgemeine Zeitung“ in Württemberg verboten wurde, übersiedelte die Familie nach Ulm. Dort starben zwei Kinder, ein schwerer Schicksalsschlag für die Eltern. Die Schwiegermutter Forster und Hubers Vater folgten, was Wunder, dass Therese von schweren Vorahnungen erfüllt wurde, als Huber sich in Erbschaftsangelegenheiten auf die Reise machte. Kaum zurück, wurde er krank und starb zu Weihnachten 1804 im Alter von vierzig Jahren. Diesmal hinterblieb die Witwe mit Rentenanspruch und vier überlebenden Kindern (von zehn geborenen) einigermaßen versorgt. Zunächst im Haushalt ihrer zweiten Tochter, suchte sie vergeblich eine Stelle als Erzieherin, zog 1816 wieder nach Stuttgart und übernahm die Redaktion von Cottas „Morgenblatt für die gebildeten Stände“. Bis 1823 stellte sie in der Stadt eine herausragende und viel besuchte Persönlichkeit dar. Sie bewegte sich unter schwäbischen Dichtern, Honoratioren, in adligen und diplomatischen Kreisen und wurde dem König Wilhelm I. vorgestellt. Ihre Arbeit war nicht immer ohne Spannungen, so dass sie schließlich als freie Mitarbeiterin nach Augsburg zog.
In den letzten Lebensjahren erblindete sie zunehmend und vermisste den gesellschaftlichen Anschluss. Das hinderte sie jedoch nicht an der Herausgabe von Forsters Briefen und seiner Biografie. Am 15. Juni 1829 starb Therese Huber, die in unterschiedlicher Weise beeinflusst worden war: Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Klassik, Romantik, Biedermeier und Junges Deutschland. Als Dreißigjährige hatte sie ihren ersten Roman verfasst und sich, indem sie darin die aktuelle Politik aufgriff und für die Ideale der Französischen Revolution eintrat, auf ein für Frauen ungewöhnliches Gebiet gewagt. Ihr Mann wäre ohne die naturwissenschaftlichen Kenntnisse seines Vaters nie an Bord des Expeditionsschiffes gelangt und ohne dessen Versagen bei der Aufarbeitung der Reise wäre ihm selbst der Ruhm nicht zuteil geworden. Radikaler als jeder andere seiner Landsleute, folgte er dem Gebot der Aufklärung. Am Ende saß er zwischen allen Stühlen. Die Polen rechneten ihn nicht zu den ihren, weil er sich dort als Fremder gefühlt und nicht nur Schmeichelhaftes über sie geäußert hatte. Für die Engländer stand er im Schatten Cooks, in Frankreich galt er nur als reingeschmeckter Emigrant und die Deutschen verachteten ihn als Landesverräter. Goethe äußerte: „So hat der arme Forster denn doch seine Irrtümer mit dem Leben büßen müssen, wenn er schon einem gewaltsamen Tod entging. Ich habe ihn herzlich bedauert.“
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1 F. W. Strieder, Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten und Schriftstellergeschichte. Bd.4, Göttingen, Cassel 1784, 146. 2 Nicht erkennbar sind die Pockennarben. Das Weiße seiner Augen hatte der Skorbut verfärbt und seine Zähne gänzlich verdorben. 3 M. E. Hoare, The Résolution Journal of Johann Reinhold Forster 1772–1775, Vol.II, London 1982, 309f. 4 Georg Forster Weltumseglung mit Kapitän Cook, München 1963,95; L. Uhlig, Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers, Göttingen 2004 (ausführliche Literaturangaben); Weltbürger, Europäer, Deutscher, Franke. Georg Forster zum 200. Todestag, Mainz 1994; M. Urban, 200 Jahre Göttinger Cook-Sammlung, Göttingen 1982; HauserSchäublin, James Cook. Geschenke und Schätze der Südsee, Göttingen 1998; Forster, Reise um die Welt, 332; W. Petermann, Die Geschichte der Ethnologie, Wuppertal 2004; W. Mühlmann,Geschichte der Anthropologie, 2.Aufl. Bonn 1968. 5 Uhlig 195; W. Petermann 2004. 6 Diese Insel hätte Mitte des 19. Jahrhunderts J. D. Lang, ein Senior der Presbyterianischen Kirche in Australien, am liebsten zu einer deutschen Kolonie gemacht: „...da man das Deutschtum dort wesentlich geschlossener erhalten könne, als wenn die Auswanderer nach Amerika gehen und sich dort sofort assimilierten. Der Ertrag könne dort so gut sein, dass man die Produkte der Sklaven in Amerika ausstechen könne und damit die Sklaverei überflüssig würde.“ J. D. Lang, Eine deutsche Kolonie im Stillen Ozean. Adresse an die ehrenwerten Mitglieder des deutschen Parlaments in Frankfurt, Leipzig 1848. 7 A. Kaeppler u. G. Krüger, Life in the Pacific of the 1700s: The Cook/Forster Collection of the Georg August University., Honolulu , 2006 Bd.II, 23. 8 P. Ruthenberg, John Webber – Portraits from the Pacific of the 1700s. In: A. Kaeppler u. G. Krüger, a. a. O. Bd.I, 42ff. Am 19.12.1781 schreibt Goethe an Frau v. Stein: “Ich schließe mit Cooks Todt das Buch und schick es dir. Es ist eine große Catastrophe eines großen Lebens und es ist schön, dass er so umkam. Ein Mensch, der vergöttert wird, kann nicht länger leben, und soll nicht, um seint und anderer Willen.” Goethe las die Übersetzung von Forsters Buch. In: K. R. Eissler, Goethe Bd.2, Basel 1985, 828. 9 L. Uhlig, 2004, 109. Der Kandidat hatte nur kurzzeitig eine Schule besucht, nie studiert, geschweige denn promoviert, sprach aber fließend mehrere Sprachen. 10 Donald E. Bond, The Spectator. Vol.3, Oxford 1965, 541. 11 Er untersuchte dort auch Verstorbene der sog. Mohrenkolonie. Die Arbeit „Über die körperliche Verschiedenheit des Negers vom Europäer“ widmete er Georg. 12 Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen 1749–1793, Berlin 1999. Huber an Körner am 24.8.1792. In: E. Kleßmann (Hrsg.), Goethe aus der Nähe, 3. Aufl. Düsseldorf 1999, 48. 13 L. Geiger, Therese Huber 1764 bis 1829. Leben und Briefe einer deutschen Frau, Stuttgart 1901, 9. 14 E. Kleßmann, Universitätsmamsellen. Fünf aufgeklärte Frauen zwischen Rokoko, Revolution und Romantik, Frankfurt 2008. 15 A. Letzmann, Briefe F. L. Meyers an Therese Heyne aus dem Sommer 1785. In: Funde und Forschungen. Eine Festgabe für Julius Wahle zum 15.2.1921, Leipzig 1921. 16 B. Leuschner (Hrsg.), Schriftstellerinnen und Schwesterseelen. Der Briefwechsel zwischen Therese Huber und Karoline Pichler, Marburg 1995, 15. 17 Georg Forsters Werke, Berlin 1958ff Bd.V 569, 671–674. 18 D. Thomas Howels Tagebuch seiner Reise von Indien durch Mesopotamien, Armenien und Natolien oder Kleinasien nach England. In: Neue Beiträge zur Völker- und Länderkunde. Hrsg. von H.C. Sprengel und G. Forster. Th.3, 1–58, Th.5, 107– 172, Leipzig 1790–91. 19 M. Heuser (Hrsg.): Therese Huber, Die Familie Seldorf, Hildesheim 1989, 363. 20 K. Harpprecht. In: Georg Forster, Reise um die Welt, 2007.
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Russischer Minister aus Hanau Georg Graf von Cancrin zukommen. Eine Anstellung beim Markgrafen zu Anspach konnte ihn nicht länger fesseln, als ein Angebot aus Russland kam: Collegienrath in St. Petersburg für 2000 Rubel, 1000 Rubel Pension für die Witwe und Bezahlung des Umzugs. Als ihm 1786 bis 1794 gestattet wurde, zur Kräftigung der Gesundheit in Gießen zu wohnen, publizierte er verschiedene Schriften. Es ist unbekannt, wo sein Sohn Georg von 1782 bis 1787 in Deutschland lebte, die Eltern nahmen ihn jedenfalls nicht mit.
Franz Ludwig, der Vater
Den Namen Cancrin würde man nicht auf den ersten Blick als hessisch einstufen. Doch die Stammreihe des späteren Ministers beginnt laut Adelslexikon mit dem Weinzapfer Cuntz Krebs (1535–1560), Schöffe und Bürgermeister von Treysa bei Kassel. Dessen Urenkel, der Theologiestudent Eckart Krebs änderte seinen Familiennamen in Cancrinus. In den Reichsadelsstand wurde die Familie des Sohnes Georg, des kaiserlich-russischen Kollegienrats Franz Ludwig, 1786 erhoben.1 Georg wurde am 16. November 17742 in Hanau geboren. Aus dem Elternhaus wurde er neun Jahre später herausgerissen. Sein Vater, der das Bergund Salzwesen und den Zivilbau für den Erbprinzen leitete und Direktor der Münze war, quittierte seinen Dienst aufgrund von „Misshelligkeiten“ zwischen seiner Frau und einer Mätresse des Erbprinzen, um einem langwierigen Prozess zuvor-
Georg Graf von Cancrin, Aquarell von G. Nechaev
Georg absolvierte in Gießen ab 1790 das Studium von Jura und Staatswissenschaften, das er 1794 in Marburg mit der Promotion beendete. Ein Zeitzeuge berichtet, dass seine Gefährten in einem idealen Studentenbunde an ihm besonders „den glühenden Eifer für das Gute schätzten“. Das bestätigt indirekt auch eine frühe Veröffentlichung „Dagobert, eine Geschichte aus dem jetzigen Freiheitskriege“, 1797, ein vom Pathos der Sturm- und Drangperiode triefendes Werk mit philosophischen Betrachtungen. Da Georg in Hessen keine Stellung fand, wandte er sich nach Anhalt-Bernburg. Die Beziehungen sei-
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nes Vaters halfen ihm, zum Regierungsrat ernannt zu werden, ein bloßer Titel ohne Geschäftsbereich und Aufgabe. Er kehrte 1797 Deutschland den Rücken, um seinem Vater nach Russland zu folgen. St. Petersburg gefiel ihm nicht. „Die schlechten Häuser des Petersburger Zolls, das nach altem preußischen Schnitt gekleidete Militär, die altväterischen Civiluniformen ... was den civilisierten Teil der Nation ausmachen sollte, stand bildlich um vierzig Jahre zurück ... Besonders fehlte es überall an Reinlichkeit und Ordnung. Bei dem ... schlechten Pflaster gab es keine Trottoirs, die Brücken waren meist aus Holz ... viele Häuser waren von außen vernachlässigt.“3 Der Lebensunterhalt in der Stadt war teuer, das Einkommen seines Vaters klein, entbehrungsreich die Zeit, wie wir aus einem Brief erfahren, den ein Zeitgenosse an seinen Sohn schrieb: „Ich muss dich leider auf meinen väterlichen Segen als Nachlass beschränken; doch lass dich das nicht verdrießen. Gedenke vielmehr unseres Grafen Kankrin. Er war so arm, dass er mit eigenen Händen seine Stiefel, geschweige denn seine Beinkleider ausflickte und dass er Baumblätter statt des Tabaks rauchte.“ Wenn auch das Letztere übertrieben war, so sagte er doch selbst: „Aus der Zeit meiner Armuth ist es mir geblieben, dass ich mit Unlust das Geld aus der Tasche ziehe; nachher aber denke ich nicht mehr daran. Auch schreibe ich meine Ausgaben nicht an; das wäre ja, um sich wieder zu ärgern.“ Sein Schwiegersohn Alexander Graf Keyserling bestätigt: „Seine liebste Tracht blieb eine Art Soldatenmantel. Seine altmodische Taschenuhr wurde nie gegen eine neue getauscht. So war etwas Diogenesartiges in seiner Natur ... Kamen Pakete an ihn, so mochte er nicht, dass man die Bindfäden zerschnitt, und, wie beschäftigt er auch war, nahm er sich doch die Zeit, sie mühsam zu lösen.“ Seine Maxime galt für den Staat genauso wie für den Privatmann „... weniger die Kapitalgeschäfte, als vielmehr die kleinen Ausgaben ruinieren; zu ersteren entschließt man sich ungern und erst nach reiflicher Überlegung, letztere bleiben unbeachtet, und schnell wachsen die Kopeken zu Rubeln usw. Daher muss man in den kleinen Ausgaben sich zu beherrschen suchen, um auszukommen, die großen sprechen schon für sich selbst.“4 Als ihm jedoch mitgeteilt wurde, dass seinen Söhnen die Teilnahme am Unterricht des Pagencorps gestattet wurde und auf
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allerhöchste Genehmigung das Pensionsgeld übernommen werde, verzichtete er mit den Worten: „Durch die Freigebigkeit meines Monarchen in den Stand gesetzt, selbst für die Bildung meiner Kinder zu sorgen, bitte ich ergebenst S. M., die dazu bestimmte Summe für Einen, der es nöthig hat, zu verwenden.“ Gleichzeitig mit dem Vater waren noch drei Deutsche ausgewandert. Einer davon war Baron Pirch, dem die Erziehung des späteren Grafen Araktschejew anvertraut wurde. Letzterer förderte später Georg Cancrin in verschiedenster Weise. Georg bemühte sich um eine Stelle, aber durch den mitgebrachten Titel, der in Russland einem Hofrat entsprach, war er entweder überqualifiziert oder ungeeignet, weil er kein Russisch sprach. Beim späteren Sekretär der Akademie der Wissenschaften wurde er deshalb als Gymnasiallehrer nicht eingestellt.
Georg Graf von Cancrin
Sich als Gehilfe seines Vaters in der Verwaltung der Salzwerke von Staraja Russa nützlich zu machen, konnte keine Dauerlösung sein, war aber der Türöffner. Der Kanzler Graf Ostermann erkannte sein hervorragendes Administrationstalent und übertrug ihm 1800 im Ministerium des Inneren eine Stelle als „Collegienrat bei der Abtheilung für das Salzwesen“ bei der Expedition der Reichsdomänen, obwohl sein Russisch voller Fehler und seine Aussprache sächsisch gefärbt war. Die Arbeit bedingte häufige Reisen quer durchs Reich und
bot Gelegenheit, Land und Leute umfassend kennen zu lernen. Seine besonders hervorstechende, rastlose Arbeitskraft, umfassende Kenntnisse und Gewissenhaftigkeit eröffneten ihm endlich eine steile Karriere. Im Jahre 1805 wurde er Staatsrat und 1809 Inspektor der deutschen Kolonien im St. Petersburger Gouvernement, in welcher Stellung er anderthalb Jahre im Dorfe Strelna so viel Muße hatte, dass er gleich mehrere Bücher verfasste. Er bezeichnete sie als die glücklichsten Jahre seines Lebens. In einer Veröffentlichung zum Militär zog er besonders die Aufmerksamkeit des Generals Phull auf sich, durch dessen Einfluss er 1811 zum wirklichen Staatsrat und im Kriegsdepartement Gehilfe des Generalproviantmeisters wurde. Ein Jahr später war er Generalintendant der Westarmee.
Teils seines bedeutenden Werkes über die Heeresverwaltung. Einem anderen Buch verdankte er seine Beförderung zum Generalintendanten sämtlicher aktiven Armeen mit dem Rang eines Generalmajors. In dieser Eigenschaft wurde er zu den Verhandlungen mit Frankreich wegen der Kriegsentschädigung von 30 Millionen Francs (1814 und 1815) zugezogen, die er erfolgreich abschließen konnte. 1815 beförderte ihn der Zar deshalb zum Generalleutnant. Die Staatsverschuldung war gewachsen, der russische Rubel war wertlos, da Napoleon Russland mit falschen, vor dem Feldzug gedruckten, Banknoten überschwemmt hatte, um die russische Wirtschaft zu untergraben.
St. Petersburg, Technologisches Institut 1879
Ekaterina Zacharowna Muravjeva, 1830er Jahre
Einen unvergesslichen Eindruck hinterließ das Elend der Menschen, als Napoleon Russland zu erobern suchte. Beim Marsch von Oschmani nach Wilna sah er 1812 alle drei Schritte einen Toten, und in Wilna die Leichen an den Seiten der Straße bis zu den unteren Fenstern aufgehäuft. Unglückliche, beraubte und gefolterte Bauern irrten, wahnsinnig geworden, durch die Wälder, andere erwarteten apathisch unter Trümmern den Untergang. In Paris wurde Georg die Generalsuniform für seine außerordentlichen Verdienste verliehen. Unterwegs besuchte er in Hanau seine Jugendfreunde. In diese Zeit fällt das Erscheinen des ersten
Zurück in Russland gehörte ihm anscheinend das unbegrenzte Vertrauen des Kaisers. Neidische Gegner streuten Gerüchte, er habe Armeeverpflegung unterschlagen. Aber seine Zuverlässigkeit hatte sich so offenkundig bewährt, dass ihn die österreichische Regierung sogar abwerben wollte. Obwohl er voll rehabilitiert wurde, zog er sich zurück, denn mit dem neuen Vorgesetzten Fürst von Osten-Sacken wollte er nicht zusammenarbeiten. Das Hauptquartier der Armee lag in Mohilew, wo Cancrin fern aller geistigen Anregung leben musste. Im Hause des Fürsten Barclay de Tolly lernte er eine unbemittelte Dame aus angesehener Familie kennen und lieben. Er heiratete 1816 Ekaterina Zacharowna Muravjeva, eine Verwandte des Generals Barclay de Tolly und Nichte von Alexander I. und bekam mit ihr vier Söhne und zwei Töchter. Die Söhne ließ er protestantisch taufen, die Töchter orthodox. Cancrin bat 1820 um seine Entlassung, die ihm mit der Auflage gewährt wurde, „seinen Nachfolger gehörig zu dressieren“. Der Zar sandte ihn im Juni 1821 zum Kongress nach Laibach, ernannte ihn sodann zum Mitglied des Reichsrats für die Abteilung Staatswirtschaft und 1823 zum Finanzminister. Das überraschte viele, denn Cancrin war in
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der High society Petersburgs wenig bekannt. Seine schlichte und scharfe Form war wenig dazu angetan, sich dort reibungslos einzufügen. Alle Intrigen hatten blieben beim Kaiser wirkungslos. Die von Georg angeregte, bis dahin nicht bekannte Bildung von Reservekapital brachte die Opposition auf den Plan. Die Einkünfte mehrten sich durch Abstellung von Missbräuchen, Verbesserungen bei der Branntweinpacht und im Zollwesen. Nach einem Jahr war das Defizit verschwunden. Es war ihm nicht ganz recht, staatlichen Nutzen aus dem Alkohol zu ziehen, aber er sagte: „Ich bin wie ein Käfer im Mist und wühle darin, doch geht aus diesem Miste all der Glanz hervor“, womit er auf das Winterpalais verwies. Er war überzeugt, die Leibeigenschaft müsse aufgehoben werden, und wollte an ihrer Stelle eine Erbpacht einführen, sah aber dafür die Zeit noch nicht reif. Einundzwanzig Jahre hindurch führte Cancrin die Zügel des russischen Staatshaushalts und wirkte auch über sein eigenes Ressort hinaus auf die Verwaltung der inneren Angelegenheiten des großen Reiches ein. Der ehemalige Hanauer war lange Zeit hindurch der mächtigste Mann in Russland, der sogar dem Kaiser durch seine Persönlichkeit imponierte und sich im wichtigen Finanzwesen vollkommen unentbehrlich machte. Als Finanzminister, der loyal zu seinem Zaren stand, wollte er Alexander v. Humboldt einerseits alle Bedingungen für eine Forschungsreise erleichtern, andererseits den Ausländer unter Kontrolle behalten. Das Hauptinteresse des sparsamen, auf jede Kopeke bedachten, Cancrin galt der Verwertung des 1822 im Ural entdeckten Platins, mit dem man noch nichts Rechtes anzufangen wusste. Humboldt schreibt in seinem Tagebuch: „Im Sommer des Jahres 1827, als ich eben nach einem langen Aufenthalte in Frankreich in mein Vaterland zurückgekehrt war, wurde ich vom Kaiserlich Russischen Staats- und Finanzminister Cancrin aufgefordert, ihm meine Ansichten über den Nutzen einer baldigst in Kurs zu setzenden Platinmünze aus den Erzeugnissen des Urals und über das gesetzliche Verhältnis des Werthes dieser Münze zu einem der beiden anderen edlen Metalle mitzutheilen ... Die Besorgnisse, die ich dem Grafen von Cancrin im Herbst des Jahres 1827 äußerte, sind durch mehrjährige Erfahrung, bei sehr gemäßigter Emission der Platinmünze und bei der weiteren Ausdehnung
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des Kaiserreichs, nicht gerechtfertigt worden ... Am 17. Dezember 1827 wurde ich durch den Finanzminister, der unablässig so viele wissenschaftliche Unternehmungen und Institute ins Leben gerufen hat, von den Befehlen Kaiser Nikolaus in Kenntnis gesetzt.“
Cancrin an seinem Schreibtisch im Schlafzimmer
Humboldts Reise sollte allein auf Kosten der Krone ausgeführt werden. Es wurde genehmigt, dass er den Beginn der Reise selbst bestimme und Prof. Ehrenberg (Botaniker und Zoologe) und G. Rose (Chemiker und Mineraloge) mitbrächte. Außerdem durfte er die Route selbst wählen und änderte sie auch unterwegs ab. Überall empfingen ihn lokale Würdenträger. Cancrin ließ ihm 20000 Rubel aushändigen.5 Er schrieb, die Gegenden Russlands, in denen man Platin gewinne, jenseits des Urals, seien wohl des Besuchs eines großen Naturkundigen wert, Cancrin sei geistreich und lebendig. „Überall die größte Freundlichkeit und Sorgfalt, besonders bei Cancrin, aber für Verbesserung unserer Handelsverhältnisse bisher sehr wenig zugänglich“, schreibt er am 19. Mai 1829. Er versprach ihm, eine wissenschaftliche Schrift auszuarbeiten und Prof. Rose zur chemischen Untersuchung zu verdonnern. „Es versteht sich von selbst, dass wir uns beide auf die todte Natur beschränken und alles vermeiden, was sich auf Menschen-Einrichtungen und Verhältnisse der unteren Volksklassen bezieht.“6 Das „vornehme Gesindel“, das untätig auf Kosten anderer lebe, verachtete Humboldt. Für die Expedition wurden eigens Wagen angefertigt und 15–20 Postpferde waren an jeder Station garantiert. Ein Feldjäger wurde gewählt, einquartiert wurde bei wohlhabenden Bürgern, militärische Eskorte und Ausstattung standen zur Verfügung und regelmäßig landete ein Bericht über den Verlauf bei Cancrin. Der Bergbeamte Menschenin, der Französisch und Deutsch
sprach, begleitete die Expedition. Humboldt klagte gegenüber seinem Bruder: „Kein Augenblick des Alleinseins, kein Schritt, ohne dass man ganz wie ein Kranker unter der Achsel geführt wird.“7 Eine andere Freiheit als die in Südamerika. Cancrin gegenüber merkt er vorsichtig an, dass man in Deutschland nicht so viele Menschen brauche, um eine vergleichbare Menge Gold zu fördern. „Aber ein halbes Jahrhundert würde wohl nicht hinreichen, solche Übel, die in der Lage der unteren Volksklassen gegründet sind, in der NichtAbsonderung der Beschäftigung, zu zerstören.“ Damit bemängelte er, dass derselbe Mann sowohl Gussware mache, Holz fälle und Gold wasche. „Wie wahr habe ich alles gefunden, was Eure Exzellenz über einreißenden Holzmangel sagte.“ Mit G. Erman und A. v. Humboldt zusammen gründete Georg das Archiv für wissenschaftliche Kunde von Russland (1841–1867) als Erman-Archiv. 1831 wurde Humboldt eine weitere Reise angeboten, die jedoch nicht ausgeführt wurde. Vom Jahre 1839 an war Cancrins Gesundheit erschüttert. Er sehnte sich danach, sein Amt niederzulegen. Da der Zar seinen treuen Diener nicht gehen lassen wollte, ordnete er an, Cancrin solle zur Herstellung seiner Gesundheit 1840 auf einem eigens zur Verfügung gestellten Dampfschiff eineReise ins Ausland machen. Der Urlaubsvertretung verfasste der Minister selber eine umfassende Instruktion, damit die Amtsgeschäfte ohne Abstrich weiterlaufen konnten. Nicht einfach fiel ihm, der vorher sechzehn Stunden Tagesarbeit gewohnt war, der Müßiggang. So fing er an, seine Erinnerunge zu schreiben. Dort bezeichnet er als das größte Übel und notwendigste Bedingung der Gesellschaft das erbliche Eigentum. Die unmündige Masse muss beständig unter Vormundschaft bleiben, sonst drohe dem Staat Schaden. Aufmerksam registrierte er die Bedingungen beginnender Industrialisierung, landschaftliche und architektonische Besonderheiten, und in Zeiten der Langeweile verkürzte er sich das Warten durch strategische Überlegungen. Sehr negativ beurteilte er die neumodische Eisenbahn, die den Menschen dazu verleite, fremden Gegenden gegenüber gleichgültiger, eine willenlose Sitzmaschine zu werden und den Geschmack an der Natur zu verlieren. Die Reiseart trage zur Nivellierung der Stände bei. Seine Route ging nach Leipzig, München, Salzburg durch die Schweiz, das Rheintal
hinauf mit einem längeren Aufenthalt in Baden-Baden, über Wiesbaden und Frankfurt a. M. wieder nach Leipzig. Nach dem Urlaub fasste er zusammen: „Das beste Resultat, das ich aus dieser Reise gewonnen habe, besteht in der Überzeugung, meine Stelle recht wohl entbehren zu können. Ich fürchtete, die Muße oder wenigstens der Mangel der hiesigen Pflichtgeschäfte würde mir unerträglich sein; die Erfahrung hat mich aber gelehrt, dass zu einer solchen Befürchtung durchaus kein Grund vorhanden ist.“ Obwohl Cancrin in den folgenden Jahren weitere Kurreisen unternahm, brachen seine Kräfte mehr und mehr zusammen. 1844 suchten ihn Wechselfieber heim. Sobald er zu ernsthaften Gesprächen imstande war, besuchte ihn der Zar persönlich am Lager und unternahm einen letzten Überredungsversuch. Vergeblich. Endlich wurde Cancrin für ein Jahr beurlaubt. Von der Leitung des Ministeriums wurde er entbunden und blieb nur Mitglied des Reichsrats. Über das Verhältnis zu seinem Dienstherrn gibt ein Brief des Kaisers Nikolaus Auskunft: „Heute erfuhr ich, lieber Georg Franzowitsch, dass ich die unwillkürliche Veranlassung eines Vorfalls gewesen bin, der Ihnen mit Recht ärgerlich gewesen sein muss. Da ich Sie so lange nicht gesehen, ist es mir nicht möglich gewesen, mich mit Ihnen über meine Absicht zu verständigen, die Einrichtung des Departements der Reichsdomänen näher kennen zu lernen, wozu mir der Anfang des Jahres am geeignetsten schien. Als ich dem Staatssekretär Tanejew den Befehl gab, Sie von dieser meiner Absicht in Kenntnis zu setzen, kam mir nicht in den Sinn, dass man Sie um dieser Mittheilung willen mitten in der Nacht ohne alle Noth stören würde, während nichts behinderte, die Mittheilung zur gewöhnlichen Zeit zu machen; da aber der Chef für seine Untergebenen verantwortlich ist, so nehme ich den Fehltritt bereitwillig auf mich und bitte aufrichtigst um Verzeihung wegen des unwillkürlichen Verstoßes. Nichts desto weniger müssen Sie die sonderbare Eröffnung meines Willens als ein gewisses Zeichen meiner Unzufriedenheit angesehen haben und das würde mir vor Allem schmerzlich sein. Sie wissen, ich hoffe es, seit langem wie sehr ich Sie achte; in den elf Jahren unseres persönlichen Verkehrs ist meine Achtung, ich kann es in Wahrheit sagen, zu aufrichtiger Freundschaft und Dankbarkeit gewor-
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den, und konnte ich bei solcher Gesinnung Ihnen irgendeine Unannehmlichkeit zufügen? Ich hoffe, dass Sie mich gut genug kennen, um zu meinen Schwächen und Mängeln nicht das abscheulichste von allen Lastern, die Undankbarkeit zählen. Ich hoffe, dass es mir nach dieser aus reinem Herzen kommenden Erklärung gelungen sein wird, selbst den Schatten eines Zweifels bei Ihnen zu zerstreuen an die aufrichtigen Gefühle der Freundschaft und Erkenntlichkeit, mit denen ich auf immer Ihnen aufrichtigst wohlgewogen bleibe, St. Petersburg 5. Januar 1837“ 1841 und 1843 zog es Georg erneut nach Bad Gastein. Auf dem Weg hatte er auf der früheren Reise Austerlitz und Wien besucht, auf der zweiten Kiel, Hamburg, Hannover. Von Marburg her kommend speiste er diesmal zu Mittag in Gießen. Er schreibt: „Mit dem darmstädtischen Gebiet fängt auch besseres Land an. Näher nach Gießen ist die Gegend vorzüglich: erst die Ruinen von Staufenberg, dann Gleiberg, Fetzberg und im Hintergrund das noch bewohnte Schreffenberg (er meint Schiffenberg), einst des Deutschen Ordens, wo ich so manchen poetischen Spaziergang machte.8 Gießen war ein gar elendes befestigtes Städtchen ...“ Nach 45 Jahren fand er vieles zum Besseren verändert, nachdem die Wälle geschleift und stattdessen Gärten angelegt waren. Allerdings suchte er vergeblich nach einem einzigen hübschen Mädchen. Die dritte Reise langweilte ihn schon frühzeitig. Zur Zerstreuung schrieb er Kurzgeschichten. In Darmstadt musste er sich dem Großherzog vorstellen und wurde zu diesem Zweck zur Tafel gebeten. Wo sich Gelegenheit bot, besuchte er Lehranstalten, polytechnische Institute und die Universität Hohenheim. In Badepausen verzeichnete er seine Erfahrungen mit Napoleons Feldzug nach Moskau. In Süddeutschland vermerkte er unter den Bauern und Bäckern die Furcht vor einer Hungersnot. Das vierpfündige Roggenbrot kostete 16 bis 18 Kreuzer, was mehr als die Hälfte des Verdiensts eines Tagelöhners (20 bis 30 Kreuzer) betrug. Die letzte, acht Monate währende Reise nach Holland und Paris diente der Erholung nach einem Schlaganfall. Ein letztes Mal besuchte er frühere Schauplätze, Museen, Gefängnisse und staatliche Gremien, hörte in der Deputiertenkammer, der Akademie der Wissenschaften und bei Gerichtsverhandlungen zu und machte sich seine Gedan-
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ken über die konstitutionelle Monarchie. Zar Nikolaus liebte die äußere Form und der entsprach sein Minister nur wenig. Cancrins Uniform war ständig unordentlich, er hatte Schwielen und trug weiche Stiefel. Als der Zar einmal seinen Unmut äußerte, weil Cancrin einen Schal über seine Uniform gebunden hatte, antwortete er: „Majestät, wenn ich ohne Schal gehe, werde ich mich erkälten, wer würde dann das Budget reduzieren?“ Auf der Rückfahrt wählte er die Route von Wiesbaden über Limburg, Weilburg, Braunfels nach Wetzlar.9 „... diese einst durch das Reichskammergericht mehr im Bösen als im Guten renommierte Stadt, jetzt preußisch, scheint im Verfall und es ist schwer zu sagen, wo einst die Kammerrichter, Assessoren und die vielen Procuratoren, Beamten, Schreiber, Parteien usw. haben anständig wohnen können.“ Ganz ungewöhnlich wirkte Cancrins Bereitwilligkeit, jedem zu helfen, der bei ihm Hilfe suchte. Andererseits ließ er selten fremde Ideen gelten. An müßiger Unterhaltung beteiligte er sich kaum, schildert sein Schwiegersohn. Sein hoher, kräftiger, zuletzt hagerer Körper war von Alter und Sorgen gebeugt. Witz und Sarkasmus begleitete ein listiges Lächeln. In der Zeit, in der er über Augenprobleme klagte, begann er mit dem Spielen der Geige. Seine Untergebenen hingen an ihm. Als er 1845 von seiner Reise nach Paris zurückkehrte, mieteten sie ein eigenes Dampfschiff, fuhren dem Grafen nach Kronstadt entgegen und geleiteten ihn nach Petersburg. Trotz seiner Krankheit empfing er regelmäßig Geschäftsbesuche, um Berichte und Unterlagen entgegenzunehmen, „Beamten, Bittsteller, Damen empfing er gänzlich nackt unter der Decke auf einem übermäßig großen und hohen Doppelbette liegend hinter einem Schirm, wobei er unter dem Ellbogen zwei riesige Folianten hatte, auf die er sich stützte, wie Zeus auf seine Donnerkeile.“10 Seit langem quälte ihn die Gicht. Das Leben ohne Amt wurde ihm dennoch schwer. Am 21. September 1845 starb er, nachdem ihm seine Frau noch das politische und wirtschaftliche Studium Kochs vorgelesen hatte. Im Jahre 1860 erschien ein Artikel von Schipow „Skizze des Lebens und staatsmännischen Wirksamkeit des Grafen Cancrin“ in der Zeitschrift „Lesebibliothek“. Er wies nach, dass Cancrin in den ersten Jahren seines Wirkens von 1823 bis 1827
eine Ersparnis von 200 Millionen Franken bewirkt habe und zwar durch Schonung des Staatskredits, Sparsamkeit, Einführung von Schutzzöllen, Vermeidung neuer Auflagen und Fixierung der Wertzeichen und ohne ausländische Anleihen zu machen. „Er hob den Reichscredit auf die höchste Stufe des Ansehens an allen europäischen Börsen, und der Reichthum Russlands stieg bedeutend unter seinem Ministerium trotz der großen Kriege, des polnischen Aufstandes, der europäischen Krisen, der Überschwemmung, des Wüthgens der Cholera; Begebenheiten, die seiner Verwaltung nicht geringe Schwierigkeiten bereitet haben.“ Am Ende hat er es aber nicht verhüten können, dass sich wieder ein Defizit einstellte. Er selbst bedauerte einem Kolle-
gen gegenüber: „Was wir zusammen machen, wird bleibend sein, in den übrigen Gebieten der Tätigkeit vergeht alles; was man gesammelt, verzehren Kasernen, Festungen, Bauten ...“11 Eine Bronzebüste steht im Dorfe Lisino-Korpus vor dem Lisinsky Forest College (1997), nachdem das Exemplar von 1836 verschwunden war, und vor der St. Petersburger Staatlichen Universität für Technologie und Design (2003). Das Mineral Cancrinit wurde nach ihm benannt und eine Pflanze aus der Familie Asteraceae. Die Liste seiner Orden ist lang. Eine Nachfahrin, Frau Christine Langenscheidt geb. Cancrin, lebte 2011 in Gießen (geb. 1915).
Stammbaumausschnitt Cancrin
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Veröffentlichungen: Dagobert. Eine Geschichte aus dem jetzigen Freiheitskriege. Als Gegenstück zum Graf Doonomar, einer Geschichte aus dem siebenjährigen Krieg, 1798; Fragmente über die Kriegskunst, 1809; Über die Goldwäsche in Ostsibirien; Die klimatischen Verschiedenheiten Russlands, 1834; Über den Staatskredit, 1840; Die Elemente des Schönen in der Baukunst, 1836; Phantasiebilder eines Blinden, 1836; Über die Verpflegung der Truppen, 1811; Weltreichthum, Nationalkreichthum und Staatswirthschaft oder Versuch neuer Ansichten der politischen Ökonomie (anonym erschienen 1821); Die Militärökonomie im Frieden und im Kriege und ihr Wechselverhältniß zu den Operationen (8 Bde., abgeschlossen 1823); Die Ökonomie der menschlichen Gesellschaften und des Finanzwesens, 1845; Lehre der Militär-Verpflegung und ihrer Verbindung mit den Operationen, 1824; Essai sur l’histoire de l’économie politique des peubles modernes, 1818; Aus den Reisetagebüchern des Grafen Kankrin, 1865; Instruktion über die Bewirtschaftung des Wald Teils der Bergpflanzen des UralGebirges, nach den Regeln der Forstwissenschaft und guten Managements, 1830
1 V. Hantzsch, „Blaramberg, Johann von“ in: Allgemeine Deutsche Biographie 47 (1903), 8–12. 2 A. Graf Keysering, Aus den Reisetagebüchern des Grafen Georg Cancrin, ehemaligen Kaiserlich Russischen Finanzministers aus den Jahren 1840–1845, Braunschweig 1865 Bd.1, 3. 3 Ders. Bd.1, 5. 4 a. a. O. 11. 5 A. v. Humboldt, Zentral-Asien. Untersuchung zu den Gebirgsketten und zur vergleichenden Klimatologie, Frankfurt 2009, XXI; E. F. Kankrin, Russisches biographisches Wörterbuch: in 25 Bänden. 1896–1918 ; A. Grigoriew, V. I. Gasumjanow. Die Geschichte der staatlichen Reserven Russlands (vom IX. Jahrhundert bis 1917). 2003. K. A. Zalessky, Napoleonische Kriege 1799–1815. Biographisches enzyklopädisches Wörterbuch, Moskau, 2003 ; E. Kankrin; A. A. Kornilov, Verlauf der Geschichte Russlands im 19. Jahrhundert. Vortrag XVII. 6 A. v. Humboldt 2009, LXXIV. 7 a. a. O. 2009, 851. 8 A. Graf Keysering 1865, Bd.2, 29. 9 a. a. O. 1865, Bd.2, 260. 10 a. a. O. 1865, Bd.1, 49. 11 a. a. O. 1865, Bd.1, 33.
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Zweimal Massaua und zurück Der Frankfurter Eduard Rüppel(l) Auf sechzig Jahre Wirkungszeit erstreckte sich Rüppells erfolgreiche Tätigkeit in ungewöhnlicher Vielseitigkeit. Als Zoologe beschrieb er überwiegend neue Gattungen und Arten1, als Geograph erkundete und vermaß er bis dato Europäern unbekannte Landstriche. Nur unter größten Strapazen und Entbehrungen legte er eine Sammlung an, die heute der Allgemeinheit zugute kommt.2 Durch die Präsentation in den Schränken des kürzlich gegründeten Senckenberg-Museums erhielt Frankfurt a. M. mit einem Schlag eine Sehenswürdigkeit allerersten Ranges, zumal es keine anderen großen Schausammlungen oder Tiergärten gab.
Eduard Rüppell 1830
Schon als kleiner Junge begleitete Eduard manchmal seinen Vater auf Reisen nach Hamburg, Salzburg, Berchtesgaden und Bamberg, über die er seine Geschwister in Briefen unterrichtete und auf denen er seine Mineralien- und Muschelsammlung ergänzte. Nach einer wenig ergiebigen Phase des Privatunterrichts wechselte er im Alter von dreizehn Jahren aufs Darmstädter Lyzeum zu Professor Zimmermann, um schwerpunktmäßig Sprachen
zu lernen, zeigte aber für Mathematik besonderes Interesse. Da die Schule keine Naturwissenschaften lehrte, besuchte er zusätzlich Vorlesungen über Physik und Chemie und bekam durch private Kontakte auch Zugang zum kunstgeschichtlichen Museum und seiner Bibliothek. Von einem Besuch der Universität wollte ihn sein kränklicher Vater, der die gemeinsamen Bankgeschäfte seinem Schwager Harnier3 überließ, abbringen und stattdessen zum Kaufmann machen. Zunächst ließ sich Eduard überreden und trat als Lehrling in die Bank Rüppell & Harnier ein. Als seine Eltern kurz hintereinander im folgenden Jahr starben, musste er für seine Geschwister sorgen. Selbst noch unter Vormundschaft, regelte er den Nachlass, wobei er mit seinen älteren Geschwistern anscheinend so schlechte Erfahrungen sammelte, dass er mit ihnen zeitlebens kaum noch Umgang pflegte. Die jüngeren dagegen, zu denen er eine engere Beziehung hatte, starben alle früh.4 Das trug sicher zu seiner schon in jungen Jahren ausgesprochen pessimistischen Lebensauffassung und einem ernsten, leicht reizbaren Wesen bei. Allerdings agierte er im entscheidenden Augenblick in geschickter diplomatischer Weise, sonst hätte er in seinem Leben nicht so viel erreicht. Vernunftgründe brachten ihn dazu, eine Volontärsstelle beim Bruder seines Vormundes in Beaune anzunehmen. Auf der Reise in das Heimatland seiner Ahnen stationierte er in Baden-Baden. Obwohl er in der Spielbank etwa 100 Gulden gewann, beschloss er, in Zukunft die Finger von derartigen Vergnügungen zu lassen. Ein halbes Jahr Arbeit in Burgund reichten, um von spanischen Kriegsgefangenen Italienisch, höhere Mathematik und Zeichnen zu lernen. Da ihm die politischen Verhältnisse nicht behagten, strebte er bald nach Lausanne, das er im März 1814 erreichte. Als sein Vormund Eduards Beschäftigung mit der Mineralogie rügte, entschied er sich in London als Kaufmann zu arbeiteten und war so erfolgreich, dass er über ein stattliches Jahresgehalt verfügte. Durch Überarbeitung in dem feuchten und nebligen Klima zog er sich allerdings eine Tuberkulose
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Stammbaumausschnitt Rüppel(l): Der Name wird nicht einheitlich geschrieben
zu. Da bereits seine Mutter und zwei Schwestern an dieser Krankheit gestorben waren, verließ er die Weltstadt lieber nach einem Jahr. Nachdem seine jüngere Schwester Friederike, an der er hing, nach vierzehntägiger Ehe Selbstmord begangen hatte5 und ihm der Arzt in Frankfurt a. M. zu einem Aufenthalt im Süden riet, erholte er sich drei Monate bei einem Freund seiner Eltern in Mailand, Heinrich Mylius. Dort lernte er alle namhaften Naturkundler der Zeit besonders Geologen zwischen Pavia, Florenz und Pisa kennen und erfreute sich an den Kunstschätzen Oberitaliens. Aufgrund neuerlicher Vorwürfe seines Vormunds trat er als Volontär in ein Schweizer Handelshaus in Livorno ein. Diese Firma importierte per Schiff Getreide aus Alexandria, um die im politisch zerstrittenen Europa grassierende Hungersnot zu mildern. Den idealen Vorwand, eine Warensendung 1816 selbst in die türkische Provinz Ägypten zu begleiten, nutzte Eduard zur Ergänzung seiner Mineraliensammlung und Kräftigung seiner Gesundheit. Kaum war er volljährig und in den Besitz seines väterlichen Vermögens gekommen, beendete er seine kaufmännische Laufbahn. Bei der Ankunft in Kairo erlebte er die üblichen Unannehmlichkeiten des naiven Touristen. Eselstreiber eilten im Galopp mit seinem Gepäck davon, sein Protestgeschrei verstand niemand. „Sofort befand ich mich in größter Verlegenheit, weil mir bewusst war, dass jene Entführer meines Gepäcks unmöglich wissen konnten, wohin sie es zu bringen hätten. Wie sollte ich diese Ausreißer wiederfinden
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in dem Gewühl der vollgedrängten Straßen der ägyptischen Hauptstadt?“ Er beschrieb seinen ersten Eindruck in einem Brief: „Glücklich bin ich gestern morgen hier angelangt. Alles, was mich hier umgibt, sind für mich neue Gegenstände, und diese Neuheit macht mich unfähig zu sagen, wie es mir hier in Afrika gefällt. Ich möchte den gestrigen Tag mit einer Stunde vergleichen, die ein Landmann vor einer Zauberlaterne zubringt: durch Beschreibung war ihm alles, was er sehen würde, bekannt; mit gespannter Aufmerksamkeit kam er hin, selbst zu sehen, doch das rasche Wechseln der Bilder zerstreute ihn ganz; er möchte ein jedes genau und mit Muße ansehen; dies kann er nicht, und nur mit der Zeit wird ihm alles klar und deutlich. Es sind jetzt Menschen von beinahe allen Nationen Europas hier, größtenteils um Getreide einzukaufen. Gegen vierhundert Schiffe liegen im Hafen, um solches nach allen Gegenden zu verführen.“ Durch den Kairoer Geschäftsagenten der Firma Briggs lernte er die Äthiopienreisenden6 Henry Salt und den Schweizer Johannes Ludwig Burckhardt kennen, der in der Verkleidung eines Moslems in Kairo lebt. Salt wollte Eduard nach zehn Tagen als wissenschaftlichen Mitarbeiter anstellen, aber Burckhardt riet diesem, sich nie in eine untergeordnete Stellung einzuzwängen, denn gewöhnlich eignen sich andere die Ergebnisse des Arbeitenden schamlos an und überlassen ihm nur als Anteil die Erinnerungen an die Mühselig-
keiten.7 Um der Pest auszuweichen, die in Kairo wie jeden Winter ausgebrochen war und alle gesellschaftlichen Aktivitäten unterband, brach er nach Oberägypten auf, erkrankte aber schon in Siut schwer an den Pocken. Von Narben gezeichnet konnte er erst drei Wochen später seine Reise fortsetzen, die ihn bis Philae führte und seine archäologische Entdeckerfreude befriedigte.
Karte Ägyptens mit Reiserouten
Dabei reifte sein Entschluss, eine mehrjährige Forschungsreise in Afrika zu unternehmen. Mit diesem Fernziel schiffte er sich nach Europa ein, um auf Anraten Burckhardts zur Vorbereitung astronomische Untersuchungsmethoden zu erlernen und sich weiter naturwissenschaftlich auszubilden. In Livorno in Quarantäne erreichte Eduard eine neue Hiobsbotschaft: Ein Bruder war in Nizza an der Schwindsucht gestorben. Im Hinblick auf seine eigene Gesundheit verschob Eduard seine weitere Heimreise auf den Mai 1818. Nun endlich besuchte er die Universität in Pavia, in den Semesterferien erlernte er bei einer Schiffsbekanntschaft, dem Baron Franz von Zach, in Genua die Benutzung astronomischer Instrumente. In der kurzen Zeit eines Heimataufenthalts befreundete er sich mit Cretzschmar, dem zweiten Direktor der noch nicht lange bestehenden
Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft8 und stellte seine Arbeitskraft, begeistert von deren Zielen, ganz in ihren Dienst. Bei Zach erkrankte er so lebensgefährlich an einer Hirnhautentzündung, dass die folgende Schwäche ihn ein Jahr lang am Studium hinderte. Nur kleinere Reisen nach Sizilien und den Liparischen Inseln dienten dem Ausbau seiner Gesteinssammlung. 1821 waren seine Reisepläne Frankfurter Stadtgespräch.9 Von seinen früheren Bekannten freudig begrüßt, erhielt Rüppell in Kairo den Auftrag vom Pascha und Vizekönig von Ägypten, Mehmed Ali, nämlich die alten Kupferminen am Brunnen Nasb im Westen der Sinai-Halbinsel aufzusuchen und die Möglichkeit ihrer Ausbeutung zu begutachten. Darauf basiert die Ehrenmitgliedschaft Mehmed Alis in der Senckenburgischen Naturforschenden Gesellschaft, die von Rüppell, den Medien und anderen Beteiligten eher als peinlich bewertet und ihm vermutlich deshalb nie mitgeteilt wurde. Weitere Regierungsaufträge lehnte Rüppell ab, bat aber stattdessen um Schutzbriefe. Seine Ausbeute im Fayum waren 16 Säugetiere, 75 Vögel, 19 Fische, 20 Gläser Insekten und Präparate, sowie 375 Münzen. Die schickte der durchfallgeplagte Rüppell in vier Kisten in seine Heimatstadt. Sorgfältig vorbereitet erreichte Eduard Ende Januar 1823 Wadi Halfa, von wo aus er Nubien erkunden wollte, das erst drei Jahre zuvor von Mehmed Ali okkupiert worden war. Mehrfach stoppten ihn aufständische Einwohner. Dennoch konnte er das ehemalige Reich Meroe und Napata geografisch bestimmen und sowohl Paarhufer, eine Schildkröte, einen Hyänenhund und Strauße zusammentragen. Die für Ende des Jahres geplante Tour nach Kordofan verzögerte sich, da der Schwiegersohn des Herrschers wegen einer Strafexpedition fern von Kairo weilte (ein Sohn des Machthabers war an der Grenze ermordet worden). Es hieß also warten. Rüppell schrieb nach Frankfurt a. M.: „Kurz, Spießen, Braten und Gliederverstümmeln waren damals an der Tagesordnung.“ Andererseits zeigte Mehmed Beg Defterdar ein ganz ungewöhnliches Interesse an den Forschungsergebnissen und stellte sogar die von ihm selbst entworfenen Landkarten zur Verfügung. Mit knapper Not entgingen die Deutschen den Volksunruhen von Suckot und Schakie, bei denen
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sie als von den Türken protegierte Ausländer leicht ihr Leben hätten verlieren können. Den durch die politischen Verhältnisse und die Jahreszeit erzwungenen Aufenthalt verwendeten die Abenteurer zur Jagd auf Nilpferde und Krokodile. Rüppell verdanken wir nicht nur die ersten Positionsbestimmungen von vier Orten in Kordofan, sondern auch detaillierte Kunde über die südlichen Nachbarländer der Nuba und Takale, aus dem Munde des fürchterlichen Mehemet Beg. Rüppell war für die Kenntnis der KababischSteppen eine der Hauptautoritäten. Nach Kordofan brach er am 22. Dezember 1824 auf, obwohl ihn aus dem Süden rückkehrende Kollegen, von denen er sich Tipps hinsichtlich Jagdmethoden und Bevölkerung erhoffte, zu entmutigen versuchten.10 Unter Verlust von zwei Kamelen marschierte er mit ein paar Bedienten, einer Sklavin11, drei türkischen Soldaten und zehn Kamelen durch die Steppe von Simrie und gelangte im Januar 1825 nach El Obeid, verzückt Affenbrotbäume, Termitenhügel und andere fremdartige Gewäche bewundernd. Leider
Rüppells Karte von Abyssinien (Äthiopien)
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waren jahreszeitlich bedingt die Bäume entlaubt und nur wenige Tiere anzutreffen. In der kurz zuvor von den Türken zerstörten Stadt erkrankte Rüppell an Gelbsucht. Die Stadt lebte laut Brehm vom Handel mit arabischem Gummi, Elfenbein und Sklaven aus Darfur und den Nuba-Gebieten, deren junge, für die türkischen Harems bevorzugten Exemplare, zu Eunuchen kastriert wurden.12 Der Scheich des Araberstammes half ihm später bei der Jagd nach Giraffen, Halbaffen, Nashornvögeln und Flughühnern. Gefährliche Übergriffe zwischen den Einheimischen begrenzten seinen Besuch auf 49 Tage. Ende Juli 1825 rettete er seine gesamte Ausbeute wohlbehalten nach Kairo und kurierte sich aus. Noch zur Zeit seines Aufenthaltes verlieh ihm die medizinische Fakultät der Universität Gießen anlässlich der Goldenen Hochzeit des Fürstenpaares den Doktor ehrenhalber. Der Dekan Ferdinand August Ritgen13 hob hervor, „was Rüppell für die Erweiterung der Erdkunde, der Völker-, Tier- und Pflanzenkunde und dadurch auch die Heilkunde wirkte, was er für die Bereicherung der naturwissenschaftlichen Sammlung des Senckenbergischen Instituts und durch diese für die ersten Sammlungen Europas leistete und welche Opfer er für diesen erhabenen Zweck in den unbekanntesten Gegenden Afrikas brachte ...“ Eduard war nicht sonderlich beeindruckt und verwendete den Titel lange Zeit nicht. Die nächste Phase, die er mit anderen Begleitern bis nach Massaua im heutigen Eritrea ausdehnte, widmete er der Erforschung der Fauna, der Lagebestimmung vieler Inseln des Roten Meeres und verschiedener archäologischer Stätten. An einem der heißesten Orte der Erde, der gerade von den Türken besetzt war, fand er aufgrund einer zwei Jahre langen Dürre und Hungersnot sehr schwierige Lebensverhältnisse vor. Geschüttelt vom Fieber litt er unter dem „einnehmenden“ Wesen des türkischen Kommandanten und wähnte sich von Schurken umgeben.14 Die Kartenbilder des Roten Meeres konnte er dennoch entscheidend durch die genaue Positionsangabe wichtiger Häfen verbessern. Seine Rückfahrt verlief äußerst dramatisch, denn sein Schiff wurde achtzehn Stunden nach Abfahrt von griechischen Seeräubern überfallen, die die Fracht nach Nauplia bringen wollten. Nur weil nach vierzehn Tagen türkische Schiffe am Horizont
auftauchten, suchten die Griechen das Weite. Die erzwungene Muße während der anschließenden dreimonatigen Quarantäne brachte seinen Plan zur Reife, „recht bald für eine Reise nach Abessinien nach Ägypten zurückzukehren.“ Wieder zog er vor, die Folgen eines Fiebers, eine Gelbsucht und einen entzündeten Kehlkopf über den Winter in Italien auszukurieren. Ergebnis der ersten Reise war die Ernennung zum Mitglied der Leopoldinisch-Carolinischen Akademie der Naturforscher in Halle.15 Weil er sich um die Veröffentlichung seiner Schätze kümmern musste, verzögerte sich ein neuerlicher Aufbruch. Januar 1831 betrat er zwar wieder ägyptischen Boden, wurde aber durch eine von Mekka her sich verbreitende drohende Choleraepidemie schneller als beabsichtigt zur Weiterfahrt genötigt. Um mit möglichst vielen Menschen in Berührung zu kommen und dadurch Informationen über Land und Geschichte zu erhalten, verschenkte Rüppell Arzneimittel und erteilte ärztliche Hilfe, die ihm jedoch mit Diebstahl, Undank und Beleidigung gelohnt wurden. In der weiteren Umgebung Massauas begegnete er einem reichen Kaufmann aus Gondar, der damaligen Hauptstadt dieses Landesteils. Von ihm hörte er über die sehr ungünstigen anarchischen Verhältnisse im Lande, die ihn keineswegs von seinem Vorhaben abbrachten, jedoch weitere Sicherheitsvorkehrungen erzwangen. Ständig in der Furcht vor Plünderungen einer der in Bürgerkrieg befindlichen Parteien oder Wegelagerern schloss er sich mit vierzehn Begleitern einer großen Karawane an. Durchmarschierende Truppen hatten das ganze Land ausgeplündert. Die mit Amaryllis bestandenen Wiesengründe und prachtvolle Sykomoren, überragt von imposanten, oben mit Schnee bedeckten Gebirgsketten, begeisterten ihn. In den entlaubten Sträucher saßen noch die nach ihrem Fressgelage vor Kälte erstarrten Heuschrecken. Eine als Geschenk geplante Bronzeglocke musste in einem Dorf zurückgelassen werden, da das Maultier unter dem Gewicht zusammengebrochen war. Dem Frankfurter gingen 1830 zwar die Augen über wegen der Einzigartigkeit des Simen Gebiets, aber wie andere Sammler und Zoologen schoss er recht sorglos Steinböcke, Füchse und Affen. Auf dem zwei Monate dauernden Marsch bis Entschetqab gelang
ihm die Bestimmung vieler neuer Vogelarten und des Dschelada-Pavians. Rüppell vermerkte, dass auf seinen Karten die Darstellung des Flusssystems im Nordosten des Landes ebenso falsch war wie die Angabe der Wasserscheide zwischen dem Roten Meer und dem Stromgebiet des Takazzé. Ein Vierteljahr lang blieb Rüppell bei dem Gouverneur der Provinz Simen, Schellika Getana Jasu, bevor er in Begleitung des vorherigen Kaufmanns Getana Maryam und achtzehn weiteren Personen nach Gondar aufbrach. Seine Sammelwut richtete sich in dieser alten Stadt auf kulturhistorisches Gebiet: Chroniken und Handschriften erwarb er mit Hilfe der durch Geschenke zahlreich angeknüpften Beziehungen zu einflussreichen Persönlichkeiten. Drei Leoparden, vor denen ihn nur das Jammergeschrei seiner Haushühner warnte, drangen bis in sein Haus vor. „Während nun ... Abdalla mit gespanntem Gewehr das Knurren der einen dieser Bestien in dem Vorhofe bei den Maultieren belauschte, sah ich die beiden anderen auf der Mauer des Hinterhofs, wohin ich mich begeben hatte, umhergehen, und zwar mit so leisem und doch sicherem Tritt, dass ich darüber ganz erstaunt war. Die zu große Dunkelheit der Nacht jedoch, in der man nicht einmal das Ende des Flintenlaufs sehen konnte, machte einen sicheren Schuss unmöglich ... Einer der Leoparden, welcher bereits zwei Stück Geflügel getappt hatte, musste mit dem Leben büßen, indem Abdalla ihm durch einen glücklichen Schuss die Wirbelsäule zerschmetterte.“ Von Gondar aus schickte Rüppell seine Jäger zur Großwildjagd in die Nähe des T’anasees und in den Norden: Wasserböcke, Paviane, Kaffernbüffel, Elefanten und Nilpferde bevölkerten das Gebirgsparadies. Auf der Rückreise traf er im Maschaha-Tal auf das Feldlager des Djeaz Ubi mit zweitausend Soldaten und dreitausend Frauen. Als er später bei schneidender Kälte unter dem freien gestirnten Himmelsgewölbe schlaflos den Morgen erwartete, tat es ihm leid, das verführerische Anerbieten einer hübschen nahen Verwandten Ubis, in ihrer Hütte zu nächtigen, nicht angenommen zu haben.16 In den Trümmern der alten Hauptstadt des axumitischen Reiches, zu dem er gegen alle Fährnisse des unruhigen Landes einen Umweg machte, fand er bis dahin unbekannte Altertümer: eine Opferschale und drei Kalksteinplatten mit Inschriften.
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In der Zwischenzeit hatten die türkischen Truppen in Massaua gegen Mehmed Ali gemeutert und geplündert, aber Eduards zurückgelassene Habseligkeiten unversehrt gelassen. Ein Teil dieser Sammlung und die astronomischen Geräte gingen bei einem Schiffbruch im Ärmelkanal verloren. Im Sommer 1834 langte er wieder in Frankfurt a.M. an. Er schreibt über das Geheimnis seines Erfolgs: „Während ich selbst nie Geschenke annahm, mit einziger Ausnahme von Kleinigkeiten an Lebensmitteln, wobei ich jedoch jedes Mal dem Überbringer den beiläufigen Wert des Geschenkes als Trinkgeld einhändigte, ließ ich dagegen keinen auch noch so unbedeutenden mir erwiesenen Dienst unbelohnt, und meine Gaben suchte ich immer so darzubringen, dass sie, ohne das Selbstgefühl oder die Eitelkeit des Empfängers zu verletzen, angenommen werden konnten ... Meine Geschenke bestanden immer in brauchbaren und nützlichen Sachen, stets von der besten Qualität und von einem reellen Wert, den der Empfänger auch zu beurteilen im Stande war ... Während ich bei meinem Verkehr mit hohen Beamten auf das strengste darauf Rücksicht nahm, dass ich mit aller Aufmerksamkeit und Achtung behandelt wurde, behandelte ich dagegen geringere Beamte ungemein zuvorkommend und mit mehr Aufmerksamkeit, als sie nach ihrem wirklichen Rang erwarten konnten. Ich wusste es geschickt so einzurichten, dass ein jeder glaubte, der von mir im Stillen fest beschlossene Reiseplan sei auf sein Anraten ausgewählt worden ... Für jede längere Reiseunternehmung machte ich einen besonderen Plan, mich dabei immer auf eine Art von Basis stützend, auf welche ich mich im Falle eines Unglücks ziemlich sicher zurückziehen konnte, nur jedes Mal das mit mir genommene Material aufs Spiel setzend ... Falls das bei mir befindliche durch Plünderung gänzlich verloren ginge, so konnte ich mich an der Basis sogleich wieder mit allem Benötigten eindecken.“ Den Einheimischen, die sich über den Zweck seiner ekelhaften Beschäftigung Gedanken machten, erklärte er, er wolle in seiner Heimat eine Arche Noah nachbilden und brauche dazu ein Paar jeder Tierart auf Erden, ausgestopft oder aus mehreren Häuten, vollständige Skelette und Skizzen ihrer Stellung. Das befriedigte Moslems wie
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Christen. Der österreichische Konsul in Khartum konnte 1857 die Qualität seiner Aufzeichnungen bei einem Besuch in Gondar überprüfen. Rüppells Karten waren so genau, dass sich die Engländer bei ihrem Feldzug 1868 nach ihnen als den zuverlässigsten richteten. Werner Munzinger17 äußerte gegenüber J. Rein 1873 in Kairo: Er habe in seinen Schriften die sittlichen und politischen Zustände Abessiniens richtiger beurteilt als fast alle späteren Schriftsteller.18 Inzwischen war Eduard Rüppell in seiner Vaterstadt, die ihm ein rauschendes Fest bereitete, so bekannt, dass Eltern auf der Straße ihren Kindern den großen Forschungsreisenden zeigten. Der größte Teil seines Vermögens war aufgebraucht, so setzte ihm die Stadt eine Jahresrente von 1000 Gulden aus. Sein Begleiter Erckel bekam die Stelle eines Konservators an den Senckenbergischen Sammlungen und sorgte für die Erhaltung, während sich Eduard selbst der wissenschaftlichen Aufarbeitung und der Drucklegung auf eigene Kosten widmete. Die Royal Geographical Society in London verlieh ihm als erstem Ausländer bereits nach Erscheinen des ersten Bandes auf der Jahresversammlung die goldene Medaille durch den preußischen Gesandten von Bunsen.19 Die Jahre zwischen 1834 und 1849 waren die fruchtbarsten im Hinblick auf den wissenschaftlichen Ertrag, da er als zweiter Direktor die Senckenbergischen Sammlungen ausbaute und die Bibliothek vergrößerte. Außer den beiden Hauptwerken „Neue Wirbelthiere zu der Fauna von Abyssinien gehörig“ und „Reise in Abyssinien“ verfasste er eine Unzahl von Aufsätzen.20 Auf einer vierten und letzten Ägyptenreise 1849 traf Rüppell etliche alte und neue Bekannte21, die ihn ihrerseits in ihren Reiseberichten erwähnen. Seine Fahrt verlief rein touristisch, eine größere Expedition war ihm zu anstrengend. Nach seiner Heimkehr überwarf er sich mit der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft, zog sich beleidigt zurück und verlegte sich auf Münzkunde. Nachdem am 16. Juli 1866 Frankfurt a. M. von den Preußen erobert wurde, musste Rüppell in seiner Wohnung einen aus dem Lazarett entlassenen Soldaten beherbergen und eine weitere Einquartierung drohte. Bei der zuständigen Stelle protestierte er, seine Wohnung sei bereits durch einen „unliebsamen Gast“ besetzt. Als ihm
Abessinische Hochgebirgslandschaft am Berg Selki in der Provinz Simen (Zeichnung von Eduard Rüppell )
wegen dieser respektlosen Bezeichnung eine Strafe angekündigt wurde, bewarb er sich in der Schweiz um Aufnahme als Bürger. Die Stadt Basel ernannte ihn umgehend zum Ehrenbürger und am 18. August 1866 erklärte er seinen Austritt aus dem Frankfurter Bürgerverbande, „da er als berufener Republikaner in einen anderen republikanischen Staatenverband übersiedeln wolle.“ In einem erklärenden Schreiben an der Landrat führte er aus: „Er dürfe sich nicht länger in einem Wohnort verweilen, der auf eine
ganz unbestimmte Zeit einer Willkürherrschaft, auf Bajonette gestützt, preisgegeben sei.“ 22 Die in dem Antwortschreiben auf sein genehmigtes Gesuch verwendete Bezeichnung als königlich-preußischer Untertan verbitte er sich, da das Patent, durch welches die Annexion geschah, von einem späteren Datum stamme als sein Gesuch. In Zürich hielt es ihn jedoch nur so lange, bis in seinem Hause die Cholera ausbrach. Dann bezog er wieder seine alte Wohnung in Frankfurt a. M. in der Hochstraße. Da er vor seiner Auswanderung alle Möbel verschenkt hatte, war sie ärmlich ausgestattet. Er reiste nur noch einmal nach Italien und Paris. Als sarkastischer, verknöcherter Mann verbrachte er die letzten vereinsamten Jahre in Gesellschaft einer Haushälterin, wies Geburtstagsgeschenke schroff zurück und ertrug Ehrungen widerwillig, drei Jahre nach einem Oberschenkelhalsbruch in der Bewegung eingeschränkt und getrübt in seinem Denkvermögen. Am 10. Dezember 1884 verstarb Rüppell, der sich selbst als Zoolog und Mineralog bezeichnete.
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1 450 neue Arten, 32 Gattungen. 2 Reisen in Nubien, Kordofan und dem peträischen Arabien vorzüglich in geographisch-statistischer Hinsicht, 1829; Reise in Abessinien, 1838/40. 3 Der Neffe des väterlichen Geschäftspartners reiste auf seinen Spuren: Wilhelm von Harnier. 4 In seinen autobiografischen Notizen. 5 Das bezeichnet er als das „vielleicht betrüblichste Ereignis seines Lebens“. 6 Auf heutigem Staatsgebiet vom 17. bis Mitte 19. Jahrhundert Bürgerkriege zwischen Kleinkönigreichen. Damals wurde Äthiopien (griech. das rußfarbene Gesicht) von Ausländern Abessinien (arab. habesch Völkergemisch) genannt. 7 Aus seinen autobiografischen Notizen. 8 Anlass für die Gründung war ein auf der Frankfurter Messe 1817 ausgestellter lebender Seehund, der unsachgemäß gehalten, bald verendete. Bis sich Institute in Gießen und Heidelberg entschieden, ob sie den Kadaver konservieren wollten, war der entsorgt worden. Damit Ähnliches nie wieder passiere, taten sich ein paar Liebhaber der Naturkunde zusammen. 9 Mit ihm reist als Präparator auf der ersten Reise der Chirurg Michael Hey aus Rüdesheim, auf der zweiten Theodor Erckel, Matthias Lindemann, Franz Lamprecht. Auf weite Strecken reiste er ohne weiße Begleiter, die er auf die Jagd bzw. zum Sammeln in andere Landesteile schickte. Den Italiener Finzi stellte er zeitweise als Maler der Meerestiere ein, den Mähren Martin Bretzka als Jäger. Anfangs reiste er mit Dolmetscher, lernte aber bald selbst Arabisch. 10 Dr. Ehrenberg behauptete, die Strapazen stünden in keinem Verhältnis zu der zu erwartenden Ausbeute. Nubien biete nichts Interessantes für einen Naturforscher. 11 Am 1.9.1826 erwähnt er in einem Brief aus Kairo an Cretzschmar, dass er seit drei Jahren überallhin von seiner Lieblingssklavin begleitet werde, die ihm öfters wertvolle Dienste geleistet hätte! 12 A. Brehm, Reisen im Sudan 1847–1852, Tübingen 1975, 204. 13 375 Jahre Universität Gießen 1607–1982, Gießen 1982, 103f. 14 Brief vom 23.1.1827. In: Mertens 1949, 334. 15 E. G. Franz (Hrsg.), Hessische Entdecker. Forschungsreisen in fünf Erdteilen. Ausstellung der Hess. Staatsarchive zum Hessentag 1981, 18. 16 Reise in Abyssinien, Bd.2, Frankfurt 1838/40, 252; L. Goldschmidt: Die abessinischen Handschriften der Stadtbibliothek zu Frankfurt a. M, (Rüppellsche Sammlung). Berlin 1897. 17 (1832–1875) Schweizer Afrikaforscher. 1865 britischer Konsul in Khartum, beteiligte sich am Feldzug gegen Theodoros II., 1868 französischer Konsul in Massaua, 1872 Pascha und Generalgouverneur des östlichen Sudan. 18 J. Rein, zur Feier des hundersten Geburtstages von Dr. Eduard Rüppell. In: Jb. Frankf. Ver. Geogr. Statistik 57/59, 1896, 105. 19 A. Rehbaum, Ein gelehrter Diplomat. Familie Bunsen und ihr berühmtestes Mitglied Christian Carl Josias. In: Hessische Heimat aus Natur und Geschichte Nr.26, 1996. 20 Ausführliche Liste bei Mertens. 21 G. Flaubert, A. Brehm, Th. v. Heuglin (1824–1876) österreichischer Konsul nach dem Darmstädter Konstantin Reitz, mit dem zusammen er 1853 an den T’anasee reiste. 22 R. Mertens, Eduard Rüppell. Leben und Werk eines Forschungsreisenden, Frankfurt 1949; F. Berger, Fernweh und Heimatliebe. Die Schenkungen des Forschungsreisenden Eduard Rüppell (1794–1884). In: Frankfurter Sammler und Stifter (=Schriften des Historischen Museums Frankfurt am Main. Bd.32). Henrich, Frankfurt 2012, 155–168. Frankfurter Personenlexikon (mit Bildern aus dem Institut für Stadtgeschichte).
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Vom Veterinär zum Kriegsminister Otto Philipp Braun aus Kassel
Otto Philipp Braun
Dem siebenten Kind eines Kasseler Hofsattlers und Wagenfabrikanten war nicht an der Wiege gesungen worden, dass eines Tages die deutsche Schule in La Paz „Marschall Braun“ heißen würde und die südamerikanischen Staaten Kolumbien, Venezuela1, Ecuador, Peru und Bolivien2 ihn in ihren Geschichtsbüchern erwähnen.3 Die Familie lässt sich bis ins 14. Jahrhundert in Fritzlar nachweisen4 und hatte im 18. Jahrhun-
dert eng mit dem Hof zu tun. Mehrere Verwandte waren künstlerisch bekannt: der Großvater mütterlicherseits als Bildhauer; Daniel Franke, Hersteller des Hessendenkmals; der Hofkupferschmied Otto Philipp Küper, der den Herkules goss. Mit noch nicht einmal sechzehn Jahren trat der am 13. Dezember 1798 geborene Otto Philipp 1814 als jüngster Freiwilliger in das Korps der kurhessischen Jäger zu Pferde ein. Für seinen ersten Feldzug gegen Napoleon erhielt der Minderjährige wie alle seine Kollegen von Kurfürst Wilhelm II. eine Kriegsgedenkmedaille.5 Sein Vater notierte, dass er für das Pferd 68 Reichsthaler und die Uniform 72 Thaler bezahlen musste.6 Vom Herbst 1815 bis zum Frühjahr 1818 studierte Braun Tiermedizin in Hannover und Göttingen und schloss mit Diplom ab. Um seine Chancen, bei den Husaren aufgenommen zu werden, zu erhöhen, trainierte er fleißig in den Reitschulen. Doch diese Hoffnung zerschlug sich, weil dazu ein Zuschuss des Elternhauses von 600–700 Talern sowie eine monatliche Unterstützung nötig gewesen wären.7 Die Berichte eines in den USA lebenden, auf Heimatbesuch befindlichen Freundes der Familie weckten in ihm den Wunsch zur Auswande-
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rung. Im Sommer 1818 verließ der 20-Jährige mit seinem Erbteil von 1877 Talern Europa. Der erste Brief lässt die gesunkene Hoffnung ahnen: „Was meine zukünftige Praxis betrifft, so verspreche ich mir nicht viel, die gemeine und vornehme Klasse von Menschen curieren ihre Pferde größtentheils selbst; es sind hier schon einige Thierärzte von England, die aber aus Mangel an Praxis schon im Jail gesessen haben! Was das Zureiten der Pferde und das Unterrichtgeben in demselben anbetrifft, da wird es noch schwerer halten, indem die Arroganz so schrecklich stark ist, daß sie glauben, daß keiner besser reiten könnte als sie.“ Nur ein halbes Jahr lang bewies er in Philadelphia Geduld, um als Tierarzt oder Reitlehrer Fuß zu fassen, dann gab er schon auf und ging Mitte 1819 nach Haiti.
Sein Neffe erwähnt am 29. April 1891 in einem Nachruf der Allgemeinen Zeitung, dass etliche Kasseler Familien Angehörige auf der Insel hatten.8 Otto schreibt nach Hause von mehreren Erdbeben und Sonnenstichen, den Haifischen, die das Baden unmöglich machten, und dass er dem König unaufgefordert einen Entwurf für ein Reithaus schickte. König Henri I. regierte den nördlichen Teil der Insel,9 nahm Ottos Plan zwar an und begann mit den Bauarbeiten, schloss aber weder einen Arbeitsvertrag ab noch erstattete er Auslagen. Daraus resultierte Ärger. Die beabsichtigte Entlohnung der endlich angebotenen Stelle von 1200 spanischen Dollars jährlich lehnte Braun ab und verlangte 3000, sehr
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mutig für einen jungen Mann ohne Berufserfahrung. Er argumentierte ganz modern, dass er sich absichern müsse, denn in wenigen Jahren könne seine Gesundheit angegriffen sein oder ein Unfall seiner Tätigkeit ein Ende setzen, und dann wäre nicht mit einer Pension zu rechnen. Die Regierung ließ sich darauf nicht ein. In deutscher Gesellschaft begab er sich auf ein kolumbianisches Kriegsschiff mit Ziel Caracas, das 1812 von einem Erdbeben zerstört worden war.10 Von den 20000 Toten waren viele beim Gründonnerstagsgottesdienst erschlagen worden. „Meine jugendlichen Streiche sind vorüber“, versichert er den Eltern,11 die vier Jahre auf weitere Nachrichten warteten. Zu diesem Zeitpunkt lag ihm der Söldnerberuf genauso fern wie der Gedanke an Freiheitskampf, entgegen manchem Biografen, sondern er versuchte, zunächst als Pferdehändler und Veterinär Fuß zu fassen. Als er im Heer angestellt war, verriet er 1825 beiläufig : „Übrigens darf ich mir schmeicheln, daß das von der lieben Mutter so oft gesagte Phlegma ganz und gar in einer unermüdeten Thätigkeit verwandelt worden ist, auch habe ich weiter keinen großen Fehler für meinen lieben Vater, als daß ich rauche; das Spielen hat ganz und gar seinen Reitz für mich verlohren ... mein monatlicher Gehalt als Obrist besteht aus 280 spanischen oder 400 hessischen Thalern, meine Garderobe und Equipage ist ziemlich gut und hat mir 3000 spanische Thaler gekostet, und würde übrigens mehr ersparen, wenn nicht mein glorreicher Dienst mich in große Unkosten täglich versetzte und einen ehrlichen teutschen Bedienten hätte; außerdem habe ich 6 von den schönsten Pferden und 12 schöne Maulesel.“ Von seinem neuen Arbeitgeber wird er vielleicht schon in Deutschland gelesen haben. Simon Bolivar spielte in den Zeitungen eine Nebenrolle, denn der Freiheitskampf gegen Napoleon beschäftigte die Gemüter weit mehr. Außerdem waren die Neuigkeiten aus dem spanischen Amerika widersprüchlich und verwirrend. Die Erhebungen gegen die spanische Herrschaft in anderen Erdteilen stießen hier zwar auf Wohlwollen, die Behörden legten keinen Wert darauf, exotische Rebellen zu beherbergen. Berichten von Reisenden fehlte die Objektivität. Deshalb waren die Kenntnisse über den gebürtigen Venezolaner lückenhaft.12 Man wusste, er stammte aus wohlhabender Familie und
war als 15-jährige Waise 1798 vom Vormund zur Ausbildung nach Spanien geschickt worden, wo er auch Zugang zum Hof hatte. In Paris traf er mit dem mehrfach ausgezeichneten Alexander v. Humboldt zusammen, der dort seinen Amerikaaufenthalt auswertete und gefeierter Held der Salons war.13 Als Simon 1807 über Hamburg und die USA nach Venezuela zurückkehrte, musste er von den Zielen des Revolutionärs Francisco de Miranda zumindest gehört haben, einem Mann, der 1788 Deutschland inkognito – aber unter Beobachtung der Behörden und verfolgt von spanischen Gesandten – durchquert hatte. Dabei war er seiner Verhaftung knapp entgangen und hatte vergeblich unter französischen Jakobinern, englischen Freimaurern und sogar am Hof der russischen Zarin um Unterstützung geworben.14 Mit diesem Mann schloss sich Bolivar zusammen und reiste 1810 als Verhandlungsführer im Auftrag einer Offiziersvereinigung nach London, ein letzter Versuch. Der Zeitpunkt war ungünstig, denn England brauchte Spaniens Hilfe, um Napoleon niederzuringen. Am 5. Juli 1811 hatte der Kongress in Venezuela die Unabhängigkeit von Spanien erklärt.15 Die eilig herbeigeführten spanischen Truppen konnten die Patrioten 1812 besiegen, Miranda wurde gefangen und starb 1816 im Gefängnis Cadiz. Bolivar flüchtete nach Curaçao und reorganisierte die geschlagene Armee. 1813 errang er die höchste zivile Gewalt in Caracas mit diktatorischen Vollmachten. Auch diesen zweiten Versuch, eine unabhängige Republik Venezuela zu errichten, vereitelte Spanien. Bolivar flüchtete nach Cartagena, während die Reste des Heeres als Guerilla weiterkämpften. Mittlerweile verhinderten rivalisierende Führungsgruppen ein einheitliches Vorgehen. Die Beendigung der napoleonischen Kriege in Europa gab den spanischen Truppen die Möglichkeit, sich jetzt voll auf die abtrünnigen Kolonien zu konzentrieren. Ein starkes Expeditionskorps landete im April 1815 in Südamerika, und deutsche Zeitungen berichteten, Bolivar sei daraufhin nach Jamaika ausgereist und die Lage habe sich beruhigt. Im nächsten Jahr führte der Obergeneral der Republiken von Venezuela und Neugranada eine erfolgreiche Offensive durch, die die Spanier stark beunruhigte. Sein Heer hatte er mit in Europa rekrutierten Söldnern16 verstärkt, die nach dem Ende der napoleonischen
Kriege ausgemustert oder wegen der folgenden Wirtschaftsflaute arbeitslos waren. Er versprach jedem Offizier den nächsthöheren Rang und baldige Beförderung mit einer Besoldung, die ein Drittel höher war als in England: nach fünf Jahren 500 spanische Taler und 50 Äcker nebst Haus und Hof oder freien Transport in die Heimat.17 Eine zusätzliche Entschädigung winkte im Falle von Invalidität. Um ihre Ausstattung und Bewaffnung mussten sie sich allerdings zur Freude der nach Friedensschluss auf vollen Lagern sitzenden europäischen Händler selbst kümmern. In Hamburg wurden massenhaft alte Büchsen für den Freiheitskampf instand gesetzt. Ein Schiff scheiterte vor der französischen Küste und riss 184 Soldaten in den Tod. Von den übrigen Schiffen desertierten viele kurz nach Ankunft oder starben an Gelbfieber. Die Zahl der ausländischen Söldner wird mit 4000 bis 9000 angegeben.18 Angeblich sollen nur 150 die Unabhängigkeit erlebt haben.19 Viele Freiwillige fanden sich in anderen als den erträumten Umständen: statt Eldorado Lehmbaracken, verwahrloste Felder, unverdauliches Essen, Krankheit, wertloses Geld und Busch. Was Wunder, dass die Abenteurer und zwielichtigen Gestalten unter ihnen einen naheliegenden Ausweg suchten. Offiziere, die plötzlich und unverdient einen hohen Rang erhielten, zeigten sich oft unfähig, ihre Stellung auszufüllen. „Die Anmaßung, der Mangel an gutem Willen und der Alkoholismus überstiegen jede Vorstellung. Sie betranken sich, bis sie wie tot in den Straßen liegen blieben, und die Stadt einem Schlachtfeld glich.“20 Angeblich nur mit Hilfe der Deutschen dämmte der Heerführer die Plünderungen und Meutereien in den eigenen Reihen ein. Der Wehrsold wurde nach Verdienst aus dem beschlagnahmten Besitz der Verlierer zugeteilt. Braun schreibt 1823 von einem Gehalt von 150 spanischen Talern monatlich, die zu zwei Dritteln ausgezahlt wurden, den Rest sollte jeder erhalten, sobald die Republik in geregelte Verhältnisse gekommen wäre. Von Ende 1816 bis 1820 verwickelte Bolivar die spanischen Truppen in schwere Kämpfe. Nach der Schlacht bei Boyaca vereinigte Simon das von ihm befreite Nueva Granada mit Venezuela zur Republik Kolumbien, der sich 1822 auch die Gebiete der späteren Republik Ecuador anschlossen. Seit Juni 1820 gehörte Braun der Armee Simon Bolivars als Leutnant an und beteiligte sich unter
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dem General Mariano Montilla an der Belagerung von Cartagena.21 Als Rittmeister der Husaren diente er unter dem kolumbianischen Vizepräsidenten Francisco de Paula Santander. Nach der Schlacht von Pichincha 1822 wurde er zum Major befördert und übernahm die Führung einer Schwadron berittener Grenadiere, der Leibwache Bolivars.
Simon Bolivar
Schon hatte sich sein Deutsch im Vergleich zu seiner geschliffenen Ausdrucksweise zuvor merklich verschlechtert. „Nach der Kampagne von Peru werde ich um Urlaub nachsuchen, um mich nach dem Land zu sehnen, wo sie geliebteste Eltern sind, und wenn es nur für ein Jahr wäre, denn ich kann es nicht länger aushalten ...“ Die dafür gesparten 2000 Taler wurden ihm allerdings gestohlen. Außerdem überhäufte man ihn ständig mit Ehren und Belohnungen und ein Krieg gegen Brasilien drohte. Er trug seiner Mutter auf, innerhalb der nächsten achtzehn Monate eine Frau für ihn zu suchen, denn „in diesem Lande obgleich es außerordentlich schöne und liebliche Damenzimmer giebt, verheyrathe ich mich nicht.“22 Besonders zeichnete er sich in der letzten Schlacht von Ayacucho aus, von der er seinen Eltern schrieb: „Ich bin in dieser Schlacht außerordentlich glücklich gewesen, denn obgleich mir fünf Pferde unter dem Leib totgeschossen wurden, blieb ich unverwundet.“23 Innerhalb von drei Tagen wurde er erst zum Oberstleutnant und am
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9. September 1825 zum Oberst und Kommandeur des Regiments der Grenadiere zu Pferde ernannt. Das Geschenk betrug 10000 spanischen Taler und den „Orden Befreier von Venezuela“. Diese zwei Schlachten beendeten die spanische Herrschaft in Peru und in Alto-Peru, das sich nach Bolivar Bolivien nannte und ihn genauso wie Kolumbien und Peru zum ersten Präsidenten auf Lebenszeit wählte.24 In dem kleinbürgerlichen Kassel nahmen solche Meldungen mit Jahren Verspätung das Interesse der Bürgerschaft in Anspruch. In den Kaffeehäusern und Plätzen wurde tagelang von nichts anderem gesprochen, wenn der Vater Braun wieder den neuesten Brief auf dem Königsplatz teilnahmsvollen Mitbürgern verlesen hatte. Ottos Neffe berichtet, dass sogar der Erbprinz Friedrich Wilhelm I. hinzutrat und geruhte, sich nach dessen „ungeratenem Sohn“ zu erkundigen, der gegen die gottgewollte spanische Monarchie kämpfe. Mit Beendigung des Unabhängigkeitskriegs in Südamerika galt es nun, die befreiten Staaten als Republiken zu stabilisieren, die Verwaltung zu strukturieren und eventuell zu einer Union zusammenzuschließen. Von Urlaub war keine Rede mehr. In Deutschland bewunderten die Publizisten die republikanischdemokratischen Einrichtungen der jungen Staaten und Bolivars strikte Ablehnung der Monarchie, nur die streng verfolgte Zensur bremste die öffentlich geäußerter Begeisterung, die Verständnis aufbrachte für zeitlich befristete Diktaturen, da sie die einzige Möglichkeit schienen, der zunehmend bedrohlichen Anarchie zu begegnen. Oberst Braun blieb in Bolivien zusammen mit 2000 kolumbianischen Soldaten und widmete sich dem Aufbau der Streitkräfte, wobei er sich nach preußischem Vorbild richtete. Dazu übersetzte er ein Exerzierreglement Friedrich d. Großen ins Spanische.25 Die preußischen Tugenden wurden vonBolivar geschätzt und seinen Landsleuten als Vorbild empfohlen. Braun nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es galt gegenüber dem Präsidenten des peruanischen Regierungsrates die korrupte Verwaltung Perus zu kritisieren und mit der Vorgehensweise Friedrichs II. zu vergleichen. Ende 1826 desertierten 150 seiner eigenen Soldaten, was zu einer kriegsgerichtlichen Untersuchung Anlass gab. Ein Jahr später verweigerte eines seiner früheren Bataillone den Gehorsam. Ursache für die lokal be-
grenzten Meutereien war z. T. die unzureichende Versorgung. Diesen Aufruhr legte er selber bei.26 Intrigen und Rivalitäten der Elite untereinander, die sich zu zwischenstaatlichen Konflikten und Kriegen ausweiteten, komplizierten den Reifeprozess, bei dem Braun stets auf der Seite Bolivars stand, ohne jedoch persönlich mit ihm befreundet zu sein, wie manche Biografen behaupteten. Die Betrogenen der Unabhängigkeit waren die Sklaven. Ihnen winkte Freiheit höchstens nach überlebtem Heeresdienst.27 Bolivar hatte bewusst sowohl Schwarze in die Armee integriert als auch bei ehemaligen Sklaven in Haiti und Jamaika Hilfe gesucht und erhalten. Als Gegenleistung wurde 1821 aber nur der Handel mit Sklaven verboten, und ihre Kinder sollten automatisch frei sein, jedoch mit der Auflage, bis zum 18. Lebensjahr für den Besitzer der Mutter zu arbeiten. In Caracas waren 57 Prozent der Bevölkerung schwarz, in Carabobo 44,4 Prozent. Zwangsarbeit war abgeschafft, Lohnarbeit unattraktiv, auf den Plantagen fehlten die Arbeiter.28 In den kolonialen Vizekönigreichen bestand die Elite aus in Spanien geborenen Männern, die die guten Posten in der Verwaltung besetzten. Die in Südamerika geborenen Spanier wurden davon ausgeschlossen, Sklaven und Indios bildeten die Unterschicht.29 1828 besiegte Braun den Rebellengeneral Agustin Gamarra und wurde Brigadegeneral von Bolivien, militärischer Befehlshaber und Präfekt der bolivianischen Departements La Paz und Cochabamba.30 Im Jahr zuvor hatte er bei einer befreundeten Familie erstmals von der 15-jährigen Justa Germana de Revero y Abril gehört. Zwei Jahre lang korrespondierte er mit ihren Eltern, tauschte Portraits aus, dann ließ er sich mit der spanischstämmigen Peruanerin vermählen – per Ferntrauung – weil ihn schon wieder politische Unruhen in die Schlacht riefen. Erst nachdem er mit 4000 Mann bei Tarqui die peruanische Übermacht geschlagen und dafür zum Brigadegeneral von Kolumbien ernannt worden war, reiste er nach Arequipa und sah zwei Jahre nach der Hochzeit zum ersten Mal seine Frau. Das Projekt eines Groß-Kolumbien, das so groß wie ein Viertel Europas gewesen wäre, scheiterte 1830, als mit Ausnahme Panamas jedes Territorium nach einem eigenständigen Staat strebte.31 Die mittlere Bevölkerungsdichte betrug Ende des 18. Jahrhunderts 0,9 Einwohner pro qkm! Statt
sich verstärkt um den inneren Zusammenhalt der Konföderation zu kümmern, trieb es Bolivars Sendungsbewusstsein mit 8000 Soldaten zur Befreiung Perus von den Royalisten. Am 17. Dezember 1830 starb Bolivar an Tuberkulose, Braun trat in den bolivianischen Staatsdienst ein und siedelte in La Paz und Cochabamba. Der Präsident Andres de Santa Cruz ernannte ihn 1835 zum Kriegsminister und beförderte ihn im folgenden Jahr zum Divisionsgeneral. Als solcher kämpfte er in den permanenten Auseinandersetzungen zwischen Bolivien und Peru, Gelegenheit für besondere Auszeichnungen in der Schlacht von Yanacocha (1835) und Socabaya (1836). Santa Cruz bildete eine Konföderation aus Peru und Bolivien, was die Argentinier und Chilenen auf den Plan rief. Letztlich ging es um die Vorherrschaft an der Westküste Lateinamerikas.32 Für Familienleben blieb kaum Zeit, nach jahrelangem Kränkeln starb seine Frau nach der Geburt des dritten Kindes. Selbst die Todesnachricht erhielt er fern von zu Hause beim Heer. Der bewaffnete Zusammenstoß mit den Argentiniern am Berg Montenegro in der Provinz Jujuy bescherte Braun den Höhepunkt seiner Karriere und seinen Gegnern eine vernichtende Niederlage. Braun wurde Großmarschall von Montenegro. Nun griff Chile zu den Waffen und besiegte Santa Cruz, der daraufhin ins Exil ging. Die Konföderation von Peru und Bolivien löste sich auf. Der Schweizer Naturforscher Johann Jakob von Tschudi, der sich gerade im Lande aufhielt, schrieb darüber: „Vergebens suchte der Militärgouverneur dieses Landes, der tapfere General Braun, Ordnung und Ruhe aufrecht zu erhalten; er mußte unterliegen ... Der Fall von Santa Cruz hatte auch den von Braun zur Folge. Durch schändlichen Verrath wurde dieser General bei seiner Anwesenheit in La Paz des Nachts überfallen, aus seinem Bette gerissen, auf das Grausamste mißhandelt und in einen Kerker geworfen. Der Nachfolger strich ihn von der bolivianischen Rangliste und wies ihn als Agent der Konföderation außer Landes.“33 Er nahm seine beiden Söhne mit,34 seine Tochter ließ er bei der Schwiegermutter. Über London erreichte er Deutschland 1840 und heiratete wenige Monate später Emma Barensfeld aus Hanau, mit der er fünf Töchter bekommen sollte. Sein Ansehen war immer noch so groß, dass er mühelos in Paris eine Audienz bei Staatspräsident
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Groß-Kolumbien und Neu-Granada 1824
Louis Napoleon erlangte, um sich für seinen Neffen zu verwenden, der durch die Freundschaft mit dem Revolutionär Carl Schurz von der Ausweisung bedroht war.35 Er verbrachte den Rest seiner Tage in Kassel. Am Geburtstag Bolivars, dem 24. Juli 1869, starb er in seinem Wildunger Landhaus36 und hinterließ eine Witwe, acht Kinder und sieben Enkel. Die Hessische Morgenpost meldet am 27. Juli 1869: „Heute Nachmittag bewegte sich ein unabsehbarer Leichenzug, wohl über 40 Wagen zum Friedhof: man beerdigte den früheren peru-bolivianischen Feldmarschall Braun.“ Das Familiengrab auf dem Kasseler Hauptfriedhof wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, eingeebnet und durch Spenden der Deutschen Schule in La Paz 1961 mit Gedenktafel versehen. Die wirklich letzte Ruhe trat erst ein, nachdem 1969 unter Beteiligung der Bundeswehr, Vertretern des Auswärtigen Amts und des bolivianischen Botschafters dem Platz ein Topf voll Erde
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entnommen und in die Basilika San Francisco in La Paz überführt worden war.37 Otto Philipp Braun GROSSMARSCHALL VON MONTENEGRO DIVISIONSGENERAL DER BEFREIUNGSHEERE VON BOLIVIEN, KOLUMBIEN UND PERU GEB 13.12.1798 GEST. 24.7.1869 IN DANKBARKEIT DEUTSCHE SCHULE MARISCAL BRAUN LA PAZ BOLIVIEN Dieser Familienzweig trug den Namenszusatz Braun von Montenegro. Die Nachkommen des Hofsattlers stiegen in adlige Kreise auf. Theodor Bock heiratete nacheinander zwei Schwestern Braun, eine Tochter aus erster Ehe heiratete in die Familie der Stiefmutter Barensfeld.38
1 Braun wurde ins nationale Heiligtum Venezuelas, das Pantheon in Caracas aufgenommen. R. Walter, German and US American Commercial Relations with Venezuela. In: Veröff.d. Ibero-Amerikanischen Inst. Preuß. Kulturbesitz 33, 1989, 450. 2 W. Noelle, La vida de Otto Philipp Braun, La Paz 1969; J. Diaz, El Gran Mariscal de Montenegro, La Paz 1945. 3 Er ist Taxifahrern in Bolivien bekannter als in Kassel. R. Kiera, Der große Sohn der Stadt Kassel?: Der Großmarschall Otto Philipp Braun als Symbol lokaler Geschichtspolitik, Hess. Forschungen zur Geschichtl. Landes- u. Volkskunde Bd.49, Kassel 2009; ders. Die Rezeptionsgeschichte Otto Philipp Brauns: ein Querschnitt durch 180 Jahre Kasseler Kultur, Münster 2005; ders. In: Hessische Allgemeine 13.12.2008; nach M. Michaelis-Braun das jüngste Kind, aber Bruder Julius wurde zehn Jahre später geboren. R. Kiera, Otto Philipp Braun (1798–1869). Eine transatlantische Biographie. Wien/Köln/Weimar 2014; Romane: O. Grube, Ein Leben für die Freiheit. Das abenteuerliche Schicksal des Großmarschalls Otto Philipp Braun. Kassel 1939; K. Martin, Der Unbesiegte Soldat. Otto Philipp Braun der Großmarschall vom Schwarzen Berge. Ein deutsches Heldenleben in Südamerika. Nürnberg 1942. 4 H. J. Bock in: NDB Bd.2, 1955. 5 R. Kiera, 2009, 38. 6 M. Michaelis-Braun, Otto Philipp Braun – Großmarschall von Montenegro, Berlin/Leipzig 1914, 224 Anm. 1. 7 Mitt. der Verein f. hess. Gesch. u. Ldkde. Jg. 1914/15, Geschichtswissenschaftliche Unterhaltungs (Herren)Abende, 24. 8 Angeblich wären sie bei einem Massaker ermordet worden, eine Bemerkung, die zumindest nicht in den Briefen Brauns erwähnt wird. M. Michaelis-Braun 1914, 220. 9 Er ist bis heute der einzige König eines selbständigen Staates dieser Region nach Gründung der Vereinigten Staaten. Henri Christophe wurde als Sklave auf Grenada geboren und kam früh nach Saint Domingue, wo er in einem Hotelrestaurant arbeitete und die Freiheit gewann. Er beteiligte sich an der Haitianischen Revolution gegen die Franzosen 1793 und arbeitete sich bis 1802 zum Brigadegeneral empor. 10 A. v. Humboldt, Südamerikanische Reise. Ideen über Ansichten der Natur, Berlin 1943, 181f. 11 M. Michaelis-Braun 1914, 235. 12 Politisches Journal Jg.1815, Bd.2, 619–627. 13 Die Forschung hält es für möglich, dass er Bolivars Lebensweg in bestimmte Richtung bestärkte. G. Kahle, Otto Philipp Braun. In: Simon Bolivar und die Deutschen, Berlin 1980, 45ff. 14 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien: Hamburg K 15. 15 Das Land war politisch Bestandteil des 1535 gebildeten Vizekönigreichs Neuspanien mit seiner Hauptstadt Mexiko. 1777 wurde die Statthalterschaft von Venezuela gegründet. Nach weitgehender Vernichtung der einheimischen Bevölkerung wurde das Land durch die Kultur der importierten Sklaven geprägt. 16 Rekrutierungsbüros waren zuerst in Helgoland, dann Brüssel. Hamburg, Ritzebüttel bei Cuxhaven. 17 F. Baumgarten, Hamburg und die lateinamerikanische Emanzipation. In: Ibero-amerikanische Studien. Bd.5, Hamburg 1937, 167. 18 Mehr als die Hälfte Engländer und Iren und 300 Deutsche. 19 A. Hasbrouck, Foreign Legionaries in the Liberation of Spanish South America, New York 1928, 388. 20 G. Masur, Simon Bolivar und die Befreiung Südamerikas, Konstanz 1949, 327. 21 Er war nicht der erste Deutsche in diesem Gebiet. Im 16. Jahrhundert versuchten die Augsburger Welser eine Besiedlung im Auftrag der Spanier. O. Bürger, Venezuela. Ein Führer durch das Land und seine Wirtschaft, Leipzig 1922, 66ff.; D. Felden, Über die Kordilleren bis Bogota. Die Reisen der Welser in Venezuela, Gotha 1997. 22 Brief vom 9. 9.1825. 23 O. Grube, Otto Philipp Braun. Divisions-General der Heere von Peru und Bolivien, Groß-Marschall von Montenegro. Le bensbild eines Deutschen. In: Ibero-Amerikanisches Archiv Jg.12, Berlin und Bonn 1938/9, 375. 24 Die Spanier eroberten ab 1532 Peru und machten es zum Vizekönigreich Peru, im 18. Jahrhundert verkleinert durch die Ausgliederung der Vizekönigreiche Neugranada und La Plata. Ein Aufstand 1780 unter Führung José Gabriel Condorcanqui, genannt Tupac Amaru II. wurde niedergeschlagen. 25 Hat sich in seinem Nachlass erhalten zusammen mit mehr als tausend Briefen. 26 Als die Spanier im 16. Jahrhundert Bolivien eroberten, wurde es Teil des Vizekönigreichs Peru und später Teil des Vizekönigreichs Rio de la Plata. 27 Handbuch der Geschichte 1992, 231; H. Fröschle, Die Deutschen in Lateinamerika. Schicksal und Leistung, 1979, 147ff. 28 In Chile gab es nur Sklaven als Hausgehilfen, deshalb griff die Freilassung dort schon 1823, in Kolumbien 1850, Venezuela und Peru 1854. 29 O. Bürger, Kolumbien. Ein Betätigungsfeld f. Handel und Industrie, Leipzig 1922. 30 O. Grube, Ein Leben für die Freiheit, Das abenteuerliche Schicksal des Großmarschalls Otto Philipp Braun, Kassel 1939. 31 Handbuch der Geschichte Lateinamerikas. W. L. Bernecker u. a. (Hrsg.) Bd.2 Lateinamerika von 1760 bis 1900, Stuttgart 1992. 32 König, Geschichte Lateinamerikas, 2006, 422f. 33 Tschudi, Peru. Reiseskizzen aus den Jahren 1838–1842 Bd.1, St. Gallen 1846. 34 Sohn Jose Manuel *1832 wurde bolivianischer Gesandter in Peru. 35 R. Weltrich, Otto Braun, 1904, 484. 36 G. Kahle 1980. 37 Ausführliche Beschreibung bei R. Kiera, 2009, 104ff. 38 Frdl. Auskunft Gerda v. Pawel-Rammingen, deren Mann richtete die Feier zum 100. Todestag des Großmarschalls aus. R. Kiera, Otto Philipp Braun (1798–1869): Eine transatlantische Biographie (Lateinamerikanische Forschungen, Bd.44)2014.
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Glückliches Asyl in Ägypten Der Architekt Friedrich Heßemer Nach alten Urkunden lässt sich die Familie bis ins 14. und 15. Jahrhundert ihm mittleren Rheingebiet zurückverfolgen. Sobald wir nähere Auskünfte haben, tritt sie in Königstädten im Kreis GroßGerau in Erscheinung. Mit Johann Bernhard, dem Vater von Johann Valentin, wechselt der Zweig nach Darmstadt, wo der Sohn Oberbürgermeister wird und fünf Kinder in die Welt setzt. Eines davon wurde der Vater von Fritz Max, wie man ihn rief.
Friedrich Maximilian Heßemer
Der am 24. Februar 1800 in Darmstadt geborene Friedrich verlor im Alter von acht Jahren seine Mutter.1 Kein Wunder, dass er als melancholisches Kind beschrieben wird. Sein Vater, der erste mit dem Bauwesen beschäftigte Familienangehörige, verdiente seinen Lebensunterhalt als Architekt im Dienste der hessischen Regierung. Drei Jahre nach dem Tod der ersten Frau heiratete er ein zweites Mal. Friedrich schloss in Darmstadt die Schule ab. Da man ihn nicht für die Universität geeignet hielt, wählte der Vater für ihn die militärische Laufbahn. 1815 wurde er Kadett im hessischen Artilleriekorps.2 Das war wahrscheinlich für den
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sensiblen jungen Mann nicht der rechte Beruf. Zu seinem Glück fanden sich Mittel und Wege, dem schlimmsten Drill auszuweichen.3 Von 1817 bis 1819 wurde er freigestellt, um in Gießen Vorlesungen zur Mathematik zu besuchen, die der Abrundung seiner militärischen Ausbildung dienen sollten. In dieser Zeit soll er Gedichte geschrieben haben. Seine Abneigung gegen die ganze Karriere war nach Ablauf dieser Phase allerdings so stark, dass er um seine endgültige Entlassung bat. Bei seinem Onkel Georg Moller, Hessischer Baudirektor, dem er beim Bau der katholischen Kirche in Darmstadt zur Hand ging, lernte er die Theorie und Praxis der Architektur von der Pike auf. Zu dieser Zeit gab es noch keine Technischen Hochschulen oder Fachhochschulen. Trotz mancher Meinungsunterschiede mit seinem Onkel scheint er die Aufgabe zu aller Zufriedenheit ausgeführt zu haben, sonst wäre ihm wohl kaum 1824 das Amt des Oberbaukonducteur von Oberhessen angetragen worden. In Gießen bestand ab 1827 bei über 400 Projekten seine Aufgabe in der Instandhaltung und Planung öffentlicher Gebäude. Im Städel findet sich eine Sammlung der Bauzeichnungen, die eine zunehmende Geschicklichkeit beweisen. Häufig musste er den Ort wechseln, die Aufträge waren für den Anfänger vielfältig, boten ihm finanzielle Unabhängigkeit. Trotz dieser abwechslungsreichen Tätigkeit entstand nach ein paar Jahren der Wunsch, aus dem täglichen Trott der Bürokratie auszubrechen. Um andererseits die Vergünstigungen des Staatsdienstes nicht zu verlieren, beantragte er ganz offiziell beim hessischen Finanzministerium eine zweijährige Bildungsreise nach Italien. Durch diese Vorsorge beruhigte er seinen Vater, auf dessen Meinung er viel Wert legte. Für einen Architekten war das keineswegs abwegig, konnte er doch bei dieser Gelegenheit Inspiration bei den antiken Bauten finden. Sowohl zu deutschen Künstlern als auch ei der preußischen Gesandtschaft unter Christian Karl Josias Freiherr von Bunsen in Rom sollte er beste Aufnahme finden.4 Zu Fuß brach er in Darmstadt auf. In 551 Briefen schilderte Heßemer seinem
Vater sehr lebhaft die kleinsten Beobachtungen. Bei aller Begeisterung verglich er die neuen Eindrücke mit seinen Vorerfahrungen: Mailand mit seinen 130000 Menschen sei „wie wenn Du in der Meßzeit Frankfurt siehst“. Etliche Kunstzentren am Wege sind in seinen Zeichnungen festgehalten. In Rom besorgte ihm der Darmstädter Maler Heinrich Schilbach eine Wohnung.5 Entscheidend für den weiteren Lebensweg wurde dort unter anderem die Freundschaft zu August Kestner.6
Heßemer, Perugia
Dieser setzte alle Hebel in Bewegung, um durch Intervention seines Bruders Theodor einen Lehrstuhl für Architektur am Städelschen Kunstinstitut zu ergattern. Sobald er zurückkomme aus Italien, versicherte man ihm Juli 1829, könne er seine Stelle antreten. Mit dem neuen Freundeskreis besuchte er die Umgebung, erlebte diverse Festtage und genoss die römische Hinterlassenschaft. Auch Krankheiten suchten ihn heim und versetzten ihn in Angst, denn die Pocken waren an der Tagesordnung, und die Impfung schützte nicht gänzlich vor der Ansteckung. „Mit der wärmeren Jahreszeit kommen nun auch schon die schrecklichen Insecten, Flöhe und dergleichen, die sich an meinem Blut ergötzen, es ist eine schändliche Qual, von diesen Thieren heimgesucht zu werden, die man schaarenweise auf den Straßen fängt, die Italiener sind ganz vertraut mit ihnen und so gleichgültig dagegen, dass ich staune, ich
bin übrigens, wie ich es erst jetzt bemerke, ganz erstaunlich empfindlich und bei weitem mehr, als es der Großherzogliche Conducteur Sonnemann jemals auf dem Bureau war, wenn er mit der eifrigsten Hitze in Strumpf, Stiefel und Hosen einen deutschen Floh verfolgte, den ihm mein Hund abgegeben hatte, die italienischen stechen dagegen, lieber Gott, es ist gar kein Vergleich.“ Sein Urteil über die Touristen im Allgemeinen wandelte sich mit der Dauer des Aufenthalts. Zu Beginn der Reise regte er sich über oberflächliche Engländer auf, die die Merkwürdigkeiten aus mangelnder Vorbildung angaffen, ohne etwas dabei zu denken oder sich Zeit zum Erfassen zu nehmen und dann weiter zum nächsten fahren, die Deutschen gingen ihm allmählich in Rom auf die Nerven, „weil sie überall etwas empfinden wollen, das Herz mit Gewalt vom Schauer der Vergangenheit ergriffen sein muss, bevor sie zufrieden sind.“ Er war in Rom angekommen in der Annahme, es sei abgesehen von Neapel und Vesuv der südlichste Punkt seiner Reise. Doch wie das Leben so spielt, es sollte anders kommen und glücklicherweise legten ihm die Verantwortlichen keine Steine in den Weg. Er selbst hatte wohl das Gefühl eines Aufbruchs ins Dunkle, Unbekannte, als er für die Weiterreise nach Sizilien und Malta rüstete. Zuerst schrieb er davon seinem Onkel, der den Vater langsam darauf vorbereiten sollte. Seinem Vater versicherte er, seine deutsche Kleinbürgerlichkeit habe er abgelegt. Am 25. Januar malte er sehr wortreich in schillernden Farben die Ängste aus, die seinen pessimistischen Vater bei der Nachricht hinsichtlich der Gefährlichkeit des Unternehmens ergreifen würden und versuchte sie zu zerstreuen. „In Darmstadt ist nun freilich niemand, der dir über dieses Land Aufschluss geben könnte; Reisebeschreibungen wirst du auch nicht lesen, denn ich mache die Reise schneller als du dir aus den vielen Schriften ein Urtheil über die Wahrheit der Aussagen abgeleitet hättest ... Hier in Rom sind unzählige Menschen, die nicht allein in Ägypten waren, sondern auch jedes Jahr ihre Handelsreisen dahin machen.“ Heßemer traf nämlich in der wöchentlichen Runde in der Preußischem Gesandtschaft auf Lord Gally Knight, den reichen „maulwurfsaugigen bizarren“ Sohn einer vornehmen englischen Familie. Da dieser plante, ein Buch über ägyptische Architektur
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Stammbaumausschnitt Heßemer
zu veröffentlichen, kam ihm das Zeichentalent von Heßemer gerade recht. Er schlug dem Architekten vor, ihm eine Reise von mehreren Monaten zu finanzieren, um die entsprechenden Illustrationen anzufertigen, die seine Theorien untermauern sollten. Das Städel gewährte ihm Aufschub für seinen Dienstantritt und Bunsen und Kestner setzten sich sehr für den Vertragsabschluss ein. Lord Knight wollte mit dem Buch darlegen, „dass die romantische Baukunst durch griechische Meister in Constantinopel begründet und von da weiter verbreitet sei, sowohl in die ganze christliche als auch in die sarazenische Baukunst.“ Diese Spur verfolgend suchte er die Erfindung des Spitzbogens im Orient.7 Dementsprechend sollte Friedrich in Kairo und Alexandria den byzantinischen und sarazenischen Stil dokumentieren und besonders Zeichnungen von Spitzbögen und Grundrissen anfertigen. Obwohl Heßemer sich von der Theorie distanzierte, machte ihn der Auftrag ausgesprochen glücklich. Besonders beeindruckte ihn die Vorgeschichte seines Auftraggebers, dessen Frau eine Griechin aus Kreta war. Diese Insel gehörte gerade zu Ägypten und befand sich im Kriegszustand. In Zusammenhang damit war die Frau als junges Mädchen von den Türken gefangen genommen, auf dem Sklavenmarkt in Alexandria feilgeboten und von dem Lord gekauft worden.
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Er hatte sie nach England bringen und erziehen lassen, um sie dann zu heiraten. Auf dieser Reise suchte und fand er ihre Eltern und erfuhr, dass ihr Bruder immer noch in der Sklaverei lebte. „Man muss Wind machen, und in diesem Sandlande sind es die Leute zu sehr gewöhnt, Sand in die Augen gestreut zu bekommen, übrigens that es der Consul ohne mein Vorwissen: Der König von Preußen lässt durch mich den Pascha von Ägypten begrüßen und um Schutz für meine Person bitten“, bemerkte er in der Hafenstadt Alexandria. Lustigerweise sollte ihm auch die Mitgliedschaft in der Senckenbergischen Naturforschenden Vereinigung zum Vorteil gereichen, indem er unter anderem auf die Ehrenmitgliedschaft des Paschas im selben Verein hinwies. Der Pascha muss darüber recht erstaunt gewesen sein, denn die Ernennungsurkunde war von dem vorgesehenen Überbringer, dem Forscher Rüppell, aus Scham über die Selbstüberschätzung des gerade gegründeten Vereins und mit Einverständnis des gefragten Ministers Jusuph Boghos nie überreicht worden.8 Während der Wartezeit auf die Reiseerlaubnis nahm er die Sitten und Gebräuche rund um sich wahr: die Feierlichkeiten zu einem Beschneidungsfest, das Leben in den Kaffeehäusern, Musik und Gesänge, Bettelei und Neugier. Mit dem sogenannten vom Pascha gesiegelten Firman
waren alle Ortsvorsteher mit ihrem Leben für das des Reisenden verantwortlich und angewiesen, für kostenlose Unterkunft und Transportmittel zu sorgen, eine unverzichtbare Vergünstigung. So nebenbei entwarf er ein Haus für Konsul Piedmonti. Noch hielten sich etliche der Künstler, die mit dem Entzifferer der Hieroglyphen Champollion9 gereist waren, in Alexandria auf. „Mich wunderte, wie der Mensch in diesen Menschen durch eine solche Reise nicht mehr gebildet war; das ist gewiss, entweder macht man gar keine, oder eine große Schule hier; was man im Leben soll und vernünftig wollen darf, lehrt uns das Leben.“ In Theben überkam ihn der Ärger über Antiquitätensammler: „vor allem Champollion, der hier seiner Eitelkeit schreckliche Opfer gebracht hat; da ist keine Wand, die nicht zu sägen angefangen und dann zerstückelt zertrümmert ist und warum? Diese Schätze nach Paris zu schleppen, wo sie todt liegen und nichts mehr gelten können.“10 Es verschlägt einem den Atem, wenn man liest: „Es bezeichnet den Champollion genug, dass er sagte, man würde hier mit Vorteil eine Papiermühle anlegen, um all die Mumienleinwand aufzubrauchen.“11 Bald lernte er in Kairo den englischen Fregattenkapitän William Henvey kennen, der ihn einlud, auf seiner Barke nach Süden mitzureisen. Für die Mitfahrgelegenheit schenkte Heßemer ihm 14 Zeichnungen, die anderen Kosten teilten sie sich. Nachträglich beurteilte er richtig, welch große Stütze sein zuverlässiger Reisegefährte gewesen war. Er allein wäre vermutlich schon an den Widerspenstigkeiten und Verzögerungstaktiken der Schiffsmannschaft gescheitert. Bis zur Abfahrt streifte er durch die Stadt und schätzte die vorhandene Arbeit nach Jahren. „Auch auf dem Sklavenmarkte bin ich gewesen, auf Binsenmatten saßen die armen Geschöpfe, Menschen als käufliche Gegenstände am Boden herum, besonders waren viele weibliche da, die eigene Art wie sie die Haare in unzählig viele Zöpfchen geflochten haben, erinnert an die alten ägyptischen Statuen. Ihre Kleidung bestand in einem dreifingerbreiten Gürtel der über den Hüften schloss, und der nach unten mit etwa handlangen fransen gewisse Theile bedeckte und auch nicht bedeckte, und wohlgar absichtlich so, weil sie vielfältig nur zur Wollust verkauft werden ... eine Reihe kleiner Buben saß da bis zu 12 Jahren etwa.“
Diener Abdelatif vor der Insel Philae, Aquarell auf Bleistift (Zeichnung Heßemer)
Im Spätsommer 1829 reisten die beiden Männer zum Missfallen der Schiffsbesatzung in zügigem Tempo auf dem Nil bis Philae, wo Friedrich gesundheitlich angeschlagen, nur begleitet von seinen Dienern Abdelatif und Hadgieh drei ausgefüllte Wochen lang die Rückkehr seines Begleiters von Wadi Halfa abwartete. Seine Zeit „in dem glücklichen Asyl“ war in Anspruch genommen mit täglichen Zeichnungen in den Tempeln bei vielerlei Schnupfen und anderen Unpässlichkeiten. Manche Unterbrechung brachten ausländische und einheimische Besucher, Geschichten und Erzählungen der letzteren würzen seine Briefe. Erst auf dem Weg nach Norden unterbrachen sie die Fahrt bei vielen Sehenswürdigkeiten und zu Jagdausflügen in die angrenzende Wüste. „Wir haben Jägerey gemacht auf Krokodile, Gazellen haben aber nur Tauben heimgebracht, die wir verspeist haben.“ Von 30, auf einer Sandbank ruhenden Krokodilen erlegten sie nicht eines. Tell el Amarna, Dendera, Elefantine, Assuan, Edfu, Syene und Kom Ombo faszinierten ihn unter vielen anderen. In Karnak war er „in so großes Staunen verloren, dass [er sich] kaum in eine ruhige Betrachtung zurecht finden konnte. Wie arm steht alles bisher Gesehene dieser Riesengröße des Gedankens und der Ausführung gegenüber und viertausend Jahre stehen nun diese Massen da ...“ In Theben „Laß mich lieber schweigen, statt viele
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unwürdige Worte zu machen ... So hat mich nichts ergriffen! Rom ist schön und groß und jedes Preises voll, aber es ist doch lange kein Theben ... Komm nur einer hierher, er vergisst alles, was er gesehen hat ... Theben hat eine unendliche Bedeutung für mich gewonnen.12“
Heßemer, Ein Frankfurter Baumeister in Ägypten
Im Tal der Könige in Theben besichtigten sie mit Wachskerzen und Trinkwasservorrat das erst zwölf Jahre vorher von Belzoni entdeckte Grab Sethos I. Weder dort noch in Philae hielt sie die Ehrfurcht davon ab, die Denkmäler mit ihren Namenszügen zu verschandeln: „Ich schrieb meinen Namen in den kleinen Tempel, wo ich Ruppell und Acerbi fand; ich hab ihn mit Kohle vorgezeichnet und mein Wachtmann Muhammed in Gemeinschaft mit dem Buben Abdelatif haben ihn in Stein vertieft mittelst eines kleinen Beils.“13 In einem der Gräber in Luxor schrieb er einen Orakelspruch auf den Mund der Isis. Sie besichtigten die Tempel von Qurnah und Medinet Habu und die Königinnengräber. Man stelle sich vor, welches Bild sein unmögliches Verhalten in den Augen bessergestellter Ägypter hervorrufen musste, wenn er in Esna schreibt: „... gegen 100 Leute versammelten sich, als ich an der Moschee zeichnete, meine Korvatsche (Peitsche) von Nilpferdleder hielt sie mir vom Leibe ...“14 In Abydos requiriert er kurzerhand Esel und bemerkt dazu: „Es ist seltsam, was man sich hier Gewaltthätigkeiten erlauben darf und muss um zu seinem Ziel zu gelangen. Wo wir einen Esel fanden, nahmen wir ihn bis zum nächsten Ort von der
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Weide weg oder aus dem Gehöft gleichviel – und zahlten nichts.“ Gegen den Schutzbrief des Paschas können sich die Einheimischen nicht wehren. Friedrich schenkte seine Aufmerksamkeit nicht nur den großen Tempelanlagen, sondern in gleichem Maße auch den Zeugnissen des Handwerkerstandes wie z. B. den vielen Inschriften in Kursivschrift und identifizierten Steinhauerzeichen in den Steinbrüchen von Silsile, wie den Relikten islamischer Zeit. Während seines längeren Aufenthalts in Kairo brach in der Stadt eine Pestepidemie aus. „Die Pest, lieber Vater, erschrick mir nicht, die Pest ist ausgebrochen, hier in Kairo. Noch weiß ich nicht, wohin sich die Sache wenden wird, in der Citadelle beim Militär hat sich die Krankheit gezeigt.“ Die Hoffnung, es sei nur ein blinder Alarm gewesen, wurde bald zunichte und Friedrich wunderte sich über die Gleichgültigkeit der Einheimischen, die auf die Maßnahmen der Regierung vertrauen, obwohl sechs Jahre zuvor über 1700 Menschen täglich daran gestorben waren. Trotzdem machte er seine Besuche und fertigte zahlreiche Portraits seiner ausländischen Zeitgenossen an. Henvey schlug ihm eine Reise nach Jerusalem vor, um die Gefahr der Ansteckung zu mindern, aber Heßemer wollte nach einigen Zweifeln lieber seine Zeichnungen komplettieren, zumal ein solches Ziel bis dahin nie zur Debatte gestanden hatte. Sein Reisekamerad setzte ihn bei seinen Landsleuten ins günstigste Licht: „Sie halten mich alle für ein Genie; für eine kurze Zeit der Bekanntschaft lass ich mir solch eine Täuschung schon gefallen; es ist vielleicht bei keiner Nation so schwer, sich Achtung zu verschaffen und Würdigung, als bei den Engländern, wenn es nun auch durch solch eine Täuschung geschieht, so schadet es nicht, dem Hochmuth gegenüber, und dann dürften sie es ja nur näher untersuchen.15“ Seine Briefe zeugen von einer wachsenden Intoleranz gegenüber den chaotischen Zuständen des Landes: „Ganz Ägypten ist eine rechte Geduldsprobe.“ Andererseits stellt er fest: „Es ist gut, dass ich in Frankfurt angestellt bin, ich käme sonst wohl nie nach Hause ... wer Ägypten nicht sah, der kennt den Menschen nicht, komm einer nur hierher, er vergisst alles andere, was er gesehen hat.“ Wegen der Seuche begleitete ihn die Angst beim Zeichnen in den Straßen. In dieser Zeit schrieb er einen Brief an Prof. Dr. med. Theodor
Kestner, in dem er einerseits von den Erlebnissen seiner Reise schwärmte und im versicherte, wie schwer es ihm fiel, sich von Ägypten loszureißen. „Doch wollte ich alles aufbieten, um der hochverehrlichen Administration des Städelschen Instituts mein Wort zu erfüllen. Ich kannte die Schwierigkeiten früher zu wenig, die sich meinem Unternehmen hier in Ägypten entgegenstellen würden, sonst hätte ich gewiss nicht so bestimmt eine Zeit der Wiederkehr und meines Eintreffens in Frankfurt angegeben.“ Besonders hinderlich war die Abhängigkeit von der orientalischen Mentalität, wenn es um Informationen von den Ältesten der Moscheen zur Geschichte der Gebäude ging. Am 2. Februar 1830 gelang es Walmas, eine Art Geschäftsträger des Paschas, dem er durch Rüppell empfohlen worden war, Heßemer beim Pascha zu einer Audienz zu verhelfen. „Er ist etwa beim Pascha, was Schleiermacher bei unserem Großherzog ist.“ Friedrich durfte sogar auf dem seidenen Kissen Platz nehmen und einen Kaffee mit ihm trinken, während der Pascha seinen Erlebnissen lauschte und erfreut zur Kenntnis nahm, dass ihn die Widmung der Veröffentlichung nichts kosten würde. Heßemer entschied sich allerdings später, sein Werk über die Bauverzierungen lieber Knight zu widmen, der ihm die Reise ermöglicht hatte. Dessen Buch über Spitzbögen ist nie erschienen. Der Pascha erkundigte sich, in welcher Weise er Heßemers Pläne fördern könne. Erst als Muhammed Ali ihm eine Bewachung zur Verfügung stellte, eine Erlaubnis ohne Beispiel bis dahin, gelang die Vollendung auch der Moscheezeichnungen. Bis dahin hatte er sich in muslimischer Kleidung, einem gegabelten Vollbart und Riesenschnauzer unter Lebensgefahr in die Moscheen geschlichen, die für Europäer verschlossen waren.16 Sobald jemand in ihre Nähe kam, unterhielt er sich mit seinem Diener nur Arabisch und imitierte die Betenden. In Triest musste er durch die Quarantäne, eine Geduldsprobe, in die er sich einen Monat lang schicken musste. „Wir wurden mit dem Sprachrohr an Land gerufen, der Lazaretharzt sei da und wolle unsere Pestbeulen visitiren. Wir mussten das Schiff leer lassen und alle mit einem mal vor der bedächtig weisen Gesundheitsbehörde erscheinen ... Dann sah ich die Briefe öffnen, was mit armslangen dünnen Papierscheren geschieht, ohne dass die Briefe selbst berührt werden, wenn sie auseinander gefaltet
sind, werden sie dutzendweise mit einer langen Zange angepackt und über ein dampfqualmendes Loch in einem Feuerherd gehalten.17“ Dadurch verfärbte sich das Papier der Originalbriefe. Einen Tag später: „Vor der Pest habe ich noch nie einen so großen Respekt gehabt, als jetzt hier, wird man doch behandelt und gehandhabt, als ob man schon in den letzten Zügen läge und wie es bis jetzt gegen den Tod und die Pest kein Mittel giebt, so auch keins gegen die Quarantäne.“ Ganz hellsichtig bemerkte er aber, dass der Staat auf die Quarantäne wegen eines elenden Gewinns in Form von Abgaben und Steuern trotz der altmodischen Prozedur nicht verzichten würde. Innerhalb des Quarantänehafens konnten sich die Arretierten immerhin frei bewegen, und Friedrich nutzte den Zwangsaufenthalt zur Ausarbeitung und Fertigstellung seiner Aufzeichnungen. Trotz seiner Reisemüdigkeit besuchte er nochmals seine Freunde in Rom: Bunsen, Wilhelm Ahlborn, Joseph Anton Koch, Philipp Veit, Bertel Thorwaldsen, Graf von Platen, Friedrich Overbeck u. a. und hielt dort zahlreiche öffentliche Vorträge über seine ägyptischen Impressionen. Auf der anschließenden Heimreise besichtigte er einige Städte Oberitaliens. In seiner Arbeit fühlte sich der junge Mann zwar wohl und bald anerkannt im Kollegenkreis, der Großstadt gegenüber blieb er aber isoliert, fremd und schwermütig. „Frankfurt ist ein Seelenlazarett“, schreibt er 1831.18 Das auf seiner Reise empfundene Heimweh verurteilte er nun und begann von neuen Unternehmungen nach China oder dem Orient zu träumen. Seinem Freund Kestner schrieb er: „Deutschland steht nicht als ein erfreuliches Bild vor mir.“ Seine Studenten schätzten ihn bald, weshalb er einen Ruf nach Dresden ablehnte. Im Rahmen seiner Tätigkeit war er verpflichtet, für die dem Städel unterstehenden Gebäude Sorge zu tragen und für die Stadt Neubauten zu entwerfen. Friedrich heiratete 1833 seine Cousine Johanna Friederike Eleonore Wilhelmine Helene Emilie Heßemer, die ihm neun Kinder gebar, von denen drei den Ingenieurberuf wählten. Familienleben und Freundeskreis versöhnten ihn mit der Stadt und lenkten von eigenen Befindlichkeiten ab.19 Während der älteste Sohn früh in Zürich starb, bescherten ihm die anderen zwei sieben Enkelkinder.
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Noch zweimal bereiste er Italien, 1838 mit deiner Frau für drei Monate. In Ravenna und Venedig vervollständigte er bei dieser Gelegenheit die Farbtafeln für den Bildband, der die Früchte seiner Reise darstellte.20 Zehn Jahre danach besuchte er kurz Mailand, Cremona und Venedig. Lange Zeit feilte er an einem epischen Werk „Jussuf und Nafisse“, in dem er seine ägyptischen Eindrücke verarbeitete. Die 45 Gesänge wurden 1847 in Leipzig veröffentlicht, der größte Teil seiner dichterischen Hinterlassenschaft blieb jedoch unpubliziert. Wie sein Vater engagierte er sich seit 1831 intensiv in der Freimaurerbewegung, da er hier Übereinstimmung fand im antinapoleonischen
Geist. Bis zum „Meister vom Stuhl“ brachte er es dort. 1848 wurde er zwar in die Frankfurter Verfassunggebende Versammlung gewählt, empfand aber im Gegensatz zu seinem Freund Gervinus politische Arbeit in endlosen Versammlungen als Landplage. Er betrachtete die Bemühungen dort als unfruchtbar und gebrauchte deshalb seine ihn quälende Schlaflosigkeit als Vorwand sich zu entziehen. Er veröffentlichte ein Buch über Zeichenlehre, schrieb Gedichte, Epigramme und eine Komödie und hielt Vorlesungen und Vorträge. Am 1. Dezember 1860 starb er in Rüsselsheim.21
1 E. G. Franz (Hrsg.), Hessische Entdecker. Forschungsreisen in fünf Erdteilen. Ausstellung der Hess. Staatsarchive zum Hessentag 1981, Darmstadt 1981, 20. 2 A. v. Grolmann. In: Hessische Biografien Bd.2, Darmstadt 1927, 335ff. 3 Georg Gottfried Gervinus Leben, Von ihm selbst, 1860, Leipzig 1893. 4 A. Rehbaum, Ein gelehrter Diplomat. Familie Bunsen und ihr berühmtestes Mitglied Christian Carl Josias. In: Hessische Heimat aus Natur und Geschichte Nr.26, 1996, 101. 5 Lebte von 1823–1828 mit finanzieller Unterstützung des Großherzogs von Hessen in Rom. 6 Das Haus des Sohns von Goethes Lotte bildete einen Ort der Begegnung für die Künstler. 7 C. Staub (Hrsg.), Friedrich Maximilian Heßemer. Briefe seiner Reise nach Italien, Malta und Ägypten 1827–1830, 2 Bde. Hamburg 2003 Bd.1, 481; Brief vom 26.1.1829. 8 Siehe Rüppel(l) (1794–1884). 9 Entzifferte 1822 mit Hilfe des Rosetta-Steins die ersten Pharaonennamen. 1828/29 Expedition mit Rosellini. 10 C. Staub Bd.2, 162; Brief vom 5.12.1829. 11 Thankmar von Münchhausen berichtet dagegen von einer Verordnung Mohammed Alis 1835, die die Ausfuhr erschwerte. 12 Staub, Bd.2, 175; Brief vom 12.12.1829. 13 Desgl. Bd.2, 145 Brief vom 27.11.1829. 14 Desgl. Bd.2,113; Brief vom 8.11.1829. 15 Desgl. Bd.2, 212; Brief vom 1.1.1830. 16 Abbildung im Ausstellungskatalog der Hess. Staatsarchive. 17 Desgl. Bd.2, 332; Brief vom 28. 5.1830. 18 Desgl. Bd.1, 13. 19 D. v. Grolmann, F. M. Heßemer, Frankfurt 1920. 20 Arabische und Alt-italienische Bauverzierungen, Berlin 1836/39. 21 E. G. Franz (Hrsg.), Hessische Entdecker. Forschungsreisen in fünf Erdteilen. Ausstellung der Hess. Staatsarchive zum Hessentag 1981, Darmstadt 1981, 20; Dirk v. Grolman, Chronik der Familie Hessemer, Heßemer: Auf den Spuren meiner Vorfahren, Ahnen und Urahnen, 2012.
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Wie wird man russischer Topograph? Johann von Blaramberg
Stammbaumausschnitt Blaramberg
Die Familie van Blaramberg stammte aus Belgien, wie Johann in seinen Erinnerungen selbst schreibt,1 und zwar aus Lier südöstlich Antwerpen. Während der Hugenottenverfolgung waren 1570 alle van Blaramberghe hingerichtet worden, bis auf zwei Knaben, deren Nachfahren sich später in Frankreich, Rumänien, Russland und bis Neuseeland verbreiteten.2 Nach dem Tode Paul Morets ging seine Witwe mit den jüngeren Kindern nach Russland. Das war kein so ungewöhnlicher Schritt, denn schon in die Mitte der 1730er Jahre fällt die zweite Emigrationswelle von Adligen aus Deutschland.3 Jean wurde in holländischen Diensten gefangen und musste in Frankreich an Guillotinierungen teilnehmen. Als er freikam, kehrte er als Major nach Russland zurück. In Moskau heiratete er Frl. Courtener und arbeitete 1809–1824 als Inspektor des Zollbezirks von Neu-Russland. In seinem Amtsbezirk unternahm er Hobby-Ausgrabungen und gründete schließlich die Museen in Odessa und Kertsch. Er kümmerte sich maßgeblich um die Karriere seines Neffen.
Jean Francois heiratete zum Ärger der Familie eine Bürgerliche aus Frankfurt a. M. Bei der Geburt des fünften Kindes starb sie 1802, er selbst zehn Jahre später mit 48 Jahren an Entkräftung. Der junge Johann wurde schon frühzeitig vom Vater gefördert. Bereits mit vier Jahren besuchte er eine Schule am Theaterplatz bei Präzeptor Gräffe. Nachhaltigen Eindruck hinterließen die Opernbesuche mit seinem Vater, denn der Sechsjährige behielt alle Melodien im Gedächtnis. Er muss ein hochbegabtes, hyperaktives Kind gewesen sein. Sein Temperament zügelte die Kinderfrau durch besondere Aufgaben. So wurde ihm beispielsweise das Abendbrot verwehrt, wenn er abends nicht die Gedichte aufsagen konnte, die er den Nachmittag über auswendig lernen sollte. Besonders eindrücklich schildert er in seinen Tagebüchern die Stimmung in der Stadt, wenn die französischen Truppen unter Marschall Augereau durch die Stadt zogen. Sie wurden abgelöst von den preußischen Gefangenen nach der Schlacht bei Jena, die spanischen Truppen des
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Marquis de la Romana zogen nach Jütland. Mehrmals sah er Napoleon mit seiner Mamelukengarde. Als der Junge acht Jahre alt war, siedelte die Familie nach Hanau über. In der dortigen Schule beinhaltete der Unterrichtsstoff auch griechische und römische Geschichte. Mit seinen Mitschülern bastelte er Helme und Schilde aus Karton, Schwerter und Spieße aus Holz. Damit spielten sie im Garten und Hof der Schule zu Ehren Homers den trojanischen Krieg nach. Außerdem verschlang er alle Reisebeschreibungen, die ihm in die Hände fielen.
Johann von Blaramberg (um 1875)
Nach dem Tod erst des jüngeren Bruders und dann des Vaters gab ihn der Vormund nach Offenbach in die Privatschule des Professors Gillé. In dieser Stadt bot ihm die mit dem Wagenfabrikanten Dick verheiratete Schwester der Mutter die nötige Nestwärme. In ihrem Umkreis lernte er viele Leute kennen, die noch Goethe begegnet waren. Im Winter und Frühjahr 1811/12 zogen täglich französische, spanische, portugiesische und Rheinbundtruppen vor seinem Haus von Mainz und Frankfurt a. M. kommend vorbei. „Beinahe jeden Morgen wurden wir durch Trommelschlag ans Fenster gerufen und beschauten die durch- und ausmarschierenden Regimenter. Voran gingen un-
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gefähr zwanzig Zimmerleute mit großen Bärten, schneeweißen hohen ledernen Schürzen, und mit blanken Äxten auf den Schultern; hinter denselben folgte der Tambour-Major in goldbestickter Uniform, mit dicken Epauletten und dem mächtigen Bambusstabe, den er hoch in die Luft schleuderte und geschickt wieder auffing.“ Die nachziehenden Soldaten sangen beim Marschieren. Der größte Teil der französischen Armee zog über Hanau nach Russland. Diese ständigen Durchmärsche waren eine große Belastung für die Bevölkerung, die sowohl die Soldaten einquartieren und ernähren, sowie die Pferde versorgen musste. Sobald französische Truppen deutschen Boden betraten, waren die deutschen Regierungen für die Versorgung zuständig. Dazu kamen alle möglichen Contributionen und Requisitionen. Laut Blaramberg nahm das die Bevölkerung als Zeit der Erniedrigung wahr. Man kann sich vorstellen, dass die Nachricht von der Niederlage vor Moskau auch Schadenfreude hervorrief und sich in Windeseile verbreitete. Im Frühjahr 1813 zog die nächste französische Armee nach Lützen, Bautzen, Dresden und anderen Schlachtfeldern. Die jungen Einberufenen von 17 und 18 Jahren mit blauen Jacken und weißen Hosen bekamen ihre Uniformen erst in Deutschland. Da sie während dieses Marsches auch noch Exerzieren lernten, fielen sie auf der Zeil teilweise vor Erschöpfung um und schliefen, bevor sie ihre Quartierscheine bekamen, an Ort und Stelle ein. Im gleichen Sommer wurden längs des Mains Holzbaracken für die Verwundeten dieser Kämpfe aufgestellt. Alle Abende wurden Karren voll amputierter Gliedmaßen aus diesen „Hospitälern“ zur Bornheimer Heide gefahren und dort in großen Gruben vergraben. Als sich im Oktober der Typhus in allen Nothospitälern und als solche benutzten Klöstern verbreitete, musste man zu Hunderten die Toten ebenso hinausfahren. Die Seuche verbreitete sich anschließend in der Stadt. Ihr fiel Johanns Schwester Henriette im Alter von 17 Jahren zum Opfer. Die letzte Schlacht wurde von den bayerischen und österreichischen Truppen unter Wrede gegen die Franzosen in der Nähe von Hanau geschlagen. Die zurückziehenden Truppen plünderten und raubten, ließen Tausende Verwundete auf der großen Leipziger Straße zurück. Französische Offiziere streckten ihre Hände sogar mit Goldstücken durch die Gittertore Frankfurts, die auf Befehl Napoleons
geschlossen blieben, und baten um Brot und Wein. Offenbach entging der Plünderung, weil die Stadt auf dem anderen Mainufer lag und es keine Brücke gab. Aber alle Mitschüler hatten ihre Sachen gepackt, um sich im Notfall sofort verstecken zu können. Die ersten Kosaken, die nachrückten und die letzten Franzosen gefangen nahmen, wurden mit Hurra! begrüßt. Vom 1. November bis Neujahr 1814 beherbergte Frankfurt a. M. die Alliierten, doppelt so viele wie Einwohner. Johann vergnügte sich in dieser schulfreien Zeit, denn auch in den Schulen lagen Russen, Preußen und Österreicher. Da gab es für die Kinder Spannendes zu beobachten. Für die Unterhaltung der Offiziere wurden Bälle, Tanzgesellschaften und Musikabende veranstaltet. Das Volk umjubelte die drei verbündeten Herrscher, Feldherrn und Diplomaten, verfolgte die Paraden und das Lagerleben tagaus tagein, bis die Truppen Richtung Basel abzogen. Der Einzug der Verbündeten in Paris und der Friede wurden auch in Offenbach festlich begangen. Die auf französische Kosten neu eingekleideten Soldaten strömten zurück und nach der Rückkehr Napoleons von Elba nochmals nach Westen, jedes Mal durch die Stadt am Main. Blaramberg zitiert eine Statistik, die von 1. Januar 1812–September 1815 eine Zahl von 2,5 Millionen Soldaten und 400000 Pferden verzeichnete, die durch Frankfurt a. M. zogen und versorgt worden sein sollen.4 Im Sommer 1814 wechselte er in die Schule im De Baryschen Haus am großen Hirschgraben und konzentrierte sich vor allem auf die Fächer Englisch und Italienisch. In der Stadt herrschte internationales Flair mit zwei großen Messen, den Zuzügen der Fremden und Reisenden, der Gegenwart des Bundestages mit seinen zahlreichen Gesandten, Sekretären und Angestellten, die das Leben sehr abwechslungsreich und angenehm machten. Zahlreiche Ausflüge in den Taunus, nach Biebrich und Wilhelmsbad oder Darmstadt, wo der Großherzog selbst die Oper dirigierte, boten Abwechslung. 1818 kam Johann im Café beim Apfelkuchen mit einem Mitglied der russischen Gesandtschaft ins Gespräch, das ihm riet: „Wenn Sie nach Russland gehen wollen, junger Mensch, um daselbst Ihr Glück zu versuchen, dann müssen Sie große Gedanken fassen, und das kleinliche und enge Wesen des deutschen Lebens vergessen. In unserem unermesslichen Reich ist alles in großem Maßstab
eingerichtet. Die Gedanken und Ideen sind großartig und müssen es sein. Mit Kenntnissen, Geduld und Ausdauer kann man daselbst eine glänzende Karriere machen und ein wenig Protektion schadet dabei natürlich nicht.“ Ein weiterer Anstoß, sich näher für ein Leben dort zu interessieren, war ein Zeitungsartikel im Journal de Francfort, in dem sein Onkel in Odessa und dessen Antikenkabinett erwähnt waren. Als er sich um Rat an diesen Onkel wandte, empfahl der ein Jurastudium in Deutschland als beste Vorbereitung. So immatrikulierte sich der zielstrebige junge Mann im Oktober 18205 in Gießen und hörte Mathematik bei Dr. Umpfenbach, Naturrecht bei Hildebrand und Jura bei Büchner. Rektor Crome (1753–1833)6 und seine englische Frau nahmen ihn privat häuslich auf. In den Ferien besuchte er seine Schwestern mit der Postkutsche, die von Gießen nach Frankfurt zwölf Stunden benötigte. Angesichts seines Zieles nach Russland zu gehen, hielt er sich von allen, in dieser Periode gerade gärenden Studentenunruhen fern, trat nicht in eine der neu sich gründenden Burschenschaft ein,7 sondern widmete sich ausschließlich den Wissenschaften. Das bescheinigte ihm, als er im März 1823 die Universität verließ, Dekan Franz Joseph Freiherr von Arens.8 Im Mai trank er seinen letzten Wein im „Gasthaus zum Schwan“ und verließ seine Heimat am 20. Mai Richtung Moskau. Vier Tage brauchte er über Kassel und Hannover nach Hamburg, dann ging es von Lübeck mit dem Segelschiff nach Kronstadt. Mit einem Empfehlungsbrief seines Onkels konnte er vorerst bei einer befreundeten Familie in St. Petersburg unterkommen. Damals gab es noch keine durchgehende Straße von St. Petersburg nach Moskau. Sie endete in Nowgorod, und man musste dann den Weg über Knüppeldämme oder Sandpisten fortsetzen. In Moskau sah er nur noch wenige Spuren des großen Brandes. Glücklicherweise nahm ihn die Familie Courtener, Verwandte seiner Tante, auf und gab ihm die Möglichkeit, sich als erstes ohne existentielle Sorgen mit Feuereifer in die Erlernung der Sprache zu vertiefen, aber auch Mathematik, Zeichnen, französische Literatur, russische Geschichte und Geographie standen auf seinem Programm. Schon im folgenden Jahr schwor er den Untertaneneid und wurde russischer Staatsbürger. Zusammen mit einem Cousin zeichnete er Altertümer für seinen
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Onkel. Daneben beteiligte er sich am Luxusleben mit Bällen und Empfängen im Hause seiner Verwandten, ein wahrhaft weltgewandter, erlauchter und gebildeter Kreis. Bei Tisch unterhielt man sich gern in sechs bis sieben Sprachen. Obwohl er selbst mehr zum Außenministerium als Arbeitsplatz tendierte, folgte er der Empfehlung seines Onkels in St. Petersburg für ein förmliches Studium des Ingenieurfaches. Er vergrub sich derart in das militärisch geprägte Studium in französischer Unterrichtssprache, dass er die meisten Prüfungen mit Bravour bestand. Der Leiter dieser Schule war Alexander von Württemberg, Bruder der Kaiserin. 1828 absolvierte er die letzte Prüfung zum Leutnant und stand zunächst für besondere Aufträge des Kriegsministers und des Generalquartiermeisters zur Verfügung. Seine Laufbahn begann mit dem Bau einer Brücke und der Konstruktion mehrerer Heupressen für die Militärpferde im Bulgarienfeldzug. Nach erfolgreicher Erledigung dieser Aufgabe engagierte er sich einen Monat lang freiwillig als Pestkommissar in Odessa bei den Chlorräucherungen der betroffenen Häuser. Plastisch schildert er seine Eindrücke einer Reise nach Adrianopel (Edirne) zusammen mit dem Bibliothekar des Kaisers und dem Maler des Großfürsten Michael. Von der Stadt und Umgebung fertigte er 50 Zeichnungen an, die als Album in Paris gedruckt wurden. Auch andere Städte wie Burgas am Schwarzen Meer wurden ausführlich in halb militärischem Auftrag dokumentiert. Immer wieder mussten er und seine Reisegefährten in Quarantäne und ihre sämtliche Habe ausräuchern lassen, wenn sie aus einem Seuchengebiet kamen. Speziell die Pest, aber seit 1830 auch die erstmals aus Indien nach Nordwesten sich ausbreitende Cholera waren Geiseln der Zeit, denen man praktisch hilflos ausgeliefert war, weil man die Erreger nicht kannte. Von 1830 bis 1832 begleitete Johann im Generalstab eine Expedition in den Kaukasus in die Gegend von Wladikawkas (Ordschonikidse) und Dagestan. Hier war er zum einen zusammen mit den Schanzarbeitern für die Benutzbarkeit der Straßen, aber auch für Sprengungen an Fluchttürmen, Festungen und Schanzen zuständig. Anschaulich berichtet Blaramberg, welch brutale Überfälle die unterschiedlichen Wegelagerer und Menschenjäger durchführten, bevor sie von den Russen in verlust-
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reichen Kämpfen überwunden und zum Treueid gezwungen worden waren. Seitdem die Mongolen das Gebirge mehrfach im 13. und 14. Jahrhundert überrollt hatten, zerfleischten sich die Kaukasusbewohner untereinander in Gewalttätigkeit. Das Gebirge scheint ein einziger großer Sklavenmarkt gewesen zu sein. Viele Christen nahmen den Islam an, weil sie sich dadurch vor dem Wegschleppen in die Sklaverei zu schützen vermochten.9 Hatten sich anfänglich die Bergbewohner noch an den Siedlern der Ebene vergriffen, so überfielen sich in der Folgezeit Nachbarn, Kleingruppen, Dörfer und Stämme gegenseitig, raubten Kinder und versorgten die Mameluken in Ägypten, die Leibwache der Kalifen in Bagdad, die ersten Janitscharen und die türkischen Harems mit Nachschub an Menschen. Die weißen Sklaven in Persien stammten aus dieser Gegend.10
Ossetische Siedlung in der Hochstufe
Georgien war 1801 von den Russen in ihr Reich eingegliedert worden, nachdem unter Katharina II. 1783 das erste Hilfsersuchen seines Königs an Moskau ergangen war. Insofern fühlten sich die Russen als Befreier und Befrieder. Es dauerte allerdings Jahrzehnte bis zeitweise Frieden einkehrte, da jede Schlucht erobert werden musste. Ganze Dörfer weigerten sich, vom Raub zur Landwirtschaft überzugehen mit der Begründung, ihre Vorfahren hätten immer schon vom Raub gelebt.11 Die Bergstämme nahmen allmählich vom Osten ausgehend den Islam an, der Blutrache begünstigte und dem Krieg gegen Christen das religiöse Alibi lieferte, da die Bewohner Georgiens vornehmlich Christen waren. George Kennan bezeichnete 1873 die Daghestaner als das Damoklesschwert der Georgier.12 Um die Russen aus dem Kaukasus endgültig zu vertreiben, fanden sich unter der Bezeichnung Mu-
ridismus islamistische Fanatiker zu Kamikazeangriffen zusammen, in dem Wahn dadurch das Paradies erlangen zu können. Während der Feldzug gegen Kasi-Mullah im Jahre 1831 endete, beschäftigte der Anführer Schamyl die Truppen noch bis 1859 im östlichen Kaukasus. Der westliche Kaukasus wurde 1864 restlos unterworfen. In der Folge wanderten 200000 Tscherkessen und andere Bergvölker in die Türkei aus. Vielfach wurden die Dörfer der Fanatiker von den Soldaten einfach niedergebrannt. Sehr wachen Sinnes beschreibt Blaramberg alles, was ihm am Leben der Bewohner auffällt. Bei Schemacha westlich Baku beobachteten sie die Wettkämpfe der Kampfwidder, die sich viele Hauseigentümer hielten. Am Alasan (Alasari) schwärmt er von Urwäldern, in denen bis sechs englische Fuß dicke Nussbäume umzuhauen waren, damit überhaupt eine Straße gebaut werden konnte. Die Vegetation sei so üppig, dass ohne regelmäßige Rodung in Kürze alles wieder zugewuchert wäre.13 Keine Sehenswürdigkeit lässt er in den Kampfpausen aus. In der Nähe von Baku besucht er die Naphta-Brunnen, Schlammvulkane und ewigen Feuer, die Vorläufer der späteren Ölförderung, bewundert aber auch die Schönheit der Armenierinnen. Mehrere Monate sammelte er anschließend an die Expedition in Tiflis Material zu einer mehrbändigen Beschreibung der kaukasischen Bergvölker, die leider nur zum Teil gedruckt wurde. Nach einiger Zeit stellten sich jedoch gesundheitliche Beschwerden ein, selbst Chinin half nichts mehr gegen seine Fieberanfälle. Er besuchte zumindest zwei der zehn deutschen Siedlungen Marienfeld14 und in Helenenfeld den bekannten Botaniker Pastor Hohenacker. Deutsche aus Württemberg hatten seit 1817 von Zar Alexander I. Land, Steuerfreiheit, finanzielle Unterstützung, Religionsfreiheit und Befreiung vom Militärdienst mit dem Hintergedanken erhalten, die Landwirtschaft zu verbreiten und deren Spezialisierungen durch das eigene Beispiel zu befördern.15 Er schreibt: „Helenedorf [falsch], obgleich durch die Perser 1826 verwüstet, (welche dort Scheußlichkeiten gegen Frauen und Mädchen verübten) ist 1836 wieder eine schöne blühende Kolonie von 550 Seelen.“ Die deutschen Siedlungen belieferten Tiflis mit Butter, Milch, Eier und Brot. Wieder zurück in Moskau besuchte er als Begleiter von Langlois, Adjutant des französischen Gesandten am Russischen Hof, die Schlachtfelder
Napoleons und kaufte den Einheimischen Knöpfe, Kugeln, Tschakoadler ab, die auf dem Schlachtfeld Studienka (Beresina) immer noch zu finden waren. Geführt wurden sie von demselben Juden, der auch Napoleon geführt hatte. Vom Kriegsministerium wurde er mit einer wissenschaftlichen Expedition zur topographischen Aufnahme der Ostküste des Kaspischen Meeres betraut. Neben der Berücksichtigung der Geologie sollten Handelsverbindungen zu den Turkmenen angeknüpft werden. Auf seinem Weg dorthin kam er durch Sarepta, eine Herrenhuter Kolonie, in der nur deutsch gesprochen wurde, und rastete im Gasthof Daniel Dörner. Der Ort schien ihm die einzige Oase in der Steppe, rundum Nomaden der Kalmücken, die sich von der Umtriebigkeit, der Landwirtschaft, der Sauberkeit der Siedlung und dem Gewerbefleiß der Zuwanderer nicht beeindrucken ließen. Lediglich die Ärmsten von ihnen verdingten sich als Knechte bei den Deutschen. Im Winter von Astrachan entlang der Westseite des Kaspischen Meeres nach Mosdok fand die Reisegesellschaft nur Poststationen als Besiedlung, so dass sie ihre mitgebrachte Verpflegung abends erst auftauen mussten. In Lenkoran und den Bergausläufern entlang der Südküste des Kaspischen Meeres trafen sie mehrfach auf Panther und Tiger, die einmal der Expedition ein Kosakenpferd abjagten. Sie fanden Aufnahme in den Filzhütten der Nomaden des Ghilan. Während der eigentlichen topographischen Aufnahmen benutzten sie Schiffe, auf denen sie ihr Sammlungsgut gleich präparierten: Pflanzen trocknen, Käfer und Schmetterlinge aufspießen, Eidechsen und Schlangen in Spiritus versenken oder Vögel ausstopfen. Außerdem führten sie lebende Tiere als Nahrung und Katzen zur Rattenbekämpfung mit sich und fast täglich fingen sie Dachse und Schakale in ihren Fallen. Weder Naturschauspiele noch Altertümer und Ruinen am Golf von Asterabad sind ihm entgangen. In regem Kontakt mit den Bewohnern, die sie sowohl mit Informationen als auch mit Tierexemplaren und Lebensmitteln versorgten, segelten und ruderten sie langsam die Ostküste nach Norden, unternahmen viele Ausflüge zu Pferd oder Kamel ins Landesinnere, schliefen in den traditionellen Filzhütten am Ufer. Die Kunde von ihrer Expedition hatte sich derartig verbreitet, dass Kundschafter aus mehr als 300 km Entfernung anreisten,
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um ihre Geschenke abzuholen. Andere flüchteten aber auch beim Anblick der Russen. Respekt erregten sie besonders dann, wenn sie die Wirkung ihrer Artillerie vorführten, vermutlich auch mit dem Hintergedanken, eventuelle Überfallideen gleich im Keim zu ersticken. Nach Abschluss der Fahrt mussten sie vierzehn Tage in Quarantäne zubringen und ihr Gepäck räuchern lassen. Drei Jahre lang verbrachte Johann ab 1837 in Persien. Auf dem Weg dorthin über Täbris nach Teheran stieß er wiederholt auf Spuren hochstehender alter Kulturen, Bewässerungsreste, da wo nun Steppe war. Daraus schloss er, dass seit Einführung des Islam das Land im Niedergang war. Als Mitglied des Konsulats sammelte er Informationen über die persische Verwaltung und das Militär und benutzte das Archiv der Mission als Quelle. Das erste Jahr betrachtete er in seinen Memoiren als das interessanteste seines Lebens. In diesem Jahr befand sich der Schah auf einem Feldzug gegen den Afghanen Kamran-Mirsa, der die persische Stadt Herat erobert hatte und von dort aus die Umgebung drangsalierte, die Bewohner einfing und nach Chiwa und Buchara verkaufen ließ. Mit großem Gefolge, Geschenken und Gepäck reiste die russische Mission der Armee hinterher, denn – so unpraktisch es auch war – um den nötigen Respekt der Bevölkerung zu erhalten, musste möglichst viel Protz entfaltet werden. Während sich ein Teilnehmer um Aufnahmen der Landschaft bemühte, zeichnete ein anderer Aufrisse von Ruinen, wieder andere gingen mit den mitgeführten sechs Windhunden auf Jagd. Südlich und südöstlich von Meschhed fanden sie wieder viele Siedlungen, Kanäle, Karawansereien und Paläste in Ruinen, deren Bewohner alle von den Turkmenen in die Sklaverei verschleppt waren. Ermordeten Mitglieder einer kurz vorher überfallenen Karawane erwiesen sie die letzte Ehre und beerdigten sie. Blaramberg gibt ein farbiges Bild der chaotischen und verdreckten Zustände im persischen Belagerungsheer, in dem er militärische Planung, Disziplin und zielgerichtetes Handeln vermisst. Obwohl es jederzeit zu Scharmützeln hätte kommen können, war noch nicht einmal ein Verbandsplatz eingerichtet. Die Verwundetenversorgung mussten die Soldaten untereinander erledigen. „Der persische Soldat im Felde, wenn er verwundet oder krank ist, genießt keine Pflege. Man lässt ihn liegen, wo er
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sich gerade befindet, und wenn seine Kameraden sich nicht seiner annehmen, ist er verloren.“16 Allah wird’s schon richten. Demzufolge wunderte sich Blaramberg nicht, dass es die 30000 Soldaten mit 60 Geschützen in zehn Monaten nicht schafften, die Stadt einzunehmen, die nur von 3000 Afghanen ohne Geschütze verteidigt wurde. Weder die Soldaten noch die Offiziere hatten eine theoretische Ausbildung, genauso wenig wie die Befehlshaber, darunter 12-jährige Kinder, die den ihren Untergebenen zustehenden Sold in die eigene Tasche steckten. Die Regimenter, die jeweils aus einer Region rekrutiert wurden, waren untereinander verfeindet. Sie ließen sich vom Befehlshaber aus einer anderen Region nichts sagen. Soldaten, die in den Laufgräben ihre Stellung halten sollten, hatten sich Lehmhöhlen gegraben, in denen sie einen schwunghaften Handel mit Lebensmitteln und sogar Bäckereien unterhielten. „Bei der persischen Armee befand sich unter anderem eine Batterie von zwölf russischen Zwölfpfündern ... Anstatt nun diese Geschütze in einer Batterie zweckmäßig aufzustellen und zu verwenden, wurden sie zu zwei und zu drei an die vornehmsten Khans verteilt, denn jeder derselben wollte die Ehre haben, wenigstens einige dieser russischen Geschütze zu seiner Verfügung zu haben, und deshalb brachten die letzteren gar keinen Nutzen. Weder der Schah noch sein Minister zeigten sich auch nur ein einziges Mal bei den Truppen, sie hielten es unter ihrer Würde.“ Ohne auch nur einen Schimmer von Ballistik und Physik zu haben, wollte der Minister Riesengeschütze an Ort und Stelle gießen lassen. Obwohl er den Kamelen schon die Glocken und den Soldaten die Küchenkasserollen abgenommen hatte, reichte das Metall nicht, um genügend Kugeln herzustellen. Dafür schlug er für die Schmelzöfen alle Fruchtbäume der Gegend um und wollte dann die zwei endlich fertigen Geschütze kreuzweise aufstellen, um gleichzeitig die Stadt und die Ausfallstraße beschießen zu können. Er meinte, die abgeschossenen Kugeln würden die ganze Stadt durchfliegen und dahinter wieder runterfallen, so dass die Soldaten sie wieder einsammeln könnten. Befremden löste auch die Bestrafung eines Regimentschefs wegen Feigheit aus. Dieser wurde rückwärts auf einen Esel gesetzt, der Bart mit saurer Milch eingeschmiert und mit einer voraus ziehenden Musik-
gruppe durchs Lager geführt. Seinen Posten behielt er trotz allem. Mit anderen Verfehlungen wurde nach Laune verfahren, Verrat wurde mit Erdrosseln und Stockschlägen auf die Fußsohlen bestraft, für anderes Gliedmaßen abgehackt u. ä. Der Henker verdiente sich dadurch ein Zubrot, dass er die Leichen der Gerichteten nur gegen Geldzahlung von den Haustüren der Kaufleute entfernte, wo er sie selbst vorher hingeworfen hatte.
Helena Stepanivna Blaramberg (1817–1876). Aquarell von Taras Shevchenko 1849/50
Die englische Mission hintertrieb mit Wissen des Schahs sowohl vom persischen Lager, als auch von Kabul aus die Einnahme Herats, das sie als Tor zu Indien betrachteten. Als die Diplomatie kein Ergebnis brachte, besetzten die Engländer eine Insel im persischen Golf und drohten mit dem Einmarsch, wenn der Schah nicht von Herat abließe. Zum Unmut der russischen Mission befand sich im persischen Heer seit 30 Jahren ein aus russischen Deserteuren zusammengestelltes Regiment, deren Mitglieder späzurückgeführt und teilweise in Armenien angesiedelt werden konnten. Auf beiden Seiten verdingten sich Europäer als Offiziere. Eine weitere Reise führte 1840 nach Isfahan. Auch auf dieser Reise stießen die Russen auf von den Mongolen und Afghanen zerstörte Städte. Der
Gouverneur von Isfahan war ein Mann, der als Jugendlicher in Georgien gefangen und entmannt worden war. Ihm machten sie ihre Aufwartung. Erstaunt war Blaramberg von der Sitte, dass Pilger und andere Reisende in Daghestan, Persien und besonders Meschhed sich eine Armenierin als Ehefrau auf Zeit nehmen konnten. Lediglich eine kurze Zeremonie vor einem Priester war nötig. Auch Ausländer in persischen Diensten nutzten diesen Brauch. Er rühmt die Anhänglichkeit, Treue und Naivität dieser ungebildeten Mädchen, von denen sich aber die Sprache schnell lernen ließe. Außer bei Derwischen und Fakiren sei Junggesellentum von Männern im Orient nicht akzeptiert. Mit keiner Silbe verrät er, ob er sich selbst auch derartig versorgte. Auf Anordnung des Zaren musste er 1840 ausreisen, denn das Orenburger Land sollte vermessen werden. Auf der Rückreise nach Moskau durchquerte er das Gebiet des Ararat, wo wenige Tage vorher ein schweres Erdbeben die Verkehrsverbindungen der ganzen Region verwüstet hatte. Für eine Bekannte aus Tiflis übernahm er es, Briefe zu deren Mutter auf die Krim zu bringen, verliebte sich dort in die jüngste Tochter des Hauses und heiratete schon 25 Tage später, sobald die Erlaubnis seines Dienstherrn eintraf. Ohne größeren Aufenthalt reiste das junge Ehepaar in wechselnden Schlitten sogar übernachtend, wenn die Poststation wegen des darin untergebrachten Viehs gar zu dreckig war, über Moskau nach Orenburg. Damit endete sein Wanderleben und wurde von fünfzehn Jahren relativer Sesshaftigkeit im Südural abgelöst, relativ sesshaft deshalb, weil er zwar seinen Hauptwohnsitz dort hatte, aber bereits nach wenigen Wochen zum Chef der Truppenabteilung ernannte wurde, welche zwei Gesandte durch die Kirgisensteppe bis an den Syr-Darja begleiten sollte. Seine junge Frau musste schwanger in fremder Umgebung und noch ohne Kontakte zurückbleiben. Die Reisegesellschaft bestand aus dem Vortrab (1 Offizier und 12 Kosaken), dann Infanterie mit Geschützen und der Kasse, 10–12 Wagen mit dem Offiziersgepäck und 2 Krankenwagen. Auf beiden Seiten begleiteten 200 Kosaken die 1000 Kamele. Eine Gruppe unbeladener Kamele folgte, denen wiederum ein Zug Infanterie, ein Geschütz und 50 Kosaken mit einem Offizier. Seitenpatrouillen begleiteten den Zug. Abwechselnd sammelten die Ko-
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saken den Kamel- und Pferdemist in Säcken ein, da dies das einzige verfügbare Brennmaterial war. Die Marschroute wurde in breitem Streifen mit gelegentlichen größeren Ausflügen von den mitreisenden Topographen aufgenommen. Schließlich stieß auf Befehl des Generaladjutanten noch ein Sultan mit 200 Kirgisen und 500 Pferden zur Karawane. 1845 wurde Johann zum Oberst ernannt17 mit dem Befehl, das Fort Uralskoje in der Kirgisensteppe zu bauen. Er erledigte die Aufgabe innerhalb von fünf Wochen, indem die Soldaten luftgetrocknete Lehmziegel selbst herstellten. Durch die Errichtung des Forts dort, wo im Laufe vieler Jahrhunderte Raub und Mord stattgefunden hatten, verloren die Nomaden nach und nach ihre Lust zum gegenseitigen Viehdiebstahl. Der dort lebende Räuberhauptmann Kenisara zog sich weiter nach Osten zurück, geriet mit den dortigen Kirgisen in Streit und wurde von ihnen angeblich lebend gekocht. Seinen eigenen Opfern hatte er seinerzeit die Haut bei lebendigem Leibe abgezogen. Im Jahr 1848 verbreitete sich die Wolga aufwärts vom Kaspischen Meer her eine furchtbare Choleraepidemie. Speziell in Orenburg blieben nur zwei oder drei Ärzte für 1000 Kranke übrig. Blaramberg brachte seine Familie in einem weitläufigen Park außerhalb der Stadt in Sicherheit. Es waren kaum noch Särge aufzutreiben, so dass man die Toten von Sträflingen in großen Massengräbern mit Kalk bestreuen ließ. Von den 18000 Einwohnern Orenburgs starben 2800. Von Fort Rahim am SyrDarja aus erforschte man die Gegend und rottete in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Königstiger aus. Wegen der unerträglichen Bedrohungen der Bewohner dieser Region durch die Besatzungen von Ak Matchet und anderen Kokanerforts war der Ackerbau in dieser Gegend eingestellt worden und der Boden versteppt. Blaramberg wurde in geheimer Mission mit einer Truppe ausgeschickt, um die
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Kokaner zu vertreiben. Für den teilweisen Erfolg der Mission 1852 wurde er zum Generalmajor befördert. In einem darauf folgenden großen Feldzug wurde die Festung mit 3000 Soldaten und 25 Geschützen eingenommen und geschleift. Im Jahre 1856 beendeten Blaramberg und seine Topographentruppe die Aufnahme des Orenburger Gebietes und der Kirgisensteppen. Ihre Karten waren sehr detailreich geworden, da sie auch festhalten mussten, ob es dort Holz bzw. Futter für Pferde oder Kamele, Grabhügel, Ruinen oder sonstige Besonderheiten gäbe. Oftmals waren in der tischebenen Steppe die Gräber die einzigen brauchbaren Punkte, die man zum Visieren benutzen konnte. Endlich wurde er zurück nach Petersburg versetzt. Kurz nach der Krönung des neuen Zaren, Alexander II., ernannte man ihn zum Direktor des Kaiserlichen Kriegskartendepots. Er konnte von da an das kulturelle Leben in St. Petersburg genießen. 1860 und 1864 bereiste er längere Zeit das europäische Ausland und besuchte auch seine Verwandten in Frankfurt a. M. und Lille. 1867 nahm er den Abschied und sah die Weltausstellung in Paris. Die letzte Reise führte 1871 durch Europa. Dann wurde er schwer krank und entschloss sich, auf die Ländereien seiner Frau, die nach dem Krieg wieder aufgebaut werden mussten, auf die Krim zu übersiedeln. Er wurde Reserveoffizier und zog nach Sewastopol. Zwei Tage vor Weihnachten 1878 verstarb er in Simferopol hochdekoriert: 1829 Annen-Orden 3. Klasse, 1858 St.-Annen-Stern18, Georgien-Ritter19, 1830 St.-Wladimir-Orden 4. Klasse mit Schleife für Tapferkeit,20 1845 St.-WladimirOrden 3. Klasse; 1864 St.-Wladimir-Orden 2. Klasse mit Stern.21 Der Stern des weißen Adlerordens mit blauem Band für 40-jährigen ausgezeichneten Dienst (1867) war eigentlich ein polnischer Orden, den Russland übernahm.22
1 Erinnerungen aus dem Leben des Kaiserlich Russischen Generalleutnants Johann van Blaramberg. Nach dessen Tagebüchern 1811–1871 herausgegeben von Emil von Sydow, 3 Bde. Berlin 1872–1875. 2 In Bailleul bei Lille waren zu seiner Zeit noch Grabmäler zu sehen. Mehrere Vorfahren waren bekannte Maler. So sollen in Versailles 22 Schlachtengemälde aus der Zeit Ludwigs des XV. gehängt haben. Der Vetter Henri van Blaramberghe, Oberst beim Brücken- und Straßenbau, sammelte Miniaturmalereien von Grossvater und Vater. Einige Bilder landeten in der Eremitage. Der Großonkel war Zeichenlehrer der Prinzessin Elisabeth, Schwester Ludwig XVI. Er verbrannte während der Revolution alle Familienpapiere, um nicht als aristokratisch erkannt zu werden L. N. Blaramberg, Thunder rock, 1777; In einer genealogischen Datenbank im Internet findet sich noch ein Jean Paul Moret v. B., geboren 1762 in Lausanne. Wladimir wurde Schwager des Fürsten Alexander Ghika in Rumänien. 3 Anfang des 19. Jahrhunderts gab es in Petersburg zwanzig deutsche Zeitungen. 4 Bd.1, 13. 5 Im Giessener Matrikelverzeichnis nicht enthalten. Im Personenbestandsverzeichnis der Universität Gießen vom WS 1823/24 ist ein Studiosus v. Blarhamberg aus Frankfurt verzeichnet, der in Gießen bei der „Frau Sekretär Pauli“ gewohnt hat. Entweder studierte er länger als bis März 1823 in Gießen oder er immatrikulierte sich im WS 1823/24 noch einmal. Im Personenbestandsverzeichnis vom Sommersemester 1824 ist er nicht mehr verzeichnet, muss Gießen nach dem WS 1823/24 verlassen haben. Freundl. Auskunft Uniarchiv Gießen. 6 375 Jahre Universität Gießen. 1607–1982 Geschichte und Gegenwart, Gießen 1982, 80. 7 a. a. O. 177. 1820 entstanden Hassia, Franconia, Germania. 8 a. a. O. 80. 9 J. Ersch, J. Gruber (Hrsg.) Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste, Leipzig 1855. 10 Blaramberg, Bd.1, 244. 11 a. a. O. Bd.1, 256. 12 Bulletin of the American Geographical Society 1873, 5–8 zitiert in: Ausland 47, 1874, 321. 13 Blaramberg, Bd.1, 171. 14 a. a. O. Bd.1, 166 Katharinenfeld sö Tiflis, Marienfeld sw Tiflis, Annenfeld nw Kirowabad (74 Häuser), Helenenfeld (149 Häuser) südlich Kirowabad; Grünfeld, Elisabeththal, Petersdorf, Freudenthal. Helenenfeld und Annenfeld waren schwäbische Gründungen. Mitte des 19. Jahrhunderts zählten die 2500 Deutsche. Die Siedlungen waren auch von Schweizern bewohnt. An der Kura aufwärts gab es noch Neutiflis mit 50 Häusern und einer Kirche und Alexandersdorf, das unter Wassermangel litt. J. S. Ersch, J. G. Gruber (Hrsg.) Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste, Leipzig 1855. 15 Brief des Innenministers Kosodalew an General Yermoloff vom 6.3.1817; Akten der kaukasischen archäologischen Kommission Bd.4, T. 1, Nr.422 Günter Tiggesbäumker, Zur Kulturgeographie von Transkaukasien und Armenien in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts nach den Aufzeichnungen des Freiherrn August v. Haxthausen, Münster 1980. 16 a. a. O. Bd.2, 289. 17 Wieder zurück hatte er neben seinem Dienst von 9 bis 14 Uhr genügend Zeit für die Ausarbeitungen seiner Reisen und die Reinschriften der topographischen Aufnahme. Inzwischen war er Chef der topographischen Aufnahme. Er besuchte die Goldförderung, die Eisenverarbeitung im westlichen Ural, wo es eine Siedlung mit Solinger Waffenschmieden gab, die Katharina II. angesiedelt hatte, Steinschleifereien, eine Kopekenprägestätte und Steinsalzgruben. Im nördlichen Teil des Gouvernements mussten die Topographen teilweise die Nacht aus lauter Furcht vor Bären auf Bäumen zubringen. 18 Dieser Orden sollte alle Edlen zur Rechtlichkeit, Gottesfurcht und Nachahmung der Treue anspornen und belohnte alle Stände des In- und Auslandes. Dazu trug man bei hohen Festen einen langen rotsamtenen Mantel, bestickt mit der knienden Anna und den verschlungenen Buchstaben AJPF, gefüttert mit hermelinartigem Samt. 90–100 Rubel Pension waren damit verbunden. 1828 gab es 32 Ritter der 3. Klasse. G. A. Ackermann, Ordensbuch sämtlicher in Europa blühender und erloschener Orden und Ehrenzeichen, Annaberg 1855. 19 Dieser Orden wurde für militärische Dienste zu Lande und zu Wasser verliehen. Der Ausgezeichnete bekam gleichzeitig eine Pension von 150–1000 Rubel, je nach Klasse. 1838 gab es 1925 Träger. Militärpersonen zahlten 18 Rubel für die Verleihung. 20 Verdienstorden für alle Stände. 21 Pro Orden gab es 100–600 Rubel Pension, die Verleihung kostete für die 4. Klasse 5 Rubel, die dritte 30 Rubel und die zweite 60 Rubel. 22 Der Träger zahlte in die Ordenskasse 150 Rubel.
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Nicht nur ein Papagei trägt seinen Namen Carl Benjamin Hermann v. Rosenberg Am 7. April 1817 wurde ein Junge in Darmstadt am Mathildenplatz 15 geboren. Er besuchte zuerst das Gymnasium, dann bestimmte ihn der Vater, ein Oberst, zum Militärdienst. Ein Onkel hatte das Interesse für fremde Länder in ihm geweckt, und zu gerne hätte Carl den Unterricht in Zoologie bei Kaup, dem Leiter des Darmstädter Museums, weiterbetrieben. Der Wille seines Vaters war jedoch Gebot. Da ihn der Militärdienst in der Heimat aber sehr anödete, wie er im Vorwort zu seinem Buch durchblicken lässt, fiel ihm ein akzeptabler Kompromiss ein, den sein Vater akzeptierte. Er ließ sich als Volontär in niederländisch-ostindische Kriegsdienste anwerben. Im Alter von 22 Jahren trat er 1839 die Reise nach Batavia (heute Jakarta) an. „Nach einem mehrwöchigen Aufenthalt zu St. George d’ Elmina auf der Westküste von Afrika, setzte ich am 2. Mai 1840 zum ersten Mal meinen Fuß auf Java, jenes heiß ersehnte Ziel meiner Wünsche. Im Juni desselben Jahres wurde ich an die Westküste von Sumatra versetzt, die ich erst 16 Jahre später wieder verlassen sollte. Hier lernte ich durch persönliche Anschauung ein großes Gebiet dieses herrlichen Landes mit der davor liegenden Inselkette kennen.“ Für ihn war es das Wunderland, „dessen bestrickender Reiz den nordischen Fremdling mit unlösbaren Banden fesselt.“1 Seine Untersuchungen waren sowohl Ergebnis privater Reisen in seiner Freizeit als auch im Regierungsauftrag. Die lokale holländisch-indische Regierung förderte jegliche Art von Forschung im Gegensatz zu der älteren, inzwischen aufgelösten ostindischen Kompanie, die 1602–1796 nur das Geschäftsinteresse im Auge gehabt hatte.2 Rosenberg unternahm im Dienste der niederländischen Regierung naturwissenschaftliche und geographische Forschungsreisen. Zunächst wurde er als Assistent dem Geologen Junghuhn mitgegeben und bereiste mit ihm die Batta-Länder Nordsumatras. Dort beteiligte er sich an zwei Kriegszügen gegen rebellische Dörfer der Batak 1844 in das Tal des Oberlaufs des Batang Toru und auf Junghuhns Spuren durch die
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Ländereien von Sipirok und Silantom bis an den Rand der Toba’schen Hochebene. Er schrieb in holländischer Sprache Artikel für niederländische und indische Zeitschriften, die in Auszügen auch in englischen und französischen Fachwerken zitiert wurden. Diese Forschung war nicht ungetrübte geruhsame Materialsammlung, sondern der Verfasser merkt an, dass er öfter zu Säbel, Gewehr und Jagdmesser als zur Feder greife.
Carl Benjamin Hermann v. Rosenberg auf Neu-Guinea 1869 . Stich nach einer Zeichnung von E. Singer
Rosenbergs Beschreibungen vermitteln ein farbiges Bild, angefangen mit Erlebnissen, Unpässlichkeiten, unfreundlichen Herrschern, Unfällen, bis zu Landschaft, Landwirtschaft, Klima, Vegetation, Zoologie, Archäologischem und den Sitten der Bewohner. Von Java gab es bis dato nur die Beschreibung aus dem 18. Jahrhundert von Valentijn und eine allgemeine von Roscher 1856 über die niederländischen Kolonien. Berichte in holländischer Sprache wurden in den anderen europäischen Ländern nicht gelesen.
Von Rosenberg erforschte Inseln bzw. Landesteile
Als erstes erkundete er von Padang aus das Gebirgsland von Sumatra und erstieg auch den Vulkan Talang. „Ein Schauder überfiel mich jedes Mal, wenn ich zur Nachtzeit auf meinem einsamen Lager ... von außen her das dumpfe Brüllen des furchtbaren nach Beute suchenden Königs (Tiger) der Wildnis vernahm.“3 Nur einmal steht er Aug in Auge einem, zum Glück satten, Exemplar gegenüber, das sich nach seinem Anblick gelangweilt trollt. Im Ernstfall hätte er nur eine mit kleinem Schrot geladene Waffe dabei gehabt. Westlich von Sumatra zieht sich eine Kette von Inseln und Inselgruppen hin. Die Mentawej-Inseln, die er 1847, 1849 und 1852 bereiste, bilden die südlichste Gruppe. Dort begegnet Rosenberg dem Sohn des Oberhaupts, der ihm einen Dolch schenkt. Den verwahrt das Darmstädter Museum. Auf Eugano und Benkulen beobachtete er Formen der Sklaverei unter den Bewohnern. Mal waren sie Kriegsgefangene, mal Schuldner gewesen. „Hat ein Gläubiger so lange auf Begleichung einer Schuld gewartet, dass inzwischen mit Zinsen die Schuld auf den Wert eines Sklaven gestiegen ist“, dann drohte der Verlust der Freiheit. Nur die Bezahlung der Schuld rettete davor. Wuchs die Schuld weiter, dann mussten auch die Kinder in die Sklaverei. Waisen wurden von ihren Verwandten
verkauft, Menschenraub kam vor. Die Freiheit winkte, wenn man entweder vom Besitzer adoptiert oder geschwängert wurde. Die circa 10–12000 Menschen der Mentawey-Inseln sah er als Wilde an, vor allem weil sie so gut wie keine Kleidung und keine Münzwährung kannten. Frauen trugen nur einen Schamgürtel und tätowierten sich. Die Bewohner hielten Krankheiten für das Wirken eines bösen Geistes. Auf Engano galt ein dicker Bauch bei Männern als Schande. Häuptlinge hatten keine Vorrechte gegenüber ihren Untergebenen. Verheiratete Frauen verunstalteten sich durch das Ziehen zweier Zähne. Sie wurden gegen Geld von ihren Männern auch den Ausländern zur Nutzung angeboten. Mit einem Kanonenschuss kündigten sich die Handelsschiffe an. Sie tauschten Tand und Eisenwaren gegen Kokosnüsse, Bohlen, Sago, Schildpatt, Baumöl und Baumbast. Rosenberg segelte nach Pora, dann nach Sibirribenua: „Hier erwartete meiner eine Gefahr, von der ich auch nicht die leiseste Ahnung hatte. Meine Ankunft hatte ich nach gebräuchlicher Weise durch einen Kanonenschuss signalisiert, in dem festen Glauben, am folgenden Tag einen großen Teil der Bewohner an Bord meines Fahrzeuges zu sehen. Doch der neue Tag verfloss, ohne das sich auch nur eine Seele blicken ließ. Da ich meine Zeit
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nicht unbenutzt verlieren wollte und wohl begriff, dass etwas Besonderes vorgefallen sein müsse, so beschloss ich, am Morgen des zweiten Tages das Dorf in Person zu besuchen. Dasselbe liegt wie alle Mentawej-Dörfer einige Meilen weit im Inneren des Landes an einem befahrbaren Flüsschen.“ Frauen ergreifen die Flucht mit Angstgeschrei, während sie sonst immer freundlich entgegenkommen. Als sie das Dorf erreichen, ist der Ufersaum „mit Wilden besät, alle mit gespannten Bogen in den Händen, bereit vergiftete Pfeile auf sie abzuschießen. Rosenberg befielt seinen Leuten unerschrocken geradewegs darauf zu zu rudern. Der Dolmetscher zeigt auf den Häuptling.
Kopfzierrat der Frauen auf der Mentawej-Insel Engano, die Rosenberg an das Darmstädter Museum sandte
„Kaum hatte die Spitze des Bootes das Ufer berührt, so sprang ich ans Land auf den nur wenige Schritte vom Wasser entfernt stehenden Häuptling los, packte ihn am Arm und setzte ihm die Pistole auf die Brust. Wie nun die überraschten Eingeborenen, welche die Wirkung des Schießgewehrs kennen, sahen, dass das Leben ihres Oberhauptes in meine Hand gegeben war, ließen sie die Waffen sinken und blieben regungslos stehen. Ohne meinen Gefangenen aus dem Auge zu verlieren, rief ich meinem Dolmetscher zu, ans Ufer zu kommen. Er musste dem versammelten Volk die Ursache meines Besuches erklären und es meiner Freundschaft und friedfertigen Gesinnung versichern. Nachdem dies geschehen war und ich Geschenke an die Leute ausgeteilt hatte, wobei der noch immer an allen Gliedern zitternde alte Häuptling am reichsten bedacht wurde, waren wir in kurzer Zeit Freunde geworden ...“ Das Verhalten der Insulaner hatte einen handfesten Grund. Kurze Zeit vor dieser Fahrt hatte ein chinesischer Händler die Einheimischen auf alle erdenkliche Weise betrogen. Als sie dies realisiert hatten und
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er nun absegeln wollte, beschlagnahmten sie sein Boot. Der Chinese wusste von Rosenbergs Vorhaben und drohte, ein Abgesandter der Kompanie werde kommen und die Einwohner für das ihm angetane Unrecht bestrafen. Die Einheimischen hielten nun Rosenberg für diesen Abgesandten. Besagter Chinese wurde kurze Zeit später mit seiner gesamten Schiffsmannschaft auf Sibérut ermordet. 1853 wurde Rosenberg von der niederländischen Regierung beauftragt, die Provinz Singkel zu vermessen und die Ergebnisse auszuwerten. Er berichtet: „In einem Lande, welches wie diese beinahe ganz aus Sumpfboden besteht, wo die ohnehin schon schwache Bevölkerung an der Küste oder an den Ufern des Flusses wohnt, der durch seine Schiffbarkeit eine vortreffliche Verkehrsstraße bietet, in einem solchen Lande kann man nicht erwarten, Wege anzutreffen. Solche gibt es auch nicht, wohl aber mehrere Fußpfade, von denen jedoch nur wenig Gebrauch gemacht wird.“ Besonders für Europäer kann das Betreten lebensgefährlich sein wegen der „perniziösen Miasmen“ [bösartige Bodendünste, die nach damaligen Vorstellungen Krankheiten verursachten]. Der ermüdete und durch übermäßiges Schwitzen erschöpfte Körper wird anfällig.“ Moskitos machen den Aufenthalt zur Qual. Nur starker Sturm von See her hält sie fern. Er weiß, wovon er spricht. Rosenberg selbst zog sich auf einem solchen Pfad ein typhöses Fieber zu, an dem er beinahe starb. Anschließend erreichte er von Singkel aus die Banjak-Inseln und 1854 Nias.4 Zwei Jahre später kam er als Militärcharge ins topografische Büro nach Batavia. Dann wurde er Assistent der Regierungskommission für die Molukken und Neu-Guinea und nahm seinen Sitz zunächst auf Ambon. Von dort aus erforschte er Nord-Celebes. Im Einzugsbereich von Gorontalo, einer Stadt auf der nördlichen Halbinsel, lebten damals 36800 Menschen, davon 4600 in der Stadt selbst (und 41 Europäer). Bis 1856 hatte man auch hier die Sklaverei gekannt. Der Regent Radja-Monsarfa, der sein Volk in keiner Weise zu regieren versuchte, kennzeichnete sich mit einem orangen Seidenschirm und einer Kopfbedeckung aus dem 18. Jahrhundert, die mit Glasperlen, schwarzen Straußenfedern und Goldblech aufgeputzt war. Zur Entscheidung wichtiger Angelegenheiten rich-
tete man sich nach dem Geschrei eines Vogels. Die Dörfer waren weitgehend islamisch, Kinder bekamen aber zu ihrem mohammedanischen Namen nach einem Jahr noch einen „heidnischen“. Da der Kaufpreis für eine Frau sehr hoch war, verzichtete man weitgehend auf Ehe, sondern ersetzte sie durch Prostitution. Auf der Insel Mudua beschreibt Rosenberg den Goldabbau unter Tage, der wohl recht ergiebig war. Respektlos äußert sich Rosenberg über die Herrschaft einer Frau auf den Togean-Inseln, „welche Oliuggia tituliert wurde. Die gegenwärtige Regentin, eine alte Schachtel, wohnt im Dorfe Togean, ist halb erblindet, für Europäer nicht zugänglich und soll ganz unter dem Einfluss des buginesischen Kapitäns stehen.“ Ihre älteste Enkelin erbt den Thron.5 1861 wütete eine Pockenepidemie und reduzierte die Bevölkerung von 700 auf 400 Einwohner. Auf einem heimlich besuchten Bestattungsplatz in Sawangan findet er 3–4 Fuß hohe und 2–2,5 Fuß breite Steinblöcke, die ausgehöhlt und mit einem dach- oder pyramidenförmigen Deckel verschlossen wurden, sobald der Leichnam in aufrechter Hockposition darin verstaut war. Die Außenseite war verziert mit Arabesken oder menschlichen Figuren mit übergroßen Geschlechtsteilen, manche in der europäischen Kleidung des 18. Jahrhunderts. Seine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse kosteten eine Menge Blut. Nicht nur dass seine Jäger unzählige Tiere schossen. Einen kleinen neugeborenen Affen päppelt er erst hoch. Aus Angst ihn zu verlieren, tötet er ihn dann und konserviert ihn in Weingeist. Immer wieder muss Rosenberg seine Tätigkeit wegen Krankheiten unterbrechen. Zumindest für die rheumatischen Beschwerden findet er Linderung in den heißen Quellen von Manado. Nach 30 Bädern ist er wieder fit für die weitere Erkundung. Ins Landesinnere von Neu-Guinea war bis dahin noch kein Forscher vorgedrungen. Seit 1836 hatte es keine Regierungsniederlassung mehr gegeben, kein Missionar hatte Erfolge zu verzeichnen. Die Mehrzahl der Einwohner an der Südküste lebte auf steinzeitlichem Niveau. Rosenbergs Auftrag lautet, mit seiner Kommission geeignete Plätze in Küstennähe für Regierungssitze zu finden. Ihn empfängt üppige Vegetation in allen Buchten aber auch feindlich gesinnte Bewohner, die Weiße
nie gesehen haben, weder Schusswaffen, noch Alkohol oder Heilmittel kennen und mit denen Kommunikation schwierig ist. Neben Jagd und Fischfang betreiben die Frauen Landbau, halten Hunde, Hühner und zahme Papageien als Haustiere. Ihre Toten graben sie nach einem Jahr wieder aus und sammeln die Knochen in Höhlen oder Körben. Rosenberg hinterfragt nicht, warum die Menschen eine solche Vorliebe für Köpfe haben, welche Vorstellung sich damit verbindet. Die Sitte Einzelreisende hinterrücks zu überfallen und zu köpfen, führt zu endlosen Ketten von Blutrache. Wenn die Beute zu Hause gereinigt, geräuchert und getrocknet ist, richtet der Killer ein Fest für alle aus. Die Köpfe sammelt man in Totenhöhlen.6
Häuser im Dorf Babalobelano auf Süd-Nias
„Mit lang ausgekämmten, gleichsam zu Berge stehenden Haaren, welche weit nach vorne überstehend einen dunklen Schatten auf Stirn und die mit unheimlichem Feuer darunter hervorleuchtenden Augen werfen, zeigt sich der Papu auf seinen Raub- und Mordzügen als ein wahrer Dämon seines Landes, dessen urplötzliche Erscheinung überall Angst und Schrecken erregt.“7 Ihre Pfahlbauten befinden sich in Verfall. Alle Bewohner über zwölf Jahre tragen lediglich Schambedeckung. Obwohl die Indigenen der Humboldt-Bai das Eisen kennen, stellen sie die schönen Schnitzereien an Kanus und Tempeldächern mit Steinbeilen her. Mit Händen und Füßen machen die Bewohner der Kommission klar, dass die Fremden endlich wieder abfahren sollen. Die mitgebrachten Spiegel
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lösten hier keine Neugier oder Heiterkeit aus, wie auf anderen Inseln, sondern Angst. Eine dort weit verbreitete Orchidee, die er erfolgreich auf Java verpflanzte, erhielt den Namen Dendrobium rosenbergi. Schließlich legt er seinen militärischen Rang nieder und wird ziviler Beamter für geodäsische und naturwissenschaftliche Untersuchungen auf den Molukken. Dort hält er sich von 1858 bis 1866 auf, nur unterbrochen von drei Monaten Erholung im östlichen Java. An der Südküste von Seram wird er Regierungschef. Er baut ein neues Fort und eine Wohnung für Missionare, bevor er auf der Basis etlicher Reisen zu Fuß eine Karte der Insel erarbeitet. Einmal besucht er ein Dorf von Kopfjägern und trifft unterwegs Bekannte. Diese eilen voraus und melden ihn an. Das Oberhaupt muss durch Blasen mit einer Tritonsmuschel von der Gartenarbeit herbeigeholt werden. Geschenke werden ausgetauscht. Je mehr Menschenköpfe ein Mann gesammelt hat, umso angesehener ist er und umso eher wird er von einer Frau erhört. Die Zahl wird weithin sichtbar auf dem Lendenschurz markiert. An die 200 Schädel – offensichtlich mit eingeschlagener Hirnschale – in Fünferbündeln zieren die Festhalle eines Ortes, in der getanzt und gefeiert wird. „Höflichkeitshalber hatte ich die Geduld, das wüste Treiben eine Stunde lang anzusehen.“ Ihm scheint Seram unter gesundheitlicher Hinsicht das günstigste Land im indischen Archipel, da es keine Sümpfe ausweist, häufige Regenschauer für Abkühlung sorgen und noch keine Syphilis verbreitet ist. An der Nordküste dieser Insel liegt der einsamste Garnisonsort der Molukken, denn nur alle drei Monate landet ein Schiff aus Ambon um Lebensmittel und Post zu bringen. Auf der von Urwald bedeckten Insel ist der kommandierende Offizier gleichzeitig Chef der Zivilverwaltung. Zwei Fußpfade durchziehen die Insel, die Rosenberg mit 20 Trägern und 40 Mann zum Wegräumen von Hindernissen erkundet. Menschenraub stellt er nur in der Westhälfte fest, zwei Männergeheimbünde existieren seit dem 17. Jahrhundert. Besonders vermerkt Carl die glänzenden Falter. Der Häuptling von Maikoor ist ein alter abgelebter Trunkenbold und entbehrt jeglichen Ansehens, beobachtet Rosenberg.8 Über die Radjas verliert er nur wenig positive Worte, da sie seiner Meinung
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nach nichts organisieren, keine Regeln durchsetzen, keine Verbesserungen anstreben, sondern am liebsten faulenzen. Bei Handelskontakten sind sie allerdings meist als erste beim Schiff. Unter den überwiegend islamisierten Inseln gibt es damals nur wenige christliche. Beide Religionen überdecken nur die lokalen Glaubensvarianten. Auf Aru freuen sich die Einheimischen über die Geburt einer Tochter, da man für sie einen Brautpreis bekommt, von dem alle bei der Geburt Anwesenden etwas abbekommen. Bei einem Sohn hört die Mutter Vorwürfe und die Leute gehen enttäuscht auseinander.
Tempelruine am Burumon
Rosenberg entlarvt, dass andere Forscher auf Erzählungen über Kannibalismus hereingefallen sind, mit denen die Einheimischen bewusst die Fremden abschrecken wollen: z. B. dass die Batta ihre alt gewordenen Eltern schlachteten und verspeisten. Die friedfertigen Leute essen angeblich Menschenfleisch nur öffentlich nach reiflicher Überlegung und wenn es ihre Gesetze vorschreiben.
Das betrifft erschlagene Feinde, zu denen auch Missionare zählen,9 oder zum Tode verurteilte Verbrecher. Er kenne allerdings auch Bewohner, die einen Widerwillen gegen Menschenfleisch äußerten. Zentrum des Kannibalismus sei die Landschaft Tobi. Im Laufe seines Berichts vergisst Rosenberg immer wieder die Unparteilichkeit des Forschers und kann sich einer Wertung des Gesehenen nicht entziehen. Diejenigen, die wahllos Menschen von hinten ermorden, um ihre Köpfe zu sammeln, bezeichnet er als teuflisch, die Bewohner Hattams10 beurteilt er als feige, weil sie gerade dies nicht tun. Da sie aber nun mal eine Vorliebe für Schädelschmuck in ihren Häusern haben, schänden sie Gräber. Sogar die Leiche eines holländischen Kollegen, C. de Koning, der an einem Lebergeschwür gestorben war, wurde aus dem frischen Grab gestohlen. Ihre Gründe erfragt er nicht.11 Manches Mal wird er wenig begeistert willkommen geheißen, da er als verlängerter Arm der Regierung gilt. Die Einheimischen durchschauten die Europäer durchaus: Häuptlinge beschlossen, sich dem Vordringen Rosenbergs mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu widersetzen, weil sie (zu Recht) die Untersuchung des Flusses für eine Regierungsmaßnahme hielten, um ihr Land späterhin umso leichter in Besitz nehmen zu können.12 Nach all diesen Fahrten hatte er zwei Jahre Erholungsurlaub in Europa nötig.13 In der Provinz Singkel war er nur wenige Tage wirklich gesund. Spöttisch nennen es die Ausländer „Indisch Sibirien“. Rosenberg bekommt von Ludwig III. von Hessen und bei Rhein am 23. September 1864 das Ritterkreuz 1. Klasse des Ludwigs-Ordens für seine Leistungen.14 Noch war sein Werk aber nicht vollendet. Diesen Urlaub nutzt der Fünfzigjährige 1867 zur Heirat von Karoline Elisabeth Luise von Breidenbach zu Breidenstein.15 Er vermerkt launig, dass er dafür keinen Kopf habe rauben müssen. Lange hält sie ihn nicht in der Heimat. Von 1868 bis 1871 durchforschte er die Insel Ternate, einige Teile Halmaheras und den nordwestlichen Teil von NeuGuinea. Da er mit keinem Wort Sorge um seine Frau bekundet, hat er sie wahrscheinlich nicht mitgenommen. Mit unbeschwerter Begeisterung besucht er die Inseln nordwestlich von Neu-
Guinea, wo er Papuas vorfindet, die ihre Häuser auf Pfähle ins Wasser des Gezeitenbereichs stellte. Er schreibt es der Regierung zu, dass die Hütten baufällig, schmutzig und ohne jegliche Ausstattung sind. Halmahera bezeichnet er als die schönste Insel des Archipels, fasst sich aber sehr kurz im Vergleich mit den anderen Abschnitten. In der Beschreibung ist nicht erkenntlich, was eigentlich schöner ist. Er besucht die Relikte einer 200 Jahre alten portugiesischen Festung und erlebt einige Vulkanausbrüche. Eine Schiffsreparatur nagelt ihn zwanzig Tage auf Nufoor in der Geelvink-Bai fest. „Schlechte Kost, kaum genießbares Trinkwasser, anhaltende Regengüsse, stets nasses Bettzeug und feuchte Kleider, ein Dach über dem Kopf, das fortwährend leck war, durch Seewasser halb verdorbener Reis und, um unser Leiden vollzählig zu machen, als Gäste eine Menge lästiger Insekten, schufen den Aufenthalt zu einer Hölle um. Unter diesen Insekten spielten colossale Spinnen, Asseln und Erdläuse eine Hauptrolle, namentlich die letzteren, welche unter und zwischen dem den Boden bedeckenden Holz saßen, sich schon am zweiten Tag in Kleider und auf den bloßen Körper eingenistet hatten, mit keiner Möglichkeit zu vertreiben waren und durch ihre Bisse ein unerträgliches Jucken verursachten.“ Auf der Insel Arfak vermerkt Carl zum wiederholten Male, dass sich vor allem die Männer durch besondere Faulheit auszeichnen. Solange noch ein Atom Nahrung vorhanden ist, sehen sie keinen Anlass sich zu bewegen, eventueller Hunger wird mit Schlafen überbrückt. Kinder seien ihnen lästig, „sie ermüden uns, wir sterben vor der Zeit.“ Deshalb finden häufig Abtreibungen statt und die Bevölkerung vermehrt sich nicht nennenswert. Weder an der Umwelt, noch an sich selbst zeigen sie Interesse. So lassen sie ihr Geschirr nach dem Essen von Hunden sauber lecken. Das gegenseitige Lausen stellt die einzige Hygienemaßnahme dar. Höchstens ein Regenguss verhilft ihnen zu einer unfreiwilligen Wäsche. Man fragt sich als Leser, ob dieses Zerrbild aus einer Stimmungslage des Autors heraus so negativ ausgefallen ist. Seine Sprachkenntnisse speziell in Papua-Neuguinea dürften wohl kaum gereicht haben, um die Hintergründe für solches Verhalten einzuschätzen oder mehr als oberflächliche Beobachtungen zum Alltag der Bewohner zu registrieren.
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Die unermüdliche Tätigkeit zehrte Rosenbergs Kräfte mit der Zeit auf. Er suchte mit 54 Jahren um Pensionierung nach und kehrte nach Europa zurück. Der Abschied fiel ihm schwer. In Darmstadt diktierte er sein Reisewerk einem Kammerstenographen, da er selbst auf einer Tigerjagd einen Zeigefinger eingebüßt hatte. Nach vier Jahren übersiedelte er nach Den Haag, um dort und im Museum Leiden seine Sammlungen zu ordnen und auszuwerten. Eine Auswahl erhielt auch das Darmstädter Museum. Wie das Vorwort von Professor Veth zu seinem Bericht vermeldet, diente seine Forschung keinem praktischen Zweck, sondern war kosmopolitisch, uneigennützig, angeblich typisch deutsch für damalige Zeit. Dieses Urteil greift zu kurz. Rosenberg mag sich um Politik nicht gekümmert haben, sein Arbeitgeber hat durchaus Hintergedanken mit dieser Forschungsförderung verbunden. Um die Kolonien nutzbar zu machen, musste man sie natürlich erst einmal kennen. Über die möglichen Folgen der Erkenntnisse machte man sich kaum Gedanken. Viele Gebiete des Malayischen Archipels betrat er als erster Europäer und vermaß sie vor allem. Als Ornithologe war er der bedeutendste Forscher dieser Region. Insgesamt listet er 57 von ihm entdeckte Vogelarten auf. Sechs davon benannte sein Freund Schlegel nach ihm. In Neu-Guinea
entdeckte er neue Papageienarten, einige wurden nach ihm benannt, so Pitta rosenbergi von der Schouten-Insel. Dazu kamen ein Kauz, ein Lori, eine Schnepfe und eine Ralle, aber auch Kleiber und Laufflöterarten.
Rosenberg 1890, F. Umlauft
1878 erschien sein Reisebericht. Zehn Jahre später starb Rosenberg am 15. November 1888 im Haag und wurde in Darmstadt bestattet. Seine Witwe überlebte ihn um über drei Jahrzehnte.
1 Der Malayische Archipel. Land und Leute in Schilderungen, gesammelt während eines dreißigjährigen Aufenthaltes in den Kolonien, Leipzig 1878, Vorwort. 2 R. Ptak, Südostasien-Handbuch, München 1999. 3 Rosenberg 1878, 102. 4 W. Marschall berichtet 1973, dass sie bis heute dem Ahnenkult anhängen; zählen zur Megalithkultur. 6 Ders. 436. 7 Ders. 445. 8 Ders. 335. 9 Rosenberg nennt 1834 im Dorfe Huta-tinggie. 10 einer Region in Nord-Guinea. 11 Der Tod ist Vorbedingung für das Leben. Hierin liegt die Begründung für die Kopfjagd und den Kannibalismus, durch den die Lebenskraft des Opfers aufgesogen wird. Bild der Völker. Die Brockhaus Völkerkunde Bd.1, Wiesbaden 1974, 68 Die Asmat auf Neuguinea benutzen die Schädel als Kopfkissen und beruhigen dadurch ihre Ahnen. 12 Rosenberg 55. 13 K. Schleucher, Expeditionen im Malayischen Archipel: Hermann von Rosenberg. In: Darmstädter draußen – ihr Leben im Ausland. Zum 650-jährigen Stadtjubiläum 1330–1980 (1980), 229–242. 14 Urkunde dazu in Schleucher 241. 15 Vermutlich aus der zweiten Linie von Karl Freiherr von Breidenbach zu Breidenstein (1751–1813) Gothaischer Taschenkalender Bd.VI, 1966.
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Väter des brasilianischen Bergbaus Wilhelm v. Eschwege und Friedrich Varnhagen Die Facendeiros, die Großgrundbesitzer Brasiliens, kamen aus Gebieten der iberischen Halbinsel, die Jahrhunderte dem arabischen Einfluss unterworfen gewesen waren. Nach der christlichen Wiedereroberung hatten sie als Vasallen des Königs große Landgebiete erhalten. Das stark entvölkerte Land konnte durch extensive Viehzucht am besten genutzt werden. Viele feudalen Grundbesitzer gingen im 16. Jahrhundert nach Brasilien. Auf den Campos Süd- und Mittelbrasiliens konnten die schnell wachsenden Herden leicht überwacht und der von Indianern bewohnte Wald in großem Bogen umgangen werden.1
Wilhelm Ludwig, Baron v. Eschwege
Während auf den kühleren und trockeneren Plateaus die Viehzüchter lebten, holzten an der wärmeren und fruchtbareren Küste die Farmer der Zuckerplantagen, Portugiesen aus Madeira, den Urwald ab und schlossen kleinbäuerliche Landnutzung aus. Der radikalen Abholzung folgte der extensive Anbau, nach Ertragsrückgang nicht etwa Düngung und Intensivierung, sondern die Aufgabe des Geländes und die Abholzung des nächsten Geländeabschnitts. Der Kaffeeanbau startete 1774. Das waren die Leute, auf deren Hilfsbereitschaft die Forscher angewiesen waren, wenn sie Nachtlager
und Verpflegung suchten. Erst zwischen 1822 und 1892 fristeten 20000 Deutsche auf den Hängen des Hochplateaus im Sao Leopoldo in Rio Grande ein kärgliches Leben.2 Insgesamt wanderten zwischen 1820 und 1900 nur 101800 Deutsche nach Brasilien aus. Wilhelm Ludwig v. Eschwege erblickte auf dem Rittergut Aue bei Eschwege als Sohn des Landrats Johann Christian Ludwig von Eschwege und seiner Frau Sophie Mosebach am 11. November 1777 das Licht der Welt3 und sollte zum „Vater der Geologie und des Bergbaus Brasiliens“ avancieren. Seine Mutter stammte aus einer Bauernfamilie und unterstützte in der napoleonischen Zeit den Widerstand gegen die Fremdherrschaft.4 In seinen Lebenserinnerungen beklagte er sich über seine unzureichende Schulbildung durch Hauslehrer und im Eisenacher Gymnasium.5 Er studierte 1796–1799 in Göttingen ein Semester Jura und hörte in der Anatomie. „Wenn ich damals nicht Mediciner vom Fach wurde, so geschah es aus einem in jener Zeit erbärmlichen Vorurtheil, wegen des Wörtchens „von“.6 Ein Überbleibsel dieser Zeit ist ein Gesundheitsbulletin, das er jahrelang über seinen eigenen Zustand führte. Naturgeschichte, Physik, Technologie und Forstwissenschaft sagten ihm mehr zu.7 Im Kreis um J. F. Blumenbach, dem entscheidenden Mäzen damaliger Reisenden, traf er auch v. Langsdorff. Das Verlangen nach praktischen Kenntnissen veranlasste ihn nach Marburg zu wechseln, um Mineralogie, Geognosie, Berg- und Hüttenkunde zu hören. So gerüstet wurde er Bergfachmann. 1801 legte er sein Examen ab und konnte durch alte Kontakte seines Vaters gleich eine unbezahlte Stelle in Richelsdorf bei Nentershausen annehmen. Die verwandte Familie v. Baumbach, bei der er lebte, unterband seine Liebe zur ältesten Tochter Sophie. Aus Verzweiflung stürzte er sich in die Arbeit und ging beurlaubt nach Clausthal. 1803 vermittelte die Regierung in Kassel einen Vertrag mit der portugiesischen Regierung, dem drei Deutsche folgten: Eschwege, Varnhagen und der Schmalkalder Martin Stieffel. Die Deut-
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schen arbeiteten sehr selbständig unter dem Oberberghauptmann, der meist abwesend war, als Direktoren des Schmelzwesens und der Frischfeuer in Foz d’Alge in der Provinz Estremadura.8 Durch einen Ministerwechsel kam ein persönlicher Feind von Eschwege ans Ruder, der Betrieb wurde stillgelegt und der Deutsche verbrachte eine sinnlose Wartezeit in Lissabon. Als es wieder aufwärts gehen sollte, hätte er gern Bergleute in Hessen angeheuert. Der Kurfürst persönlich untersagte ihm die Anwerbung, zugänglicher war Fürst Friedrich in Arolsen. Wenn die vielen Waldecker aus Unfähigkeit und Fremdenfeindlichkeit die Arbeit unterbrachen, suchte Eschwege Mineralien. Bis zur drohenden Invasion Napoleons hatte er beinahe ganz Portugal unter bergmännischen Gesichtspunkten untersucht.9 Als Kapitän der Artillerie bekämpfte er die Franzosen, bevor er in der Nähe von Lissabon ein Kohlenbergwerk eröffnete, um die nicht mehr verfügbare englische Kohle zu ersetzen. Mit dem hessischen General in portugiesischen Diensten v. Wiederhold arbeitete er in einer Kommission, die die Stellungen der portugiesischen Truppen bis zur spanischen Grenze festlegen sollte. „Eine vollkommene Anarchie war zu dieser Zeit in Portugal eingerissen, wir fanden als große Hindernisse das Volk in Schranken zu halten, jeder Ausländer galt damals für Franzose oder Spion und mehremalen waren wir in Gefahr ermordet zu werden.“ Am Karfreitag 1809 entging er nur knapp einem Attentat. „Ich erhielt ein Aviso aus Rio de Janeiro zu kommen und ich reiste im Jahre 1810 mit einem deutschen Bergmann, einem Schmelzer und einem Schreiner dahin ab.“ Nunmehr Major beim Ingenieurkorps unternahm er Prospektionsreisen, wurde Direktor des königlichen Mineralien-Cabinets, richtete die Pabst-Ohainsche Sammlung ein und übersetzte den Katalog. Eine Ernennung zum Professor der Mineralogie lehnte er ab, da er lieber das Landesinnere erforschen wollte. Für letzteres wird er bis heute geehrt durch einen nach ihm benannten Tag und Saal im Museum, sowie die Gründung des Arquivo Mineiro Wilhelm Ludwig von Eschwege. Als erstes besuchte er 1811 Minas Gerăes. „Ich betrieb die Anlegung von Eisenhütten mit einem solchen Eifer, dass im Dezember 1812 bereits
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die erste in Arbeit war und das fürtrefflichste Eisen lieferte. Es war dies die erste Hütte in ganz Brasilien, worauf ich nicht wenig stolz bin. Es gab dies Gelegenheit zu manchem Handwerksneid ...“ Die Ruinen der ersten vier Doppelöfen zum Schmelzen des Roheisens stehen als Keimzellen der Industrialisierung seit 1938 unter Denkmalschutz und sind heute Teil eines Museum des Eisens. Innerhalb von zehn Jahren entstanden achtundzwanzig kleine Eisenhütten. Von diversen Commissionen wurde er damit beauftragt ein Pochwerk zu bauen, ein königliches Gestüt einzurichten, bei Grenzbestimmungen mitzuwirken und die erste Landkarte zu vermessen.
Friedrich Ludwig Wilhelm Varnhagen, Gemälde von Bernhard Wiegandt (1851–1918)
Die Planung umfasste auch die Infrastruktur und Beobachtungen der umwohnenden indigenen Völker. Er würdigte in seinen Veröffentlichungen die Tatsache, dass die Portugiesen durch ihre schwarzen Sklaven auf die Erzvorkommen, die Schmelztechnik und die Goldwäscherei hingewiesen worden waren. Die von Eschwege erkundeten Gebiete waren die seinerzeit geologisch am besten erforschten Areale. Angewidert schildert er in seinen unveröffentlichten Memoiren die schlechte Behandlung der Sklaven durch ihre weißen Herren. „Gleich in den ersten Tagen meines Einzuges in dem neuen Quartier sollte ich ein Beispiel sehen. Es war gerade zur Mittagszeit ..., als ich unten in dem Hofe des Schreiners in einem langsamen Takte regelmäßige
Schläge austeilen und ein herzzerreißendes Stöhnen vernahm. Ich sah zum Fenster hinaus und erblickte einen nackten, kräftigen Neger an einem Pfeiler festgebunden und dem kräftigen Hiebe mit einer Art ledernem Knüttel durch den Herrn aufgezählt wurden. Ich empfand das größte Mitleiden mit dem armen Teufel, der bittend zu mir emporsah, so dass ich nicht einen Augenblick anstand, seinem Peiniger zuzurufen, er möchte die fernere Strafe verzeihen oder dieselbe wenigstens verschieben, bis ich meine Mahlzeit gehalten und das Haus verlassen. Ich kannte damals die Wirkungen solcher Fürbitten noch nicht und war höchlich verwundert, dass man ihr sogleich Folge leistete.“ In der Nähe von Villa Rica sollte eine Eisenhütte entstehen, wofür Eschwege als metallurgischer Beirat für zwei Jahre verpflichtet wurde. Um Fruchtbarkeit und Klima zu testen, pflanzte er neben seinem Haus jeden Monat ein Beet englische Kartoffeln sowie Flachs und erntete dadurch das ganze Jahr über.10 In den Jahren nach 1814 beriet er Varnhagen beim Aufbau eines Eisenwerks in Ypanema und wurde der gründlichste Diamantenkenner seiner Zeit.11 Diese Bodenschätze waren 1727 entdeckt worden und inzwischen in Regierungshand. Er brauchte deshalb eine königliche Sondererlaubnis, um den Distrikt Serro Frio, in dem mit zweitausend Sklaven Diamanten gewaschen wurden, bereisen zu dürfen. Aus seiner eigenen kleinen Kollektion schenkte er Exemplare der Weimarer Gesteinssammlung12 und widmete die Veröffentlichung zum Thema Großherzog Carl August. Im Vorwort schreibt er: „Der Ernst und die Liebe, mit der ich 11 Jahre in Brasilien beobachtet zu haben mir bewusst bin, lassen wohl kaum irgend Jemand an der Wahrheit desselben zweifeln.“ 1812 traf auch sein Bruder Ernst, der mit dem braunschweigischen „Schwarzen Korps“ nach Portugal gelangt war, in Brasilien mit der Aussicht auf eine Anstellung ein. Mit ihm zusammen reiste er zur Fazenda von Pompeo und bereitete alles zum Aufbau einer Bleimine bei Abaeté vor, deren Direktor er wurde. Auf der Reise mit Freyreiß 1814 wurde Eschwege krank und musste in der Hängematte nach Roça Grande getragen werden. Auch er überlieferte Namen und Informationen über die zwar am Belmonte, aber nicht am Rio
Doce befriedeten Botokuden. Ein andermal stellte er mit Schaudern fest, dass sein Schlafkamerad eine Klapperschlange gewesen war, die ungefährlich war, solange man sie ungestört in menschlicher Wärme liegen ließ. Eschwege würzte sein Journal mit vielen Tipps für interessierte Reisende. Ernst kehrte nach Hessen zurück, sobald er von der Niederlage Napoleons hörte. Das Jahr 1816 führte Eschwege in Gesellschaft des Gouverneurs von Minas Gerăes in die Golddistrikte von Sabara und Caethé nördlich seines Wohnsitzes Villa Ricirca Inzwischen weckten die vielen eingewanderten Beamten und Stellenjäger bei den Bewohnern Missgunst.
Diamantenwäscherei mit Schüsseln
Am 6. November 1817 fand der feierliche Einzug der österreichischen Erzherzogin Leopoldina als Braut des Thronfolgers Don Pedro und ihres Gefolges in Rio statt. Eschwege war unter den Gästen und überreichte das zweite Heft des „Journal von Brasilien“, gewidmet der Prinzessin. Kollege Varnhagen war ebenfalls erschienen. Die Prinzessin unterhielt sich später oft mit den beiden über die deutsche Heimat, nach der sie bald ein tiefes Heimweh fasste. Mit Sellow, dem späteren Direktor der Berliner Museen, Ignaz von Olfers, und einer Karawane von siebenundzwanzig Lasttieren, vierzehn Dienern, Sklaven und Treibern zog Eschwege drei Monate durch interessante Distrikte. Neben dieser Tätigkeit bildete der Oberst ein in Minas stehendes Kavallerieregiment von 600 Pferden aus, für die er die Stallungen baute, und brachte eine Pulverfabrik und den Wegebau auf Vordermann. Als der König, den Kronprinzen zurücklassend, nach Europa heimkehrte, brach der Generaldirektor der Brasilianischen Goldaktiengesellschaft v. Esch-
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wege seine Arbeiten ab und nahm zwei Jahre Urlaub, denn die Zeiten schienen in Brasilien unruhig zu werden. Mit seinem schwarzen Leibdiener Sebastiao erregte er überall Aufsehen. Der Akademie der Wissenschaften in Lissabon überreichte er sein ausführliches Gutachten über die Situation des Bergbaus in Brasilien und machte Verbesserungsvorschläge. Das Museum in Kassel erhielt Goldkristalle und Diamanten aus Brasilien. Dem Kurfürsten widmete er auch seinen ersten Band des Brasilienwerks. Ausgezeichnet wurde er mit dem Ritterkreuz des hessischen Hausordens. Die Mitgliedschaft in der Naturforschenden Gesellschaft zu Halle, der Mineralogischen Gesellschaft zu Jena und der Kaiserlichrussischen Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg wurde ihm angetragen.13 In dieser Zeit traf er sich mit Alexander v. Humboldt und dem Afrikareisenden Rüppell und heiratete endlich seine Sophie, die als Hofdame in Weimar lebte. Anlässlich zweier Besuche in Weimar befreundete er sich mit Goethe. Einen Brief Leopoldinas wurde er in Wien nicht los, weil Metternich dem Anhänger der konstitutionellen Monarchie keine Audienz verschaffte. Das scheint ihn aber nicht weiter belastet zu haben. Er nutzte den Umweg über Ungarn, Böhmen, Schlesien, Polen, um geologische Vergleiche anzustellen. Ohne seine Frau kehrte er nach Portugal zurück, um erst mal die politische Lage zu erkunden. Im Januar 1825 holte er sie nach, nachdem ihn 1824 König Joăo VI. zum Oberberghauptmann des Königreichs ernannt hatte. Als solcher gehörte er zur Verwaltung des Ministeriums des Innern, als Oberst des Geniekorps unterstand er dem Kriegsminister. Seine Lage komplizierte sich, als nach dem Tod des Königs ein Bruderkrieg zwischen Don Pedro in Brasilien und Don Miguel in Portugal ausbrach. „Ich hatte deshalb viel Verdruss zu ertragen, jedoch auch die Regentin wollte mir wohl und man konnte nicht ungerecht gegen mich seyn. Mit der Ankunft des Infanten (Don Miguel) aber fanden die Intrigen mehr Spielraum und ich wurde ohne eine Veranlassung, auch ohne dass man sich die Mühe gab einen Grund anzugeben meiner Stelle als Oberberghauptmann entsetzt und dieselbe einem anderen gegeben, der schon längst darauf strebte und der gar keine Kenntnisse davon hatte.“ In der Bevölkerung wuchs der Fremdenhass,
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Konkurrenten wollten ihn aus seinen Stellungen drängen, eine nächtliche Ausplünderung und ein Mordanschlag vergällten ihm und seiner Frau den weiteren Aufenthalt. Es wurde ihm ein Urlaub von zwei Jahren bewilligt. In der Heimat suchten andere Forscher vor Brasilienreisen seinen Rat, um ihre Ergebnisse zu verbessern. Geldnöte drängten ihn zur Aufarbeitung seiner Erkenntnisse.14 Obwohl dabei 1830 ein sehr trockenes Fachbuch herauskam, wurde v. Eschwege in kurzer Zeit einer der gelesensten Schriftsteller und Mitarbeiter der meisten geographischen und geologischen Zeitschriften.15 Detailliert listet er die Einnahmen der königlichen Schatzkammer auf, umreißt nur kurz die Völker, beschreibt die Lagerstätten der Rohstoffe und vervollständigt den Text mit einem Abdruck der Gesetze für den Fiskal der Diamantenadministration. In der Edergegend erregte er allgemein Aufsehen, als er nach der Verleihung der Gerechtsame für Goldwäscherei 1832 die „Hessisch-Waldeckischen Compagnie zur Gewinnung des Goldes aus dem EderFlußgebiet“ gründete und im ersten Anlauf 1400 Aktien unters Volk bringen konnte.16 Anfänglich erfolgversprechend liefen die Geschäfte 1833 jedoch schlechter, da man – anders als in Brasilien – wegen der Schwierigkeit der Wasserführung nicht bis zu der stärker goldhaltigen Tiefe vordringen konnte. Eschwege streckte seine Fühler nach einer russischen Staatsstelle aus. Trotz Protektion des Weimarer Hofes kam das jedoch wegen seiner Forderungen nicht zustande. Das letzte Angebot des ehemaligen Hanauers, Finanzminister Georg Graf v. Cancrin, Leiter der Krongoldwäschereien im Ural zu werden, schlug er zugunsten einer Rückkehr nach Portugal aus. Dort war die Tochter Pedros auf den Thron gelangt, die Herzog August von Leuchtenberg heiraten wollte. In dessen Gesandtschaft, die ihn zur Hochzeit begleitete, reiste v. Eschwege, ließ aber seine Frau in Deutschland. Offenbar besuchte er sie in den nächsten zehn Jahren nur einmal 1847.17 Noch ein Jahr lang stand er als Direktor dem Oberbergamt vor, dann wurde die Bergbauverwaltung aufgelöst. Im Rentenalter beauftragte ihn Ferdinand II. 1839 mit der Umgestaltung des Klostergutes Pena in ein Schloss, dem er sich mit Begeisterung widmete. Nach zehn Jahren
nannte ihn die Bevölkerung den Baron von Pena. 1850 kehrte er endgültig nach Deutschland zurück. Die letzte Ehrung erreichte ihn 1852: der König von Portugal ernannte ihn zum Feldmarschallleutnant. Am Ende beschäftigte er sich, ermuntert von seinem Freund Martius, mit seinen Memoiren. Von einer kurzen Reise in seine zweite Heimat kehrte er kränklich zurück, erlitt einige Schlaganfälle und starb kinderlos am 1. Februar 1855 in KasselWolfsanger auf dem Gut seines Bruders Karl, wo er sich ein Haus gebaut hatte, seine Frau 1869.18
das eisenreichste Vorkommen der Erde, das im Tagebau zu gewinnen waren und schrieb darüber an Linhares: „Man könnte von diesem äußerst reichen Erzvorkommen mehr als hundert Jahre lang die größte Fabrik der Welt unterhalten, ohne zu Minierarbeiten schreiten zu müssen.“ An dieser Stelle fanden sich Reste einer Vorgängeranlage von 1590, die Affonso Sardinha, der Entdecker des Eisensteins von Arasoiaba, aus zwei Zerrinnfeuern konstruierte, welchem der Wind mit einem großen ledernen Handblasebalg zugeführt wurde. Mit einem Schwanzhammer wurde das Eisen gereckt. Seit 1629 hatte die Arbeit geruht, 1768 wurde sie für kurze Zeit wieder aufgenommen. Varnhagen fand sogar noch einen Arbeiter, der dort vierzig Jahre zuvor gearbeitet hatte. Seitdem hatte dort jeder Eisen geschmolzen, wie es ihm gefiel.21
Botokuden
Varnhagen und von Eschwege hatten sich 1800 kennen gelernt. Friedrich Ludwig Wilhelm Varnhagen wurde am 24. Februar 1783 bei Arolsen als drittes Kind des Pfarrers und Landeshistorikers Johann Adolf Theodor Ludwig und Marie Luise Schwalbach geboren.19 Im Alter von drei Jahren verlor er die Mutter durch Typhus. Der Vater schrieb 1798 einen Brief an den Landgrafen und fragte nach einer Anstellungsmöglichkeit im staatlichen Bergwesen. Als Antwort erhielt der Fünfzehnjährige ein Stipendium für drei Jahre in der Lehranstalt der Bergbaukunde in Kassel. 1803 gelangte er durch die Kasseler Regierung mit v. Eschwege nach Portugal. Auf der Eisenhütte in Foz d’Alegre übernahm er unter de Andrada, einem ehemaligen Absolventen der Freiberger Ausbildungsstätte, die Aufsicht über die Hochöfen, ein leidiger Job, bei dem er ständig mit Sabotageakten der zwangsverpflichteten Arbeiter zu rechnen hatte. Erst als die Schmelzversuche geglückt waren, besuchten viele Interessierte den Ort, darunter auch seine spätere Frau.20 Auf Wunsch der Exilregierung reiste er 1809 nach Brasilien. Zum Hauptmann ernannt, erkundete er die Eisengewinnungsmöglichkeiten im Bereich des Hüttenwerks Sorocoba am Fluss Ypanema. Er fand
Jean Baptiste Debret, Botokuden (vor 1834)
Eschwege meinte dazu: „Im Jahre 1810 schickte man meinen Landsmann, den jetzigen IngenieurMajor Varnhagen in jene Capitanie, um einen ordentlichen Plan zu einer großen gewerkschaftlichen Fabrik zu entwerfen. Man brachte auch bald einen Fond von 100000 Cruzados zusammen, und das Gouvernement nahm mit 100 Sklaven, die es gab, Antheil an diesem Unternehmen.“22 Der schwedische Direktor und seine 16–18 Hüttenleute verwarfen den Plan und wurstelten sich mit so hoffnungslos veralteten Methoden irgendetwas zurecht, dass Varnhagen beschloss die Leitung zu übernehmen. Die Ausbeute entsprach bei weitem nicht der Investition, da Handwerksburschen und Deserteure statt Fachleuten eingestellt worden waren. Varnhagen baute zwei Hochöfen, vier Hämmer, zwei Rollhämmer und acht Frischfeuer und beschäftigte achtzehn Deutsche. Im November 1818 fanden die schwierigen Erschließungsund Bauarbeiten in Ypanema ihr Ende mit dem
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ersten erfolgreichen Eisenguss. Nunmehr Oberst, unternahm er ausgedehnte Forschungsfahrten im umliegenden Urwaldgebiet und verfasste eine Landesbeschreibung des Matto Grosso, die sich besonders auf die geologischen Verhältnisse konzentriert. Nach weiteren Publikationen ernannte ihn 1821 die Akademie der Wissenschaften in Lissabon zum korrespondierenden Mitglied. Das 1816 in Ypanema geborene fünfte Kind Franz Adolph Varnhagen wurde brasilianischer Diplomat23, durch Pedro II. von Brasilien als Visconde de Porto Seguro geadelt und 1874 Gesandter in Wien. 1822 kehrte sein Vater nach Europa zurück, um nach einem längeren Urlaub Generalforstmeister Portugals mit Sitz in Leiria in der Provinz Estremadura zu werden. Er und Eschwege waren recht verschiedene Naturen, mussten aber miteinander auskommen. Ihr Lebensweg trennte sich erst, als Eschwege 1830 Portugal verließ. In einem erhaltenen Briefkonzept bittet von Eschwege seinen Freund, er solle seine dortigen Dienstgeschäfte doch für ihn übernehmen, für den Fall, dass man ihn wieder als Oberbergmann berufen sollte; denn er könne jetzt wegen seiner Geschäfte nicht abkommen, „und vielleicht komme ich gar nicht wieder dorthin, allein da mein Unternehmen hier noch auf keinen festen Füßen steht; so muss ich mir die Stelle ... dorten noch erhalten und Sie werden die Sache so einzurichten wissen, dass ich deshalb nicht in Verlegenheit komme.“24 Da Varnhagen mit einer Einheimischen verheiratet war und außerhalb der Hauptstadt residierte, hatte er während der Gewaltherrschaft Dom Miguels eine günstigere Position als Eschwege. Diese nutzte er als kluger Verschwörer. „Vielleicht wissen Sie nicht, dass ich mit Lord William Russel zu Michels Zeiten Pläne machte, denselben zu stürzen, da ich demselben vorschlug eine Expedition nach Algabrien zu machen ... Ich bin überzeugt, dass ich mehr zu Michels Sturz beygetragen habe als Jemand. Wissen Sie denn nicht von meinem Plane, Lissabon zu vertheidigen, den ich D. Pedro
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schickte;25 ... Palmella schickte mir einen Emissär von London, um mit mir über die Möglichkeit einer Revolution in Portugal zu verhandeln.“ Aufgrund dieser Verdienste saß er sehr sicher im Sattel. Seinem Freund erläutert Varnhagen die Zustände und Abhängigkeiten seines Amtes nach längerer Abwesenheit, wo er vorsprechen müsse, um etwas zu erreichen, und wer Intrigen spinne. „Dieser Bruder Manoel Maria sa Corta Posser ist officiel in jener Staatssecretaria und hat Ihr Departement unter Händen. Weiß die Intriguen, die man in jener Secretaria gegen Sie gespielt hat; war bei Miguels Zeiten abgesetzt und kann und wird Ihnen viel dienen.“ Er warnt: „Die Straßen und Wege sind alle voller Räuber, u. man ist nicht sicher in der Wohnung hier im innern überfallen zu werden. Ja man kann nicht einmal sicher zum nächsten Dorf reisen. Wenn ich in 3 Wochen nach Lissabon gehe, so werde ich in der großen Carawane die das Esteffetta von Porto wöchentlich begleitet, reisen; wie ich’s das letzte male auch gemacht habe, wo 140 Personen zusammen reisten ... Jeder rächt sich mit eigener Hand.“26 Mit Bergwerken und Eisenfabriken wollte Varnhagen nichts mehr zu tun haben, er ging in der Waldwirtschaft auf und vermittelte Bergmännisches an Eschwege weiter.27 „Ich möchte überhaupt lieber privatisiren, als bei den jetzigen demagogischen Principien das Volk u. die Regierung ertragen zu müssen. Alles naht sich zu einer förmlichen Auflösung der politischen Bande.“ In Lissabon starb er am 16. November 1842 und hinterließ einen Sohn, der lieber beim Militär bleiben wollte, und mehrere Töchter. Im Staatsarchiv Marburg hat sich der Briefwechsel mit v. Eschwege erhalten. Die Lage für Einwanderer verschlechterte sich ab 1879, als Vergünstigungen abgeschafft wurden. Da man allgemein befürchtete, die Deutschen würden zu mächtig, sprach sich der Kaiser gegen eine Gleichberechtigung aus. Am liebsten hätte er sie nur als Ersatz für die freigelassenen Sklaven benutzt, ihnen Zugang in hohe Ämter verwehrt.28
1 Lehmann, Historische Züge der Landesentwicklung im südlichen Brasilien. In: Wissensch. Veröff. des Dt. Instituts f. Länderkunde, NF 15/16, 1958, 86. 2 Deutsches Auswandererhaus (Hrsg), Das Buch zum Deutschen Auswandererhaus, Bremerhaven 2009, 12. 3 E. G. Franz (Hrsg.), Hessische Entdecker, 1981, 12f.; F. Sommer, Wilhelm Ludwig v. Eschwege 1777–1855. Lebensbild eines Auslandsdeutschen, 1928; Wilhelm v. Eschwege, Der Erbauer des ersten brasilianischen Hochofens. In: Heimat im Bild 7, 1950, 25. 4 Beck in NDB schreibt Mosebach, F. Kühn In: Lebensbilder aus Kurhessen und Waldeck 3, 1942, 65ff. schreibt „von Mosbach“ als Geburtsname der Mutter; Die Familie geht zurück auf den Kanzler des Grafen Sigfrid v. BoimeneburgNordheim, Heinrich von Eschwege 1141 GTA 4, 1960, 337. 5 Mit ihm erzogen wurden die Söhne des Gutsverwalters Rehbein, von denen einer später Leibarzt des Großherzogs von Weimar und Goethes Freund wurde. 6 H. Beck, Ergebnisse der Wilhelm Ludwig von Eschwege-Forschung. In: Zeitschr. d. Ver. f. hess. Gesch. u. Landeskunde Bd.67, 1956, 164. 7 Selbstdarstellungen W. L. von Eschweges (1777–1855) aus den Jahren 1822 und 1832. In: Wissensch. Veröff. d. Dt. Instituts f. Länderkunde NF 15/16, 1958, 365ff. 8 Lebensbilder aus Kurhessen und Waldeck 3/1942, 65ff. 9 H. Beck, Große Reisende. Entdecker und Erforscher unserer Welt, München 1971, 148; H. Fröschle, Die Deutschen in Lateinamerika. Schicksal und Leistung, 1979. 10 Journal 176; F. Toussaint, Baron v. Eschwege und seine „Fabrica Patriotica“. In: Martius-Staden-Jahrbuch 37/38, 1989/90, 159f. Eschweges Betrieb verfiel nach 1821; ders. Die Frühzeit der brasilianischen Eisenerzeugung und die Eisenhütte von Sorocaba. In: a. a. O. 30/31, 1982/3, 81f. 11 H. Beck In: NDB4, 1959, 652. 12 Eschwege, Geognostisches Gemälde von Brasilien und wahrscheinlich Muttergestein der Diamanten, Weimar 1822. 13 Lebensbilder 72. 14 Beck 1956, 168; Er soll in Portugal ein Findelkind, das vor seiner Tür lag, an Sohnes statt angenommen haben, brachte ihn nach Deutschland und ließ ihn erziehen. Waldemar de Almeida Barbosa, A figura humana do Barao de Eschwege. In: Martius-Staden-Jahrbuch 25, 1977, 47f. 15 Journal von Brasilien oder Vermischte Nachrichten aus Brasilien, auf wissenschaftl. Reisen gesammelt, 1818; Brasilien, die neue Welt in topogr., geognost., bergm., naturhist., polit. und statistischer Hinsicht während eines elfjährigen Aufenthalts von 1810–1821 mit Hinweisen auf die neuen Begebenheiten, 1830ff; Geognostisches Gemälde von Brasilien und wahrscheinl. Muttergestein der Diamanten, 1822; Nachrichten aus Portugal und dessen Colonien, mineral. und bergmänn. Inhaltes, 1820; Pluto Brasiliensis, 1833; Beiträge zur Gebirgskunde Brasiliens u. a. 16 Brief an A. v. Humboldt vom 17.12.1832. 17 Lebensbilder 76. 18 E. G. Franz (Hrsg.), Hessische Entdecker 1981, 12f. 19 a. a. O.1981, 14; F. J. Brecht. In: Lebensbilder aus Kurhessen und Waldeck 3, 1942, 362f. Die Familie geht auf Johannes Varnhagen zurück 1505–1582 evangelischer Pfarrer in Iserlohn, Sohn des katholischen Pfarrers Conrad von Ense gen. Varnhagen; Sippe stammt aus Altena, der Urgroßvater war als Apotheker nach Korbach gekommen. preuß. Adelsstand ab 1826 für Karl August GHA XV, 2004. 20 Maria Flaviá de Sá Magalhǎes. Am 21.8.1807 wurde Sohn Timotheus geboren. 21 Brief von Varnhagen in: Journal 238ff. 22 Journal 232. 23 Verfasser einer mehrbändigen ersten (Kolonial)Geschichte von Brasilien: Mit 23 Jahren bemühte er sich um die Anerkennung seiner brasilianischen Staatsbürgerschaft, obwohl er abgesehen von den ersten sieben Lebensjahren nur noch wenige Jahre dort lebte. Seine diplomatische Karriere war von Beginn an mit dem Sonderauftrag verbunden, in den Archiven das Material dafür zusammenzutragen. 24 H. Beck, Tatsachen der Lebensgeschichte Varnhagens und v. Eschweges. In: Nova Acta Leopoldina NF Nr.167, Bd.27, 125. 25 Dom Mihuels Truppen kapitulierten am 21.5.1835 vor Dom Pedro, der 1831 zugunsten seines ältesten Sohnes auf die Krone Brasiliens verzichtet hatte und den portugiesischen Thron für seine Tochter zurückerobern wollte. Dom Miguel verließ daraufhin Portugal. Zitat aus dem Brief vom 18.7.1835 an Eschwege. 26 Brief vom 31.1.1835. Beck Acta Leopoldina, 128. 27 Brief vom 5.4.1837. 28 E. Pelz, Katechismus für Auswanderer, 6. Aufl. 1881, 49ff.
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Wegbereiter der Industrialisierung in Brasilien Georg Wilhelm Freyreiß
Die Interessensphären in Südamerika: westl. der Linie spanisch, östl. portugiesisch
Portugiesen und Spanier hatten ihre Interessensphären in den Verträgen von Tordesillas (1494) und Saragossa (1529) festgeschrieben. Nun galt es, das Maximum aus den Kolonien herauszuholen. Das ging natürlich nur mit Arbeitskräften! Südamerika war relativ dünn besiedelt. Nicht alle Siedler, die von Portugal nach Brasilien kamen, waren Freiwillige wie die Katholiken aus aller Welt: Das portugiesische Gesetzbuch kannte zu jener Zeit 200 Vergehen, die mit Verbannung geahndet wurden. Zwar gab es schon seit 1611 ein Verbot, Indios zu Sklaven zu machen, bestraft wurde es erst ab 1680. Das brutale Verhalten vieler Portugiesen stachelte ab dem Ende des 18. Jahrhunderts Aufstände gegen die portugiesische Herrschaft u. a. in Minas Gerăes an. Portugal schirmte seinen Einflussbereich mithilfe der Behörden in Rio streng ab aus Furcht vor Spionagetätigkeit. Auf Alexander v. Humboldt war sogar ein Kopfgeld ausgesetzt, im Falle dass er die Grenze überschritten hätte. Deshalb zog er von Venezuela aus nicht weiter nach Süden. Freyreiß schreibt in der Einleitung einer Veröffentlichung: „Kein Land in der Welt hat in der neuesten Zeit mehr Aufmerksamkeit erregt, als das von der Natur so außerordentlich reich begabte Brasilien, von
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dem eine misstrauische Politik den Fremden drei Jahrhunderte hindurch fern hielt, bis endlich die Ankunft des Hofes von Lissabon, und der Einfluss der Engländer, die Schranken jenes Verbotes durchbrachen.“1 Er meinte die Flucht des gesamten portugiesischen Hofes vor Napoleon nach Südamerika mitsamt Staatskasse und 15000 Gefolgsleuten auf vierzig Schiffen von 1807 bis 1821. Privat organisierte Forschungsreisen waren seitdem nicht mehr verboten.2 Auf dem Wiener Kongress (1815) wurde Brasilien im Rahmen eines „Vereinigten Königreichs von Portugal, Brasilien und Algarve” dem Mutterland formal gleichgestellt. Während des Kaiserreichs unter Pedro I. setzte eine verstärkte und organisierte Einwanderung, nicht zuletzt aus Deutschland ein. 50–60 Chinesen mussten im Botanischen Garten in Sta. Cruz den Teeanbau testen. Freyreiß bezweckte mit seiner Schrift die Aufklärung möglicher Kolonisten, damit sie nicht mit überspannten Erwartungen einträfen. Vier Hessen, die sich z. T. untereinander kannten, hatten zwischen 1809 und 1825 entscheidenden Anteil an der Erforschung Brasiliens: der erfahrendste war v. Langsdorff,3 dessen Begleiter bei kleineren Fahrten Freyreiß und Oberstleutnant Eschwege. Der wiederum war Kollege Friedrich Ludwig Wilhelm Varnhagens aus Arolsen. Georg Wilhelm Freyreiß, am 12. Juli 1789 in Frankfurt a. M. als Sohn des Schusters Johann Daniel und seiner Frau Helena Margareta geb. Brauch geboren, sammelte in seiner Schulzeit wie ein Besessener Steine und Pflanzen und fing Tiere. Die Neuigkeiten Alexander v. Humboldts waren nach dessen Rückkehr von der großen Südund Mittelamerikareise noch nicht verbreitet, da gründete der Junge mit Gleichaltrigen eine „Gesellschaft naturhistorischer Freunde“. Durch den Verkauf von Sammelobjekten finanzierten sie sich eine kleine naturwissenschaftliche Bibliothek im Hause eines Mitglieds. Nach der Schule begann er eine kaufmännische Lehre, sein Hobby wurde jedoch zum Lebensinhalt, als ihn sein Bekannter, der Offenbacher Gelehrte Hofrat Dr. Bernard
Meyer, dem russischen Generalkonsul empfahl, v. Langsdorff als Reisebegleiter mitzunehmen. Ausgestattet mit Empfehlungsschreiben von Meyer traf Freyreiß im Sommer 1809 in Petersburg ein. Zwar musste die geplante Reise in die asiatische Tartarei und Persien wegen eines russischen Kriegszuges in dieser Gegend ins Wasser fallen, aber statt unverrichteter Dinge heimzufahren, schloss sich der junge Mann dem Naturforscher Wilhelm Gottfried Tilesius an, wie v. Langsdorff ein ehemaliger Teilnehmer der Krusensternschen Erdumseglung, und betrieb bei ihm Vogelkunde. Ab 1811 hätte er an einer russischen Universität Naturwissenschaften und Medizin studiert und sicher eine glänzende Karriere gemacht, wenn ihm nicht v. Langsdorff einen Mitarbeitervertrag für eine Fahrt4 nach Brasilien angetragen hätte. Stürme auf der Ostsee zwangen die im Herbst 1812 gestarteten Reisenden ins Winterquartier nach Schweden. Freyreiß nutzte die Zwangspause bis Mai 1813, indem er mit Hilfe der Meyerschen Briefe Kontakt zu Naturwissenschaftlern in Stockholm und Uppsala aufnahm. Schon kurz nach der Landung in Rio de Janeiro kam es zu Unstimmigkeiten zwischen den beiden Männern. Freyreiß fand schnell einen neuen Förderer in dem schwedischen Generalkonsul Lorenz von Westin. In seinem Auftrag sammelte er Naturalien und Beobachtungen an die Königliche Akademie in Stockholm und erhielt dafür ein Jahresgehalt von 1000 Crusaden (1500 Gulden). Im Juli 1814 reiste er mit dem hessischen Bergfachmann Baron v. Eschwege, dessen Augenmerk auf den Bodenschätzen der Region Minas Gerăes lag, ins Landesinnere. Dieser freute sich über die Gesellschaft von Freyreiß, da Wissenschaftler mangels Austausch und befruchtender Information in diesem Lande leicht in Lethargie verfielen. Zwar war das Schürfen nach Diamanten Monopol der portugiesischen Krone, aber Amethyst, Topas und Bergkristall durfte jedermann suchen. Viele europäische Regierungen träumten davon, damit ihre Staatseinkünfte aufzubessern. Die beiden Deutschen legten in einem halben Jahr einhundertfünfzig deutsche Meilen zurück, auf denen Freyreiß mehr als vierzig neue Arten von Vögeln, eine enorme Menge an Insekten und zahllose Pflanzen „entdeckte“. Ein Besuch galt auch den Coroatos-Indios, die schon etwas zivilisiert,
aber misstrauisch gegenüber Eindringlingen waren. Fasziniert beschreibt Freyreiß, wie die Bewohner Termitenhügel aushöhlen, um sie als Backofen zu verwenden. Er selbst fand das Material vermischt mit Pferdemist sehr nützlich zum Ausschmieren der Formen beim Eisenschmelzen.5 Allerdings glaubte er irrtümlich, dass die Feldfrüchte wegen des immerwährenden Sommers keine Pflege bräuchten, und übersah den genauso begünstigten explosionsartigen Wuchs von Unkraut. Eschwege teilte nicht Freyreiß Beurteilung der „Wilden“ als scharfsinnig, nur weil sie so viele Heilpflanzen kannten. Seine Denkschrift für Westin ist in Stockholm erhalten. Bei seiner Rückkehr setzte ihn Conde da Barca, der Staatsminister d’Aranjo, zum Naturforscher des Königs mit dem Rang eines Professors der Zoologie ein. Mit siebenundzwanzig Jahren begleitete „der unermüdliche Zoolog“ die Expedition des Prinzen Maximilian von Wied-Neuwied mit dem zeichnenden Botaniker Sellow6, weil der protestantische Prinz Unterstützung hinsichtlich Sprache und katholischer Sitten brauchte. „Herr Sellow hatte gute botanische Kenntnisse, Freyreiß war Sammler zoologischer Gegenstände, dabei in den naturhistorischen Handarbeiten sehr geschickt. Da sie sich schon einige Zeit hier aufhielten, so waren sie ziemlich bekannt in der Umgegend, und ich verabredete mit ihnen bald den Plan zu einer gemeinschaftlichen Reise ins Innere des Landes ... Im Hause des russischen General-Consuls v. Langsdorf fand ich ... sehr gütige Aufnahme. Er hatte die Güte mich öfters zum Frühstück einzuladen, ich sah alsdann seine interessanten naturhistorischen Sammlungen, wir lebten in der interessanten Erinnerung seiner großen Reisen und schwelgten in den Genüssen der großen brasilianischen Natur.“7 Am 4. August 1815 startete die Gruppe mit sechs Maultieren, einem Treiber und einem Mulatten als Tierpfleger die Ostküste Brasiliens entlang bis zum 18. Breitengrad. Die Tiere trugen je zwei hölzerne, mit roher Ochsenhaut gegen Regen bezogene Kisten. Die störrischen Esel und die aggressiven Pfleger erzwangen wiederholt unvorhergesehene Aufenthalte wegen ihrer Händel mit den Einheimischen. Der tropische Himmel durchnässte und durchglühte abwechselnd die Wolldecken,
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und nahezu alle europäischen Teilnehmer litten unter Malaria. In der Nähe von Städten musste man immer mit Räuberbanden rechnen, die sich aus entlaufenen Sklaven zusammensetzten. In dem 1820 veröffentlichten Bericht „Reise in Brasilien“ unterscheidet der Prinz drei Bevölkerungsgruppen: schwarze Sklaven, Indios und dort geborene Portugiesen. Nicht immer wurden sie von letzteren freundlich aufgenommen. Empfehlungsschreiben der Regierung verhinderten nur bedingt eine nächtliche Ausplünderung. Bei der Weiterreise wurde ihnen von den Gastgebern unter Umständen auch eine schriftliche Bestätigung ihrer Hilfsbereitschaft abgepresst. Abseits der Orte errichteten sich die Reisenden Hütten aus Kokosblättern. Die Helfer schossen ein Wildschwein, man fand Wildhonig oder grub frisch gelegte Schildkröteneier aus dem Sand. Die Orientierung im Dschungel war nicht einfach. Freyreiß verirrte sich einmal so hoffnungslos, dass er nach zwei Tagen entkräftet, eingekreist von lauernden Tieren und gierigen Menschen, zusammenbrach. Erst ein abgefeuerter Warnschuss brachte seine Kameraden wieder auf seine Spur. Es hatte ihm nichts genutzt, den Weg teilweise zurückzulaufen und alle Bäume zu markieren. Trotz dieser Erfahrung trennten sich die Reisenden immer wieder, um eigene Forschungsziele zu verfolgen. Der Vogelkundler erbeutete blaue Kolibris in Menge und ergötzte sich an Mammutbäumen, Kokospalmen, Trompetenblumen, Kakteen und Agaven. Mimosen und Bougainvilleen mischten ihre Düfte mit Vanille, Nelken und Knoblauchverwandten. Faszinierend waren die hohen Stämme der Urwaldbäume, bis zu deren Kronen die Schüsse aus den Flinten der Forschungsreisenden nicht hinaufreichten. In die Farnbäume, Lianen und Schmarotzerpflanzen flüchteten sich die kleinen Affen, unerreichbar für den gierigen Zoologen. Schmetterlinge, Frösche und Kröten, faustgroße Spinnen kreuzten ihren Weg. Grellbunte Papageien folgten den Wanderern mit Gekreisch. Langsdorff schrieb in einem Brief darüber: „O Himmel! Wo bin ich! Rief einer der Botaniker aus; jeder Blick entlockt mir Seufzer des Anstaunens und Beweise der Größe dessen, der dies alles geschaffen ... Scheint das nicht ein bezauberndes Land? Mein Gott, in welche Wunderwelt bin ich
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versetzt? Warum strebt hier die Natur nach lauter Anomalien? Warum ist sie hier so ausschweifend in der Bildung und in dem inneren Bau der Blüten und Blätter?“8 Freyreiß betrachtete das Land nüchterner. „Herr von Langsdorff hat bei seiner Beschreibung der Insel Sta. Catarina die Übertreibung am weitesten getrieben, indem er eine bedeutende Anzahl von Naturschönheiten ... in ein Bild zusammenraffte, in dessen Mitte er sich stellte.“9 Wenn in menschlichen Siedlungen gerastet wurde, mussten die erjagten Trophäen präpariert werden, was viel zur Erheiterung der Einheimischen beitrug. Die Produkte ihrer Sorgfalt fielen zum Teil gefräßigen Ameisen zum Opfer, Sandflöhe gruben sich unter die Haut und legten Eier in die Wunde. Schnell musste man sie mit einer Nadel herauspulen und die Stelle einreiben, die Salbeisalbe portugiesischer Apotheker war den Fremden besser verträglich als der Geheimtipp der Bewohner „Schnupftabak“. Unterwegs erreichte sie die Nachricht, dass der Sieg über Bonaparte in Rio gefeiert worden war. Die Reisenden beobachteten stattdessen die Lebensumstände der Urwaldbewohner. „Die Hütten sind so klein und bieten wenig Schutz um das Feuer herum, dass die Bewohner nackt aufeinander gedrängt, wie ein gelbbrauner Haufen sitzen oder in der Asche liegen. Bogen und Pfeile des Hausherrn stehen an einem der Bäume angelehnt. Gewöhnlich liegt der Mann ausgestreckt im Netz, während die Frau das Feuer unterhält.“ „Herr Freyreiß kaufte für ein Messer ein Hemd, ein paar Rosenkränze und einige andere Kleinigkeiten, auch einen Jungen von 13–14 Jahren ... unser kleiner Indianer Francisco hatte ihnen schon gesagt, wie gut der Junge es bey uns haben würde, denn wir wären sehr brave Leute. Als Freyreiß noch einige Kleinigkeiten beygelegt hatte, so brachte ihn der Vater bey der Hand und gab ihn uns ... Bey seiner baldigen Taufe wird er den Namen Eduardo Fidelis de Paraiba bekommen ... Unglaublich war der Gleichmuth, mit welchem der eingetauschte Knabe sein Urtheil anhörte, nahm keinen Abschied von den Seinigen und schwang sich vergnügt auf die Kruppe von Herrn Freyreiß Pferd.“ An diesem Jungen beobachtete Freyreiß indianische Heilmethoden, als dieser im Oktober 1816 auf der Jagd von einer Viper in den Fuß gebissen worden war. Das Bein war etwas
geschwollen, als er nach einer guten halben Stunde nach Hause kam. Man band den Fuß, saugte die Wunde aus, innerlich bekam er statt eines anderen schweißtreibenden Mittels Branntwein. Nach mehrmaligem Ausbrennen mit Schießpulver legte man den Kranken in ein Schlafnetz und streute Cantharidenpulver in die Wunde. Der Fuß schwoll sehr an. Die Gabe einer Wurzel verursachte Erbrechen, die Wunde wurde in kühlende Blätter gewickelt, worauf er genas. Eine neue Form des Aderlasses fand er in Minas Geraes. Der Arzt benutzte einen sehr kleinen
Von Freyreiß entdeckte Pflanzen
Bogen und einen Pfeil mit Glasspitze, die er mit Baumwolle umwickelt und nur so viel freiließ, als sie in die Ader eindringen sollte; er öffnete dieselbe durch einen Pfeilschuss. Besonders heikel war der Besuch der Menschenfresser in Ostbrasilien wie der Puris und Botokuden, die heute fast ausgestorben sind und damals zu den größten Völkern Brasiliens gehörten. Nur sehr langsam ließen sich die Puris dazu bewegen sesshaft zu werden, da sie von den Portugiesen sehr grausam behandelt wurden. Diese gingen so weit, Kleidung für sie mit Pockeneiter zu präparieren, um die „Eingeborenen“ umzubringen. In Muribeňa erzählte man ihnen von einem schwarzen Jungen, der eineinhalb Monate vorher von den Puri verschleppt und angeblich lebend zerstückelt worden war. Als sie fort waren, fand man die abgenagten Hände und Füße. Einen anderen Ort fanden sie verlassen vor, da er kurz zuvor überfallen worden war. Von sechs Menschen fand man nur die Köpfe und den von Fleisch und Gliedern entblößten Rumpf. Der Prinz berichtet, zu seiner Zeit wären die Botokuden und Puris die einzigen, die ihre Gefangenen mästen und aufessen, früher sei es an der ganzen Küste verbreitet gewesen.10 Freyreiß erfuhr vom Mord an drei Soldaten, deren Arme und Beine, sowie das Fleisch vom Leibe abgeschnitten waren, die Knochen der Arme hatten sie rein geputzt und an ihren Hütten aufgesteckt. Die Hände der Soldaten fand man getrocknet an den Feuerstellen und hielt sie für Affenhände, bis man die Nägel erkannte. Ähnliche Geschichten erzählte auf Drängen der einheimische Führer Quäck. Wenn sie die Wahl hatten, bevorzugte man schwarze Opfer und ließ die Weißen liegen. „Weiter als 50 Schritte thun ihre Pfeile wenig Schaden und wer auf seiner huth ist, kann ihnen ausweichen, ja sie sogar mit einem Stock abwehren, denn man sieht sie kommen.“ Die Unterlippe und Ohrläppchen ihrer Kinder durchlöcherten die Botokuden mit einem harten zugespitzten Holz und steckten in die Öffnungen erst kleine und dann immer größere Holzpflöcke hinein. „Bei Alten hat die Schwere des Holzes11 die Unterlippe bis über das Kinn und die Ohren beinahe bis auf die Schulter gezogen, und es gibt auf der Welt kein hässlicheres menschliches Wesen als ein nacktes Botecudenweib zu sehen, der beständig der Geifer über die herabhängende
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Unterlippe fließt.“12 Ansonsten bekleideten sich die Männer mit einem Penisfutteral aus Blättern des Issara-Baums. Von den Parachos schildert er eine besondere Sitte der Männer, die Vorhaut scharf vorzuziehen und mit einer Schlingpflanze zuzubinden, wodurch das Geschlechtsteil die Form eines Pfeifenkopfs erhielt. Zur natürlichen Verrichtung musste dieser Bund jedes Mal gelöst werden.13 Mit der Sitte wollten sie das Einkriechen von Insekten verhindern.14 Am Ende trafen sich die drei Forscher in Mucuri wieder, um noch drei Wochen gemeinsam zu verleben. Sie waren bei verschiedenen Siedlern untergebracht. „Sellow und Freyreiß hatten bedeutende Sammlungen gemacht, und Freyreß auch viele Zeichnungen von Vogelköpfen, deren Schnäbel er in ihren natürlichen Farben abbildete. Er hatte mehrere kleine Indianer, welche für ihn sammelten und jagten.“
Joachim Quäck, vor 1834 (Kreide über Aquarell)
Der Prinz nahm einen botokudischen Reisebegleiter namens Joaquim Quäck, der katholisch getauft seinem Volk bereits entfremdet war und ihm vieles über die Sitten seiner Leute erzählt hatte, als Mitbringsel in die Heimat mit. Quäck wurde mehrfach auf Gemälden verewigt.15 Er verstarb im Alter von 34 Jahren am 1. Juni 1834 an einer Leberentzündung und wurde zwei Tage später – wohl auf dem Alten Friedhof von Neuwied – katholisch beerdigt. Allerdings nur teilweise! Sein Schädel wurde nämlich im Anatomischen Institut der Universität Bonn anlässlich einer Tagung der
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Deutschen Gesellschaft für Geschichte und Theorie der Biologie im Museum König 2007 aufgefunden, öffentlich gezeigt und erst 2011 Angehörigen seines Volkes übergeben.
Botokudenschmuck
Im Mai 1817 trennten sich die Reisenden in Bahia. Während der Prinz nach Europa zurückkehrte, blieben Freyreiß und Sellow in Brasilien und versorgten die heimatlichen Forschungsstätten mit Material: Moskau, Stockholm, Berlin, Leyden und die Wetterauische Gesellschaft für die gesamte Naturkunde. Ein Fürst zu Wied gründete später ein Antisklavereikomitee, für das er mit einer Lotterie 1891 die Mittel sammelte, um mit Hilfe eines Schiffes Sklavenjagden an einem der großen ostafrikanischen Seen zu unterbinden. Eine weitere Reise, teilweise mit Sellow, führte Freyreiß nochmals zu den Botokuden. Bei Porto Seguro erlitt er Schiffbruch an einem Korallenriff und verlor dabei einen großen Teil seines Vermögens und die bis dahin zusammengetragene Sammlung. Die gerade gegründete Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft ernannte ihn 1817 zum ordentlichen Mitglied und genehmigte zweitausend Gulden für weitere Forschung. Dafür erhielt das Museum zwei große Sendungen von Tierpräparaten aller Klassen. Schließlich gründete er zusammen mit dem Frankfurter Morhardt u. a. zwischen dem 18. und 19. Breitengrad bei Vicoza die Kolonie Leopoldina, benannt nach der österreichischen Prinzessin Leopoldine, die später Kaiserin von Brasilien wurde. Deswegen beschimpfte ihn sein früherer Chef v. Langsdorff am 14. November 1819 im „Morgenblatt für gebildete Stände“ als gewinnsüchtigen Abenteurer. Ein alter Jugendfreund wies die Vorwürfe zehn Tage später
im gleichen Blatt zurück. Ein Jahr später startete v. Langsdorff ebenfalls ein Kolonieprojekt. Währenddessen bereitete Freyreiß seinen „Bericht über das Kaiserthum Brasilien“ vor, der 1824 erschien und organisierte seine Kolonie.16 Seine Veröffentlichung verbindet sachliche Informationen mit Verhaltenstipps, z. B. wie man den Kontakt zu Sandflöhen umgeht: Lange leerstehende Wohnungen mit Stein- oder Lehmfußboden solle man erst beziehen, wenn diese mit bestimmten Blättern gründlich gefegt seien.17 Giftige Raupen, Tausendfüßler und Buschspinnen, deren Biss Geschwülste hervorrufe, schildert der Forscher. Ausführlich geht er auf die Jagdmethoden der „Wilden“ ein. „Ein seltsames und trauriges Schauspiel bietet sich dem beobachtenden Fremden dar, wenn er in den großen Seestädten die vollen Gewölbe solcher Sklavenhändler, nach der Ankunft neuer Ladungen besucht. Diese Gewölbe sind gewöhnlich so geräumig, dass mehrere hundert Sklaven in ihnen untergebracht werden können. Ein buntes Taschentuch oder ein Stück wollen Zeug um
die Schaamtheile gebunden macht ihre ganze Bekleidung aus. Die wolligen Haupthaare sind ihnen der Reinlichkeit wegen abgeschoren ... Ja, um die Menschheit recht zu erniedrigen werden viele Sklaven in Afrika sogar gezeichnet, ungefähr wie man bei uns die Schafe usw. zeichnet, nur mit dem Unterschied ... dass man den Sklaven bald dieses, bald jenes Zeichen in die Haut brennt. So sah ich junge Mädchen denen man teuflischgrausam eins dieser Zeichen mit glühenden Eisen auf die werdende Brust gedrückt hatte.“18 Jährlich erreichten 20000 Sklaven Rio de Janeiro, 12000 Bahía und 6–8000 Pernambuco. Dreiviertel davon waren Männer, ein Viertel war bei Ankunft in Südamerika schon krank. Ein junger Erwachsener kostete umgerechnet 450 bis 600 Rheinische Gulden.19 Die Früchte seiner Arbeit konnte Georg Wilhelm nicht mehr ernten, denn mit sechsunddreißig Jahren wurde der Mann überraschend am 1. April 1825 mitten aus dem Leben gerissen. Er hinterließ Frau und Kind.
1 Freyreiß, Beiträge zur näheren Kenntnis des Kaiserthums Brasilien, Frankfurt 1824. 2 G. Kohlhepp, Das Bild Brasiliens im Lichte deutscher Forschungsreisender des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Martius-Staden-Jahrbuch 53 (2006) 213ff; H. Fröschle, Die Deutschen in Lateinamerika. Schicksal und Leistung, 1979. 3 Siehe v. Langsdorff (1774–1852). 4 E. G. Franz (Hrsg.), Hessische Entdecker. Forschungsreisen in fünf Erdteilen. Ausstellung der Hess. Staatsarchive zum Hessentag 1981, 15. 5 Eschwege, Journal von Brasilien oder vermischte Nachrichten aus Brasilien auf wissenschaftlichen Reisen gesammelt, Weimar 1818, 183. 6 J. Röder; H. Trimborn (Hrsg.) Maximilian Prinz zu Wied. Unveröffentlichte Bilder und Handschriften zur Völkerkunde Brasiliens, Bonn 1954, 35; Sellow ertrank 1831 im Rio Doce. 7 a. a. O. 38f. 8 Eschwege, Journal 2. Heft 168. 9 Freyreiß, Beiträge, 1824, 48. 10 Eschwege a. a. O. 61; es war aber nicht so, dass Menschen verzehrt wurden, wenn man gerade Appetit darauf hatte. 11 Aus Scheiben des Barrigudo-Baums, leichter als Kork. Wied, 5. 12 Journal 88. 13 Eschwege a. a. O. 67; Freyreiß, Beiträge, 1824, 97. 14 Eschwege, Journal 193. 15 Quäck hatte den Botokuden Kannibalismus unterstellt, und Maximilian hatte das bis 1823 weltweit veröffentlicht. Deshalb wurden Botokuden bis 1985 in Brasilien verfolgt. Von 100000 Botokuden hatten laut Jimmie Durham nur 600 diese Verfolgungen überlebt. Das Sterbedatum und die Diagnose Leberentzündung widerlegen die mündliche Überlieferung, Quäck sei in der Silvesternacht 1833 aus dem ersten Stock volltrunken aus dem Fenster gestürzt und erfroren. 16 Pedro I. siedelte in der Provinz Rio Grande do Sul zuerst 126 Siedlern u. a. aus Hessen-Darmstadt an und gründete Sao Leopoldo. Die Siedler sollten eine Mittelschicht zwischen den Großgrundbesitzern und den Sklaven bilden. In Deutschland wurde die Auswanderung speziell nach Brasilien nicht gern gesehen. G. Kohlhepp, Das Bild von Brasilien ... 228. 17 Freyreiß, Beiträge 1824, 76. 18 a. a. O. 149ff. 19 Der Rheinische Goldgulden entsprach um 1700 einer Kaufkraft (als grobe Orientierung) von 40–50 Euro.
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Bekehrung um jeden Preis Der Missionar Matthäus Gorth In Heppenheim wurde am 23. August 1823 Matthäus Gorth geboren, der zunächst Landwirt wurde, aber im Alter von vierundzwanzig Jahren in das Barmer Missionshaus einzog. Die Barmer Missionsschule diente anfangs als Vorschule für eine weiterführende Ausbildung in Basel. 1825 machte sie sich unabhängig. Das Hauptmotiv der Gründung der protestantischen Rheinischen Missionsgesellschaft 1829 war das Bedürfnis, Zöglinge zur Mission auszusenden. Bis 1832 verbanden sich Elberfeld (1899), Barmen (1818), Köln und Wesel (1822). Danach schlossen sich weitere Vereine an. Der Unterricht dauerte vier Jahre, jeweils drei Tage die Woche. An den anderen Tagen übten die Kandidaten ihr Handwerk aus. Der Unterricht umfasste Englisch und Holländisch, Latein und Griechisch, später auch Hebräisch. Ab 1858 schaltete die Mission ein Jahr Vorschule davor. In diesen Jahren rüsteten sich jeweils 17–20 Schüler gleichzeitig. Ab 1873 war die Regel, nach zwei Jahren Vorschule vier Jahre Studium anzuhängen. Die Vorbereitung auf den Missionsdienst dauerte vier Jahre und beinhaltete Hebräisch und Griechisch bei Inspektor Wallmann. Die mangelnde Erfahrung glich man dadurch aus, dass man sich im selben Jahr dem Superintendenten der englischen Missionsgesellschaft unterordnete.
Das erste Missionshaus in Barmen
Als Ziel wurde zunächst das englische Kapland und Südwestafrika ins Auge gefasst. Die Besiedlung des Landes durch Europäer reichte bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurück, als die Niederländische
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Ostindische Gesellschaft eine Versorgungsstation für Schiffe an der Table Bay einrichtete. Holländische Siedler, französische und deutsche Einwanderer und malaiische, ost- und westafrikanische Sklaven konkurrierten auf dem Land mit den einheimischen Rinderzüchtern.1 In den Städten und den Farmen gab es eine zahlreiche Sklavenbevölkerung. Weil seit 1744 die Brüdergemeinde missionierte und 1799 die Londoner Mission die ersten Missionare ausgesandt hatte, erhielten die Rheinischen Missionare kein eigenes abgeschlossenes Gebiet. Als am 17. Juli 1829 der Ostindienfahrer Charles Kerr mit zwanzig Missionaren ablegte, hatten Hilfsvereine Leinwand, Wäsche und Ausrüstung gespendet.2 Dass man sich den englischen Anweisungen in der Kapkolonie unterordnen musste, behagte den ersten Neuankömmlingen nicht, zumal sie feststellten, dass es nicht möglich war, einfach irgendwo Land urbar zu machen und in Besitz zu nehmen, sondern kaufen musste. Ihr Ziel war immer gewesen, sich ohne Zuschuss von der Heimatbasis selbst ernähren zu können. Der erste Missionar ging nach Stellenbosch und versorgte dort 2000 Sklaven mit christlicher Unterweisung, ein anderer nach Tulbagh als Mitarbeiter eines Engländers. Für das Wachstum an beiden Plätzen war das Ende der Sklaverei 1838 ein einschneidender Zeitpunkt. Vor deren Aufhebung war es eine Selbstverständlichkeit, dass der Besitzer die Versorgung seiner Leibeigenen in Krankheit und Alter übernahm. Nach dem Ende der Sklaverei fühlte sich dafür weder eine Dorf- noch die Stammesgemeinschaft zuständig. Der Missionar Zahn regte nun die Gründung einer Kranken- und Sterbekasse an, die mit regelmäßigen Beträgen für Kranke und Begräbnisse sorgte. Bedingung für die Mitgliedschaft war der regelmäßige Besuch der Gottesdienste.3 Eine Folge der Einrichtung war das langsame Wachsen der Gemeinde. Ohne auf die Genehmigung aus der Heimat zu warten, kauften die anderen beiden Missionare kurzentschlossen 3–4000 Morgen Farmland. Leipoldt beschreibt die Reise in die Zederberge, dreihundert Kilometer nördlich von Kapstadt.
„Beinahe alle Bauern des Kaplandes sind gewaltig gegen die Mission, denn sie wissen, kommen Missionare in ihre Nähe, so werden die Einheimischen bald klüger wie sie, und lassen sich nicht mehr unterdrücken und betrügen. Früher, auf manchen Flecken auch jetzt, haben Bauern schrecklich mit diesen armen Leuten gehandelt.“4
Rheinischen Mission gründeten 1844 die Missionare Hugo Hahn und Franz Heinrich Kleinschmidt die Station „Wupperthal“ bei den Herero. Fünf Jahre danach notiert er in sein Tagebuch: „Die letzten sechs Jahre sind eine fortwährende Kette von Angst, Noth und Bedrängnis gewesen“ – ein Kleinkrieg gegen Habgier, heimliches Schlachten und Überfälle.
Konferenz in Wuppertal/Südafrika
Eine Khoikhoifrau, in Afrikaans abwertend als „Stotterer“ (= Hottentotten) bezeichnet
Die Rheinische Mission breitete ihre Tätigkeit danach in das nicht kolonisierte Gebiet nördlich der Kapkolonie, dem späteren Deutsch-Südwestafrika aus. Bis dahin galt Namaland als unwirtlich, höchstens Missionare und ein Dutzend Händler kämpften gegen Dürre und Feindseligkeit der Bewohner. Auf den Inseln vor der Küste baute man Guano ab, der Fischfang galt als nicht ertragreich. Interessant wurde das Land erst, als man umfangreiche Kupfervorkommen entdeckte. Diese lagen nah an der Oberfläche, aber wer sollte dort arbeiten und wie wäre der Transport zu bewerkstelligen? Komaggas5 sollte an einer geplanten Eisenbahntrasse liegen. Es dauerte aber bis 1897, als eine Rinderpest den Transport mit Ochsengespannen unmöglich machte, bis mit dem Bau der erste Strecke begonnen werden konnte. Benannt nach dem damaligen Hauptsitz der
„Als die Schlacht von Leipzig geschlagen war, glaube ich, war die Freude in Preußen nicht größer als sie jetzt unter den Herero ist. Und worüber? Weil ihre eigenen Landsleute von den Nama gemordet und geraubt werden. Weib und Kind läuft auf der Station mit freudestrahlendem Gesicht umher. Kleine Haufen, welche von den Nama fliehen, fangen meine Leute im Felde auf, berauben und morden sie, schlachten das Vieh und fressen Tag und Nacht ... Diesem Räuberhaufen, welchen das Blut noch im Fell saß, musste ich am Sonntag das Evangelium predigen ...“ Missionar Weich berichtete von Zauberei- und Unzuchtsünden an die Zentrale. Von den komplizierten Rivalitäten zwischen den Nama, Korana, Griqua und Bergdama (unter der diskriminierenden Bezeichnung Hottentotten zusammengefasst) hatte man nur eine ungefähre Vorstellung. Dabei machte ihnen die zwiespältige Haltung des mächtigen Namakapitäns Jonker Afrikaners in Windhoek Schwierigkeiten, der auch die Methodisten zur Mission aufgerufen hatte und dadurch eine Konkurrenzsituation schuf. „Je mehr die Leute arbeiten lernen, desto weniger Jungen habe ich in der Schule“, denn diese mussten dann auf dem Feld und im Garten helfen. Reisende äußerten sich verwundert über die Veränderungen. Hatten sie vier Jahre zuvor noch Leute zur besten Tageszeit im Schatten schlafen sehen, war jetzt
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alles leer. Der größte Faulenzer Komaggas arbeitete jetzt in einer Kupfermine mit einem ausgebildeten Engländer um die Wette. Beim Aufstand der Herero und Nama suchten die Missionare zu vermitteln. Als sich die Rheinische Mission aus Südafrika zurückzog, wurden die verbliebenen Missionsgemeinden in die Niederländisch-reformierte Kirche integriert. Die Ausnahme ist die Station Wupperthal, die 1965 an die Herrnhuter Mission abgegeben wurde. 1850 gab es blutige Stammeskämpfe zwischen den Nama und den Herero, während denen es zur völligen Vernichtung der Missionsarbeit kam, weil die Hereros von den Nama unter Jonker Afrikaner zu Tausenden unterworfen wurden. Missionar Gorth schloss 1851 die Ausbildung ab und wurde ordiniert. Silvester landeten er und die Braut des Missionars Schönberg am Kap. Zunächst besuchte er Stellenbosch, der zweitälteste, 1679 von Europäern (der Niederländischen OstindienKompanie) gegründete Ort in Südafrika, und Tulbagh6. In der Walfischbai, sieben Tagereisen von Kapstadt und 30 km vom heutigen Swakopmund entfernt, landete er am 24. Dezember. Erst seit Kurzem hatte hier eine Siedlung angefangen zu wachsen, die, 1878 von den Briten besetzt, 1884 eine deutsche Enklave werden sollte. An der Küste sah er zwanzig halb verhungerte Nama und eine Truppe in Uniformen hinter einem Wall. Mr. Galton paddelte in einem Lederboot heran. Dieser Mann hielt sich eine zeitlang auf den Stationen auf und hatte den Häuptling Jonkers mit Hilfe einer englischen Uniform mit Tressen, Schnüren und Federhut so beeindruckt, dass dieser dachte, er sei Kommissar der englischen Kapregierung. Galton drohte ihm mit dem Zorn des Gouverneurs, sollte er die Überfälle auf andere Stämme nicht einstellen. Als der Häuptling 1852 begriffen hatte, dass Galton nur ein normaler Reisender war, wütete er schlimmer als zuvor. Aus diesem Grunde und weil die Damra sich zudem untereinander bekriegten, war der Mut der Missionare am Boden, als der neue eintraf. Gorth dachte: „Im Alten schafft der Herr schon ein Neues. Würde doch das bei allen Heidenherzen auch bald zur vollen Wahrheit!“ Er musste acht Tage in dem Packhaus seine Güter bewachen und auf das Eintreffen eines Kollegen warten. Dann ging es auf einem zweirädrigen, von sechs Ochsen gezogenen
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Karren sechs Stunden nach Scheppmannsdorf, ein 1845 an den Ufern des Kuiseb gegründetes Dorf.7 „Ich trug mich bisher immer mit Hoffnungen, es würde dem Lande doch noch etwas abzugewinnen sein; ich gestehe aber als mich der Sand hungrig ansah, sind sie bedeutend herabgestimmt worden“, schrieb er in sein Tagebuch. Ausnahmsweise führte der Fluss zu dieser Zeit Wasser und wälzte sich ihnen in die Quere. In Scheppmannsdorf erwartete die Missionare ein erfreuliches Ereignis. Es waren nämlich gerade wieder zwei Jahre um und eine Lieferung Lebensmittel vom Kap angekommen. Nun warteten die Wagen auf die Verteilung in die weiter im Landesinnern gelegenen Niederlassungen. Gorth taufte ein Kind und traute seinen Kollegen. Bis Anfang Februar transportierte Gorth sein gesamtes Gepäck zur Station, dann waren die Wagen reisefertig. Die Karawane bestand aus fünf, von vierzehn Ochsen gezogene, Wagen und Schlachtvieh und zahlreichen einheimischen Mitläufern. Die Fahrt zog sich entlang des Flusstals des Swadzaub. „Er windet sich hier durch die Berge wie der Rhein unterhalb Bingen. Ich konnte mich dessen ungeachtet doch nicht gut mit seiner neuen Benennung „Rhein“, die ihm die Brüder gegeben haben, vereinbaren, weil ihm das schönste des Flusses, das Wasser, fehlt.“ Dennoch grünte und blühte es überall, weil reichlich Regen gefallen war. Als man nach vierzehn Tagen die nächste Station Otjimbingue (1849 gegründet) erreichte, fanden die Ankömmlinge die zwei Missionarsfamilien Rath und Kolbe krank vor. Otjibingue lag etliche Tagereisen von Barmen entfernt nach der Bai zu, „ein schöner Platz“, wie Rath schrieb, „aber eben nichts weiter als ein Platz, kein Dorf; dort zu Lande lässt sich der Missionar an einer Stelle nieder, wie die Weisel eines Bienenstocks; wo die sich setzt, da setzt sich auch das Volk ...“ Das von Gorth getaufte Kind war eines Morgens von der Mutter im Schlaf erdrückt. Kolbe verließ als erster das Land wegen einer Augenkrankheit, die fast jedes Jahr unter fürchterlichen Schmerzen einsetzte und häufig Erblindung zur Folge hatte, weil die Augäpfel platzten. Aus demselben Grund schickte Rath in Otjibingue seine Familie nach Kapstadt, um deren Augen zu retten. Am Ziel gab es unzählige Alltäglichkeiten zu regeln und zu helfen, bevor mit der theologischen Arbeit begonnen werden konnte. Da Gorth die Sprache
noch nicht konnte, beschränkte sich in dieser Hinsicht sein Einsatz auf recht hilflose Versuche, einen Musikunterricht anzubieten und ein Wörterbuch abzuschreiben. Von Bekehrung war unter den Herero noch nicht viel zu sehen, „die Wachteln schlugen und die Schwarzen waren lange nicht so abgeneigt, das Evangelium zu hören wie im Jahre 1848 die Rothen im Rheingau.“ Einige seiner Schüler sollen während des Gesangs stehend eingeschlafen sein. Die Schule bestand aus einer einsturzgefährdeten Schilfhütte, deren Befestigungsriemen eine Hyäne angefressen hatte.
Gorth ließ seinen kranken Kollegen zur Ader und setzte ihm Schröpfköpfe. Er schlief noch auf einem seiner Ochsenwagen. Kaum hatte er sein selbst gebautes Haus fertig, erreichte ihn zehn Wochen später ein Notruf Hugo Hahns (1818–1895), dem Begründer der Hereromission, aus Otjikango, dass Kollege Schönberg schwer an Typhus erkrankt sei und Gorth ihn vertreten müsse. Frustriert notierte er: „Sie sollen Häuser bauen und nicht bewohnen.“ Hahn lebte seit 1844 in der Station, am Anfang ohne Buch, ohne Lehrer, ohne Anleitung, bloß vom Zuhören, Vergleichen, Raten, den Sinn der fremden Töne ermittelnd. Durch Vermutung wurden Sprachregeln entschlüsselt. Die Ärmsten siedelten sich an, gelangten zu bescheidenem Besitz, so dass mit der Zeit Nomaden die Ordnung des weißen Häuptlings schätzen lernten. Nach drei Jahren konnte er die Sprache so weit, dass er zwar die christliche Lehre übersetzen konnte, mit
Gesang und Gebeten aber nur Heiterkeit erregte. Immerhin fand er allmählich gute Aufnahme bei den reichen Damrahäuptlingen.
Nama und Orlams überfielen immer wieder die Damra. Scheppmannsdorf war von den Wassermassen des Kuiseb halb weggerissen, in Rehoboth gärte ein Aufruhr und Bethanien war verlassen. Die Nama plünderten Otjibingue und misshandelten Rath. Gorth sollte nun versuchen, Bethanien zurückzugewinnen und wieder aufzubauen. Anfang des Jahres 1852 war dort Missionar Knudsen vertrieben worden. Man traute dem Anfänger Gorth zu mit diesem schwierigen Fall fertig zu werden. Hahn reiste ab, als Gorth nach Bethanien aufbrach. Er brauchte sieben Wochen für seine Reise dorthin. Schweigend begleitete ihn Schönberg ein Stück des Wegs, jeder in seine Gedanken und Befürchtungen versunken. Sie waren nicht allein, vierzehn Menschen schlossen sich ihnen an, darunter auch ein Engländer. Häufig kamen sie an Niederlassungen vorbei, aus denen die Bewohner zusammenliefen und klagten, dass alle Lehrer wieder wegzögen. Die Reise wurde zu einer Geduldsprobe, nur selten unterbrochen, wenn er mit Hilfe eines Dolmetschers den christlichen Glauben den Buschmännern vermitteln wollte. Bethanien verdankte Entstehung und Namen der Londoner Missionsgesellschaft (LMS), die hier 1815 „eine dauerhafte Quelle, die man nicht mit einem Stein verschließen kann“ und gutes Weideland vorfand. Hier wurde das erste von Europäern erbaute Steinhaus in Südwestafrika errichtet, das auch heute noch zu besichtigen ist. In der Folge siedelten hier Nama. Die Gegend war von Heuschrecken abgefressen. Gorth tötete mehrere Schlangen. Die geflüchteten Bewohner siedelten im zwei Tagereisen entfernten Koais. Der Kapitän David Christian kam erst später von einer
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Reise zurück und erklärte in einer Versammlung, dass er eigentlich keine Missionare mehr in seiner Nähe haben wollte. Nach vierzehn Tagen erklärte das Volk: „Wir haben dich heute als unseren Vater angenommen.“ Nun begann die eigentliche Arbeit mit täglichem Gottesdienst, Andachten und mehreren Stunden Katechismusunterricht. Die Bereitschaft, Kirche und Schule zu bauen, verlief im Sande. Er gewann jedoch ihr Vertrauen. Einheimische Frauen kochten und bauten ihm aus eigenem Antrieb eine Mattenhütte, die er mit dem Gehilfen Jonas Rynhards und einem Hererojungen bezog, dessen Eltern gestorben waren. Am 19. Dezember schrieb er in sein Tagebuch: „Ich hatte schier vergessen zu sagen, dass ich in mein Mattenhaus eingezogen bin. Wenn ich abends so darinnen liege, kann ich den gestirnten Himmel über mir ungehindert sehen und ich denke dann, der sie alle mit Namen ruft, kennt und sieht auch uns ... der Regen kommt überall durch, beim besten Suchen finde ich keine trockene Stelle.“ Weihnachten klagte er über Schmerzen in Brust und Unterleib. Er schrieb noch einen Brief nach Kommaggas8, von wo seine Braut eintreffen sollte. Sein Gehilfe berichtete, dass Matthäus sein Ende nahen fühlte. Dennoch erhob er sich von seinem Lager und pflegte seine beiden fiebernden Mitbewohner. Zu Neujahr saß er gekrümmt vor Schmerzen im Gottesdienst und fiel bald danach in Bewusstlosigkeit. Der Häuptling und einige Männer sangen an seinem Lager, seine Zunge sei steif gewesen und sein Auge ebenfalls, aber deutlich hätten sie alle gehört, wie der Lehrer, ohne den Mund zu bewegen, mitgesungen habe, gerade so stark wie sie es sonst gewohnt waren. Jonas musste noch eine Nachricht für die nächste Station schreiben, einem mündlichen Boten hätten die Missionare vielleicht nicht geglaubt. Danach riss er sich die Kleider vom Leib, rannte nackt in den Busch und schrie: „Ich bin verloren und ihr auch! Es ist kein Gott im Himmel ... Ihr seid seine Mörder! Wäret ihr nach dem Platze gezogen (Bethanien) so wäre er nicht gestorben.“9 Gorth wurde in einem vom Häuptling gezimmerten Sarg in Bethanien bestattet. Ende 1853 verließ auch Schönberg die Damra, nachdem seine Station Neu-Barmen eine Räuberhöhle von Jonkers geworden war. Trotzdem
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kam Rath 1854 nach Otjibingue zurück und baute es wieder auf, d. h. er bewohnte eine Lehmhütte von vier Fuß Höhe, deren Dach aus Matten und Leinwand bestand. Um diesen Sitz sammelten sich mit der Zeit fünfzig bis sechzig elende Schuppen mit zweihundert Einwohnern. In dieser Gegend gediehen alle europäischen Gemüse gut, im Flussbett war gutes Gartenland und die Weide war vortrefflich. 1856 tauchte auch Hahn in Neu-Barmen auf, fing aber praktisch bei Null an mit der Herstellung von Lehmziegeln. Dieser Ort lag eine Viertelstunde vom Swachaub entfernt vor einem Felsen, jedoch verfügte es über gutes Wasser und heiße Quellen. Vierzehn Jahre nach Beginn der Missionierung bei den Damra konnte die erste Taufe verzeichnet werden. 1857 entkamen Hahn und Rath auf einer Reise zu den Ovambo nur knapp dem Tode. Rath verlor fast seine gesamte Familie bei einem Schiffsunglück 1864. Seit 1887 war die Rheinische Mission in Madang (damals Friedrich-Wilhelmshafen) auf Neuguinea (deutsche Kolonie Kaiser-Wilhelmsland) vertreten, acht Jahre vor der katholischen Steyler Mission. Sie betrieb in der Region Astrolabebai um Madang etwa ein Dutzend Schulen mit etwa 500 Schülern. 1913 hatte sie dort über neun Missionare, einen Missionshandwerker und acht Frauen stationiert. Um die hundert Christen waren damals getauft. Vor allem in den ersten Jahren ihres Wirkens verlor die Rheinische Mission zwanzig Missionare, zwei davon bei Übergriffen der Einheimischen. Weitere Ziele der Rheinischen Missionsgesellschaft waren das Ovamboland, Niederländisch Indien (Indonesien) die Inseln Borneo, Sumatra, Nias sowie die des Mentawai-Archipels und Enggano und Südchina. Die Gesamtzahl der Missionare betrug zu Anfang des Jahres 1913 207, darunter 166 ordinierte, 19 nicht ordinierte (Ärzte, Lehrer, Landwirte usw.) und 22 Schwestern. Dazu noch 154 Missionarsfrauen. Für die protestantischen Deutschen in Nordamerika wurde 1837 der Langenberger Verein gegründet, der Prediger in Barmen ausbilden ließ. Die Indianermission wurde schon 1838 wieder aufgegeben. Die Bemühungen des Kurhessischen Missionsvereins in Kassel um ein geschlossenes Vorgehen der deutschen Missionsgesellschaften in China waren genauso wenig von Erfolg gekrönt.
Die in Borneo 1859 ermordeten Missionare: vorn Missionar Wigand und Frau; Mitte: Missionar Rotte mit Frau und Kind, hinten: Missionar Hofmeister und Frau
Einflussgebiet der Rheinischen Mission
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Eine Heirat der Missionare war erst nach fünf Jahren Einsatz möglich. Keinesfalls durfte die Ehe ohne die Genehmigung der Deputation geschlossen werden. Eine Verlobung während der Ausbildungszeit disqualifizierte den Bewerber. Die Anforderungen an eine Missionarsfrau waren hoch. Neben der selbstverständlichen Glaubensfestigkeit wurden Selbstverleugnung, Mut, Geduld verlangt. „Mancherlei Schmerz und Kreuz wird ihr nicht erspart bleiben, hat sie doch nicht selten Härteres zu erdulden als der Missionar, dem sie zugleich helfen soll, seine Last zu tragen. Die Familie, der Haushalt, das Klima, der Missionsberuf stellen Anforderungen an sie, die man gar nicht hoch genug veranschlagen kann.“ Viele starben bei der Geburt eines Kindes oder sahen ihre Kinder sterben. Die
Frau hatte direkten Anteil an der Arbeit, indem sie Mädchen und Frauen im Nähunterricht oder Singen um sich sammelte. Wenn die Kinder schulpflichtig wurden, wurden sie meistens nach Deutschland zur Erziehung geschickt, anfangs in Pflegefamilien verteilt, später in einem Internat. Nur in Südafrika entstanden im Laufe der Zeit eigene Schulen. Außer Gorth waren elf Hessen für die Rheinische Mission im Ausland. Von den ersten elf Missionaren auf Borneo überlebten vier. Beim Anblick schrecklicher Gräuel bei den Dajak in Kahajan standen sie auf verlorenem Posten, bis ihnen die Idee kam, die Bekehrung zunächst mit dem Freikauf von Schuldnern zu versuchen. Anfang Mai 1859 wurden sechs Erwachsene und etliche Kinder auf Borneo ermordet.10
1 J. Murray, Weltatlas der alten Kulturen. Afrika, Geschichte, Kunst, Lebensformen, Elsevier 1981, 206; L. v. Rohden, Geschichte der Rheinischen Missionsgesellschaft, 3.Aufl. Barmen 1888. 3 G. Menzel, Die Rheinische Mission. Aus 150 Jahren Missionsgeschichte, Wuppertal 1978, 54. 4 Tagebuch Leipoldt 26.12.1829. 5 Berichte der Rhein. Missionsgesellschaft 11, 1854. 6 Der 1700 als Roodezand gegründete Ort erhielt 1795 seinen heutigen Namen nach Ryk Tulbagh, Gouverneur der Kapkolonie von 1751 bis 1771. 7 N. Mossolow, Die Geschichte von Rooibank-Scheppmannsdorf, 1969. 8 L. Zöllner, Die Nasate van die Rynse Sendelinge in Suid-Afrika. Human Sciences Research Council, Pretoria, 1991. 9 J. C. Wallmann, Leiden und Freuden rheinischer Missionare, 2. Aufl. Halle 1862, 42f. 10 Ausführliche Beschreibung des Dramas: [http://hadi-saputra-miter.blogspot.com/2013/12/kisah-sedih-dari-tanahborneo.html] (Zugriff: 19.10.2019) C. Siegt: Geschichte der Dajak-Mission auf Borneo, Basel 1942; Tijdschrift voor Nederlandsch-Indie 23.
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Allein seligmachende Wahrheit Die protestantische Mission rund um den Globus Als Johann Christoph Lehner am 8. März 1806 in Reinheim im Haushalt eines Zimmermanns das Licht der Welt1 erblickte, hatte die Missionierung Andersgläubiger schon eine lange Tradition. Erinnert sei hier nur an Bonifatius und die Bekehrung der Franken. Missionierung gründet sich auf die Meinung der jeweiligen Gemeinschaft, die allein selig machende Wahrheit zu besitzen und die Andersgläubigen erretten zu müssen. Dies sollte bewerkstelligt werden durch Predigten, Vorträge, Verbreitung von Schriften und Hausbesuchen. Speziell im Christentum verschrieben sich die katholischen Missionsorden der Dominikaner, Franziskaner, Kapuziner, der Weißen Väter dieser Aufgabe. Nach dem Dreißigjährigen Kriege rückten z. B. die Steyler, protestantische und freikirchliche Missionsvereine und -gesellschaften ihnen zur Seite oder an ihre Stelle. Auftrieb erlangten sie, als unüberschaubare Mengen vermeintlich gutgläubiger Opfer, deren Glauben man kurzerhand überheblich abqualifizierte, in den Kolonien greifbar wurden. In den ersten 50 Jahren kostete dieser Anspruch 160 Missionare das Leben, allein in Surinam starben im ersten Arbeitsjahr 39 Missionare und 21 Missionarsfrauen. Die Basler Mission gehörte zum Pietismus, dessen Wiege in Frankfurt a. M. stand, nach der Reformation die wichtigste Reformbewegung im Protestantismus. Der Pietismus entsprang einem Gefühl der mangelhaften Frömmigkeit, unzureichender christlicher Lebensführung und dem Drang zur Verifizierbarkeit des persönlichen Glaubens und war eine Reaktion auf das Trauma des Dreißigjährigen Krieges. In der Wetterau wurden im 18. Jahrhundert die von Graf von Zinzendorf gegründeten Herrenhuter angesiedelt. Zinzendorf hatte 1731 in Kopenhagen einen sogenannten Kammermohren aus Westindien kennengelernt und von Grönland gehört. Das gab die Initialzündung für die Brüdergemeinde. Der amerikanische Erweckungsprediger, Jonathan Edwards (1703–1758) formulierte dieses Sendungsbewusstsein schon 1749 so:2 „Bis 1800
könnte in dem protestantischen Teile der Welt die wahre Religion die Oberhand gewonnen haben; im nächsten halben Jahrhundert müsste dann das päpstliche Reich des Antichristen überwältigt und in den darauf folgenden fünfzig Jahren die muhammedanische Welt unterworfen und die jüdische Nation bekehrt werden. Dann stünde noch ein ganzes Jahrhundert zur Verfügung, um die gesamte Heidenwelt in Afrika, Asien, Amerika und Australien zu erleuchten, zu Christus zu bekehren … sowie alle Häresien, Schismen, Schwärmereien, Laster und Immoralitäten auf der ganzen Welt auszurotten; hernach wird die Welt die heilige Ruhe des Sabbats genießen …“ 1773 gehörten zehn Orte im Vogelsberg und zweiundzwanzig in der Wetterau zur sogenannten Diaspora der Missionsbewegten. Im 19. Jahrhundert verlagerte sich das Zentrum nach Starkenburg und Rheinhessen. In Michelstadt im Odenwald entstand ein Missionsverein. Aus allen Richtungen strömten Erweckte ab 1800 zu Missionsfesten in die Paulskirche in Frankfurt a. M., teilweise zu Fuß bis aus Friedberg. Das mit dem Sieg über Napoleon bewirkte Gefühl, es habe sich um ein Eingreifen Gottes in die Geschichte gehandelt, gab den sogenannten Erweckten Auftrieb. Unter dem Eindruck der Revolution 1848 gelang es Johann Hinrich Wichern (1808–1881), für sein Programm einer Inneren Mission Aufmerksamkeit und Unterstützung hoher Kreise zu gewinnen. Im 19. Jahrhundert gehörte zur Inneren Mission die Judenmission und zur äußeren die Völkermission, die im Zuge der Besetzung fremder Erdteile überall durch Missionsgesellschaften verbreitet werden sollte. Dahinter stand vielfach die Idee der Universalisierung des Christentums, um auf diesem Weg auch das Restjudentum zu gewinnen. Die Missionsvereine sprossen wie Pilze aus dem Boden: 1815 in Basel, 1823 in Paris, 1824 Berlin, 1828 die Rheinische, 1836 die norddeutsche, 1849 die Hermannsburger und 1886 mehrere ostafrikanische. Frauenvereine für China (1850 Hongkong), Lehrerinnen für Indien, Palästina, Kaiserswerther Diakonissen im
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Morgenland (Beirut, Izmir, Ägypten). Die Basler fanden ab 1820 in Hessen Zulauf. Der Sekretär der britischen Bibelgesellschaft und Pfarrer an der deutsch-lutherischen Savoykirche in London, der Stuttgarter Karl Friedrich Adolph Steinkopf, betrieb von Darmstadt aus auf verschiedenen Reisen zusammen mit Christian Gottlieb Blumhardt die Gründung von Bibelgesellschaften. Blumhardt wurde der erste Inspektor der Basler Mission, die von einem Darmstädter Hilfsverein unterstützt wurde. Christian von Hessen, der Bruder des Großherzogs, förderte die Bewegung nach Kräften. Taufprotokolle belegen die erfolgreiche Bekehrung der jüdischen Familie Schwab, die nach einem halben Jahr Religionsunterricht auch ihre Vornamen ändern musste.3 Zum Ärger des Landesrabbiners spendeten auch Juden für die Kollekten. Lehner erlernte das Handwerk seines Vaters. Jedoch muss der junge Mann wohl den frommen Predigten erlegen sein, Sendungsbewusstsein gepaart mit gesellschaftlich gebilligter Abenteuerlust, Bildungsdrang, wer mag das heute entscheiden? Für den Sohn eines Handwerkers wäre die Universität schwer erreichbar gewesen, aber die religiös gerechtfertigte Bildung war nicht durch Standesschranken verschlossen. Im 24. Lebensjahr trat Johann ins Basler Missionshaus ein, das er fünf Jahre lang besuchte. Die weitere Ausbreitung missionsfreundlicher Gemeinschaften wurde in den 1830er Jahren staatlicherseits unterdrückt. Landdragoner sprengten Missionsversammlungen und inhaftierten Beteiligte für zwei Tage. Werbung dafür wurde mit 50 Reichstalern Strafe belegt. Die Kirche fürchtete die Störung des kirchlichen Friedens und die Bedrohung der wahren Sittlichkeit durch Aberglauben und Schwärmerei. 1843 kam der Basler Missionar Graf Zaremba aus dem Kaukasus nach Hessen. Obwohl von Prinzessin Elisabeth befürwortet, wurde ihm Missionstätigkeit in den evangelischen Kirchen von der Regierung untersagt. Der Großherzog genehmigte sie in Schulen oder Rathaussälen und in seiner nicht der Landeskirche unterstehenden Schlosskirche, was jedoch einen Skandal verursachte. Nach der Predigt musste Zaremba die Stadt verlassen, um der Polizei zu entgehen. Als nächstes besuchte er Lich, Echzell und Gießen. Im Nassauischen Gebiet wurden ihm Vorträge verboten. Die Verfolgung veranschaulichte
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Angst vor demagogischen Umtrieben, die jeder Vereinstätigkeit entgegenschlug. Aus solchem Misstrauen ist wohl auch der Wunsch des Großherzogs zu erklären, dass der Darmstädter, für Basel tätige Missionsverein nicht weiter existiere, obwohl er selbst mit 12 Gulden Jahresbeitrag auf der Liste des Vereins stand. Mit der Revolution lockerten sich die Bestimmungen, als ein der Mission aufgeschlossener Prälat Zimmermann die hessische Landeskirche leitete und die Versammlungsfreiheit garantiert war. Nachdem Lehner die alten Sprachen, Englisch, Geschichte, Geographie und Theologie gelernt hatte, war er 1834 in Lörrach ordiniert und mit L. Greiner und S. Hebich4, im selben Monat an die südwestliche Küste Indiens nach Mangalore geschickt worden. Das wäre früher auch gar nicht möglich gewesen, denn das britische Parlament hatte erst kurz zuvor ausländischen Missionaren die Einreise genehmigt. Zur Mission in Indien gab Fürst Otto Viktor v. Schönburg 10000 Thaler. Sie waren nicht die ersten Christen, die indischen Boden betraten. Vermutlich in die zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts datieren die apokryphen Acta Thomae, die die Missionstätigkeit des Apostels Thomas in Indien beschreiben. Münzfunde in den Bergen Ostirans unterstützen die Theorie einer Einwanderung hellenistischen Gedankenguts aus dieser Richtung.5 Bartholomäus soll über Südarabien gekommen sein. Verschiedene Quellen sprechen von syrischer Einwanderung nach Malabar im 4. Jahrhundert. Die von 1549 bis 1806 verschollenen Privilegientafeln der syrischen Christen sind durch Gundert übersetzt worden. Die Kupfertafeln stammen aus der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts und beinhalten Verwaltungsurkunden, Belehnungen und Schenkung von Kirchenländereien. Ein König überträgt dem Großhändler als Haupt der Christen die Herrschaft Manigramann mit allen Zeichen fürstlicher Gewalt. Die persischen Namen sind kufisch geschrieben, der Rest chaldäo-pehlewi bzw. sassanidisch-pehlewi, wie es im Sassanidenreich (226–640 n. Chr.) gebräuchlich war. Die Christen waren zu dieser Zeit augenscheinlich vornehme Handelsherren an der Malabarküste. In dem starren Kastengefüge nahmen sie einen hohen Rang ein als Lehnsherren der Aristokratie. Um 1300 berichten italienische Bettelmönche von den Nestorianern in Indien. Die portugiesische
Mission setzte im 15. Jahrhundert mit Franziskanern und 1542 mit Jesuiten ein. Vasco da Gama fand in Kalikut eine hochangesehene christliche Kirche vor. Anfang des 16. Jahrhunderts umfasste die Gemeinde circa 30000 Familien, d. h. 150000 Seelen, deren Messen in der syrischen Kirchensprache abgehalten wurden. 1661 ging die letzte portugiesische Station an die Ostindische Kompanie verloren und alle europäischen Geistlichen bis auf die Karmeliter mussten das Land verlassen Es hatte nicht im Interesse der katholischen Kirche gelegen, die Bibel in die einheimischen Sprachen zu übersetzen. Das wurde Aufgabe der protestantischen Mission. Die Basler Mission war die hinsichtlich Personal am besten versorgte protestantische Mission in Indien. Die Überfahrt dauerte mehr als drei Monate, bis die drei Deutschen am Bestimmungsort eintrafen. Mangalore gehörte zum zusammenhängendsten christlich beeinflussten Gebiet, umfasste feuchtheiße Niederungen und sturmumbrauste Gebirge. Das Klima Indiens war der wesentlichste Faktor, der Predigtreisen auf ein Drittel des Jahres beschränkte. In der übrigen Zeit predigten Missionare in den örtlichen Bazaren den nach ihrer Auffassung ganz in der Hand des Satans befindlichen Zuhörern.6 Sie bezogen dafür ein festes Gehalt von 125 Pfd. Sterling. Alle Straßen und Bazare wurden in regelmäßigen Abständen besucht und an jedem Ort, an dem sich Volk sammelte, etwa eine halbe Stunde gepredigt. Medikamentenverteilungen während der Choleraepidemie wurden mit Tröstungen und Ermahnungen verknüpft. Erst Joseinhans stellte zwei Missionare nur für die Heidenpredigt ab. Hoffmann, der Leiter der Basler Mission, gewährte den Missionaren ein ungewöhnliches Maß an Freiheit, der Mangel an einheitlicher Leitung schützte nur unzureichend gegen Willkür. Lehner warf sich mit Eifer auf das Erlernen der Sprache. Er begann mit Konkani, das nur von Bahmanen und Kaufleuten benutzt wurde. Das normale Volk sprach Tulu, das bis dahin keine Schriftsprache und nicht erforscht war. Greiner übernahm diese Aufgabe. Lehner wechselte zum Kanaresischen, das zumindest in den Schulen und Gerichten benutzt wurde. Die Katholiken waren in ihren Kasten verblieben und begingen die kirchlichen Feste wie die Heiden mit Schießen und Feuerwerk, beklagte sich Hebig. Bei Straßenpredigten wurde er mit Steinen und Kuhmist beworfen. Die Missionare
richteten Schulen ein, um überhaupt erst einmal die Voraussetzungen zu schaffen, dass religiöse Schriften gelesen werden konnten. Noch 1901 konnten erst 5,7 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben. In Mangalur er-richteten sie ein Lehrer- und Predigerseminar. Die dortige, 1841 gegründete Druckerei druckte in acht Sprachen. Zwar brachte die Einrichtung von Schulen den Zugang zu den höheren Gesellschaftsschichten, aber die Tulu-Palmbauern in Mangalur wurden erst 1837 für Bekehrung zugänglicher. Besonders erfolgreich war die Verbreitung der Lehre nicht, bis 1894 gab es gerade mal 1945 Getaufte.7 Das lag zum Teil daran, dass die Christen die hinduistische Gedankenwelt nicht verstanden. Nicht selten handelte es sich bei den Bekehrten um Leute, die aufgrund eines Vergehens ihre Kastenzugehörigkeit verloren hatten. Fast immer hatten sie entweder vorher schon keine gesicherte Existenz gehabt oder sie verloren sie durch die Bekehrung.8 Trotz minimaler Englischkenntnisse predigte Hebig durchaus nicht nur den „Heiden“, sondern mit Vorliebe auch den ansässigen Europäern. Ein Regiment der Kolonialarmee wurde scherzhaft „Hebich’s own“ (Hebichs Leibgarde) genannt.9 In der Hungersnot 1837 wurden Hungerwaisen gesammelt und das Waisenhaus gegründet. Aus diesem Pool rekrutierte sich das Hilfspersonal der Missionen. Für die Kinder bedeutete das lebenslange Abhängigkeit und Entfremdung von ihren Landsleuten. Die starre Kastenbildung schränkte die Ausbildungsmöglichkeiten ein, denn zahllose Handwerke waren an eine Kaste gebunden. Praktisch nur Berufe, die bis dahin in Indien unbekannt gewesen waren, fielen nicht unter dieses Reglement. Wenn die Christen also darauf beharrten, ihre Zöglinge in bestimmten Handwerken auszubilden, dann mussten sie ihnen danach eine Stelle schaffen, denn von den Einheimischen wären sie nicht eingestellt worden. Die sogenannten Heiden gaben den „vogelfreien“ Christen einfach keine Aufträge. Selbst als Hausangestellte bei Christen wurden sie von den nichtchristlichen Bediensteten schikaniert. Deshalb entstanden zwangsläufig Druckereien, Lehrerseminare, eine Weberei und eine Ziegelfabrik. 1838 trafen die nächsten fünf Missionare aus Basel ein und ließen sich in Dharwar nieder. Mögling und Weigle übersetzten das Neue Testament ins Kanaresische und Ammann ins Tulu.
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Mit der Zeit zog sich die Mission auch Dolmetscher heran. Johann zog in das 170 km nördlich gelegene Honor, das er erfolglos nach zwei Jahren wieder verließ. In dieser Zeit hatte er Emma Groves, die Nichte eines ebenfalls in Indien wirkenden englischen Freimissionars aus Ventnor auf der Insel Wight geheiratet. Seine nächste Station wurde Dharwad, wo er neun Jahre lang wirkte. Wegen eines Leberleidens reiste er nach vierzehn Jahren Auslandsdienst nach Europa zurück. In Basel leitete Lehner 1848/49 den Druck des Neuen Testaments in kanaresischer Sprache und wirkte als Missionsprediger in der Schweiz, Elsass, Hessen, Hannover und Ostfriesland. Schließlich siedelte er nach Darmstadt über und arbeitete im Auftrag der schottischen Kirche als Judenmissionar in Hessen. Die Stimmung in der Bevölkerung beschreibt Pfarrer Deichert aus Grüningen 1849 in einem Brief an Inspektor Hoffmann nach Basel: „Dann aber muss jede Gelegenheit ergriffen werden, um das verachtete, geschmähte und offen verworfene Bekenntnis unserer theuren Kirche wieder auf den Leuchter zu stellen. Auch die Mission muss hier dazu dienen, der tiefgesunkenen Kirche wieder aufzuhelfen.“ Im Beisein von Lehner bildete man gegen den Widerstand der Kirchenbehörde den „Gesamtverein für äußere und innere Mission im Großherzogtum Hessen“ auf einer Konferenz im „Sandhof“ bei Frankfurt a. M. im selben Jahr. Ortsvereine entstanden in Darmstadt, Bergstraße, Odenwald, Wetterau (Lich, Büdingen), Vogelsberg, Hinterland und Rheinhessen. Ab 1840 hatte die Rheinische Mission in Rheinhessen und Oberhessen (darunter Holzheim, Dorfgüll, Gambach, Oberhörgern, Niederweisel) Fuß gefasst. Treffpunkt der letzteren war das sog. Rettungshaus Arnsburg. Frauenvereine trafen sich zum gemeinschaftlichen Spinnen für das Missionswerk in Barmen. 1910 ging daraus ein Hilfsverein hervor. Regelmäßig fanden nun Missionsfeste statt. Auf dem zweiten dieser Art in Seeheim an der Bergstraße berichteten die Missionare von ihrer Arbeit, Lehner aus Indien, Hardeland aus Borneo und Poper von der englischen Judenmission. 1852 kamen die Bauern aus dem Hinterland mit selbstgesponnenem Garn und selbst gewebtem Tuch auf dem Rücken nach Arheilgen, um es für die Mission zu spenden.10 Wegen Überfüllung der Kirche
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musste ein Teil der Versammlung ausweichen. Von nun an gab es mehrere solcher Feste im ganzen Lande. Ab 1855 legten die Behörden keine Steine mehr in den Weg.11 Bestimmte Kollekten flossen automatisch den angeschlossenen Vereinen zu. In den 1850er Jahren erfüllten spezielle Reiseprediger die Werbung vor Ort. Mit dem neuen Leiter der Basler Joseinhans wurde 1851 die ganze Organisation bürokratischer. Am 11. Oktober 1855 starb Lehner in Darmstadt an Lungenschwindsucht. Der im Jahre 1856 gegründete Arnsburger Missionsverein feierte sein erstes Fest in Gambach, 1858 in Münzenberg, später in Hungen und Holzheim. Die Gäste, von denen manche sieben Stunden zu Fuß bis aus Dreihausen kamen, wurden in Privathäusern bewirtet. Über das kurhessische Marburg lesen wir: „Schon auf der Reise dahin wuchs die Zahl der hineilenden Festgäste lawinenartig von Station zu Station … Im Bahnhof zu Marburg wollte sich’s nimmer erschöpfen und leeren. Und wie wir – nämlich die Festgäste aus dem Großherzogtum Hessen – hineinkamen in die herrlich gelegene Stadt, da wogte es schon auf und ab von Bauersleuten, besonders aus dem Hinterland und dem Schwalmgrund: ein kräftiges Geschlecht, die Frauen in ihrer malerischen Tracht, die Hinterländler in weiten, faltenreichen, schwarzen Gewändern, die Schwälmer in hellen Farben mit den roten Hauben.In der Kirche war fast kein Platz mehr zu haben.“ Alle diese Initiativen hatten am Gefühl der Gläubigen wenig geändert, sonst hätte Louis Harms nicht bezüglich der Hermannsburger Mission aus Südafrika schreiben können: „Herzlich habe ich mich über die aus Ihrer Gemeinde ausgeflogene Missionstaube gefreut, deren Ölblatt verkündete, dass auch bei Ihnen die Wasser der Sündfluth fallen … Was nun Ihre lieben Frauen und Mädchen betrifft, so mögen die nur nicht fürchten um ihre Arbeit. Es ist so heiß nicht in dem afrikanischen Hermannsburg. Es werden da baumwollene und wollene Strümpfe, baumwollene und wollene Hemden getragen, und leinene und baumwollene Hemden und oder Kittel sind die Haupttracht der Kaffern.“ Im Großherzogtum Hessen wurde nun dafür geworben, bei der Taufe eines Kindes einen Gulden für die Heidenmission zu spenden und diesen zu den Hermannsburgern zu leiten. Auch
Abendmahl, Trauung und Begräbnis verlangten Dankesgaben. „So gaben mir zum Beispiel meine Abendmahlsleute allein jährlich 1000 Gulden in die Hand für die armen Heiden, weil keiner den Segen des Abendmahls haben will, ohne diesen Segen auch denen zu bringen, die ihn noch nicht haben.“ Noch immer war das Maß nicht voll. 1884 entstand in Weimar der „Hessische Landesverband vom Allgemeinen evangelisch-protestantischen Missionsverein“, in dessen Statuten als Zweck genannt wird, unter den nichtchristlichen Völkern christliche Religion und Kultur zu verbreiten. Als Ergänzung ist die Hessische Missionskonferenz in Starkenburg zu betrachten, die die praktische Missionsarbeit theoretisch und wissenschaftlich untermauern sollte. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts beteiligten sich auch die hessischen Lehrer und missionsfreundliche Studenten. Von ähnlichen Meinungen wie die des Graf von Zinzendorf, die Sklaverei sei Gottes Strafe für die Afrikaner und müsse ertragen werden, waren die ersten Männer geprägt, die 1735 nach Surinam ausgesendet wurden. Sie mussten Stellung beziehen im kolonialen Gefüge von Pflanzern und Sklaven. Fritz Staehelin sammelte Material der Zeitzeugen in seiner „Geschichte der Mission in Surinam“.12 Dort waren zwischen 1667 und 1863 durch die Westindien-Kompanie bzw. die Surinamer Sozietät etwa 300000 Sklaven angeliefert worden, das Verhältnis zwischen Europäern und Afrikanern betrug um die Jahrhundertwende herum etwa 1 zu 10 (5000 zu 50000). Fast 10 Prozent der Sklaven flüchteten und schlossen sich im Urwald zu
Gemeinschaften zusammen; 1760 betrug die Zahl dieser „Maroons“ um 6000 Personen.13 Die Basler Mission schritt nicht ein, wenn die Einheimischen von den Kolonialbeamten gequält und unmenschlich bestraft wurden. Prügelstrafe war übliche Praxis auch in der Heimat und wurde sogar von Missionar Christaller angewandt. Gegen Jesko v. Putkamers Erziehungskonzept in Kamerun klagte die Mission 1902 nur, weil er die Kinder dem Schulbesuch entzog. Die Steyler Mission protestierte wegen Vergewaltigungen.14 Die Basler Mission, 1824 bis 1835 im Vorderen Orient tätig, wurde nach 1900 zu Augenzeugen der Massaker an den Armeniern und durften sich nicht einmischen. Die Herrnhuter engagierten sich in Persien (1748/49) und in Ägypten (1749–1783), die Basler im Iran (1833–1837). In China wurden europäische Missionare Ende des 19. Jahrhunderts zu kolonialen Werkzeugen. Zerstörten die Kolonialherren mit Opium aus Indien die Physis, so höhlten die Seelenfischer („die bestgehassten Ausländer“ laut Prinz Heinrich von Preußen) aus Sicht der Chinesen mit einer anderen Art von „Opium“ Psyche und tradierte Ordnung aus. In Deutsch-Neuguinea, wo manches Jahr die Todesrate auf den Plantagen bis 60 Prozent betrug, versuchten Lutheraner aus Neuendettelsau ab 1886 den Heidenkindern mit allen Mitteln protestantische Arbeitsethik einzutrichtern. Die meisten der frommen Brüder und Schwestern waren nicht nur Wegbereiter, sondern allzu willige Helfershelfer der Eroberer.15
1 P. Horbach. In: Hessische Biografien Bd.1, 501. 2 P. Kawerau: Amerika und die orientalischen Kirchen, 1958, 74. 3 Römheld, 10. 4 J. Richter, Indische Missionsgeschichte, 2. Aufl. Gütersloh 1924. 5 Ders. 39ff. 6 J. Richter 1924, 392 und T. Schölly, Samuel Hebig. Der erste Sendbote der Basler Mission in Indien, Basel 1911, 35. 7 H. Gundert, Die evang. Mission, ihre Länder, Völker und Arbeiten, Stuttgart 1894. 8 Richter 599. 9 T. Schölly, 1911, 100. 10 Römheld, 50. 11 Römheld, 74. 12 A.-M. Heinemann, Konfliktreicher Anfang in Surinam die Herrnhuter Mission zwischen Anpassung und Widerstand (Hausarbeit), Hannover 2009. 13 Nachkommen heute 14 Prozent der Bevölkerung. 14 C. Bommarius, Der gute Deutsche: Die Ermordung Manga Bells in Kamerun 1914, 2015. Hielten „Whistleblower“ den Dienstweg ein, wurden sie degradiert, entlassen oder als krank (Tropenkoller) diffamiert. 15 B. Grill, Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte, München 2019, 204ff.
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Staatlich geprüfte Koloniallandwirte Die deutsche Kolonialschule und Ernst Albert Fabarius Geboren in eine alte evangelischen Pfarrersfamilie in Saarlouis am 15. September 1859, besuchte der kleine Ernst Albert von 1873–1881 die Klosterschule in Roßleben, denn sein Vater war 1862 als Kreisschulinspektor und Superintendent nach Reideburg bei Halle an der Saale versetzt worden.1 In Roßleben befand sich seit 1554 eine von Georg Fabricius, einem Schüler Melanchthons, gegründete Eliteschule, die im Auftrag des letzten Vogts, dem Ritter und Doktor beider Rechte Heinrich von Witzleben gestiftet worden war. Um 1880 gab es sieben Klassen mit über hundert Schülern und dreizehn Lehrer. Koloniale Fragen beschäftigten Fabarius schon damals.
Ernst Albert Fabarius
Ernst Albert studierte in Bonn, Berlin, Tübingen und Halle Theologie, Nationalökonomie, Staatswissenschaften, Geographie und Geschichte. Mit Freunden aus der Schulzeit rief er in Bonn und Tübingen den Verein deutscher Studenten ins Leben, der alle nationalgesinnten Studenten zusammenschließen sollte. Seine erste Stelle bekam
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er als Hilfspfarrer seines Vaters in Reideburg und 1888 als Kadettenpfarrer und wissenschaftlicher Lehrer am Kadettenhaus Oranienstein bei Dietz an der Lahn. Im Jahre 1891 trat er die Stelle eines Divisionspfarrers in Koblenz an. Hier heiratete er am 15. März 1892 Margarethe Lilly (1870–1931).2 Waren die evangelischen Missionsgesellschaften zunächst gegen eine Besiedlung der Kolonien, so änderte sich das im Laufe der Zeit. Der Konflikt zwischen ihnen und der Reichsregierung eskalierte 1904, als den Missionaren vorgeworfen wurde, sich im Herero-Aufstand in Südwest und dem Maji-Maji-Aufstand im Osten auf die Seite der Aufständischen gestellt zu haben.3 Als Deutschland die ersten Kolonien an sich gerissen hatte, ließ Fabarius der Gedanke nicht mehr los, dass junge Emigranten und Siedler eine gründliche Ausbildung benötigten. Mitbegründer des „Westdeutschen Vereins für Kolonisation und Export“ war der evangelische Pfarrer der Rheinischen Missionsgesellschaft in Barmen Fabri 1881, was die deutsche Kolonialbewegung so recht in Schwung brachte.4 1882 folgte der Deutsche Kolonialverein zur allgemeinen Förderung kolonialer Ziele.5 Aus Studentenzeiten kannte Fabarius Karl Peters.6 Dieser gründete 1884 mit Mitstreitern die „Gesellschaft für Deutsche Kolonisation“. Seine Kolonialpolitik „will nichts Anderes, als die Kraftsteigerung und Lebensbereicherung der stärkeren, besseren Rasse, auf Kosten der schwächeren, geringeren, die Ausbeutung der nutzlos aufgespeicherten Reichtümer dieser im Dienste des Kulturfortschrittes jener.“ Mit dem Eigenkapital dieser Gesellschaft fuhr der 27-Jährige nach Ostafrika und führte eine Methode zur betrügerischen Landenteignung ein: sog. „Schutzverträge“ mit „Flaggenhissungen“.7 In Koblenz fungierte Fabarius als Sekretär des Rheinischen Verbands des Evangelischen Afrikavereins. Dieser hatte sich gebildet als konfessionelle Gegenbewegung zum Afrikaverein deutscher Katholiken, legte besonderen Wert auf humanitäre Ziele und trat für die Menschenrechte der Afrikaner ein. Er befürwortete den Schutz des
Reiches für Handelskolonien, lehnte aber eine Besiedlung mit Deutschen ab. Als Schriftführer der Deutschen Kolonialgesellschaft kam Fabarius mit einflussreichen Persönlichkeiten in Kontakt, so dem Fürsten Wilhelm zu Wied und dem Herzog Johann Albrecht zu Mecklenburg, dem Fabrikbesitzer E. A. Scheidt in Kettwig8 und Prof. Wohltmann9 in Bonn und Oberbergrat Busse in Koblenz. Die älteste Lehrstätte zur Schulung angehender Siedler und Beamter wurde in Leiden, Niederlande errichtet (später nach Delft verlegt). In Wageningen gab es das Reichsackerbauinstitut. In Frankreich ging 1889 eine Schule für Kolonialbeamte aus einer 1885 für Kambodschaner gegründeten Einrichtung hervor. Im Vereinigten Königreich bildete man die Kolonialbeamten auf den Universitäten und in den Kolonien selbst aus, darüber hinaus gab es die Colonial College and Training Farms bei Harwich. An diesen Beispielen orientierte sich die deutsche Schule. Das im Jahr 1887 begründete Seminar für Orientalische Sprachen an der Berliner Universität bereitete für den kaiserlichen Konsulardienst vor. 1908 begann in Hamburg mit der Eröffnung des Kolonialinstituts die Vorbereitung der Beamten des höheren Dienstes und in Halle erreichte die Kolonial-Akademie einen Zusammenschluss von Professoren mit kolonialwissenschaftlichem Schwerpunkt. Mit dem sicheren Rückhalt der Protektion höchster Adelskreise entstand im März 1899 die „Deutsche Kolonialschule Wilhelmshof“ als private GmbH, zwar ohne Unterstützung der Missionsgesellschaften aber mit eindeutig evangelischer Ausrichtung. Wahrscheinlich fand man in Witzenhausen kostengünstige ausgedehnte Ländereien in unterschiedlichen Lagen und Böden um ein ehemaliges verwahrlostes Kloster herum, wo mit etwa fünfzehn Schülern der Unterricht startete. Eine entsprechende Ausbildungsstätte im Rheinland hätte doppelt so viel gekostet. Fabarius hatte befürchtet, dass katholische Kreise die Idee aufgreifen und früher verwirklichen könnten, um sich dadurch die Förderung der Plantagengesellschaften und Industriellen zu sichern. Eingangsvoraussetzung für die Aufnahme als Schüler war die Mittlere Reife, die auch zur Zulassung zum Landwirtschaftstudium an Universitäten reichte. Anfangs 400 Morgen später 800 Morgen und
240 Morgen Pachtland wollten bewirtschaftet sein. 100 Morgen Wald kamen dazu sowie eine große Gärtnerei mit Gemüsefeldern, Baumschule, Obstpflanzungen, Weinbergen, Tabakanbau und Versuchsfeldern. Fabarius war Gründungsdirektor und Dozent für Kolonialwirtschaft, Völkerkunde, Religionsgeschichte, Kultur- und Kolonialgeschichte und Kulturgeographie der GmbH, die sich aus Spenden seiner mütterlichen Familie und Gleichgesinnten speiste. Mit eigenen Augen sah er die Kolonien erst 1909 und auch die Ausbildungsstätten anderer Kolonialmächte kannte er zu dem Zeitpunkt noch nicht persönlich. Ihm ging es neben der Verbindung von Praxis und Theorie auch um die Prägung des Charakters. Den Schülern sollte sowohl die Verantwortung für ihr eigenes Land bewusst sein, als auch desjenigen, in das sie übersiedelten, sowie für die Menschen, die sie anstellen wollten. Christliche Zucht und evangelischer Glaube garantierten ihm die Wirksamkeit der Kolonisation. Aus diesem Grund stellte er das ritterliche Ordenskreuz in das Wappen der Kolonialschule. Zu seinen Grundsätzen gehörten die Stärkung der eigenen Lebenskraft, Lust am Vorwärtskommen, harte Arbeit und Selbstdisziplin. Seine Schüler sollten ehrliche Kameraden des einfachsten Landarbeiters werden. „Wer nur interessante und nach seinen schülerhaften Begriffen lehrreiche Arbeit tun will, beweist damit, dass er für die vielfach recht stumpfsinnige Tätigkeit eines praktischen Kulturpioniers draußen nicht befähigt ist.“ Die Schüler mussten in den zwei bis drei Jahren wie jeder Landarbeiter zupacken, was bei Schülern und Lehrern Proteste hervorrief. Obwohl schon beim Eintritt kräftig gesiebt wurde, entfernte Fabarius im Herbst 1904 von 214 aufgenommenen Schülern 38 wegen mangelnder charakterlicher Eignung von der Anstalt.10 Alle absolvierten eine zweijährige praktische Lehre in Landwirtschaft oder Gärtnerei oder ein landwirtschaftliches Praktikum an der Kolonialschule. Von persönlicher Freiheit blieb dem Einzelnen selbst in seiner Freizeit nicht viel. Der in den übrigen Erziehungsanstalten des Reiches unübliche strenge Erziehungsstil musste regelmäßig vor zahlreichen Gegnern verteidigt werden. Er resultierte sicher aus der Klosterschulund Kadettenerfahrung des Leiters. Akademische Freiheiten, wie sie in Schülerstreiks gefordert
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wurden, lehnte er vehement ab. Die Hausordnung verlangte von den hierarchisch durchorganisierten Kolonialschülern, „dass sie in ihrem ganzen Verhalten, in Zucht und Wandel durch Eifer und Treue es an den Tag legen, wie sie sich allzeit ihres zukünftigen Berufes, Vorkämpfer echter deutscher Tüchtigkeit und Kulturarbeit und Träger edler christlicher Gesinnung zu sein, voll bewusst sind.“ Fabarius überwachte und steuerte persönlich das tägliche Leben seiner Schüler, wie aus Aufzeichnungen im Tages- und Dienstbuch hervorgeht. Dort wird akribisch verzeichnet, wie viel als Strafe für das ZuSpät-beim-Frühstück-Erscheinen bezahlen werden musste. Ansonsten dienten Verwarnungen, Stubenund Hausarrest und Verruf als Zuchtmittel. Strafen wegen Verfehlungen des Dienstpersonals und ein Heiratsverbot während des ersten Probejahres erinnern an alte Gesindeordnungen. Die wissenschaftliche Ausbildung umfasste einheimischen und tropischen Pflanzenbau und Tierzucht, Kulturtechnik und Tropenheilkunde, neben Chemie, Mineralogie, Geologie, Biologie, Volks- und Betriebswirtschaft und Sprachen. Regelmäßige Tätigkeiten in der Mühle, der Stellmacherei, der Molkerei, Tischlerei, Sattlerei, Schlosserei und Schmiede, Boots- und Hausbau, Seifensieden und Schlachten dienten der Allgemeinbildung. Der schulische Aufbau war nicht leicht, da es an jeder Erfahrung fehlte, welches Wissen am Ende Wirtschafts- und Plantagenbeamte sowie Landwirte, Viehzüchter, Wein- und Obstbauern brauchten. Nach zwei- oder dreijähriger Ausbildung konnte ein „Diplom der Deutschen Kolonialschule“ mit der Berufsbezeichnung „Staatlich geprüfter Koloniallandwirt“ erworben werden. Eine eigene Zeitschrift „Der deutsche Kulturpionier“ verband die Ehemaligen in der neuen Heimat mit ihren Ursprüngen und deren Idealen, ebenso der „Verband Alter Herren“, dessen Vorsitzender Fabarius war. Dort wurden die Erfahrungen der Pioniere ausgetauscht und flossen in den Unterricht zurück. Die Schule konnte die Nachfrage nach Absolventen kaum schnell genug decken. Ab 1902 leisteten die Schüler ein Praktikumsjahr, da sich herausgestellt hatte, dass die praktische Tätigkeit zwischen den Vorlesungen Konzentrationsprobleme aufwarf. Die 1908 in Witzenhausen unter Fabarius’ Oberleitung gegründete Frauenkolonialschule sollte „Frauen
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aus den besten Kreisen unseres Volkes hineinführen in die koloniale Arbeit ... Die Frau in den Kolonien muß sein der treue Kamerad, die verständnisvolle Gehilfin des Mannes, die Schulter an Schulter mit ihm wirkt und schafft und die, wenn die Umstände es erfordern, ihn auch vertreten kann in der Leitung oder Überwachung eines großen Farmbetriebes.“11 Die enge räumliche Nähe und Zusammenarbeit und vor allem das dadurch geförderte gesellige Beisammensein seiner Zöglinge wurden Fabarius bald suspekt. Im Abschlussbericht 1911 gab er unverblümt zu: „Die realen Verhältnisse und die Eigenart der Menschen sind meist viel stärker als unsere Theorien und idealen Wünsche und Hoffnungen.“12 Der sittlichen Gefahr würde dadurch vorgebeugt, dass die Frauenschule nach Bad Weilbach umzog, wo sie bis zum Ersten Weltkrieg bestand. Nur dafür geeignete Menschen wollte Fabarius nach Übersee auswandern lassen, die übrigen sollten im deutschen Osten die innere Kolonisation vorantreiben. Dazu rief er mit seinem Freund Pfarrer Paul Aldinger den „Evangelischen Hauptverein für deutsche Ansiedler und Auswanderer“ und den „Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer“ ins Leben, die bis 1914 rund 5000 Familien halfen. Sie sollten hauptsächlich verhindern, dass deutsche Auswanderer als „Kulturdünger in fremdem Volkstum“ aufgingen. Die Kolonialschule fungierte nach dem Muster der Missionsgesellschaften als Mutterhaus. Volksdeutsche Landarbeiter aus Galizien und Südungarn kamen auf den Gutshof nach Witzenhausen und sollten als Sommerarbeiter auf deutsche Güter in diesen Regionen vermittelt werden, um die polnischen Wanderarbeiter zu ersetzen. Auswanderungswillige vermittelten die Helfer nach Kanada, Brasilien, Argentinien und Chile zu vertrauenswürdigen Geistlichen und Lehrern, in deren Obhut das Deutschtum besonders berücksichtigt, Schulen und Kirchen unterhalten wurden. Im Jahre 1906 wurde der angefochtene Fabarius zum Professor ernannt. Zwischen April und Juli 1910 unternahm er zum ersten und einzigen Mal eine Studienreise in die Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Seit 1918 trug die Schule den Zusatz „Hochschule für In- und Auslandssiedlung“. Im Ersten Weltkrieg kam der Schulbetrieb ganz zum Erliegen. 1919 genehmigte Fabarius erstmals zwei Studentinnen
die Zulassung. Trotz guter Erfahrungen blieb deren Zahl sehr klein. In der Weimarer Republik kamen neben Auslandsdeutschen auch Türken, Perser, Griechen, Lateinamerikaner, Inder und Ecuadorianer. Der Untergang kaiserzeitlicher Werte bewirkte bei den Studierenden eine andere Haltung zur Autorität des „Ersatzvaters“, aber Fabarius’ Weltbild und Wertekanon kam nicht ins Wanken. Trotz des Verlustes der Kolonien, der die Anstellungsaussichten schmälerte, drängten sich Schüler weg von der Arbeitslosigkeit auf die Schulbank und viele danach in den Freiwilligen Arbeitsdienst.
Kolonialschüler beim Unterricht im Gewächshaus
1924 wurde das „Kolonialkundliche Institut“ geschaffen mit der Aufgabe, das gesammelte Wissen weiter auszubauen. Major v. Duisburg und Winter wirkten dort maßgeblich. Fabarius starb am 28. Oktober 1927 in Witzenhausen an Diabetes. An der Deutschen Kolonialschule wurde 1906
der Verband der Tropenlandwirte Witzenhausen (VTW) e. V. gegründet als unabhängige Vereinigung der Absolventen.13 Die Kolonialschule bestand bis 1956 und wird seither als „Deutsches Institut für tropische und subtropische Landwirtschaft“ (DITSL) weitergeführt. Von den 800 Schülern, die zu Fabarius Zeiten den Abschluss machten, sind viele nach Übersee gegangen, 465 meist nach Afrika, 206 nach Amerika und Holländisch-Indien. Fabarius konnte bei Umfragen bei Plantagengesellschaften in den Kolonien zahlreiche Referenzen sammeln, die seinen Absolventen hervorragende Zeugnisse ausstellten. Seine Frau beaufsichtigte jahrzehntelang die hauswirtschaftlichen Belange der Schule. Das Ehepaar hatte drei Söhne (zwei fielen im Ersten Weltkrieg) und zwei Töchter. Böhlke führte aus, „dass Ernst Albert Fabarius ein vielseitig interessierter und gebildeter Mann war, der mit Nachdruck für seine Überzeugungen eintrat und sich schon vor seiner Zeit als Direktor der DKS Anerkennung verschaffte. Als Kind seiner Zeit verfügte er über einen schwärmerischen Patriotismus, der oft stark nationalistische Züge aufwies, allerdings ohne dabei erkennbar in Rassismus oder Antisemitismus zu verfallen. Sein unbeirrbarer Glaube an die von ihm propagierten nationalen, protestantischen und sozialen Werte, verbunden mit den hohen charakterlichen Ansprüchen, die er an die Menschen auch in seiner Umgebung stellte, machte ihn allerdings auch zu einer sehr autoritären und schwierigen Persönlichkeit.“14
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1 Lebensbilder aus Kurhessen-Waldeck Bd.3, 1940, 77f. 2 E. Baum, Daheim und überm Meer. Von der Deutschen Kolonialschule für Tropische und Subtropische Landwirtschaft in Witzenhausen, Witzenhausen 1997, 30f.; P. Wolff, Tropenlandwirtschaftliche Ausbildungsstätten in Witzenhausen. Die Entwicklung von der Deutschen Kolonialschule Witzenhausen zum Fachbereich Internationale Agrarwirtschaft der Gesamthochschule Kassel, Witzenhausen 1990. 3 E. Baum 1997, 19. 4 U. Soenius, Koloniale Begeisterung im Rheinland während des Kaiserreichs. Schriften zur Rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte, Bd.37, Köln 1992. 5 E. A. Fabarius, Eine deutsche Kolonialschule. Denkschrift zur Förderung deutsch-nationaler Kultur-Aufgaben und zur Wahrung deutsch-protestantischer Interessen in den überseeischen Gebieten. Im Auftrag des Africa-Vereins, Rhein. Verbandes, Coblenz 1897. 6 Dr. Carl Peters (1856–1918) geboren in Neuhaus an der Elbe, Sohn eines Pfarrers, Klosterschüler, Privatdozent der Philosophie, Gründer der „Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft“ auch Hänge-Peters genannt, der den Ruf eines erbarmungslosen Mörders genoss. Die AfrikanerInnen gaben Peters den bezeichnenden Namen „der Mann mit den blutbefleckten Händen“. In seinem Buch „Kolonien unter der Peitsche“ meint F. F. Müller, dass Carl Peters „ein Psychopath mit sadistischen Neigungen, krankhaft übersteigertem Geltungsbedürfnis und hysterischem Ehrgeiz“ war, „der sich zeitweise zu einer Art Cäsarenwahn steigerte.“ 7 Die Vertragsabschlüsse bestanden darin, dass Peters örtliche Häuptlinge aufsuchte und ihnen – oft nach reichlichem Alkoholgenuss – deutschsprachige Schriftstücke vorlegte, auf die sie dann Kreuze als Unterschrift zeichneten. Darin wurde ihnen Schutz vor Feinden zugesagt, umgekehrt erhielt die Kolonisationsgesellschaft u. a. das alleinige Recht, Zölle und Steuern zu erheben, bewaffnete Truppen ins Land zu bringen und Siedlern das Land zu überlassen. Peters überprüfte weder, ob die afrikanischen Vertragspartner verstanden, was ihnen vorgelegt wurde, noch ob diese überhaupt die Verfügungsgewalt über das Land besaßen. 8 Die Tuchfabrik der Familie Scheidt entsprachen in ihrer Bedeutung als Arbeitgeber den Krupps in Essen. Johann Wilhelm Scheidt expandierte die Geschäftsverbindung der Firma vom kleinen Kettwig bis nach Amerika. Auf Jahre hinaus waren die USA das Hauptabsatzgebiet der Scheidt, bis 1890 Schutzzölle das Geschäft fast zum Erliegen brachten. 9 Ferdinand Wohltmann (1857–1919) deutscher Pflanzenbauwissenschaftler besonders der tropischen Agrikultur. 1909 wurde er als Nachfolger von Julius Kühn zum Direktor des Landwirtschaftlichen Instituts der Universität Halle/Saale berufen. 10 Er trat 1882 aus dem aktiven Militärdienst aus und engagierte sich in der Deutschen Kolonialgesellschaft, unternahm mehrere Reisen nach Afrika und Asien. 1895 Präsidenten der Deutschen Kolonialgesellschaft. Unter anderem kümmerte er sich um den Frauenmangel in Deutsch-Südwestafrika, indem er für deutsche Siedler um Bräute in der Heimat warb. 11 Kulturpionier 1904/05, Nr.1 dazu kamen gesundheitliche und persönliche Gründe, d.h. 25 Prozent brachen ab. 12 Gräfin Zech, Die Kolonialfrauenschule in Witzenhausen. In: Kolonie und Heimat in Wort und Bild 3.Jg. Nr.25, 1910. 13 13. Rechenschaftsbericht 1911. 14 J. Böhlke: Zur Geschichte der Deutschen Kolonialschule in Witzenhausen – Aspekte ihres Entstehens und Wirkens (Schriften des Werratalvereins in Witzenhausen, Heft 29), 1995; Kolonialschule Witzenhausen (Hrsg.): Festschrift zum 40-jährigen Bestehen der Deutschen Kolonialschule Witzenhausen, 1938; M. Rommel, H. Rautenberg: Die kolonialen Frauenschulen von 1908–1945, Gesamthochschule Kassel, Fachbereich Internationale Agrarwirtschaft in Witzenhausen 1983; in Witzenhausen/Werra von 1908–1910.
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Abenteurer und Pionier Hans Staden und Graf Friedrich Kasimirs Kolonie „Hanauisch-Indien“
Hans Staden
Es muss für die zeitgenössischen Geographen, deren bewohnte Erde jenseits des Äquators aufhörte, märchenhaft geklungen haben, als sie um 1500 zuverlässig erfuhren, dass außer Afrika auf der südlichen Halbkugel ein weiterer Kontinent gefunden worden sei. Seine Benennung „America“ hat Martin Waldseemüller zu verantworten, der die erste Karte nach den Berichten des Entdeckers Amerigo Vespucci zeichnete.1 Diese Erdregion erlebte nun den Run der Spanier und Portugiesen auf ihre Ufer, wie kaum in einer anderen Weltgegend getrieben von der Vorstellung, im Süden gebe es Gold und Juwelen in Massen. Sie schrieben ihre Interessensphären in den Verträgen von Tordesillas (1494) und Saragossa (1529) fest. Frankreich bekam nur ein kleines Stück des Kuchens. Kapitäne ließen sich Lizenzen für Entdeckungsfahrten geben und Länder zur Verwaltung zuweisen. Man stelle sich das heute vor! Ojeda erhielt die Genehmigung, das Gebiet des heutigen Kolumbien zu besiedeln, Diego de Nicusa das nördlich anschließende Gebiet, Panama, Costa Rica, Nicaragua. Beide waren zuvor an der Küste von Venezuela bzw. Espaňola reich geworden, aber die gewaltige Aufgabe der Inlandserkundung überstieg ihre Kräfte. Die Einheimischen wehrten sich teilweise mit allen Mitteln gegen die Eindringlinge. Die ersten Siedler starben reihenweise entweder an Hunger oder vergifteten Pfeilen. Die Entdeckung Brasiliens teilen sich die Portugiesen Pedro Álvares Cabral (1500), und Duarte Pacheco Pereira (1498),
sowie der Spanier Vicente Yánez Pincón (1499). König Johann III. teilte die brasilianische Küste in 15 Zonen und vergab diese an Adlige und Personen aus dem Mittelstand. Zur Bewirtschaftung der Zuckerrohrplantagen wurden Indios eingefangen. Die Indios eigneten sich jedoch schlecht als Arbeiter, deshalb begann 1538 die „Einfuhr“ von afrikanischen Sklaven.2 Hans Staden war um 1525 in Homberg/Efze wahrscheinlich als Sohn des wohl aus Wetter bei Marburg gebürtigen Gernand Staden geboren worden. Er entstammte einer bürgerlichen Familie und besaß das Bürgerrecht seit 1528. Es ist zwar nichts über seine Schulbildung bekannt, aber ein ungebildeter Söldner wäre wohl kaum in der Lage gewesen, seine Eindrücke aufzuschreiben. Unter seinen Verwandten sind zwei Schuldirektoren, einer mit Magister aus Heidelberg, ein dritter war an der Universität Marburg ausgebildeter Sekretär des Landgrafen. Letzterem widmete er auch seinen Erlebnisbericht. Stadens naive Spontaneität und Detailfreude schätzen Ethnologen an seiner Darstellung der portugiesisch-indianischen Kulturberührung.3 1548 reiste Hans über Bremen und die Niederlande nach Portugal, weil er sich dort einer Indienfahrt anschließen wollte.4 Da die Schiffe mit diesem Ziel kurz zuvor abgefahren waren, orientierte er sich um. Offenbar wollte er die Welt sehen. Der Kapitän des Kauffahrerschiff, Penteado, auf dem er sich als Büchsenschütze anheuern ließ, hatte den Auftrag, u. a. verbannte Portugiesen in Südamerika abzuliefern. Nach Zwischenstation auf Madeira folgte eine Kaperfahrt an der marokkanischen Küste und vierundachtzig Tage auf freier See bis Brasilien. Von Recife aus wurde Hans zur Verteidigung der Siedlung Igaracú gegen Indianer eingesetzt. Dieser erste Aufenthalt dauerte noch nicht einmal ein Jahr. Zurück in Europa entschloss er sich 1550 zu einer zweiten Reise diesmal mit drei spanischen Schiffen unter dem Kommando von Don Diego de Sanabria, und zwar in das Gebiet von La Plata und Paraquay. Aufgefundene Briefe bestätigen den Bericht des
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Guyana 1754
Deutschen. Staden befand sich auf der kleineren Brigantine. Das Hauptschiff wurde vor der Küste von Guinea von französischen Piraten geplündert.5 Das dritte Schiff verschwand auf Nimmerwiedersehen, während die anderen beiden, durch Monsunstürme auseinandergerissen, nacheinander bei Santa Catarina landeten. Eine Gruppe der Besatzung schlug sich zu Fuß nach Asunción durch. Inzwischen sank eines der Schiffe. Das übrig gebliebene war zu klein, um alle Schiffbrüchigen aufzunehmen. Eine zweite Gruppe marschierte los. Sie erreichte auch nach unsäglichen Strapazen den Ort, aber dort fand sich kein seetüchtiges Schiff, um den Rest zu retten. Nach zwei Jahren im Urwald gaben sie die Hoffnung nach Entsetzung auf, zimmerten ein kleines Boot und stachen in See. Kurz vor dem Ziel sank es. Das gerettete Häuflein schleppte sich zu Fuß bis Sǎo Vicente, laut einem Brief des Kapitäns wurden sie aufgelesen von einem Schiff. In Sǎo Vicente war man über die Spanier wenig begeistert. Alles deutet darauf hin, dass die Portugiesen eine Weiterreise verhindern wollten und mit Hilfe beauftragter Indios außerhalb des Ortes einen Hinterhalt gelegt hatten. Staden wechselte die Front.6 Die Portugiesen stellten ihn als Kommandanten einer
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kleinen Festung auf der Insel Santo Amaro ein, die in der Folge Angriffen der Tupinambá-Indios ausgesetzt war. Er befreundete sich mit dem dortigen Kaufmann Heliodorus Hessus, Sohn des Marburger Professors Helius Eobanus Hessus. Hans besaß einen Sklaven namens Carios, den er auf die Jagd mitnahm. Als er eines Tages einen besonderen Festschmaus für seinen Gast Hessus schießen wollte, geriet er zu tief in die Wildnis: „Wie ich nun so durch den wald gieng, erhub sich auf beyden seiten des wegs ein groß geschrey auff der wilden leut gebrauch und kamen zu mir ingelauffen, da erkante ich sie.“7 Er wurde umzingelt und mit Pfeilen beschossen. „Noch verwundeten sie mich nicht mehr, dann in ein bein und rissen mir die kleider vom leib. Der eine die halßkappen, der andere den hut, der dritte das Hembd und so fort.“ Lautstark stritten sie sich um die Beute. „Doch zum letzten hoben mich zwen auff von der Erden, da ich so nacket war, der eine name mich bey einem arm, der ander bey dem anderen, und etlich hinter mich, und etliche vor mich, und lieffen so geschwinde mit mir durch den waldt nach dem Meer zu, da sie ihre Nachen hatten.“ Einige wollten ihn sofort erschlagen, der Häuptling gebot ihnen aber Einhalt mit dem Argument, dass auch die Frauen ihn sehen
und ein Vergnügen haben sollten. Besser, ihn für ein Festessen aufzuheben. Der „König“ besaß ein Rohr und Pulver, von den Franzosen für Holz getauscht, das musste Staden abschießen und aufstehen, als sie an der Festung der Portugiesen vorbeifuhren. Als die Indios im Lager über die beste Zubereitung des Gefangenen debattierten, fing dieser an zu singen. „Da sagten die Wilden Sihe wie schreiet er, jetzt jamert in.“8
Titelblatt
Er musste in einer Hängematte schlafen. „... und sie legten sich die nacht umb mich her, verspotteten mich und hiessen mich, auff ire spraache ‚Schere inban ende’= Du bist mein gebundenes Tier.“ Am nächsten Tag wurde er rasiert, es wurden ihm Rasseln ans Bein gebunden und er musste tanzen. Im Gespräch wurde ihm immer vorgeworfen, dass er ein Portugiese sein, ein Feind. Er rief ihren Handelspartner, einen Franzosen, als Zeugen an, dass er einem ganz anderen Volk angehöre. Dessen Sprachkenntnisse waren aber so dürftig, dass er versehentlich, statt Staden zu helfen, den Indios „Guten Appetit“ wünschte. Nach diesem Fehlschlag bekam Staden starke Zahnschmerzen und verweigerte deshalb die Nahrung. Die Gewichtsabnahme war den Feinschmeckern nicht recht. „Damals in der andern hütten fingen sie an, iren spott mit mir zu treiben, und desselbigen königsson band mir die beine dreymal über
einander. Danach musste ich eben fusses durch die hütte hüppen. Des lachten sie und sagten: da komt unser essen kost her hüppende.“ Die Leute drängten sich um ihn und fassten ihn an, um zu prüfen, welches Stück sie fordern sollten. Durch alle möglichen Tricks gelang es ihm, den Termin des Gelages immer wieder zu verzögern: Als die Indianer von einer Seuche heimgesucht wurden, versprach er dem Häuptling, sich bei Gott für die Heilung einzusetzen. Sie seien nur deshalb krank, weil sie mit ihrem Vorhaben, ihn zu verspeisen, den Zorn seines Gottes erregt hätten. Da der Häuptling tatsächlich überlebte, gelangte Staden in den Status eines Schamanen und Heilers und entging dem vorgesehenen Tod. Es blieb ihm jedoch nicht erspart, bei der Tötung, Zubereitung und Verspeisung gefangener Portugiesen zuzusehen. Als ihm einmal die Flucht gelang, schwamm er zu einem portugiesischen Schiff. Die Besatzung stieß ihn aber zurück, weil sie befürchteten, sich die Feindschaft der Wilden zuzuziehen. Neun Monate nach seiner Gefangennahme kaufte ihn der Kapitän des französischen Schiffes „Catharine de Vatteville“, Wilhelm de Moner, frei. Bei der Gelegenheit wurde Hans angeschossen. Über Rio kehrte er nach Frankreich zurück. Im zweiten Teil seines Buches schildert er die Sitten der Indios im Allgemeinen in sehr ähnlicher Auswahl, wie es später Ethnologen tun sollten: zuerst Nahrungsbeschaffung und -zubereitung, dann das Töpferwerk der Frauen, den Salzhandel mit den Franzosen, die Herstellung von Alkohol aus Mandiok, die Sitte der Unterlippendurchbohrung und den Schmuck, aber auch den typischen Lebenslauf. Mit einem Baumharz klebten sie sich Federn auf den Körper, rasierten sich eine Tonsur. Die Frauen bemalten sich das Gesicht. Es gab keine Hebammen, sondern bei einer Geburt half jeder, der gerade nah war. Man lauste sich und aß die Beute. Staden notierte auch nur Gehörtes: den Gefangenen werde eine Frau zur Verfügung gestellt. Würde diese schwanger, dann ziehe man das Kind groß und halte es als Nahrungsvorrat. Zu bestimmten Zeiten überfielen sie ihre Nachbarn, im November zur Maisernte und im August, wenn die Fische in den Flüssen laichten. Das ganze Jahre freuten sie sich auf die damit einhergehenden Feste, die Freunde wurden eingeladen, man bereitete Alkohol und trieb allerlei Kurzweil. Zum Höhepunkt
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wurde dem Sprößling oder dem Gefangenen auf den Kopf geschlagen, die Körperhaare im Feuer abgeflämmt und der Körper zerlegt und gebraten. Aus den Eingeweiden bereiteten die Frauen einen Brei. Bevorzugte Stücke waren Arme, Beine und Gesäß.9 Der Verzehr von Menschen war immer an Feste gebunden und nicht etwa Auswuchs besonderer Hungerzeiten. Der Stifter der Fleischbeilage erhielt zur Ehre einen Beinamen.
Tupinambá
Vor 450 Jahren erschien Stadens Reisebericht in Marburg bei dem Universitätsdrucker Andreas Kolbe und in Frankfurt a. M. durch Weygandt Han in der Schnurgass zum Krug: „Warhaftige Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden Nacketen, Grimmigen Menschfresser-Leuthen in der Newenwelt America gelegen“. Das Vorwort beinhaltet eine Echtheitsexpertise des Marburger Professors Dryander. Dieses Buch gilt in Brasilien als Basis der Landesgeschichtsschreibung und kostbarste Urkunde aus der nationalen Frühzeit. Die Schrift erreichte insgesamt 76 Ausgaben und wurde in viele europäische Sprachen übersetzt. Die gruseligen Details garantierten, dass es ein Bestseller wurde. Die Illustrationen, die in der Originalausgabe anatomischen Zeichnungen ähneln wie sie damals unter Dryanders Leitung entstanden, wurden mit jeder Ausgabe schauriger, eine Mischung aus wollüstig-barocker Ausschmückung und lutherischer frömmelndem Text, die genau den Geschmack der Zeit traf.10 Auf dem Titelbild liegt ein Mann in der Hängematte, daneben auf dem Feuer rösten Arme und Bein
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und in dem Spruchband darüber steht „Sete katu“ (= Es ist gut), der Kommentar der Indios zu ihrer Mahlzeit. Der erste Teil war erbaulicher Natur, der zweite wissenschaftlicher und die Abbildungen dienten der moralischen Belehrung.11 Während sein Vater seit 1551 das Bürgerrecht von Korbach besaß, wurde Staden nach seiner Reise Bürger von Wolfhagen und erlernte bei Hans Kampfer in Marburg das Salpeter- und Seifensieden. Bei Sachsenberg übernahm er eine Pulvermühle. Möglicherweise starb er im Pestjahr 1576 und hinterließ Ehefrau Trina und drei Kinder.12 Ebenfalls im 16. Jahrhundert reiste der Ulmer N. Federmann im Auftrag der Welser, die das Land Venezuela als Sicherheit für einen Kredit Karls V. bekommen hatten. Da sie jedoch als Projektleiter die falschen, geldgierigen Leute ausgesucht hatten, endete 1555 deren Engagement auf dem Kontinent mit einem Misserfolg. Deutschland war am Ende des Dreißigjährigen Krieges in zahllose Kleinstaaten aufgesplittert und hatte über ein Drittel seiner Bevölkerung verloren. Die Sorge der Landesherrn zielte auf Vermehrung der rund zehn Millionen landbestellenden Einwohner nicht auf deren Abwanderung. Ganz im Gegensatz dazu errichteten England, Frankreich, Holland, Dänemark und Schweden Stützpunkte und Siedlungen in Nordamerika, in Kanada, Mittelund Südamerika, in Ost- und Westindien und in Afrika. Italien und die Hanse verloren ihre Macht. Das Inselgewirr Westindiens und die Küste von Guyana wiesen kaum Niederlassungen der alten Kolonialmächte auf. Die Inseln wechselten häufig ihre Besitzer, der Aufschrei über einen Mitbewerber würde sich in Grenzen halten. In Guyana entstanden die ersten Siedlungen um 1596/7 durch die Holländer, die auch Sümpfe trockenlegten und Dämme bauten. Engländer zogen 1604 nach. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts ließen sich die Franzosen auf der Insel Cayenne nieder, 1677 auch auf dem Festland. Meistens handelte es sich um Küstenstreifen. Am 3. Juni 1621 wurde die erste Niederländische Westindien-Kompanie gegründet, und zwar unter dem politischen Druck Spaniens. Operationsgebiet der Gesellschaft war die nordamerikanische Ostküste, Guyana und Faktoreien in Westafrika, wo man sich mit den nötigen Arbeitskräften eindecken wollte. Das Kapital kam nur zögerlich zusammen,
die Skepsis der Anleger war groß.13 Um schnell Gewinn zu machen, überfiel und plünderte die Gesellschaft zweimal Bahia in Brasilien, sie verfügte über sechzehn große Schiffe und vier Yachten. Die Eroberung einer spanischen Silberflotte 1628 brachte der Kompanie eine Beute von 15 Millionen Gulden. In dem Drang nach einem befestigten Stützpunkt wurde Pernambuco überfallen, das aber aus vielfältigen Gründen im Buschkrieg der Portugiesen zu kostspielig zu halten war.
Johann Moritz von Nassau-Siegen (1604–1679)
Es musste eine eigene Basis mit ordentlicher Verwaltung und geschickter militärischer Führung geschaffen werden. Der geeignete Mann dafür war der mit den Oraniern verwandte Reichsgraf Johann Moritz von Nassau-Siegen (1604–1679), dessen Motto bereits in jungen Jahren war: Qua patet orbis (Soweit der Erdkreis reicht). Der dreiunddreißigjährge Mann meisterte die Aufgabe von dem frisch gegründeten Mauritsstad (Recife) aus mit Geschick, Energie und Tüchtigkeit. Die Grenzen wurden gesichert, im Innern Ordnung und Sicherheit hergestellt, die völlig darniederliegende Landwirtschaft wieder aufgebaut, und die geflohenen Portugiesen zur Rückkehr ermuntert. Seine umfangreiche, in Brasilien zusammengetragene naturhistorische und
ethnographische Sammlung veränderte an den europäischen Fürstenhöfen das Bild der Neuen Welt. Er förderte eine zwölfbändige, von Willem Piso und Georg Markgraf herausgegebene, Naturgeschichte „Historia Naturalis Brasiliae“. Unter seiner Fahne sammelten sich Abenteurer, die beschäftigt werden mussten. Die Festung Moritzschloss an der Mündung des Rio Dao Francisco diente als zweiter Stützpunkt. Zwar belagerte er vergeblich Bahia, aber 1637 eroberte er mit neun Schiffen und circa 800 Soldaten die portugiesische Festung und wichtigste Handelsniederlassung an der afrikanischen Küste von Guinea, St. George del Mina. Später leitete er eine Expedition nach Chile. Nachdem die portugiesische und die spanische Flotte durch die Holländer vor Itamaracá (Januar 1640) beinahe ganz vernichtet worden waren, begann der Krieg in Brasilien aufs Neue und wurde mit großer Grausamkeit geführt. Am liebsten hätte Johann Moritz ein zweites Holland geschaffen, aber die Aktionäre bremsten. Deshalb nahm er 1644 seinen Abschied. Unter seinen Nachfolgern stieg die Unzufriedenheit, Aufstände brachen aus, die 1654 zum Ende der holländischen Herrschaft in Brasilien führten. Schwer verschuldet wurde die Gesellschaft liquidiert, um 1674 eine neue zu gründen. Diese wurde Vertragspartner des Hanauer Potentaten. Nun betrat Johann Joachim Becher die Bühne, der schon an verschiedenen Höfen für südamerikanische Kolonien geworben hatte.14 Graf Friedrich Casimir von Hanau (1623–1685) war zum Herrn der Doppelgrafschaft Lichtenberg und Münzenberg gekommen, als letztere Linie 1642 im Mannesstamm ausstarb. Er hatte in Leiden studiert. Das Gebiet war etwa so groß wie das Saarland mit 100000 Einwohnern. Der reformierte Graf führte ein leichtsinniges und sorgloses Leben statt sich um die Sanierung des im Krieg schwer belasteten Landes zu bemühen. Außerdem geriet er unter den Einfluss des katholischen Landgrafen Georg Christian von Hessen-Homburg, den er als Stellvertreter ins Auge fasste, falls er nach Guyana ziehen sollte. Die Westindische Kompanie versprach sich davon eine Befreiung von der Last der Landesverteidigung mit der einzigen Verpflichtung für den Schutz auf See. Wenn die Deutschen zwischen Orinoko und Amazonasmündung Erfolg gehabt hätten, dann wäre nach vereinbarter
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Anlaufzeit ein vertraglich festgesetzter Prozentsatz Einnahmen laufend in die niederländischen Kassen geflossen. Für die dreitausend Quadratmeilen Land in Guyana war nur ein kleiner Betrag sofort bar zu zahlen, den Becher aus eigener Tasche übernehmen wollte. Die Anfangsfinanzierung hätte Hanau aufbringen können, zudem war die Beteiligung finanzkräftiger Interessenten anvisiert. 1669 wurde ein diesbezüglicher Vertrag von Becher im Auftrag des Grafen von Hanau in Holland abgeschlossen. Während noch diese Verhandlungen liefen, hatte Friedrich Kasimir auf Anraten von Bechers Widersacher Skylte eine Raritätensammlung gekauft und dafür das Amt Rodheim an den Landgrafen von Homberg verpfändet. Bei Rückkehr im August 1669 wurde der Vertragsabschluss groß gefeiert mit Festmahl, Feuerwerk und Ehrenmedaille für Becher. Den ratifizierten Vertrag brachte der Geheimsekretär Johann Georg Seiffert zusammen mit Geschenken für einige Vermittler nach Amsterdam. Becher stürzte sich sofort in die Arbeit und verfasste eine Studie zur Beschaffung der notwendigen Gelder. Mit seinem Bericht wollte er einerseits aufklären, den bösartigen Publizisten die „Mäuler stopffen“ und der „gantze teutsche ehrbaren Welt“ beweisen, dass nichts im Geheimen geschehen sei, was man nicht in der Öffentlichkeit vertreten könne. Es gehe darum, dass der Graf ohne neue Steuern oder Anleihen und ohne Verlust an Land und Leuten seine Kasse füllen, seine Schulden bezahlen und „seine Untertanen in gutem Flor und Nahrung“ setzen könne. Das sei unter normalen Umständen nicht möglich, selbst wenn er den Hofstaat auflöse und lange Jahre sparen würde. Becher entwarf einen Stufenplan der Kolonisierung. Zuerst sollten die Indios mit Glasperlen und anderem Schund zur Abholzung des Waldes verpflichtet werden, danach würde der Anbau von Nahrungsmitteln für die Siedler folgen. Die dritte Etappe diente dem Anbau von Ausfuhrprodukten: Zucker, Indigo, Tabak, Safran, Seide, Baumwolle, Oliven und Wein. Erst dann würde man afrikanische Sklaven benötigen, die von der Westindischen Kompanie gekauft werden müssten. Ihre Arbeit sei so leicht, dass sie die Sklaverei nicht mit der Freiheit deutscher Bauern tauschen würden. Die Auswanderer sollen Ehepaare „freywillige, ehrliche, dapffere Leut seyn, welche einen ehrlichen Profit
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zu gewinnen und mit Ehren wieder in ihr Vatterland zu kommen suchen.“ Für den Anfang sollten 500 Köpfe genügen, die mit drei Schiffen, Ausrüstung und Proviant für ein Jahr ausgerüstet werden müssten. Sechs Jahre lang benötige die Kolonie Zuschüsse von je 50000 Talern.15
Die Vertragsbedingung war, dass der Küstenlandstrich innerhalb von zwölf Jahren bebaut sein musste, sonst fiel das Land, das als erbliches Lehen anzusehen war, an die Kompanie zurück. Keine Religionseinschränkung, keine Zünfte, freie Herrschergewalt verspricht der Vertrag, unter der Bedingung, dass jeder Schiffstransport nur über niederländische Häfen abgewickelt werden sollte. In seiner Studie versucht er auch alle Gegenargumente zu entkräften. Hierin stellt er die Kämpfe der Indios untereinander als Vorteil dar, da diese verhinderten, dass sie sich zu einem gefährlichen Gegner zusammenschlössen. Damit das so bliebe, solle man sie in Ruhe lassen, weder zum Christentum zwingen, noch zur Arbeit und ihre Frauen nicht belästigen. Die Kontrolle auf die Entfernung sei problemlos, wie die Holländer seit
jeher zeigten, die Überfahrt dauere drei Monate und sei billiger als eine Reise von Frankfurt a. M. nach Wien. „König David habe zwar gesagt, bleibe im Lande und nähre dich redlich, aber er habe nicht gesagt, bleibe in der Wetterau und warte, bis die Pommeranzen auf den Holzäpfelbäumen wachsen.“ Die beste Planung half nichts, die Verwandten des Grafen und hohe Beamten standen dem Kolonialplan ablehnend gegenüber. Niemand teilte die Euphorie des Grafen. Ein hessischer Beamter, der nach Hanau geschickt wurde, um sich dort umzuhören, berichtete zu Hause, dass der Graf sich gebrüstet habe, „Itzo stattliche Lande in Indien (zu) bekommen, und dass dort die Dächer mit purem Gold gedeckt seien.“ Der andere Herrscher habe ihm schon 14 Millionen Taler geboten, aber für so lächerlichen Betrag würde er niemals seinen Traum aufgeben. Der Graf von Hanau hatte ihm für seinen Erfolg ein Haus in Hanau angeboten, aber Becher bevorzugte ein Lehen in Guyana: drei Meilen längs des Meeres, landeinwärts soweit er kommen könne, erblich mit allen Freiheiten. Überall im Reich spöttelte man über das hanauische Schlauraffenland am Orinoco. Im November entlud sich die Spannung in Hanau in einer Palastrevolution und einem Aufstand der Bürger. Krieg und Auflösung der Grafschaft
wurden gerade noch vermieden, indem der Graf von einem Ausschuss des Reichshofrats bei allen Staatsgeschäften einem Vormund unterstellt, also praktisch entmündigt wurde. Becher reiste ab, als ihm der Boden zu heiß wurde und kein Fortschritt in erreichbarer Nähe war. Es gelang ihm weder, sein eigenes Lehen zu aktivieren, noch hundert bayerische Familien nach Übersee zu schicken. Als die Grafschaft Hanau 1794 aufgelöst wurde, fiel Hanau-Münzenberg an Hessen-Kassel. Der Geheimrat von Springer schlug in einem Promemoria die Prüfung der Besitzverhältnisse von Hanauisch-Indien vor, das Ende des 17. Jahrhunderts französisch geworden war.16 Wohl aufgrund der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege unterblieb eine Untersuchung der Rechtsansprüche. Danach geriet der Anspruch in Vergessenheit, wenngleich nie ein förmlicher Verzicht erfolgte.17 Alle südamerikanischen Gebiete fanden erst 1815 feste Grenzen und Besitzer. Johann Moritz wird heute noch in Lateinamerika hochgeschätzt, da er – seiner Zeit weit voraus – auf Duldsamkeit in politischer, ethnischer und religiöser Hinsicht gegenüber anders Gesinnten pochte und die Eroberten als Ratgeber hinzuzog.18
Kannibalenmahl
Iss den Fuß, der köstlicher ist!
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1 E. Samhaber, Knaurs Geschichte der Entdeckungsreisen, München 1970, 176f; H. Fröschle, Die Deutschen in Lateinamerika. Schicksal und Leistung, 1979, 170ff. 2 Brasilien ist heute das Land mit der zweitgrößten afrikanischen Bevölkerung der Erde nach Nigeria. H. Stubbe, Über die Kindheit der afrobrasilianischen Sklaven im 19. Jahrhundert. In: Martius-Staden-Jahrbuch 49(2001), 111f; K. Ilg, Pioniere in Brasilien, 1972. 3 U. Bitterli, Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1991. 4 E. G. Franz (Hrsg.), Hessische Entdecker. Forschungsreisen in fünf Erdteilen. Ausstellung der Hess. Staatsarchive zum Hessentag 1981, 5. 5 Im Indienarchiv befindet sich noch das Protokoll der Plünderung! 6 F. Obermeier, Zeitgenössische Dokumente zu Hans Stadens Aufenthalt in Südbrasilien und im brasilianischen Sao Vicente. In: Martius-Staden-Jahrbuch 52 (2005) 107. 7 Klüpfel (Hrsg), N. Federmanns und H. Staden, Reisen in Südamerika 1529–1555, Stuttgart 1859, 121. 8 a. a. O. 124. 9 a. a. O. 188. 10 M. Künzel, Vier Lesarten des Buches. Zur Rezeption von Hans Stadens Warhaftige Historia. In: Martius-Staden-Jahrbuch 53(2006) 9ff. 11 F. Obermeier, Die Illustrationen in Stadens Warhaftige Historia. In: Martius-Staden-Jahrbuch 53 (2006) 35f. 12 E. G. Franz (Hrsg.), Hessische Entdecker 1981, 6. 13 H. Volberg, Deutsche Kolonialbestrebungen in Südamerika nach dem Dreißigjährigen Kriege, Köln 1977, 117. 14 Zu seiner Persönlichkeit: Volbeg 1977, 47ff. Er war ein vielseitig begabter Autodidakt, Erfinder, Politiker, Kaufmann, Lehrer und Nonkonformist aus Speyer, der bei Zeitgenossen auf Unverständnis stieß, wenn er z. B. in Würzburg eine hingerichtete Frau sezierte oder von einem Rhein-Main-Donau-Kanal phantasierte. Beim Kurfürsten von Bayern war er offiziell bestallter Leibmedicus mit weitreichenden Kompetenzen. 15 J. J. Becher, Politischer Diskurs, von den eigentlichen Ursachen deß Auff- und Abnehmens der Städt, Länder und Republicken, in specie, Wie ein Land Volckreich und Nahrhafft zu machen und in eine rechte Societatem civilem zu bringen ... Frankfurt 1668, 1112ff. 16 HSTAM, Bestand 4f., Hanau, Nr.718, Kasseler Kabinettsakten. 17 F. Wolff, „Schlauraffenland am Orinoko“ Die karibische Affäre des Grafen Friedrich Kasimir von Hanau. In: M. Schwarz, und H. Klingelhöfer, Hessen vergessen, 2003, 81f.; F. Hahnzog, Hanauisch-Indien einst und jetzt, Hanau 1959. 18 H. Fröschle a. a. O.
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Weltumsegler, Naturforscher, Landwirt Georg Heinrich v. Langsdorff Familie Langsdorff gehörte viele Generationen lang dem hessischen und badischen Offiziersund Beamtenstande an. Im damals nassauischusingischen Wöllstein in Rheinhessen wurde Georg Heinrich als ältester Sohn des fürstlichen Oberschultheißen Johann Gottlieb Aemilius, der als großherzoglich badischer Vizekanzler des Oberhofgerichts sterben würde, am 18. April 1774 geboren. Die hessische Sippe stammt möglicherweise von Konrad Langsdorff (1575–1645) aus Leihgestern ab, der als landgräflich hessischer Zehntgraf im Amt Hüttenberg fungierte, einer Gegend südlich von Gießen, wo sich der Familienname in etlichen Ortschaften findet.1 Das großherzoglich HessenDarmstädtische Freiherrendiplom erlangte Philipp Langsdorff am 2. Juni 1819 als hessischer Geschäftsträger am britischen Hof. Nur wenige Familienmitglieder verwendeten den Titel. Georg Heinrichs Nachkommen waren Bedienstete des Großherzogtums Baden. Georg Heinrich besuchte Schulen in Buchsweiler im Elsass und in Idstein. Zum medizinischen Studium bezog er die Universität Göttingen und beschloss es
1797 mit dem Doktor der Medizin und Chirurgie. Da er lieber seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse erweitern als den Beruf ausüben wollte, ergriff er die Gelegenheit beim Schopfe, dass Prinz Christian von Waldeck einen Leibarzt suchte. Dieser hatte die Stelle eines Generals der portugiesischen Armee angenommen. Der Prinz förderte v. Langsdorffs Studien auf einer Reise durch Portugal 1798 bis er an den Folgen einer Armamputation im folgenden Jahr starb. V. Langsdorff gefiel es in Portugal so gut, dass er sich zunächst als Arzt niederließ und angeblich die Pockenimpfung eingeführt haben soll.2 Die Praxis ließ ihm aber zu wenig Zeit für seine Studien, deshalb heuerte er als Chirurg bei den englischen Hilfstruppen an, mit denen er 1801 den Feldzug gegen Spanien mitmachte. Nach Friedensschluss kehrte er nach Deutschland zurück und ordnete seine Sammlungen. Mittlerweile waren seine Kenntnisse so geschätzt, dass er Korrespondierendes Mitglied der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg wurde. Durch diese Kontakte erfuhr er von einer geplanten Expedition rund um die Welt, die Zar
Stammbaumausschnitt Langsdorff
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Alexander I. unterstützte. Mit viel Hartnäckigkeit gelang es v. Langsdorff, vom Leiter der Fahrt, Adam Johann v. Krusenstern, auf der mit zwei Segelschiffen ausgerüsteten Expedition als Naturforscher in Kopenhagen mitgenommen zu werden, obwohl diese Funktion bereits von Tilesius besetzt war.
l: Adam Johann von Krusenstern; r: Georg Heinrich v. Langsdorff
Alle Beobachtungen waren ihm gleich wichtig. Detailliert beschreibt er die Lebensverhältnisse der Menschen, Botanik, Zoologie, Nahrungsgrundlage und Wirtschaft der besuchten Länder und begibt sich auf ausführliche Ausflüge ins Hinterland. Wenn das unmöglich war, dann beschäftigte er sich an Bord mit Lesen oder Beobachtung der Mitfahrer. Von Skandinavien aus legte man zuerst in England an, versorgte sich auf den kanarischen Inseln noch einmal mit Vorräten und kreuzte den Atlantik. In Brasilien kam er erstmals in seinem Leben mit der Sklaverei in Berührung. „Die Menge an Negersklaven beiderlei Geschlechts ... wird das ungewohnte Auge eines jeden Europäers befremden. Es wurde eine ganz eigene neue und empörende Empfindung in mir rege, als ich zum ersten Mal nach Nossa Senhora do Desterro kam und eine Menge dieser elenden hülflosen menschlichen Geschöpfe, nackt und entblößt in den Kreuzstraßen vor den Thüren liegend und zum Verkauf angeboten erblickte. Bloß die Schamtheile waren anfangs mit einer alten zerrissenen Leinwand und einige Tage nachher mit einem Stück neuen groben blauen Tuchs bedeckt.“3 Sie stammten aus Angola, Benguello, Mocambique und anderen portugiesischen Besitzungen. Ihr Preis war unter anderem davon abhängig, ob sie auf dem Transport schon die Pocken überstanden hatten. In seltenen Fällen sei die Behandlung der Sklaven so schlecht, dass sie bis zum Mord an ihrem Besitzer gereizt
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würden. Die härtesten Bedingungen fänden sie im Staatsdienst vor. Auf St. Catharina fand er Kontakt zu einem anderen Naturfreund, der ihm ausführlich die Wälder der Gegend zeigte. Langsdorff war berauscht von dem, was er sah, ständig hielt er an und ergötzte sich an Dingen, die seinen Begleitern alltäglich schienen: dem Wuchs der mit Blumen bedeckten Riesenstämme, dem Wohlgeruch, den Formen und Farben der Schwämme, der Vielfalt der Farnkräuter, Schlingpflanzen und Schmarotzern, die in schönsten Girlanden von den Kronen der Urwaldriesen hingen. Angst scheint er keine gehabt zu haben. Er schreibt gelassen von den Giftschlangen, die seinen Weg kreuzen, genauso wie von Papageien, Pfefferfraß, vogelgroßen Schmetterlingen, Kolibris und dem Geschrei der Affen. Von den Einheimischen wurde er gastfreundlich auch in der ärmsten Hütte aufgenommen. Von Brasilien aus umschiffte Krusenstern das Cap Hoorn und steuerte über den Pazifik. Auf den Marquesas-Inseln (Washington-Inseln) wurden sie freundlich empfangen und fanden in einem Engländer und einem Franzosen willige Führer und Dolmetscher. 1791 waren die Inseln erstmals von Amerikanern angelaufen worden. Bei den noch folgenden vier „Entdeckungen“ hatten sie auf den Karten jeweils den Namen gewechselt. Zunächst hatte es den Anschein, als würden sich die Frauen, nur notdürftig bedeckt durch ein Blatt, das nach dem Schwimmen fehlen konnte, schamlos anbieten und keine Koketterie unversucht lassen. Bei Besuchen an Land konnte sich die Crew davon überzeugen, dass es sich bei dem Empfangskomitee anscheinend um die leichten Damen der Inseln handelte und die anderen sich durchaus gesittet verhielten. Langsdorff berichtete von Menschenfresserei, die bei Hungersnöten gang und gäbe sei, hat aber selbst nicht so was beobachtet. Krusenstern wurden während der zehn Tage Aufenthalt menschliche Schädel zum Kauf angeboten, die bezeugten, dass die Opfer durch einen Schlag auf den Kopf getötet worden waren, und zwar aus Vergnügen an diesen Leckerbissen. Die Waffen waren mit Menschenhaar verziert und die Hausgeräte mit Menschenknochen. Die Morde geschähen heimlich, nicht im offenen Kampf, und der Verzehr der
sogenannten Kriegsgefangenen vor Ort. Er gibt zu, dass er von den Einheimischen ein positiveres Urteil gehabt hätte, dass aber die Erzählungen der zwei Europäer die dunkle Seite des Verhaltens ergänzten.4 Nur die Angst vor den Feuerwaffen der Ausländer habe sie zur Freundlichkeit und guten Versorgung der Schiffsmannschaften bewogen. Unbewaffnete Schiffbrüchige konnten ihres Lebens nicht sicher sein. Die Reichen demonstrierten durch lange Fingernägel, dass sie nicht körperlich arbeiten müssen. Bewunderung erregte die Tatauierung (Körpermalerei). Je reicher die Person, umso sorgfältiger, großflächiger und schöner waren die schwarzen Zeichnungen auf der hellen Haut. Nun segelte man weiter nach Norden. Die Expedition hatte unter anderem den Auftrag, japanische Schiffbrüchige in der Heimat abzuliefern. Von diesem Land wusste man fast nichts, denn die Holländer hatten in den 200 Jahren ihrer Kontakte Nachrichten unterdrückt. Nur zwei Reisende aus anderen Ländern veröffentlichten Ihren Reisebericht: Kämpfer und Thunberg.5 Eine Stippvisite machte auf einem holländischen Schiff Caspar Schmalkalden.6 Selbst die Holländer durften nur Nagasaki anlaufen, das übrige Japan war Sperrgebiet. Ohne die Japaner an Bord wäre den Russen sicher sofort eine Absage erteilt worden. Die Regierung war am Ausland nicht interessiert. Die Russen erwarteten mehr Freizügigkeit, hatte doch 1792 Katharina II. durch Kapitän Laxmann einmal eine derartige Fahrt unternehmen lassen, nachdem sie die damaligen Schiffbrüchigen an ihrem Hof großzügig herumgeführt, belehrt und ausgerüstet hatte, um endlich mit Japan in Handelskontakte zu kommen. Von diesem Besuch resultierte eine Besuchserlaubnis, die inzwischen zwölf Jahre alt war. Krusenstern und seine Offiziere fühlten sich nachhaltig gedemütigt durch die Japaner, weil deren Verwaltungsbeamte minutenlange „Kriechereien“, rechtwinklig verbeugt forderten. Endlos dauerten die Verhandlungen, bis endlich ein Ankerplatz angewiesen wurde. Für die Dauer des Aufenthalts mussten die Russen alle Waffen abliefern. Als sie sie wiederbekamen, waren sie teilweise verdorben (vermutlich vom Rost). Außerdem war jeglicher religiöse Beeinflussungsversuch verboten. Praktisch wurden sie in Japan wie Staatsgefangene behandelt.7
Ganze Boote voller Kinder ruderten um das Schiff, um die Fremden anzustaunen. Da nur bei offiziellem Besuch ein Dolmetscher mitkam, gelang keine Kommunikation. Den Holländern bewilligten sie noch nicht einmal beim Vorbeifahren etwas zu rufen und lediglich einen offiziellen, wörtlich ins Holländische übersetzten knappen Brief nach Europa via Batavia mitzugeben. Die Russen durften nichts kaufen, Nahrungsmittel und Reparaturmaterial für die Schiffe wurden ihnen jedoch unendgeldlich geliefert. Als der „Ambassador“ krank wurde, erbauten die Japaner auf hartnäckige Forderung eine umzäunte Hütte auf einer nahegelegenen Halbinsel, wo die quasi Gefangenen sich die Füße vertreten konnten. Jede Pflanze des umzäunten Platzes war ausgerissen, nichts gab es zu beobachten, und der Kontakt zu den auf dem Schiff Verbliebenen wurde unterbunden. Es durfte auch keiner allein in der Hütte zurückbleiben, sondern die gleiche Anzahl, die an Land ging, musste auch wieder zurück aufs Schiff.
Körpermalerei
Der Gesandte wollte zunächst die Schiffbrüchigen als Druckmittel zurückbehalten und sie persönlich dem Tenno übergeben. Als er merkte,
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dass er niemals bis zum Staatsoberhaupt vordringen würde, hätte er sie gerne dem lokalen Gouverneur überlassen, aber der wollte sie nicht mehr haben. Einer der japanischen Schiffbrüchigen wurde von Langsdorff rechtzeitig davon abgehalten sich die Kehle durchzuschneiden. Erst bei Abfahrt der Russen ließ man sie an Land. Es tauchte das Gerücht auf, dass die von Laxmann 1792 zurückgebrachten Japaner zu ewigem Gefängnis verurteilt worden seien. Mit Eiltempo halfen japanische Handwerker bei der Reparatur des Schiffes. Schließlich empfing ein hochrangiger Beamter die lästigen Ausländer, der sowohl den Brief des Zaren als auch die russischen Geschenke zurückwies mit der Begründung, man könne keine gleichwertigen Gegengeschenke machen. Man komme mit dem aus, was man habe und brauche nichts von außen. Für Handelsverbindungen reichten die Holländer, denen auch zukünftige Schiffbrüchige zu übergeben seien. Nie wieder dürfe ein russisches Schiff anlegen. Die zwei russischen Schiffe segelten durchs Meer vor Korea. Kontakt zu Japanern kam noch kurz zustande, als die Matrosen auf der Insel Hokkaido (damals Jesso) landeten, nachdem die Ureinwohner sie in kleinen Booten besucht hatten. Die Ainu lebten dort in sehr ärmlichen Verhältnissen.8 Japanische Händler und Fischer tauschten verbotene Waren: Bücher mit obszönen Holzschnitten und lackierte Trinkschalen. Der japanische Regierungsvertreter war bei deim Anblick der Ausländer sehr erschrocken und malte ihnen aus, wie eine Kriegsflotte sie angreifen werde, sobald er seine Meldung an die Provinzhauptstadt gemacht habe. Auch er nahm kein Geschenk an. Die Ainu dagegen waren ein sehr bescheidenes, zurückhaltend freundliches Volk mit sehr dunkler Gesichtsfarbe und starkem Bartwuchs. Die Frauen beschrieb Krusenstern als sehr sittsam. Er beobachtete weder Habsucht, noch Raub, von kleinen Geschenken zum Tausch für ihre Fische waren sie freudig überrascht. Ihre Kleidung bestand aus Seehundfell oder Haushund, Baumrinde wurde zu Kitteln verwebt. Die Frauen färbten sich die Lippen blau, während die Männer ihre Ohren piercten. Knöpfe und Kleider waren besonders begehrt. Im Peter und Pauls-Hafen auf Kamtschatka trennte sich Langsdorff von der Crew, um die Alëuten und Kalifornien zu besuchen.
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Die Schiffsmannschaft bestand im Unterschied zu der Forschungsfahrt aus einer wilden Mischung schlecht ernährter Abenteurer, Verbrecher und Pelzjäger, die sich bei jeder Gelegenheit gegenseitig die Läuse und anderes Ungeziefer aus der Kleidung lasen. Die an Skorbut Erkrankten wurden in den verschiedenen Handelsniederlassungen gegen gesündere Matrosen ausgetauscht. Als Proviant erschlugen sie massenhaft Seelöwen. Wie schon Merck vor ihm, war Langsdorff fasziniert von der Regenkleidung aus Robbendärmen, den Stiefeln aus Robben-Speiseröhre und der Art wie die Siedler auf den Alëuten9 ihre Pfeile mit Hilfe von Wurfbrettchen statt mit Bögen abschossen.
Ainu
Von den Kaluschen an der Nordwestküste Amerikas wurden die Russen sehr freundlich aufgenommen. Langsdorffs Beschreibungen entbehren nicht der Komik, wenn er z. B. von der Sitte im Norfolk-Sound schreibt, Mädchen während der ersten Menstruation zwei Tage ohne Essen, danach mit wenig Nahrung in eine Hütte zu sperren. Wasser mussten sie durch einen Flügelknochen des weißköpfigen Adlers schlürfen, nie mehr als drei Schluck. Diese Vorschriften sollten die zukünftige Anhänglichkeit in der Ehe, Fleiß, Mäßigkeit und Bescheidenheit fördern. „Schade, dass bei unserer Europäischen weiblichen Erziehung nicht solche Grundsätze von der Nordwestküste Amerikas eingeführt werden.“ Den jungen Mädchen wurde eine kleine Öffnung mitten unter die Unterlippe
geschnitten und anfänglich ein dicker Draht, dann ein hölzerner Doppelknopf oder ein kleiner, auf beiden Enden etwas verdickter Zylinder hineingesteckt. Diese Öffnung wurde im Laufe der Jahre immer mehr erweitert und die Unterlippe durch Einfügung eines ovalen Brettchens oder Schüsselchens weiter ausgedehnt. Die Frauen sahen dann aus, als ob ein großer flacher Holzlöffel in die Lippe eingewachsen sei.10 Die Kleidung dieser Menschen bestand aus einer Schambedeckung und einem etwa 1 ½ Fuß breiten, viereckigen Stück Zeug oder Fell, das mit zwei Enden um den Hals band. Europäische Stoffe brachten die alte Tracht zum Schwinden, die nur zu besonderen Gelegenheiten oder bei großer Kälte getragen wurde. „Bei häuslichen Verrichtungen, Baumfällen, Fischen u. dgl. gehen sie gewöhnlich nackend.“
Kamtschatka
San Francisco erreichte das Schiff nach 32 Tagen, es war damals ein Fort der Spanier, weshalb er sich lediglich mit dem Priester auf Lateinisch verständigen konnte. Die Soldaten trugen über den Uniformen „einer Bettdecke nicht unähnliche Hüllen (wohl Ponchos)“, v. Langsdorff verglich den Ort mit einem deutschen Maierhof. Die ansässigen Franziskanerpater führten absichtlich nicht die Technik der Windmühlen ein, weil sie keine andere Beschäftigung als Mahlen des Korns per Hand für die Indianer gehabt hätten. Alle Rinder der Gegend stammten angeblich von Tieren, die 1776 eingeführt worden waren. Ein paar Monate zuvor waren eine Menge Indianer an den Masern gestorben, und alle Schwangeren hatten deswegen Fehlgeburten erlitten. Der Deutsche hielt es für verfehlt, den Alëuten Lesen und Schreiben beizubringen, da sie deshalb in Kürze verlernen würden, wie man barfuß der Kälte trotze und jage.11 Für seine naturhistorische Forschung war die
Verständnislosigkeit Resanoffs sehr hinderlich, da seine Sammlung durch falsche Lagerung verdarb. Seit Mercks Besuch hatte sich in Unalaska etwas verändert. Im Jahr 1795 hatten die Einheimischen in der Nachbarschaft ihres Seelöwenfelsens einen starken Nebel beobachtet, der auch bei heiterstem Horizont sich nicht verteilte. Jahrelang konnten die Bewohner zu ihrem Leidwesen ihre Jagdgründe nicht nützen. Schließlich machte sich ein beherzter Alëute auf den Weg, um trotz des Nebels nach dem Felsen zu sehen und Seelöwen zu jagen. Er brachte die Neuigkeit, dass die See in der Nachbarschaft des Felsens koche und dass der vermeintliche Nebel Rauch wäre. Im Jahre 1800 lichtete sich der Rauch und die Alëuten sahen zu ihrem größten Erstaunen statt des bekannten Felsens eine völlig neue, vorher niemals bemerkte Insel, die unaufhörlich gleich einer Feueresse brannte und rauchte. Während im Abgrund des Meeres die große Werkstätte der Natur in voller Tätigkeit war, spürte man in Unalaska beinahe in jedem Monat starke Erdbeben; besonders heftig und zum letzten Male vor Langsdorffs Besuch geschah dies im Jahre 1802. Nachträglich betrachtete er den Abstecher als verlorene Zeit, da es sich seiner Meinung nach um sterile Gegenden mit dünner Besiedlung handelte. Ausführlich beobachtete v. Langsdorff die Aufzucht der Schlittenhunde (mit Fischsuppe) und ihre Pflege. „Sie schweifen im Sommer frei umher und versorgen sich selbst, im Herbst und Winter werden sie angebunden und auf Diät gesetzt, damit sie besser arbeiten.“ Im Frühjahr, wenn in den kalten Nächten der am Tage geschmolzene Schnee und das Wasser nur mit einer dünnen Eiskruste überdeckt sind, zieht man den Hunden eine Art Lederstrümpfe an, die über dem vorderen und hinteren Kniegelenk befestigt werden, um die Füße der Tiere vor Verletzungen zu schützen. Der Forscher trainierte selbst die Schlittenbenutzung und unternahm bald Exkursionen über die Halbinsel. 138 Werst (circa 147 km) legte er von St. Peter und St. Paul zum Ort Malka zurück, um die in seiner Nachbarschaft befindlichen heißen Quellen zu untersuchen. Eine andere Reise unternahm er mit Rentieren als Zugtiere und besuchte auch die Rentiernomaden Korjäken. Lästigerweise warfen die Tiere dem Fahrer mit ihren Hufen beständig Schnee ins Gesicht.
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Einmal musste er einen brennenden Wald durchreiten, als die Gruppe den Karawanenweg verließ und sich querfeldein schlug, um den Pocken auszuweichen. Der Weg musste durch hohes, morastiges und dichtbewaldetes Gebiet mit dem Beil gebahnt werden. In der Gegend von Tschelobscha (Dwerpad) kehrte er in der Sommerwohnung eines reichen Jakuten ein. Dieser bewohnte mit seiner Familie eine flachzuckerhutförmige Hütte, die etwa 18 Fuß im Durchmesser hatte und deren Gerüst mit Birkenrinde bedeckt war. Obgleich die Gäste unerwartet eintrafen, herrschte in dieser Behausung eine auffällige Reinlichkeit. Bemerkenswert war die mannigfaltige Verwendung der Birkenrinde. Boote, Trink- und Wassergefäße, Hüttenbedeckung und die verschiedenen Abteilungen im Hütteninnern bestanden aus Birkenrinde. Sogar Schirme und Bettvorhänge waren daraus verfertigt und mit mancherlei Stickereien verziert. Um die Rinde geschmeidig und haltbar zu machen, wird sie einen ganzen Tag lang in Wasser gekocht. So sah v. Langsdorff z. B. an einem Baum etwas hängen, das einem Schweinetrog nicht unähnlich war, und erfuhr, dass dies der Sarg eines Jakutenkindes sei. Die Jakuten begruben niemals ihre Toten, sondern hingen die Särge immer in die Baumkronen. Über Kamtschatka, Irkutsk, Tobolsk kehrte er allein am 16. März 1808 nach Moskau zurück. Ein Teil seiner Sammlung ging beim Übergang über die Lena verloren. Im russischen Staatsdienst wurde v. Langsdorff geadelt und als Geschäftsträger nach Brasilien gesandt.12 Vom brasilianischen Kaiser Pedro I. erhielt v. Langsdorff eine hohe finanzielle Unterstützung, obwohl die Expedition unter der Schirmherrschaft Alexander I. stand und dieser nur zu Portugal, aber nicht zu Brasilien diplomatische Beziehungen unterhielt. Langsdorff war in dieser Hinsicht das einzige Bindeglied und ein hervorragender Vermittler zwischen beiden Ländern. Es war kaum ein Monat vergangen, da berichtete der Hesse an die Akademie in St. Petersburg, er habe eine große Ähnlichkeit der nordwestamerikanischen Indianer und den Botokuden festgestellt. Einen solchen hatte er als Diener eingestellt. Zwei andere Reisende berichten: „Der erste ursprüngliche Amerikaner, den wir hier sahen, war ein Knabe vom menschenfressenden Stamme der Botocudos in Minas Gerăes; er befand sich in dem Hause unseres Freundes
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v. Langsdorff. Der vormalige portugiesische Staatsminister, Conde da Barca, hatte nämlich von dem Distriktskommandanten der Indianer in Minas Gerăes einen indianischen Schädel für unseren berühmten Landsmann, Herrn Hofrat Blumenbach, verlangt; da jener nicht Gelegenheit fand, solchen todten Documentes habhaft zu werden, so schickte er dem Grafen zwei lebendige Botocudos, welche bei einem plötzlichen Überfalle von seinen Soldaten gefangen worden waren; Herr v. Langsdorff erhielt nun einen derselben, welcher ihm bald sehr lieb wurde, und nicht als lebendiges Cabinetstück, sondern auch als Einsammler von Naturalien diente.“13
Fazienda Mandioca , Aquarell Thomas Ender 1818
Langsdorff lebte in einem kleinen Landhaus am Abhang einer Hügelreihe mitten zwischen duftenden Gebüschen mit entzückender Aussicht auf die Stadt und einen Teil der Bai. Fast alle europäischen Gelehrten und Künstler, die nach Rio de Janeiro kamen, waren seine Gäste und wurden von ihm gefördert. Am 28. September 1816 erwarb v. Langsdorff das Landgut Mandioca bei Inhomirim, am Fuße der Serra de Estrela, und wurde zum berühmtesten deutschen Landwirt in Brasilien. Sein erster Begleiter bei kleineren Fahrten in die Umgebung war der Präparator Freyreiß, der sich später Oberstleutnant Eschwege14 und dem Prinzen Maximilian zu Wied-Neuwied anschloss. Der Naturforscher kämpfte dabei gegen alle möglichen Widrigkeiten, Ungeziefer konnte in einer einzigen Nacht die Sammlung vieler Monate auffressen.15 1816 besuchte er den Hessen Eschwege in Minas Gerăes. Zu Ehren eines russischen Forschungsschiffes veranstaltete v. Langsdorff 1819 einen Ball auf seinem Landgut. Die Creme der Gesellschaft und Diplomatie traf sich dort. „Um acht Uhr“ schreibt der preußische Offizier T. v. Leithold, „waren die Arme, Schultern und Rücken der Damen, die, der
Mode entsprechend, alle dekolletierte Kleider trugen, dermaßen von Moskitos zerbissen, dass sie nicht weniger rot erschienen wie Soldaten, die mit der Gerte geschlagen worden waren ... So ist es kein Wunder, dass Bälle hier einen Seltenheitswert habe.“16 1820 stand der Freiherr der Ansiedlung deutscher Bauern in Brasilien sehr positiv gegenüber und sein Landgut sollte dafür zentrales Modell werden.17 Ein Jahr später beantragte er beim Zaren Fördermittel für eine Expedition. Unfähig abzuwarten schloss er sich mal eben einer Wirtschaftskarawane nach Buchara, Usbekistan, an. Als ihn unterwegs die Nachricht der Bewilligung erreichte, reiste er zurück. Persönlich wählte er die Kolonistenfamilien im Badischen aus (85 Personen18) und bereitete die Expeditionsausrüstung vor. Das Schiff „Doris“ lief am 3. März 1822 in der neuen Welt ein und v. Langsdorff sah sich zu ernsten Worten genötigt, da die Auswanderer sich nicht nach seinen Vorstellungen verhielten.19 Sie weigerten sich, die erhaltenen Vorschüsse abzuarbeiten. Der bayerische Offizier und Landwirt J. Friedrich v. Weech summierte zwei Jahre später, dass v. Langsdorff wohl beim besten Willen die Gabe fehle, einen geeigneten, wohl überlegten Wirtschaftsplan zu entwerfen und mit Konsequenz durchzuführen. Sowohl die Kaffeepflanzung als auch die Kaffee- und Mandiocmühle, ein Rancho und eine Ziegelbrennerei erfüllten nicht die wirtschaftlichen Erwartungen und hätten ohne die Einnahmen als Generalkonsul zum Ruin geführt.20
Familien, die bis auf zwei alle davonliefen. Weech hatte gehofft, sich vertretungsweise (als v. Langsdorff unterwegs war) auf Mandioca und später in Argentinien als Leiter einer Kolonisation niederlassen zu können, musste aber ebenfalls nach kurzer Zeit aufgeben. 1826 verkaufte v. Langsdorff sein Gut an den Staat. Von den Expeditionsteilnehmern (einem Astronomen, einem Zeichner, einem Geographen, einem Botaniker und einem Naturwissenschaftler) stieg ein Zeichner entnervt von den Vorbereitungen aus, der Naturwissenschaftler Hasse aufgrund einer unglücklichen Liebesgeschichte. Er wurde zehn Jahre später unter bis heute ungeklärten Umständen ermordet.21 Auf diese Reise nahm Georg Heinrich seine zweite Frau, die Schwiegermutter und Tante mit. Der Zeichner ertrank im Rio Guapore, mehrere erkrankten, vom Expeditionsleiter sind Geschichten überliefert, die womöglich Verleumdungen sind. Zeitgenössische Gelehrte (die allerdings nicht mit ihm reisten) erlebten den sieben Sprachen sprechenden v. Langsdorff als zuvorkommend, liebenswürdig und ohne Rassenvorurteile. Von Malaria und Typhusfieberanfällen geschüttelt, trafen ihn weitere schwere Missgeschicke, Boote wurden zertrümmert oder kenterten. Anscheinend verlor er dauerhaft sein Kurzzeitgedächtnis. Alle Materialien und gesammelten Gegenstände in 35 Kisten landeten in St. Petersburg.
Reiseroute Langsdorffs in Südamerika Johann Moritz Rugendas. Kriegstanz auf dem Landgut Mandioca 1835
Die Einwohner nannten ihren Nachbarn, für den manche Vögel schossen oder Insekten sammelten, spöttisch den „Verwalter der Vögel und Insekten“ oder „Grasmann“. Von seinen zwanzig schwarzen Sklaven hatte er mehr Nutzen als von den deutschen
Am 17. April 1830 verließ Georg mit seiner Familie Brasilien für immer. Kurzen Aufenthalt erzwang die Entbindung seiner Frau in Antwerpen. Dann ging es weiter zu Georgs Schwester, Franziska Wilhelmine Christine Gräfin von Sponeck, nach Baden-Baden. Die Badische Regierung hielt ihm mehrere Jahre lang den Lehrstuhl für Naturgeschichte an der
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Universität Heidelberg offen. Er war Ritter des Russischen Ordens von St. Wladimir, des Ordens von St. Anna II. Klasse, Kommandeur des badischen Ordens vom Zähringer Löwen, Ritter des Ordens Pour le Mérite civil von Bayern, Ritter des Roten Adlerordens von Preußen. Seine Publikation: Die „Bemerkungen auf einer Reise um die Welt in den Jahren 1803–1807“ gehört zu den zuverlässigsten Reiseberichten über die pazifischen Länder und Völker. Ein weiteres Buch bearbeitete die Pflanzen „Plantes recueillies 1810–1818“. Zwei Jahre später gab er ein „Memoire sur le Brésil“ für Auswanderer heraus. In den Schriften der Petersburger Akademie schrieb er „Stündliche Beobachtungen über die Schwankungen des Barometers in den Tropen“, über den Fliegenschwamm oder die Erzeugnisse von Kamtschatka, die Entstehung einer neuen Insel im Alëuten-Archipel erschienen Artikel in verschiedenen Zeitschriften bis 1826. Die Moosarten Mittenothamnium langsdorffii (Hook.) und Thamniopsis langsdorffii (Hook.) wurden zu seinen Ehren benannt.
G. v. Langsdorff
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Kultplatz auf der Insel Nukahiwa
Zwar körperlich wiederhergestellt, aber psychisch dauerhaft angeschlagen, ließ er sich in Freiburg 1831 nieder und lebte hochgeachtet von einer monatlichen zaristischen Pension von 1100 Rubel bis zu seinem Tode am 29. Juni 1852. Eine Urenkelin ist Renate von Rappard, geb. von Langsdorff.
Zweite Frau und Cousine Wilhelmine
1 Ein weitläufig Verwandter ist auf dem Alten Friedhof in Gießen bestattet. G. Bernbeck, Der Alte Friedhof in der Stadt Gießen, 3. Aufl. Gießen 1997, 43. 2 L. Langsdorff, Geschichte der Familie Langsdorff von 1550 bis 1850, Naumburg 1928, 60. 3 Bemerkungen auf einer Reise um die Welt, Frankfurt 1812, 36. 4 A. J. v. Krusenstern, Reise um die Welt in den Jahren 1803, 1804, 1805 und 1906, Berlin 1811, 240 . Andere Teilnehmer: H. L. v. Löwenstern, W. G. Tilesius von Tilenau, J. C. Horner, Dr. C. Espenberg; Burgi Lichtenstein, Die Welt der Enana. Eine Reise durch Geschichte und Gegenwart der Marquesas-Inseln, Norderstedt 2016. 5 A. J. v. Krusenstern 361. 6 Die wundersamen Reisen des Caspar Schmalkalden nach West- und Ostindien 1642–1652, Weinheim 1983. 7 Plantes recueilles pendant le voyage des Russes autour du monde, Tübingen 1810, Vorwort. 8 Heutzutage leben noch rund 27000 Ainu in Japan, davon 24000 auf Hokkaidō. Durch die Vertreibungen im August 1945 gibt es kaum noch Ainu auf Sachalin oder den Kurilen. 1869 wurde dann Ezo als Hokkaidō Kolonie Japans, und das Land wurde zur Besiedlung durch Japaner freigegeben. Versuche, den Ainu Land zu geben und sie zu Bauern zu machen, scheiterten. Die traditionelle Ainu-Kultur wurde dabei und durch den aufkeimenden japanischen Nationalismus endgültig zerstört. Ihre Sprache, welche keine Ähnlichkeit mit anderen asiatischen Sprachen besitzt, wird heute kaum noch verwendet. 9 Siehe auch Merck. 10 L. Langsdorff 115. 11 L. Langsdorff 233ff. 12 Mit ihm reiste Heinrich August Wilhelm Langsdorff, der Sohn eines Cousins, der zum Begründer eines brasilianischen Familienzweigs wurde. 13 J. B. v. Spix u. C. F. P. v. Martius, Reise in Brasilien in den Jahren 1817–1820, Stuttgart 1966 Nachdruck von 1823–1831. 14 Beide in diesem Band. 15 H. Becher, Georg Heinrich Freiherr v. Langsdorff. Forschungen eines deutschen Gelehrten im 19. Jahrhundert, Berlin 1987, 13. 16 H. Becher 24. 17 E. G. Franz (Hrsg.), Hessische Entdecker. Forschungsreisen in fünf Erdteilen. Ausstellung der Hess. Staatsarchive zum Hessentag 1981, Darmstadt 1981, 10; H. Fröschle, Die Deutschen in Lateinamerika. Schicksal und Leistung, 1979; K. Ilg, Pioniere in Brasilien, 1972. 18 Einer der neun Bediensteten Langsdorff war Baron von Drais, der Karlsruher Erfinder des Laufrades. 19 Er hielt ihnen auch die missglückte Schweizer Ansiedlung warnend vor Augen, von 1500 Siedlern starben bei der Überfahrt 500, der größte Teil der Angekommenen war mittlerweile tot, der Rest zerstreut aus Mangel an medizinischer Versorgung und Fürsorge. 20 J. F. v. Weech , Reise über England und Portugal nach Brasilien und den vereinigten Staaten des La Plata-Stromes während den Jahren 1823 bis 1827, 3 Teile, München 1831, 144ff. 21 H. Becher, 52.
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Verführung zur Auswanderung nach Brasilien Julius Friedrich Koeler Brasilien war nie eine deutsche Kolonie im landläufigen Sinne.1 Von Deutschen angelegte Siedlungen gab es dennoch. Über dreihundert Jahre nach den ersten europäischen Ankömmlingen2 in Südamerika war zwischen 1807 und 1821 der gesamte portugiesische Hof mitsamt Staatskasse und 15000 Gefolgsleuten auf vierzig Schiffen vor Napoleon nach Südamerika geflüchtet. Privat organisierte Forschungsreisen waren von da an nicht mehr verboten.3 Herzogin Leopoldina löste eine erste Besiedlungswelle aus, indem sie 1817 deutsche Künstler, Handwerker und Wissenschaftler in das Land mitbrachte. Im folgenden Jahr kamen zahlreiche Landarbeiter über Hamburg, Bremen und Antwerpen für Agrarkolonien an.4 Die Mehrzahl waren Protestanten. Bis zur Sicherung der nationalen Souveränität förderte der Kaiser die gezielte Ansiedlung von Einwanderern.5 Sowohl Privatpersonen, als auch Kolonialgesellschaften und der Staat kauften Land, mit der Absicht Siedlungen anzulegen. Einige Militäringenieure halfen bei der Landvermessung und wurden erste Direktoren. Die „Kolonien“ wurden in verschiedene Grundstücke unterteilt und den Einwanderern geschenkt. Die Frankfurter Georg Wilhelm Freyreiß und Morhardt gründeten 1824 zwischen dem 18. und 19. Breitengrad bei Vicoza den Ort Leopoldina mit 126 Siedlern u. a. aus Hessen-Darmstadt. Die deutschen Siedler sollten eine Mittelschicht zwischen den Großgrundbesitzern und den Sklaven bilden.6 Der Ortsname basierte auf der österreichischen Prinzessin Leopoldine, die später Kaiserin von Brasilien wurde. Langsdorff beschimpfte noch am 14. November 1819 Freyreiß deswegen als gewinnsüchtigen Abenteurer, ein Jahr später stürzte er sich ebenfalls in ein Kolonieprojekt.7 Immense Schwierigkeiten türmten sich auf, wenn erst Wege gebaut werden mussten. In den 1820er Jahren fand eine grenzenlose Verschwendung statt, z. B. von 300 als Soldaten Angeworbenen drückte sich die Hälfte unter fadenscheinigen Gründen vom Dienst bzw. verscherbelte bei Hehlern die gestellten Uniformstücke schon vor der
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Abfahrt. Der erste Einwandererstrom von 1824–34 stammte aus der Generation der Befreiungskriege, erfüllt von Nationalgefühl. Darunter waren freilich auch abgeschobene Verbrecher,8 wie wir aus der Jubiläumschronik von Santo Angelo erfahren. Der Ort wurde von einer späteren Gruppe deutscher Revolutionäre von 1848 begründet.9 Auch in den Anfängen dieser „Kolonie“ treffen wir die gegen den argentinischen Diktator Rosas angeworbenen Fremdenlegionäre wieder. Deutsche 1824–47 1848–72 1873–79 1880–89 1890–99 8176 9523 14325 18901 1708410 „Statt dass man die Kolonisten gleich zur Arbeit hätte führen sollen, wurden sie Jahre lang auf den Depots gefüttert, oder bekamen das baare Geld als Subsidien“, klagt Konsul Kalkmann. „Die Leute, welche zu viel Ländereien haben, sind sehr gerne bereit, neue Ankömmlinge von deutschen Familien bei sich aufzunehmen, den halben Ertrag der Ernte als Miete.“ Einwanderer ohne Startkapital konnten sich dieses im Straßenbau innerhalb von drei Monaten verdienen. Schon früh warnten Autoren vor übereiltem Zustrom und überspannten Erwartungen. Freireiß bezweckte mit seiner Schrift die Aufklärung potentieller Kolonisten.11 Anwerber fanden offenes Gehör bei den Armen der Länder. In Bremen kam es zu Kollekten für die vom Verhungern bedrohten mittellos gestrandeten Auswanderer, denen eine kostenlose Überfahrt versprochen worden war und die plötzlich über 62 Gulden pro Person zahlen sollten.12 Die Überfahrt war kein Zuckerlecken, sondern ähnelte einem Sklaventransport. Jedem Passagier stand nur ein Raum von 14 Zoll Breite und 2,5 Fuß Höhe zu und das neun Wochen lang! Das Königreich Bayern verhinderte die Auswanderung nach Brasilien. Eine Kontrolle der brasilianischen Regierung und Hilfsorganisationen fehlte. Außerdem schien es, dass Regierungsdekrete den Zweck hatten, den ansässigen Grundbesitzern weiße Tagelöhner zuverschaffen anstelle freie Bürger
anzusiedeln. Das verbesserte in keiner Weise die Lebensverhältnisse der Auswanderungswilligen.13 Das preußische Handelsministerium schränkte am 3. November 1859 das Anwerben von Siedlern deshalb ein. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich schon viel entwickelt: in Rio Grande lebten weniger als 100000 Sklaven, 200000 Ausländer, davon 30000 Deutsche, berichtet Avé-Lallemant: „Im ersten Teil meiner südbrasilianischen Reise hatte ich die Freude“, schreibt Robert Avé-Lallemant, „ein unbefangenes Bild geben zu können vom fröhlichen, lebensfrischen Gedeihen einer deutschen Kolonie mit freien, von keinem Knechtsverhältnis, von keiner Privatspeculation eines Unternehmers gedrückten Ansiedlern.“14 „Aber solange sich in Brasilien Privatspeculanten finden, welche für ihre absterbenden Sclavenkräfte sich mit deutschen Auswanderern rekrutiren wollen, solange irgendwelche Art von Seelenverkäuferei in Deutschland nicht mit den allerschwersten Strafen belegt wird, solange werden immer noch viele von unseren einfachen und selbst einfältigen Landsleuten verlockt und nach Brasilien zu Privatzwecken verkauft werden, zumal wenn von drüben her Lockbriefe und mit vielen Namen unterschriebene Glückseligkeitserklärungen einlaufen und von der Presse veröffentlicht werden.“15 Avé-Lallemant sah es pragmatisch: „Viel besser Sclavenhandel, als die Betrügerei gegen arme, deutsche Auswanderer.“ Brasilien wehrte sich lange gegen die Aufgabe des Sklavenhandels, weil das den Landbau als Quelle des Nationalreichtums in Frage stellte. Nur gegen Zahlungen von Entschädigung aus Großbritannien, nachdrücklich bekräftigt durch die Drohung 1852, Brasiliens Küsten zu blockieren, willigte das Land ein. Es blieb nichts weiter übrig, als die Einwanderung zu verstärken. Kalkmann argumentierte, dass „für dasselbe Geld, was man für einen rohen Sklaven (einem unwissenden und dem bürgerlichen Leben unnützen Arbeiter) zahlt, der Staat eine oder mehrere Familien gut unterrichteter und fleißiger Bürger gewinnen könnte (die den Thron umgeben und verteidigen).“ Auf die Idee, die Sklaven zu solchen Bürgern zu machen, kam keiner. Siedlungen anderer Nationen gingen anscheinend schnell wieder ein, deshalb blieb laut Kalkmann die deutsche Einwanderung die einzige für Brasilien passende. Der Kaiser
verfolgte den Hintergedanken, eine deutsche Garde zu bilden, die Ruhe und Ordnung im Land halten sollte. Unter dem Deckmantel der Kolonisierung, wie Kalkmann schreibt,16 wurden Soldaten angeworben. Der Hospitalarzt Avé hatte botanische und zoologische Interessen und sammelte auf seiner zweiten Reise über 300 zoologische Besonderheiten, Waffen und Gerät von Indios. In seiner Begleitung befand sich höchstens ein französischer Diener, oft reiste er auch allein. Im Vorwort zu seinem Reisebericht durch die Provinz Rio-Grande schreibt er, dass er im „tiefen Südwesten in den von Menschen noch nie betretenen Waldungen der Serra-Geral am Wassergebiet des Paraná auf feuchtem Boden lag und Hunger litt.“ Durch die Empfehlung Alexander v. Humboldts war er als einer der Ärzte an Bord des Expeditionsschiffes „Novara“ gelangt, musterte aber in Rio aus nicht genannten Gründen wieder ab. Mit Pferd oder Maultier ritt er auf manchmal kaum erkennbaren Pfaden. Avé war eines Tages 1844 zum Bruder Koelers gerufen worden, der im Tiefland auf dem ehemaligen Langsdorffschen Besitz Mandioca lebte.17 ,„Beim Frühstück sprach der unermüdliche Major Koeler von der Anlegung einer deutschen Kolonie oben mitten in der Serra, die uns über den Köpfen hing, und von einem neuen Weg dort hinauf, der für Wagen leicht und sicher befahrbar gemacht werden sollte.“ Neugierig besichtigte Avé das Gelände, wo bislang nur ein einsames Haus stand. Sieben Jahre später verbrachte er dort einen Genesungsurlaub und fand einen Ort mit 2000 Einwohnern vor.
l: Julius Koeler; r: Georg Anton Schäffer, deutscher Arzt und Abenteurer, rekrutierte 1822 bis 1828 im Auftrag des Kaiserreiches Brasilien Einwanderungswillige und verschiffte Tausende von Hamburg und Bremen.
Julius Friedrich Koeler war als Sohn eines Lehrers aus Mainz 1804 geboren. 1825 trat er aus dem preußischen Heer aus, um in Gießen ein Studium
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zu beginnen. Bald brach er ab und ging 1827 nach Baltimore. Ein Jahr später kehrte er nach Deutschland zurück und ließ sich in Bremen für die brasilianische Armee anwerben. Über seine Motive wissen wir nichts. 1832 bekam er den Auftrag, die Straße von Estrella an der Bucht von Rio de Janeiro, vorbei an Mandioca über das Gebirge landeinwärts auszubessern. Er scheint zunächst als Zivilingenieur gearbeitet zu haben, später für die Armee, denn 1842 wurde er zum Major befördert. Auf der Höhe des Gebirges pachtete er ein Landgut von Kaiser Pedro II., nachdem er die Brasilianerin Maria do Carmo geheiratet hatte.18 Um die Fazenda im Hochland entstand ab 1825 eine kleine Siedlung von Tirolern, die Kaiserin Leopoldine ins Land gerufen hatte. Koeler wollte daraus eine deutsche Kolonie machen. Als die Regierung den weiteren Ausbau der Straße bis Minas Gerăes plante, schlug er deshalb vor, hauptsächlich Deutsche dafür zu verwenden, mit denen Koeler gute Erfahrungen gemacht hatte. Das Handelshaus Charles Delrue in Dünkirchen kurbelte daraufhin am Rhein und an der Mosel die Anwerbung von Auswanderungswilligen an und ging dabei sehr gewissenlos vor. Durch falsche Versprechungen wuchs die Menge an Interessenten derartig, dass gar nicht genug Transportkapazität bestand. Statt der vorgesehenen 600 kamen 2318 Siedler 1845 in Brasilien an. Nichts war für ihre Aufnahme vorbereitet. Das Straßenbauprojekt war längst aufgegeben! Der Kaiser befahl nun die Unterbringung der Leute in der kleinen Siedlung auf dem Berg 60 km nördlich von Rio, die den Namen Petropolis erhielt. Major Koeler leitete den wachsenden Ort. Er beschäftigte die Männer nach seinen Plänen beim Bau von Brücken, Wegen, einem Sommerpalast und der Trockenlegung von Sümpfen in einem tropischen Gebirgsland 2000 Fuß über dem Meer. Hilfsmittel und Versorgung waren schwierig zu beschaffen, dazu mussten die Siedler zum Eigenheimbau und der Landwirtschaft in einem ungewohnten Klima immer neu motiviert werden, wenn körperliche und seelische Schwäche sie zermürbten.19 Offenbar gelang ihm das sehr gut, denn er sorgte sogar für die pünktliche Bezahlung der Arbeiter. Auf circa 6000 qm ernteten die Siedler zwei bis dreimal im Jahr und hatten ihr Auskommen. In der Mitte
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der Siedlung lag die Villa Imperial mit dem kaiserlichen Palast. Die Kolonie gliederte sich in 12 später 24 Viertel, von den Deutschen „Täler“ genannt (darunter Darmstädtertal). Ihre Namen erinnern an die rheinhessische Heimat. Ende 1847 waren 512 Häuser fertig und 51 im Bau. Nach Meinungsverschiedenheiten legte Koeler sein Amt nieder. In diesem Jahr hielt sich der Kaiser erstmals in seiner Sommerresidenz auf und ernannte Koeler zum Superintendenten der Fazenda. Koeler zog sich nun zurück und beschäftigte sich in Rheintal vor allem mit der Landwirtschaft, d. h. experimentierte mit europäischen Getreide- und Gemüsearten. Kalkmann bereiste 1847 Brasilien zum fünften Mal, verband seine Erholung mit der Besichtigung der deutschen Siedlungen und veröffentlichte Berichte in Briefform in der „Weserzeitung“ in Bremen. Als besonders bemerkenswert verzeichnet er die vollkommene Freiheit der Presse, in Deutschland noch ein Wunschtraum. „Der Nordamerikaner wundert sich über die große Freiheit, welche man hier den Afrikanern einräumt. So sah ich, dass ein Sklave mit einem Weißen Schlägerei hatte. Letzterer hatte den ersten Schlag getan, zog aber den Kürzern, eilte mit blutigem Kopf zur Polizei, der Schwarze wurde arretirt, aber, (weil er den Kampf nicht begonnen) gleich wieder freigegeben. In New Orleans wäre der Neger für ein solches Verbrechen, seine Hand gegen einen Weißen zu erheben, gehängt worden.“20 Im September 1846 besuchte Ida Pfeiffer auf ihrer Weltreise als erster ausländischer Gast die junge Kolonie. Sie berichtet, dass die Kolonisten „verschiedene Gattungen europäischer Gemüse und Früchte, die in den tropischen Ländern nur auf einer bedeutenden Höhe gedeihen, für den Bedarf der Hauptstadt“ anbauen. Damals lebten schon 2101 Siedler in Petrópolis, darunter 1921 Deutsche, und Ende Dezember 1846 belief sich die Einwohnerzahl bereits auf nahezu 2300 Personen. Kalkmann legte zusammen mit Koeler dem Kaiser konkrete Vorschläge für eine bessere Organisation der Zuwanderung vor. Ihre Bedingung war, dass die Zuwanderer vollkommen frei keinem zu Dienst verpflichtet sein sollten (auch vom Dienst in der Nationalgarde oder im Heer wenigstens für zehn bzw. zwanzig Jahre befreit) und nicht getrennt würden, denn „in einem Lande wie Brasilien, wo der größte Teil der Bevölkerung aus Sklaven be-
steht, wo es kaum Gelegenheit zum Unterricht giebt, wo es an ärztlichem, an religiösem Beistand gebricht, würden (sie) in eine schlimmere Lage versetzt werden, wie die, welche sie in Deutschland verließen.“ Eine zu gründende Hilfsgesellschaft sollte mit deutschen Regierungen verhandeln, um deren Entlassung von Untertanen zu erreichen. Beispielhaft verwiesen sie auf das Unternehmen des Fürsten Solms in Texas.21 Diese Gesellschaft sollte gutes Land von der Regierung oder Privatgroßgrundbesitzern kaufen oder in Erbpacht nehmen, vermessen lassen, Karten zeichnen und an Siedler verteilen, die Überfahrt zu besten Bedingungen ermöglichen und nach Anlandung den schnellen Transport in die Kolonien garantieren. Einhundert Kilo Gepäck pro Person sollten kostenfrei erlaubt sein. Für die ersten drei Monate schwebte den Autoren eine kostenfreie Unterkunft in Schuppen in der Mitte der Kolonie vor, von denen aus die Kolonisten den Wege- und Brückenbau in Angriff nehmen könnten. Für Lehrer, Ärzte und Apotheker würde die Gesellschaft mit Sitz in Rio de Janeiro sorgen. Die Direktoren der Kolonie, brasilianische Bürger, würden von der Gesellschaft erwählt. Im 21. November desselben Jahres wollte Koeler bei einem Fest seine Ergebnisse der Öffentlichkeit präsentieren. Wegen eines schweren Gewitters musste das Fest verschoben werden. Mit zwei trotzdem erschienenen Freunden veranstaltete er ein Scheibenschießen. „An einem Sonntagmorgen übte er sich mit einigen Freunden im Pistolenschießen und trat in einem unglücklichen Moment, in welchem sein bester Freund gerade schoss, vor die Scheibe. Die Kugel schlug in die Achselhöhle Koelers und nach wenigen Stunden starb er in männlicher Fassung.“ Petropolis22 wurde eine beliebte Sommerfrische, eine ihrer Hauptstraßen ist nach Koeler benannt. 1857 wurde der Ort zur Stadt erklärt. Der Traum Koelers war in Erfüllung gegangen. Mit Wehmut dachte Avé an ihn zurück. „Der Major Julius Friedrich Koeler ist einer der wenigen deutschen Offiziere gewesen, die in langer Dienstzeit auf brasilianischem Boden immer ihre Pflicht gethan haben. Jeder kann ihn sich zum Muster nehmen. Er war ein Mann von schönen Kenntnissen und vielseitiger Bildung, seinen Freunden treu bis in alle Proben hinein. Gleich gastlich standen ihnen sein Herz und sein Haus in Itamaraty und Petropolis zu
jeder Zeit offen. Daher hatte er viele Freunde, nur allzu viele Schmarotzer und unter letzteren manche Feinde, denn sie beneideten ihn.“ Weitere sieben Jahre später besaß der Ort 7000 Einwohner, davon 2700 Deutsche und 3000 Portugiesen und war eher industriell geprägt, daneben aber der Luftkurort für Rio de Janeiro. Auf seiner Reise 1858 besuchte Avé verschiedene andere Kolonien, in Porto Alegre ganz hingerissen von Gewerbefleiß, Sauberkeit und gesittetem Benehmen der Deutschen. Sowohl von Erscheinung als auch wirtschaftlichem Auskommen beschreibt er die Kolonie S. Leopoldo. Das dörfliche Leben erinnere ihn an Illustrationen von Ludwig Richter und Auerbach. „Es kommt mir vor, als ob sich bei unseren guten Landsleuten in dieser freien, südamerikanischen Natur, wo sie größeren Raumverhältnissen und eigenartigen Kämpfen gegen Naturwiderstände ausgesetzt sind, auch eine viel größere Bestimmtheit im Entschluss und im Handeln entwickelte. Die Väter hatten den Urwald zu besiegen, sie mussten blutige Fehden gegen die wilden Indianer und selbst einzelne Rebellentrupps aushalten. Unter Schwierigkeiten fingen sie an, aber sie eroberten sich den Boden, und die in Deutschland Knechte waren, sind durch das Recht der Arbeit Herren geworden. Sie fühlen sich frei, weil sie sich kennen gelernt ... Und dieses Element einer größeren Bestimmtheit und Energie entwickelt sich auch bei den Mädchen schon in ihrer zarten Jugend. Ohne Mühe sind sie beritten, sie werfen ihren Sattel allein auf den Gaul und brauchen nicht einen Bruder oder Reitknecht abzuwarten, um ihr Stück Wegs zu reiten.“23 Den Siedlern war 1824 folgendes versprochen worden: freie Fahrt ohne Rückzahlung, Bürgerrecht, freie Religionsausübung, Pferde und Kühe nach Bedarf und ein großes Stück Land, im ersten Jahr pro Kopf 1 Franc Unterstützung, im zweiten Jahr die Hälfte, zehn Jahre Befreiung von allen Abgaben, danach einen Zehnten. Sie durften allerdings von der Förderung innerhalb der ersten zehn Jahre auch nichts weiterverkaufen.24 Die Persönlichkeit des Gründers, Major Schäffer, erregte allerdings Anstoß in den deutschen Zeitungen. Avé nennt ihn „gemeines Subjekt“ und bezog sich damit auf einen Skandal auf den Sandwichinseln.25 J. Hildebrandt26 berichtet: „Sowohl bei Tag wie bei Nacht kann jeder Wanderer mit vollkommener Sicherheit
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die Colonie durchreisen, ohne im Geringsten sein Leben in Gefahr zu setzen, und wenn er auch ein Vermögen bei sich trüge. Die größte Gastfreundschaft erwartet ihn in jedes Colonisten Hause, in welchem er, wenn er einmal aufgenommen ist, als heiliges Unterpfand betrachtet wird und immer mit Wohlwollen behandelt.“ Etwas Unfrieden wurde durch missionierende Jesuiten geschürt, die meinten, Mischehen von Katholiken und Protestanten sanktionieren zu müssen. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung sei S. Leopoldo eine Musteranstalt, bedenkliche Nachteile erwüchsen ihnen jedoch, weil die Siedler kein Wort Portugiesisch verstanden und deshalb weder in der Verwaltung noch im Militär eine Stelle bekämen. Keinerlei Klagen wurden Avé vorgetragen. Er vermisste gesellschaftliches Leben und geistige Interessen. Etwas weiter weg lag die Siedlung Hamburger Berg ohne jede brasilianische Beimischung, ein Garten mitten im Urwald. Er begegnete deutschsprachigen Kolonisten, die ihre Produkte auf Pferden oder Maultieren durch den Wald transportierten. Von der Kolonie Santa Cruz war er weniger begeistert, obwohl ihn weder nächtlicher Besuch von Katzen, Hunden, Schweinen, Fledermäusen oder Wanzen störte. Die Leitung hatte hier Johann Martin Buff, über dessen Herkunft nichts verraten wird. Ein Agent in Hamburg sollte 1849 Siedler werben. Pro Kopf bekam er Provision, sowohl taugliche wie untaugliche Leute fluteten, unvorbereitet auf die schwere Arbeit, herzu und litten unter Heimweh und Reue über ihre Fehlentscheidung. Um Santa Cruz bestanden 156 Siedlungen, am Rio Pardinho 141, großenteils angebaut, mit 2500 Seelen. In der Picade da Donna waren 100 Siedlungsplätze vermessen, in S. Joao 42. Nach einem Jahr konnte eine Familie von dem leben, was sie auf einem Stück gerodeten Landes anbaute. Während Kalkmann bis auf das Fehlen katholischer Geistlicher alles in rosigem Lichte betrachtet, hörte Avé Klagen wegen Frauenmangels und schlechten Straßen, der ärztlichen Versorgung und fehlenden Schulen. Im Vergleich mit S. Leopoldo lebte hier die erste Generation Einwanderer, denen Avé Herzensgüte aber auch Unbehilflichkeit und rohe Lebensart bescheinigt, während dort der nächsten Generation mehr Selbstbewusstsein und
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Veredelung attestiert wurde mit früher Selbständigkeit und Verantwortungsgefühl. In S. Angelo sollte nach dem Muster dieser Kolonien in den 1850er Jahren eine weitere entstehen. Die uneinigen Bewohner machten sich gegenseitig das Leben schwer und klagten dem Arzt über Art und Menge der gelieferten Nahrungsmittel, obwohl sie mehr hatten als in der Heimat. Bei näherer Untersuchung stellte sich heraus, dass sie europäisches dem einheimischen Essen vorziehen würden. Unter den Siedlern fanden sich zu Avés Verwunderung desertierte Matrosen, Putzmacherinnen und zitternde Alte, denen derartige Pionierarbeit zu schwer war. Ein ehemaliger Offizier der Legion, der Baron von Kalden, war von 1857–1885 Direktor und Verwalter der Kolonie Santo Angelo. Santa Maria bestand seit 19 Jahren. Nicht weit von Santa Maria hatte Michael Kröff mit elf Familien eine Ledergerberei und eine Sägemühle im Araucarienwald gegründet (Pinhal). Es war ein sehr lobenswerter Anfang gemacht ... „und dennoch erregt mir die Niederlassung ... manche Besorgnis.“ Im Gegensatz zu den staatlich organisierten Gründungen waren bei Privatunternehmen keine Mittel vorhanden, um an eine Kirche oder Schule zu denken. „So viele derartige Privatunternehmungen werden angefangen und können zu keiner Reife gelangen ohne große Beihilfe der Regierung. Und selbst dann, wenn große Opfer der Regierung gebracht sind, werden dennoch solche Sonderunternehmungen nicht stark und jugendfrisch. Sie machen eine Verwelkungsperiode durch, bis sie, losgelöst vom Privatunternehmer, langsam sich ausdehnen.“ In Richtung Uruguay streifte Avé durch die Ländereien der Jesuiten mit sieben Missionen aus der frühen Entdeckungsgeschichte des Erdteils (ab 1610).27 Dort hatten sie die Indios für sich arbeiten lassen. Ihre Selbstherrlichkeit ging so weit, dass sie nur ihre Gesetze respektierten, willkürliche Hinrichtungen anordneten, auswärtigen Besuch untersagten und schließlich mit Waffengewalt 1759 verjagt worden waren.28 Inzwischen verfielen ihre Bauten. Die Bevölkerungsdichte war gering, die wenigen Landbesitzer klagten über Arbeitskräftemangel, schienen aber selbst auch nicht die Regsamsten. Avé besuchte den ehemaligen Begleiter Alexander v. Humboldts, den 85-jährigen Botaniker Aimé Bonpland29, der in einer Bambushütte mit Lehmbewurf und Strohdach in ärmlichs-
ten Verhältnissen lebte und jede Hilfe ablehnte. Er kam dem Arzt vor, als sei er ein Fossil, „ein melancholisches Denkmal für alle diejenigen, die im Leben etwas Großes, Rühmliches in der Wissenschaft erjagen, und nur das eine vergessen, das jegliche Geistesblüte nur da ihren vollen Duft und Farbenschmuck hat, wo sie mit geschickter Hand sinnig in den vollen Kranz europäischer Gesittung hineingeflochten ist.“
Petropolis, Palast 1855
Eine weitere deutsche „Kolonie“ gründete der Portugiese Antonio Joaquim da Silva Mariante mit vierundzwanzig Siedlungsstellen am oberen Taquari auf ausgezeichnetem Boden und Flusslage. Avé resümierte am Ende über die Auswanderungsgründe: „wo Phantasterei und Sentimentalität und Träume von einem Idealleben im Urwald, Unzufriedenheit und Übermut bei leidlich guten Heimatverhältnissen, Misbehagen an politischen Schwierigkeiten der alleinige Grund zum Auswandern sind: da ist meistentheils Enttäuschung auf fremdem Boden die Folge davon.“ Gelten ließ er nur das Bewusstsein einer guten Kraft, die im Ausland zu besserer Anwendung käme als in Europa.30 „Mit festem Vertrauen und unbedingter Zuversicht schließe sich der Auswanderer allem an, was von der Regierung des Landes ausgehe und vermeide alles Colonialtreiben, was von einzelnen, von Gesellschaften, Compagnien usw. unternommen wird.“ Der Reisende bestritt zwar nicht, dass es auch gute Einzelgänger gäbe, aber im Grunde wolle jeder an der Auswanderung verdienen. Trotz eines von der Regierung gestellten Dolmetschers in Rio Grande müsse es für jeden selbstverständlich sein, zunächst einmal Portugiesisch zu lernen. Nur dieser Tatsache verdankte er, dass er überall mit allen Arten von Gastgebern gut ausgekommen war. Speziell deut-
sche Gelehrte waren ihm als die Unbeholfensten auf dem Gebiet aufgefallen. Den Katholiken warf er vor Zwietracht zu säen und die Protestanten waren ihm zu zurückhaltend. In Nordbrasilien traf Avé auf eine elende Gruppe elsässischer, schweizer und preußische Auswanderer, teils mit Typhus und ohne jede Mittel am Fluss Mucuri.31 Das stand im Gegensatz zu dem Bericht Baron von Tschudis in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ von seinem Besuch des Direktors Ottoni. Der Ingenieur Robert Schlobach warb in Leipzig um Colonisten. In Bahia hatte man nur die schlechteste Meinung von dem Unternehmen. Dort landeten Flüchtlinge, die von Misshandlungen durch Otto Vogt, einen deutschen Inspektor, in Santa Clara berichteten. Sie zeigten ihm Papiere, Auswanderungstraktätchen und nannten concessionierte Agenten, von denen sie angeworben worden waren. Avé traf sie in erbärmlichem Gesundheitszustand, bleichsüchtig, mit geschwollenen Beinen, Hungertyphus und Wechselfiebern. Einige hatten mit dem Roden ihres Landes begonnen, waren entkräftet und konnten nicht weg, solange sie Schulden bei dem Direktor der Kolonie hatten. Kontraktmäßig sollten sie von ihm ein volles Jahr unterhalten werden, die Nahrung war jedoch unzureichend für schwere körperliche Arbeit, ein Arzt nicht vorhanden. Für einen halben Monat waren ¼ Pfd. Kaffee, ¼ Pfd. Zucker, 2 kg Fleisch, ½ Quart Maniokmehl, ¼ Quart schwarzer Bohnen, 5 Pfd. Schiffszwieback und 1 Pfd. Speck vereinbart. Selbst das wurde nicht regelmäßig geliefert.32 Von den 112 importierten Chinesen, die Straßen bauen sollten, waren nach sieben Monaten schon 36 gestorben. „Dem Staatsrat Martins starben durch Cholera 23 Negersklaven, was einen Barverlust von 30000 Talern entsprach.33 Er machte Versuche mit 30 deutschen Arbeitern in seiner Zuckerfabrik. Sie sind ihm aber davongelaufen ... (In Bella-Vista) war die Szenerie wirklich erschütternd ... Typhöse Kranke und Leute mit fauligen Beinwunden lagen durcheinander, Gesunde und Kranke befanden sich in der vollkommensten Verlassenheit; alles war Klagen und Jammern, alles die tiefste Verzweiflung.“ Er wartete mit den Kranken auf das nächste Dampfboot, um sie nach Rio zu evakuieren ... „Ich habe nie geglaubt, dass menschliche Indifferenz, Härte und Grausamkeit so weit gehen könnten, wie ich das in den ersten Tagen in Santa Clara erlebte.
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Das Krankheitselend theilte sich in Gruppen, in Familien ... alles ohne zweckmäßige Nahrung, ja ohne hinreichende, ohne die volle stipulierte, von der Direction contractmäßig ihnen zugesagte Nahrung.“34 In den Häusern längs des Weges nach und in St. Mattheos Jammergestalten. Wer gegen den Direktor Ottoni, der selbst in Rio wohnte und nur besuchsweise herauskam, klagte, wurde zusätzlich drangsaliert. Ein Siedler jammerte: „Ich erhalte für meine neun Köpfe starke Familie monatlich 36 Pfd. Speck; allein hiervon ist gewöhnlich von einer Hälfte das Fett abgeschnitten und besteht zum vierthen Theil aus Schwarten, Ohren und dgl.; ein Theil geht durch das Ausschneiden der Maden verloren ... Außerdem erhalten wir per Kopf wöchentlich ein Pfd. Rindfleisch, was jedoch von einem Stück ist, das in Deutschland ... verfallen wäre ... Farinha, Reis, Bohnen sind gewöhnlich von der schlechtesten Beschaffenheit.“ Den Auswanderungswilligen wurde in Europa vorgespiegelt, sie führen nach Rio. Erst auf dem Schiff bekamen sie den eigentlichen Bestimmungsort mitgeteilt und wurden ungefragt dorthin verfrachtet. Es war wirksam verhindert worden, dass Kunde über die Zustände an die Außenwelt gelangten. „Abgeschlossen wie in einem kleinen Paraguay, hatten sie den Fluss hinab keinen Ausweg, und auf der anderen Seite, auf dem Landweg durch das Innere war es unmöglich, einen Schrei um Hülfe nach Rio gelangen zu lassen.“ Die einzigen gut bewirtschafteten Faziendas gehörten Verwandten oder Günstlingen Ottonis. Sie arbeiteten verbotenerweise mit Negersklaven. Im schroffsten Gegensatz zu den Bemühungen der Europäer standen Flora und Fauna und die viel seltsameren Urwaldmenschen, die Botocuden. Diese stellten gekreuzte Pfeile an Wege als Kriegserklärung, was die Weißen durch die Verteilung von Tand neutralisierten. Sie hatten den Wald unter sich aufgeteilt und jeder Stamm durfte nur in seinem Revier jagen, Wurzeln und Honig suchen, das zur Ernährung ausreichte. Avé spricht von Rudeln und differenziert zwischen wilden und zahmen Indianern. „Auffallend hell war ihre Farbe. Das ganze Rudel war fast europäisch weiß, ein krankhaftes, hellgelbes Weiß, welches ich ein chlorotisches, ein bleichsüchtiges nennen möchte und welches, zumal bei der fast absoluten Nacktheit der Leute einen widerlichen Eindruck machte.35“ Er äußert
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sich angewidert über die glanz- und ausdruckslosen Augen, die weder Neugierde, noch Furcht, noch Freude erkennen lassen. Er bezeichnet sie sogar als Lemuren des Waldes, als Fledermäuse, die zwischen Mensch und Thier herumflattern. Klötze in der Unterlippe trugen nur Frauen. Es gelang ihm nicht, einen Wortschatz zusammenzutragen, da die Einheimischen ihn nur verständnislos nachäfften statt ihm zu antworten. Auf das Gesuch des Doktors nahm sich die Regierung der Elenden an, zog aber nicht die erhofften Konsequenzen.
Als besonders geeignete Provinzen stufte Kalkmann Rio Grande, St. Catharina, St. Paulo und die Hochländer der Provinz Rio de Janeiro ein. Rio selbst empfahl er keinem, der auf gut Glück lande. Im flachen Lande würde der Deutsche schlaff und träge, käme zu keinem Besitz, fände weder Schulen noch geistlichen Trost in seiner Muttersprache. Die Provinz Bahia verwarf er außer für Handwerker. Zwei Ansiedlungsversuche waren missglückt und von 500 Seelen, die sich 30 Jahre zuvor niedergelassen hatten, waren nur noch 50 am Leben, obwohl Kaffee und Kakao mit Erfolg gediehen. Ein großer Teil war von Wechselfiebern dahingerafft worden. Dem Lübecker Arzt, der den ganzen Amazonas befuhr und an der Grenze zu Peru zufällig einen Führer der Langsdorffschen Expedition traf,
Jean-Baptiste Debret, Spieler von Uruncungo 1826
gefiel in Manaos „das bescheidene Benehmen der Leute auf einem Ball, von irgendeinem Standesunterschied und Festhalten an Rang und Stellung war keine Rede. Diesen Krebsschaden deutscher Provinzialhauptstädte kennt man in Brasilien überhaupt nicht.“ Seit dem Verbot des Sklavenimports (der innerbrasilianische Sklavenhandel gedieh noch lange) war die Landwirtschaft im Rückgang. Gelb-
fieber und Malaria dezimierten Neuankömmlinge. Kalkmann stellt die Auswanderung als einen Segen für Deutschland dar, da die Deutschen dort nach kurzer Zeit das Doppelte und Dreifache an Fabrikwaren konsumierten und Ware aus Deutschland vorzögen. Es sei nicht mehr Sitte wie in der Heimat Kleidung an die Kinder weiterzuvererben, es müsse jede Mode mitgemacht werden, deshalb würde der Export angekurbelt. Solche Einschätzung verurteilte Avé-Lallemant und wurde darum von den Befürwortern auf beiden Seiten des Ozeans bekämpft, vor allem in der deutschen Zeitung „Brasilia“ in Petropolis. Im Nachwort des letzten Bandes druckte er Briefe von verzweifelten Siedlern ab, deren Böden nach dreimaliger Ernte erschöpft und von der Dürre ausgelaugt waren. Zumindest die Unternehmen am Mucuri waren gestoppt.
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1 Definition aus: Meyers Conversations-Lexikon Bd. 18, 1851 bzw. Bd.14, 1975. 2 Hans Staden (1525–1576) aus Homberg war als Soldat für die portugiesische Krone in Brasilien. Ulrich Schmidel erkundete die Gebiete zwischen Buenos Aires und São Vicente 1534 unter der Führung des Spaniers Pedro de Mendoza. 3 G. Kohlhepp, Das Bild Brasiliens im Lichte deutscher Forschungsreisender des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Martius-Staden-Jahrbuch 53 (2006) 213ff. 4 Leopoldina und São Jorge dos Ilhéus (Bahia). 5 Der älteste und erfahrenste Reisende eine Generation vor Avé-Lallemant war v. Langsdorff. Sein erster Begleiter war Freyreiß. 6 G. Kohlhepp, a. a. O. 213ff; H. Fröschle, Die Deutschen in Lateinamerika. Schicksal und Leistung, 1979; K. Ilg, Pioniere in Brasilien, 1972. 7 Siehe Langsdorff. 8 Mansfeldt 1828, 14. 9 75 Jahre Deutschtum. Santo-Angelo-Agudo (1857–1932). São Leopoldo 230 S. mit Abb.; F. Schröder, Die Deutsche Einwanderung nach Südbrasilien« 1931, 569. Er sucht an den 3 Hauptepochen der deutschen Einwanderung in Brasilien zu zeigen, wie die Erinnerungen an die in der Heimat verlassenen Zustände in der Struktur des kolonialen Lebens nachwirkten, wie die Stimmungen und Gesinnungen der Auswanderer, die der heimatlichen Staats- und Kulturentwicklung entsprachen, ihren Einfluss auf das Wachstum der auslanddeutschen Siedlungen hatten, wie das heimatliche Erbe die heutige Gestalt dieser Kolonien mitbestimmt. 10 Heute haben etwa 10 Prozent der Brasilianer deutsche Vorfahren. 11 „Bericht über das Kaiserthum Brasilien“ und „Beiträge zur näheren Kenntnis des Kaiserthums Brasilien“, Frankfurt 1824. 12 J. Mansfeldt, Meine Reise nach Brasilien im Jahre 1826, 2 Bde. Magdeburg 1828. 13 L. Kalkmann und J. Koeler, Denkschrift Sr. K. M. Dom Pedro II., Bremen 1847, 5. 14 1860, Teil 1, VI. 15 R. Avé-Lallemant, Reise durch Nord-Brasilien, Leipzig 1860, 2 Bde. Teil1, VII. 16 Reisebriefe 24. 17 Ders. Reise durch Südbrasilien Bd.1, Leipzig 1859, 90 (25.7.1812 – 10. 10.1884). 1837 ließ er sich als praktischerArzt in Rio de Janeiro nieder. Einige Jahre leitete er ein Sanatorium für Gelbfieber-Patienten. 1841 heiratete er Meta Löwe. Mit ihr hatte er drei Kinder. Da seine Ehefrau das Klima Brasiliens nicht vertrug, kehrte die Familie 1855 nach Lübeck zurück. Dort starb noch im selben Jahr seine Ehefrau. Danach heiratete er eine Schwägerin und bekam mit ihr zwei Kinder. Diese Forschungsreisen wurden von Kaiser Dom Pedro gefördert. 1858/59 kehrte Avé-Lallemant nach Lübeck zurück und eröffnete 1859 eine Praxis als praktischer Arzt. 1869 bekam er – durch Humboldt gefördert – eine Einladung zu den Eröffnungsfeierlichkeiten des Suezkanals. 1871 starb seine zweite Frau und Avé-Lallemant heiratete Adamine Ulrike von Rosen. 18 Siehe Langsdorff. 19 F. Sommer. In: Hessische Biografien II, 446. 20 L. Kalkmann, Reisebriefe aus Brasilien mit besonderer Rücksicht auf die Auswanderung, Bremen 1847, 6. 21 K. Klotzbach (Hrsg.) Die Solms-Papiere. Dokumente zur deutschen Kolonisation von Texas, Wyk auf Föhr, 1990. 22 Festschrift der deutsch-evangelischen Gemeinde Petropolis, 1913, 62. 23 Avé-Lallemant 1859, 132. 24 a. a. O. 157. 25 1816 hatte Schäffer eigenmächtig im Namen der russischen Krone einen Protektoratsvertrag über die Hawaii-Insel Kauaʻi mit dem hawaiischen Unter-König Kaumualii abgeschlossen. 26 J. Hildebrandt, Des Prinzen Maximilian von Wied-Neuwied Reise nach Brasilien. Reutlingen, 1821–1823. 27 P. Stitz: Deutsche Jesuiten als Geographen in Niederkalifornien und Nordmexiko im 17. u. 18. Jahrhundert. Diss. Jena 1930. 28 Avé-Lallemant 1859, 332f. 29 Nach dem Sturz Napoleons blieb Bonpland nicht mehr in Europa. Mit Samen verschiedenster Pflanzenarten segelte er 1816 nach Buenos Aires, wo er Professor der Naturwissenschaften wurde. Ab Oktober 1820 siedelte er in Paraguay. Der Diktator von Paraguay ließ 1821 Bonplands Pflanzung von 800 Soldaten zerstören, die Indianer verjagen und Bonpland inhaftieren, da er um sein Monopol im Teehandel fürchtete. Danach wohnte er in Brasilien südlich der Mündung des Rio Piratini, zog 1831 nach São Borja, wo er sich eine kleine Besitzung gekauft hatte, 1850 nach Corrientes, wo ihm der Staat für die Verdienste, die er sich bei der Gründung eines Museums in der Hauptstadt erworben hatte, ein Gut schenkte. Er starb in Armut in Santa Ana (Misiones) im Nordosten Argentiniens, das Dorf heißt nach ihm „Bonpland“. 30 1859, 462. 31 Bd.1, 1860, 195ff. 32 Bd.1, 1860, 219. 33 Bd.1, 1860, 33. 34 Bd.1, 1860, 255ff. 35 Bd.1, 1860, 287.
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Gießener unter dichtenden Kannibalen? Ernst Dieffenbach in Neuseeland Weitgehend unbekannt ist Ernst Dieffenbach, der am 27. Januar 18111 in Gießen in eine gebildete Familie geboren wurde. Sein Vater war Professor der Theologie Ludwig Adam Dieffenbach.2 Johann Philipp, ein Onkel, war Rektor in Friedberg, der Cousin Johann Friedrich, Chirurg an der Charité, unternahm den ersten Eingriff zur Korrektur abstehender Ohren. Obwohl Ernst viele Größen seiner Zeit kannte, blieb er ein weitgehend glückloser Akademiker.
Johann Karl Ernst Dieffenbach
Unter anderem wurde ihm seine radikale Einstellung fast lebenslang zum Stolperstein. Als Medizinstudent in Gießen 1828–1833 schloss er sich der Burschenschaft Germania an, jenen begeisterten Jünglingen, die für die nationale Wiedergeburt des Vaterlandes rebellierten. Mit ihnen beteiligte er sich an den Vorbereitungen des Frankfurter „Wachensturms“, wie der Untersuchungsbericht verzeichnet.3 Um der drohenden Haft zu entgehen, floh er nach Straßburg.4 Er meldete sich nicht polizeilich, weil mit sofortiger Ausweisung zu rechnen war. Trotzdem unternahm er Anstrengungen mit seinem Fach in Kontakt zu bleiben. Einer der Professoren war auch ein Giessener, Johann Friedrich Lobstein der Jüngere.
Ernst besuchte die Hospitäler und fand sie sehr sauber und gut ausgestattet, aber die Untersuchung der Ärzte sehr oberflächlich.5 Er schwärmt direkt von der anatomischen Anstalt, wo er gegen einen geringen Obolus nach Herzenslust sezieren durfte. Nur wenig später zieht es ihn nach Paris, was offensichtlich der Vater aber verurteilte.6 Nach seinen ersten beiden Examina hatte er eine kleine Landpraxis eröffnet.7 Seine verzweifelten Versuche, nachträglich einen Heimatschein oder Pass aus Giessen zu bekommen, schlugen fehl. Seit seiner Einreise stand er unter Beobachtung. Am 25. Mai 1834 wurde er ausgewiesen. Über Aarau gelangte er nach Zürich, wo er als führendes Mitglied der Schweizer Sektion des „Jungen Deutschland“ und Organisator der dortigen Handwerksvereine tätig war. Noch am Tage seiner Ankunft glückte es ihm, bei Prof. Zehnter eine Stelle als Assistenzarzt zu bekommen, wie er mit Stolz dem Vater als Auszeichnung schildert. Die Freude darüber währte nicht lange, denn er merkte, dass ihm neben der Arbeit, deren Verdienst nur die geringsten Lebensbedürfnisse zuließ, keine Zeit blieb, um weiter seine Promotion zu betreiben und die fehlenden Examina abzulegen.8 Mehrfach bettelt er beim Vater um Zuschüsse und schildert seine zerrissene Kleidung, in der er als Arzt bei besser betuchten Leuten keinen Staat machen könne. Seine ernstlichen Bestrebungen würden vom Vater immer nur getadelt. Am 31. Mai 1836 landete er im Gefängnis, weil er bei einem Duell als Sekundant fungiert hatte, und bekam nur Hafturlaub, um seine Promotion abzulegen. Auf Betreiben Österreichs wurde er aus der Schweiz abgeschoben. Mit Harro Harring reiste er nach England und kam völlig mittellos dort an. Seinen Verwandten schrieb er dennoch freudige Briefe über den großen, in der Themsestadt angehäuften Reichtum, von dem er sich in dem kleinen, schmutzigen Gießen nie eine Vorstellung habe machen können. „Es ist hier ein großes geistiges Leben“, schreibt er aus dem bescheidenen Dachstübchen seinem Vater, „alles muss arbeiten, jeder muss sich regen, um unter der großen Masse
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miteinander wetteifernder Kräfte auch die seinige geltend zu machen.“ In den Morgenstunden unterrichtete er Ladies in Deutsch, mittags war er Prosector in Guy’s Hospital. Seine Mahlzeit, Fleisch und Kartoffeln, Obst oder Brötchen verzehrte er in einem zur Garküche umgewandelten Holzschuppen. Nachts übersetzte er Bücher von Thomas Hoggkin (Pathologe) und Richard Owen (Zoologe) für einen deutschen Verlag. Auch als ihm Liebig, der ihn möglicherweise finanziell unterstützte, bei seinem zweiten Aufenthalt in England (1837) eine Niederschlagung seiner Untersuchung zu erwirken versprach, kehrte er nicht zurück. „Die härteste Zeit habe ich durchgemacht, ich liebe die unermessliche Nebelstadt nicht besonders und das gesellige Leben bietet viel Unangenehmes, aber offen gesagt, wenn man den gewaltigen Hauch der Freiheit, das gewaltige Streben des großen England auf eine Waagschale legt und auf die andere die Ordensbänder unserer Gelehrten und das arme Treiben unserer Kanzleiund Militärdespoten, so wird doch die letztere hoch in die Luft geschnellt werden.“ Ein Jahr später war er Mitarbeiter der Edinburgh Review und den British Annals of Medicine. 1838 arbeitete er als Betriebsarzt in einer Fabrik vor den Toren Londons und erhielt 1000 Taler bei freier Wohnung. „Das ist für mich viel nach sieben Hungerjahren.“ Man weiß nicht genau, ob der schon vorher nach
Stammbaumausschnitt Dieffenbach
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London geflohene Freund Joseph Garnier oder die von Dieffenbach übersetzten Autoren ihren Einfluss geltend machten, um ihm bei der frisch gegründeten New-Zealand-Company einen Platz als naturwissenschaftlicher Begleiter für eine am 4. Mai 1839 startende Fahrt nach Neuseeland zu verschaffen.9 Zweck der Gesellschaft war die Vorbereitung und Einrichtung einer Kolonie, sowie später der Transport der Einwanderer. Das Schiff „Tory“ wurde zwecks Orientierung und Vermessung nach Neuseeland entsandt.10 Der Kapitän hatte den Auftrag, Land von den Einwohnern zu kaufen und bei Cook Strait einen passenden Ort zur Errichtung der ersten Niederlassung ausfindig zu machen. Das Innere Neuseelands war zu dem Zeitpunkt nur wenig bekannt, obwohl 1814 die ersten englischen Missionare eingetroffen waren und seit 1833 ein englischer Resident dort lebte.11 Rätselhafte Wunderdinge hörte man nur von Seefahrern. Man landete in Port Nicholson an der Südküste der Nordinsel und errichtete an der Stelle des heutigen Wellington ein Depot. Herzlich willkommen fühlte sich Dieffenbach bei seiner Ankunft, denn er wurde mit einem Gedicht begrüßt: Willkommen du Fremdling von über dem Himmel, ein liebliches Kind hat von dort dich gebracht vom obersten Himmelsteil her dich gezaubert, willkommen nun hier, willkommen, ja, ja. Dieffenbach durchstreifte die Gegend, entdeckte
unbekannte Mineralien, reiche Erzlager, neue Pflanzen und Tiere, Flüsse und Berge. Er untersuchte Quellen, Flüsse und Vulkane, besonders den vulkanischen Taupo-Distrikt und die Geologie des Inneren der Nord-Insel. Beim Kontakt mit den Einheimischen kam ihm sein Beruf zugute, denn er behandelte ihre Krankheiten kostenlos, gewann das Vertrauen der Maori-Chiefs, die ihn in ihre Dörfer einluden. Unbewaffnet lebte er unter Kannibalen: „Ich liebe diese Menschen, sie sind einfach und unverfälscht.“ Er genoss den Anblick grüner Wiesen, erstieg erstmals den 2521 m hohen Mount Egmont12 und den Tangarino. Ersterer war ein seit 350 Jahren inaktiver Vulkan. Heute ist er gerodet bis in 500 m Höhe und dient der Milchwirtschaft. Oberhalb dieser Höhe beginnt der 1900 gegründete Nationalpark. Am 12. Februar 1840 nimmt er Abschied. Bis heute gilt er in Neuseeland als Anwalt der „Ureinwohner“. Ein Berg und Straßen sind nach ihm benannt. „Der Frühling kommt und die Seiten der Hügel, wo der Urwald noch unberührt steht, sind mit Blumen bedeckt. Vögel finde ich täglich neue, mit wunderlicher Stimme und glänzendem Gefieder. Ich kann nicht aufhören zu horchen, wenn ich von roten Indianern umgeben, in meinem Mantel gehüllt, im Busch geschlafen habe und ihr Gesang mich morgens weckt. Je mehr ich ihre Sprache verstehen lerne, desto reicher werden meine Erfahrungen über die Klasse von Menschen, welche man in gemeiner Sprache „Wilde“ heißt.“ Durch unterschiedliche Auslegung der von den Engländern eingeräumten Rechte kam es von 1843 bis 1872 zu Kriegen. Die Reise brachte ihn weiter nach Australien und als ersten Forscher zu den Chatham-Inseln (heute San Cristobal, zur Galapagosgruppe gehörig). Im Oktober 1841 trat er die Rückreise an. Während der Feierlichkeiten zu Ehren seiner Heimkehr hatte er bereits Heimweh nach Neuseeland, das englische Kolonie wurde. England schickte Ferdinand v. Hochstetter auf die Insel, der Dieffenbachs Veröffentlichung lobte.13 „Travels in New Zealand“ (London 1843) sei eine „wahre Fundgrube von Thatsachen und Beobachtungen.“14 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wandelten sich die Abhandlungen von Reisebeschreibungen und Missionsmaterial zu wirklicher Fachliteratur mit dem neuen Blickwinkel, dass die Ethnologie für
die Kolonialherren und ihre Politik ebenso nützlich sein könnte wie etwa die angewandte Botanik für die Nutzbarkeit der Pflanzungen oder die Geologie für den Abbau von Bodenschätzen.
Mount Egmont, nahe Waimate Path, Taranaki 1840
Dieffenbach sagte zu Lord Stanley, dem Minister der Kolonien: „Mylord, wäre es nicht möglich, bei der Kolonisation des Landes derart vorzugehen, dass der treffliche Menschenschlag seiner Ureinwohner, von welchem wir in Europa ganz falsche Vorstellungen haben, erhalten bliebe?“ Darauf bekam er die lakonische Antwort: „Für uns sind nur die Interessen der europäischen Kolonisation maßgebend. Die Eingeborenen müssen sich ihr unterwerfen oder zu Grunde gehen.“ Erfolglos versuchte Dieffenbach durch einen heftigen Meinungsaustausch in den Zeitungen, die Maori gegen die Ausschreitungen der Bekehrungswut der englischen Missionsgesellschaften zu schützen. Damals reifte sein Widerwille gegen die englische Hochkirche und er opponierte in dieser Frage auch gegen Geheimrat Bunsen,15 der sie in Deutschland einführen wollte. Im Laufe des Jahres 1840 kamen die ersten 1200 Siedler, während Dieffenbach eine Karte der bis dahin nur ungefähr bekannten Seenplatte der Nordinsel publizierte. Den Maori gelang es zwar, die Engländer beim Landkauf übers Ohr zu hauen, aber im Gegenzug mussten sie erleben, dass die weißen Eindringlinge heilige, unter Tabu stehende Stätten vernichteten. In England hatte man Bankette für Ernst veranstaltet, doch das Interesse an ihm erlahmte. Beim nächsten Versuch nach Hessen zurückzukehren musste er sich in Gießen zum Verhör wegen der alten Geschichte einfinden. Da man ihm nur drei Monate Aufenthalt gestattete, ging er nach Berlin und assistierte seinem Cousin ein Jahr lang in dessen Praxis. Während dieser Zeit traf er Alexander v.
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Humboldt, der ihn Lord Stanley als ideale Besetzung einer Expedition zur Erforschung der Westküste Amerikas empfahl. Der Familie zuliebe lehnte Dieffenbach angeblich das Angebot ab. 1844 war er mit großen Hoffnungen zu-rück in Gießen und hielt sich mit Artikeln für die „Allgemeine Zeitung“ über Wasser. Er kom-mentierte eine Ausgabe von Charles Darwins „Na-turwissenschaftliche Reisen nach den Inseln des grünen Vorgebirges, Südamerika, dem Feuerlande“, übersetzte Charles Lyells „Zweite Reise nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika“ und Henry de la Beches Werk. Weder Darwin noch Humboldt verschafftem ihm eine feste Stelle. Für Liebig klärte er in England und Schottland die Bevölkerung über Dünger und seine Anwendung auf. Wieder in Gießen leitete er 1848 die Redaktion der „Freien hessischen Zeitung“. Die Gießener Professoren habilitierten ihn 1849 mit der Auflage, eine Abhandlung auf Deutsch nachzuliefern, da sie des Englischen nicht genügend mächtig seien. So schrieb er eine kleine Betrachtung über das Thema „Die Aufgabe des geologischen Studiums“. Danach lehrte der Mediziner als Privatdozent Geognosie und Geologie. Für das Parlament wollte er nicht kandidieren. Zwischen den universitären Nörgeleien und Plackereien sehnte er sich nach dem stillen, harmlosen Leben unter den Kannibalen. Er erwärmte sich weder für das wissenschaftliche Kleingewerbe noch begründete er systematische Methoden irgendeiner Disziplin. Diplomatisches Geschick, um sich einen Weg mit Hilfe der „Macken des gelehrten Cliquenwesens“ zu bahnen, ging ihm offenbar ab. Mit den 400 Gulden, die er ab 1850 im Jahr als außerordentlicher Professor verdiente, konnte er wenigstens die Darmstädterin Katharina Emilie Reuning (1826–1891) heiraten. Weiteren Gewinn versprach er sich vermutlich durch eine Beteiligung an einem Bergbauprojekt der Gießener Kaufleute Noll in Griedel bei Butzbach. Doch auch damit hatte er kein Glück. Als er fünf Jahre später an Typhus starb, hinterließ er zwei Töchter: Klara (1854–1935) und Anna (1855–1871). Sein längst beseitigtes Grab auf dem Alten Friedhof konnte 2016 aufgrund einer im Nachlass ReuningDieffenbach in Triest aufgefundenen Urkunde vom 17. Juni 1857 auf dem Friedhof in Gießen wieder lokalisiert werden. Inzwischen wurde eine Gedenktafel errichtet. Sein Landungsort heißt heute Dieffenbach Point und eine von ihm erstmals
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beschriebene flugunfähige Ralle, die seit 1872 ausgestorben ist, wurde nach ihm benannt. Den Nachlass dezimierten die Erben von Generation zu Generation. Nachdem P. Mesenhöller 1995 etliche Briefe ausgewertet hatte, gelangte 2014 durch Schenkung ein Album Dieffenbachs ins Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln. Mesenhöller konnte bei drei Besuchen im Norden Neuseelands mit Nachfahren der darin Erwähnten sprechen. Gerda Bell, eine nach Neuseeland ausgewanderte Historikerin, verfasste seine Biografie.16 Aufgrund seiner humanen Einstellung den Maori gegenüber wurde ihm die Ehrenmitgliedschaft der „Aborigines Protection Society“ angetragen.
Dieffenbach-Ralle
Neuseeland. 1 Mount Egmont, 2 Wellington, 3 Toupo-Seen
1 Ferdinand Dieffenbach, Der Erforscher Neu-Seelands. Ein deutsches Gelehrtenleben. In: Ausland 47, 1874, 84f; Hessische Biografien Bd. II, 146, Darmstadt 1927; Briefe eines jungen Deutschen von der anderen Seite der Erdkugel. Intelligenzblatt f. d. Provinz Oberhessen im allgemeinen Jg.7, 1840, 310; P. Dieffenbach, Genealogische Nachrichten über die Familie Dieffenbach, Nidda 1853; Genealogische Taschenbücher Bd. 32, Gotha; G. Bernbeck, ... und eingegraben steht am Firmament dein Name ... Erinnerungen an den Giessener Arzt, Weltreisenden und Naturforscher. Dr. Ernst Dieffenbach in: Heimat im Bild 9/50, 1979; D. McLean (7.6.2013). „Dieffenbach, Johann Karl Ernst“. Wörterbuch der neuseeländischen Biographie„Dieffenbach, Ernst“ . Eine Enzyklopädie von Neuseeland. Te Ara. 1966 ; E. Dieffenbach, Reisen in Neuseeland. London 1843; P. Temple, New Zealand Entdecker. Christchurch 1985. 2 Lehrte von 1809 bis 1843. 375 Jahre Universität Gießen. 1607–1982 Geschichte und Gegenwart, Gießen 1982, 57. 3 Untersuchungsbericht 207. 4 Zu Ernst Dieffenbach gibt es im Universitätsarchiv Giessen unter der Signatur Phil K 18 eine Personalakte und unter Phil H 16 Band 14 eine Akte „Die geologische Sammlung unter Ernst Dieffenbach“, Laufzeit: 1849–1853. Die Handschriftenabteilung verwahrt im Nachlass Lorenz Dieffenbachs zwei Briefe von Ernst Dieffenbach an Lorenz Dieffenbach (1843 bzw. 1845) und einen undatierten Brief von Ernst an Lorenz Dieffenbach. 5 Büchner Jahrbuch 8, Tübingen 1995, 390. 6 Deutsches Geschlechterbuch Bd.32, 1920; die evangelische Familie verteilte sich in Mainz, Darmstadt, Langen, Lich, Hofheim, Berlin und New York. 7 Brief vom 17.4.1834; in: Büchner Jahrbuch 8, Tübingen 1995, 426. 8 Brief vom 28.6.1834 und 4.8. 9 E. Dieffenbach: Briefe aus dem Straßburger und Züricher Exil 1833–1836. Eine Flüchtlingskorrespondenz aus dem Umkreis Büchners (Teil 1) In: Georg Büchner Jahrbuch 8, Tübingen 1995, 371ff.; D. van Laak, Ein Gießner Gegenfüßler: Johann Ernst Dieffenbach (1811–1855). In: Mitt. d. Oberh. Geschvereins 100, 115ff. 10 R. v. Lendenfeld, Neuseeland, Berlin 1898. 11 M. F. Blassneck, Neuseeland nach seiner Geschichte und seiner Natur, sowie der materiellen und intellektuellen Entwicklung, Dissertation Bonn 1908; U. Kirchberger, Aspekte deutsch-britischer Expansion: die Überseeinteressen der deutschen Migranten in Grossbritannien in der Mitte des 19. Jahrhunderts, 1999. 12 A. B. Scanlan, Egmont. A Story of a Mountain, Wellington 1961; dort das Foto eines Gedenksteins für die Erstbesteigung und eine Zeichnung Dieffenbachs aus der Alexander Turnbull Library darstellend. 13 F. v. Hochstetter, New Zealand, ist physical geography, geology and natural history, Stuttgart 1867, 17f.: Hochstetter stahl bedenkenlos eine alte Statue der Maoris und rückte sie auch nicht mehr heraus, obwohl die Einheimischen die als Inkarnation ihrer Ahnen betrachtete Figur von ihm zurückforderten. Hochstetter, New Zealand, 454. 14 Es gab 1974 einen Reprint, aber nie eine Übersetzung ins Deutsche, sondern lediglich drei Auszüge in der Zeitschrift „Das Ausland“. 15 1838. 1841–44 deutscher Botschafter in London. 16 Ernest Dieffenbach. rebel and humanist, 1976. Bell, geb. Gerda Eichbaum, war 1928 eine der ersten Frauen, die an der Uni Gießen promoviert wurde. Thom Conroy schrieb einen fiktionalen Roman über den Forscher, weil ihn die Umstände von Exil und Heimat inspirierten: The Naturalist: A Novel by Thom Conroy, 2014; D. Klein, Neuer Grabstein erinnert an Ernst Dieffenbach: ursprüngliche Grabstelle des Gießener Naturforschers wiederentdeckt. In: Mitt. d. Oberh. Geschvereins 100,
2015, 330f.
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Kuno Damian Schütz zu Holzhausen und seine Siedler in Peru Am 25. Februar 1825 wurde Damian in Camberg als Sohn des herzoglich nassauischen Hofrats Hugo Damian von Schütz und dessen Frau Margarete Apel geboren. Sein Vater, selbst als Säugling taubstumm geworden und in Wien erzogen, unterrichtete seine ebenfalls taubstummen Brüder, woraus sich eine private Taubstummenschule entwickelte. Er wurde der erste Direktor dieser, am 15. Juni 1820 eröffneten, Lehranstalt. Die Freiherrn Schütz von Holzhausen entstammen einer Burgmannenfamilie der Burg Merenberg. Ursprünglich nannten sie sich Schütz von Merenberg. Im 13. Jahrhundert erbaute die Familie in (Heck-)holzhausen die Burg, die aber im 16. Jahrhundert bereits verfallen war. Im Jahr 1424 wurde ein Burgmannensitz der Familie an der Burg Runkel erstmalig erwähnt. Der früheste überlieferte Namensträger ist Giselbrecht Schütz von Holzhausen. In den folgenden Jahrhunderten hatten Mitglieder der Familie immer wieder Amtsposten inne. Damian studierte in Gießen und Heidelberg die Forstwirtschaft von 1842–1846 mit darauf folgender praktischer Ausbildung.1 Mit Genehmigung des Großherzogs Adolf von Luxemburg reiste er in die Ferne. Seine erste Anstellung beim „Verein zum Schutze Deutscher Einwanderer in Texas“ in Neubraunfels stellte die Weichen für sein kommendes Leben.2 Wegen Unredlichkeit und Unfähigkeit der Beamten, so schreibt er, sei das Vorhaben des deutschen Adelsvereins missglückt, deutsche Ackerbaukolonien in großem Maßstab in Texas zu gründen. Seine Erkenntnisse verwertete er in einer Schrift: „Texas. Rathgeber für Auswanderer in diesem Lande“. Er nutzte den weiteren Aufenthalt für eine Tour von sieben Monaten durch die Nordprovinzen Mexikos und Kaliforniens. „Damals musste man zu Pferd reisen, vorausgesetzt, daß die Indianer nicht unterwegs die Pferde raubten, wie es mir erging, der ich darauf genötigt war, die schauerliche, wasserlose Coloradowüste zu Fuß zu durchwandern und dabei nur mit knapper Not dem Verdursten entrann.“ In den Goldminen von Mariposa verbrachte er längere Zeit und fuhr
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nach Kalifornien weiter. Im südlichen Mexiko hielt er sich bis 1852 auf. Auf einem Frachtschiff mit Ziel Peru wurde er bis zu den Marquesas und den Osterinseln verschlagen und langte erst nach 107 Tagen in Südamerika an. Seine eigentliche Absicht war gewesen, über Land durch Bolivien und Paraguai bis Buenos Aires zu reisen, um die Tauglichkeit dieser Gegenden für Einwanderer zu prüfen. Schütz hatte auf seinen Reisen erfahren, dass europäische Auswanderer in ihrer neuen Umgebung oft auf sich allein gestellt waren und nur selten religiöse und moralische Betreuung erfuhren. Als er 27-jährig in Callao eintraf, dauerte es nicht lange, bis er mit Vermittlung bereits ansässiger Deutscher Kontakte zu Regierungskreisen aufnahm, um die Erlaubnis zur Einwanderung weiterer Deutscher nach Peru zu bekommen. Die peruanische Regierung plante eine Bahnlinie von Lima zum Amazonas und wollte für deren Bau 10000 europäische Einwanderer anwerben. Das Vorhaben wurde in Teilen 1869 und 1904 durchgeführt, aber wegen der Eröffnung des Panamakanals nie beendet.
Damian Schütz zu Holzhausen
Das einzige realisierte Projekt wurde dasjenige des Damian von Schütz zu Holzhausen. Zunächst beteiligte er sich an einer von der Regierung ausgerüsteten Expedition von einhundert Teilnehmern, darunter dreißig Deutschen, ins obere MarañonTal an der brasilianischen Grenze. „In wenigen
Stunden kommt man aus der kalten Punaregion (600–2000 m Höhe), deren Aussehen mich immer an die rauhen, unbewaldeten Hochebenen des Westerwaldes erinnert, in eine ganz andere Welt (der Tropen) gelangt.“3
Schütz in der Wüste
In Caballococha trennte er sich von der Gruppe und paddelte mit dem Kanu auf dem oberen Amazonas bis Manaos und per Dampfboot weiter zur Flussmündung. Die Höhenlage zwischen 2000 und 6000 Fuß hielt er für sehr gesund, da in den bebauten Gebieten die Moskitos nicht mehr plagten. „Hier ist das am meisten lästige Insect die Ameise, allein dafür fehlen wieder die im übrigen Peru so häufigen Flöhe und der Gebirgsindianer verliert kurz nach seiner Ankunft seinen treuesten Gefährten, die Laus.“ Im Jahre 1851 war bereits einmal ein Ansiedlungsprojekt gescheitert, bei dem 1096 Deutsche mit fünf Schiffen in Peru – gegen alle Bedenken des Berliner Vereins zur Zentralisation deutscher Auswanderer und Kolonisation – angereist waren, um einem bitteren Schicksal gegenüber zu stehen. Angeblich die Hälfte starb innerhalb des ersten halben Jahres an Krankheiten und der Unverträglichkeit des Klimas oder 1854 bei einer
Typhusepidemie. Der Rest musste sich irgendwie verdingen, weil nichts vorbereitet war.4 Damians erster Vertrag bezog sich auf den Nordosten von Peru und beteiligte noch einen Partner. Als Dreingabe veröffentlichten Damian Schütz und Johann Möller ein Einwohnerverzeichnis von Lima und Callao. Während er sich in Deutschland aufhielt, putschte das peruanische Militär, es musste also ein neuer Vertrag her, diesmal mit General Castilla.
Er wollte außer der Organisation der Überfahrt eine Musterkolonie einrichten und leiten. Nach Vorstellungen der Politiker war der ideale Siedler sittlich einwandfrei, kräftig, und arbeitswillig, Tugenden, die man katholischen Landsleuten aus Mitteldeutschland unterstellte. Unter den ausländischen Gesandtschaften lösten die peruanischen Vorhaben einen Wettlauf aus, weil jeder seinem Land die günstigsten Ansiedlungsbedingungen sichern wollte. Schütz zu Holzhausen war sicher, mit Hilfe deutscher Bauern die vermeintlich fruchtbaren tropischen Regenwälder optimal nutzen zu können. Der Forstwirt schlug 1854 deshalb ein anderes Vorgehen als bisher vor, das bessere Erfolgsaussichten versprach. Wieder hielt sich die Regierung nicht an das zeitliche Limit. Erst 1855 gelang eine Vereinbarung, in der sich Damian verpflichtete, innerhalb von sechs Jahren mindestens 10000 Kolonisten nach Peru zu bringen und am Ostabhang der Anden anzusiedeln. Jeder Person wurde ein Zuschuss von 100 Dollar versprochen für Fahrt und Verpflegung bis zur ersten Ernte, wovon nur 70 Dollar nach fünf Jahren zurückzuzahlen seien. Rechtzeitig zur Ankunft sollte ein Weg gebaut sein. 100 Morgen Land für jeden
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verheirateten und 60 für jeden ledigen Mann würden nach zwei Jahren Bewirtschaftung ins Eigentum der Siedler übergehen. Schütz sollte dafür Lohn erhalten und nach Abschluss des Unternehmens Zuweisung eigener Ländereien. Seine Aufgabe war die Organisation des Transports, der Ansiedlung und der Landzuteilung. Die Auswanderer beteiligten sich an den Reisekosten mit circa 24 Gulden. Weitere 18 Gulden dienten der Anschaffung von wasserdichten Zelten. Für Kleidung, Werkzeug und Waffen und ein angemessenes Taschengeld musste jeder selber sorgen. Die erste Niederlassung war am oberen Pozuzo vorgesehen. Freiherr von Schütz kannte die fragliche Gegend nur aus Beschreibungen und reiste mit falschen Vorstellungen 1856 nach Deutschland zurück. Im Rheinland, Hessen und Nassau begann er seine Werbetour. Da die Regierung Perus schon wieder gestürzt war, musste noch ein neuer Vertrag ausgehandelt werden. Statt im Andenhochland lag das Gebiet nun im tropischen Bergurwald, über 600 Meter niedriger als beschrieben und keineswegs mit verträglichem Klima. Die prognostizierte Fruchtbarkeit und die zu erwartenden Ernten waren völlig übertrieben, aus dem Gebiet lagen gar keine Erfahrungswerte vor. Es musste erst gerodet und die Pflanzenvielfalt gelernt und angebaut werden. Wie sich später herausstellte, gediehen dort weder Kartoffeln, noch Weizen oder Wein.5 Vom Widerstand der Öffentlichkeit in Deutschland und Intrigen gegen das Unternehmen wurde Schütz überrascht. Besonders die „Augsburger Allgemeine Zeitung“ warnte in polemischen Artikeln, indem sie jedem Gegner ein Forum bot. Die Wissenschaftler waren vom nachteiligen Klima in Peru überzeugt, die Bevorzugung von Katholiken wurde kritisiert. Protestanten hätten es aber in dem katholischen Land schwer gehabt, ihre Religion zu praktizieren. Als Pfarrer wurde ein Tiroler empfohlen, der Schütz auf die besondere Bedürftigkeit seiner Landsleute aufmerksam machte. In der Zeitschrift „Deutschland“ schreibt er selbst am 9. Dezember 1856: „Die spanische Mischlingsrasse ist nicht kräftig genug, um das deutsche Element leicht zu absorbieren, in Südamerika wird es sich erhalten, während es in Nordamerika schon in der zweiten Generation verschwindet. Die neuen Einwanderer werden bald in Sitten, Gewohnheiten
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und Bedürfnissen einen großen Einfluss auf die eingeborne Bevölkerung ausüben und hierdurch neue Absatzwege für den deutschen Handel und die deutsche Industrie schaffen ... Kommt eine starke deutsche Einwanderung in jene Länder, so möchte der Yankee nicht so leichtes Spiel finden ... Daher ward in Peru im vergangenen Jahr die Sklaverei der Neger aufgehoben und in diesem Jahr die Einwanderung der Chinesen verboten.“ Der Andrang war so groß, dass Schütz nicht alle Anfragen beantworten konnte. Er setzte deshalb einen Aufruf in die „Tiroler Volks- und SchützenZeitung“, der denjenigen von Peru abriet, die etwas Vermögen besaßen und Bequemlichkeit gewohnt seien. „Arme Leute, die in Ungarn wahrscheinlich auch nur als Tagelöhner ihr Leben fristen würden, könnten in Peru auf Grund der von der dortigen Regierung gemachten Zusagen bessere Voraussetzungen für die Gründung einer neuen und selbstständigen Existenz finden. Der Ackerbau sei ohne Pflug zu bewerkstelligen, die Bäume bräuchten nur umgehauen und verbrannt, der Boden mit der Haue aufgelockert zu werden.“ Gesucht wurden anständige und religiöse, nicht unmoralische und liederliche Leute. Durch die erwähnten Widerstände zogen in Deutschland viele ihre Anträge zurück, einige bekamen keine Ausreisebewilligung, so dass an Deutschen nur die Hälfte übrig blieb, die nun mit Tirolern aufgefüllt wurde. Unter ihnen waren etliche Österreicher, die aufgrund ihrer Armut keine Heiratsgenehmigung in der Heimat erhielten. Damian Schütz fühlte sich mittlerweile verfolgt von Protestanten und Freimaurern, wie aus einem Brief an Pater Scherer, seine unermüdliche Stütze in Tirol, hervorgeht. „In Peru sind es die Hamburger und Bremer Kaufleute, die gegen mich operieren. Die Ursache ist folgende: Ich schrieb einst dem Herrn Bischof von Maynas in Peru einen Brief, worin ich auf die Gefahren einer protestantischen Auswanderung aufmerksam machte und ihn bat, bei der Regierung und beim Kongress dahin zu wirken, dass in das Regierungsdekret die ausdrückliche Bestimmung aufgenommen würde, die Kolonisten müssten Katholiken sein, damit im Falle meines Todes das Unternehmen in demselben Sinne fortgeführt würde. Der Bischof veröffentlichte diesen Brief in gutem Glauben ... Wäre ich ein elender Seelenverkäufer, so würde ich
einfach Werbebüros in den Seestädten aufschlagen und allen möglichen Pöbel ohne Auswahl und ohne Unterschied der Konfession annehmen, dann hätte ich gewiss nicht die deutschen Zeitungen zu meinen Feinden bekommen.“
Kolonistenhaus in Pozuzo
Es blieb bei einer ersten Gruppe mit 304 Personen, 184 aus Österreich und 120 aus dem Rheinland, dem hessischen Bürstadt und Camberg. Jeder Auswanderer durfte höchstens drei Zentner Gepäck mitnehmen, Kinder unter 15 Jahren die Hälfte, Schmiede, Zimmerleute und Tischler maximal fünf Zentner. Die Reise dauerte 120 Tage um Kap Hoorn. Schütz reiste voraus und bereitete die Ankunft in Peru vor. Noch bevor das Schiff lossegelte, ließen sich 23 Paare trauen. Darunter waren auch Johann Kratz aus Bürstadt und Eva Löw aus Camberg. Während der Überfahrt starben sieben Passagiere und drei wurden geboren. Als die Regierung von Peru als Vorsichtsmaßnahme gegen das Gelbfieber bei Ankunft drei Tage Quarantäne verhängte, lieferte Schütz frisches Fleisch, Kartoffeln und Brot ans Schiff. Außerdem teilte er den Siedlern mit, dass der ursprüngliche Plan abgeändert worden sei. Sie sollten vorläufig in einer höheren Lage starten. Schütz begründete das mit der erforderlichen Akklimatisierung, damit die „derben deutschen Naturen den klimatischen Einflüssen nicht unterliegen“. Die Einwanderer wurden nicht misstrauisch. Viele sprangen aber ab, als sie sahen, dass der versprochene Wegebau noch nicht einmal in Angriff genommen war. Das Geld dafür war anderweitig verteilt. Schütz beschwerte sich, der Präfekt wurde abgelöst, die Gelder ein zweites Mal bereitgestellt. Weil es einfach keinen Weg gab, konnten die Einwanderer
ihren Bestimmungsort nicht erreichen. Um zu verhüten, dass die Handwerker unter ihnen noch in Lima abgeworben würden, schaffte es Schütz, die Einwanderer bis Huacho zu bringen. Dort bestand die Schwierigkeit, 400 Tragetiere aufzutreiben und für die Verpflegung aller zu sorgen. Nach einer Woche Aufenthalt startete der Wahnsinnstreck zu Fuß in die Anden. Josef Überlinger, der zweite Pfarrer, beschreibt den Abmarsch: „Wenn man diese Tiere, welche die Leute nehmen mussten, anschaute, brauchte es niemanden zu wundern, dass so viel Zeit nötig war, um selbe anzutreiben. Denn es war ein wahrer Jammer, was die Tiere für ein Aussehen hatten! Nur ihre Haut musste die Glieder derselben noch halten, damit sie nicht in ihre Gliedteile auseinander fielen. Überdies hatte das eine einen kranken Fuß, andere waren mit offenen Wunden belegt, andere konnten die Füße kaum biegen. Viele dieser Elendtiere gingen, als man sie bestieg, weder vorwärts noch rückwärts, weil sie es nicht vermochten.“ Nicht immer fand sich ein gemeinsamer Platz zum Rasten für die ganze Karawane. Nach 55 km wurden die Tragetiere gewechselt und ein schmaler Saumpfad schlängelte sich die steilen Hänge hinauf. Noch anstrengender wurde es auf 2700 m Höhe ab Chiuchin. Schütz hatte einen niederen Andenübergang gewählt, aber selbst der lag in 4500 m Höhe. Nach 135 km litten viele an Entkräftung und Durchfall. Sechs Kinder, die den Vater schon auf dem Schiff verloren hatten, wurden hier zu Vollwaisen. Nach 220 km sprangen die ersten Kolonisten ab, kehrten zurück nach Lima oder suchten sich in Cerro de Pasco eine Stelle. Hier lebten einige, bereits früher eingewanderte Deutsche. Um den Versuchungen weiterer größerer Orte zu entgehen, wählte Schütz einen Umweg, der beinahe alle ins Verderben gestürzt hätte. Unterwegs starben wieder einige. Ab Acobamba, wo es ein paar verstreute Indiohütten gab, konnten noch nicht einmal Tragtiere weiterkommen. In provisorischen Hütten musste die Regenzeit abgewartet werden, immer noch 90 km vom Bestimmungsort entfernt und bereits ein halbes Jahr unterwegs. Schütz war daran interessiert, die erste Gruppe endlich an einen günstigen und von Cerro de Pasco nicht zu weit entfernten Ort zu bringen. Seiner Meinung nach sollte der Ausbau des Fußsteigs zu einem Saumpfad von Santa Cruz aus in wenigen
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Wochen zu bewerkstelligen sein, eine Vorstellung, die die Arbeitsunwilligkeit und Unzuverlässigkeit der Indios nicht berücksichtigte. Ihm war an einer raschen Erfolgsmeldung gelegen, da sonst die Fortsetzung des ganzen Unternehmens in Gefahr war. Stattdessen die nächste herbe Enttäuschung: Das für die Rodung vorgesehene Gebiet war flächenmäßig zu klein, war für Ackerbau ungeeignet, wies zu viel steiles Gelände auf. Statt der von Schütz versprochenen 300 Morgen oder der von der Regierung zugesagten 100 für jeden Siedler, waren es nur 40. Wieder sprangen Handwerker ab und beschuldigten darüber hinaus Schütz, in die eigene Tasche gewirtschaftet zu haben. Die nach Cerro da Pasco zurückgekehrten hatten die Nachrichten verbreitet, so dass der Präfekt anreiste, Schütz als Organisator absetzte, Nachschub und andere Maßnahmen versprach, die zum Teil wieder nur heiße Luft waren, aber die Ruhe wieder herstellten. Im Mai 1858 waren nur noch 112 Kolonisten übrig, die das „gelobte Land“ betraten: Urwald mit 35 m hohen Bäumen und 2,5 m Stammdurchmesser, Affen, Tapire, Gürteltiere, Pumas und Papageien. 1859 war der Weg noch immer nicht fertig. In der deutschen Presse wurde gegen den Abenteurer José Damain Schütz geschimpft. Josef Erhart schrieb in die Heimat: „Jeder Mensch, der Lust hat zur Auswanderung, der soll nach Nordamerika oder nach Brasilien, nur ja nicht nach Peru, denn hier ist es für einen Eroberer nichts ... Sollte Schütz nochmal nach Tirol kommen, so machts nur kurz mit ihm, knüpfet ihn gleich auf den ersten Baum ... es soll jeden Menschen wundern, daß wir noch am Leben sind. Alles ist erlogen, der Sau-Hund hat viel Geld gemacht und uns unglücklich. Das Glück möchte ich haben, mit dem Selenhändler in Tirol zusammenzukommen, dem sogenannten Selenräuber!“ Der zweite Pfarrer hatte sich frühzeitig abgesetzt und nun nichts Besseres zu tun, als alle negativen Neuigkeiten umgehend in der Heimat verbreiten zu lassen. Begierig druckten die Zeitungen die privaten Briefe der Siedler, die Wasser auf die Mühlen der Gegner waren. Manch einer machte Schütz für alle Fehlschläge verantwortlich. Angekreidet wurde ihm auch, dass er fünf protestantische Matrosen des Auswandererschiffs, die sich im Laufe der Überfahrt in Reisende verliebt hatten, als Kolonisten aufnahm, ohne irgendjemand nach Zustimmung zu fragen.
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Dass er den verantwortlichen Regierungsstellen zuviel Vertrauen entgegen brachte, war wohl sein entscheidender Fehler. Auch Bitterkeit hört man aus seinem Vorwort heraus: „Die Korruption im größten Teil des spanischen Amerika ist derart, dass nur wenig Hoffnung auf eine gründliche Heilung ohne gewaltsame Mittel übrig bleibt ... Das Schicksal, welches ihnen wahrscheinlich bevorsteht, ist ihre Unterwerfung durch Fremde ...“ Seiner Meinung nach würden nur Chile und Argentinien lebensfähige Staaten bilden können.6 Trotz aller Schwierigkeiten gab es durchaus positive Stimmen: „Wir unterzeichneten Vorsteher der deutschen Kolonie in Peru bezeugen hiermit, dass Herr Damian von Schütz an der Verzögerung der Besitznahme von der Colonie, sowie an allen früher vorgekommenen Unfällen, welche die Colonie betrafen, schuldlos ist; im Gegenteil fühlen sich alle Colonisten dem Herrn v. Schütz zum größten Dank verpflichtet, weil selbige ihre gegenwärtige gute Lage demselben zu verdanken haben. Colonia de Pozuzo am 15. Juli 1859. Joseph Egg, Pfarrer. Joseph Gstir, Alcalde, Christoph Johann, Alcalde.“ 1867 richteten die Tiroler, denen es an Ehepartnern mangelte, an die peruanische Regierung eine Bittschrift, um weitere deutsche Auswanderer nach Peru zu holen. Sie wurde wieder in Tirol abgedruckt: „Wir bitten Eure Exzellenz, einen neuen Kontrakt für die Herschaffung von 1000 Kolonisten abschließen zu wollen, und falls unser früherer Chef und Führer, in den wir unser ganzes Vertrauen setzen, nicht geneigt sein sollte, ferner darauf einzugehen, eine andere würdige Person dazu auszuwählen, welche ebenso wie jener ein warmes und aufrichtiges Interesse in das Gedeihen der Kolonie nehme und auch nur moralische und fleißige Leute bringe, denn Landstreicher und Faulenzer können uns nur Schaden bringen.“ Schütz lehnte diesmal ab. Er hatte Peru, Bolivien und Galapagos bereist und sich 1865, nach einem letzten Besuch in Pozuzo, auf den Heimweg gemacht. Befriedigt konstatiert er, dass im Jahre 1864 kein einziger der 170 Europäer gestorben war, „was ich außer dem guten Klima der Abwesenheit eines Arztes zuschreibe – in Amerika sterben bekanntlich an solchen Orten, wo sich Ärzte aufhalten, mehr Leute als sonstwo. In der Colonie vertritt der Pfarrer die Stelle eines Arztes und
hatte bisher mit seinen homöopathischen Mitteln viel Glück.“ Nicht ein einziger war Tigern, giftigen Schlangen, menschenfressenden Indianern oder dergleichen zum Opfer gefallen, wie es der Consul einer der Hansestädte in einer norddeutschen Zeitung prophezeit hatte. Das bewies Schütz, dass die in Lima lebenden deutschen Kaufleute vom Innern Perus nicht mehr kannten als ihre Geschäftsfreunde in Bremen. So schloss die Regierung im Jahre 1867 mit J. P. Martin (peruanischer Konsul in Gent) und Santiago Scotland (peruanischer Konsul in Amsterdam) einen Vertrag über die Einführung deutscher Auswanderer ab. Die Auswanderungslust hatten diese beiden offensichtlich falsch eingeschätzt, die Stimmung in Deutschland war dafür schlecht. Wieder gefährdete ein Regierungsputsch die Aktion, denn die Maultiertreiber versteckten in solchen Zeiten ihre Tiere im Gebirge, damit sie nicht in der Ebene von den Truppen konfisziert wurden. Es wäre also noch nicht mal eine Transportmöglichkeit vorauszusehen gewesen, ganz zu schweigen von der Gültigkeit irgendwelcher Regierungsverträge. Die Kolonie selbst wurde durch die Revolution nicht bedroht. Scotland bat Schütz um Hilfe. Da diesem an der erfolgreichen Fortsetzung seines Werkes gelegen war, bat er von Weinheim aus wieder Pater Scherer um Unterstützung. Eine zweite Gruppe von 321 Personen, meist aus Tirol, war wahllos von den Auswanderungsagenten angeworben worden und bestand zum Teil aus arbeitsscheuem Gesindel, das nur schwer in Zucht gehalten werden konnte und deren Überfahrt von den Heimatgemeinden bezahlt wurde, damit sie verschwanden und nicht länger zur Last fielen. Der noch nicht vollendete Weg zum Mario war noch 1870 so zerfallen, dass die Ankömmlinge vorerst in der alten Kolonie bleiben mussten. Von 320 Personen waren etwa 200 übrig und mussten wieder von der Regierung unterhalten werden, zum Unwillen der fleißigen Erstkolonisten. Erst als die Lieferungen von Lebensmitteln endlich aufhörten, 1 2 3 4 5 6 7
verließen die Arbeitsscheuen die Ansiedlung. Eine Rohcocainfabrik, die in Pozuzo errichtet wurde, sicherte den Ansiedlern die Abnahme ihrer gewonnenen Cocablätter. Bereits 20 Jahren nach der ersten Ansiedlung gab es eine beachtliche Ausfuhr. 1890 genehmigte die Regierung C. J. Römer aus Harzburg, vierzig deutsche Familien in den Bereich der Flüsse Mairo und Palcazù zu bringen. Drei Jahre später wurde klar, dass die Versprechungen nach freier Reise, Unterhalt während der ersten sechs Monate und Befreiung von Abgaben auch diesmal nicht eingehalten werden konnten. Damian hatte Paula Freiin Reitz v. Frentz zu Kellenberg geheiratet. In Weinheim ließ er sich nieder und kurierte sich vier Jahre lang aus. In einer 1870 erschienenen Schrift rechtfertigt er sein peruanisches Unternehmen,7 dessen Richtigkeit er in der gedeihlichen Entwicklung der Siedlung bestätigt fand: „Alles, was ich persönlich dabei gewonnen, war der Verlust meiner Habe, der Verlust von fünf Jahren meines Lebens, die ich der Unternehmung widmete und der meiner Gesundheit. Allein der große Trost ist mir geblieben, dass die Kolonie jetzt prosperiert.“ Vor seiner Rückkehr hatte er Pozuzo ein letztes Mal aufgesucht. In seiner Schrift erläutert er die Haltung der deutschen Kaufleute in Lima, die dem ganzen Ansiedlungsprojekt sehr ablehnend gegenüber standen, denn bei günstigem Verlauf wäre der Handel über den Amazonas zum Atlantik aufgeblüht, Lima aber ins Abseits gedrängt worden. Bei schlechtem Verlauf hätten die deutschen Siedler sich verpflichtet gefühlt, sich um die gestrandeten Kolonisten zu kümmern. Er veröffentlichte „Das exakte Wissen der Naturforscher“ in Mainz und posthum erschien sein Werk „Westindien“, das sich – laut Ratzel – nicht über das Niveau der Touristenliteratur erhebt. In Bensheim starb er am 23. Juni 1883 nach längerem Leiden kurz vor Erscheinen seines Reisebuches: „Der Amazonas. Wanderbilder aus Peru, Bolivien und Nordbrasilien“.
F. Ratzel in: Allgemeine Deutsche Biographie 33, 1891, 133. E. G. Franz (Hrsg.), Hessische Entdecker. Forschungsreisen in fünf Erdteilen. Ausstellung der Hess. Staatsarchive zum Hessentag 1981, Darmstadt 1981, 16; H. Fröschle, Die Deutschen in Lateinamerika. Schicksal und Leistung, 1979, 703ff. Die deutsche Colonie in Peru, Weinheim 1870, 12. E. Habicher-Schwarz, Pozuzo. Tiroler, Rheinländer und Bayern im Urwald Perus, Hall 2001, 20. B. Habicher, Pozuzo: Schicksal – Hoffnung – Heimat. Briefe. 2003, 139. Der Amazonas 1883, Vorwort. Die deutsche Kolonie in Peru, 1870, 44; K. Ilg, Pioniere in Argentinien, Chile, Paraguay, Venezuela, 1972, 95.
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Heidenmission und Versuchsplantage in Togo Adam Mischlich In der ehemals deutschen Kolonie Togo spielte der Bezirksamtmann und Regierungsrat Adam Mischlich eine besondere Rolle. Er gehörte zu denjenigen, die Grundlagenarbeit im wahrsten Sinne leisteten und erfüllte nicht das in der öffentlichen Meinung des Kaiserreichs gängige Klischee, „dass die Kolonien als Betätigungsfeld für verkrachte Existenzen oder für solche seien, die irgendwas in der Heimat gesündigt hätten.“1 Adam wurde am 28. März 1864 als Sohn des Tagelöhners und Eisenbahnangestellten Heinrich und dessen Ehefrau Marie geb. Poth und Enkel des Leinewebermeisters Johann Heinrich in Nauheim bei Groß-Gerau geboren. Nach der Versetzung seines Vaters nach Erbach i. O. besuchte er die Realschule in Michelstadt und später in Darmstadt.2
Adam Mischlich
1885 trat er in die Evangelische Missionsgesellschaft Basel ein, eine der ältesten derartigen Organisationen Europas3, die stark vom Württembergischen Pietismus geprägt war. Was ihn zu der Berufswahl anregte, ist nicht überliefert. Fünf Jahre
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später wurde Adam in Nauheim ordiniert und reiste nach England, um sich in der englischen Sprache zu vervollkommnen. Im Vergleich mit anderen Kolonien hatte Togo das Image einer Musterkolonie, weil kein erklärter Kolonialkrieg geführt worden war wie z. B. in Namibia oder Deutsch-Ostafrika. Der Widerstand entlud sich in vielen kleinen Aufständen.4 Dr. Gustav Nachtigall war 1884 ein sog. Protektoratsvertrag gelungen, der die ökonomischen Interessen festlegen sollte. Den Deutschen ging es um Handelsgewinn, den Afrikanern um die Abhängigkeit der vorgelagerten Küstenorte. Sie betrachteten den Vertrag als kleineres Übel, da ihnen eine europäische Okkupation unvermeidlich schien. Der sich in Togo durchaus regende Protest wurde offiziell verschleiert. Das Gebiet unterstand direkt deutscher Verwaltung. Ende 1890 reiste Mischlich an die Goldküste ab und erlernte zwei Sprachen, das Ga, das an der Küste gesprochen wurde, und das Tschi aus dem Hinterland. Über seine ersten Erlebnisse berichten zwei Aufsätze.5 In Abokobi nach vierwöchiger Seereise angekommen (fünf Stunden Marsch von der Küste), musste er das Missionshaus zuerst streichen lassen, was weder seiner Begeisterung noch seinem Schaffensdrang Abbruch tat. Die Gelegenheit nutzte er gleich, mit den Arbeitern und Schulkindern, die von ihm Schreibmaterial kauften, Vokabeln zu lernen. Schwierige Laute übte er, indem er nach dem Abendessen stundenlang auf seiner Veranda hin und herging. Nach einem Monat glückte die erste Unterhaltung mit dem Hausknaben und dem Koch. „Diese Zeit, während welcher ich in Abokobi allein war (allein von anderen Europäern Anm.), halte ich für eine der schönsten meines Lebens.“ Er leitete die beiden Boys handwerklich an, reparierte Zäune, legte den Garten an, säuberte Haus und Hof, ölte die Stubenböden unter ständiger Unterhaltung. Des Abends besuchte er Christen und radebrechte drauflos mit dem Drang, sobald wie möglich die christliche Botschaft erörtern zu können. Menschenscheu war er sicher nicht. Kollege
Pfarrer Engmann gab ihm darüber hinaus Lektionen. Nur im Nebensatz erwähnt er Tage und Wochen, in denen ihn Fieber und andere Krankheiten davon abhalten. „Genau nach vier Monaten kehrte das erste Fieber bei mir ein.“ Er schluckte widerwillig Chinin. Eines Nachts weckte ihn heftiges Stechen und Beißen, ein Überfall von Wanderameisen. „Ein großer dicker Zug wanderte durch mein Zimmer und verbreitete sich auf dem ganzen Boden ... Es war unmöglich, Kleider und Laterne zu erreichen, sonst wäre ich in das Anstaltsgebäude zu Geschwister Seeger gegangen; so blieb mir nichts anderes übrig, als mich auf einem einsamen Plätzchen, das noch frei war, aufzuhalten. Dort stund ich denn ziemlich lange, sogar noch fröstelnd, da ich noch Fieber hatte, mit nichts als einem Hemd bekleidet.“ Angesichts der Tatsache, dass Westafrika das Grab des weißen Mannes genannt wurde, fiel 1894 der zweite Abschied in Frankfurt a. M. bei Vater und Bruder entsprechend tränenfeucht aus, als Adam wieder aufbrach.6 Gleich bei der Ankunft in Accra wurde ihm das gesundheitliche Risiko bewusst in der dezimierten Zahl ihn begrüßender Bekannter aus Christiansborg und Salem, zwei Vororten von Accra, in denen sich ausgedehnte Missionsniederlassungen mit Schulen und Werkstätten für Schlosser und Schreiner befanden. Diesmal unternahm er verschiedene Erkundungsreisen in Mittel- und Nordtogo bis an die Grenze von Französisch-Dahomey, dem heutigen Benin.7 Alles musste auf den Köpfen der Eingeborenen ins Inland transportiert werden. Um die Missionsstationen herum waren zehn bis fünfzehn Außenstationen und Filialen angelegt, „so dass die Kraft des Evangeliums das ganze Land sauerteigartig durchwirkt.“ Die am weitesten von der Küste entfernte Hauptstation war Anum. Weitere sechs Tage nach Norden befand sich Mischlichs Einsatzgebiet Boem (dreiundsechzig Stunden Marsch nordöstlich der Küste). Dort wehte seit dem 18. Januar 1895 die deutsche Flagge. „Das Heidendorf Warowora, das 700 Einwohner zählen mag, ist für mich heute noch das reinste Labyrinth von armseligen Hütten und schmutzigen Höfen, welch letztere auch als Wege dienen müssen, denn Straßen und Gassen sucht der Fremde hier vergeblich. Unsere Christen haben sich nun fünf Minuten vom Dorf entfernt angesiedelt und ein sauberes Christenquartier angelegt mit zwei
breiten, geraden Straßen und besseren soliden Häusern ...“ Mit dem Christentum sei es nicht weit her, aber selbst wenn die ausgebildeten Handwerker wieder vom Glauben abfallen, so bleibe ihnen doch ihr Wissen“, tröstet sich Mischlich. „Das einfache, aus Lehm gebaute Haus – natürlich ohne Glasfenster und Bretterboden – liegt auf einem 260 m hohen Bergplateau und ist von drei Seiten von Urwald eingesäumt .... vorgestern Nacht holte wieder ein Leopard ganz frech ein junges Schaf aus dem Stall vor meinem Fenster.“ Während in Abokobi und Odumase Zisternen gebaut wurden, waren die Hausknaben in Worawora zwei Stunden und länger unterwegs für einen Eimer Wasser. Es dauert wieder nicht lange und auch Mischlich muss einige Fieber ausschwitzen, erst Malaria, dann den „roten Hund“, eine juckende Hautkrankheit, bei der man aussieht, als sei man in Brennnesseln gefallen. Das bremste den Elan des Missionars nur kurzfristig. Gern hätte er noch mehr handwerkliches Können erworben, denn Accra war fern. Die Reparatur von Kaffeekanne und Blecheimer hätte dort fünf Wochen gedauert, so hatte er von einem Kollegen in Nierstein das Löten selbst gelernt. Er fertigte selbstverständlich Karten, topografische Aufnahmen, Landschaftsbilder und Berichte. Für seine Schutzbefohlenen war er ein Objekt des Staunens, sie kamen in die Station, um alles zu besichtigen. „Besonders sind es die gerahmten Bilder des Kaisers und der Kaiserin, die viele in Erstaunen versetzen. Wenn ich ihnen dann sage, das sei auch ihr Fürstenpaar, entringt sich ihren Lippen ein langgedehntes freudiges „Aaaa!“ In der Schule des Ortes befanden sich auch befreite Sklavenkinder. „Daheim glaubt man, die Sünde und Grausamkeit der Sklaverei gehöre der Vergangenheit an. Aber hier wird man eines anderen belehrt. Im Sudan [Das bezeichnete im 19. Jahrhundert die Sahelzone, nicht die Republik Sudan. Anm.] gehen diese Greuel heute noch im Schwange ... Hier hat jeder angesehene Eingeborene eine Anzahl Sklaven ... hörte ich schon einige Male, dass Sklavenkarawanen in unserer Nähe vorbeigereist sind.“ 1895 schrieb er für das Hessische Evangelische Sonntagsblatt über eine mit zwei Kistenträgern, einem Lehrer und dessen Hausknaben unternommene vierzehntägige Reise nach Krakye, um sich dort vorzustellen: Nur zwanzig Minuten südlich von Kete liegt besagter
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Ort, eine Reise kann man das kaum nennen. „Wir trafen seine Majestät vor seiner mit Bildnissen deutscher Kaiser geschmückten Hütte auf einem Landesschemel sitzend nebst Gefolge. Am Feuer predigte er abends den Bewohnern von Asuokoko. Der König versprach, Kinder in die Schule nach Warowora zu schicken. Ob er sein Wort halten wird, ist eine andere Frage ... Nichts dünkt den Boeer süßer als müßiggehen, Jagd oder Fischfang.“ Fische werden erbeutet, indem man Giftpflanzen zerreibt und die ins Wasser streut. Die daraufhin an die Oberfläche steigenden Fische werden aufgespießt. Mischlich nächtigte in einem Schafstall und wanderte 15 Stunden durch Baumsavanne.8 „Viele Sklaven werden von ihren Herren recht gut, ja fast als Kinder gehalten, aber doch ist die Zahl derer nicht gering, die auf recht grausame Weise behandelt, z. B. in Krankheitsfällen mit der Peitsche auf die Plantage zur Arbeit getrieben oder geknebelt und geschlagen werden.“9 In einer Aktennotiz des Reichskolonialamtes rechtfertigt Gravenreuth 1891: „Die Sklaverei mit einem Schlag abschaffen zu wollen, hieße ungefähr für Afrika dasselbe, was für Europa der Sozialismus mit Gleichberechtigung ist.“10 Die damaligen Chronisten redeten sich selber ein, dass Arbeitszwang, Muskelsteuer, nackte Gewalt an Afrikanern notwendig seien, um sie auf ein höheres zivilisatorisches Niveau zu heben. Natürlich fiel Adam auf, welch unsägliche Rolle der Hexerei zufiel, ein Zustand, der sich bis heute kaum verändert hat: Keine Krankheit hat natürliche Ursache, sondern entsteht nach Verärgerung einer Gottheit oder Hexerei.11 Ein Gottesurteil mit einem giftigen Getränk sollte Schuld oder Unschuld beweisen. Der Schuldige stirbt, bei bloßem Erbrechen ist der Verdacht unbegründet. In diesem Fall bekam der Verdächtigte eine Entschädigung in Form von zwei Hühnern oder 800 Kauris (= 35 Pfennige). Der Tod konnte aber noch drei Jahre nach dem Test eintreten. Erst nach Ablauf dieser Zeit war die Schuldlosigkeit endgültig erwiesen. Dann gab es nochmals ein Schaf oder sechs heads (= 6 Mark) Kauris. Der Nachlass fiel an den Medizinmann, was zur Folge hatte, dass Reiche immer als schuldig starben. Nicht überall waren die Missionare gern gesehen, in Siare wünschten die Einheimischen keine Hilfe, denn sie hätten alles, was sie brauchten. In früherer Zeit sei ihre Hautfarbe weiß gewesen, erzählten sie den verdutzten Besatzern, der Häupt-
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ling verfüge über ungeheure Macht und könne den Lehrer, wenn er gestorben sei, wieder auferwekken. Mischlichs Aufforderung, diese Wunderkraft an einem toten Huhn zu beweisen, verursachte ein Heidenspektakel, das jedes weitere Gespräch unmöglich machte. In der Landschaft Gbesi dagegen wollte der König sofort die Einrichtung einer Schule. In Akposo schottete man sich aus Furcht, von Nachbardörfern überfallen und in die Sklaverei verkauft zu werden, fast vollständig ab. In manchen Orten flohen die Bewohner angesichts der Deutschen umgehend in den Wald. 1897 schied Mischlich aus der Mission aus und wechselte zur Regierung. Unter dem Grafen von Zech auf Neuhofen arbeitete er auf der Inlandstation in Kete-Kratschi die laut Meyers Lexikon erst drei Jahre zuvor gegründet worden war. Der Standort Kete-Kratschi als Verwaltungszentrum war von Bedeutung, da die Deutschen von hier aus kontinuierliche Beziehungen zu den Dagombas, dem wohl bedeutendsten Volk und Reich im Norden von Togo, unterhalten konnten. In Kete-Kratschi liefen zwei bedeutende Handelsrouten zusammen, von denen eine in den Nordosten und die andere in den Nordwesten führte. Der Ort liegt fünfzehn Minuten vom 400 bis 500 Meter breiten Volta entfernt, der von Krokodilen und Flusspferden wimmelte. Die Bewohner lebten nach „Stämmen“ getrennt in Vierteln, die von Strohmattenzäunen umgeben waren. Die ständig sesshaften, etwa 2000 Einwohner wurden durch 3000 zeitweise Bewohner ergänzt, schreibt Mischlich. Durch diesen Ort war 1886 auch Gottlob Krause gekommen, der sich das Wohlwollen der Kolonialbeamten verscherzte, weil er Missstände und seine Einstellung unverblümt ansprach12: „Ich wünsche nicht, dass die Reichtümer Afrikas dazu dienen sollten, reiche Europäer noch mehr zu bereichern.“13 Er half Mischlich 1890 bei der Erlernung des Ga und Tschi. Mischlich schildert: „Früher standen in der Mitte des Marktplatzes mehrere starkgebaute Lehmhütten, die der Fetischpriester des Odente hatte errichten lassen, um von hier aus den Markt zu beherrschen, die Händler zu tyrannisieren und auf dem Markt nach Willkür zu rauben. Auch war niemand seines Lebens sicher ... aber die Deutschen machten kurzen Prozess und erschossen ihn und seine Helfershelfer, während die Lehmhütten auf dem Markt gesprengt und dem Erdboden gleich
gemacht wurden.“ Zur Monatsversammlung der Basler Missionsgesellschaft 1897 wurde sein Bericht aus Bismarckburg verlesen „Über das Verbot der nationalen Gebräuche in Krobo“, einem Gebiet nahe der Voltamündung (heute Ghana). Auf dem Kroboberg befanden sich zwei zerstörte Bergstädte mit Heiligtümern, für deren Hauptfest alljährlich Menschenopfer verlangt waren. Die Teilnehmer eines Festzuges schwangen Menschenknochen und tranken ab und an aus mit Palmwein gefüllten Menschenschädeln, die selbst erbeutet sein mussten. Dies geschah nicht etwa im Rahmen eines Krieges mit den Gefangenen oder Gefallenen. Zu diesem Zweck taten sich mehrere Männer zu Mord und Totschlag zusammen. Die Leiche wurde zerstückelt im Busch verscharrt. Die zur Feier benötigten Knochen legte man etwa in Ameisenhaufen. Aus dem Herz bereitet ein Priester Medizinen, Amulette und magische Getränke, die ein Ausplaudern der Tat verhindern sollen, und eine Brühe, in der die Täter zum Schutz vor der Rache der Seele des Getöteten baden.14 Ebenfalls auf dem Kroboberge verbrachten Jungfrauen vor der Heirat ein bis eineinhalb Jahre unter Aufsicht einer alten Frau, um vor allem in die Bräuche und Körperpflege eingeführt zu werden. Der Aufenthalt war für die Familie kostspielig, weshalb manche einen Sklaven oder sogar ein eigenes Kind verkaufen oder verpfänden mussten, um die Kosten der abschließenden Feier zu decken. War die Unschuld verloren in dieser Zeit, wurde das Mädchen in ein fremdes Land verkauft und durfte nie in die Heimat zurückkehren. Um dem zu entgehen, vergifteten sich viele Mädchen, die Priester plünderten die Häuser der Eltern. Zu Mischlichs Zeit wurde dieser Brauch nur noch im Geheimen ausgeübt, offiziell das Mädchen nur noch aus dem Dorf gejagt. Seinen ursprünglichen Beruf konnte Mischlich in beiläufigen Beurteilungen nicht verleugnen: „Von dem unruhigen Treiben des Marktes begeben wir uns in das düstere Heiligtum einer halbzerfallenen Moschee, wo eine Anzahl Bekenner der falschen Religion auf dem Boden hockend ihre Gebete herplappern. Ach, wie ist es doch zu bedauern, dass alle diese Händler und ihre Familien bereits eine Beute des Islam geworden sind.“ Im Deutschen Kolonial Lexikon wird 1913 berichtet, dass mehr als 100 Jahre zuvor ein bestimmtes Heiligtum des Got-
tes Nayo, bestehend aus einem Holzschemel, auf dem zwei miteinander verbundene Stäbe liegen, von westlich Bismarckburg nach Kete-Kratschi gebracht worden war. Der Ort war außerdem zweihundert Jahre lang Zentrum des Dente-Kultes mit Orakel, das vor jedem Unheil schützen sollte und in einer Höhle praktiziert wurde. Anlass gerade hier die Station einzurichten, war vermutlich seine Lage als Handelsposition. Die versklavten Menschen aus dem tieferen Landesinneren wurden in Kete-Kratschi zentral zusammengeführt, um später auf dem Volta in den Süden zu den europäischen Sklavenhändlern weiterverfrachtet zu werden. Das Heiligtum wurde 1912 von Bezirksleiter Werner von Rentzell gesprengt und der Priester aus der Angst heraus aufgehängt, dass der Kult ähnlich wie die „Hexenabwehrkulte“ in Ghana Unruhe stiften könnte. In diesen Jahren unternahmen die Franzosen beständig Expeditionen von Dahomey aus ins Hinterland, um die Grenze vorzuschieben, bis es zu einem Abkommen kam, worin die beiden Länder ihre Interessen absteckten. Zech war deshalb auch nach Tschaudjo und Sugu gezogen, hatte mit mehr oder weniger Zwang und Einschüchterung, Waffengewalt, Erpressung und Betrug15 Verträge mit einheimischen Chiefs geschlossen, die ihn aber kaum gegen die Franzosen unterstützt hätten. Die angeblich wissenschaftlichen Expeditionen ähnelten Raubzügen. Unter fadenscheinigen Gründen wurden Gefechte angezettelt, geplündert, gemordet, Dörfer niedergebrannt, Frauen und Kinder eingefangen. Das wird Jesko v. Puttkamer gefreut haben, denn der Landeshauptmann von Togo16 und spätere Gouverneur von Kamerun schreibt 1894 an den Direktor der Kolonialabteilung in Berlin: „Ich kann Ihnen aufrichtig versichern, ich würde statt des fortwährenden Lavierens wirklich recht häufig lieber fechten: es wäre ja viel amüsanter, aufregender und ruhmvoller, wenn auch Togo in die Reihe der kriegführenden Kolonien träte ... Wir Deutschen haben im allgemeinen und leider wohl auch nicht ganz zu Unrecht hier an der Küste den sprichwörtlichen Ruf besonderer Brutalität, von welcher rücksichtslose Energie, die zu großen Erfolgen führt, wohl zu unterscheiden ist.“17 Ab 1903 benötigte Togo keine Zuschüsse mehr. Einnahmen und Ausgaben lagen bei etwas über 4 Millionen Mark. Jeder Bewohner
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hatte – zumindest auf dem Papier – zwölf Tage Fron oder den Gegenwert in Geld als Steuern zu leisten. Willkürlich wandten die Beamten das Recht an, verhängten Zwangsarbeit, harte Haftbedingungen, Prügelstrafe mit der Peitsche und missbrauchten minderjährige Mädchen. Es gelang nicht, deutsche Ordnung einzuführen. Fünfundzwanzig Peitschenschläge wurden zur Norm und zum Symbol des deutschen Kolonialismus. Die Bevölkerung versuchte vergeblich Beschwerde einzulegen. Derartiges erwähnt Mischlich nicht. Der Ausbeutung des Landes diente der Ausbau der Infrastruktur durch den Bau einer Eisenbahn. Afrikaner wurden an der Nutzung des „Fortschritts“ gehindert. Da ein Hafen in dem ungünstigen Gelände nicht gebaut werden konnte, legte man eine lange Landungsbrücke an, die weit über die Brandungszone hinausreichte und mit Gleisen und Ladekränen versehen war. Drei Strecken reichten von dort bis ins Hinterland. Als man v. Zech 1905 als Gouverneur in Lome einsetzte, wurde Mischlich Leiter der Station. Sein Amtsbezirk Kete-Kratschi war etwa so groß wie Württemberg. Zu seinem Aufgabengebiet gehörten der Wegebau und die Hebung der Volkswirtschaft vornehmlich zugunsten des Exports. Letzteres unterstützte er mit der Errichtung einer Markthalle in Kete. Aus Niederländisch-Indien wurden Teakbäume eingeführt und in der Nähe der Station eine Pflanzung angelegt. Versuchspflanzungen, in denen sowohl die Eignung der Pflanzen für die Gegend untersucht und Afrikaner in der Kultivierung ausgebildet wurden, startete er mit Mahagony, Ebenholz, Gerberakazien, Kola, Ölpalmen, Kautschukarten, Sisal, Baumwolle, Mango, Orangen, Zitronen, Ananas, Kaffee, Kardamom. Die Erfahrungen legte er in einem Bericht nieder.18 Die erste Maschine zur Verwertung von Palmöl und Palmkernen wurde in Togo installiert. Das Gouvernement versuchte waldarme Gegenden aufzuforsten und erließ zu diesem Zweck auch eine Waldschutzordnung, um die Ausbreitung der Kakaokulturen zu regulieren. Scheinbar ungenutzte Urwaldgebiete wurden zu staatlichen Waldreservaten erklärt. Sümpfe wurden teilweise zugeschüttet, um die Städte malariafrei zu bekommen. Von Anfang an interessierte sich Mischlich für die Menschen und ihre Gebräuche. Im Vorwort der zweisprachigen Arbeit „Über die Kulturen im Mittel-Sudan“ geht er auf die Quellen ein.
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Sein Zeitzeuge war der Alhaji Umaru (1858–1934) aus Kano in Nordnigeria, der viel herumgekommen und schließlich in Kete gelandet war. Dieser stand auch in Briefwechsel mit dem Forscher Gottlob Adolf Krause gen. Malem Musa. Mischlich übersetzte, was der Imam auf seine Veranlassung hin niedergeschrieben hatte, ohne weitere Kommentare. Dabei entstand eine der wichtigsten Quellen für die Geschichte der Dagomba. Muslime wurden im Vergleich mit den Anhängern lokalen Glaubens für etwas entwickelter betrachtet. Anbau und Verwertung der angebauten Pflanzen werden im gesamten Gebiet der Haussa verglichen. Limonen wurden beispielsweise nicht gegessen, sondern dienten als Putzmittel für Eisen, Kupfer und Messing, als Heilmittel für Geschwüre und als Stabilisator für die Färbung von Finger- und Fußnägeln mit der Lallepflanze oder der Schwarzfärbung der Zähne mit den Blüten der Tabakpflanze. Unter dem Stichwort Viehzucht werden die Tierkrankheiten, die Schlichtung von Streitfällen und die mit der Tierhaltung verbundenen Vokabeln aufgeführt. Der Gelbgusskünstler Ali Amonikoyi fasste so viel Vertrauen, dass Adam die ansonsten geheime Kunst vom Wachsmodell bis zum Ausguss gezeigt bekam und stundenlang in seiner Werkstatt saß. Er fertigte unter anderem Zeremonialwaffen, Gesichtsmasken, Platten mit aufgenieteten Menschenfiguren und Tiere in verlorener Form. Erworbene Stücke gelangten in die Museen von Stuttgart und Leipzig. Die Eisenschmiede fertigten große Fußeisen, mit denen entlaufene Sklaven, Verrückte und Verbrecher gefesselt wurden, und kleine für Schulschwänzer. Sklaven werden als selbstverständliche Handelsware aufgeführt. Man kaufe sie in Bautschi und bringt sie nach Adar (nördlich von Sokoto). Da der Imam aus Kano stammte, umfasst die Beschreibung des Hausbaus auch den Bau mehrstökkiger Häuser und die Errichtung an Königspalästen üblicher Rundbögen. Ebenso schildert er alles rund um den Karawanenhandel: die Zusammensetzung einer Karawane, die Mannschaft, ihre Pflichten und Rechte, die Wegegebühren und das Aufschlagen eines Lagers. Nicht vergessen wird die Kalebassenflickerei als das ärmlichste Handwerk gleich nach dem Betteln. Fast täglich trafen sich Mischlich und Umaru, Mischlich verbesserte sein Haussa bei ihm
und animierte seinen Gesprächspartner zur Aufzeichnung über das tägliche Leben: Landwirtschaft, Viehzucht, Handwerke, Spiele, Musikinstrumente, Kriege und Menschenraub, aber auch die Geschichte der Haussastaaten.19 Manche Abschnitte fallen darin sehr summarisch aus, Probleme werden nicht thematisiert. Als Mischlich nach Misahöhe in Mitteltogo versetzt wurde, zog Umaru mit. Der 1890 gegründete20 Ort galt zu Kolonialzeiten wegen seiner Höhe und Kühle als Luftkurort. Die Zusammenarbeit endete durch die Pilgerreise des Imams, von der er nicht zurückkehrte. Über seine Beobachtungen gibt ein Aufsatz Auskunft.21 Adam verstand es ebenso, seine langjährigen Beziehungen und die Autorität seines Amtes zu nutzen, um als einziger Fremder an Beschneidungen teilzunehmen.22 Normalerweise waren außer den Opfern nur der Beschneider oder die Beschneiderin und ihre Gehilfinnen anwesend, deren Aufgabe das Festhalten der Betroffenen ist. Die Knaben wurden im Alter von mindestens sieben Jahren beschnitten, den Mädchen stutzte man die Schamlippen, ohne sie zu vernähen. Die abgetrennten Teile wurden an Ort und Stelle vergraben. Die Beschneidung war Voraussetzung für eine Heirat. Nach der Operation, die ohne Betäubung zur Zeit des Harmattans (Dezember/Januar) durchgeführt wurde, lebten die Patienten vier Wochen abseits und wurden gepflegt, Heilungsprobleme stellte Mischlich nicht dar. Nur bei den Mädchen fand zum Abschluss der Heilungszeit eine Feier statt. „Auf die Frage nach dem Grund der Beschneidung der Mädchen meinten nach längerem Zögern einige Leute, dass beschnittene Frauen nicht so sehr den Mannsleuten nachlaufen würden wie unbeschnittene. Letztere seien reizbarer ... Ob das aber der wirkliche Grund ... ist, dürfte wohl kaum mit Sicherheit festzustellen sein.“23 Ein Schwerpunkt der Arbeit wurde die Erforschung der Haussasprache, die in Westafrika bei den seit 1400 islamisierten Händlern weit verbreitet ist. Neben zahlreichen Aufsätzen gelangen Mischlich ein Lehrbuch der Haussasprache, ein Wörterbuch und ein Metoula-Sprachführer. Dabei berücksichtigte er Mundarten als gleichberechtigte Teile der Sprache, suchte vorbildlich den genauen Wortsinn herauszufinden.24 In den Jahren 1908 bis 1910 reiste Frobenius in Westafrika. Warum erwähnte er keine Missstände? Prügelstrafe und
Zwangsarbeit gehörten für ihn zur unhinterfragten Methodik effektiver Kolonialpolitik.25 Er liebte das Bild, das er sich selbst von den Afrikanern gemacht hatte, und war von der Realität eher enttäuscht. Dazu passt, dass er des öfteren Probleme rücksichtslos löste. Seine Sammelwut hinterließ eine Spur der Zerstörung. Den Aufenthalt in Togo schildert er in den idyllischsten Farben, weil26 im Gegensatz zu den anderen Kolonialmächten die Beamten nicht turnusmäßig ausgetauscht wurden, sondern Gelegenheit hatten sich zu verwurzeln. „Der deutsche Beamte in Togo siedelt sich wirklich an, und zur Zeit meiner Durchquerung dieser Kolonie war im Inland kein Amtmann, der nicht schon acht Jahre in seinem Bezirk geleitet hätte.“ An anderer Stelle ergänzt er: „Ständig den gleichen Herrn besessen zu haben, das gab eine Konsolidierung ohne gleichen ... Erhalte dich selbst, war das Grundgesetz.“ Die Offiziere wirtschafteten in den Plantagen wie daheim für das eigene Rittergut.
Frobenius engagierte sich en passant für das Eisenbahnprojekt v. Zechs, machte Geländeaufnahmen und inspizierte geeignete Stellen für Brücken. Während seines Aufenthalts erlebte er auch eine Weihnacht auf der Station, zu der zu seiner Freude „alle Jungen weiße Matrosenanzüge geschenkt bekamen.“27 Frobenius erlebte das Ende einer Ära, das Publikationsjahr 1911 läutete den Umbruch ein. „Von Norden nach Süden werfen Tausende von Arbeitern Dämme zum Bahnbau auf, zieht sich ein Telegrafendraht schon bis Sokode, rückt Mission und Kaufmann heran.“28 Er versteigt sich zu der Feststellung: „Ich habe die alte Zeit gesehen, und habe damit eine der tiefsten Freuden erlebt, die ich in meinem Leben bislang erfahren habe ... So wie ich Togo noch 1909 durchzog, machte es weniger den Eindruck einer ... Kolonie, als den ei-
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nes Bundesstaates, einer Vereinigung von kleinen Fürstentümern, deren Ahnherrn sich in weltkluger Erfahrung zu einem ... Hand-in-Hand-Greifen entschlossen ... hatten.“
diktierte.30 Seine Leistungen brachten ihm Auszeichnungen aller Art ein, so die Volney-Medaille durch das Institut de France, den Titel Professor, die Ehrenmitgliedschaft mehrerer völkerkundlicher Vereine, denen er Sammlungen gespendet hatte, des Vereins für orientalische Sprachen und des International Institute of African Languages and Cultures. 31
Mischlich in der Station Bismarckburg in Adele
Ausländische Besiedlung fand nur in geringem Umfang statt. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg lebten 368 Europäer (320 davon deutsch) in Togo, davon waren 67 Frauen. Den Ersten Weltkrieg verbrachte Mischlich in Auerbach als Lazarettinspektor, aber noch war sein überseeisches Engagement nicht erschöpft. Obwohl Deutschland im Krieg seine Kolonien verloren hatte, machte er sich 1926 wieder auf den Weg. Im Auftrag einer Hamburger Firma setzte er elf Monate lang die Erforschung der Haussaländer in Nigeria fort. Er gelangte bis in den Sudan und korrigierte seine sprachlichen Grundlagen in Grammatik und Wortschatz. Im großen Nigerbogen sammelte er Kriegslieder und religiöse Gesänge, Sprichwörter und Volkspoesie.29 Sein Gewährsmann für die Märchen wurde Malam Labaran aus Zaria, der sie in Arabisch niederschrieb, vorlas oder
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Funde aus Togo
Seine erste Frau Käthe geb. Unverzagt, war 1906 in Anecho verstorben,32 er heiratete 1909 in Darmstadt Maria, die Schwester seiner Frau.33 1948 starb er in Frankfurt a. M.
1 Bis 1914 gingen weniger als 24000 Deutsche in die Kolonien. A. Supan, Ein Jahrhundert der Afrikaforschung. In: Petermanns Mitteilungen 1887, 120. 2 K. Esselborn, Ein hessischer Afrikaforscher. In: Die Heimat. Monatsschrift zur Vertiefung und Auswertung des Heimatgedankens in Volksbildung und Jugendpflege. Mainz, Bd.6, 1930, Nr.1, 12. 3 Sie war 1815 gegründet worden, eröffnete ein Jahr später das Missionsseminar und entsandte 1821 die ersten Seminaristen in den Kaukasus, ab 1828 nach Afrika. Die Eltern des Schriftsellers Hermann Hesse waren für die Basler Mission als Missionare in Südindien tätig. 4 H. Meyer, Das Deutsche Kolonialreich. Eine Länderkunde der deutschen Schutzgebiete, Leipzig 1910. 5 Die ersten Wochen in Afrika. In: Der evangelische Heidenbote Nr.9, 1891; Wichtige Tage für das Kroboland Nr.11, 1892. 6 A. Mischlich, Wieder auf dem afrikanischen Arbeitsfeld. In: Hessisches evang. Sonntagsblatt, 8.Jg., 1894, 389ff. 7 Zweite Ausreise nach Afrika. In: Hessisches Ev. Sonntagsbl. 8.Jg., 389ff., 412f., 417f.; Im Innern von Togo. In: Der evangelische Heidenbote Nr.1, 1896; Missionsreise nach Karkye im Hinterland von Togo. In: Hess. Ev. Sonntagsbl. 12.Jg., 1898, 393f., 404f., 414ff.; Kundschaftsreise ins Hinterland von Togo. In: Hess. Ev. Sonntagsbl. 13.Jg. 899, 11f., 29, 37f., 48f., 65, 73ff., 83f. 8 Missionsreise nach Karkye im Hinterland von Togo. In: Hess. Ev. Sonntagsbl. 12.Jg. 1898, 393ff., 404ff., 414f. 9 Verbot der Sklaverei: 1833 England, 1818 Niederlande, 1848 Frankreich, 1854 Portugal, 1870 USA, 1888 Brasilien. 10 RKA Nr.7365 Bl. 55. 11 Siehe auch: A. Rehbaum, Hexenglaube in Afrika am Beispiel der Bini in Benin City, Nigeria. Bonn 2. Aufl. 2000. 12 P. Sebald, Malam Musa. Gottlob Adolf Krause: 1850–1938. Forscher, Wissenschaftler, Humanist. Leben und Lebenswerk eines antikolonial gesinnten Afrika-Wissenschaftlers unter den Bedingungen des Kolonialismus, Berlin 1972 Über ihn gab es in der Kolonialabteilung eine Spezialakte „Angriffe des Afrikareisenden G. A. Krause gegen die Regierung“. Er führte oft beiläufig Hunderte größere und kleinere Beispiele vor, dass sich Deutsche in ihrer Berichterstattung aus Afrika und speziell den deutschen Kolonien geirrt oder wissenschaftlich falsch berichtet hatten, vor allem deckte er die größeren und kleineren Verbrechen und Lügen ... auf ... Man versuchte deshalb seine Reisen zu hintertreiben und Förderung von anderer Seite zu verhindern. RKA Nr. 4087–89; Nr. 3328 Bl. 68ff.; in einem Antrag um Zuschuss zu einer Forschungsreise schreibt er: Er wolle an der sittlichen Hebung seiner Bewohner mitwirken. Ein Beamter des Reichskolonialamtes (Vorläufer des Auswärtigen Amtes) hat an den Rand geschrieben: Jetzt ist Krause selbst gründlich verniggert. Das Mobbing ging so weit, dass kein deutsches Museum seine Sammlung abkaufen wollte (sie landete in Leiden) und sein wissenschaftlicher Nachlass auf dem Müll gelandet sein soll. 13 RKA Nr.4089 Bl.105 Statt sich vor den Kolonialkarren spannen zu lassen, wollte er rein wissenschaftlich arbeiten. Bundesarchiv Berlin R 1001/3328 Expedition Krause. 14 Jahresbericht des Vereins für Erdkunde zu Dresden 26, 1897, 33–38. 15 P. Sebald, Togo 1884–1914, Berlin 1985. 16 1887/88 interimistischer Kommissar für Togoland, 1889 Kommissar, ab 1893–1895 Landeshauptmann. 17 RKA Nr. 4412 Bl. 9/10 und RKA Nr.4773 Bl.91. 18 Bericht über die Versuchspflanzungen im Bezirk Kete-Kratschi. In: Amtsblatt für das Schutzgebiet Togo 4.Jg. 1909, Nr.36, 255–260. 19 Beiträge zur Geschichte der Haussastaaten, Berlin 1903. 20 A. Rein, Die europäische Ausbreitung über die Erde, Potsdam 1931. 21 Verbot der nationalen Gebräuche in Krobo. In: 26. Jahresbericht des Vereins für Erdkunde zu Dresden, 1897, 33–38. Bis heute ist nicht alles ediert. Manuskripte befinden sich im Besitz von Dr. Ilse Sölken, deren Mann zu Mischlichs Zeiten die Edition übernommen hatte. 22 A. Mischlich, Über die Kulturen im Mittel-Sudan. Landwirtschaft, Geberbe, Handel unter Beifügung der Haussa-Texte, Berlin 1942. 23 A. Mischlich 1942, 123. 24 R. Prietze, Mitteilungen aus den deutschen Schutzgebieten, 1907,972–974. 25 M. Gothsch, Die deutsche Völkerkunde und ihr Verhältnis zum Kolonialismus, Baden-Baden 1983,137; H. J. Heinrichs, Die fremde Welt, das bin ich. Leo Frobenius: Ethnologe, Forschungsreisender, Abenteurer, Wuppertal 1998; W. Petermann, Die Geschichte der Ethnologie, Wuppertal 2004, 615. 26 L. Frobenius, Auf dem Wege nach Atlantis. Bericht über den Verlauf der 2. Reiseperiode der DTAFE in den Jahren 1908– 1910, Berlin 1911, 368 Als v. Zech Gouverneur wurde, trat selbstverständlich ein Umschwung ein. Bei der Bedeutung dieses Mannes wurde die Periode der Höhepunkt, der krönende Abschluss. 27 L. Frobenius 339. 28 Ders. 366. 29 Afrikanische Märchen, Jena 1917; Neue Märchen aus Afrika. In: Veröffentlichungen des Staatlich-sächsischen Forschungsinstituts für Völkerkunde in Leipzig Bd.9, 1929. 30 K. Essenborn (Hrsg.), Hessische Lebensläufe, Darmstadt 1979, 276ff. 31 Im Nationalarchiv in Kew, UK, befinden sich Unterlagen vom August 1921 von der Goldküste aus dem Besitz von Adam Mischlich, Darmstadt: Empfehlungsschreiben und Briefwechsel mit den lokalen Verwaltern seines Besitzes in Accra. Original Correspondence From: Public Trustee Office. Folio(s): 464–467, 1921 Aug. 32 Nur aus der Widmung seines Haussa-Wörterbuchs erkennbar. Da in den Missionsberichten und auch der Biografie 1930 keine Frau erwähnt wird, hat er wohl erst danach geheiratet. Ort und Datum unbekannt. 33 NDB Bd.17, 1993.
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Weiße waren für den Kochtopf zu salzig Reisenotizen von Johann Theodor Kleinschmidt Zum 150. Geburtstag widmete die Zeitschrift „Domodomo“ des Fidji-Museums1 in Suva eine Ausgabe der Erinnerung an den deutschen Forscher Johann Kleinschmidt, der am 11. April 1881 in Utuan (Duke-of-York-Gruppe) ermordet worden war.
Im Rang eines Majors schied er im Oktober 1864 aus der Armee aus. Sein Hobby entwickelte er aber immer weiter, indem er zeichnete, was ihm in der Natur reizvoll erschien. Die Einkünfte gaben ihm die Möglichkeit, eine große Bibliothek und eine Sammlung ausgestopfter Vögel anzulegen. Frustriert von geschäftlichem Misserfolg, wanderte er nach zwölf Jahren in San Francisco mit seiner Frau nach Australien aus. Laut Clunie ging ihm der Ruf eines vollendeten Tiermalers voraus, als er Melbourne 1873 Richtung Fidschi-Inseln2 verließ.
Einheimische beim Lavo-Spiel (Zeichnung Kleinschmidt)
Johann Theodor Kleinschmidt
Das Licht der Welt erblickte er am 6. März 1834 in Wolfhagen, aber wuchs anschließend in Kassel auf. Im Anschluss an die Schule arbeitete er zunächst für die Eisenbahn und besuchte in seiner Freizeit einen Zeichenkurs bei Professor Aubell in der Akademie der freien Künste. Obwohl er ein bemerkenswertes Talent zeigte, konnten seine Eltern eine künstlerische Laufbahn aus finanziellen Gründen nicht fördern, zumal sie Kunst auch sicher als brotlos und höchstens für die höheren Kreise passend einstuften. Mit 19 Jahren entschloss er sich, als Matrose auf der Bark „Coriolan“ anzuheuern. Die Fahrtroute führte mit Zwischenstopp in New York nach Ostindien. Möglicherweise zwang ihn seine starke Kurzsichtigkeit den Dienst zu quittieren. Er ließ sich jedenfalls in New Orleans als Maler nieder, in St. Louis versuchte er sich als Kaufmann und wurde nach kurzer Zeit Geschäftsführer. 1861 wurde er amerikanischer Staatsbürger und meldete sich freiwillig beim 11. Infanterieregiment.
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Diese Inselgruppe war von Weißen 1643 (Tasman), 1774 (Cook) und 1789 (Kapitän Bligh von der Bounty)3 in Stippvisiten besucht worden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts boomte die Sandelholzausfuhr, später der Export einer Meeresschnecke. Bis dahin war das Leben der Einheimischen bestimmt von detaillierten Normen des Verhaltens, von der Wahrung richtiger Proportionen und Relationen und vom Kanon des Maßhaltens.4 Austausch und Handel weckten neue Bedürfnisse und höhlten die überkommenen Ideale und Werte aus. Kleinschmidt kannte den Zustand vor seiner Ankunft nicht und konnte so auch keine Vergleiche ziehen. Vermutlich stürzte er sich gleich in die Sammelarbeit, denn der Zoologe Otto Finsch, der 1874–82 in der Region Material zusammentrug, beschrieb einen bis dahin unbekannten Vogel nach Bälgen, die Kleinschmidt ihm aus Taveuni geschickt hatte.5 Zwei Jahre lang arbeitete er als Sekretär für die marode Stadtverwaltung von Levuka. Damals waren die Einheimischen nahe daran, alle Versuche aufzugeben, um eine eigene
Regierung zu installieren.6 Weder das Einziehen der Steuern klappte, noch hatte man erfahrene, hilfsbereite Verwaltungsfachleute gefunden. Die eingewanderten Europäer boykottierten alles und destabilisierten die Lage, indem sie eine Art KuKlux-Klan bildeten. Zahlreiche Europäer wurden ermordet. Kleinschmidt führte als „Inspektor für öffentliche Ärgernisse“ ein unauffälliges Leben fern der Politik. Er unterschrieb mit „Klinesmith“ seine Dokumente, die sich beispielsweise mit Straßenbeleuchtung, Einzäunung und Einfassung eines Baches beschäftigen oder mit dem Verbot strohgedeckter Hütten innerhalb der Stadt. Er hatte üblen Gestank zu unterbinden, Kanalverstopfungen zu beheben und die Straßenreinigung zu überwachen. Die örtliche Zeitung druckte in dieser Zeit seine Illustrationen zu den Ankunfts- und Abfahrtsmeldungen von Würdenträgern. Außerdem gab er Zeichenunterricht an der Schule für Kunsthandwerker in Levuka. Auf Bitten der Häuptlinge nahm das britische Empire die Inselgruppe unter Kolonialverwaltung und entsandte am 10. Oktober 1874 den ersten Gouverneur. Der scheidende Übergangskolonialsekretär löste als eine der letzten Amtshandlungen die Stadtverwaltung von Levuka auf und stürzte Kleinschmidt in einem politischen Skandal (Baumwoll- und Viti-Krach). Besonderes Missfallen hatte die überhand nehmende Zwangsrekrutierung von Männern anderer Inseln für die Plantagen erregt. Einheimische wollten nicht auf den Baumwollfeldern arbeiten. Die Briten sorgten teilweise für die Rückkehr der Zwangsarbeiter,
Kleinschmidt verlor Einkünfte und blieb fast mittellos.7 Auch das Jahr 1875 begann nicht sehr verheißungsvoll. Nach dem Biss eines Affen litt Kleinschmidt an einer Blutvergiftung. Kaum war er wieder auf den Beinen, wurde ihm nach Naikorokoro, wo er mit seiner Frau neben einer Vogelvolière lebte, die Meldung gebracht, er sei für das Museum des hamburgischen Handelshauses Godeffroy & Sohn als einer seiner reisenden Naturforscher und Sammler engagiert. Johan Cesar Godeffroy, der seit 1857 von Samoa ausgehend in der Südsee mit Kokosplantagen, einer Reederei und Metallhütten ein auf Zwangsarbeit der Bewohner basierendes Wirtschaftsimperium errichtet hatte, sammelte als Ausdruck großbürgerlichen Mäzenatentums seit fünfzehn Jahre Objekte aus dem pazifischen Raum und Australien. Sein Museum war besetzt mit Fachleuten, die von den Kapitänen, Händlern und Leuten wie Kleinschmidt Originelles aufkauften. Die Beschreibungen ihrer Reisen wurden in sechs Ausgaben einer kleinen Zeitschrift veröffentlicht.8 Das Handelshaus begann ab 1865 mit der Gewinnung von Kopra und spielte eine entscheidende Rolle bei der Vorbereitung des Erwerbs von Kolonien durch das Deutsche Reich.9 Kleinschmidt arbeitete in Vanua Levu, Taveuni und den Nachbarinseln im Oktober und November 1875. Mit zahlreichen Tauschartikeln und Geschenken10 an Bord seines Schiffes „Buniko“ unternahm er mehrere Fahrten 1876 unter anderem nach Viti Levu. Sein Bericht beinhaltet vor allem Beschreibungen der Natur und Tierwelt, des Wetters, der Hüttenbauweise und -pflege bei Häuptlingen, einfachen Einwohnern
Kleinschmidts Wirkungsgebiet
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oder in Missionshäusern. Die meist einheimischen Missionare waren angewiesen, durch die Einrichtung einer getrennten Küche den Einheimischen ein Beispiel zu geben. Üblich waren verräucherte Kammern ohne Fenster mit einem Kochplatz in der Mitte eines mattenbedeckten Bodens, um den sich alle möglichen Abfälle anhäuften. Auf Kandavu wurde auch im Schlafraum auf einem zweiten Herd mit Holz eingeheizt, um mit dem Rauch die Moskitos zu vertreiben.
Die doppelt unterwaschenen Felswände auf Vatu-Lele (Zeichnung Kleinschmidt)
Das Missionswesen hatte auf Viti-Levu, seit 1830 der erste Missionar aus Tahiti gekommen war, dazu geführt, dass Einwohner an der Küste lesen und schreiben konnten. Kleinschmidt berichtet weiter: „Indessen weiter im Innern der Inseln ist der Erfolg noch ziemlich zweifelhafter Art, dort, wo noch die Menschenfresserei im vollen Gange ist, kommt es häufig vor, dass ganze Distrikte das kürzlich angenommene Christentum und die Schamtücher wieder abwerfen, die Missionare fortjagen, zum alten Heidendienst und Kannibalismus zurückkehren und sich für frei erklären, d. h. mit Weißen und der Regierung nicht zu thun haben wollen.“ Als einen Anlass dafür benennt Kleinschmidt eine eingeschleppte Kinderkrankheit, an der 30000 Menschen starben.11 Das Elend in vielen Ortschaften war unbeschreiblich, unbegrabene Leichen wurden von Schweinen gefressen. „Die Einwohner glaubten, dass der Weiße es auf ihre Vernichtung abgesehen und zu diesem Zweck die ihnen bis dahin gänzlich unbekannte Masernkrankheit eingeführt habe.“ Wegen dieser Unruhen verschob Johann einen Ausflug ins Inselinnere. Der Wald hatte jedoch eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn. Er vertraute zudem auf seine Kenntnisse der Viti-
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Manieren um glücklich durchzukommen. Immer wieder gelang es ihm Alltagsgegenstände zu kaufen. Er sammelte Muscheln und schoss Vögel, um sie auszustopfen. Auf dem Fluss beobachtete er Schulkinder, die mit Ruderbooten zu ihrem Lehrer oder sonntags zur Kirche unterwegs waren. Die Kirchenhütte wurde an der Stelle gebaut, wo vorher menschliche Kadaver gebacken worden waren. „Letztere wurden entweder zerschnitten und die einzelnen Stücke in Blätter eingewickelt, oder auch ganz in sitzender Stellung gebacken. In letzterem Falle und wenn man einem entfernten befreundeten Häuptling damit ein Geschenk machen wollte, befestigte man den an Stelle der abgesengten Haare mit einer Perücke bekleideten gebackenen Leichnam auf dem Vorderteil eines Kanus, und brachte so den leckeren Tafelaufsatz an den Bestimmungsort.“12 Die Geschlechtsteile der Unglücklichen wurden als Beleg für die Anzahl der Geschlachteten an die Bäume des Versammlungsplatzes gehängt. Auf solche Praktiken führt er zurück, dass Regungen wie Erkenntlichkeit, Dankbarkeit, Mitleid oder Ehrgefühl in der Inselregion unbekannt waren. Andere Stimmen beschreiben die Insulaner als höflich, gastfreundlich, großzügig und entsetzt über preußische Kindererziehungsmethoden. Menschenfleisch verzehrte nur die Elite des Volkes. Natürlich Gestorbene wurden nie gegessen, nur Getötete, bevorzugt Frauen. Der Kopf wurde entfernt, der Rumpf ausgeweidet, die Extremitäten in Schulter, Ellbogen und Handgelenk bzw. Hüfte, Knie und Knöchel zerschnitten, damit alles besser in die Keramiktöpfe passte. Wenn die Soße kochte, meinten die Einheimischen den Geist im Topf pfeifen zu hören. Sir Alan Burns berichtet, er sei einem Chief begegnet, der behauptete 999 Menschen gegessen zu haben. Während normalerweise mit den Händen gegessen wurde, war das Anfassen von gekochtem Menschenfleisch tabu. Dafür gab es sehr schön geschnitzte hölzerne Gabeln. Nicht alle Dörfer einer Insel praktizierten Kannibalismus und die Gründe dafür waren vielfältig.13 Machten es die einen in Zeiten des Hungers, die anderen aus Rache am Gegner, dessen Kraft man sich nun einverleiben wollte, wieder andere nannten religiöse Gründe oder plötzlichen Appetit.14 Das Fleisch der Weißen schmeckte ihnen zu salzig und nach Tabak. Wenn ein Häuptling
starb, wurden mehrere seiner Frauen stranguliert, um ihm ins Grab zu folgen. Strafmethoden waren ausgesprochen sadistisch. Burns berichtet von der Bestattung sich noch bewegender Leute, Kranker oder Alter, von denen die Umstehenden erklärten, die Seele habe den Körper schon verlassen.15 Lilluvia war nur von einem Weißen und seinem Gehilfen bewohnt. Auf Vanua Levu beeindruckten vor allem die kochendheißen Quellen in vulkanischer Umgebung. Eine der Quellen nutzten die Bewohner zum Kochen ihrer Yams, Kochbananen und Taros. Zu diesem Zweck hatten sie Pflanzenteile wie ein Storchennest über die Öffnung gehäuft, so dass das Wasser nicht mehr mannshoch geschleudert wurde. Auf Kandavu bestieg er als zweiter Weißer den Buke-Levu (2750 m hoch) und verbrachte dort in Begleitung eine Nacht. Auf dem Weg beschreibt er die Fruchtbarkeit der Gegend, die Landwirtschaft der Missionare, die meist gleichzeitig auch als Lehrer fungierten. Sie wurden von der Gemeinde unterhalten und bekamen 1 Pfund Sterling jährlich von der Regierung. Vom Berg aus musste sich die Gruppe erst einen Ausguck freihacken. Seine Beobachtungen zu Religion und Brauchtum sind sehr beschränkt in den erhaltenen Veröffentlichungen, jedoch beschreibt er Volksbelustigungen wie Spiele, Tänze, Lieder, Jagd- und Fischereimethoden. Oftmals kam es zu trinkseligen Zusammenkünften mit den Einheimischen, die sangen oder Geschichten erzählten. Mit den großen hell klingenden und mit zwei harten Stäben geschlagenen Trommeln wurde zu Versammlungen, zur Arbeit oder Kirche gerufen, mit Tritonsmuscheltrompeten rief man zur nächtlichen Schildkrötenjagd oder zum Kriegszug auf Kanus. Aus Bambus fertigten sie Nasenflöten. Bei Kriegstänzen wurde moderne Kleidung abgelegt und ein Lendentuch umgebunden, die Körper schwarz, rot und blau bemalt. Die Kombination aus Speer- und Keulenschwingen, Seitenhieben und Angriffsgeschrei erhöhte den wilden Eindruck. Beim Nationalspiel „Vitiqa“ kam es darauf an, ein glattes Rohr mit einem glatten Kolben aus hartem Holz so weit wie möglich zu schleudern. Hierbei spielten ganze Dörfer gegeneinander. Als Preise winkten z. B. Matten. Die Verlierer mussten außerdem ein Festessen mit Schweinen, Yams, Taro und Viti-Pudding spendieren. Verschiedene Wurfspiele mit Früchten oder Steinen verwandt mit Boule oder Murmeln waren ebenso beliebt.
Die Fischerei der Männer erfolgte mit Speer, Haken, Pfeil und Bogen, oder Körben, die der Frauen mit kurzen Netzen aus Bastfäden. Selbst die Frau des Häuptlings betrachtete es als Sport, wenn nicht übergroße Korpulenz sie hinderte. Sogar nachts bei Fackelschein stellte man sich mit den Netzen im Halbkreis auf und hielt sie fest auf dem Grund, eng an eng zur Nachbarin stehend. Mit Leinen, in denen Kokosblättern eingeflochten waren, peitschten sie die Oberfläche, um die Fische ins Netz zu treiben. Die die Netze Haltenden bückten sich ab und zu mit dem Gesicht unter Wasser, und wenn sie die Fische kommen sahen, hoben sie die Netze auf und entleerten die Fische in Korbtaschen. Auch Aalkörbe oder Fischzäune waren bekannt, mit denen man Bäche absperren konnte. Die Schildkrötenfischer standen im Dienste des Königs. Keinem Sklaven oder Untergebenen war erlaubt, Schildkrötenfleisch zu essen. Es galt als größter Leckerbissen bei einer Ratsversammlung, nur übertroffen von ungelegten Schildkröteneiern.16 Kleinschmidt erwähnte eine Versammlung aller hohen Häuptlinge der Kolonie mit Gouverneur, Dolmetscher und einigen hohen Beamten, bei denen sich die Teilnehmer länger an das Essen als an die getroffenen Beschlüsse erinnerten: es gab viele Schweine, zwei Ochsen, über hundert geröstete Schildkröten. Die Hühnerjagd war bei Jugendlichen beliebt. Die Opfer waren rotbraune verwilderte Haushühner, die schnell zu zähmen waren und wie Schosshündchen mit einem Faden am Fuß im Haus verhätschelt wurden. Mit ihnen lockte man dann wieder die wilde Verwandtschaft an. Auf Vatu Lele fand Kleinschmidt etliche Höhlen in dem harten Korallenfels vor, von denen eine als Bestattungsplatz genutzt war. Die Schädel der Toten hatte ein Missionar aus Tonga einfach entwendet. Da es auf dieser Insel nur selten Besuch von Weißen gab, waren die Leute freundlicher, aber Kleinschmidt bemerkte, dass sie jede Dienstleistung bezahlen mussten, egal ob der Häuptling vorher zehn Geschenke oder keines bekommen hatte. Auf der Insel Ono lebte ein Weißer vom Ertrag seiner Kokospalmen. Der Anbau der Baumwolle lohnte sich zu Kleinschmidts Zeiten schon nicht mehr, das Land war zu dem Zeitpunkt verschuldet und offenbar war zu viel abgeholzt worden, denn Kleinschmidt war enttäuscht von kargen Tälern und
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Höhen. In Kandavu schwärmte er im Gegensatz dazu von Baumriesen, Palmen, Baumfarnen und undurchdringlichem Unterholz. Die Bewohner der drei Dörfer gestatteten dem Forscher nicht, sich von den Klippen zu den Bestattungshöhlen der Häuptlinge herabzulassen. In einem Artikel der Fiji Times vom 13. Januar 1877 stellte der Journalist die geplante weitere Erforschung der Neuen Hebriden und Solomon-Inseln in Aussicht. In den Zeiten zwischen den Fahrten erholte sich Kleinschmidt bei seiner Frau und engagierte sich für Wohltätigkeitsveranstaltungen und Fundraising in Levuka. Im Juni 1877 startete er zusammen mit John Archibald Boyd, einem Pflanzer aus Waidou auf Ovalau mit zwölf Jahren Erfahrung in Fiji, eine Expedition in die Berge Viti Levus. Von diesem einjährigen Aufenthalt blieb nur eine kurze Zusammenfassung seines ausführlichen Berichts und ein Tagebuch Boyds erhalten, die sich beide heute im Fiji Museum befinden. Auf einem Handelsschiff verließ das Paar Ovalau und erkundete die Ostküste von Viti Levu und Teile der Nord- und Westküste. Dabei landeten sie auch mehrfach am Strand. Von Nadi aus wanderten sie über das Hochland bis Fort Carnavon, wo sie etliche Monate als Gäste des Kommissars blieben. Kapitän Knolly hatte im Jahr zuvor die Kriegslust der Bewohner des westlichen Hochlandes gebrochen und derartig demoralisiert, dass sie sogar bereit waren das Christentum anzunehmen. Von dort mit Spezialerlaubnis ausgerüstet, erkundeten die beiden Männer das Zentralmassiv des Munavatu, Wainimala und Rewa (3000–4300 m hoch). Dann verließ Kleinschmidt die Inselgruppe mit seiner Frau, um seine Tätigkeit östlich von Fiji in Koro, Samoa fortzusetzen. Von Godeffroy & Sohn erhielt er die Anweisung, auf die Duke of York-Gruppe (später Neulauenburg) zu wechseln, in der Durchfahrt zwischen Neubritannien und Neuirland im Bismarck-Archipel. Seinen Stützpunkt hatte er auf Kabakon17, wo er sich ein Grundstück kaufte. Die Lage war angespannt, da ein Stationsvorsteher ermordet worden war. Kleinschmidt reiste nach Australien und hatte den Einheimischen Utuwaia erlaubt, während seiner Abwesenheit auf seinem Besitz zu ernten. Als Gegenleistung für die Ernte hatte er sich eine Rudermannschaft ausbedungen. Gleichzeitig beauftragte er aber auch den Missionslehrer, ein Auge auf seinen Besitz zu haben. Da die-
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ser seine Kompetenz überschritt, entstand Wut auf Kleinschmidt unter den Bewohnern. Nun wollte auf der Nachbarinsel freiwillig niemand für ihn rudern. Kleinschmidt fühlte sich provoziert, brannte das beste Haus der Utuwaia nieder und kidnappte fünf Männer. Den Handel in dieser Region hatte Godeffroy 1873 eröffnet. Die Niederlassung in Nogai musste wegen der feindseligen Haltung der Einheimischen schon nach vier Wochen wieder geräumt werden. Inzwischen beunruhigten Gerüchte, das Godeffroy Handelsimperium sei insolvent.18 Das Ende kam aber erst 1879 und die Museumssammlung wurde 1885 verkauft. Nunmehr Agent für Landverkäufe, bekam Kleinschmidt auch einige Scherereien mit anderen europäischen Sammlern, die sowohl ein besseres Schiff besaßen als auch mehr Geschick im Umgang mit einheimischen Helfern. Am 9. April 1881 plante Kleinschmidt einen Besuch von Neubritannien. Seine Mannschaft, der er verschwiegen hatte, dass die Reise mehrere Wochen dauern würde, desertierte. Kleinschmidt platzte der Kragen, zwei für ihn arbeitende bewaffnete Deutsche mussten ihn zum Dorf der Utuwaia auf der anderen Seite der Bucht rudern. Als er mehrere Schüsse abgab, griffen die Bewohner an.
Ort des „Mioko-Massakers“ vom 14. Mai 1881
Angeblich vor den Augen seiner Frau, die den Vorgang durchs Fernglas verfolgte, traf Kleinschmidt eine Kugel in den Hals und ein Machetenschlag auf den Kopf, während seine Mitarbeiter erschlagen wurden. Die Zeitung veröffentlichte ihren Bericht ungeprüft. Obwohl die Untersuchung durch den Generalkonsul die Provokation Kleinschmidts als Auslöser des Dramas aufdeckte, organisierte
Thomas Farrell im Mai 1881 eine Strafexpedition und stellte sogar ein Schiff, um die Erbfeinde der Utuwaia aus Neubritannien heranzubringen. Das gegenseitige Abschlachten beendete Kapitän Schule mit seinem Schoner „Conflict“, auf dem er Kleinschmidts Frau nach Matupe brachte, von wo sie im August 1881 wieder in Levuka eintraf. Farrell gründete 1883 die Handels- und Plantagenfirma
E. F. Forsayth und hatte vermutlich auch mit dem Einfangen und Transport von Zwangsarbeitern zu tun. Kein Jahr verging in diesen Jahrzehnten ohne die Ermordung einiger Weißer. Die meisten der von Kleinschmidt gesammelten Artefakte kamen nach Leipzig und bilden den Grundstock für die Fijiabteilung des Völkerkundemuseums, die umfassendste Sammlung in Europa.
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F. Clunie, Theodor Kleinschmidt. In: Domodomo, Fiji Museum, Suva Jg.2, Nr.4, 1984, 7ff. Im Deutschen meist Fidschi, englisch Fiji, die Einheimischen selbst sagen Viti. Schon beim Kontakt 1791 verbreiteten die Europäer die erste Seuche. B. Treide, In den Weiten des Pazifik Mikronesien, Wiesbaden 1997. O. Finsch, On Lamprolia victoriae, a most remarkable new Passerine Bird from the Feejee Islands, Proc. Lond. Zool. Soc. 1873, 733ff. 6 1871 hatte Cakoban eine erfolglose Regierung gebildet. Die Mitglieder erschienen meist nicht, hatten nur Interesse an eigener Bereicherung. 7 G. K. Roth, The Story of Fiji, Melbourne circa 1956. 8 Theodor Kleinschmidts Reisen auf den Viti-Inseln nach seinen brieflichen Mittheilungen bearbeitet. In: Journal des Museums Godeffroy Heft XIV, 1879, 249–283; Mioko. In: Das Museum Godeffroy 1861–1881, Hamburg 2005, 94. 9 B. Treide, 1997, 20. 10 Bleifedern, Stoff, Tabak, Alkohol, Waffen, Äxte, Messer. 11 Kleinschmidt führt nur 10000 auf, Roth nennt 30000. Eingeschleppt wurden sie durch den Besuch zweier Häuptlingssöhne in New South Wales. 12 J. T. Kleinschmidt 254. 13 O. Degener, Naturalist’s South Pacific Expedition: Fiji, Honolulu, 1949, 156. 14 Degener berichtet von einem Chief, dem getötete Kinder als Nahrungsmitteltribut geliefert wurden oder der sich als besonderen Leckerbissen ein Kind rösten ließ. 15 A. Burns, Fiji, London 1963, 30; O. Degener 1949, 140. 16 J. T. Kleinschmidt 276. 17 Mioko nach R. Parkinson, 30 Jahre in der Südsee. Land und Leute, Sitten und Gebräuche im Bismarckarchipel und auf den deutschen Salomoninseln, Stuttgart 1926. 18 F. M. Spoehr, White Falcon. The House of Godeffroy and its commercial and scientific role in the Pacific. Palo Alto, 1963.
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Ein Kunstsinniger und ein Offizier Reiseberichte der Freiherrn Riedesel zu Eisenbach Die seit 1680 in der Namensform Riedesel zu Eisenbach geführte Familie wird vom Gothaischen Hofkalender zum hessischen Uradel gezählt. Die seit der Reformation protestantische Sippe1 war im Raum westlich von Marburg, um Ziegenhain, Kassel und Melsungen verbreitet. Die Burg Lauterbach und das dort gelegene Schloss Eisenbach kamen durch Ritter Herrmann Riedesel (1407–1463) in den Besitz der Familie, nachdem er die letzte Tochter der ursprünglichen Eigentümers geehelicht hatte.2 Das Schloss ist Gemeinbesitz aller drei Familienlinien – Ludwigseck3, Altenburg und Burg Lauterbach. 1432 wird erstmals ein Riedesel Erbmarschall von Hessen, ein Amt, das jeweils das älteste männliche Mitglied der Riedesel einnimmt. Die Familie ist nominell Vorstand der 1532 gegründeten Althessischen Ritterschaft. Sie glauben, sich verlesen zu haben oder in England zu sein? Es ist tatsächlich ein noch existierender Höflichkeitstitel, der jeglichen Inhalt entbehrt, mit Bedeutung nur für Liebhaber einer versunkenen Epoche.4 In ihren Reihen befinden sich zwei Mitglieder, die durch ihre Reisen Aufmerksamkeit verdienen. Der Reiseschriftsteller Johann Hermann wurde am 10. November 1710 in Höllrich im Spessart in der Altenburger Linie der Sippe geboren. Er war laut Neuer Deutscher Biografie der erste Deutsche, von dem wir wissen, der im 18. Jahrhundert eine Studienreise nach Sizilien und in die Türkei unternahm. Natürlich kann es frühere Touristen gegeben haben, von denen nur keine schriftlichen Erlebnisberichte erhalten sind. Johann gehört damit zu den Vorläufern der deutschen Kunstsinnigen, denen fast eine Generation später keine Mühsal zu abwegig war, um Länder voller Gefahren zu Fuß, auf Mauleseln oder Pferden zu durchstreifen.5 Erst nach ihm wurden Italien südlich Neapel und Sizilien in Kavalierstouren einbezogen. In Rom befreundete er sich mit dem Oberaufseher für die Altertümer, Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), Begründer der Archäologie, Antiquar und Kunstschriftsteller. Winckelmann bewunderte an den Plastiken die „edle Einfalt, stille Größe“ und
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pries sie als griechisches Schöpfertum, in Wahrheit waren sie römische Kopien. Seine Sichtweise der griechischen Antike beeinflusste ganz deutlich Riedesels oberflächliche Bewertungen bis in den Stil der Sprache. Im Gegensatz zu Winckelmann und Goethe6 zeigte sich Riedesel schnell bereit zu Abwertungen,7 sowohl über die Qualität der besichtigten Altertümer, – die mittelalterlichen Überreste werden eher gestreift –, aber auch über jüngere Relikte, die Bewohner und ihre Lebensumstände. Goethe trug Riedesels Bericht während seiner Italienreise 1786 dennoch in der Tasche. Johann Hermann startete am 13. März 17678 seine Tour mit den Berichten des Pausanias9 und Tournefort10 im Gepäck, deren Darstellungen er jeweils an der Realität überprüfte. Seinen Reisebericht, der „in und außerhalb Deutschlands mit vorzüglichem Beyfall aufgenommen wurde, widmete er Winckelmann in Form von zwei gedruckten Sendschreiben. Dazu trugen sicherlich Übersetzungen ins Englische und Französische bei, die der junge Georg Forster11 vor seiner Weltumseglung mit Cook 1772 angefertigt hatte. Ihn zog es in die Ferne, weil er mal ein Land sehen wollte, in dem sich seiner Meinung nach nicht ständig die Mode ändert, sondern wo Gebräuche, Sitten, Religion und Kleidung – vermeintlich seit der Antike – unverändert blieben. Ein urtümliches Land, das nicht so viele Gesetze habe, in dem Männer weniger unter den Frauen leben und daher männlicher seien. Auch diese Sichtweise wird Winckelmann wohl nachempfunden haben. Riedesel landete mit einer Menge Empfehlungsschreiben in Palermo („der einzigen Stadt in Italien, die nachts beleuchtet war“). Diese brauchte er auch, denn sie erwiesen sich als Türöffner für Übernachtungsmöglichkeiten bei Adligen oder reichen Bürgern. Gasthäuser gab es nur in den Städten. An den meisten Orten suchte er sich lokalhistorisch Bewanderte als Führer. Lustig kommen ihm manche Beobachtungen am Rande vor: dass in Canossa Erbsen und Bohnen ausgedroschen wurden, indem man mit
Holzschuhen darauf herumtanzte.12 In Monreale entdeckte er die Urnen zweier Herrscher. „Wilhelm der Gute ist so benannt, weil er abergläubisch und den Pfaffen ergeben, der andere hat den Zunamen des Bösen bekommen, weil er weiser, vernünftiger und von Vorurtheilen befreyet war. Dieses Exempel bestärkt mich in der Nachläßigkeit des allgemeinen Rufs, und der Verachtung desselben.“ Er hatte seine Augen überall. Auf der Suche nach dem untergegangenen Großgriechenland entdeckte er sowohl Armut als auch Verfall. Während er bei Beschreibungen von antiken Flachreliefs von dargestellten „Frauen“ schreibt, tituliert er die Zeitgenossinnen meist als Weiber. Am besten gefallen ihm die in Trapani: „Sie sind so weiß, als eine Deutsche oder Engländerin seyn kann, haben aber die schönsten schwarzen Augen, voller Leben und Feuer und die regelmäßigsten griechischen Profile ... Dass es in Sizilien auch fruchtbare Weiber gebe, habe ich in der Duchessa Sanzone in Mazzara gesehen, eine kleine magere Frau, welche 26 Kinder geboren hat.“13 Im gleichen Atemzug verbreitert er sich über den Ertrag an Baumwolle. Eine verbreitete Plage auf dem Mittelmeer waren die osmanischen Piraten, die auf Menschenfang aus waren. Leidtragende waren die Fischer Selinunts, die des öfteren von Seeräubern aus Tunis, das nur 100 Meilen entfernt war, versklavt wurden. Zur Befreiung dieser Sklaven hatten die Fischer eine Vereinigung gegründet, deren Mitglieder sich selbst verbürgten, um die Sklaven zu befreien. Das gleiche Problem erwähnte Karl Friedrich Schinkel (1781–1841), der 180414 Augenzeuge wurde, wie eine italienische Barke sich gerade noch vor einem Schiff mit tunesischen Korsaren in den Hafen retten konnte. In Girgent (Agrigent) schwärmte Riedesel von den entzückenden Feldern und dem Gesang der Nachtigallen und klagte über die bisher veröffentlichten schlechten Abbildungen der vorgefundenen Schätze. Intuitiv haben Riedesel und Goethe an dem Sarkophag im Dom in Girgenti, der auf vier Flachreliefs den Tod des Hippolyt dargestellte, das Andersartige und Griechische empfunden. Den Junotempel und den Concordiatempel fand er gut erhalten, den Herculestempel und den Jupitertempel in Trümmern. Von einem Abstecher nach Malta berichtete er: „Die Ritter haben (in Malta) zu
ihrer Schande die Sitten so verdorben, daß keine ehrliche Frau oder Mädgen in der ganzen Stadt, wenige des alten Adels ausgenommen, anzutreffen ist.“ Die alten Familien würden vom Orden so verächtlich behandelt.
Palermo, Stahlstich von Albert Henry Payne (1812–1902)
Catania war nach einem Erdbeben 1693 völlig neu gebaut, nachdem eine Eruption des Ätna 1669 den Hafen ausgetrocknet hatte. Bevor er mit einem Diener, einem Führer, einem Packpferd und drei Mauleseln zum Ätna aufbrach, legte er selbst noch Hand an bei einer Ausgrabung des Prinzen von Biscari. Die Hitze wurde ihm schnell zu groß, aber immerhin entdeckte er an der Stelle, wo die Stadt Sybaris vermutet wurde, ein Grab.15 Schinkel besuchte fast vierzig Jahre später die archäologische Sammlung dieses Prinzen.16 Der Marsch zum Gipfel strengte ihn an. Eine zur Übernachtung vorgesehene Hütte war von der Lava zerstört. Deshalb legten sie sich in eine Grotte. Als sie die Schneeregion erreichten, trennte sich der Führer von ihnen und die Touristen mussten zu Fuß weiter. Beeindruckt schrieb er, dass der Vesuv im Vergleich nur ein Kinderspielzeug sei.17 „Der Meuchelmord ist nicht mehr so häufig als ehemals in Sizilien, wiewohl noch zuweilen aus Eifersucht oder Rachgierde dergleichen Schlachtopfer geschehen.“ Vorzeiten kostete ein Killer 10 Oncie oder 12 Zecchini, heutzutage sei es teurer. Mafiöse Strukturen erwähnte Riedesel nicht, wie er überhaupt die Gefahren durch Räuber übertrieben fand. Die gesundheitlichen Verhältnisse waren ihm auf der Reise der Erwähnung wert. Mit unseren gesundheitlichen Vorsorgemöglichkeiten machen wir uns gar keinen Begriff von den diesbezüglichen Reisegefahren früherer Jahrhunderte. Weil in Messina 1743 die
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Pest gewütet hatte und die Furcht vor Ansteckung noch groß war, mussten laut Riedesel Albaner, die mit dem Schiff Schnee nach Otranto brachten, diesen an einem unbewohnten Strand ablegen. Die Italiener holten ihn dort, legten Geld hin und erst wenn sie weg waren, durften die Lieferanten den Lohn einsammeln. Ab dem 18. Jahrhundert häuften sich in Europa die Pockenfälle und lösten die Pest als schlimmste Krankheit ab. Deshalb erwähnt Riedesel die Pockenschutzimpfungen in Catania als Segen.18
Tempel der Juno in Agrigent, Radierung E. Adler-Messard (*1845) nach Klose
Am 10. Mai 1768 schiffte sich Riedesel in Neapel mit dem Ziel Izmir ein, besuchte unterwegs die griechischen Inseln und widmete jeder einen kurzen Abschnitt zu Land, Leuten und antiken Relikten. Auf der Insel Chios starben täglich dreißig bis vierzig Menschen an der Pest. Er flüchtete sich in ein Dorf, während er die über Samos verhängte Quarantäne dadurch umging, dass er an der Südküste landete. Das Betreten der Stadt wurde ihm jedoch verwehrt, bis er ein entsprechendes Papier vorweisen konnte. „So erhielt hernach mein Dragoman von den Obersten des Ortes ... ein förmliches Patent, dass wir uns vierzehn Tage in ihrem Dorf aufgehalten hätten; und dieß kostete nur zwei Piaster oder sechs französische Livres.“ Mit Verwunderung notierte er, dass er viele Türken kennen lernte, die die Pest mehrmals überlebt oder die Angehörige gepflegt hatten, ohne sich angesteckt zu haben. „Die Seuche ist also nicht ganz allgemein und unvermeidlich.“ Die Symptome waren Kopfschmerzen, die in Raserei endeten oder Nierenschmerzen, Kolik und Erbrechen. Behandelt wurde mit Schwitzbädern und Reiswasser. Zu denken gab den Betroffenen die Beobachtung, dass Aussätzige angeblich niemals die Pest bekamen. Riedesel führte eine Theorie der Entstehung an:
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„Die Hitze bringt Feuchtigkeit zur Gärung, kalter Wind verstopft die Poren, so daß der Schweiß nicht entweicht. Die Feuchtigkeit geht in Fäulnis über, fließt in die Lymphe und bringt die Pest hervor.“19 In Konstantinopel brach sie alle drei bis fünf Jahre aus. Daneben wurde die Stadt alle fünf bis acht Jahre von Feuersbrünsten heimgesucht und alle acht bis zehn Jahre von Erdbeben, trotzdem blieb Riedesel drei Monate. Der Freiherr war aufgeschlossen für alle Lebensbereiche: „... wenn das weibliche Geschlecht zu Samos ehemals eben so häßlich war, als es itzt ist, so darf man sich nicht wundern, daß die Verehrung der Juno hier vor der Venus den Vorzug hat und daß man hier gar keine Reizung hatte, die eheliche Treue zu brechen.“ Maßstab sind ihm eigene Klischees. Schade nur, dass er damit den Vorurteilen über angebliche Nationalcharakter Vorschub leistete, die bis in die Schulbücher Eingang fanden. Von den zeitgenössischen Griechen vermittelte er ein ganz übles Porträt aus Falschheit und Betrug, die er auf die Mischung mit Türken und Venetianern zurückführt, „die das schöne griechische Blut verdorben haben.“20 Er hielt es den Griechen zugute, dass sie von den Römern sehr erniedrigt waren und deren Kaiser vergötterten. „Als elende Sklaven küßten sie die Ketten, die sie trugen und hatten das Schicksal aller zu freyen Nationen, einer despotischen Regierung unterjocht zu werden. Ebenso wie die Römer und die Türcken, die ehemals freie Skythen waren; ein Schicksal, das auch den Britten unter Cromwell drohte.“21 Nun verglich er sie mit einem kindisch gewordenen Greis, der sich von seiner Magd, in diesem Fall den Türken, regieren lässt.22 Das mache sich bemerkbar in ihrer Ausschaltung von wichtigen Posten. „Die türkische Regierung hat die Griechen von allen Gegenständen der ehrgeizigen Eifersucht eingeschränkt, von allem bürgerlichen Glück ausgeschlossen, außer von den Regierungen der Walachei und Moldau oder Dolmetscher der Pforte.“ Entzückt versöhnte ihn, wie jeder Grieche offenbar die Antike schätze, denn jeder habe ein kleines Flachrelief über seiner Türe. Athen hatte damals 10000 Einwohner und Riedesel wurde unter anderem von Krankheit drei Monate dort festgehalten. In dieser Zeit fiel ihm auf, dass sich keine griechische Frau von Stande auf den Straßen, ja selbst nicht in ihren Häusern sehen ließ, auch
dies Einfluss des Islams. Dabei vermisste er eine lebendige Fortsetzung der alten Kulturhöhe bis in seine Zeit, die Skythen hätten das Talent für Malerei und Bildhauerei erstickt. Vielleicht sprach Reisemüdigkeit aus dem Kommentar über Konstantinopel (Istanbul): „Vom Meer aus Konstantinopel zu sehen, reicht.“ Er schreibt voll Abscheu von den schlecht gepflasterten kotigen Straßen, den hölzernen Häusern, „die wie die Häuser der Juden ... in Frankfurt am Mayn gebaut sind, deren kleine nach der Straße herausgehenden Erker sie noch dunkler und enger machen.“ Viele Märkte waren noch vom letzten Erdbeben beschädigt, obwohl die Holzhäuser den Schwingungen besser nachgaben. An der Ostküste des Mittelmeeres besuchte er nur Ephesus, viel mehr an archäologischen Stätten war damals nicht bekannt. 1771 lebte Riedesel in Berlin. Der preußische Kammerherr ging 1773 als Gesandter nach Wien, wo er 1785 nach einem Reitunfall starb. Der zweite Riedesel, den es weit in der Welt herumführte, war Friedrich Adolf. Im Hohhaus in Lauterbach als zweiter Sohn von Johann Wilhelm (1705–1782) und Sophia von Borcke (1705–1769, am 3. Juni 1738 geboren,23 ging er zusammen mit dem jüngeren Bruder Johann Conrad beim Pfarrer von Frischborn „in Kost und Lehre“. Das bereitete ihn mehr als mangelhaft auf sein Studium vor. Auf
Wunsch des Vaters schrieb sich der Fünfzehnjährige an der Universität Marburg für Jura zwar ein. Statt die Seminare zu besuchen, trieb er sich mit Vorliebe als Zuschauer beim Exerzieren der in Garnison liegenden hessischen Soldaten herum. Der Kommandeur des hessischen Infanteriebataillons behauptete, er kenne Adolfs Vater und werde ihn überreden, der Offizierslaufbahn seines Sohnes zuzustimmen. Kurze Zeit später gab er vor, das Einverständnis des Vaters sei eingetroffen. Als Adolf glücklich nach Hause schrieb und sich bedankte, flog der Schwindel auf. Der Vater kannte diesen Major nicht, verurteilte den Wechsel der Berufswahl und entzog dem Sohn jegliche künftige Unterstützung. Er möge zusehen, wie er sich durch die Welt schlage, eine Haltung, die auch mit der Zeit nur wenig gelockert wurde, obwohl die Armee kein ausgefallenes Betätigungsfeld in dieser Familie war. Von 1755 bis Herbst 1756 befand sich das Marburger Regiment als Söldner in England, lag aber nur in Garnison. Die deutschen Soldaten waren wohl ungebildeter und im Umgang derber als die britischen und wurden von jenen herablassend behandelt, weil sie in deren kolonialerfahrenen Augen hinterwäldlerisch wirkten. Riedesel lernte die Hofsprache Französisch und ein wenig Englisch, so dass er dann Empfehlungsschreiben für Kontakte nutzen konnte.
Stammbaumausschnitt Riedesel
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Mit Beginn des Siebenjährigen Krieges wurde die Truppe als englischer Beitrag in den Krieg nach Deutschland geschickt. Der neunzehnjährige Riedesel begann seine eigentliche Karriere als Meldereiter bei Herzog Ferdinand v. Braunschweig.24 In dieser Position baute er seinen Einfluss aus, so dass er bald zum Adjutanten und Generalstabsoffizier befördert wurde. Er überbrachte die Befehle und konnte bei der Überwachung der Ausführung Vernachlässigung und Unterschlagung verhindern.25 Da er jedoch nicht bei einem Regiment stand, wurde er längere Zeit bei Beförderungen übergangen. Nach der Schlacht bei Minden (1. August 1759) überbrachte er die Siegesbotschaft dem Landgrafen, seinem Kriegsherrn. Mit demselben Brief bat Ferdinand, den Überbringer zu belohnen. Der Landgraf ernannte den Fähnrich zum Rittmeister, womit er zwei Dienstgrade übersprang, und übergab ihm eine Schwadron des blauen Husarenregiment (himmelblaue Jacke mit weißen Schnüren und roter Hose), das prachtvollste, was man damals sehen konnte. Der König von Preußen wollte ihm den Rang eines Kapitäns verleihen, aber Riedesel lehnte ab. In diesen Jahren beteiligte er sich in wechselnden Aufgaben im Hauptquartier und an zahllosen Scharmützeln gegen die Franzosen im nordhessischen Raum.26 Da er 1761 schon wieder benachteiligt wurde, erbat er verärgert seinen Abschied. Um dies zu vereiteln, wurde er sofort zum Oberstleutnant ernannt und erhielt das Kommando des herzoglichen Husarenregiments. Im Sommer 1762 verlagerten sich die Kämpfe nach Oberhessen. Bei Oberweimar erwischte ihn im August eine französische Flintenkugel in der Brust, mit der er weiterfocht, bis er wegen des Blutverlusts bewusstlos vom Pferd fiel. Der Erbprinz kämpfte unterdessen bei Grünberg, verschanzte sich in Stangenrod, sein Gegner, der Prinz Condé, wich nach Gießen aus. Aus Grünberg schrieb er: „Mein lieber Riedesel, Sie versetzen mich durch die Mittheilung, daß Sie verwundet sind, in den größten Schrecken. Ich bitte Sie, sich künftig mehr zu schonen ...“27 Zur Pflege wurde er nach Arolsen transportiert, war aber im September wieder im Dienst. Das Angebot zur Pflege in Minden durch die sechzehnjährige Friederike Charlotte Luise von Massow, auf die er ein Auge geworfen hatte, lehnte er ab. Der Herzog selbst spielte nach Friedensschluss für ihn den Brautwerber bei
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Staatsminister Julius von Massow und richtete die Hochzeit 1762 im Hauptquartier in Neuhaus aus. Vater Riedesel konnte nicht viel beisteuern, da er noch drei weitere Söhne zu versorgen hatte und während des Krieges zu Fouragelieferungen an die Truppen gezwungen worden war. Dafür stand ihm zwar eine Bezahlung zu, aber die Kriegsparteien waren pleite. Die illustren Gäste der Hochzeit ließen sich malen und schenkten dem Bräutigam die Bilder, die im Lauterbacher Schloss bei den Unruhen 1848 vernichtet wurden. Nach der Hochzeit lebte das Paar mehrere Jahre friedlich in Wolfenbüttel und der junge Mann pendelte nach Braunschweig, wo er als Adjutant des Herzogs diente und sich aus Kostengründen auf die nötigste Anwesenheit bei Hofe beschränkte. Der Oberst und Kommandeur eines Dragonerregiments wurde am 16. Januar 1767 Vater eines Sohns, der unter seine Paten außer der Königin von Preußen, Prinzen, Prinzessinnen und Herzöge zählte. Entsprechend lang war seine Vornamensliste. Er starb Ende desselben Jahres. Auch das zweite Kind, Philippine, starb im ersten Lebensjahr. Als General führte Friedrich die braunschweigischen Hilfscorps in englischem Sold an, die in Amerika für Ruhe in den empörten Kolonien sorgen sollten.28 Über die folgenden Jahre, in denen er keine Gelegenheit fand sich auszuzeichnen, sind wir durch die Herausgabe seiner Briefe genauer informiert. Darüber hinaus vermittelte uns seine Frau ein anschauliches Bild dieses Amerikaabenteuers. Sie veröffentlichte ihre Briefe, die sie an die in Berlin lebende Mutter geschrieben hatte, als Buch. Die sehr plastisch und natürlich geschriebene Publikation erlebte 1801 die zweite Auflage. Ein besonderer Reiz besteht in dem Kontrast zwischen ihrer Energie, Ausdauer und Lebenstauglichkeit zu dem Bild, das man sich von einer verwöhnten Adligen im Allgemeinen macht. Gleichzeitig lernen wir ein Paar kennen, das auf dieser „Dienstreise“ nicht fürsorglicher und liebevoller miteinander hätte umgehen können. Das Buch wurde schon bald nach seinem Erscheinen in mehrere Sprachen übersetzt und gilt heute als wichtige Quelle für die frühe Geschichte Kanadas sowie der in der Entstehung begriffenen Vereinigten Staaten von Amerika. Im Jahre 1776 brach Friedrich auf mit dem Wunsch, dass seine Gemahlin mit den Kindern folgen solle, sobald sie nach der dritten Entbindung
reisefertig sei. Sehnsüchtige Briefe aus Quebeck überbrückten die Zeit länger als vorgesehen. Als sie endlich startete, war das älteste Mädchen Gustchen vier Jahre und neun Monate, das zweite Friederike (Fritzchen) zwei und das jüngste, Caroline, zehn Wochen alt. Begleitet wurden sie während des ganzen Abenteuers von Förster Rockel.
Friederike Charlotte Louise geb.v. Massow, Gemälde von Tischbein d. Ä., 1762
Die Freifrau handelt patent und unerschrocken, ganz im Gegensatz zu ihrer Kammerjungfrau, die „ihre Lage verwünschte und sich die Haare raufte. Ich bat sie, sich zu beruhigen, weil man sie sonst für eine Wilde halten würde.“ Nur selten verließ sie der Mut. So wurden sie in Maastricht vor Straßenräubern gewarnt. Gerade kürzlich habe man hundertdreißig hingerichtet, aber das sei nur ein Viertel der Verbrecher. Nun hatten sie so langsame Pferde erwischt, dass sie ihren Bestimmungsort noch nicht erreicht hatten, als die Dämmerung bei Durchquerung eines Waldes hereinbrach, „wo etwas Hängendes mir durch das offene Fenster in den Wagen hereinschlug. Ich fasste danach, und als ich etwas raues fühlte, fragte ich, was es sei. Es war ein Gehängter mit wollenen Strümpfen.“29 Beim Aufenthalt in England lernte sie die Sprache innerhalb von ein paar Wochen so weit, dass sie die Zeitung lesen konnte. Selbst die Königin wollte die
mutige Frau kennen lernen. Nach der Vorstellung bei Hofe reiste sie am 16. April von Portsmouth ab. Auf ihre dringlichen Bitten gliederte ihr Mann sie als eine von vier Offiziersfrauen in den Tross ein, als am 20. Juni die Armee abmarschierte. Einmal war sie gezwungen, auf einer Insel halt zu machen, weil es zu gefährlich war, nachts auf dem Fluss weiterzufahren. Da sie mit dem Aufenthalt nicht gerechnet hatte, fehlte etwas Essbares. Schlafen war auch unmöglich, da die begleitenden Soldaten um das unbewohnte Haus ein Feuer entzündeten und die ganze Nacht Lärm machten. Am anderen Morgen erfuhr sie den Grund: Klapperschlangen. Auf der Reise von Trois Riviére nach Fort John schmeckte ihr Bärenfleisch, aber oft fehlte es an allem. Sie zog Vergleiche zu anderen Feldzügen, war also erstaunlicherweise öfter bei derlei Unternehmungen anwesend. Während im Siebenjährigen Krieg alle Truppenbewegungen sehr geheim blieben, waren diesmal die Offiziersfrauen informiert. Dementsprechend war auch der Feind auf das Erscheinen der Truppen vorbereitet. Mit etwas Glück ergatterte sie eine Kalesche. „Wir kamen durch unabsehbare Wälder und herrliche Gegenden, welche aber verlassen waren, weil alle Einwohner vor uns flohen und die Armee des amerikanischen Generals Gates verstärkten. Es kam uns das in der Folge theuer zu stehen, weil jeder Einwohner daselbst von Natur Soldat ist und sehr gut schießen kann ...“
Friedrich Adolf Riedesel, Gemälde von Johann Heinrich Schröder, um 1795
Ihr Mann hielt sich bei den Soldaten im Zelt auf. „Ich blieb circa eine Stunde hinter der Armee
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und besuchte meinen Mann alle Tage im Lager ... meistens kam er zum Mittagessen zu mir.“ Dort, wo ein längerer Aufenthalt erwartet wurde, baute man für die Generalsfrau ein Blockhaus, das in Flammen aufging, wenn das Kriegsglück sich wendete. „Nicht weit von mir flogen viele Kanonenkugeln.“ Denen muss man halt ausweichen. Sie hält auch keineswegs mit ihrer Meinung zur Kriegsführung hinter dem Berg. Bei einem Rückzug begegneten ihr viele „Wilde“ in ihrer Kriegskleidung und Flinten. Auf meine Frage, wo sie hingingen, riefen sie mir zu: „War! War!“ (Krieg!) Statt der erwarteten Mittagsgäste, wurden auch schon mal tödlich Verwundete hereingetragen. In einem solchen Falle räumte sie den Tisch weg, um Platz für Betten zu schaffen. Selbst die zusätzliche Schwierigkeit von kleinen Kindern im Schlepptau meisterte sie selbstverständlich, ohne viele Worte zu verschwenden. „Fritzchen fürchtet sich30 und wollte oft anfangen zu weinen, und ich musste, damit wir dadurch nicht entdeckt würden, ihr das Schnupftuch vor den Mund halten ... mein Mann schlief drei Stunden in meiner Kalesche mit dem Kopf an meiner Schulter.“ Mitunter fanden sie zwar Unterschlupf in einem Bauernhaus, mussten aber allerlei Schikane der Bewohner über sich ergehen lassen. Als ihre Unterkunft einmal unter Beschuss geriet, verkrochen sich die Frauen und Verwundeten in den Keller und mussten dort auch ihre Notdurft verrichten. Am nächsten Tag, als wieder Ruhe eingekehrt war, ordnete sie die Reinigung an, „weil sonst alle krank werden“, und räucherte mit Essig. Beim Auskehren zählte sie elf Kanonenkugeln, die durchs Haus geflogen waren. „Wir konnten sie deutlich über unsere Köpfe hinweg rollen hören.“ Bei allem Kampfgetümmel fand ihr Mann die Zeit, nach ihrem Befinden zu fragen und sein Wohlsein mitzuteilen. Danach versorgte sie sechs Tage lang die Verwundeten. Riedesels 3000 Hessen startetenin gutem Zustand, waren aber schlecht für den Kampf in der Wildnis gerüstet. Als General John Burgoyne nach dem SaratogaFeldzug 1777 kapitulierte, zog Friederike mit ins amerikanische Kriegsgefangenenlager. Zunächst fand sie nichts an der Behandlung der gefangenen Offiziere auszusetzen. Für die Ernährung mussten sie allerdings selber sorgen, ihr Mann zudem auch für die des Adjutanten, des Quartiermeisters und anderer. Von der Bevölkerung wurde ihnen fast
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alles gestohlen und zu kaufen gab es nichts. Dass dieses Arrangement nicht so ganz üblich war, zeigte die Neugier des Volkes, das die deutsche Generalin besichtigen kam. Riedesel war gewillt, bei seinen Soldaten auszuharren. Während von den englischen Soldaten mehr als sechshundert desertierten, waren es unter den hessischhanauischen nur einundvierzig.31 Verführt wurden sie dazu auch durch Landversprechungen. Die Gefangenen wurden im November 1778 von Boston nach Colle in Virginia beordert, wofür sie zwölf Wochen unterwegs waren.32 Eine Tagereise vom Ziel entfernt hatten sie nur noch Tee, jeder ein Butterbrot und eine Handvoll Trockenfrüchte. Die Bevölkerung wollte den Feinden nicht mal etwas verkaufen. Als der Gefangenenaustausch scheiterte, war Freifrau von Riedesel wieder schwanger. Bei einem Vertreter der mährischen Brüdergemeinde fühlte sie sich zwar aufgehoben, aber zu ihrer Entrüstung wollte der für die Gemeindelogis für die 14 Mann, um die sie sich zu kümmern hatte, nach sechs Wochen über 32000 Dollars (= 400 Guineen). Die sparsame Hausfrau notierte aufgebracht die hohen Preise in New York (1 Pfd. Fleisch kostete 12 Groschen, 1 Himten Kartoffeln 2 Reichsthaler). Allerlei Merkwürdigkeiten berichtete sie nach Deutschland: „Ich sah während meines Aufenthalts in der Nähe von Ney York öfters Leute, die man bis an den Hals in Erde gegraben hatte und auf diese Art Skorbut kurierte.“ Ein Beleg ihrer Aufgeklärtheit ist die Tatsache, dass sie ihre Kinder gegen Pocken impfen ließ!33 Verheerende Stürme versetzen sie in Sorge erschlagen zu werden. „Wir hatten einen Sturm, dass wir glaubten, das ganze Haus würde einstürzen, wie denn auch wirklich eine ganze Balustrade mit einem gräulichen Geprassel herabfiel.“ Im Winter erlebten sie 4–5 Fuß Schnee. Trotz Holzknappheit ließen es sich die Gefangenen nicht nehmen, den Geburtstag der englischen Königin zu feiern. Friederike wurde die Ballkönigin. Für 100 Guineen bauten sie ein Haus und litten im Sommer unter Hitzefrieseln, der General unter Kopfschmerzen. Drei bis vier Monate lang begleitete sie beständige Furcht vor Klapperschlangen, die Früchte wurden von Holzböcken gefressen. Die halbe Nacht jagten sie Fledermäuse, die dreimal so groß waren wie in Deutschland. Dennoch resümierte sie: „Doch waren wir sehr vergnügt, nur
mein Mann war traurig und konnte die Hitze nicht ertragen“ (seit einem Sonnenstich). Ein Einheimischer war vom Gesang der Freiherrin so entzückt, dass er sie nach dem Lohn fragte. Zum Scherz sagt sie, dass sie dafür eine Bezahlung in Butter nähme und amüsierte sich königlich, als der das ernst nahm und ihr wirklich Butter brachte. Natürlich verzeichnete sie auch Beobachtungen zur Sklaverei. „Die Gutsbesitzer in Virginia haben viele Negersklaven und halten sie schlecht. Viele lassen sie bis ins 15. oder 16. Jahr nackend gehen und das zeug, welches sie ihnen dann geben, ist kaum des Tragens wert ... Sie sehen es als ein Unglück an, Kinder zu bekommen, weil diese wieder Sklaven ... werden.“ Neben aller Organisation fand sie noch die Zeit Schmetterlinge zu sammeln. Zwei Kollektionen verlor sie bei einem Wagenunfall. Am 7. März34 schenkte sie einer vierten Tochter das Leben, die auf den Namen America getauft und vierzehn Monate lang gestillt wurde. Während ihrer Wochenbettzeit lagen zwei Kinder mit Asthma darnieder, aber auch das konnte die Freifrau nicht umwerfen. „Alle Woche ein Männer-Dinner und alle liegen mit Fieber außer Pastor Mylius und Förster Rockel.“ Zeitweise pflegte sie zwanzig Kranke. 1781 durften die Gefangenen nach Kanada zurückkehren. Drei Sklaven, die sie einem Rebellen abgenommen hatten, wurden von diesem zurückgefordert, nachdem er für die englische Sache gewonnen war. Es fiel der ganzen Familie schwer, sie gehen zu lassen. Die Sklaven wollten lieber bei Riedesels bleiben, besonders eine junge Frau, aber die Deutschen konnten den hohen Preis (30 Guineen pro Person) nicht bezahlen. Die Freifrau erfuhr später, dass diese Frau drei Personen gebeten habe, sie nach Europa mitzunehmen, und behauptete, die Freifrau werde die Überfahrt bezahlen. Die Angesprochenen hatten dies nicht geglaubt. Friederike schreibt, sie hätte die Kosten übernommen. Per Schiff ging es zunächst nach Halifax und dann nach Quebec. In Sorel wurde ihnen wieder ein Haus gebaut und Friederike legte einen großen Garten an, hielt Geflügel, Schweine und Kühe, denn sie hatte zweiundzwanzig Mann zu verköstigen. Sie vermerkte über die Indianer, ihr Mann werde von den „Wilden“ geliebt, einer wollte ihm sogar seine Frau schenken und war verärgert über die
Ablehnung.“ In der Gemächlichkeit des Haushalt wurde 1782 die kleine Canada geboren, die leider nach fünf Monaten starb, weil sie zu früh abgestillt werden musste. Der beiderseitige Kulturaustausch funktionierte exzellent. Während Familie Riedesel in Sorel den ersten Weihnachtsbaum auf diesem Kontinent aufstellte,35 bekamen auf Adolfs Anregung hin die Soldaten im strengen Winter Mokassins und Schneeschuhe. Im Jahre 1783 kehrten die Truppen nach Deutschland zurück. Der General erhielt einen Sold von 150 Pfd. (1050 Thaler) jährlich aus England. Zu kurz war die Visite im Buckinghampalast, der Empfang bei der Königin ganz zwanglos. Pfarrer Mylius und Tochter Auguste verdarben sich allerdings an Austern den Magen. Das Herzogtum Braunschweig musste nach dem Siebenjährigen Krieg einen strikten Sparkurs verfolgen, denn eine Menge invalider Veteranen musste nun versorgt werden. Riedesel sorgte sich in der Garnison dafür, dass Soldaten lernten sich selbst zu frisieren, um Kosten und Zeit zu sparen.36 Nach einer Kur in Schlangenbad ordnete er Familienangelegenheiten in Lauterbach, wo sein Vater gestorben war.
Schloss Hohhaus, Lauterbach, Wohnsitz der Familie ab 1767
Er war von Herzog Ferdinand so respektiert, dass dieser ihn hinsichtlich der militärischen Erziehung der Prinzen um seine Meinung bat. Besonders der kränkliche jüngste, Wilhelm, den er nach Wunsch des Vaters unter männliche Zucht nahm, bewies ihm große Anhänglichkeit.37 Im Jahre 1787 zog es ihn mit einem Hilfscorps von 3000 Mann nach Holland. In Maastricht wurden sie belagert, der Generalleutnant war jedoch häufig krank und zur Kur, sein Bruder Johann Konrad Riedesel vertrat ihn zeitweise. Adolf ließ sich gegen seine Kopfschmerzen Blutegel anlegen, darüber hinaus litt er an einem „Wasserbruch“, den er in Berlin operieren lassen musste. Der Herzog ernannte den sichtlich geschwächten Adju-
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tanten und Oberbefehlshaber der Truppen zum Kommandanten von Braunschweig. Silvester 1799 ritt Adolf aus und tanzte, sein Unwohlsein beim Neujahrsempfang überging er. Am Dreikönigstag 1800 erlag er im Schlaf einem Schlaganfall. Der
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Kurfürst von Hessen Wilhelm I. verlieh ihm das Großkreuz seines Hausordens vom Löwen. Seine Frau starb 1808 im Alter von 62 Jahren. Beide sind in Lauterbach beigesetzt. Mit der Tochter seines Sohnes Georg starb dieser Familienzweig aus.
1 1542 nennt Martin Luther als Taufpaten seines Sohnes einen Johannes Rietesel. Dieser hatte Besitzungen bei Neumark (Weimar) E. E. Becker, Vom ersten Auftreten des Names bis zum Tode Hermanns III. Riedesel 1500, 1923; ders. Riedeselisches Urkundenbuch 1200 bis 1500, Marburg 1924; ders. Vom Tode Hermanns III. Riedesel 1501 bis zum Tode Konrads II. 1593, Marburg 1927; Fritz Zschaeck, Vom Tode Konrads II. 1593 bis zum Vertrag mit Hessen-Darmstadt 1593– 1713, 1957; K. S.Baron von Galera, Vom Reich zum Rheinbund: Weltgeschichte des 18. Jahrhunderts in einer kleinen Residenz, Neustadt a.d. Aisch, 1961; ders. Wege zu neuen Lebensformen 1806–1918, 1965; K.-A. Helfenbein, Die Riedesel in republikanischen Staatsformen 1918–1965, 2003. 2 M. v. Eelking, Leben und Wirken des herzoglich braunschweigischen Generalleutnants Friedrich Adolf Riedesel Freiherrn zu Eisenbach, Leipzig 1856, 2. 3 In den 1980er Jahren erloschen. 4 Der Erbmarschall war Mitglied der Ersten Kammer in den hessischen Landständen, nach der Okkupation Kurhessens durch Preußen mit Sitz im preußischen Herrenhaus zu Berlin. 5 Dichter, Maler, Bildhauer, Architekten bildeten in Rom eine deutsche Künstlerkolonie. 6 M. Dönike, Pathos, Ausdruck und Bewegung: zur Ästhetik des Weimarer Klassizismus 1796–1806, 2005; M. Oberle, Die literarische (Wieder)entdeckung Siziliens am Beispiel der Reisebeschreibungen von Riedesel, Goethe und Seume, 2005 [https://www.hausarbeiten.de/document/110349] (Zugriff:19.8.2019); H. Fischer-Lamberg (Hrsg.) Der junge Goethe Bd.4, 1999. 7 J. M. Morrison, Winckelmann and the Notion of Aesthetic Education, Oxford 1996, 274. 8 Reise durch Sizilien und Großgriechenland, Zürich 1771; Bemerkungen auf einer Reise nach der Levante, Leipzig 1774 (im Original französisch). 9 Beschreibung Griechenlands aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. 10 P. v. Tournefort, Beschreibung einer auf königlichen Befehl unternommenen Reise nach der Levante, Nürnberg 1741. 11 Siehe Forster. 12 Sizilien 250. 13 Sizilien 25. 14 Reisen nach Italien. Tagebücher, Briefe, Zeichnungen, Aquarelle, Berlin 1979, 102. 15 Sizilien 202. 16 Schinkel 1979, 76. 17 Sizilien 102. 18 Von 1716 bis 1718 lebte Lady Montagu in Istanbul, Frau des englischen Botschafters. Sie wurde dort Zeugin von Pockenschutzimpfungen, ließ ihre Kinder dort impfen und überzeugte den englischen König vom Nutzen. 19 Hier ist zu bedenken, dass wahrscheinlich mehrere heutige Krankheiten damals als Pest bezeichnet wurden. 20 Bemerkungen auf einer Reise nach der Levante, Leipzig 1774, 73. 21 Einhundert Jahre zuvor regierte er England, Schottland und Irland während der kurzen republikanischen Periode der britischen Geschichte. Ursprünglich einfacher Abgeordneter des Unterhauses, dann Feldherrn des Parlamentsheeres. Die Hinrichtung Karls I. beendete alle Versuche der Stuarts, England in einen absolutistisch regierten Staat umzuwandeln. 22 Bemerkungen auf einer Reise nach der Levante, Leipzig 1774, 156. 23 Als eines von sieben Kindern des Johann Wilhelm (1705–1782) und Sophie Hedwig v. Borcke: u. a. Wilhelm Hermann (1735–1764), Karl Georg (1746–1819), Johann Konrad. 24 Leicht gehandicapt durch eine im Biwak erfrorene und dann amputierte Zehe. 25 ADB Bd. 28, 1970 und M. v. Eelking, Leben und Wirken des Generals ... 3 Bde., Leipzig 1856. 26 Ausführlich mit Briefen belegt bei M. v. Eelking. 27 Detaillierte Darstellung der Kämpfe in Oberhessen. M. v. Eelking, Bd.1, 238. 28 Söldner stellten u. a. Hessen-Kassel, Hessen-Hanau und Waldeck. 29 Die Berufsreise nach Amerika. Briefe der Generalin von Riedesel während ihres sechsjährigen Aufenthalts in America, 2. Aufl. Berlin 1801, 40. 30 a. a. O. 174. 31 M. v. Eelking Bd.2, 250. 32 Der Effekt des Sieges war enorm. General Gates wurde als „Held von Saratoga“ bekannt. Der Sieg gab außerdem dem jungen amerikanischen Staat, der unter dem Schock der Okkupation Philadelphias stand, die so sehr benötigte Schwungkraft. Nicht lange danach erklärten Frankreich, Spanien und die Niederlande Großbritannien den Krieg. 33 a. a. O. 250. 34 M. v. Eelking schreibt den 8. März Bd.2, 335. 35 Vor dem ehemaligen Hauptquartier der Braunschweiger Truppen erinnert noch heute eine Tannenbaumsilhouette daran. 36 M. v. Eelking Bd.3, 3. 37 In Briefen bezeichnet er ihn als: ... mein guter General ... und schreibt später: „Dero Frau Gemahlin und Fräulein Töchtern empfehle ich mich zu fortdauerndem Andenken ... denn gewiss bin ich ihr für viel Geduld und Freundschaft verbunden. Mit Freuden erinnere ich mich noch der Kinderspiele in Ihrem Haus und Ihrer Erfindung.“ Eelking Bd.3, 25.
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Lieber Förster im Dschungel als arbeitslos Sir William Schlich Am 28. Februar 1840 wurde Wilhelm Schlich als zehntes von vierzehn Kindern eines Pfarrers im rheinhessischen Flonheim im Kreis Alzey geboren.1 Er wurde auch in Flonheim noch eingeschult, aber nach einem Jahr zog die Familie nach Langgöns und sein Vater setzte selbst die schulische Erziehung fort. 1851 besuchte er die Vorbereitungsschulen in Groß-Gerau2, Essenheim und Schotten, wo er vermutlich jeweils bei Verwandten untergebracht war. Wilhelm legte 1857 in Darmstadt sein Abitur ab3 und begann auch dort mit dem ersten Semester Mathematik und Physik. Dann wechselte er für ein Semester Mathematik nach Gießen, studierte eine kurze Zeit lang Maschinenbau in Karlsruhe, und 1859 kehrte er nach Gießen zurück, um sich bis 1862 der Forstwissenschaft zu widmen. Professor Gustav Heyer4 hielt ihn für seinen besten Schüler und zog ihn als Nachfolger in Erwägung.5 Nach dem mit Auszeichnung bestandenen Schlussexamen absolvierte er seinen Vorbereitungsdienst in der Regierung Darmstadt und dem Forstbezirk Viernheim, legte die Große Forstliche Staatsprüfung 1865 ab und wurde Anwärter auf eine Anstellung im Staatsdienst als Assistent des Oberförsters von Homberg/Ohm. Bis zum Antritt der Stelle widmete er sich unter Heyers Anleitung im Revier seines Onkels Friedrich Frank in Merlau betriebswirtschaftlichen Fragen, die in eine Dissertation verarbeitet werden sollten. Ohne diese eingereicht zu haben, wurde er am 20. Juli 1867 in absentia promoviert,6 als sein Leben bereits eine ganz andere Richtung eingeschlagen hatte. Der Preußisch-Österreichische Krieg machte ihm einen Strich durch seine beruflichen Zukunftspläne. In dessen Folge verlor das auf Seiten Österreichs kämpfende Großherzogtum Hessen Kurhessen, Biedenkopf und Homburg an Preußen, Schlich war somit unvermittelt stellenlos, die Berufsaussichten drastisch verschlechtert. Deshalb kam ihm Dietrich Brandis7 sehr gelegen. Dieser Botanikprofessor hatte als Generalinspekteur seit 1856 in Indien die Forstwirtschaft aufgebaut und bereiste auf Heimaturlaub Europa, um junge Forstleute für Britisch-Indien anzuwerben. Die deutsche Forst-
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wissenschaft hatte nämlich europaweit einen ausgezeichneten Ruf. Sogar die meisten Anwärter auf den holländischen Forstdienst in Java waren in Deutschland ausgebildet.
Sir William Schlich
Als 26-Jähriger trat er auf Heyers Empfehlung in das indische Forstdepartement ein, zunächst von 1866–1870 als Assistant bzw. Deputy Conservator of Forests von Burma. Er fiel frühzeitig nicht nur durch seinen ungewöhnlichen Fleiß auf. Angeleitet von Brandis war seine Aufgabe, unter äußerst schwierigen Bedingungen die Teakholzwälder von Rangoon und die wenig bekannten PyinkadoForste von Arakan zu erforschen und zu betreuen. Brandis hatte sich zuerst auf die Wälder Burmas gestürzt, weil hier besonderer Raubbau betrieben wurde. Die Encyclopedia Britannica vermerkt in der 11. Ausgabe, „dass die Wälder von Burma die besten von Britisch Indien seien und eine der wichtigsten Quellen des Reichtums des
Stammbaumausschnitt Schlich
Landes.“ Im ersten Burmesischen Krieg 1826 besetzte England Tenasserim, weil dort wichtige Teakholzbestände vermutet wurden, die für den Schiffsbau außerordentlich begehrt waren. „Die Nachfrage danach war tatsächlich so groß, dass die Annexion des Landes hauptsächlich aufgrund seines Holzes stattfand. Die Schwierigkeiten mit einer britischen Forstkompanie waren Ursache des dritten Burmesischen Krieges 1885.“ Selbst nach der Einführung von Metallschiffen war das Holz begehrter als Eiche, weil es im Gegensatz zu dieser ein Öl enthielt, das Eisen und Stahl gegen Rost schützte. Laut des Lexikons entstanden Staatsforste in Burma erst 1891, als Schlich schon wieder den Kontinent verlassen hatte. Bis 1910 sollten sie zwölf Prozent des Gebietes in Form von Reservaten umfassen, wo Teakholz nur kontrolliert
Britisch-Indien 1858
geschlagen wurde. Im restlichen Bereich konnte die Bevölkerung unkontrolliert fällen.8 Schlich erforschte und bewirtschaftete die Bestände dieses burmesischen, gegen Pilze und Parasiten resistenten Eisenholzes, das wegen seines hohen Gewichts nicht allein flößbar war. Außer für den Schiffsbau wurde es zu Eisenbahnschwellen verarbeitet. In den vorangegangenen Zeiten war in Burma ungehemmt abgeholzt worden. Nun wollte England die früheren Fehler vermeiden und eine systematische, gewinnbringende und dennoch schonende Waldwirtschaft in ganz Indien aufbauen. Brandis, der in Schlich seinen Nachfolger heranzog, setzte ihn an den Brennpunkten des Subkontinents ein, bei denen er seine besonderen Fähigkeiten unter Beweis stellen konnte. Zusammen mit Brandis bereiste Wilhelm drei Monate lang intensiv Rangoon, Tharawaddy und Sittang9 und legte einen Bericht vor, der ein Bestandsinventar in Stärkenklassen und Pläne für die Hiebreife von Teakbäumen enthielt. Nach großen körperlichen Strapazen im feuchten Tropenklima konnte er die Altersschätzung nach Durchmesser revidieren, denn die bis dahin als Maßstab verwandten Parkbäume wachsen anders als Waldbäume. In den folgenden zwei Jahren lag sein Schwerpunkt bei den trockenheißen, fast vegetationslosen Halbwüsten am Indus der Provinz Sind (im heutigen Pakistan) und den Galeriewäldern aus Pappeln, Tamarisken und Akazien, die als Feuerholz für die Einheimischen von immenser Wichtigkeit waren. Das Land war extrem arm,
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und die staatliche Verwendung des Holzes für die Dampfschiffahrt beschnitt die traditionellen Nutzungsrechte der Bevölkerung. Schlich war sich bei seiner Arbeit stets bewusst, dass sein Erfolg auf zwei Säulen ruhte: dem Segen, den eine geregelte Forstwirtschaft für die Einheimischen bildet und den Staatseinnahmen.10 Seine Arbeiten enthielten deshalb genaue Berechnungen, welche Kosten bei Pflanzungen oder dem Bau von Forstwegen jetzt entstanden und welcher Profit später dadurch zu erzielen sein würde. Für Kleinholz gab es noch keinen Markt. Deshalb sollte man es stehen lassen – statt kostenintensiv auszulichten – und auf die Überlebensfähigkeit der stärksten Pflanzen vertrauen. Für die Waldarbeiten schlug er Strafgefangene vor. Zwei Jahre später konnten seine Pläne von seinem Nachfolger in die Tat umgesetzt werden, während Schlich Maßnahmen zur Versorgung der Indusbahn mit Nutz- und Brennholz traf.
Dietrich Brandis
Brandis engagierte sich zur gleichen Zeit dafür, dass zentral in Hannover der Lehrstuhl für Forstwissenschaft ausgebaut werden sollte, um dort und in Nancy gezielt europäische Forstleute zum Einsatz in Indien auszubilden. Als Conservator of Forests in Bengalen bereiste Schlich von 1872
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bis 1879 Bengalen, Assam und Bangladesh mit Amtssitz in Kalkutta. Bei zwei Provinzgouverneuren erweckte er tiefgreifendes Interesse für forstliche Belange und erlangte so einflußreiche Förderer. In dieser Zeit heiratete er die Tochter des englischen Ingenieurs in Bengalen William Smith, bekam zwei Kinder und anglisierte seinen Namen. Als sein Sohn und wenig später seine Frau starben, machte sich bei dem unermüdlichen Organisator auf einmal Erschöpfung bemerkbar. Die entbehrungsreiche Arbeit im indischen Dschungel und die Kräfte zehrenden wechselnden Klimata erzwangen ein Jahr Heimaturlaub, den einzigen während seiner ganzen indischen Periode. Ein Jahr wirkte er danach mit besonderem Fingerspitzengefühl als Forstchef von Punjab, obwohl diese wüstenähnliche Provinz bis in die obersten Verwaltungsspitzen hinauf alle forstlichen Maßnahmen ablehnte. Als Generalinspekteur der Forsten von ganz Indien vertrat er Brandis und übernahm nach dessen Pensionierung 1883 den Posten offiziell.
Fortan residierte er am Amtssitz des Vizekönigs. Er gründete eine zentrale Forstabteilung, die entscheidend zur Betriebsregelung der Provinzen beitrug, indem sie fachmännische Überprüfung und Kontrolle ermöglichte, wo vorher die Dienstleistung von individuellen Neigungen einzelner, nicht ausgebildeter Beamter abhing. Er bearbeitete die dritte Neufassung des indischen Forstgesetzes und errichtete eine Forstschule für einheimische Ranger in Dehra-Dan. In der Unterkommission der indischen Forstkonferenz in Allahabad begründete er die bis heute erscheinende Zeitschrift „Indian
Forester“, der ältesten ausschließlich forstlichen Zeitschrift in englischer Sprache und wurde ihr erster Herausgeber. Gegen die Widerstände einflussreicher Kreise, die sich kurzfristige Gewinne aus der ungehemmten Ausbeutung der Wälder erhofften, war es ihm während seiner 19 Jahre in Indien gelungen, die Lebensgrundlage Wald für Millionen von Menschen zu erhalten, in einem Gebiet, das heute vier selbständige Länder umfasst. Er hatte in mehreren Klimazonen praktikable Wirtschaftspläne aufgestellt, Personalstrukturen und Organisationsmuster entwickelt, die Ausbildung des Personals und als Berater der Regierung in allen Fragen der Forstökonomie und -organisation die Verhältnisse verbessert – eigentlich für sich ein Lebenswerk, ein weiteres erwartete ihn. Mit 45 Jahren wurde Wilhelm nach England berufen, um die Forstabteilung des Royal Indian Engineering College Coopers Hill in Englefield Green südlich Windsor zu gründen und die ersten forstlichen Lehrbücher zu verfassen. Weil in Coopers Hill für ihn anfangs keine Stelle im ordentlichen Haushalt vorgesehen war, legte er das Amt des Inspector General of Forests in India offiziell erst 1889 nieder. Zunächst entsprach das Ansehen der Ausbildung einer höheren Handelsschule. In dieser Funktion hatte er eine große Breitenwirkung. Dort lehrte er ab 1885, bis 1905 das Royal Indian Engineering College geschlossen wurde. Ab 1890 unterstützte ihn als Assistent W. R. Fisher, vorher Direktor der Forstschule in Dehra-Dan. Die insgesamt achtzig Studenten verbrachten eine Lehrzeit in deutschen Oberförstereien, z. B. in Dillenburg. Brandis leitete als Pensionär die mehrwöchigen, täglich bis achtstündigen Exkursionen der englischen Studenten durch die deutschen Wälder. Nur wenige von ihnen landeten später in Indien oder in anderen Teilen des Empire. Ihre Zeugnisse liegen noch heute in der India Library and Records in London. 1878 hatte Schlich Adèle Emilie Mathilde Marsily, eine Belgierin mit Waldbesitz, geheiratet und bekam mit ihr einen Sohn und drei Töchter. Königin Viktoria erhob ihren Forstexperten, der 1886 britischer Staatsbürger wurde, in den Adelsstand. Sir William wechselte nach Oxford und erkämpfte in dem elitären Milieu gegen alle Widerstände für die Forstwissenschaft einen festen Platz. Zwölf Schüler folgten ihm nach Oxford. Es war das erste forstliche
Ausbildungsinstitut auf Hochschulebene im Empire. „In der Vorstellung eines Durchschnittsbriten sind die Wälder ungleich weniger bedeutend als das Wild, das sie beherbergen!“ Außer in Indien träfe man überall im Empire auf die gleiche Apathie und Untätigkeit, hatte der weitgereiste Naturwissenschaftler Sir Joseph Dalton Hooker noch 1868 festgestellt.
Teakholzstamm
Die neue Wissenschaft litt anfangs unter Raum- und Geldmangel, Vorbehalte gegen einen stark berufsgebundenen Studiengang und die Beschränkung auf ein Diplom als Abschlussgrad. Schlich stellte den Lehrstuhl auf sichere finanzielle Basis, indem er Unterstützung durch das St. John’s College und das Magdalen College fand. Er musste alle Vorlesungen selber halten, da für Mitarbeiter keine Mittel da waren. 1908 wurden in Cambridge und Edinburgh weitere Ausbildungsgänge gegründet und mit Schlichs Schülern besetzt. Eine größere Anzahl von Bäumen aus Coopers Hill begründete den forstbotanischen Garten in Bagley Wood und bildete den Grundstock für Ertragstafeln dieser Baumarten in Großbritannien. Mit besonderer Liebe widmete er sich der Einbürgerung fremdländischer Baumarten. Von Jahr zu Jahr kamen mehr Studenten und nahmen nach Abschluss ihre Arbeit vorrangig in Indien auf. Darüber hinaus realisierten inzwischen auch andere britische Kolonien die Folgen des Raubbaus ihrer Wälder und das Fehlen kompetenter Verwaltungsbeamter. Die Nachfrage bewirkte anhaltend hohe Studentenzahlen. Ende 1913 gelang es ihm, mit Hilfe ehemaliger Schüler,
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die mittlerweile in mehreren Kolonien hohe Regierungsstellen einnahmen, der Unterstützung des Maharadshas von Travancore, des Indien-Ministers und Zuwendungen von Beamten der indischen Forstverwaltung, Zuschüsse für bis zu fünf Jahre zusammenzusammeln. Während des Krieges musste die forstliche Hochschulausbildung eingestellt werden. Erst nach seiner Pensionierung wurde Sir William in den Rang eines Professors der Forstwirtschaft erhoben, hielt anschließend jedoch noch wenige Stunden Spezialkollegien ab. Um den Lehrstuhl von seiner Person unabhängiger zu machen, kämpfte er um die volle akademische Anerkennung. Sein erster Nachfolger wurde R. S. Troup, zuletzt Assistant Inspector General of Forests in Indien. Schlich erlebte nicht mehr die Gründung des Imperial Forestry Institute (Commenwealth Forstry Institute) 1926, das sein Nachfolger im Nebenamt leitete. Auf Troup folgte ein weiterer Schüler H. G. Champion (Sir Harry) bis 1959. Von einem seiner Studenten, Thomas Bewick, ist der Bericht über eine Exkursion erhalten11, bei der 90 Teilnehmer über Köln, den Rhein entlang bis Frankfurt a. M. fuhren, wo sie der rührige Professor, „a genial and thoughtful gentleman“ (immerhin damals 74 Jahre alt!), in Empfang nahm. Sie durchwanderten außer dem Frankfurter Stadtwald die Forste von Sprendlingen, Schifferstadt, Schönmünzach, Freudenstadt im Schwarzwald und Pfalzgrafenweiler, besichtigten Baumschulen und verfolgten Demonstrationen neuentwickelter Maschinen, die beim Holzschlag eingesetzt wurden, inspizierten Lichtungen und besuchten das Sägewerk Küchler in Rödelheim. Schlich vertrat die Auffassung, dass es günstiger sei, die Saat guter lokaler Bäume zu verwenden als importierte ausländische und dass natürliche Aussaat dem Pflanzen vorzuziehen sei. Bewick hatte nicht nur ein Auge für die Bäume. Aus beiläufigen Beobachtungen zog er den Schluss, die Deutschen müssten ein weises und überlegt vorgehendes Volk sein, denn außerhalb Frankfurts a. M. wurde die Gruppe durch eine Straße überrascht, die aus vier Straßen bestand, einer für Vehikel, einer für Pferde, einer für Fahrräder und einer für Fußgänger! Schlich kommentierte diesen Aufsatz. Man könne nicht das deutsche Forstsystem einfach auf England übertragen, aber einiges abschauen, zur Vorbeugung der Zunahme von Schadinsekten
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die stichprobenartige Zählung von Insekten und die Förderung von Insektenfressern, indem man Nistkästen anbringe. Der Bau guter Wege erleichtere den Abtransport des Holzes. Wenn man zwanzig Jahre umfassende Arbeitspläne aufstelle, könnten sich die Holzkäufer darauf verlassen, bestimmte Holzarten jederzeit zu bekommen. Zu frühes Auslichten koste unnötiges Geld und schade dem geraden Wuchs der Nutzbäume. Insgesamt bildete er 272 indische Fortbeamte aus. R. S. Troup hob Schlichs Fähigkeit hervor, innerhalb bestimmter wichtigster Grundregeln für die schöpferische Lösung forstlicher Probleme in den Tropen anzuleiten, so dass ein Schüler die erlernten Prinzipien im konkreten Fall anwenden konnte. Nach der Pensionierung lagen ihm besonders die englischen Wälder am Herzen.12 Gleich zu Beginn des Ersten Weltkrieges war die Besorgnis gewachsen, dass das Holz für die Kohlegruben knapp werden könnte. Bis dahin war man nämlich auf die 600000 t Kiefernholzimporte aus Frankreich und dem Baltikum angewiesen gewesen. Man wollte auf Kanada als Lieferanten umsteigen, aber die Arbeiter dort waren wesentlich teurer. Durch Einflussnahme auf die großen privaten Waldbesitzer, durch Mitarbeit in Regierungskommissionen, Vorträge und Veröffentlichungen versuchte Schlich, die Praxis einer pfleglichen Waldnutzung im Vereinigten Königreich umzusetzen. Seine Triebfeder waren dabei nicht allein wirtschaftliche Überlegungen, sondern auch sein Wunsch, den Menschen durch eine intakte Umwelt die seelische Gesundheit zu wahren. Den Hebel setzte er bei privaten Waldbesitzern an, mit denen er befreundet war. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs stieg der Waldbestand in England immerhin auf 160000 Hektar. Mit Abflauen der Holznot ließ das öffentliche Interesse wieder nach. Schlich setzte sich in der Königlichen Kommission gegen Erosion und für Aufforstung und in der „Royal English Arboricultural Society“ erfolglos für eine Vergrößerung der einheimischen Waldflächen auf Brachen und auf für den Fruchtanbau ungeeigneten Böden ein und sah die Zukunft der Wälder in einer Verstaatlichung.13 Den von ihm angestrebten Wandel erlebte er nicht mehr. Der private Waldbesitz ist heute nur fast doppelt so hoch wie der staatliche, 1919 war das Verhältnis
noch 1 : 37, die private Betriebsführung wird zudem staatlich überwacht. Schlich beschäftigte sich in Publikationen mit dem Waldbau in Neuseeland, ohne je selbst da gewesen zu sein.14 Dabei vertrat er sehr moderne Ansichten: Er schlug klimatische und sog. szenische Schutzgebiete vor, wo an historischen Stellen oder Quellen Erholungsgebiete für Picknicks unter anderem in den letzten Gebieten, in denen noch nicht alle Kauris (Agathis dammara australis) gefällt waren, einzurichten seien. Die höchsten Ehrungen heimste er in seiner Wahlheimat und im Ausland ein: 1891 erhielt er den Orden „Commander of the Order of the Indian Empire“, 1901 ernannte man ihn zum „Fellow of the Royal Society“, acht Jahre später beinhaltete der „Knight Commander of the Order of the Indian Empire“ den britischen Verdienstadel. Von 1913 bis 1914 war er Präsident der „Royal English Arboricultural Society“ und leitete als solcher eine Exkursion in den Schwarzwald. Aus den USA wurde ihm die Ehrenmitgliedschaft der „Society of American Foresters“ angetragen, wofür er sich mit einem gerührten Brief bedankte. Bedauernd vermeldet er, dass er an den Tagungen aufgrund seines hohen Alters nicht mehr teilnehmen könne.15 Bis zu seinem Ableben wirkte er im Vorstand der Empire Forestry Association. Noch kurz vor seinem Tode beendete er die Bearbeitung der fünften Auflage seines Handbuchs und widmete sie zum Dank dieser Gesellschaft. Dieses Handbuch trug maßgeblich dazu bei, in der Neuen Welt Schlichs ökologische, wirtschaftliche und ethische Prinzipien zu verbreiten. Seine Erfahrungen in Praxis und Lehre brachten es mit sich, dass er sich mit der Forstwirtschaft in ihren globalen Dimensionen befasste, das internationale Fachwissen zusammenfasste und in einfachen Leitund Lehrsätzen transportierte. Insofern gilt er als Wegbereiter einer Forstwirtschaft im Weltmaßstab. Seine Zeitgenossen hoben seine außerordentliche körperliche Konstitution hervor. Erst im Alter durch Schwerhörigkeit gehandicapt, gelang es ihm meisterhaft, für sein Wissensgebiet Begeisterung zu wecken und es strukturiert zu vermitteln. Unermüdlicher Arbeitseifer, Organisationstalent,
Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit waren gepaart mit schöpferischen wissenschaftlichen Gaben und dem Sinn für praktisch Notwendiges, zäher Energie und Beharrlichkeit. Seinen Mitarbeitern fühlte er sich fürsorglich verbunden und erinnerte sich ihrer Eignungen, Leistungen und Schicksale bis ins hohe Alter. In Coopers Hill spielte er noch aktiv Rugby, liebte die Geselligkeit, einen guten Wein und Zigarren und zeigte einen lebensbejahenden Humor.16
Holzeinschlag im Urwald
Am 28. September 1925 erlag er in Oxford einer Bronchitis. Laut C. A. Schenck hörte man ihm seine hessen-darmstädtische Herkunft auch nach fünf Jahrzehnten in englischer Umgebung immer noch an. An vielen Stätten seines Wirkens wurden Gedenktafeln und -steine aufgestellt und Eichen gepflanzt. Darüber hinaus gibt es einen 1917 gestifteten Sir-William-Schlich-Memorial Award, der bis heute siebenunddreißig Mal hervorragende forstliche Leistungen auszeichnete.17
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Auswahl der Veröffentlichungen: Manual of Forestry, London 1889–96. Forestry in the United Kingdom, London 1904. Die Nutzung des Vorrathsüberschusses. In: AFJZ 42, 1866, 217ff. Report on the Pyinkadoh Forests of Arakan. Burma, For. Dep. 1870. Afforestation in Great Britain and Ireland, Dublin 1886.
1 Der Pfarrer beerdigte den ersten Bewohner am 29.8.1818 und traute letztmals am 31. 5.1838 in Groß-Eichen bei Grünberg. In dieser Zeit heiratete er auch selbst am 16.10.1822. Unter den Paten der Kinder finden sich ein Großherzoglich Hessischer Oberstleutnant später Obrist Joachim Schlich in Babenhausen, Christian Frank, Pfarrer in Vöhl; Georg Frank, Pfarrer in Freienseen; Revierförster Frank und seine Frau Margarethe in Niederohmen bzw. Merlau; Wilhelmine Frank, die Frau des Pfarrers in Trais-Horloff; Henriette Schlich (hinterlassene Tochter des Rabenauischen Verwalters Schlich); Amalie Frank, Frau des Pfarrers zu Lich und Friedrich Schlich, Kaufmann in Darmstadt. 2 Bonn, Leihgestern nennt H. E. Knopf, Forstliche Leitbilder. Leben und Werk von P. Engel v. Klipstein, R. A. Heß, Sir William Schlich, 1992, 18. 3 Matrikel des Corps Hassia Gießen zu Mainz 1815–1985; er legte das Abitur an der Technischen Oberschule ab, nicht – wie Knopf behauptet – an der Technischen Hochschule. E. Mammen, Sir William Schlich *1840 +1925 Leben und Wirken eines deutschen Forstmannes in Burma, Indien und Großbritannien. In: Forstarchiv 1965, 33ff. 4 1826–1883. In: K. Mantel und J. Packer, Forstliche Biographie vom 14. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd.1, Hannover 1976, 418f. 5 H. E. Knopf, Sir William Schlich aus Flonheim (1840–1925) Wegbereiter der „Weltforstwirtschaft“. In: HeimatJahrbuch Landkreis Alzey-Worms Bd.21, 1986, 147; R. S. Troup, Sir William Schlichs work in India. Quart. J. F., 1926, 9ff. 6 F. Kössler, Verzeichnis der Doktorpromotionen an der Universität Gießen von 1801–1884, Gießen 1970; im Gegensatz zu den Angaben im Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004. 7 Ältester Sohn von Christian August Brandis, Sekretär des Botschafters Niebuhr in Rom, Kabinettsrat von König Otto v. Griechenland, später Prof. f. Philosophie in Bonn; Enkel des Hausarztes am Kopenhagener Hof (1824–1907). 8 Das burmesische Militärregime finanziert seit 1962 seine Waffenkäufe durch Teakholzverkauf und weist die dritthöchste Vernichtungsrate an Wald nach Brasilien und Indonesien auf. 1992/93 wurden 1 Million Tonnen Teakholz geplündert unter anderem in Schutzgebieten von ethnischen Minderheiten. Aus: Robin Wood Magazin 2/98. 9 H. Hesmer, Leben und Werk von D. Brandis 1824–1907. Abh. der Rhein-westf. Akademie d. Wiss. Bd.58, Opladen 1975. 10 C. A. Schenck, Dr. Wilhelm Schlich. In: AFJZ 100, 1925, 496. 11 Quarterly Journal of Forestry 8, 1914, 1ff; Report on the visits of the Royal English Aboricultural Society to German forests 12 Afforestation in Great Britain and Ireland; Forestry in the United Kingdom, London. 13 W. Schlich, Forestry and the War. In: Quart .J. of. For. 9, 1915, 1–7. 14 Forestry in the Dominion of New Zealand. In: Quart. J. of For. 12, 1918, 1–28. 15 Journal of Forestry 23 (1925) 559. 16 E. Mammen a. a. O. 17 1935 erhielt die Auszeichnung der amerikanische Präsident Roosevelt für seine Verdienste um die Walderhaltung durch Gründung und Förderung des Civilian Conservation Corps.
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Vom Souvenir zum Kinderschreck Zur Geschichte afrikanischer Migration nach Hessen Das Bild, das sich die Europäer vom Fremden par excellence, dem Schwarzen, machten, wandelte sich mehrfach. Je nachdem, welche Erwartungen ihr Gegenüber in den einzelnen Etappen der langen Geschichte dieser Begegnung hatte, resultierten Bewusstseins- und Handlungsstereotypen, die bis heute das Verhältnis zu Afrikanern prägen. Schon früh kamen Menschen afrikanischer Abstammung hierher, einzeln oder in kleinen Gruppen: Männer, Frauen und Kinder. Viele kamen als Unfreie und nicht aus eigenem Entschluss. Wie reagierten die eingeborenen Deutschen darauf? Was wussten sie von den paar tausend Individuen verteilt über mehrere Jahrhunderte? Die Zahl der europäischen Seeleute oder Kolonialbeamten, die in der Lage gewesen wären, zuverlässige Berichte über ihr Herkunftsland abzugeben, war recht klein.
Statue des heiligen Mauritius (um 1240) Magdeburger Dom
Im Gefolge Friedrichs II. (1234) lebten Afrikaner als viel bestaunter Ausdruck höfischen Gepränges, dem die Fürsten der folgenden Jahrhunderte nachstrebten. In der Renaissance und frühen Neuzeit bildeten Handel, Verkehr und höfischer Luxus den Kontext, in dem Afrikaner als vermeintliche Reprä-
sentanten einer orientalischen Kultur zum Inbegriff privilegierten Genusses wurden. Die Sitte, Mohren zu halten, war an deutschen Höfen en vogue. Sogar im Klerus. Papst Pius II. der die Verhältnisse in Deutschland gut kannte, bescheinigte 1457 den deutschen Prälaten: „Alle halten sich wie Fürsten Pferde und Hunde, füttern Gaukler und Schmarotzer. Auch auf einen großen Hofstaat wollen sie nicht verzichten.“1 Gesandte der mittelmeerischen Potentaten, die an die Höfe des Nordens geschickt wurden, hatten ihren Teil zu dieser Entwicklung beigetragen: Sie gefielen sich darin, in Begleitung ihrer schwarzen Diener zu erscheinen und wurden dafür bewundert und nachgeahmt.2 Mit exotischem Zubehör suchte man sich ins rechte Licht zu rücken. In der Kunstsammlung der Veste Coburg hat sich eine Münzprägung des 14. Jahrhunderts mit afrikanischem Kopf erhalten. Zwar war der Schwarze nominell Sklave, ob er nun unter einem omayjadschen Prinzen in Andalusien, unter Isabella von Kastilien oder unter dem mächtigen Fulbeherrscher Usman dan Fodio zu Beginn des 19. Jahrhunderts diente. Er war aber im restlichen Europa wesentlich besser gestellt als der europäische Leibeigene des Mittelalters, der von Frondienst und Naturalsteuern erdrückt wurde.3 Sämtliche Hochkulturen kannten Sklaverei: Schuldknechtschaft, Piraterie, Kriegsgefangenschaft und Menschenraub ergänzten sich. Im Allgemeinen schufteten die Sklaven in Haus und Hof In der Nachfolge antiker Länder kontrollierten Moslems und afrikanische Clans als Lieferanten und Zwischenhändler den Markt und belieferten Arabien und Ostindien, die Harems mit Eunuchen und Konkubinen, die Felder mit Zwangsarbeitern und die Söldnerheere mit Soldaten. Die Europäer wollten partizipieren. Um 1500 verdiente die niederländische Familie Schetz am Guineahandel4 mit jährlich tausend verkauften Sklaven.5 Die Informationen über die Herkunft der „Ware“ blieben spärlich. Die Augsburger Welser besaßen Anfang des 16. Jahrhunderts das erste Monopol im transatlantischen Sklavenhandel, der die Plantagenarbeiter rekrutierte. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts
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wurde die Frage, ob einer arbeiten oder genießen soll, auch durch die Farbe der Haut bestimmt. Der Fremde vor Ort galt als Heide und Knecht, der Weiße als Christ und Herr. Gegen Ende dieses Jahrhunderts tauchten zum ersten Mal „weisz und schwarz“ als allgemeine Kennzeichnung der den Europäern und Afrikaner angeblich eigenen Hautfarbe auf, die einen genauso wenig weiß wie die anderen richtig schwarz. Nach dem Dreißigjährigen Krieg legte der Kaufmann Elers dem Kurfürsten von Brandenburg den Plan vor, die entvölkerten Gebiete Brandenburgs durch Afrikaner aufzufüllen und auch einen Heeresteil aus ihnen zu bilden, die „alßdann gar nichts kosten wurde.“ Oder der Herrscher sollte sie importieren und dann zum üblichen Lohn an die Bauern als Knechte ausleihen. Diese Einstellung zum Menschen umschloss alle Untertanen, die als Söldner vermietet wurden, um die Staatskasse zu füllen. Christen glaubten, seit Noahs Zeiten sei die dunkle Pigmentierung eine Strafe Gottes für schwere Sünden. Man überlegte gar, ob sie Menschen seien.6 Ohne sie waren die Kolonien wertlos, da man sie mit europäischen Arbeitern, die in diesem Klima kaum leistungsfähig waren, nicht hätte ausbeuten können. Die Pflanzer zählten sie zu ihrem beweglichen Eigentum, weil sie für teures Geld bezahlt waren. Das bekannte Bild vom Schwarz-sein als Strafe findet sich in dem bekannten Kinderbuch „Struwwelpeter“ 1845. Als sich die europäischen Fürstenhöfe längst Historiographen hielten, konnte es geschehen, dass Schiffe zu bedeutungsvollen Unternehmungen in See stachen, ohne über wirklich gebildetes Personal zu verfügen. In Europa wurden Anleitungen für künftige Sklavenhändler publiziert, die über den Kaufwert der Ware, die Eignung der verschiedenen Völker und die Schliche orientierten, deren es bedurfte, um zu günstigem Preis an Sklaven zu kommen. Grundsätzliche Kritik an diesem Geschäft gab es vor 1750 kaum, und danach fast nur in Europa. Bitterli führt als Gründe die einseitige seemännische Ausbildung der Sklavenfahrer, die rudimentären christlichen Moralvorstellungen, lustlose Routine und mörderische Lebensbedingungen an. Viele sahen in der Sklavenwirtschaft eine gottgewollte Ordnung. Ein Verbrechen, das von so vielen während so langer Zeit verübt wird, verliert das Anrüchige sowohl für Täter als auch für Zeugen. Von Interesse waren die Schwar-
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zen nicht so sehr als soziale Personen im Gefüge der deutschen Gesellschaft, sondern vor allem, weil viele Menschen immer wieder Eigenschaften, die ihrem eigenen Ideal oder seinem Gegenteil entsprachen, besonders deutlich in ihnen verkörpert sahen. Ablehnung und Faszination zugleich, Angst und geheime Wünsche prägten das Verhalten. Allem Exotischen wurde eine oberflächliche Aufmerksamkeit zuteil, die von nachdenklichen Betrachtern mit feiner Ironie kritisiert wurde. Die Neugier der Menge entsprach einem modischen Bedürfnis an ausgefallener Zerstreuung. Nicht wenige der adligen Herren brachten sich einen Schwarzen von Auslandsreisen mit, wohlhabende Kapitäne, Reeder und Großkaufleute ahmten sie nach. Der Besitz einiger schwarzer Pagen, Läufer, Musiker wurde zur Ehrensache. Berühmtes Beispiel ist Fürst PücklerMuskau mit der zwecks sexueller Befriedigung in Kairo gekauften Sklavin Mahbuba (eine Oromo). Dürer hat einige porträtiert. In England gehörten sie zum Straßenbild der Hafenstädte, und in Frankreich begleiteten schwarze Bedienstete ihre französischen Herrschaften recht oft auf deren Reisen ins Mutterland. Sie galten nach französischem Recht als frei, ohne dass bekannt wäre, dass sie von dieser Freiheit auch Gebrauch gemacht hätten. Vor allem Senegalesen arbeiteten als geschätzte Hausdiener im vornehmen Milieu des Faubourg Saint-Germain.
J. H. Eisenträger, Ansicht der sogenannten „Mohrenkolonie Mulang“ (1785) oder chinesisches Dorf
In weiten Kreisen jedoch beschränkte sich die Reaktion der Europäer auf ungläubiges und blödes Staunen, Sensationsgier und herablassende Neugier, sowohl in der Hofgesellschaft wie beim einfachen Volk. Friedrich II. (1720–1785), Landgraf von Hessen-Kassel, hatte sich auf der Wilhelmshöhe bei Kassel „die Mohrenkolonie Mulang“ mit kleinen, in „chinesischem“ Stil gehaltenen Häuschen anlegen lassen, wo mehrere Mohrinnen „in
abenteuerlicher Tracht“ mit der Herstellung von Butter und Käse für die Hoftafel beschäftigt waren. Er wandte sich, wenn er Neuzugänge wünschte, an den Sklavenhändler und Bankier Jean de Barry Daniels in Amsterdam und bat ihn „außer dem bereits übersandten Mohren Joly“ weitere vier Schwarze nach Kassel zu senden. Der 1751 beim Kasseler Hof angenommene Mohr Alexander wurde auf Rechnung des Landgrafen bei dem Schwarzen George Dominicus und seiner deutschen Frau in Kost und Logis gegeben.7 Relativ zufrieden mit ihrer Unterkunft konnten die schwarzen Frauen sein. Drei von ihnen lassen sich namentlich nachweisen: Betty Johnson, Hanne, Catharina, die als Tagelöhnerin bei der 1784/5 erbauten Windmühle arbeitete.8 Nach einem Immobilienverzeichnis von 1797 wohnten sie in „zwey Nebenhäuschen, links eine wohleingerichtete Küche rechts eine Milchkammer, und beyde mit gutem Wasser versehen“.9
ihnen möglich Grund und Boden zu erwerben. Der Besitz von Immobilien war an den Besitz des Bürgerrechts gebunden. Bürger einer Stadt konnte mit wenigen Ausnahmen nur werden, wer frei war. Schwarze Militärmusiker sind in Kassel ebenfalls nachweisbar. 1750 wurde der Mohr Friedrich May dem landgräflichen Leibkavallerie-Regiment übergeben, damit er das Paukenschlagen lerne.10 Mohrentambours und Pfeifer in reicher Kleidung meist in knabenhaftem Alter, hatten die hessischen Regimenter seit dem Landgrafen Karl bis in die Regierungsjahre des Landgrafen Wilhelm IX. Das kurhessische Leibgarderegiment, aus dem später das Füsilierregiment von Gersdorf Nr. 80 hervorging, hatte unter dem Landgrafen Friedrich II. ein aus Schwarzen bestehendes Tambourkorps.
Uniformblatt des 1. Hess. Garderegiments zu Fuß um 1780
Albrecht Dürer, Katharina, 1521
Am Hof in Kassel angestellte Afrikaner trugen eine Livrée aus einem blauen Rock, Kamisol, roter Hose mit einem Bund aus Samt, seidenen Strümpfe, roten und blauen Kniebänder, Turban, gelben Stiefeln, 3 großen und 30 kleinen Knöpfen, Tressen und Litzen, im Turban eine weiße Feder. Ihr Leben hatte nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit demjenigen amerikanischer Sklaven, denn es war
Einer dieser hessischen Trommler wurde nach seinem Tod zu einer medizinischen Berühmtheit, als der Anatom Samuel Thomas Sömmering bei der Sektion im „Anatomischen Theater“ des Kasseler „Collegium Carolinum“ entdeckte, dass im Gegensatz zu der bisherigen Annahme der Schulmedizin der Körper eines Schwarzen nicht auch innen schwarz ist.11 Auch aus der landgräflichen Menagerie landeten die Überreste hier „als Vergleichsmaterial“. Sömmering hatte von 1779 bis 1784 Gelegenheit, mehrere Leichen beiderlei Geschlechts aus „Mulang“ zu sezieren. Drei davon waren an „Auszehrung“ gestorben, einer hatte sich ertränkt. Ein Embryo von 4 ½ Monaten war aus wissenschaftlichem Interesse dazugekauft. Über seine Beobachtungen verfasste er 1784 ein Buch, mit dem er zwar Beifall von Kollegen aber heftige Kritik beim allgemeinen Publikum erntete, da er den Schluss gezogen hatte, dass die Schwarzen in ihrer Entwicklung näher mit dem Affen als mit den Europäern verwandt seien. Deshalb veränderte er seine zweite Auflage und setzte hinzu: „Die Moh-
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ren bleiben aber drum doch Menschen, und über jene Klasse wahrer vierfüßiger Thiere gar sehr erhaben, gar sehr auffallend von ihnen unterschieden und abgesondert. Auch unter den Schwarzen giebts einige, die ihren weissen Brüdern näher treten, und manche aus ihnen sogar an Verstande übertreffen.“12 Selbst in die Bibliothek Goethes fand ein Exemplar Eingang. Dieser schrieb ihm nach Kassel, er habe es mit Vergnügen gelesen.Fürstlich Waldeckische Musiker in Arolsen lebten so gut, dass im 18. Jahrhundert Bürger, die ein Haus bauen wollten, so eines wollten „wie der Trompeter“ eins hatte.13 Auch von dem schwarzen „Hoff Paucker Augustus“ hat sich ein Kaufbrief erhalten vom 29. November 1723, in dem der Fürst bestätigt „dass wir unserem Paucker Ernst Augustus Mohren auff dessen unterthänigstes Nachsuchen Unser in Helsen stehen habendes, und ehedem von Frantz Berges erkaufftes Hauß, nebst 4. dabey gehöriger Gärten ... Erb und Eigenthüml. Verkauffet haben vor Einhundert und zwanzig Reichsthaler.14 Augustus beschäftigte eine Magd und verbrachte einen Teil seiner Freizeit beim abendlichen Bier im Wirtshaus zu Helsen. Gern ließen sich fürstliche Herrschaften mit ihren afrikanischen Statussymbolen portraitieren, wie z. B. Graf Friedrich Casimir von Hanau 1669 von J. D. Welcker15, der Markgraf Karl v. Brandenburg-Schwedt von Anna Rosina Lisiewska 1737 oder Wilhelmine von Preußen 1715 von Antoine Pesne. Im Schlossmuseum Darmstadt hängt die Kopie eines Gemäldes desselben Malers, das dieser 1751 von der Landgräfin Karoline Henriette von Hessen-Darmstadt und wahrscheinlich ihrem schwarzen Hoflakaien malte. 1741 hatte sie den Erbprinzen Ludwig geheiratet und lebte in der von seiner Mutter geerbten Grafschaft Hanau-Lichtenberg, wo er sich die Garnison Pirmasens ausbaute. Seine Frau blieb in Buchsweiler im Elsass. 1750–1757 lebten beide in Prenzlau in der Uckermark, dann gingen Ludwig nach Pirmasens und Karoline nach Buchsweiler zurück. In den Akten findet sich unter dem „unteren Hofpersonal“ ein Ludwig Prenzlau (Mohr).16 Den „Mohr“ hatten sie anscheinend aus Prenzlau mitgebracht. Erwähnt wird er erstmals 1759, als er eingekleidet werden musste. Außer einem blauen Tuchrock, einer roten Weste und Beinkleidern bekam er einen Hut mit silbernen Tressen, Schnupftücher, Strümpfe. Er forderte dazu zwölf Hemden mit Hinweis auf seinen vorigen
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Dienst. Erbprinz Ludwig genehmigte diese. Ludwig Prenzlau war zunächst Lakai bei der Prinzessin. In diesem Dienst hatte er eigenmächtig die Geburt des jungen Prinzen Friedrich mit Kurier nach Darmstadt gemeldet. Im März 1763 wurde seine Forderung abgelehnt, die Kosten hierfür erstattet zu bekommen. Der Erbprinz in Pirmasens entschied: „Der Mohr hats ohne Befehl getan, also muss er es zahlen.“ Als die Prinzessin wenig später mit ihren Kindern nach Darmstadt zog, blieb Prenzlau anscheinend beim Hofstaat Ludwigs, denn fünf Jahre darauf wird ihm dort statt Quartiergeld eine jährliche Zulage von fünf Gulden bewilligt. Weitere vier Louisdor wurden im März 1770 bezahlt, als der Hoflakai „Ludwig Carl Prenzlau“ eine Beihilfe erbittet, da „meiner Schwiegermutter Haus, worinnen ich bisher gewohnet habe, unumgänglich eine Reparatur nöthig hat, das hierzu erforderliche Geld aber sowohl bei mir als bei ihr dermahlen mangelt.“ In einer Einwohnerliste der Stadt Primasens tauchte sein Name 1772 noch einmal auf. Der letzte Beleg stammt aus dem Jahr 1782: Ludwig Prenzlau beantragte beim nun regierenden Landgrafen Ludwig IX. eine Geldvergütung für die angeblich in den Jahren 1757/8 nicht gelieferte Livree. Der Landgraf vermerkte dazu: „Die Forderung ist unverschämt; er wird damit abgelehnt.“ Zwölf Jahre später starb der Landgraf und sein Gebiet wurde von den Franzosen besetzt. Da der Name Prenzlaus auf der Liste der geflüchteten oder nach Darmstadt versetzten hanau-lichtenbergischen Diener fehlt17, müsste er in der Zwischenzeit verstorben gewesen sein. In Ländern, die über geringe kolonialpolitische Erfahrung verfügten, wurde der Ausländer zum Studienobjekt, ja man glaubte, ihn hier gerade besonders unvoreingenommen untersuchen zu können. Der Europäer wurde dabei zur Norm erhoben und alles andere als Abweichung erklärt. Dem Fremden wurde europäische Kleidung verpasst, um ihn äußerlich einzugliedern, eine Gleichheit künstlich herzustellen. Oft schrieb man ihnen eine aristokratische Abstammung zu und verlieh der Begegnung dadurch diplomatisches Gewicht. Allmählich verschmolzen Klischees und wiesen jedem in dieser Welt seinen Platz zu, zum Teil unter Einfluss der Aufklärung und der pietistischen Wiedererweckung. Naturwissenschaftler nahmen sich der vergleichsweise seltenen Forschungsobjekte
an. Der Göttinger Anthropologe Johann Friedrich Blumenbach, bei dem die Forschungsreisenden Hornemann, Langsdorff, Maximilian zu Wied und Alexander v. Humboldt studiert hatten, reiste noch um 1790 extra nach Yverdon, um dort einen Schwarzen, von dessen Aufenthalt er gehört hatte, zu besichtigen. Für die neuen Wissenschaften wurde alles vermessen, beobachtet und verglichen und dann mit Werturteilen verbunden, deren ästhetische Basis im antiken Griechenland wurzelte. Was auch immer die Messungen ergaben, der Wert eines Menschen wurde letztlich durch die Ähnlichkeit mit der klassischen Schönheit bestimmt. Äußere Merkmale sollten auf innere Befindlichkeiten und Tugenden schließen lassen, war die Meinung der Zeit. Die Aufklärung neigte dazu, alle Menschen nach dem gleichen Muster zu betrachten und nach der herrschenden Ordnung zu beurteilen auf der Suche nach Harmonie und Mäßigung, Grazie, innerer Stärke und Beherrschung der Sinnlichkeit durch den Intellekt. Der Pietismus gab den Instinkten, der Intuition und dem Gefühlsleben den Vorzug, was dann zu den rassistischen Urteilen über die Seele des Menschen führte. Rassismus wurde Bestandteil einer Weltanschauung. In die Fußstapfen von Aristoteles, der von Barbaren sprach, trat der Philosoph Immanuel Kant, der in der „Physischen Geographie“ behauptete: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. Die Gelben haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer. Und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften.“ Bis 1830 war das europäische Zerrbild komplett: Afrikaner galten als unwandelbar fremd und dämonisch, trieb- und lasterhaft, kultur- und geschichtslos, mit animalischer Körperlichkeit und kindischem Verhalten. Die Eigenschaften, welche verpönt waren, dienten in der Folge als Rechtfertigung für Unterdrückung. Matrosen und Kolonialbeamte legten ihre Bibelkenntnisse auf besondere Art aus. Die niedrigste, auf unreflektierter Antipathie gegenüber den Einheimischen beruhende Form derartiger Deutungen sah in der dunklen Hautfarbe des Afrikaners das sicherste Kennzeichen seiner diabolischen Abkunft. Die schwarze Farbe verknüpfte die Phantasie des mittelalterlichen Menschen mit Magie und Verderbtheit, mit dunklen Angstgefühlen; und derart unbestimmte Empfindungen abzuschütteln fällt auch in unseren
Tagen manchen nicht leicht. Schlichten Gemütern erschien der Schwarze als ein Sendling Satans auf Erden. Oberflächlicher Augenschein gab solchen Vorurteilen zusätzlich Nahrung.18 Andere sahen die Hautfarbe als Ergebnis eines Fluchs auf den Abkömmlingen des Geschlechts Kains oder Chams.19 Mit seinem Abbild konnte man andere erschrecken. Womöglich steckt diese Absicht auch hinter einem Lappen zur Jagd.20 Welche Reaktionen sein Anblick hervorrief, schildert der aus Sansibar gebürtige Afrikaner Selim bin Abakari 1896 über seine Russlandreise.21 „Als wir in Samara ankamen, waren die Leute aufs Äußerste bestürzt, einen schwarzen Menschen zu sehen. Sie sagten, sie hätten noch niemals einen Schwarzen gesehen als mich. Wenn ich spazieren ging, liefen sie vor mir weg, denn sie glaubten, der Teufel sei zu ihnen hernieder gestiegen.“ Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich in der Mittelschicht im Kontrast zur Aristokratie und den niederen Schichten das Ideal der Ehrbarkeit durchgesetzt. Im Verein mit dem Nationalismus sortierte sie alles aus, was von der Gesellschaft als prinzipiell andersartig oder gefährlich zurückgewiesen wurde. Das Klischee des triebhaften Außenseiters war fester Bestandteil des Rassismus22 und findet bis heute bei „Dokumentationen“ über Aids in Afrika unterschwellige Bestätigung und offene bei verbalen Entgleisungen von Sportfunktionären. Friedrich III. hatte 1466 im gesamten Römischen Reich die zollfreie Einfuhr auch schwarzer Sklaven erlaubt. Ein achtjähriger Knabe kostete 44 ½ Dukaten in Neapel.23 Auf der Leipziger Messe 1684 verkaufte ein portugiesischer Jude seinen schwarzen Diener für 50 Reichsthaler. Um 1800 lagen die Preise zwischen 50 und 100 Talern. Friedrich Wilhelm I. von Preußen erklärte 1714, für 150 zehn- bis zwölfjährige Mohren nicht mehr als 1200 Taler bezahlen zu wollen.24 Dem hessischen Gesandten in Paris, Baron v. Boden, wurde 1783 allein für einen überschickten reichen Mohren 53 Reichstaler 10 Albus 1 Heller aus der landgräflichen Schatulle ersetzt. 1855–60 zahlte man in Gabun für einen jungen Sklaven ein Fass Rum von hundert Litern, einige Ellen Baumwollstoff und eine Anzahl Glasperlen. Für eine junge Frau wurde ein Gewehr, ein großer kupferner Kessel, sechzig Metern Baumwollstoff, zwei Stücke Eisen, zwei Buschmesser, zwei Spiegel, zwei Feilen, zwei Teller, zwei Riegel, ein Fässchen
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Pulver, einige Perlen und etwas Tabak bezahlt. Im Landesinnern waren Sklaven billiger zu erstehen.25 Laut Du Chaillu klagten die Portugiesen über Absatzschwierigkeiten, weil in Brasilien die Zahl der Einfuhr beschränkt war, aus Sorge, die zahlreichen Schwarzen könnten für die wenigen Weißen eine Gefahr werden.
links:„Negerlappen“ für Hetzjagden, Jagdschloss Kranichstein; rechts: Anzeige aus dem „Grünberger Boten“, 1866
Zu der Zeit der Sezessionskriege in Amerika, als die Sklavenhaltung endete, bestand weiterhin ein lebhafter Binnenhandel im Ogowegebiet im Innern Afrikas an die Küste. Die schwarzen Familien, die seit Generationen vom Sklavenexport profitierten, waren nicht gewöhnt, ihre Pflanzungen selbst zu bestellen. Körperliche Arbeit galt als nicht standesgemäß. Sie tauschten ihre Landsleute unter anderem gegen Salz. „Die Aussicht in ein Land zu kommen, wo es Salz gab, ließ viele den Verlust der Heimat vergessen“, schreibt Albert Schweitzer. Man fragt sich, wie naiv ein Arzt sein darf. Unter den Sklaven befanden sich angeblich viele, die von ihren Stammesgenossen wegen Betrugs oder Zauberei, durch die sie angeblich Unglück gebracht hatten, verkauft worden waren. Oft wurden die Eltern ertränkt und nur die Kinder mitgenommen. Schlimmste Vorahnungen überkamen die Unglücklichen, wenn sie aus dem Landesinneren kommend die Küste erreicht hatten. Sie zweifelten nicht, dass sie fremden Göttern als Opfergabe zugeführt werden sollten, oder waren überzeugt, europäischem Kannibalismus zum Opfer zu fallen. Diese Befürchtung wurde dadurch genährt, dass nie einer der Weggeführten zurückgekehrt war.26 Albert Schweitzer berichtete, alte Leute hätten ihm erzählt, dass sie früher glaubten, das Fleisch in den Konservenbüchsen rühre von geschlachteten Sklaven her.27 In Kassel bezogen die Kammermohren, die dort zu den besser gestell-
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ten Schwarzen gehörten, das gleiche Jahresgehalt wie die Hof- und Jagdlakaien und die Kammerhusaren: 94 Reichstaler 10 Albus 8 Heller. Kammermohr Wallis bekam dazu jährlich 26 Gulden (=17 Reichstaler 10 Albus 8 Heller), freie Wohnung, Steuerfreiheit, Übernahme der Ausbildungskosten, ärztliche Leistungen, Altersversorgung und Sterbegeld. Der Pauker in Arolsen durfte sich über die saftigen Teile eines jungen Wildschweins freuen, die ihm die gute Fürstin zukommen ließ. Kammermohr Wallis bekam in Kassel außer seinem Gehalt eine jährliche Zulage von 26 Gulden.28 Das jährliche Existenzminimum einer durchschnittlichen hessischen Familie lag um 1750 bei circa 70 Reichstalern. Entscheidend war, dass die schwarzen Sklaven auch nach ihrem Eintreffen in Deutschland Eigentum des jeweiligen Besitzers blieben. Sie wurden verschenkt, vererbt, gestohlen, verspielt29 oder weiterverkauft, wie jener „surinamesische Mohr“30, den ein Dr. med. Luttgendorff im Jahr 1771 dem Hessischen Landgrafen lieferte.31 Die Aussicht auf Freilassung war gering, anders als in Frankreich oder Holland. In England war 1772 entschieden worden, dass jeder Sklave frei sei, der englischen Boden betrat. Deutsche Juristen, die diese Meinung vertraten, setzten sich nicht durch. Die rechtlich-soziale Lage der vielen „Mohren“, die bis zum Ende der Monarchie in Deutschland gelebt haben, war in der Regel auf eine merkwürdige Weise unbestimmt: Sklaven und dennoch auf eine für Sklaven ganz und gar uncharakteristische Weise privilegiert, lebten sie gewissermaßen im Niemandsland zwischen Freien und Unfreien. Es gab wohl gerichtliche Klagen auf Freilassung, denen mit Berufung auf den Gesetzesmangel nicht stattgegeben wurde. Ohne rechtlich fixierte Grundlage für die Sklaverei standen die Chancen schlecht, ihre Freiheit auf juristischem Wege zu erlangen. Dem standen nicht nur die allgemeinen rechtlichpolitischen Bedingungen der Fürstentümer entgegen, sondern vor allem die Tatsache, dass es in marginalen Bereichen der deutschen Gesellschaft seit langem immer wieder Sklaven gegeben hatte, deren sozialer Status kaum jemals ernsthaft in Zweifel gezogen worden war.32 1780 berief sich ein Gericht auf das Naturrecht, dass Erkauftes auch wiederverkauft werden kann. Die einzige Weise der Emanzipation war die Freilassung aufgrund der Verdienste oder einer Klausel im Testament. Im
Konfliktfall konnten sie sich aber nicht darauf berufen, wenn die anderen Erben es nicht akzeptierten. Wenn sie erst einmal im Land waren und ihren „Hof“ gefunden hatten, war von Statusfragen nicht mehr die Rede, und es bedurfte keiner formellen Freilassung, damit die meisten wie freie Untertanen lebten, oft sogar besser als jene. Die fürstlichen Häuser behielten ihre „Mohren“ fast immer wohlwollend im Auge und protegierten sie, soweit es nötig schien. Oft waren sie Paten bei der Taufe gewesen und sorgten ähnlich wie für Wilhelmine Sophia für ihr Alter, weil sie „so lange ahn hiesigem Fürstl. Hoffe treulich ufgewartet“ hatte. Als sie ins Hospital kam, half ihr deshalb der Landgraf, nachdem sie schriftlich darum gebeten hatte, 1702 ihr doch die durch den Tod der Inhaberin vakant gewordene „große Praebende“ zuzuteilen, „weil sie so sehr gebrechlich sei und nichts verdienen kann, undt mit demjenigen, so sie anietzo im Hospital genieße ohnmöglich mich zu ernehren vermag“. Ihrem Antrag wurde stattgegeben, so dass sie einigermaßen getröstet ihrem Ende entgegensehen konnte.33 Sie erwarben Grund, was nur freien Bürgern möglich war. Solange sie Kinder waren, schliefen sie zu Füßen ihrer Herren, später wurden sie den anderen Bediensteten gleichgestellt mit den gleichen Beschäftigungs- und Einkommensbedingungen. Eine Sonderbehandlung aufgrund ihres Sklavenstatus erhielten sie nicht. Wenn sie sich übervorteilt fühlten, zogen sie vor Gericht: Diener, Knechte, Tierwärter, Gärtner, Barbier, Bader und Chirurg, Mägde, Musiker. Viele starben vor Erreichen des heiratsfähige Alters. Eine kaum überwindliche Hürde stand jedoch vor der Eheschließung eines Afrikaners, denn die Regelung der Grafschaft Hessen verlangte von allen heiratswilligen Unteroffizieren, gemeinen Soldaten und Spielleuten, gemeinsam mit ihren Eltern bzw. den zu ihrem Vormund bestellten Personen vor dem zuständigen Gericht zu erscheinen. Waren diese verhindert, hatten die Antragsteller eine schriftliche Einwilligung vorzulegen, waren sie verstorben, war eine entsprechende Bescheinigung zu präsentieren. Ohne Heiratskonsens beider Eltern war eine Eheschließung nicht möglich. Nur Ausländer in hessischen Militärdiensten, also Personen, die aus anderen Fürstentümern stammten, konnten durch das Konsistorium, d. h. das Vollzugsorgan
des landesherrlichen Kirchenregiments, von dieser Regelung dispensiert werden.34 Zudem war ein Heiratskonsens vom Kommandeur des Regiments nötig, Angestellte des Landesherrn hatten seine Erlaubnis einzuholen. Wer von den importierten Dienern konnte schon seine Eltern beibringen, geschweige denn Papiere? Selbst die Wohlhabendsten scheiterten an dieser Hürde. Einige schafften es dennoch: Johann Wilhelm Anton heiratete 1707 in Kassel die Tochter eines Barbiers. Johannes Sabbadons Tochter Maria Victoria aus Kassel ehelichte 1806 einen aus Halle stammenden Gardisten Friedrich Banse. In Kassel lebte ferner 1840 Mademoiselle Elise Sabaton, eine „Zwergin von sehr kleiner Gestalt, welche ein beliebtes Putzgeschäft führte“. Als nach dem Regierungsantritt Fürst Carls (1704–1763) in Arolsen die Lage der fürstlich waldeckschen Finanzen eine Verkleinerung der Hofhaltung erforderlich machte und bald die Gehälter ausblieben, bat im Mai 1728 auch der schwarze Hofpauker Augustus um seine „Beybehaltung in hiesigen Diensten, wobei er darauf hinwies, die gothaischen Dienste dereinst nur unter dem Versprechen quittiert zu haben, dass er am Arolser Hof „ein beständiges Stück Brod“ erhalten würde.35 Er wäre nach 26 Dienstjahren zu alt gewesen, um Arolsen zu verlassen und an anderer Stelle einen Neuanfang zu versuchen. Außerdem hatte er bereits „das seinige an ein Hauß gewendet und seine besten Tage im Dienst des Hauses Arolsen zugebracht. Er hatte Erfolg, freilich mit der Einschränkung, dass er sich bis zu einer anderweitigen Verordnung mit seiner halben Geld- und Hausbestallung zufriedengeben müsse. Die völlige Hausbestallung wurde ihm erst anderthalb Jahre danach 1729 wieder verabfolgt. Bei seinem Ableben 1738 hinterließ er eine weitgehend mittellose Witwe. Auf Gesuch erhielt sie eine Gnadenbestallung von zwei Mütten Roggen jährlich, da die Hinterlassenschaft des Mannes nicht ausreichte. Nicht anders war es in Kassel unter Wilhelm VIII. (1730–1751). „Es ist aber alzu wohl bekannt, dass Unsren Allergnädigste Landesherrschafft gar nicht inclinire Mohren am Hoff zu haben.36 Dem Mohren Alexander, der sich verzweifelt bemühte, dass ihn „unser Allergnädigster Herr in Montur und zur aufwartung zu nehmen die Gnade haben werde“, konnte deshalb nicht geholfen werden. Die Stelle
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des „Hof- und Kammermohren“, die seit dem Tod Dominicos vakant war, blieb weiterhin unbesetzt. Alexander lebte 1757 schon 7 Jahre „unter uns ohne Zucht“, und nachdem auch „die vom Geheimen Rat dem Konsistorium am 21. Juni 1758 aufgegebene Zuchtmittel zur Anhaltung dieses Mohren“ nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatte, empfahl schließlich der Kastenschreiber Knyriem, gegenüber diesem „unverbesserlich ausschweifendem Subjekt“ ein härteres Vorgehen: Alexander wurde ins Waisenhaus gesteckt, wo er vom Müßiggang ab und zum Strumpfstricken angehalten werden konnte.
Außerhalb der Höfe fasste ein kleiner Teil der Schwarzen Fuß. Paradebeispiel ist Anton Wilhelm Amo, der seit frühester Kindheit in Deutschland gelebt und es bis zum Professor in Jena gebracht hat.37 Der Kammermohr Selim Schwartz ertränkte sich, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen, am 19. März 1780 in der Fulda. George Dominicus in Kassel genoss in Ruhe seine Rente nach 1754. Wilhelmina Sophia lebte im Hospital zu Kassel nach vielen Jahren am Hofe mit Unterstützung des Landgrafen.38 Im 19. Jahrhundert blieb die fragwürdige Rolle als Zirkus-, Menagerie- und Jahrmarktattraktion, für die 1832 eine Hersfelder Druckerei warb39, oder als Schauobjekte sogenannter Völkerschauen bei Hagenbeck. Unklar bleibt die Bedeutung einer Annonce in der Zeitung von Grünberg 1866 unter einem Stellenangebot und kirchlichen Informationen. Eine unrühmliche Karriere verfolgte der Heiden- oder Mohren-Hannes aus der Bruchsaler Gegend. Als Mitglied einer Bande im Hessischen beraubte er 1769 eine Reisegesellschaft von 15 Personen mit bewaffneter Hand.40 Als die Deutschen mit kolonialen Interessen in Afrika auftraten, war das Bild vom Afrikaner fest gefügt und leistete neue Dienste für die Legitimation der Unterwerfung und Ausbeutung des Kontinents. Gemeinsame, gesellschaftlich akzeptierte Abneigung schweißt zusammen.
Ausschnitt aus einem Plakat, das für eine Menagerie warb und 1832 in Hersfeld gedruckt wurde
Literaturauswahl: P. Heidelbach, Die Geschichte der Wilhelmhöhe, Leipzig 1909; K. Heinemann, Zeitschr. f. Ver. f. hess. Gesch. u. Ldkde. 71, 1960, 85–96; W. v. Both, Hess. Jb f. Landesgesch. 13, 1963, 211; ders. Friedrich II. von Hessen-Kassel, München 1973, I. Geiss, Geschichte des Rassismus, Frankfurt 1988; J. Hohmann, Schon auf den ersten Blick. Lesebuch zur Geschichte unserer Feindbilder, Darmstadt 1981; R. Hücking, Aus Menschen Neger machen. Wie sich das Handelshaus Woermann an Afrika entwickelt hat, Hamburg 1986; W. Praesent (Hrsg), Eine Negertaufe in Steinau 1770. In: Bergwinkel-Geschichten 1.Teil: Anekdoten etc. aus der Schlüchterner Gegend. 2. Aufl. Schlüchtern 1954, 119f.; Hess. Wochenblatt 14, 1877 (7.4.). Erzählungen aus alter Zeit. 2. Mohren und Mulatten in Kassel.
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1 E. S. Piccolomini, Deutschland. Der Brieftraktat an Martin Mayer und Jakob Wimpfelings 2. Buch, Köln/Graz 1962, 124. 2 Martin, Schwarze Teufel, edle Mohren, Hamburg 1993; M. Firla, Afrikaner im Württemberg des 17. bis 19. Jahrhunderts. In: Schwäbischer Heimatkalender 110, 1999, 106–109; dies. Kirchenbücher, Kirchenakten und Taufpredigten als Quellen zur Erforschung der Afrikanischen Diaspora im 17. und 19. Jahrhundert. In: H. Preissler, H. Stein (Hrsg.), Annäherung an das Fremde. XXV!. Dt. Orientalistentag vom 25.–29.9.1995 in Leipzig, Stuttgart 1999, 611ff. 3 J. le Goff, Kultur des europäischen Mittelalters, München 1970, 495. 4 Im 16. Jahrhundert betrieben sie mit afrikanischen Sklaven eine Faktorei und Zuckerplantage in Brasilien. 5 B. Davidson, Vom Sklavenhandel zur Kolonialisierung, Hamburg 1966, 46f. 6 Nur die Herrenhuter Missionare betrachteten die Afrikaner als arme Brüder und handelten danach C. Degn, Die Schimmelmanns im atlantischen Dreieckshandel. Gewinn und Gewissen, Neumünster 1974, 536. 7 HStA/ Mar, 315 L, Nr. 24 N. 8 W. Schäfer, Von Kammermohren, Mohrentambouren und Ost-Indianern. Anmerkungen zu Existenz- und Lebensformen einer Minderheit im 18. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Residenzstadt Kassel, Hess. Bl. f. Volks- u. Kulturforchung NF23, 1988, 44ff. 9 HstA/ Mar Best. 5 Nr. 12249, fol. 4 Schreiben an Daniels vom 21.6.1772 A. Holtmeyer, Die Bau- und Kunstdenkmäler im Regieungsbezirk Cassel Bd.IV, Marburg 1910, 289. 10 HstA/ Mar Best. 5, Nr. 12248 Bl. 1a. 11 Anonymus. In: Deutscher Soldatenkalender 7, 1959, 176. 12 S. T. Sömmering, Über die körperliche Verschiedenheit des Negers vom Europäer, Frankfurt 1785, XIXf. 13 D. Rouvel, Zur Geschichte der Musik am Fürstlich Waldeckschen Hofe zu Arolsen, 1962, 27. 14 HStA/Mar, 118/2535. 15 H. Volberg, Deutsche Kolonialbestrebungen in Südamerika nach dem Dreißigjährigen Kriege insbesondere die Bemühungen von Johann Joachim Becher, Köln 1977. 16 StAD Abt.D 8 Nr. 261/1. 17 StAD Abt. D7 Nr. 95/2. 18 U. Bitterli, Der „Wilde“ und der „Zivilisierte“, 1991, 340; W. D. Hund, Wie die Deutschen weiß wurden, Kleine (Heimat) Geschichte des Rassismus, Stuttgart 2017. 19 J. Latimer, The Annals of Bristol in the Eighteenth Century, Frome 1893, 146. 20 Kuno Graf v. Hardenberg, Jagdschloss Kranichstein. in: Heimat im Bild 17 (1928). 21 S. Abakarim, Meine Reise nach Russland und Sibirien. In: Schilderungen der Suaheli von Expeditionen v. Wissmanns, Dr. Bumillers, Graf v. Görtzens und anderer., Carl Velten (Hrsg.) Göttingen 1901. 22 G. L. Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt 1990. 23 J. Strieder, Deutscher Metallwarenexport nach Westafrika im 16. Jahrhundert. In: Das reiche Augsburg. Ausgewählte Aufsätze Jakob Strieders zur Augsburger und süddt. Wirtschaftsgeschichte des 15. u. 16. Jahrhundert, München 1938, 155ff. 24 Ilgens Bericht über eine Offerte von Rotterdamer Kaufleuten. ZstA/Mers. Repositurnr. 65.34. 25 P. du Chaillu, Chaillu‘s Reisen in Centralafrika 1835–1903. 26 U. Bitterli, Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1991, 103. 27 A. Schweitzer, Afrikanische Geschichten, Hamburg 1950,29; W. Schäfer, Von Kammermohren, Mohren-Tambouren und OstIndianern. In: Hessische Blätter f. Volks- u. Kulturforschg. NF23, 1988, 41. 28 P. Martin, Schwarze Teufel, edle Mohren, Hamburg 1993, 132. 29 U. Sadji, Unverbesserlich ausschweifende oder brauchbare Subjekte? Mohren als befreite Sklaven im Deutschland des 18. Jahrhundert. In: Komparatistische Hefte Nr.2, 1980, 43. 30 HStA/ Mar Best. 5, Nr.12249, fol 2/2v. 31 Martin 132. 32 HStA/ Mar, Protokolle II, Kassel C.b., Nr.10, Bd.7. Die Praebende bestand aus 2 Vierteln Korn, 2 Vierteln Gerste, einem halben Schwein, 1 Metze Salz, 1 Metze Erbsen und 1 Metze Samen. 33 C. W. Ledderhose, Versuch einer Anleitung zum Hessen-Casselischen Kirchenrecht, Cassel 1785, 207. 34 HStA / Mar 118/1 Protokoll Nr.7. 35 HStA/ Mar 315 L, Nr.24. 36 Wilhelm Sambo, letzter preuß. Paukenschläger des Leibgarde-Husaren-Regiments + 1935 in Köln; in Münster als Kaffee-Koch in einer Konditorei tätig. P. Martin,1993,128. 37 M. Firla, Angelo Soliman in der Wiener Gesellschaft vom 18. bis 20. Jahrhundert. In: G. Höpp (Hrsg.), Fremde Erfahrungen. Asiaten und Afrikaner in Deutschland, Österreich und der Schweiz bis 1945, Berlin 1996, 69ff. 38 HStA/Mar Protokolle II Kassel Cb r10 Bd.7. 39 Anne Dreesbach: Gezähmte Wilde: Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870–1940. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2005. 40 P. Görlich, Der Erste seiner Zunft stammte aus Lich. In: Hessische Heimat aus Natur und Geschichte 5, 2007.
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Nachwort Aus dem Heer der europäischen Hasardeure ragen wenige Männer hervor, deren Erzählungen die Leser in den letzten zweihundert Jahren verschlangen: David Livingstone, Henry Morton Stanley, James Cook, Sven Hedin. Aber auch deutsche wie Alexander v. Humboldt, Ferdinand v. Hochstetter, Heinrich Barth wurden als Helden gefeiert, weil sie Konventionen und Familie hinter sich ließen, um auf der Jagd nach Ruhm besessen in den letzten Winkel der Erde vorzudringen. Sie überwanden Widerstände ihres Körpers, der Ausrüstung, des Klimas und der Landschaft, genossen mehr oder weniger die Kontrolle über ihre Begleiter, meinten den Überblick zu haben oder das Heil zu bringen. Je blutrünstiger der Fremde dargestellt wurde, umso größer der Ruhm. Die oft dramatisierten Abenteuer beflügelten die sex- und machtlüsternen Phantasien von Generationen und formten die bis heute gängigen rassistischen Klischees. Aus eurozentrischer Sicht zählte man zu den sogenannten „Entdeckungen“ in Afrika, Eurasien und Südamerika auch Landstriche, die seit Jahrhunderten ausgebeutet wurden, allerdings ohne je vermessen oder kartiert zu werden. Den derart Entdeckten war es zunächst egal, dass ihnen Selbstverständliches von diesen selbstherrlichen, größenwahnsinnigen Fremden neu benannt wurde. Das änderte sich erst durch die willkürlichen Grenzziehungen. Die Ortsansässigen waren aber durchaus keine naiven „edlen Wilden“, die man mit Alkohol und Glasperlen übers Ohr haute. Die gebildete Handelselite in Übersee wurde einfach nicht als solche wahrgenommen, weil sie mitsamt ihren Werten und Rechtsnormen nicht ins Bild des rückständigen Heiden passte. In Ostafrika handelten die Araber seit dem 7. Jahrhundert mit lokalen Herrschern, die ihre „Brüder“ bedenkenlos jagten und verkauften. Europäische Kaufleute optimierten das Geschäft. Deren Nachfrage nach Arbeitskräften, die ähnliches Klima wie in der Karibik von Hause aus gewohnt waren, intensivierte den Menschenraub aus dem westafrikanischen Hinterland. Die Afrikaner selbst verteidigten das Monopol auf Nachschub, das die Ausländer mangels Erfahrung im Urwald auch mit Unterstützung ihrer Regierungen niemals gebrochen hätten.
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Adlige hatten sich seit jeher auf „Grand Tour“ durch die europäischen Fürstenhöfe begeben, um von Verwandten den letzten gesellschaftlichen Schliff zu erhalten, Heiratskandidatinnen zu prüfen, sich die Hörner abzustoßen oder zu studieren. Soldaten reisten unfreiwillig. Trotz Erfindung des All-inclusive-Tourismus durch Thomas Cook am 5. Juli 1841 blieb das Reisen jenseits der Eisenbahnstrecken mühsam, gefährlich und das Privileg weniger. Daran änderte auch Karl Baedeker mit seinen Reiseführern ab 1832 wenig. Da Deutschland sehr spät nach Kolonien strebte, zogen Deutsche zuerst als wissenschaftliche „Fremdenlegionäre“ in die Welt. Die hessische Bildungselite des 19. Jahrhunderts kannte sich vielfach untereinander, war freundschaftlich bzw. verwandtschaftlich verbandelt. Die einen wollten ihren Horizont erweitern (Schlitz gen. Görtz), andere suchten nach einer Aufgabe (Braun, Reitz, Schenck zu Schweinsberg, Blaramberg), verdingten sich freiwillig oder gezwungenermaßen als Söldner im Ausland (Riedesel, Braun) oder flüchteten aus heimischer Reglementierung. Wie anders ist sonst Dieffenbach zu verstehen: „Ich bin jetzt unter den wilden Menschenfressern und habe mich selten so wohl gefühlt.“ Manche lernten die Sprachen und respektierten das Spezial(heilpflanzen) wissen der Indigenen (Freyreiß). Für weltfremde Romantiker, die die Sklaverei abschaffen wollten, war kein Platz. Punktuell verbesserten sie vielleicht ein Menschenleben, indem sie einen Sklaven als Bediensteten kauften, um ihn dann irgendwann freizulassen oder mit nach Hause zu bringen. Riedesel suchte das Unverfälschte: „... weil er mal ein Land sehen wollte, in dem sich nicht ständig die Mode ändert, sondern wo Gebräuche, Sitten, Religion und Kleidung seit der Antike unverändert waren. Ein Land, das nicht so viele Gesetze habe und mehr original geblieben sei, in dem Männer weniger unter den Frauen leben und daher männlicher seien.“ Das Sammeln geografischen Wissens war für die Auftraggeber kein Selbstzweck, sondern leitete handelspolitische und wirtschaftliche Beziehungen ein (Rein), um irgendwann bewaffnet koloniale Verwaltung durchzusetzen. Die Ortsansässigen
unterschätzten den Herrschaftswillen der Eindringlinge. Unsere Vorfahren machten sich und anderen neugierig Regionen untertan (Koehler, Schütz zu Holzhausen), erklärten besiedeltes Land einfach für herrenlos, vernichteten ganze Kulturen oder dezimierten unbeabsichtigt die Bewohner durch mitgebrachte Krankheiten. Im angeblichen Dienste der Wissenschaft und profitierend von kolonialer Gewalt haben „Anthropologen und Ethnographen das interessante Menschenmaterial kaum bewältigen können“, das dann lebend auf Völkerschauen in Zoos präsentiert oder für Raritätenkabinette ausgestopft wurde. Direktorialassistent v. Luschan sammelte mit Hilfe deutscher Truppen nach jedem Gefecht in Deutsch-Südwestafrika die Schädel der getöteten Herero und ließ internierte Frauen das Fleisch davon abkratzen, bevor die Relikte in den Depots des „Königlichen Museums für Völkerkunde“ in Berlin magaziniert wurden. In die Methoden, mit denen das Wissen erweitert und bewertet wurde, flossen Vorurteile ein. Wie hätte es den Herrn wohl gefallen, wenn die Einheimischen angefangen hätten, ihnen, den unheimlich bleichen Besuchern, Blut abzuzapfen und die Schädel zu vermessen? Die Vorreiter der Rassenhygiene plünderten Gräber für fragwürdige Menschenvergleiche. Thilenius, der ungeniert die Hütten seiner Gastgeber nach Tauschobjekten durchsuchte, war überzeugt, die Europäer hätten nicht etwa Kultur zu den Kolonialvölkern gebracht, die hätten sie schon selbst gehabt, sondern europäische Zivilisation und kritisches Denken. Fragen Sie sich, was an diesem Verhalten zivilisiert sein soll? Die Forderungen auf Rückgabe der aus den Kolonien entführten Objekte werden immer lauter. Die vordergründig die Sklaverei bekämpfenden späten Glücksritter verwandelten selbstgenügsame Paradiese in die Hölle der Zwangsarbeit in Monokulturen. Dass sie damit die lokale Wirtschaft zerstörten und Hungersnöte auslösten, belastete sie wenig. Sprache und Traditionen wurden unterdrückt zugunsten unverständlicher Wertmaßstäbe. Hellsichtig sieht Forster, es wäre für Entdecker und Entdeckte besser, dass die Südsee den unruhigen Europäern unbekannt geblieben wäre. Finsch meinte: „... eigentlich gibt es außer getrocknetem Kokosfleisch nichts zu verhandeln (für die Kaufleute) in nennenswerter Menge.“ Es
ging allein ums Prestige. Hatten viele Reisende anfangs, wenn sie in eine schon bestehende Kolonie kamen, noch einen unabhängigen Blick auf die unbeschreiblichen Zustände, stumpften sie nach einiger Zeit ab und identifizierten sich mit den Geldgebern. Humanität verweigerten sie den Fremden, die sie zuvor degradiert hatten. Sie gebärdeten sich „in aller Unschuld“ als die Herren, requirierten, ohne auch nur zu fragen, Lasttiere (Heßemer) oder stellten gleich Überlegungen zum Umsiedeln der nomadischen Bewohner an, denen es doch egal sein müsse, wo sie herumirren (Forster). Der Leiter der Kolonialschule Witzenhausen, Fabarius, stand nicht allein mit seiner Sorge vor Identitätsverlust. Er sah die Gefahr, dass „deutsche Kolonisten als Kulturdünger im fremden Volkstum aufgehen könnten“. Im Ausland sei streng darauf zu achten, „auch dem leisesten Anfall des „Verpolackisierens“ (Forster) oder der „Verkanackerung“ (Schütz zu Holzhausen) sofort vorzubeugen, da sonst körperlicher, sittlicher und moralischer Verfall drohe. Wer unter den Ausländern das Verhalten seiner Landsleute anprangerte und den Interessen der Handelsgesellschaften im Wege stand, wurde kaltgestellt, indem man Disziplinarverfahren einleitete, in Ruhestand versetzte, als geisteskrank erklärte oder hinrichten ließ. Ein Einzelfall war der Einspruch der Steyler Missionare 1906 in Togo. Obwohl sie sich zwar als Anwälte der Unterdrückten verstanden, stimmten sie Friedrich Fabri, Missionar der Rheinischen Missionsgesellschaft Barmen, zu, der 1879 in Buchform erklärte, warum Deutschland Kolonien brauche. Seelen sollten gerettet und die Moral gehoben werden um jeden Preis. Prügelstrafen waren auch bei deutschen Kindern gewohntes Erziehungsmittel, hie Rohrstock, dort eben Nilpferdpeitsche. Hannah Arendt fand eine Erklärung, warum kultivierte Nationen über fremde Länder herfielen: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Europa im Zuge der Industrialisierung, des Bevölkerungswachstums und der daraus resultierenden Arbeitslosigkeit in einer schweren Krise. Absatzmärkte und Rohstoffe mussten her. Gescheiterte Existenzen wanderten aus. Für die Beamten in Übersee war es eine Mammutaufgabe, eine Verwaltung aufzubauen, gleichzeitig Recht zu sprechen
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und abendländische Normen einzuführen. Sie lernten oft die Sprache nicht, wurden von Ängsten und Phantasien verfolgt und überschätzten sich selbst. So kam es, dass unter staatlichem Schutz Persönlichkeitsstörungen mit Terror ausgelebt wurden. Die Gewalt war in dem kontroll- und rechtsfreien Raum strukturell begünstigt – wie Rebekka Habermas in „Skandal in Togo: Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft“ eindrücklich schilderte – und nur selten Gegenstand von Reichstagsdebatten. Die Geschichten der wenigen, wenigstens namentlich bekannten Opfer werden allmählich aufgearbeitet. Der in Deutschland erzogene Manga Bell, Oberhaupt der Douala in der deutschen Kolonie
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Kamerun, kannte das deutsche Rechtssystem und ging davon aus, da seine Heimat zum Reich gehöre, gelte es auch für ihn. Er wurde Opfer des Intrigenspiels der Mächtigen in Bürokratie und Politik. Korrupte Diktatoren lösten in den 1960ern die Kolonialmächte ab und rafften für den eigenen Clan. In einigen Ländern Afrikas schaffen es die „Erforschten“ von damals, langsam eine Mittelschicht zu bilden und stabile politische Verhältnisse herzustellen. Ob das mit Hilfe der autoritären Chinesen besser zu realisieren ist, bleibt abzuwarten. Bei denjenigen, die Geld zusammenlegen, damit einer von ihnen nach Europa kommt, ist die Geduld am Ende.
Bildquellennachweis Becker 46 Ludwig Becker/ Frederick Schoenfeld del.& lith. Bib ID 2225033 National Library of Australia ref 126843. 47.49 rechts oben und 51: Tipping, LPH Becker, Artist and Naturalist with the Burke and Wills Expedition Melbourne 1979. 48,49 aus: J. J. Kaup, Das Thierreich in seinen Hauptformen, Darmstadt 1863. 50 Die Glocke Bd.4, 1862, 117. Blaramberg 130 E. von Sydow, Erinnerungen aus dem Leben des kaiserlich russischen Generalleutnants Ivan Fedorowitsch Blaramberg, 1875; Nachdruck 2015, 2018. 132 P. Müller-Simonis, Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Durch Armenien, Kurdistan und Mesopotamien, Mainz 1897. 135 Helena Stepanivna Blaramberg, Aquarell Taras Shevchenko Complete Works in 10 Bänden. Kiew: Hrsg. Akademie der Wissenschaften der UkrSSR, 1962, vol. 8, Nr.49 Taras Shevchenko National Museum Inv.g-768. Braun 115 H. Braun, Grundlagen zu einer Geschichte der Familie Braun, 1914. 116 F. Sundstral: Aus der schwarzen Republik. Der Neger-Aufstand auf Santo Domingo oder die Entstehungs-Geschichte des Staates Haïti. Haessel, Leipzig 1903, Stahlstich von Blasius Hoefel (1792–1863). 118 H. F. Helmolt (Hrsg.): History of the World. New York, 1901. 120 Atlas geográfico e histórico de la República de Colombia, 1890; M. Michaelis-Braun, Otto Philipp Braun. Großmarschall von Montenegro. Cancrin 99 F. L. Cancrin: Geschichte und systematische Beschreibung der in der Grafschaft Hanau Münzenberg, in dem Amte Bieber und anderen Aemtern dieser Grafschaft, auch den dieser Grafschaft benachbarten Ländern gelegenen Bergwerke. Hertel, Leipzig 1787, (Fotomechanischer Nachdruck: Bad Orb 1979); Rechts: Aquarell Nechaev E. F Kankrin [https://www.liveinternet.ru/users/kakula/post425629885/] (Zugriff 7.9.2019). 100 Military Encyclopedia Bd.12, Petersburg 1913. 101 Stich nach F. Krüger und techn. Hochschule: https://www.liveinternet.ru/users/ugolieok/post195066334/ [s017.radikal.ru/i420/1111/ e0/9c0068b56207.jpg] (Zugriff: 1.11.2019). 102 Aquarell eines unbekannten Malers. Innenansicht des Schlafzimmers von Cancrin, mit ihm am Schreibtisch und Ehefrau. 1812, Die Welt und der Krieg. Ausstellungskatalog Staatl. Histor. Museum 2008, Katnr.20–257. Dieffenbach 201 L. Haye 1841 nach einer Zeichnung von J. J. Merett Dieffenbach, Ernest. Reisen in Neuseeland [Vol.I] [Capper Nachdruck, 1974] Teil I. – Cooks Straits, Kapitel VII. 203 Nach einer Lithographie von Heaphy, Charles 1840–1843. 204 Zeichnung Cabalus dieffenbachii von John Gerrard Keulemans (1842–1912). Eschwege 145 HLA, StAD, Sig. R4 Nr. 874 (Porträt Wilhelm Ludwig v. Eschwege). 146 Museu Paulista da USP, Sao Paulo. 147 Anonymus um 1830 C.M. Almeida do Amaral, Catalogo descritivo das moedas. (Lisboa, Imprensa Nacional Casa da Moeda, 1977). 149 J. B. Debret, Botokuden 1834 Biblioteca Virtua; J.B.Debret, Voyage pittoresque et historique au Brésil 1816–1831, Bde 1–3, Paris (Firmin Didot Frères) 1834–39, T. 10. Fabarius 170 O. Renkhoff, Nassauische Biographie 2. Aufl., 1992, Nr. 1016. 173 Gartenlaube 1899, 725 „Wilhelmshof“. Forster 89 Georg Forster; J. H. W Tischbein AO unbekannt. 91 Zeichng. v. Forster. 92 W. Hodges, Dusky Bay 1773, Fletcher Trust Collection, on loan to Auckland Art Gallery Toi o Tāmaki. Freyreiß 155 M. zu Wied-Neuwied, Reise nach Brasilien in den Jahren 1815 bis 1817. 2 Bände, Frankfurt 1820–1821. 156 links: Brasilien-Bibliothek der Robert-Bosch-GmbH. Katalog Band II: Nachlass des Prinzen Maximilian zu Wied-Neuwied Teil 1: Illustrationen zur Reise 1815 bis 1817 in Brasilien. Bearb. von Renate Löschner. Bild Nr.201 auf Seite 171; rechts: Vollständige Völkergallerie in getreuen Abbildungen aller Nationen mit ausführlicher Beschreibung derselben, Meißen (Friedrich Wilhelm Goedsche) o. J. (1830–1839), Bd.2, Teil 1, Amerika, Tafel 24 oben. Gorth 158, 159 rechts, 161, 163 J. Besten und J. Mohr, Von Wuppertal in die Welt – Die Anfänge der Rheinischen Missionsgesellschaft. Geschichte in Wuppertal, Bd.18, 2009, 170–179. 159 Sarah Sartjee Baartman, the Hottentot Venus, Now Exhibiting in London, Drawn From Life, circa 1810. Credit City of Westminster Archive Center, London/Bridgeman Art Library. Sie war eine Khoikhoi, die aufgrund ihrer anatomischen Besonderheiten (Fettsteiß) im Jahr 1810 in Europa exotisches Schauobjekt wurde. Nach ihrem Tod 1815 seziert und partiell konserviert. 2002 nach Südafrika überführt. Clifton Crais, Pamela Scully: Sara Baartman and the Hottentot Venus. A Ghost Story and a Biography. Princeton, Oxford 2009. Harnier 18 HLA, StAD Sig.R4 Nr.868 (Porträt Wilhelm v. Harnier). 19, 20 rechts, 21 W. v. Harnier, Reise am oberen Nil. Nach dessen hinterlassenen Tagebüchern herausgegeben von Adolph von Harnier. Mit einem Vorwort von Dr. A. Petermann, farblithogr. Tafeln von C. Heyn, W. Diez, P. Herwegen u. a. nach W. v. Harnier. Darmstadt u. Leipzig, 1866. 20 links HLA, StAD Sig. R4 Nr.5677 (Zeichnung von Wilhelm v. Harnier). 21, 22 W. v. Harnier a. a. O.
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Haßkarl 52 Porträt Xylographie; Romanbearbeitung: H. Krieger, Der Raub des Chinabaums, Braunschweig 1924 auf der Basis eines Artikels von Karl Müller, Die Verpflanzung des Chinabaums und seine Kultur. In: Unsere Zeit: deutsche Revue der Gegenwart, Monatsschrift zum Conversationslexikon, Leipzig 1873, 62ff. 54 Java Botanical Gardens Buitenzorg Indonesia fine plan 1917 color folding map, „Ein offizieller Leitfaden für Ostasien. Band V–Ostindien“, erstellt von der Imperial Japanese Government Railways, Tokio, Japan, 1920. 59 F. E. Köhler, Köhler‘s Medizinal-Pflanzen, 1897. Heßemer 122 HStAD Bestand R 4 Nr. 5612 , 2038, 4310 GF (Porträt Heßemer). 123, 125 , 126 Friedrich Maximilian Heßemer (1800–1860). Ein Frankfurter Baumeister in Ägypten. [Ausstellung: 4.–30.12.2001], [Katalogredaktion: Jürgen Eichenauer]. Frankfurt a. M., 2001, 243. Lithographie 1850; W. Klötzer u. a., Frankfurter Biographien, Frankfurt a. M. 1994. Hoffmann 84 oben: Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt Chart B 533, Bl. 208ev–208fr. 85 Dronte Raphus cucullatus. Faksimile von 1626 Gemälde von Roelant Savery. 86, 87 Caspar Schmalcalden: Reise von Amsterdam nach Pharnambuco in Brasilien. Handschrift. Gotha, 2. Hälfte 17. Jahrhundert. Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt Chart B 533, Bl.218r, Bl 228r. Holzhausen 206 Damian von Schütz, Die deutsche Kolonie in Peru: Schilderung einer Reise dahin, Natur, Klima, Producte, Ackerbau, Geschichte der Gründung der Colonie, freimaurerische Anfeindungen, Weinheim 1870. 207 links: Titelbild: Der Amazonas. Wanderbilder aus Peru, Bolivia und Nordbrasilien, Freiburg 1883¸rechts: B. Habicher, Pozuzo: Schicksal – Hoffnung – Heimat. Briefe. 2003, 139. 209 Die deutsche Colonie in Peru, Weinheim 1870, 12. Kleinschmidt 220 E. G. Franz (Hrsg.), Hessische Entdecker – Forschungsreisende in fünf Erdteilen Ausstellung der Hess. Staatsarchive zum Hessentag 1981. 222 T. Kleinschmidt, Reisen auf den Viti-Inseln. In: Journal Museum Godeffroy Hamburg Heft XIV, 1879, 249–283. 224 Joseph Smit (Zeichner), Amblynura kleinschmidti (=Erythrura kleinschmidti). In: Proceedings of the Zoological Society of London 1878. Koeler 193 E. J. Kauai: The Separate Kingdom, University of Hawaii Press, 1988, 64. 197 Ölgemäde von Agoistinho José da Mota (1824–1878), Coleção Brasíliana, Pinacoteca do Estado de São Paulo. 198 Bibliothek allgemeinen und praktischen Wissens für Militäranwärter Band I, Berlin u. a. 1905. Langsdorff 184 Bemerkungen auf einer Reise um die Welt in den Jahren 1803 bis 1807, Bd.2 Tafeln. 185–87 A. J. v. Krusenstern, Reise um die Welt in den Jahren 1803–1806, St. Petersburg 1810–1812, 3 Bde. 188 R. Wagner und J. Bandeira, Eine Reise nach Brasilien. Aquarelle von Thomas Ender 1817–1818, 2003. 190 unten G. v. Langsdorff: Das Ganze des Spiritualismus in 18 Lehrstunden nebst einigen, aus dem Jenseits beantworteten Fragen, Freiburg 1898; U. Rödling, Georg Heinrich von Langsdorff – der Weltumsegler. In: Lahrer Hinkender Bote. 190 oben F. J. Bertuch ; C. Bertuch, Bilderbuch für Kinder: enthaltend eine angenehme Sammlung von Thieren, Pflanzen, Früchten, Mineralien ... alle nach den besten Originalen gewählt, gestochen und mit einer ... den Verstandes-Kräften eines Kindes angemessenen Erklärung begleitet, Weimar, Gotha 1822. Merck 39 Familienarchiv. 41–43 J. Georgi, Merkwürdigkeiten verschiedener unbekannter Völker des Rußischen Reichs, 1777. Migration 244 Tablett , Porzellan aus der Porzellanmanufaktur Kassel, Staatliche Museen Kassel, Abt. Kunsthandwerk und Plastik, Inv.-Nr. B IX/CLXI Ulrich Schmidt (Hrsg.): Der Schloßpark Wilhelmshöhe in Ansichten der Romantik, Kassel 1993, 59. 245 links: Uffizien Florenz, rechts: Uniform Staatliche Kunstsammlung Kassel. 248 links: Jagdschloss Kranichstein. 250 C. Alberti-Sittenfeld: Die Eroberung der Erde. Der Weiße als Entdecker, Erforscher und Besiedler fremder Erdteile. Klassische Schilderungen, gesammelt von Conrad Alberti-Sittenfeld. Berlin/Wien 1909, 225. Mischlich 212 Archiv der Basler Mission Signatur D–30.52.007. 217 Verlag: F. Kemnitz, Eberswalde. 218 links:Archiv der Basler Mission Signatur D–30.52.003 (1.1.1890–31.12.1897); rechts: Kleiner Deutscher Kolonialatlas, in 3. Auflage hrsg. von der Deutschen Kolonialgesellschaft im Verlag Dietrich Reimer (Ernst Vohsen), Berlin 1899. Rein 68, 69 privat, Schwalm; Johann Justus Rein: ein Raunheimer erforschte Japan. Schriften des Heimatvereins Nr.1, 1982, 13. 70–71 J. J. Rein, Japan. Nach Reisen und Studien 2 Bde. 1881–86. Reitz 9 Familienarchiv Römheld, Hannover. 11 nach einer englischen Vorlage gezeichnet von R. Büttner, Die Gartenlaube (1888). 14 B. Abebe, Histoire de l’Éthiopie d’Axoum à la Révolution, Paris, Maisonneuve & Larose, coll. Monde africain , 1998; HHSta Wien.
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