Nachbarschutz und Rechtssicherheit im baurechtlichen Anzeigeverfahren: Am Beispiel des Kenntnisgabeverfahrens nach § 51 LBOBW [1 ed.] 9783428498536, 9783428098538

Gegenstand der Arbeit ist das baurechtliche Anzeigeverfahren, das im Zuge der Bestrebungen zur Verfahrensbeschleunigung

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Nachbarschutz und Rechtssicherheit im baurechtlichen Anzeigeverfahren: Am Beispiel des Kenntnisgabeverfahrens nach § 51 LBOBW [1 ed.]
 9783428498536, 9783428098538

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 797

Nachbarschutz und Rechtssicherheit im baurechtlichen Anzeigeverfahren Am Beispiel des Kenntnisgabeverfahrens nach § 51 LBOBW Von Karsten Kruhl

Duncker & Humblot · Berlin

KARSTEN KRUHL

Nachbarschutz und Rechtssicherheit im baurechtlichen Anzeigeverfahren

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 797

Nachbarschutz und Rechtssicherheit im baurechtlichen Anzeigeverfahren Am Beispiel des Kenntnisgabeverfahrens nach § 51 LBOBW

Von Karsten Kruhl

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kruhl, Karsten: Nachbarschutz und Rechtssicherheit im baurechtlichen Anzeigeverfahren : am Beispiel des Kenntnisgabeverfahrens nach § 51 LBOBW / von Karsten Kruhl. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 797) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-09853-6

Alle Rechte vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09853-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Herbst 1998 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau als Dissertation angenommen. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Thomas Würtenberger, der das Entstehen dieser Arbeit mit fördernder Kritik begleitet hat und mir gleichzeitig inhaltlich alle Freiheiten ließ. Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Martin Bullinger danke ich für die Erstattung des Zweitgutachtens. Den Mitarbeitern des bisherigen Instituts fur öffentliches Recht, Abteilung IV, unter der Leitung von Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Martin Bullinger, danke ich für vielfaltige Hilfe, insbesondere für das Korrekturlesen Frau Doris Armbruster und meinem Bruder Klaas Kruhl, LL.M., der auch sonst maßgeblich dazu beigetragen hat, mir den für das Entstehen dieser Arbeit erforderlichen Rückhalt zu verschaffen. Meinen Eltern, Astrid und Reiner Kruhl, danke ich für ihre großartige Hilfeleistung und Förderung während dieser Zeit. Dank gebührt auch meinem Onkel, Dr. med. Arnim Horn, für seine technische Unterstützung. Für die Gewährung eines Promotionsstipendiums danke ich der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg und für einen Druckkostenzuschuß dem Bundesministerium des Innern.

Freiburg, im Januar 1999

Karsten Kruhl

Inhaltsverzeichnis Einleitung

17

Α. Einfuhrung in die Problematik

17

B. Gang der Untersuchung

18

1. Kapitel Die Einführung des Kenntnisgabeverfahrens vor dem Hintergrund der Verwaltungsrechtsreform A. Das Kenntnisgabe verfahren zwischen Beschleunigung, Privatisierung und Deregulierung

20

20

1. Beschleunigung

22

2. Privatisierung

24

3. Deregulierung

25

a) Ursachen für die hohe Regelungsdichte im Baurecht

27

b) Fehlende Deregulierungsmaßnahmen in der neuen LBO

28

B. Die Baufrei Stellungsverordnung als Vorläufer des Kenntnisgabe Verfahrens ...

29

2. Kapitel Verfahrensrechtliche Ausgestaltung und dogmatische Einordnung des Kenntnisgabeverfahrens A. Die Ausgestaltung des Verfahrensrechts

31 31

1. Verfahrensdreiteilung in Baden-Württemberg

31

2. Anwendungsbereich des Kenntnisgabe Verfahrens

31

3. Der Verfahrensablauf im Kenntnisgabe verfahren

32

B. Überblick über das Verfahrensrecht in den Bundesländern

34

1. Genehmigungsfreistellungsverfahren in Niedersachsen

35

2. Bundesländer mit Anzeigeverfahren

36

3. Bundesländer mit vereinfachtem Genehmigungsverfahren

36

Inhalts verzeichni s

10

4. Bundesländer mit Genehmigungsfreistellungsverfahren und vereinfachtem Genehmigungsverfahren

37

5. Bundesländer mit Anzeigeverfahren und vereinfachtem Genehmigungsverfahren

40

C. Rechtsdogmatische Einordnung des Kenntnisgabeverfahrens

41

1. Genehmigungspflicht als präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt

43

2. Verfahrensfreiheit als Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt

45

3. Kenntnisgabepflicht als präventives Verbot mit Anzeigevorbehalt und Untersagungsmöglichkeit im Einzelfall

45

a) Die Regelungstechnik des Kenntnisgabeverfahrens

45

b) Abgrenzung des Kenntnisgabe Verfahrens von den rein informatorischen Anzeigepflichten

48

c) Abgrenzung des Kenntnisgabeverfahrens von den Genehmigungsfreistellungsverfahren

49

d) Abgrenzung des Kenntnisgabeverfahrens von den früheren Anzeigeverfahren

50

D. Weitere dogmatische Einordnung des Kenntnisgabeverfahrens

52

1. Das Erlöschen des Bauverbotes als Verfahrensziel

53

2. Zielgerichtetheit der Verwaltung der Bauvorlagen auf eine effektive Gefahrenabwehr

53

3. Beteiligung der Angrenzer

54

4. Fazit

56

3. Kapitel Verfassungsrechtliche Relevanz von Verfahrensabhängigkeit und Verfahrensdauer

57

A. Verfahrensabhängigkeit der Baufreiheit

57

B. Verfassungsrechtliche Relevanz der Verfahrensdauer

60

1. Relevanz der Verfahrensdauer für Art. 14 Abs. 1 GG

61

2. Relevanz der Verfahrensdauer für Art. 3 Abs. 1 GG

63

3. Relevanz der Verfahrensdauer für Art. 19 Abs. 4 GG

64

4. Relevanz der Verfahrensdauer für die Rechtsstaatlichkeit

67

5. Pflicht des Staates zur Verfahrensbeschleunigung

68

Inhaltsverzeichnis 6. Ergebnis

69

4. Kapitel Zulässigkeit der Aufgabenprivatisierung im Kenntnisgabeverfahren

71

A. Privatisierung administrativer Kontrolle im Kenntnisgabeverfahren

71

B. Zulässigkeit der Privatisierung

74

1. Art. 33 Abs.4 GG als Privatisierungssperre

75

2. Das Rechtsstaatsprinzip als Privatisierungssperre

80

a) Qualifikation und Zuverlässigkeit der Privaten bei der Kontrolle des Bauvorhabens

80

b) Kenntniserlangung von rechtswidrigen Bauwerken

83

c) Ergebnis

83

3. Die staatliche Schutzpflicht als Privatisierungssperre

85

4. Fazit

85

5. Kapitel Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht für den Nachbarschutz im Kenntnisgabeverfahren A. Nachbarschutz durch das Kenntnisgabeverfahren

86 87

1. Fehlender Schutz präventiver staatlicher Kontrolle im Kenntnisgabeverfahren

88

a) Nachbarschutzfunktion der Amtsermittlung

89

b) Selbstverantwortlichkeit im Kenntnisgabeverfahren

90

c) Fazit

91

2. Einschränkung der Verfahrensbeteiligung im Kenntnisgabeverfahren

91

a) Problematik der Informationsbeschaffung von dem geplanten Vorhaben

92

b) Beteiligung der Angrenzer durch die Möglichkeit des Vorbringens von Bedenken

94

c) Ergebnis zur Verfahrensbeteiligung

95

3. Ergebnis zum Nachbarschutz durch das Kenntnisgabeverfahren B. Rechtsschutzverkürzung durch das Opportunitätsprinzip

96 96

12

Inhaltsverzeichnis 1. Präventiver Schutz des Nachbarn vor Beeinträchtigungen durch die Errichtung eines nachbarrechtsverletzenden Bauwerks

96

a) Nachbarschutz im Genehmigungsverfahren - der nachbarrechtliche Genehmigungsabwehranspruch

96

b) Rechtsschutzverkürzung durch Ermessensentscheidung im Kenntnisgabeverfahren

98

aa) Anforderungen der herrschenden Meinung an eine Ermessensreduzierung auf Null bei einem Antrag auf Einschreiten bb) Ergebnis zum präventiven Nachbarschutz

100

bei Zugrundele-

gung der bisher herrschenden Meinung c) Ergebnis

101 101

2. Repressiver Schutz des Nachbarn gegen die unter Verletzung der Nachbarrechte geschaffene Bausubstanz

101

a) Die Rechtslage bei nachträglicher Aufhebung der nachbarrechtsverletzenden Baugenehmigung

102

b) Die Rechtslage im Kenntnisgabeverfahren

104

c) Ergebnis

104

3. Ergebnis zum Nachbarschutz im Kenntnisgabeverfahren bei einem Antrag auf baupolizeiliches Einschreiten C. Vorläufiger Rechtsschutz des Nachbarn im Kenntnisgabe verfahren

105 105

1. Konsequenzen der Verfahrensänderung für den vorläufigen Rechtsschutz

106

2. Risiko von Schadensersatzansprüchen gem. § 945 ZPO ?

107

3. Ergebnis

109

D. Zwischenergebnis

109

E. Der Meinungsstand zur Gewährleistung des Nachbarschutzes in den genehmigungsfreien Verfahren

110

1. Weiterer Rückzug der Baurechtsbehörde aus dem repressiven Nachbarschutz als Folge einer Grundentscheidung des Gesetzgebers

110

2. Aufrechterhaltung der bisherigen Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung auf Null 3. Kompensation des verringerten Nachbarschutzes durch eine Absenkung der Anforderungen an eine Ermessensreduzierung F. Die staatliche Schutzpflicht im Nachbarschafts Verhältnis

113 113 115

Inhaltsverzeichnis 1. Ausgestaltung und Schutz des Eigentums

116

2. Die grundrechtliche Schutzpflicht als Maßstab für den zu gewährleistenden Nachbarschutz

118

3. Umfang der Schutzpflicht

120

4. Zivilrechtlicher Nachbarschutz

124

5. Fazit

129

G. Die staatliche Schutzpflicht als Ausgangspunkt für einen systematischen Nachbarschutz

129

1. Die Genehmigung als Eingriff

130

2. Privates Handeln als staatlicher Eingriff kraft Zurechnung ?

131

3. Systematische Einwendungen gegen die Anwendbarkeit des Folgenbeseitigungsanspruchs 4. Ergebnis

134 136

H. Die Verpflichtung der Baurechtsbehörde zum Schutz des Nachbareigentums

136

1. Die Bindung der Verwaltung an die grundrechtliche Schutzpflicht ....

137

2. Gesetzesmediatisierte Schutzpflichten der Eingriffsverwaltung

137

3. Bedeutung der grundrechtlichen Schutzpflicht für den Gesetzesvollzug

138

4. Befugnis zur Kompensation defizitärer legislativer Schutzpflichterfüllung durch die Exekutive

I.

139

5. Pflicht der Baurechtsbehörde zu einer Kompensation defizitärer legislativer Schutzpflichterfüllung

140

6. Keine Kollision der Handlungspflicht mit dem Erfordernis polizeilicher Flexibilität

141

7. Administrative Freiheit bei der Wahl des Schutzmittels

142

8. Ergebnis

143

Kompensation des defizitären Nachbarschutzes im Kenntnisgabeverfahren 1. Kompensation des defizitären präventiven Nachbarschutzes a) Notwendigkeit von Prävention

143 144 144

aa) Faktische Hindernisse für die Beseitigung einer Beeinträchtigung des Nachbareigentums bb) Rechtliche Hindernisse für die Beseitigung einer Beeinträchtigung des Nachbareigentums

145 145

Inhaltsverzeichnis

14 cc) Fazit

147

b) Handlungspflicht der Baurechtsbehörde zur Gewährleistung effektiven präventiven Nachbarschutzes im Kenntnisgabeverfahren

148

aa) Unzulässigkeit einer umfassenden Kompensation im Kenntnisgabe verfahren

148

bb) Kompensation durch administrative Handlungspflicht bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens ( 1 ) Ermächtigung zum präventiven Einschreiten bei Zweifeln

149 150

(2) Vermutung für die Einhaltung der baurechtlichen Vorschriften ?

151

(3) Pflicht der Baurechtsbehörde zum Einschreiten bei Zweifeln

152

(4) Fazit

155

cc) Folgerungen aus der Pflicht der Behörde zu einem effektiven Eigentumsschutz für die anspruchsbegründende Beeinträchtigungsintensität

155

(1) Verpflichtung zu einem effektiven präventiven Nachbarschutz unabhängig von der Intensität der Beeinträchtigung im Kenntnisgabe verfahren

155

(2) Verpflichtung zu einem effektiven präventiven Nachbarschutz unabhängig von der Intensität der Beeinträchtigung bei "Schwarzbauten"

156

2. Folgerung aus der Pflicht der Behörde zu einem effektiven Eigentumsschutz für einen Anspruch auf repressives Einschreiten

157

a) Grundsätzliche Pflicht zum Einschreiten bei rechtswidrigen Beeinträchtigungen des Nachbarn

J.

158

b) Ergebnis

159

c) Systemgerechtigkeit beim repressiven Nachbarschutz auf der Grundlage der staatlichen Schutzpflicht als Ausgangspunkt

159

Zusammenfassung

160

6. Kapitel Die Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabeverfahren

162

A. Verfassungsrechtlicher Standort und wirtschaftliche Bedeutung der Rechtssicherheit

162

Inhaltsverzeichnis 1. Rechtssicherheit als Freiheitssicherung

162

2. Rechtssicherheit als Investitionsfaktor

163

B. Die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung

164

1. Der Umfang der Legalisierungswirkung

165

2. Die Bindungswirkung der Baugenehmigung

168

a) Keine privatrechtsgestaltende Wirkung der Baugenehmigung

168

b) Bindung der Zivilgerichte an die Baugenehmigung

169

c) Bindung der Verwaltung an die Baugenehmigung

171

3. Fazit C. Schutz des Bauherrn im Kenntnisgabeverfahren

171 172

1. Bestandsschutz

172

2.

174

Vertrauensschutz

3. Verwirkung

178

4.

181

Verjährung

5. Fazit

183

D. Verstärkung der Rechtsunsicherheit im Kenntnisgabeverfahren durch erhöhte Gefahr von Nachbarklagen 1. Verstärkung der Rechtsunsicherheit durch fehlenden Interessenausgleich im Kenntnisgabe verfahren

183

183

2. Verstärkung der Rechtsunsicherheit aufgrund der Notwendigkeit effektiver präventiver Gefahrenabwehr

184

3. Schutz des Bauherrn im Kenntnisgabeverfahren vor zeitlich unbegrenzter Inanspruchnahme aufgrund von Nachbaransprüchen

185

4. Fazit

188

E. Beurteilung bei unbestimmten Rechtsbegriffen

188

F. Die Rechtsstellung des Bauherrn bei Nichtigkeit des Bebauungsplans ....

189

1. Die Rechtslage im Genehmigungsverfahren

191

2. Die Rechtslage im Kenntnisgabeverfahren

192

a) Bestandsschutz

193

b) Schutz des Vertrauens in die Wirksamkeit eines rechtswidrigen Bebauungsplans

194

Inhaltsverzeichnis

16

3. Konsequenzen aus der Rechtslage für die Entscheidung der Behörde über ein bauordnungsrechtliches Einschreiten 4. Staatshaftung

196 198

a) Fehlgeschlagene Planungsaufwendungen

198

b) Verlust des Gebäudewertes

201

5. Ergebnis

201

6. Versuch einer Problemlösung in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen

202

G. Wirtschaftliche Konsequenzen der Rechtsunsicherheit im Kenntnisgabeverfahren

203

1. Baufinanzierung

204

2. Weiterveräußerung

204

3. Baulandhandel

205

4. Ergebnis

205

H. Die Baugenehmigung als staatliche Leistung

206

I.

Anspruch des Bauherrn auf Erlaß eines feststellenden Verwaltungsakts

207

J.

Zusammenfassung

210

7. Kapitel Vergleich der Beschleunigungsmechanismen in den beschleunigten Verfahren der Bundesländer

211

A. Privatisierung administrativer Kontrolle im Genehmigungsfreistellungsverfahren

211

B. Verringerung des Prüfungsumfangs im vereinfachten Genehmigungsverfahren

212

C. Fiktion der Baugenehmigung nach Fristablauf

215

Resümee

219

Literaturverzeichnis

221

Sachwortverzeichnis

245

Einleitung Α. Einführung in die Problematik Im Zuge der Novellierung der Landesbauordnung Baden-Württemberg wurde zum Ol. Januar 1996 das Kenntnisgabeverfahren in das Bauordnungsrecht aufgenommen. Das Kenntnisgabeverfahren ersetzt für bestimmte Vorhaben bis zur Hochhausgrenze im Bereich qualifizierter Bebauungspläne das traditionelle Baugenehmigungsverfahren. Eine Baugenehmigung wird im Kenntnisgabeverfahren nicht mehr erteilt. Wohl selten war eine Gesetzesänderung im Baurecht so umstritten wie die Abschaflüng der Baugenehmigung1. Durch die Einführung des Kenntnisgabeverfahrens werden erstmalig staatliche Aufgaben im Bereich des Bauordnungsrechts in großem Umfang privatisiert. Die Verfahrensänderung leitet einen Wandel in der Praxis der Bauaufsicht ein, der in einer Loslösung von der klassischen präventiven Kontrolle und einer Verlagerung der staatlichen Kontrolle auf die allgemeine Bauaufsicht besteht. Mit der Abschaffüng der Baugenehmigung entfällt der administrative Ordnungsmechanismus, der dem öffentlichen Baurecht bislang prägend zugrunde lag. Durch den Verzicht auf das traditionelle Genehmigungsverfahren wird der Baurechtsbehörde die Fähigkeit zu einer frühzeitigen Einflußnahme auf das Bauvorhaben und die Möglichkeit der ordnenden Gestaltung der potentiellen Interessengegensätze entzogen. Die administrative Regelungsmacht, die nicht nur im öffentlichen Interesse steht, sondern auch für die

1

Zur K r i t i k siehe vor allem Ortloff.; N V w Z 1995, 112 (118 f.); ders., Die fiktive Baugenehmigung, in: Festschrift für Konrad Geizer, 1991, 223 (229 f.); Simon, BayVBl. 1994, 332 (332 ff.); ders., BayVBl. 1994, 581 (581 ff.); Broß, ZfBR 1991, 43 (43 ff.); dersAusgewählte Probleme des Baurechts, VerwArch 85 (1994), 129 (129 ff.); Blümel, Vereinfachung des Baugenehmigungsverfahrens und Nachbarschutz, in: Festschrift für Karlheinz Boujong, 1996, 551 (524); Goerlich, SächsVBl. 1995, 249 (249 ff.); ders., SächsVBl. 1996, 1 (1 ff.); Pfaff 9 VB1BW 1996, 281 (288); Wörner, BWGZ 1995, 456 (458); Kronenbitter, BWGZ 1994, 632 (632 ff.); Hillebrand, BWGZ 1995, 445 (445); Mampel. N V w Z 1996, 1160 (1166). Zur Verteidigung des Verfahrensabbaus vgl. Jäde, BayVBl. 1994, 363 (363 ff.); ders., N V w Z 1995, 672 (672 ff.); Brechtken, B W G Z 1995, 455 (455); Kubach, BWVP 1996, 73 (74 ff.). 2 Kruhl

18

Einleitung

Nachbarbeziehung von maßgeblicher Bedeutung war, wird durch eine private Überprüfung der Einhaltung der baurechtlichen Vorschriften ersetzt. Der Errichtung des Bauvorhabens geht nicht mehr ein interaktiver Interessenausgleichsprozeß voran, dessen Ergebnis durch eine Baugenehmigung verbindlich festgestellt wird. Hieraus ergeben sich weitreichende Folgen für die Rechtsbeziehungen zwischen Baurechtsbehörde, Bauherr und Nachbar. Aus der Sicht des Bauherrn steht dem angestrebten Beschleunigungsvorteil und der Befreiung der grundrechtlichen Baufreiheit von der Verfahrenslast des Genehmigungsverfahrens ein Verlust des durch die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung vermittelten Schutzes vor bauordnungsrechtlichen Maßnahmen gegenüber. Die gesetzgeberische Zielsetzung der Verbesserung der Investitionsbedingungen und einer damit verbundenen Entlastung des Wohnungsmarktes durch eine Beschleunigung des baurechtlichen Verfahrens läßt sich aber nur insoweit verwirklichen, als die Beschleunigungsvorteile den mit der Verfahrensänderung verbundenen Verlust an Rechtssicherheit und damit an Planungs- und Investitionssicherheit überwiegen. Für den Nachbarn ergeben sich aus der Abschaffung des Genehmigungsverfahrens weitreichende Konsequenzen im Hinblick auf den Schutz seiner Eigentumsposition. Durch das Genehmigungsverfahren und den an die Baugenehmigung anknüpfenden Genehmigungsabwehranspruch sowie den Beseitigungsanspruch im Falle einer Verletzung nachbarschützender Vorschriften war der Nachbar bislang umfassend geschützt. Im Kenntnisgabeverfahren muß der Nachbar dagegen einen Anspruch auf bauordnungsrechtliches Einschreiten geltend machen, um wirksamen Schutz vor Beeinträchtigungen durch ein nachbarrechtsverletzendes Bauwerk zu erreichen. Mit der Privatisierung administrativer Kontrolle entfallt jedoch nicht die Verpflichtung des Staates, einen effektiven Schutz des Nachbareigentums zu gewährleisten. Es stellt sich daher die Frage, ob die bestehenden Grundsätze hinsichtlich eines Anspruchs des Nachbarn auf baubehördliches Einschreiten aufrechterhalten werden können. B. Gang der Untersuchung Der Untersuchung wird im ersten Kapitel ein Überblick über die dem Kenntnisgabeverfahren zugrundeliegenden Reformansätze einschließlich der Darstellung der gesetzgeberischen Zielsetzung bei der Novellierung des Bauordnungsrechts vorangestellt. Die Darstellung erfolgt vor dem Hintergrund der

Β. Gang der Untersuchung

19

umfassenden Reformbestrebungen im Verwaltungsrecht, die seit Beginn der neunziger Jahre weite Bereiche staatlicher Aufsicht über wirtschaftliches Handeln erfaßt haben. Im zweiten Kapitel wird das Kenntnisgabeverfahren, das als Anzeigeverfahren aufgrund seiner in der Vergangenheit untergeordneten praktischen Bedeutung nur ansatzweise dogmatisch erfaßt wurde, hinsichtlich seiner Regelungstechnik analysiert und dogmatisch eingeordnet. Im dritten Kapitel wird die verfassungsrechtliche Relevanz der Verfahrensabhängigkeit des Bauens und die grundrechtliche Bedeutung der Verfahrensbeschleunigung für den Bauherrn aufgezeigt und im Anschluß die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Privatisierung bisher staatlich erfüllter Aufgaben im Bereich des Bauordnungsrechts erörtert. Im fünften Kapitel werden die Konsequenzen aus der Verfahrensänderung für den Nachbarschutz analysiert. Es wird untersucht, inwieweit sich der Nachbarschutz im Kenntnisgabeverfahren in die überkommene Systematik einfügt. Dabei wird die Rechtslage im Kenntnisgabeverfahren mit den Nachbarschutzmechanismen im Baugenehmigungsverfahren verglichen. Im Anschluß an die Darstellung des Nachbarschutzes im Kenntnisgabeverfahren wird der Versuch unternommen, konkrete Handlungspflichten der Baurechtsbehörde festzulegen, die geeignet sind, den defizitären Nachbarschutz im Kenntnisgabeverfahren zu kompensieren. Im Rahmen einer Systematisierung wird die Rechtslage bei der Errichtung eines nachbarrechtsverletzenden Bauwerks durch die Ausnutzung einer rechtswidrigen Baugenehmigung, bei "Schwarzbauten" und bei nachbarrechtsverletzenden Bauwerken, die im Kenntnisgabeverfahren errichtet werden, als strukturell gleichartig qualifiziert. Im sechsten Kapitel werden die Auswirkungen der Verfahrensänderung für die Rechtssicherheit des Bauherrn analysiert. Es wird erörtert, inwieweit der Bauherr, dem die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung fehlt, durch die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts vor nachträglichen bauordnungsrechtlichen Maßnahmen geschützt wird. Des weiteren wird die Rechtslage im Falle der Nichtigkeit des Bebauungsplans erörtert. Von den Ergebnissen zum Nachbarschutz und zur Rechtssicherheit im Kenntnisgabeverfahren ausgehend, werden im siebenten Kapitel die verschiedenen Beschleunigungsmechanismen in den Landesbauordnungen mit dem Kenntnisgabeverfahren vergleichend erörtert.

Ì. Kapitel

Die Einführung des Kenntnisgabeverfahrens vor dem Hintergrund der Verwaltungsrechtsreform Die Einführung des Kenntnisgabeverfahrens als das Kernstück 2 der Beschleunigungs- und Privatisierungsbestrebungen auf dem Gebiet des Bauordnungsrechts in Baden-Württemberg ist vor dem Hintergrund der Diskussion um die Reformierung des Verwaltungsrechts zu sehen, die mittlerweile fast alle Bereiche staatlicher Aufsicht über wirtschaftliches Handeln ergriffen hat.

A. Das Kenntnisgabeverfahren zwischen Beschleunigung, Privatisierung und Deregulierung Die aktuelle Diskussion um die Reformierung von Verwaltung und Verwaltungsrecht ist geprägt durch die Forderungen nach einer Beschleunigung von Verwaltungsverfahren und einem Abbau von staatlicher Reglementierung und administrativer Kontrolle über privat(wirtschaftlich)e Betätigung. Die Beschleunigung und Vereinfachung von Verwaltungsverfahren steht bereits seit einiger Zeit 3 im Zentrum der politischen und rechtswissenschaftlichen Diskussion4. Mittlerweile ist eine Vielzahl von Beschleunigungsgesetzen in Kraft getreten 5.

2 So die Begründung zum Gesetzentwurf der Landesregierung L T - B W Drs. 11/5337, S. 73. 3 Zum Baugenehmigungsrecht vgl. bereits Stich, DVB1. 1984, 905 (905 ff.). 4 Aus der umfangreichen Literatur vgl.: Beschleunigungskommission, S. 21 ff.; Bullinger, Beschleunigte Genehmigungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben, S. 15 ff.; ders., JZ 1991, 53 (53 ff.); ders., DVB1. 1992, 1463 (1463 ff.); ders., JZ 1993, 492 (492 ff.); ders., JZ 1994, 1129 (1129 ff.); ders., Beschleunigte Genehmigungs- und Planungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben, in: Blümel/Pitschas, Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, S. 127 ff.; Schlichter, DVB1. 1995, 173 (173 ff.); Rombach, Der Faktor Zeit in umweltrechtlichen Genehmigungsverfahren, S. 27 ff.; Steinberg/Allert/Grams/Scharioth, Zur Beschleunigung des Genehmigungsverfahrens für Industrieanlagen, S. 9 ff.; Brohm, N V w Z 1991, 1025

Α. Beschleunigung, Privatisierung und Deregulierung

21

Über das Bedürfnis einer Verkürzung u n d Flexibilisierung v o n V e r w a l tungsverfahren bestand u n d besteht ein breiter gesellschaftlicher Konsens 6 . Vorrangiges Reformziel ist die Verbesserung der Investitionsbedingungen zur Sicherung der Konkurrenzfähigkeit des Standorts Deutschland, der infolge der durchgreifenden strukturellen Wandlungen i n der Weltwirtschaft i m internationalen Wettbewerb u m Investitionen einem verschärften Wettbewerbsdruck ausgesetzt ist 7 . D u r c h die Beschleunigung der vielfach als zu langwierig k r i t i sierten 8 Verwaltungsverfahren sollen Investitionshemmnisse abgebaut werden. Darüber hinaus soll der Faktor Zeit durch die Verfahrensbeschleunigung z u m Ausgleich für Standortnachteile nutzbar gemacht werden 9 , u m Investoren für den Standort Deutschland zu werben 1 0 . Prägend für die aktuelle Reformierung v o n Verwaltung u n d Verwaltungsrecht ist des weiteren der Abbau staatlicher Kontrolle zugunsten gesellschaftli-

(1025 ff.); Schulte, Möglichkeiten zur Beschleunigung baulicher Vorhaben, S. 19 ff.; Ronellenfìtsch, Beschleunigung und Vereinfachung der Anlagenzulassungsverfahren, S. 17 ff.; Pfeil, DVB1. 1993, 474 (474 ff.); Krumsiek/Frenzen, DÖV 1995, 1013 (1013 ff.); Erbguth, JZ 1994, All (411 ff.); Lübbe-Wolff ZUR 1995, 57 (57 ff.); Stüer, DVB1. 1997, 326 (326 ff.). 5 Zu den Beschleunigungsgesetzen, die im Hinblick auf die Ergebnisse der Beschleunigungskommission verabschiedet wurden, siehe: Zweite Verordnung zur Änderung der Verordnung über genehmigungsbedürftige Anlagen vom 16.12.1996, BGBl. I, S. 1959 ff.; Sechstes Gesetz zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes vom 11.11.1996, BGBl. I, S. 1690 ff.; Sechstes Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze (6.VwGOÄndG) vom 1.11.1996, BGBl. I, S. 1626 ff.; Gesetz zur Beschleunigung und Vereinfachung immissionsschutzrechtlicher Genehmigungsverfahren vom 9.10.1996, BGBl. I, S. 1498 ff.; Gesetz zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren (Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsgesetz - GenBeschlG) vom 12.09.1996, BGBl. I, S. 1354 ff. 6 Beschleunigung ist "in", lautet die Überschrift zur Einleitung der Untersuchung von Rombach, Der Faktor Zeit in umweltrechtlichen Genehmigungsverfahren, S. 27. 7 Beschleunigungskommission, S. 21 ff., 29 f.; Eyermann, W i V e r w 1991, 21 (21 f f ); Bullinger, JZ 1991, 53 (59 f.); BMWi-Dokumentation, Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren. 8 Vgl. Schlichter, DVB1. 1995, 173 (174); Eyermann, WiVerw 1991, 21 (25 ff.); Lieser, W i V e r w 1991, 40 (40 ff.); Steinberg, N V w Z 1995, 209 (209). 9 Vgl. Beschleunigungskommission, S. 36, Der Zeitgewinn als ein "Substitut für hohe Löhne", und S. 48. 10 Siehe dazu auch den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsgesetz, BT-Drs. 13/3995, S. 1 sowie den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Beschleunigung und Vereinfachung immissionsschutzrechtlicher Genehmigungsverfahren, BT-Drs. 13/3996, S. 1.

1. Kap.: Die Einführung des Kenntnisgabe Verfahrens

22

eher Selbstregulierung 11. Die Reformdiskussion um einen Rückbau präventiver staatlicher Kontrolle bei teilweiser Übertragung von Kontrollaufgaben auf Private wurde dabei mitgetragen von der Vorstellung der Verwirklichung freiheitlicher privater Betätigung im Sinne eines klassisch liberalen Verständnisses12. Die häufig angegriffene wohlfahrtsstaatliche Ausweitung staatlicher Aufgaben wird durch die Privatisierungs- und Beschleunigungsbestrebungen gestoppt, und es wird eine Wende hin zu einer verstärkten Eigenverantwortlichkeit eingeleitet13. 1. Beschleunigung Die Beschleunigung präventiver bauordnungsrechtlicher Verfahren war ein wesentlicher Bestandteil der Diskussion um die Reformierung des Verwaltungsrechts 14. Mit der Einfuhrung des Kenntnisgabeverfahrens zum Ol. Januar 1996 hat der Landesgesetzgeber in Baden-Württemberg die vielfach erhobene Forderung nach einer Beschleunigung des bauordnungsrechtlichen Verfahrens umgesetzt. Mittlerweile enthalten die Bauordnungen aller Bundesländer beschleunigte Verfahren 15.

11

Vgl. dazu ausführlich: Schmidt-Preuß, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997), 161 (161 ff.); Di Fabio , Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung V V D StRL 56 (1997), 235 (235 ff.). 12 Vgl. dazu Bullinger, DVB1. 1992, 1463 (1464 f.). 13 Vgl. Ritter, Bauordnungsrecht in der Deregulierung, in: Hoppe/Bauer/Faber/Schink, Rechts- und Anwendungsprobleme der neuen Bauordnung N W , S. 30, mit der Feststellung, daß die Reformierungsdiskussion inzwischen in eine grundsätzliche Debatte über das Staats- und Gesellschaftsverständnis eingemündet ist. Vgl. dazu Grimm, Die Zukunft der Verfassung S. 200 ff; Erichsen, Schutz der Allgemeinheit und der individuellen Rechte durch die polizei- und ordnungsrechtlichen Handlungsvollmachten der Exekutive, VVDStRL 35 (1977), 171 (177 ff.); ders. y DVB1. 1983, 289 (292 f.). 14 Vgl. dazu Schulte, Möglichkeiten zur Beschleunigung baulicher Vorhaben, S. 19 ff.; Ritter, Bauordnungsrecht in der Deregulierung, in: Hoppe/Bauer/Faber/Schink, Rechts- und Anwendungsprobleme der neuen Bauordnung N W , S. 6 ff. 15 Art. 64, 80 BayBO, §§ 1 ff. Berliner BaufreistellungVO, § 60a Berl.BO, § 69 BbgBO, §§ 66, 67 BremBO, Hamburger BauanzeigeVO, § 2 HambWoBauErlG, § 67 HBO, §§ 63, 64 L B O M - V , § 69a NBauO, §§ 67, 68 BauO N W , §§ 65, 65a LBO RP, §§ 66, 67 L B O Saarland, §§ 62a, 62b SächsBO, § 66 BauO LSA, §§ 74, 75 L B O S-H, §§ 62a, 62b ThürBO.

Α. Beschleunigung, Privatisierung und Deregulierung

23

Der zentrale Beschleunigungsmechanismus des Kenntnisgabeverfahrens besteht in dem Verzicht auf eine obligatorische präventive staatliche Kontrolle des Bauvorhabens. Während im Genehmigungsverfahren vor der Erteilung der Bauerlaubnis eine umfassende Kontrolle des Bauvorhabens durch die Baurechtsbehörde vorgenommen wird, die den Zeitpunkt des Baubeginns hinausschiebt, entfällt diese Verzögerung mit dem Wegfall der präventiven staatlichen Kontrolle im Kenntnisgabeverfahren. Im Kenntnisgabeverfahren muß der Bauherr nicht mehr auf die Erteilung der Baugenehmigung warten, bevor er mit der Bauausführung beginnen darf, sondern er kann bereits nach einer vergleichsweise kurzen Wartefrist nach der Anzeige des Bauvorhabens an die Gemeinde mit dem Bau beginnen16. Aus verfahrensrechtlicher Sicht bedeutet der Verzicht auf die staatliche Kontrolle des Bauvorhabens die Abschaffüng von Verfahrenshandlungen und damit die teilweise Abschaffüng von Verfahren 17 . Die Aufgabe der Prüfung der Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit den Bauvorschriften wird im Kenntnisgabeverfahren auf die vom Bauherrn beauftragten Privaten übertragen 18. Auf eine Kurzform gebracht, ist das Kenntnisgabeverfahren Verfahrensbeschleunigung durch Verfahrensabschaffüng und Privatisierung administrativer Kontrolle. Im Rahmen der Novellierung der Bauordnung hat der Gesetzgeber des weiteren Fristen für das Genehmigungsverfahren geschaffen 19. Dadurch soll der zeitliche Ablauf des Genehmigungsverfahrens gestrafft und der Zeitpunkt des Baubeginns für den Bauherrn kalkulierbarer gemacht werden 20. Die Zielsetzung der Neuregelung des Verfahrensrechts in BadenWürttemberg entspricht der Zielrichtung der allgemeinen Reformdiskussion im Verwaltungsrecht. Der erforderliche Zeitaufwand für die Verwirklichung von Investitionsvorhaben wird durch die Dauer bauordnungsrechtlicher Genehmigungsverfahren mitbestimmt. Die als zu zeitintensiv kritisierten Baugenehmigungsverfahren wurden aus diesem Grund zunehmend als Investitionshindernis angesehen21. Durch die Einführung des Kenntnisgabeverfahrens

16

Zur Verfahrensausgestaltung im einzelnen siehe unten, 2. Kap., A 3 und

C 3. 17 18 19 20

Vgl. Ortloff N V w Z 1995, 112 (113). Siehe dazu im folgenden Abschnitt, 1. Kap., A 2 sowie 4. Kap. Vgl. dazu ausführlich S. Schulte, VB1BW 1996, 289 (289 ff.). Begründung zum Gesetzentwurf der Landesregierung, LT-Drs. 11/5337, S.

114. 21 Beschleunigungskommission, S. 159 ff.; Ritter, Bauordnungsrecht in der Deregulierung, in: Hoppe/Bauer/Faber/Schink, Rechts- und Anwendungsprobleme der neuen Bauordnung N W , S. 11; B.H. Schulte, BauR 1995, 174 (174); S.

24

1. Kap.: Die Einführung des Kenntnisgabe Verfahrens

sollten Investitionshemmnisse abgebaut und dadurch positive Effekte für die Standortsicherung erzielt werden 22. Daneben ist verstärkt auch der Wille zu einer Verringerung der Wohnungsknappheit in den Vordergrund getreten. Von der Verbesserung der Investitionsbedingungen durch eine kurze Verfahrensgestaltung wurde eine positive Entwicklung der Bautätigkeit und somit eine Verbesserung der Wohnraumsituation erwartet 23. Weitere Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung im Kenntnisgabeverfahren war es, den Freiraum der Bauwilligen auszuweiten und dadurch den betroffenen grundrechtlich gewährleisteten Freiheiten eine effektivere Geltung zu verschaffen 24. Die Beschleunigung des präventiven Verfahrens wurde daher auch verfassungsrechtlich begründet 25. 2. Privatisierung Eng verbunden mit der Forderung nach einer Beschleunigung von Verwaltungsverfahren ist die Diskussion um die Privatisierung bisher staatlich wahrgenommener Aufgaben 26. Insbesondere von politischer Seite wurde bislang in der Privatisierung staatlicher Aufgaben eine zentrale Aufgabe gesehen27.

Schulte, Möglichkeiten zur Beschleunigung baulicher Vorhaben, S. 21 ff.; ders., VB1BW 1996, 289 (290). Kritisch zur Einschätzung von Baugenehmigungsverfahren als Investitionshemmnis dagegen: Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (1); Wörner, BWGZ 1995,456 (457). 22 Begründung zum Gesetzentwurf der Landesregierung, L T - D r s . i l / 5 3 3 7 , S. 72 f. 23 Begründung zum Gesetzentwurf der Landesregierung, LT-Drs. 11/5337, S. 72 f. 24 Begründung zum Gesetzentwurf der Landesregierung, L T - D r s . i l / 5 3 3 7 , S. 73. Noch konkreter insoweit die Entwurfsbegründung für die hessische Bauordnung, LT-Drs. 13/4813, S. 77. 25 Zur grundrechtlichen Relevanz der Dauer präventiver Zulassungsverfahren siehe unten, 3. Kap., B. 26 Aus der Diskussion um die Privatisierung staatlicher Aufgaben vgl. Schoch, DVB1. 1994, 962 (962 ff.); Lecheler, BayVBl. 1994, 555 (555 ff.); Stober, Rückzug des Staates im Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 1 ff.; ders.: Dimensionen der Deregulierung, in: Stober, Deregulierung im Wirtschafts- und Umweltrecht, S. 1 ff.; Goerlich, SächsVBl. 1996, 1 (1 ff.); Ritter, Bauordnungsrecht in der Deregulierung, in: Hoppe/Bauer/Faber/Schink, Rechts- und Anwendungsprobleme der neuen Bauordnung N W , S. 16 ff.; Scholz, Privatisierung im Baurecht, S. 8 ff., Hoffmann-Riem, DVB1. 1996, 225 (225 ff.); Koch, (Verfahrens-)Privatisierung im öffentlichen Baurecht, in: Hoffmann-Riem/Schneider, Verfahrensprivatisierung im Umweltrecht, S. 170 ff.; Tettinger, Die rechtliche Ausgestaltung von Public Private Partnership, in: Budäus/Eichhorn, Public Private Partnership, S. 125 ff.; Krölls, GewArch 1995, 129 (129); Osterloh, Privatisierung von Verwaltungsauf-

Α. Beschleunigung, Privatisierung und Deregulierung

25

Im Kenntnisgabeverfahren wird die bisher staatlich erfüllte Aufgabe der präventiven Kontrolle des Bauvorhabens auf Private übertragen 28. Die Aufgabe der Prüfung der Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit öffentlich-rechtlichen Bauvorschriften wird nicht mehr von der Baurechtsbehörde wahrgenommen, sondern von dem Planverfasser bzw. dem Lageplananfertiger als privatrechtlich Beauftragten des Bauherrn erfüllt 29 . Zielsetzung der Privatisierung administrativer Kontrolle im Kenntnisgabeverfahren ist die Verfahrensbeschleunigung und Ausweitung des Freiraums für die Bauwilligen bei gleichzeitiger Verstärkung der Eigenverantwortlichkeit im Hinblick auf eine Verbesserung der Investitionsbedingungen30. Mit dem Verzicht auf eine präventive staatliche Kontrolle wird die Selbstbestimmung des Einzelnen in den Vordergrund gestellt31. Weitere Zielsetzung der Privatisierung ist die Entlastung der Verwaltung. Durch die Übertragung von Prüfaufgaben sollen Defizite bei der personellen Besetzung vieler Behörden und wachsende Aufgabengebiete der Baurechtsbehörden ausgeglichen werden 32. Darüber hinaus sollen durch sinkende Personalkosten zumindest mittelfristig Kosteneinsparungen erzielt werden 33. 3. Deregulierung Die Forderung nach einer Deregulierung hat bereits eine lange Tradition 34 . Sie ist nicht auf das Baurecht beschränkt, sondern erfaßt nahezu das gesamte

gaben, VVDStRL 54 (1995), 204 (204 ff.); Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, VVDStRL 54 (1995), 243 (243 ff.); von Heimburg, Verwaltungsaufgaben und Private, S. 183 ff. 27 Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung, BT-Drs. 12/4330, S. 27. Bericht der Bundesregierung zur Sicherung des Standortes Deutschland, BT-Drs. 12/5620, S. 51 f. Vgl. dazu Schock, DVB1. 1994, 962 (965); ders.; DVB1. 1994, 1 (1)· 28 Siehe dazu unten, 4. Kap., A. 29 Zum Verfahrensablauf im Einzelnen siehe unten, 2. Kap., A 3. 30 Vgl. Begründung zum Gesetzentwurf der Landesregierung, LT-Drs. 11/5337, S. 73. 31 Siehe dazu unten, 3. Kap., A. 32 LT-Drs. 11/5337, S. 111. 33 LT-Drs. 11/5337, S. 2. 34 Das Bewußtsein für eine Beschränkung gesetzlicher Regelungen auf das Notwendigste war schon sehr früh ausgeprägt. So wurde bereits der Vorentwurf des Preußischen Allgemeinen Landrechts von Friedrich dem Großen mit den Worten kritisiert: "es ist aber Sehr Dicke, und Gesetze müssen kurtz und nicht Weitläufig seindt", wiedergegeben bei Hattenhauer, Allgemeines Landrecht für die preussischen Staaten, 3. Auflage, S. 10.

26

1. Kap.: Die Einführung des Kenntnisgabeerfahrens

Verwaltungsrecht 35. Das Erforderais einer Deregulierung ist im Rahmen der Diskussion um die Beschleunigung von Verwaltungsverfahren erneut in besonderem Maße zutage getreten. Dies gilt insbesondere im Baurecht, einer Rechtsmaterie, die selbst für Praktiker nur schwer zu überblicken ist. Bei der Frage nach einer Deregulierung durch die Einfuhrung des Kenntnisgabeverfahrens oder die Novellierung der Landesbauordnung insgesamt ist zunächst hinsichtlich der verschiedenen Deregulierungsbegriffe zu unterscheiden 36 . Bei einer weiten Begriffsbildung, die nicht nur eine Verringerung des Normbestandes, sondern jede Zurücknahme staatlicher Aufsicht umfaßt 37 , enthält das Kenntnisgabeverfahren, dessen wesentlicher Grundgedanke die Privatisierung administrativer Kontrolle ist, zweifelsohne ein wesentliches Element der Deregulierung. Die Problematik des Baurechts besteht jedoch gerade in seiner Regelungsdichte und Komplexität, da sich jede gesetzliche Reglementierung für den Bauherrn zwangsläufig als eine potentielle Beschränkung bei der Verwirklichung seines Vorhabens darstellt 38. Eine hohe Regelungsdichte wirkt sich als starke Belastung für die Bauwilligen aus und schafft Rechtsunsicherheit 39. Die hohen materiellen Anforderungen an das Bauvorhaben werden daher vielfach als die eigentliche Ursache für Hemmnisse im Baugeschehen angesehen40. Die Forderung nach einer Deregulierung im Baurecht betraf aus diesem Grund vor allem auch die Verringerung des regulierenden Normbestandes, also eine Deregulierung im engeren Sinne.

35

Vgl. dazu Stober, Rückzug des Staates im Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 1 ff.; ders., Dimensionen der Deregulierung, in: Stober, Deregulierung im Wirtschafts- und Umweltrecht, S. 1 ff; Ritter, DVB1. 1996, 542 (542 ff.); ders., Bauordnungsrecht in der Deregulierung, in: Hoppe/B auer/F aber/S chink, Rechts- und Anwendungsprobleme der neuen Bauordnung N W , S. 6 ff. jeweils m.w.N., sowie die oben zur Beschleunigung und Privatisierung aufgeführte Literatur. 36 Zur unterschiedlichen Begriffsbildung vgl. Stober, Rückzug des Staates im Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 1. 37 Ein weiter Deregulierungsbegriff wird von Stober, Rückzug des Staates im Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 1 ff. angenommen. 38 Vgl. Simon, BayVBl. 1994, 332 (333). 39 Simon, BayVBl. 1994, 332 (333). 40 Vgl. dazu Simon, BayVBl. 1994, 332 (333); Ritter, Bauordnungsrecht in der Deregulierung, in: Hoppe/Bauer/Faber/Schink, Rechts- und Anwendungsprobleme der neuen Bauordnung N W , S. 11 \Mampel 9 N V w Z 1996, 1160 (1160).

Α. Beschleunigung, Privatisierung und Deregulierung

27

a) Ursachen für die hohe Regelungsdichte im Baurecht Das Bauen betrifft in einem hochzivilisierten Gebiet, in dem die Menschen auf engstem Raum leben und arbeiten, eine Vielzahl von gegensätzlichen Interessen, die durch den Gesetzgeber zu einem gerechten Ausgleich gebracht werden müssen41. Es besteht ein großes gesellschaftliches Bedürfnis zur Regelung der langanhaltenden, vielschichtigen Auswirkungen des Bauens42. Die gesellschaftlichen Ansprüche werden durch die Normierung hoher Sicherheitsstandards sowie sozialer und ökologischer Anforderungen an die Errichtung von Bauvorhaben verwirklicht. Die potentielle Beschränkung der Bauwilligen ist daher insoweit eine zwangsläufige und zweifelsfrei auch gewollte Folge der Umsetzung dieser gesellschaftlichen Ansprüche an das Bauen. Ein weiterer Grund für die Komplexität des Baurechts liegt in der Struktur der Materie, die nicht auf die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit von Bauvorhaben beschränkt ist, sondern eine Vielzahl von Rechtsgebieten umfaßt. Die materiellen Regelungen des Baurechts im weitesten Sinne sind geprägt durch das Ineinandergreifen verschiedenster Anforderungen an die Errichtung von Bauvorhaben 43. Öffentlich-rechtliche Vorschriften u.a. des Ordnungsrechts, Planungsrechts, Denkmalschutzrechts, Immissionsschutzrechts, Gewerberechts, Naturschutzrechts, Straßenrechts, Wasserrechts treffen hier zusammen. Die Komplexität des Baurechts findet ihre Ursache aber nicht ausschließlich in der Normenfülle. Geht es um die Betrachtung der Auswirkungen dieser Komplexität für den Rechtsanwender, so muß die Auslegung und Weiterentwicklung des Baurechts durch Rechtsprechung und Wissenschaft mitberücksichtigt werden. Denn um so ausdifferenzierter der Normenbestand ist, desto höher ist die Regelungsdichte und damit auch die zu beachtende Rechtsmasse. Unter diesem Gesichtspunkt zählt das Baurecht zu einer der ausdifferenziertesten Rechtsmaterien überhaupt.

41

Simon, BayVBl. 1994, 332 (333). Vgl. Ritter, Bauordnungsrecht in der Deregulierung, in: Hoppe/Bauer/Faber/Schink, Rechts- und Anwendungsprobleme der neuen Bauordnung N W , S. 7 f.; Kronenbitter, B W G Z 1994, 632 (633). 43 Vgl. Finkelnburg, in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht, Band I, 4. Auflage, S. 10 ff. 42

1. Kap.: Die Einführung des Kenntnisgabeerfahrens

28

b) Fehlende Deregulierungsmaßnahmen in der neuen LBO Eine signifikante Verringerung des Normbestandes im öffentlichen Baurecht wurde in der Vergangenheit nicht ernsthaft angestrebt 44, da letztlich jede baurechtliche Norm als Ausfluß eines schützenswerten gesellschaftlichen Interesses angesehen wird. Auch die Beschleunigungskommission hat die Problematik der Ausdünnung des materiellen Baurechts weitgehend ausgeklammert 45 . Die Diskussion um eine Deregulierung im Baurecht ist insoweit bislang fruchtlos geblieben. Hier gilt der Grundsatz, daß die Regulierung dem Gesetzgeber weniger schwer fällt als die Deregulierung 46. Die Forderung nach einer Ausdünnung des materiellen Bauordnungsrechts blieb auch bei der jüngsten Novellierung der Landesbauordnung weitgehend unberücksichtigt. Die Neuordnung des Bauordnungsrechts erfolgte insoweit lediglich mit der Zielsetzung einer verständlicheren und bürgernäheren Ausgestaltung des Gesetzestextes47. Dagegen wurden durch die Notwendigkeit der Umsetzung der Bauproduktenrichtlinie 48 als unmittelbarer Anlaß für die Novellierung der Landesbauordnung 49 weitere Regelungen erforderlich. Die

44

Vgl. Simon, BayVBl. 1994, 332 (333), der davon ausgeht, daß im politischen Bereich ein stillschweigender Konsens vorhanden ist, nichts ändern zu wollen. Auch Jade, GewArch 1995, 187 (188), verweist die Deregulierung im Baurecht in die "Kategorie des politisch Unmöglichen". 45 Schlichter, DVB1. 1995, 173 (177). 46 Vgl. Jäde, UPR 1994, 201 (202). 47 Vgl. Begründung zum Gesetzentwurf der Landesregierung, LT-Drs. 11/5337, S. 74. 48 EG-Richtlinie zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten über Bauprodukte, 89/106/EWG; ABl.EG Nr. L 40, S. 12 vom 11.02.89. Zielsetzung der Bauproduktenrichtlinie ist die Harmonisierung von technischen Normen zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Regelwerks im Bereich der Bauproduktnormen, vgl. Molkenbur, Gemeinschaftsrecht und Normharmonisierung im Baurecht, S. 77. Zum Anwendungsbereich siehe von Bernstorfj\ in: Schuster, EG-Harmonisierung im Bauwesen, S. 6. Die Umsetzung der Bauproduktenrichtlinie hinsichtlich des Inverkehrbringens von Bauprodukten und des freien Warenverkehrs erfolgte durch das Bundesbauproduktengesetz (BGB1.I, 2 1992, S. 1495) aufgrund der Zuständigkeit des Bundes für das Recht der Wirtschaft. Für die Regelungen über die Verwendung der in Verkehr gebrachten Bauprodukte, die hauptsächlich die Sicherheit von Bauwerken betreffen (vgl. Anhang I der Richtlinie), lag die Gesetzgebungskompetenz als Materie des Bauordnungsrechts dagegen bei den Ländern, vgl. Molkenbur, Gemeinschaftsrecht und Normharmonisierung im Baurecht, S. 109. 49 Vgl. Begründung zum Gesetzentwurf der Landesregierung, LT-Drs. 11/5337, S. 1.

Β. Die Baufrei stel lungs Verordnung als Vorläufer

29

Novellierung des Bauordnungsrechts enthält somit keine Deregulierung, sondern eine weitere Regulierung. B. Die Baufreistellungsverordnung als Vorläufer des Kenntnisgabeverfahrens Vorläufer des Kenntnisgabeverfahrens war das Anzeigeverfahren nach der Baufreistellungsverordnung vom 26. April 199050. Die Baufreistellungsverordnung ist am 15. Juli 1990 in Kraft getreten und sollte fünf Jahre gelten51. M i t der Baufreistellungsverordnung hatte Baden-Württemberg als bis dahin einziges Land das Baugenehmigungsverfahren für bestimmte Wohnbauvorhaben durch ein Anzeigeverfahren ersetzt. Nach der Baufreistellungsverordnung bedurfte die Errichtung von Wohngebäuden geringer Höhe mit nicht mehr als drei Wohnungen sowie Nebenanlagen und Garagen mit einer Nutzfläche bis 100 qm keiner Baugenehmigung, sofern die Vorhaben innerhalb des Geltungsbereichs eines qualifizierten Bebauungsplans liegen, der nach dem 29. Juni 1961 rechtsverbindlich geworden ist 52 . Der Bauherr durfte mit der Ausführung des Vorhabens zwei Wochen nach Eingang der Bauvorlagen beginnen, sofern die Baurechtsbehörde den Baubeginn nicht untersagt 53. Vorrangige Ziele der Baufreistellungsverordnung waren die Beschleunigung des Verfahrensablaufs vor dem Baubeginn sowie die Entlastung der Baubehörden 54. In der Literatur und vor allem auch in der Praxis ist die Baufreistellungsverordnung auf fast einhellige, teils massive Ablehnung gestoßen55. Die hauptsächlichen Kritikpunkte bestanden in einem fehlenden Bedürfnis nach einer derartigen Verfahrensänderung sowohl aus der Sicht der Behörde als auch aus der Sicht der Bauherrn 56 , der Schaffung von Rechtsunsi-

50

BWGB1. 1990, S. 144. § 11 BaufreistellungsVO. 52 §§ 1, 2 BaufreistellungsVO. 53 § 7 Abs. 1 S.l BaufreistellungsVO. 54 Vgl. Stellungnahme des Innenministeriums zum Antrag der Abg. Redlind u.a. SPD, LT-Drs. 10/2929, S. 3 ff. 55 Dürr, Baurecht, 7. Auflage, Rdn. 213a; Wörner, BWGZ 1995, 456 (458); Broß, ZfBR 1991, 43 (46); Bohle, BWVP 1990, 196 (200); Köblitz, B W V P 1990, 200 (201); Kronenbitter, BWGZ 1994, 632 (632 ff.). M i t einer positiven Bilanz im Hinblick auf bekanntgewordene Verstöße gegen baurechtliche Vorschriften dagegen: Kubach 9 B W V P 1996, 73 (75). 56 Wörner, BWGZ 1995, 456 (456 f.); Kronenbitter, BWGZ 1994, 632 (632 ff.). 51

30

1. Kap.: Die Einführung des Kenntnisgabe Verfahrens

cherheit 5 7 , der Verkürzung des Nachbarschutzes 58 sowie i n verfassungsrechtlichen Bedenken 5 9 . Dabei wurde das fehlende Bedürfnis nach der Freistellung v o n der Genehmigungspflicht aus der Sicht der Behörde m i t einem ohnehin geringen Arbeitsaufwand bei den freigestellten Bauvorhaben begründet u n d aus der Sicht der Bauherren darauf hingewiesen, daß wegen des geringen Prüfüngsumfangs bei den freigestellten Bauvorhaben keine erheblichen Verzögerungen des Baubeginns eingetreten wären. O b w o h l nur wenige Untersuchungen über die Akzeptanz der Neuregelung durchgeführt wurden, ließ sich doch feststellen, daß die Bauherren v o n der M ö g l i c h k e i t 6 0 des Verzichts auf die Baugenehmigung nur sehr eingeschränkt Gebrauch gemacht haben 6 1 . Trotz der geringen Akzeptanz und der massiven K r i t i k an der Neuregelung wurde

die

bewertet

62

Baufreistellungsverordnung

von

der

Landesregierung

positiv

u n d als Grundlage für die Schaflüng des Kenntnisgabeverfahrens

herangezogen.

57

Dürr, Baurecht, 7. Auflage, Rdn. 213a. Bohle, B W V P 1990, 196 (198 ff.). 59 Bohle, B W V P 1990, 196 (197). 60 Der Bauherr konnte nach § 9 BaufreistellungsVO zwischen dem Genehmigungsverfahren und dem Verfahren nach der Baufrei stel lungs Verordnung wählen. 61 Die stärkste Resonanz wurde bei einer fünf]ährigen Untersuchung festgestellt, die in nur einer Gemeinde durchgeführt wurde (Veröffentlicht bei Wörner, BWGZ 1995, 456 (456 f.)). Hier wurden ca. 17 Prozent aller Bauvorhaben, die nach der Baufreistellungsverordnung hätten durchgeführt werden können, nach der Neuregelung ausgeführt. Bei einer isolierten Betrachtung der Wohnbauvorhaben wurde sogar ein Drittel der anwendungsfähigen Bauvorhaben nach der Baufreistellungsverordnung errichtet. Dabei konnte allerdings innerhalb des Untersuchungszeitraums kein Anstieg der Akzeptanz festgestellt werden. Eine deutlich geringere Annahme durch die Bauherren wurde in einer weiteren Untersuchung festgestellt (Veröffentlicht bei Kronenbitter, BWGZ 1994, 632 (632)). Bei dieser Untersuchung, die im Jahr 1993, also zweieinhalb Jahre nach dem Inkrafttreten der Neuregelung durchgeführt wurde, wurden 13 von 794 Verfahren nach der Baufreistellungsverordnung durchgeführt, obwohl diese auf 25 bis 30 Prozent Anwendung gefunden hätte. Dies entspricht einer (unbereinigten) Quote von 1,6 Prozent. Dieses Ergebnis wurde durch eine Umfrage, die bei 40 Baurechtsbehörden vorgenommen wurde, bestätigt. Hier lag die (unbereinigte) Quote zwischen 1,32 Prozent im Jahr 1991 und 1,48 Prozent im Jahr 1992. 62 Vgl. Gesetzentwurf der Landesregierung, LT-Drs. 11/5337, S. 73: "Die Erfahrungen mit dieser im Jahre 1990 in Kraft getretenen Baufreistellungsverordnung sind durchweg positiv". 58

2. Kapitel

Verfahrensrechtliche Ausgestaltung und dogmatische Einordnung des Kenntnisgabeverfahrens Aufgrund ihres in der Vergangenheit sehr eingeschränkten praktischen Anwendungsbereichs wurde den Anzeigeverfahren auch in der Literatur bisher nur geringe Beachtung geschenkt. Mit der Einfuhrung der Anzeigeverfahren im Rahmen der Novellierung der Landesbauordnungen wird ein nur ansatzweise rechtstechnisch und rechtsdogmatisch konturiertes Verfahren in die Verwaltungspraxis eingeführt. Es ist daher zunächst die Regelungstechnik des Kenntnisgabeverfahrens in Baden-Württemberg darzustellen und das Verfahren rechtsdogmatisch einzuordnen. A. Die Ausgestaltung des Verfahrensrechts 1. Verfahrensdreiteilung in Baden-Württemberg Die Ausgestaltung des Verfahrensrechts in der Landesbauordnung für Baden-Württemberg ist geprägt durch eine Dreiteilung: Das Genehmigungsverfahren, das Kenntnisgabeverfahren und die Verfahrensfreiheit. § 49 LBO enthält den Grundsatz, daß für bauliche Maßnahmen eine Baugenehmigung erforderlich ist. Die Ausnahmen von diesem Grundsatz bilden §§ 50, 51 LBO, nach denen bestimmte Vorhaben verfahrensfrei sind ( § 50 LBO) bzw. dem Kenntnisgabeverfahren (§ 51 LBO) unterliegen. Im Anwendungsverhältnis von § 50 und § 51 LBO besteht der Vorrang der Verfahrensfreiheit, demzufolge das Kenntnisgabeverfahren nur dann Anwendung findet, wenn das Vorhaben nicht bereits nach § 50 LBO verfahrensfrei ist (§51 Abs. 1 LBO). 2. Anwendungsbereich des Kenntnisgabeverfahrens Die Anwendbarkeit des Kenntnisgabeverfahrens ist räumlich und gegenständlich auf bestimmte Bauvorhaben begrenzt. In räumlicher Hinsicht muß das Bauvorhaben innerhalb des Geltungsbereichs eines qualifizierten Bebauungsplans, der nach dem 29. Juni 1961 rechtsverbindlich geworden ist, oder

32 2. Kap.: Verfahrensrechtliche Ausgestaltung und dogmatische Einordnung

im Geltungsbereich einer Satzung nach § 7 BauGB-MaßnahmenG63 und außerhalb des Geltungsbereichs einer Veränderungssperre i.S.d. § 14 BauGB liegen ( § 5 1 Abs. 2 LBO). Gegenständlich vom Anwendungsbereich des Kenntnisgabeverfahrens erfaßt sind gem. § 51 Abs. 1 LBO Wohngebäude außer Hochhäuser, also gem. § 2 Abs. 4 LBO Gebäude, bei denen der Fußboden mindestens eines Aufenthaltsraumes mehr als 22 Meter über der für das Aufstellen von Feuerwehrfahrzeugen notwendigen Fläche liegt, landwirtschaftliche Betriebsgebäude auch mit Wohnanteil bis zu drei Geschossen, Gebäude ohne Aufenthaltsräume bis zu 100 qm Grundfläche bei bis zu drei Geschossen und bis zu 250 qm Grundfläche bei eingeschossigen Gebäuden. Ferner gilt das Kenntnisgabeverfahren für Stellplätze und Garagen sowie Nebenanlagen i.S.d. § 14 BauNVO. 3. Der Verfahrensablauf im Kenntnisgabeverfahren Der Bauherr eröffnet das Kenntnisgabeverfahren, indem er die Bauvorlagen 64 und gegebenenfalls Anträge auf Abweichungen, Ausnahmen und Befreiungen bei der Gemeinde einreicht (§ 52 Abs. 1 S. 1 LBO) und sein Vorhaben dadurch zur Kenntnis gibt. Ein Bauantrag ist nicht erforderlich. Entsprechend der Zielsetzung des Kenntnisgabeverfahrens, bisher staatliche Kontrolle auf Private zu übertragen und die Eigenverantwortlichkeit der am Bau Beteiligten zu stärken, haben die einzureichenden Bauvorlagen im Kenntnisgabeverfahren eine andere Funktion als im Genehmigungsverfahren: Die Bauvorlagen sind im Kenntnisgabeverfahren nicht Grundlage einer obligatorischen präventiven Kontrolle des Bauvorhabens durch die Baurechtsbehörde, sondern dienen als Anzeige des geplanten Vorhabens, als Bestätigung der Einhaltung der Bau-

63 M i t dem Inkrafttreten der Neuregelungen des BauGB tritt das bis zum 31.12.1997 befristete BauGB-Maßnahmengesetz außer Kraft. A n die Stelle von § 7 BauGB-MaßnahmenG tritt der inhaltlich im wesentlichen unveränderte § 12 BauGB, vgl. dazu Battis/Krautzberger/Löhr, N V w Z 1997, 1145 (1157). Die Rechtsänderung wurde bislang noch nicht in allen Landesbauordnungen nachvollzogen. 64 Die Bauvorlagen im Kenntnisgabe ver fahren sind gem. § 1 Abs. 1 L B O V V O (Verordnung der Landesregierung und des Wirtschaftsministeriums über das baurechtliche Verfahren vom 13. November 1995, BWGB1. S. 794) der Lageplan, die Bauzeichnungen, die Darstellung der Grundstücksentwässerung, die bautechnische Bestätigung, die Bestätigungen des Planverfassers und des Lageplananfertigers sowie die Bestätigung des Bauherrn, daß er die Bauherrschaft für das Vorhaben übernommen und nach Maßgabe des § 42 LBO einen geeigneten Bauleiter bestellt hat.

Α. Die Ausgestaltung des Verfahrensrechts

33

Vorschriften und als Grundlage einer eventuell erforderlichen späteren Prüfung des Bauvorhabens. Von Bedeutung sind vor allem die Bestätigungen, die an Stelle der staatlichen Prüfüng den Nachweis über die Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit öffentlichem Recht gegenüber der Baurechtsbehörde erbringen sollen. So hat der Planverfasser zu bestätigen, daß die Anwendbarkeitsvoraussetzungen für das Kenntnisgabeverfahren vorliegen und die erforderlichen Bauvorlagen unter Beachtung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften verfaßt wurden 65 . Des weiteren ist die Bestätigung des Lageplananfertigers erforderlich, daß der Lageplan unter Beachtung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften verfaßt worden ist, insbesondere die Vorschriften über die Abstandsflächen und die Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung eingehalten sind 66 . Ferner hat der Verfasser der bautechnischen Nachweise die Beachtung der baurechtlichen und technischen Vorschriften zu bestätigen67. Wenn der Bauherr die Bauvorlagen vollständig 68 eingereicht hat, bestätigt die Gemeinde dem Bauherrn innerhalb von fünf Arbeitstagen den Zeitpunkt des Eingangs und leitet die Bauvorlagen, sofern sie nicht selbst Baurechtsbehörde ist, an diese weiter (§ 53 Abs. 3 LBO). Falls die Bauvorlagen unvollständig sind, die Erschließung des Vorhabens nicht gesichert ist, eine hindernde Baulast besteht oder das Vorhaben aus besonderen städtebaulichen Gründen gem. §§ 144, 169, 172 BauGB der Genehmigung der Gemeinde bedarf und diese nicht vorliegt, wird dies dem Bauherrn ebenfalls innerhalb von fünf Arbeitstagen mitgeteilt (§ 53 Abs. 4 LBO). Innerhalb von fünf Arbeitstagen ab dem Eingang der Bauvorlagen benachrichtigt die Gemeinde auch die Eigentümer angrenzender Grundstücke von dem Bauvorhaben (§55 Abs. 3 S. 2 LBO). Eine Benachrichtigung ist nicht erforderlich bei Angrenzern, die von dem Vorhaben bereits Kenntnis hatten und dies durch eine schriftliche Zustimmungserklärung oder durch Unterschrift auf den Bauvorlagen dargelegt haben (§ 55 Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 55 Abs. 1 S. 2 LBO). Gem. § 55 Abs. 3 S. 3 LBO können die Angrenzer innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Benachrichtigung Bedenken gegen das Vorhaben bei der Gemeinde vorbringen. Die Gemeinde leitet die vorgebrachten Bedenken unverzüglich an die Baurechtsbehörde weiter. Für die 65 66 67 68

§ 11 Abs. 1 LBOVVO. § 11 Abs. 2 L B O V V O . § 10 Abs. 1 LBOVVO. Vgl. § 1 Abs. 3 LBOVVO.

3 Kruhl

34 2. Kap.: Verfahrensrechtliche Ausgestaltung und dogmatische Einordnung

Behandlung der Bedenken verweist § 55 Abs. 3 S. 5 LBO auf die Generalklausel des § 47 LBO. Die Bestätigung des Eingangs der Bauvorlagen verschafft dem Bauherrn Gewißheit über den Zeitpunkt des zulässigen Baubeginns. Bei Vorhaben, denen die Angrenzer zugestimmt haben, darf zwei Wochen nach Eingang der Bauvorlagen bei der Gemeinde mit der Bauausführung begonnen werden. Sofern die Zustimmung der Angrenzer nicht vorliegt, verlängert sich die Frist auf einen Monat (§ 59 Abs. 4 LBO). Eine ausdrückliche Baufreigabe erfolgt nicht. Für die Anwendbarkeit des Kenntnisgabeverfahrens ist es nicht erforderlich, daß das Vorhaben sämtlichen Festsetzungen des Bebauungsplans bzw. der Satzung nach § 7 BauGB-MaßnahmenG entspricht. Begehrt der Bauherr eine Abweichung, Ausnahme oder Befreiung, ist diese jedoch gesondert zu beantragen (§ 51 Abs. 5 S. 1 LBO) 69 . Neben das Kenntnisgabeverfahren tritt dann isoliert ein Dispensverfahren. Dabei darf der Bauherr mit den von der Abweichung, Ausnahme oder Befreiung betroffenen Bauarbeiten erst beginnen, sobald70 dem Antrag entsprochen wurde 71 . B. Überblick über das Verfahrensrecht in den Bundesländern Die Novellierungsrunde der Landesbauordnungen wurde Mitte 1996 abgeschlossen. Mittlerweile haben alle Bundesländer zusätzliche Mechanismen zur Beschleunigung des Bauverfahrens in die Bauordnungen aufgenommen. Der Novellierung der Bauordnungen ging der Beschluß einer neuen Musterbauordnung voran 72 . In der Musterbauordnung war neben der Verfahrensfreiheit und dem Genehmigungsverfahren ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren vorgesehen (§ § 61a MBO).

69

Die als Bauvorlagen einzureichenden Bestätigungen des Planverfassers und des Lageplananfertigers, daß die Bauvorlagen bzw. der Lageplan unter Beachtung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften verfaßt worden sind, müssen dann unter dem Vorbehalt erfolgen, daß die beantragte Abweichung, Ausnahme oder Befreiung gewährt wird ( § 1 1 Abs. 3 LBO W O ) . 70 Gem. § 51 Abs. 5 L B O gelten für das Dispens verfahren die Genehmigungsfristen des § 54 Abs. 4 L B O entsprechend. 71 Gesetzentwurf der Landesregierung, LT-Drs. 11/5337, S. 112. 72 Musterbauordnung für die Länder der Bundesrepublik Deutschland, Fassung gemäß Beschluß vom 10. Dezember 1993 der Arbeitsgemeinschaft der für das Bau-, Wohnungs- und Siedlungswesen zuständigen Minister der Länder (ARGEBAU); veröffentlicht bei Böckenförde/Temme/Krebs, M B O , 4. Auflage.

Β. Überblick über das Verfahrensrecht in den Bundesländern

35

Obwohl den Novellierungen in allen Bundesländern die Musterbauordnung zugrunde lag, ist die Ausgestaltung des Verfahrens nicht einheitlich erfolgt. Bundesweit existieren nunmehr vier verschiedene Grundtypen bauordnungsrechtlicher Verfahren: das Genehmigungsverfahren, das vereinfachte Genehmigungsverfahren, das Anzeigeverfahren und das Genehmigungsfreistellungsverfahren. Gemeinsam ist allen Landesbauordnungen, daß grundsätzlich eine Genehmigungspflicht für Bauvorhaben besteht und bestimmte Vorhaben verfahrensfrei sind. Im Folgenden wird die Ausgestaltung des Verfahrensrechts in den Bundesländern systematisierend dargestellt 73. 1. Genehmigungsfreistellungsverfahren in Niedersachsen In Niedersachsen wurde zusätzlich zum Genehmigungsverfahren und zu der Genehmigungsfreiheit ein Genehmigungsfreistellungsverfahren neu eingeführt 74. Nach § 69a NBauO bedürfen Wohnbauvorhaben geringer Höhe mit nicht mehr als zwei Wohnungen in Baugebieten, die ein Bebauungsplan im Sinne des § 30 Abs. 1 BauGB als Kleinsiedlungsgebiete oder als Wohngebiete festsetzt, keiner Baugenehmigung. In § 69a NBauO sind materielle sowie verfahrensrechtliche Anforderungen für die Genehmigungsfreistellung normiert. Unter anderem ist der Bauherr verpflichtet, vor dem Baubeginn eine Mitteilung über die beabsichtigte Baumaßnahme nebst Bestätigungen des Entwurfsverfassers bzw. eines Sachverständigen über die Einhaltung öffentlich-rechtlicher Vorschriften bei der Bauaufsichtsbehörde einzureichen. Die Einhaltung einer Wartefrist nach der Mitteilung an die Baurechtsbehörde ist nicht erforderlich 75. In Niedersachsen wurde dem Bauherrn ein Wahlrecht zwischen dem Genehmigungsfreistellungsverfahren und dem Genehmigungsverfahren eingeräumt 76.

73 Eine ausführliche Darstellung der neuen bauordnungsrechtlichen Verfahren findet sich bei Reichling, Effektivität in baurechtlichen Planungs- und Genehmigungsverfahren, S. 86 ff. 74 § 69a NBauO. 75 Da der Verfahrensvorbehalt nicht die Ermöglichung einer präventiven bauordnungsrechtlichen Oberprüfung des Bauvorhabens bezweckt, handelt es sich nicht um ein Anzeigeverfahren im Sinne des Kenntnisgabe Verfahrens. Zur Abgrenzung siehe unten, 2. Kap., C 3. 76 § 69a Abs. 8 NBauO.

36 2. Kap.: Verfahrensrechtliche Ausgestaltung und dogmatische Einordnung

2. Bundesländer mit Anzeigeverfahren In Brandenburg tritt wie in Baden-Württemberg ein Anzeigeverfahren 77 neben das Genehmigungsverfahren und die Verfahrensfreiheit. In Brandenburg fallen im Gegensatz zum baden-württembergischen Kenntnisgabeverfahren, das Bauvorhaben bis zur Hochhausgrenze erfaßt, nur Wohngebäude geringer Höhe unter das Anzeigeverfahren. Das Anzeigeverfahren in Brandenburg ist auch für nach § 34 BauGB zulässige Bauvorhaben anwendbar, wenn ein sog. städtebaulicher Vorbescheid 78 erteilt wurde. Der Bauherr muß mit der Bauanzeige und den Bauvorlagen Nachweise und Bestätigungen über die Einhaltung öffentlich-rechtlicher Vorschriften bei der Baurechtsbehörde einreichen. Der Bauherr darf in Brandenburg einen Monat nach Eingang der Bauanzeige mit der Bauausführung beginnen, sofern die Bauaufsichtsbehörde die Bauausführung nicht untersagt oder vorher freigegeben hat 79 . 3. Bundesländer mit vereinfachtem Genehmigungsverfahren Eine dritte Gruppe bilden Hessen und Sachsen-Anhalt, die zusätzlich zu der Verfahrensfreiheit und zum Genehmigungsverfahren ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren eingeführt haben80. Hier bleibt die herkömmliche Einteilung zwischen genehmigungsfreien und gleichzeitig verfahrensfreien Vorhaben und genehmigungspflichtigen und somit Verfahrenspflichtigen Vorhaben erhalten. Das vereinfachte Genehmigungsverfahren gilt in Hessen für Wohngebäude, Wochenendhäuser und Ferienhäuser, bei denen der Fußboden keines Geschosses mit (der Möglichkeit von) Aufenthaltsräumen mehr als 10 Meter über der Geländeoberfläche liegt, landwirtschaftliche Betriebsgebäude mit nicht mehr als drei Geschossen und weitere Bauwerke von untergeordneter bauordnungsrechtlicher Bedeutung. In Sachsen-Anhalt werden vor allem Wohngebäude geringer Höhe von dem vereinfachten Verfahren erfaßt. Im vereinfachten Genehmigungsverfahren ist die bauaufsichtliche Prüfung beschränkt. Von der Prüfjpflicht der Baurechtsbehörde umfaßt sind in Hessen

77

§ 69 BbgBO. § 7 7 BbgBO. 79 § 69 Abs. 4 BbgBO. 80 § 67 HBO, § 66 BauO LSA. Diese Verfahrensgestaltung war auch in der Musterbauordnung vorgesehen, vgl. § 61a MBO. 78

Β. Überblick über das Verfahrensrecht in den Bundesländern

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und Sachsen-Anhalt die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit81 sowie einzelne bauordnungsrechtliche Vorschriften, insbesondere die Prüfung der Erschließung 82 , der Einhaltung der Abstandsflächen 83 und der Stellplätze84. Die weiteren Anforderungen werden durch Private geprüft. Die zur Prüfüng eingeschalteten Privaten müssen der Baurechtsbehörde bestätigen, daß die von ihnen zu prüfenden Anforderungen an das Bauvorhaben eingehalten wurden 85 . Der wesentliche Beschleunigungsmechanismus der vereinfachten Genehmigungsverfahren in Hessen und Sachsen-Anhalt ist neben der beschränkten bauaufsichtlichen Prüfüng die Fiktion der Baugenehmigung86, falls die Bauaufsichtsbehörde über den Bauantrag nicht innerhalb einer Frist entschieden hat. Dabei beträgt die Entscheidungsfrist der Bauaufsichtsbehörde in SachsenAnhalt nur zehn Arbeitstage 87, sofern das Vorhaben im Geltungsbereich eines Bebauungsplans bzw. einer Satzung gem. § 7 BauGB-MaßnahmenG liegt oder für das Vorhaben ein qualifizierter Vorbescheid erteilt wurde 88 . In Hessen tritt die Genehmigungsfiktion nach einer entscheidungslos verstrichenen Frist von drei Monaten ein 89 . 4. Bundesländer mit Genehmigungsfreistellungsverfahren und vereinfachtem Genehmigungsverfahren In Bayern, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sind für die Errichtung 90 von Bauvorhaben sowohl ein 81

§ 67 Abs. 2 Nr. 1 HBO, § 66 Abs. 2 Nr. l a BauO LSA. § 67 Abs. 2 Nr. 2 HBO, § 66 Abs. 2 Nr. 2 BauO LSA. 83 § 67 Abs. 2 Nr. 3 HBO, § 66 Abs. 2 Nr. 2 BauO LSA. 84 § 67 Abs. 2 Nr. 4 HBO, § 66 Abs. 2 Nr. 3 BauO LSA. 85 § 67 Abs. 3, 4 HBO, § 66 Abs. 7 BauO LSA. 86 § 67 Abs. 5 S.4 HBO, § 66 Abs. 9 S.6 BauO LSA. 87 Die Bauaufsichtsbehörde kann gem. § 66 Abs. 9 S. 4 BauO LSA durch einen dem Bauherrn mitzuteilenden Zwischenbescheid die Frist aus wichtigen Gründen um einen Monat verlängern. 88 Die Frist beginnt in Sachsen-Anhalt auch im Falle fehlender oder unvollständiger Bauvorlagen mit dem Eingang des Bauantrages, wenn die untere Bauaufsichtsbehörde es unterläßt, dem Antragsteller innerhalb von fünf Arbeitstagen nach Eingang des Antrags schriftlich unter Aufzählung der fehlenden Bauvorlagen mitzuteilen, daß die Frist erst mit Eingang der noch fehlenden Bauvorlagen beginnt (§ 66 Abs. 9 S.2 BauOLSA). 89 Die Bauaufsichtsbehörde kann die Frist gem. § 67 AbS. 5 S. 2 HBO aus wichtigem Grund um bis zu zwei Monate verlängern. 90 Zusätzlich gibt es in Bayern ein Anzeigeverfahren für den Abbruch und die Beseitigung baulicher Anlagen, vgl. Art. 65 BayBO. 82

38 2. Kap.: Verfahrensrechtliche Ausgestaltung und dogmatische Einordnung

Genehmigungsfreistellungsverfahren 91 als auch ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren 92 vorgesehen. Dem Genehmigungsfreistellungsverfahren unterliegen in Bremen, 93 Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz Wohnbauvorhaben geringer Höhe 94 , in Bayern und Nordrhein-Westfalen auch Vorhaben mittlerer Höhe, im Geltungsbereich eines Bebauungsplanes nach § 30 Abs. 1 BauGB oder einer Satzung nach § 7 BauGB-MaßnahmenG. In Bremen gilt das Genehmigungsfreistellungsverfahren darüber hinaus auch für Bauvorhaben außerhalb des Geltungsbereichs eines qualifizierten Bebauungsplans mit Ausnahme von Vorhaben im Außenbereich, wenn durch einen Vorbescheid die planungsrechtliche Zulässigkeit abschließend festgestellt ist 95 . Außer in Mecklenburg-Vorpommern ist Voraussetzung für die Genehmigungsfreistellung, daß die Bauvorlagen und die Bestätigungen über die Einhaltung öffentlich-rechtlicher Vorschriften bei der Gemeinde eingereicht werden und die Gemeinde nicht innerhalb von einem Monat erklärt, daß das Genehmigungsverfahren durchgeführt werden soll 96 . Der Bauherr darf einen Monat nach der Vorlage der Unterlagen bei der Gemeinde mit dem Bau beginnen, sofern die Gemeinde nicht bereits vorher erklärt, daß kein Genehmigungsverfahren durchgeführt werden soll. In Mecklenburg-Vorpommern muß der Bauherr vor dem Baubeginn Bestätigungen über die Einhaltung öffentlich-rechtlicher Vorschriften bei der Baurechtsbehörde einreichen 97. Eine Erklärung der Gemeinde über die Durchführung eines Genehmigungsverfahrens und die Einhaltung einer Frist vor dem zulässigen Baubeginn ist in 91 Art. 64 BayBO, § 66 BremBO, § 64 LBO M - V , § 67 BauO N W , § 65a L B O RP. Das Verfahren nach § 64 LBO M - V ist entgegen Ortloff, N V w Z 1995, 112 (115) nach der hier vorgenommenen Abgrenzung nicht als Anzeigeverfahren einzuordnen, da in dem Verfahren mangels Wartefrist keine präventive Kontrolle erfolgen kann. Das Verfahren ähnelt jedoch rechtskonstruktiv den unechten Anzeigeverfahren. 92 Art. 73 BayBO, § 67 BremBO, § 63 LBauO M - V , § 68 BauO N W , § 65 LBO RP. 93 In Bremen und Rheinland-Pfalz werden weitere enumerativ aufgezählte Bauvorhaben untergeordneter Bedeutung erfaßt, vgl. § 66 Abs. 2 BremBO, § 65a Abs. 1 i.V.m. § 65 Abs. 1 LBO RP. 94 In Mecklenburg-Vorpommern werden nur Gebäude mit nicht mehr als zwei Wohnungen erfaßt. In Rheinland-Pfalz werden Bauwerke bis zur Gebäudeklasse 3 (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 LBO RP) erfaßt. 95 § 66 Abs. 3 BremBO. 96 Art. 64 Abs. 1 S. 1 BayBO, § 66 Abs. 1 Nr. 3 BremBO, § 67 Abs. 1 Nr. 3 BauO N W , § 65a Abs. 1 L B O RP. 97 § 64 Abs. 2 Nr. 1 LBauO M - V .

Β. Überblick über das Verfahrensrecht in den Bundesländern

39

Mecklenburg-Vorpommern nicht erforderlich. Nach der rheinland-pfälzischen Bauordnung ist auf Verlangen des Bauherrn an Stelle des Genehmigungsfreistellungsverfahrens ein Genehmigungsverfahren durchzufuhren 98. Das vereinfachte Genehmigungsverfahren gilt fur Wohnbauvorhaben geringer Höhe sowie für gesetzlich bestimmte weitere Bauvorhaben, auf die das Genehmigungsfreistellungsverfahren keine Anwendung findet. In Nordrhein-Westfalen werden darüber hinaus auch Bauvorhaben mittlerer Höhe und in Bayern Bauvorhaben mittleren Schwierigkeitsgrades erfaßt. In den vereinfachten Genehmigungsverfahren wird die Prüfüng des Bauvorhabens auf die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit sowie vor allem auf die Erschließung 99, die Abstandsflächen 100, die Gestaltung101 und die Stellplatzpflicht 102 beschränkt. Für das vereinfachte Genehmigungsverfahren ist in Bremen, MecklenburgVorpommern und Rheinland-Pfalz eine Fiktionsregelung normiert. Die Baugenehmigung wird fingiert, wenn die Baurechtsbehörde in Rheinland-Pfalz nicht innerhalb von einem Monat 103 und in Bremen 104 sowie in MecklenburgVorpommern 105 nicht innerhalb von drei Monaten über den Bauantrag entschieden hat 106 .

98 99

§ 65a Abs. 5 L B O RP. § 67 Abs. 2 Nr. 3 BremBO, § 68 Abs. 2 Nr. 1 BauO N W , § 65 Abs. 2 L B O

RP. 100 Art.73 Abs. 1 Nr. 1 BayBO, § 63 Abs. 2 Nr. 1 LBauO M - V , § 68 Abs. 2 Nr. 1 BauO NW. 101 Art.73 Abs. 1 Nr. 2 BayBO, § 67 Abs. 2 Nr. 4 BremBO, § 68 Abs. 2 Nr. 1 BauO NW. 102 Art.73 Abs. 1 Nr. 3 BayBO, § 63 Abs. 2 Nr. 1 LBauO M - V , § 68 Abs. 2 Nr. 1 BauO N W , § 65 Abs. 2 LBO RP. 103 § 65 Abs. 4 S. 5 L B O RP. 104 § 67 Abs. 4 S. 2 BremBO. In Bremen tritt die Rechtsfolge der Genehmigungsfiktion nicht ein, wenn der Bauherr schriftlich darauf verzichtet hat. 105 § 63 Abs. 7 S. 2 LBauO M - V . 106 Dabei besteht in allen Bundesländern die Möglichkeit einer Fristverlängerung aus wichtigem Grund. In Bremen und in Mecklenburg-Vorpommern kann die Frist um bis zu einem Monat und in Rheinland-Pfalz um bis zu zwei Monate verlängert werden.

40 2. Kap.: Verfahrensrechtliche Ausgestaltung und dogmatische Einordnung

5. Bundesländer mit Anzeigeverfahren und vereinfachtem Genehmigungsverfahren Die fünfte Gruppe bilden Berlin, Hamburg, das Saarland, Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen. Hier sind sowohl ein Anzeigeverfahren 107 als auch ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren 108 vorgesehen. Das Anzeigeverfahren ist in diesen Ländern auf Bauvorhaben geringer Höhe und auf sonstige Bauwerke von untergeordneter bauordnungsrechtlicher Bedeutung beschränkt. Anwendungsvoraussetzung ist auch hier, daß das Bauvorhaben innerhalb des Geltungsbereichs eines qualifizierten Bebauungsplans oder einer Satzung nach § 7 Baugesetzbuch-MaßnahmenG liegt. In Hamburg 109 und Sachsen110 darf der Bauherr zwei Wochen nach dem Eingang der vollständigen Unterlagen bei der Baubehörde mit dem Bau beginnen. In Schleswig-Holstein beträgt die Frist drei Wochen 111 und in Thüringen einen Monat 112 . Vor dem zulässigen Baubeginn hat die Baurechtsbehörde im Saarland innerhalb von zehn Tagen 113 und in Berlin innerhalb von einem Monat 1 1 4 nach Eingang der vollständigen Bauvorlagen zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Freistellung von der Genehmigungspflicht vorliegen. Nach der Berliner Baufreistellungsverordnung und der saarländischen Bauordnung ist auf Verlangen des Bauherrn anstelle des Anzeigeverfahrens ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren durchzuführen 115. Das vereinfachte Genehmigungsverfahren gilt für Wohngebäude geringer Höhe 116 sowie für gesetzlich bestimmte weitere Bauvorhaben, auf die das

107 § 1 ff. Berliner BaufreistellungsVO, BauanzeigeVO-HH, § 66 L B O Saarland, § 62b SächsBO, § 74 LBO S-H, § 62b ThürBO. Das saarländische Verfahren wird zwar als Freistellungsverfahren bezeichnet, ist jedoch aufgrund der Zielgerichtetheit der Wartefrist auf die Ermöglichung einer bauordnungsrechtlichen Kontrolle als Anzeigeverfahren aufzufassen. Zur Einordnung des Verfahrens nach der Berliner BaufreistellungsVO als Anzeigeverfahren vgl. Ortloff \ GE 1995, 266 (268). 108 § 60a Berl.BO, § 2 HmbWoBauErlG, § 67 LBO Saarland, § 62a SächsBO, § 75 LBO S-H, § 62a ThürBO. 109 § 5 BauanzeigeVO-HH. 110 § 62b Abs. 5 SächsBO. 111 § 74 Abs. 9 L B O S-H. 112 § 62b Abs. 4 ThürBO. 113 § 66 Abs. 4 S. 2 LBO Saarland. 114 § 4 Abs. 1 Berliner BaufreistVO. 115 § 9 Berliner BaufreistellungsVO, § 66 Abs. 10 LBO Saarland.

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e t d o g m a t i s c h e Einordnung des K e n n t n i s g a b e e r f a h r e n s 4 1

Anzeigeverfahren keine Anwendung findet. Die bauaufsichtliche Prüfung ist auch hier auf die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit und bestimmte bauordnungsrechtliche Zulässigkeitstatbestände beschränkt. Im vereinfachten Genehmigungsverfahren wird die Baugenehmigung in Hamburg, im Saarland, in Sachsen und in Schleswig-Holstein fingiert, wenn die Baurechtsbehörde nicht innerhalb einer gesetzlich bestimmten Frist über den Bauantrag entschieden hat 117 . In Hamburg und Sachsen betragen die Fristen zwei Monate 118 bzw. sechs Wochen 119 . Im Saarland und in SchleswigHolstein tritt die Genehmigungsfiktion nach einer entscheidungslos verstrichenen Frist von drei Monaten ein 120 . In Berlin kann der Bauherr statt des vereinfachten Genehmigungsverfahrens auch ein umfassendes Baugenehmigungsverfahren beantragen 121.

C. Rechtsdogmatische Einordnung des Kenntnisgabeverfahrens Bei der Erfassung der rechtstechnischen Konstruktionen staatlicher Aufsicht wird traditionell zwischen dem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt und der Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt unterschieden. Anknüpfüngspunkt für diese Terminologie ist die grundrechtliche Freiheit 122 . Bei den grundrechtlichen Freiheiten handelt es sich um verfassungsrechtlich erlaubtes Verhalten. Diese "verfassungsrechtliche Erlaubnis" ist der terminologische und rechtstechnische Ausgangspunkt für die Konstruktionen staatlicher Aufsicht. Das grundsätzlich verfassungsrechtlich erlaubte Verhalten wird hiernach entweder im Einzelfall durch Verwaltungsakt untersagt (Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt) oder es wird einem behördlichen Erlaubnisverfahren unterworfen (präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt).

116

Im Saarland für Gebäude bis zur Gebäudeklasse 3. § 5 Abs. 3 HmbWoBauErlG, § 67 Abs. 5 BauO Saarland, § 62a Abs. 3 S. 5 SächsBO, § 75 Abs. 11 LBO S-H. 118 § 5 Abs. 1 HmbWoBauErlG. 119 § 62a Abs. 3 S. 1 SächsBO. Es besteht in Sachsen gem. § 62a Abs. 3 S. 2 die Möglichkeit einer Fristverlängerung aus wichtigem Grund um bis zu sechs Wochen. 120 § 67 Abs. 5 S. 5 LBO Saarland. In Schleswig-Holstein besteht jedoch unter engen Voraussetzungen die Möglichkeit einer Fristverlängerung um bis zu drei Monate. Im Saarland kann die Baurechtsbehörde die Frist um bis zu einen Monat verlängern. 121 § 60a Berl.BO. 122 BVerfGE 2, 266 (279); E 20, 150 (155). 117

42 2. Kap.: Verfahrensrechtliche Ausgestaltung und dogmatische Einordnung

Als Vorfrage für die systematische Erfassung der rechtstechnischen Konstruktionen der bauordnungsrechtlichen Verfahren ist insoweit von Bedeutung, ob eine verfassungsrechtliche Baufreiheit besteht. Denn ginge man davon aus, daß die Grundstücksbebauung kein Bestandteil des von Art. 14 GG gewährleisteten Eigentums ist, würde der verfassungsrechtliche Ausgangspunkt der Systematik fehlen 123 . Der für die Regelungstechnik der Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt kennzeichnende verfassungsrechtliche Ausgangspunkt und der für das präventive Verbot mit Erlaubnisvorbehalt kennzeichnende grundrechtliche Anspruch auf Genehmigungserteilung wären nicht vorhanden 124 . Ob eine verfassungsrechtliche Baufreiheit existiert oder ob ein entsprechendes subjektives Recht durch den Staat erst verliehen werden muß, wurde vor allem in den siebziger Jahren kontrovers erörtert. Kern der Problematik ist das Verhältnis von Art. 14 Abs. 1 GG zu den einfachgesetzlichen Normen des Baurechts. Gegen die Annahme einer verfassungsrechtlichen Baufreiheit wird vor allem eingewendet, daß das Bauen aufgrund von § 30 BauGB grundsätzlich nur dort erlaubt ist, wo ein entsprechender Bebauungsplan existiert 125 , und das Recht zum Bauen insoweit unter einem Planungsvorbehalt steht 126 . Weiter wird argumentiert, daß auch der Genehmigungsvorbehalt eine Inhaltsbestimmung zum Eigentum darstellt, so daß der Genehmigung eine konstitutive, rechtsverleihende Wirkung zukommt 127 . Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das einerseits betont, daß der Begriff des von der Verfassung gewährleisteten Eigentums aus der Verfassung selbst gewonnen werden muß 128 , und andererseits hervorhebt, daß sich die konkrete Reichweite des Schutzes durch die Eigentumsgarantie erst aus der Inhalts- und Schrankenbestimmung, die nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG Sache des Gesetzgebers ist, ergibt 129 , ist das Recht des Bauherrn, sein Grundstück im Rahmen der Gesetze zu bebauen, durch die Eigentumsgarantie 123

Grabitz, AöR 98 (1973), 568 (612). Vgl. H. Schulte, DVB1. 1979, 133 (134), der die Genehmigungspflicht nicht als präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt auffaßt. 125 H. Schulte, DVB1. 1979, 133 (133 ff.), Breuer, Die Bodennutzung im Konflikt zwischen Städtebau und Eigentumsgarantie, S. 167 ff. 126 Wahl, DVB1. 1982, 51 (56). 127 Friauf, DVB1. 1971, 713 (721). 128 BVerfGE 58, 300 (335). 129 BVerfGE 53, 257 (292). 124

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e t d o g m a t i s c h e Einordnung des Kenntnisgabe V e r f a h r e n s 4 3

des Art. 14 Abs. 1 GG geschützt130. Die Annahme einer verfassungsrechtlichen Baufreiheit entspricht auch der ganz herrschenden Auffassung 131. Die verfassungsrechtliche Verankerung der Baufreiheit wird zunächst mit der historischen Entwicklung des Eigentumsbegriffs begründet, da das Eigentum die bauliche Nutzung des Bodens immer mit umfaßte 132. Für die unmittelbare Verankerung in Art. 14 GG wird vor allem auch darauf hingewiesen, daß die bauliche Nutzbarkeit ein essentieller Bestandteil des Eigentums ist, ohne die das Grundeigentum zu einer leeren Hülse würde 133 . Des weiteren wird darauf abgestellt, daß das Zivilrecht die bauliche Nutzung des Grundstücks als Eigentumsinhalt definiert 134 . Gegen die Auffassung, die das in dem Genehmigungsvorbehalt enthaltene Verbot gegen die Baufreiheit anführt, wird eingewendet, daß das präventive Verbot nicht das Eigentum dahingehend definiert, daß das Recht zum Bauen nicht erfaßt wird, sondern daß es lediglich der Ermöglichung der präventiven Kontrolle grundsätzlich erlaubten Verhaltens dient 135 . Die verfassungsrechtliche Baufreiheit ist daher im Folgenden als Ausgangspunkt für die Regelungstechnik zugrundezulegen. 1. Genehmigungspflicht als präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt Gem. § 49 LBO bedürfen Bauvorhaben grundsätzlich einer Baugenehmigung. Das bedeutet, ohne Erlaubnis darf das Vorhaben nicht durchgeführt

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BVerfGE 35, 263 (276). Papier, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 59; ders., Eigentumsgarantie des Grundgesetzes im Wandel, 1984, S. 21 ff.; Nüßgens/Boujong, Eigentum, Sozialbindung, Enteignung, Rdn. 39; Hoppe, in: Ernst/Hoppe, Das öffentliche Bau- und Bodenrecht, Raumplanungsrecht, Rdn. 165 ff.; Maunz, D Ö V 1975, 1 (5 f.); Krautzberger, in: Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, § 1, Rdn. 7 ff.; Friauf\ Baurecht, in: von Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, 8. Auflage, S. 556 ff.; ders., WiVerw 1989, 121 (128 ff.); Leisner, DVB1. 1992, 1065 (1065 ff.); Finkelnburg, in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht, Band I, 4. Auflage, S. 21; Grotefels, in: Hoppe/Grotefels, Öffentliches Baurecht, S. 52 ff. Aus der Rechtsprechung siehe BVerwGE 2, 172 (174); 42, 115 (116); 48, 271 (273); BVerwG, DVB1. 1979, 67 (69); BayVerfGH, N V w Z 1986, 551 (552); BGHZ 60, 112 (115); 65, 182 (186); 67, 320 (326 f.); 88, 51 (59). 132 Papier, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 59 ff.; Leisner, DVB1. 1992, 1065 (1065). 133 Leisner, DVB1. 1992, 1065 (1066); Papier, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 59; Maunz, D Ö V 1975, 1 (5 f.). 134 Leisner, DVB1. 1992, 1065 (1066 f.). 135 B G H Z 60, 112 (115); BVerwGE 16, 116 (120); Ehlers, in: Erichsen, A l l gemeines Verwaltungsrecht, 10. Auflage, S. 21. 131

44 2. Kap.: Verfahrensrechtliche Ausgestaltung und dogmatische Einordnung

werden. Es ist verboten 136. Dieses Verbot bezweckt jedoch nicht die Verhinderung 137 sozialschädlichen Verhaltens, da das Bauen gesellschaftlich wertvoll und daher erwünscht ist, sondern die Verwendung des Verbotes dient der Ermöglichung einer vorsorglichen Überprüfung des Bauvorhabens 138 (Kontrollerlaubnis 139 ). Ergibt sich bei der Prüfung, daß keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, wird die Erlaubnis erteilt. Das Verbot steht somit von vornherein unter dem Vorbehalt, die Erlaubnis zu erteilen 140 , als eine vorläufige Sperre 141, die mit der Genehmigung aufgehoben wird. Rechtstechnisch ist die baurechtliche Genehmigungspflicht daher der klassische Fall des präventiven Verbots mit Erlaubnisvorbehalt. Die Baugenehmigung, mit der die Baufreiheit wiederhergestellt wird, ist aufgrund von Art. 14 GG zwingend zu erteilen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind 142 (gebundene Erlaubnis 143 ). Durch das grundsätzlich bestehende Genehmigungserfordernis, das sich in der Systematik des Art. 14 GG hinsichtlich der Verfahrenspflicht als Inhaltsund Schrankenbestimmung des Eigentums darstellt 144 , wird das Bauen daher

136

Zur grundrechtlichen Problematik der Erlaubnispflichten allgemein, vgl. Gusy, JA 1981, 80 (80 ff.); Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, S. 161 ff. 137 Bei der Abgrenzung von präventivem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt (Kontrollerlaubnis) und repressivem Verbot mit Befreiungsvorbehalt (Ausnahmebewilligung) ist die Zielsetzung entscheidend. Präventive Verbote betreffen Verhaltensweisen, die grundsätzlich sozial wertvoll oder wenigstens neutral sind, und dienen der Kontrolle durch die Verwaltung. Repressive Verbote dienen der Verhinderung von Verhaltensweisen, die der Gesetzgeber als grundsätzlich sozialschädlich ansieht, vgl. BVerfGE 20, 150 (155 ff.); Friauf JuS 1962, 422 (423); Forsthoff.; Verwaltungsrecht, 10. Auflage, S. 267. A.A. Gusy, JA 1981, 80 (81), der eine Unterscheidbarkeit von präventiven und repressiven Verboten nach der Wirkung und nach dem Inhalt verneint. Ablehnend auch Schwabe, JuS 1973, 133 (134 f.), der keine "qualitative", sondern nur eine "quantitative" Unterscheidbarkeit anerkennt. 138 BGHZ 60, 112 (115 ff.). "Uberwachungsmaßregel" gegen mögliche Gefährdungen, Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Band, S. 240 ff. 139 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Auflage, § 9, Rdn. 51. 140 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Auflage, § 9, Rdn. 51. 141 BVerfGE 20, 150 (155); BGHZ 65, 182 (186). 142 Friauf, in: von Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, 8. Auflage, S. 559; Ehlers, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Auflage, S. 21. 143 Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Band, S. 242 f. 144 Rombach, Der Faktor Zeit in umweltrechtlichen Genehmigungsverfahren, S. 48.

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nicht als verbotene Tätigkeit qualifiziert 145 , sondern einem Verfahrensvorbehalt unterworfen. 2. Verfahrensfreiheit als Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt Die verfahrensfreien Vorhaben (§ 50 LBO) unterliegen keinem präventiven Verbot, da der Gesetzgeber hier eine präventive Kontrolle als nicht erforderlich ansieht. Diese Vorhaben sind vielmehr erlaubt. Dabei ergibt sich die Erlaubnis, ebenso wie die bei den §§ 49, 58 LBO unter dem präventiven Verbot stehende Erlaubnis, direkt aus der Baufreiheit. Jedoch besteht auch bei den verfahrensfreien Vorhaben keine absolute Baufreiheit. Aus § 50 Abs. 5 LBO ergibt sich die Bindung der verfahrensfreien Vorhaben an öffentliches Recht. Die Errichtung eines Bauwerks entgegen der materiellen baurechtlichen Vorschriften bleibt dem Bauherrn trotz der Verfahrensfreiheit verboten. Mißachtet der Bauherr diese Bindung, kann die Baurechtsbehörde durch Baueinstellungsverfügung oder Abbruchsanordnung gegen den rechtswidrigen Bau einschreiten. Die Erlaubnis im Bereich der verfahrensfreien Vorhaben steht somit unter dem Vorbehalt eines konkreten, individuell wirkenden Verbotes und ist daher rechtstechnisch als Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt aufzufassen 146. 3. Kenntnisgabepflicht als präventives Verbot mit Anzeigevorbehalt und Untersagungsmöglichkeit im Einzelfall a) Die Regelungstechnik des Kenntnisgabeverfahrens In dieser Systematik bildet das Kenntnisgabeverfahren eine Zwischenlösung zwischen dem präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt und der Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt 147. Ebenso wie beim präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt sind hier bauliche Maßnahmen zur Ermöglichung einer behördlichen Vorabkontrolle präventiv verboten. Der Beginn der Bauausführung entgegen des Verfahrensvorbehalts des Kenntnisgabeverfahrens ist daher rechts-

145 F r i a u f i n : V O n Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, 8. Auflage, S. 557. Vgl. Grabitz, AöR 98 (1973), 568 (612); Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, S. 163; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Auflage, § 9, Rdn. 54. 147 Vgl. Schwabe, JuS 1973, 133 (133); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Auflage, § 9, Rdn. 54\Jäde, ZfBR 1996, 241 (246). 146

46 2. Kap.: Verfahrensrechtliche Ausgestaltung und dogmatische Einordnung

widrig und hat grundsätzlich die Anordnung der Baueinstellung zur Folge (§ 64 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 LBO). Im Gegensatz zum Genehmigungsverfahren fehlt beim Kenntnisgabeverfahren jedoch die formelle Schranke der Genehmigungspflicht. Im Kenntnisgabeverfahren steht das präventive formellrechtliche Verbot der Verwirklichung des Bauvorhabens unter dem Vorbehalt der Kenntnisgabe des Vorhabens an die Gemeinde und des Ablaufs der gesetzlich bestimmten Wartefrist. Der zulässige Baubeginn ist hier nicht von einer administrativen Freigabe abhängig, sondern er ist nur durch eine mit einer Wartezeit kombinierten Anzeigepflicht bedingt 148 . Durch die Anzeige öffnet der Bürger die Schranke des formellen Bauverbotes selbst149. Mit dem Ablauf der Wartefrist darf der Bauherr die Ausführung des Bauvorhabens insoweit formell legal beginnen 150 . Rechtstechnisch ist das Kenntnisgabeverfahren daher zunächst als präventives Verbot mit Anzeigevorbehalt 151 einzuordnen 152 . Andererseits bestehen auch Parallelen zur Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt. Kennzeichnend für die Regelungstechnik der Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt ist, daß dem konkreten Verbot im Einzelfall nicht die Legalisierungswirkung einer vorausgegangenen behördlichen Genehmigung entgegensteht153. In Anlehnung an die früheren Anzeigeverfahren 154 geht jedoch Schlez davon aus, daß in dem Unterlassen einer Untersagung des Baubeginns und der Bauausführung eine stillschweigende Genehmigung liegt 155 . Die Annahme einer stillschweigenden Genehmigung würde jedoch voraussetzen, daß die Baurechtsbehörde die Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens prüft und mit dem Unterlassen der Untersagung des Baubeginns zum Ausdruck bringen will, daß das präventive Bauverbot aufgehoben wird und die Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit öffentlichem Recht festgestellt wird. Eine Prüfüng der Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens durch die Baurechtsbehörde findet im Kenntnisga-

148

Jäde, ZfBR 1996, 241 (246). Schick, BayVBl. 1967, 341 (341). 150 V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1997, 141 (141) unter zweifelhafter Berufung auf BVerwGE 39, 154 (155 f.). 151 Zum Begriff vgl. Schick, BayVBl. 1967, 341 (341 ff.); Wahl, DVB1. 1982, 51 (53). 152 Ein präventives Verbot mit Anzeigevorbehalt findet sich auch im Versammlungsrecht (vgl. § 14 Abs. 1 VersammlG). 153 Zur Legalisierungswirkung der Baugenehmigung siehe unten, 6. Kap., B. 154 Zur Abgrenzung des Kenntnisgabeverfahrens von den früheren Anzeigeverfahren siehe nachstehend, 2. Kap., C 3d. 155 Schlez, Landesbauordnung für Baden-Württemberg, 4. Auflage, § 53, Rdn.23. 149

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e t d o g m a t i s c h e Einordnung des Kenntnisgabe V e r f a h r e n s 4 7

beverfahren im Regelfall aber nicht statt (§ 51 Abs. 5 S. 2 LBO). Die Annahme einer stillschweigenden Genehmigung widerspricht auch dem Willen des Gesetzgebers, die Verantwortlichkeit für die Prüfung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften auf Private zu verlagern. Indem die Baurechtsbehörde es unterläßt, den Baubeginn im Kenntnisgabeverfahren zu untersagen, wird das Bauvorhaben daher nicht stillschweigend genehmigt. Die Annahme von einer formellen Legalität nach dem Fristablauf bedarf somit der Präzisierung: Soweit im Kenntnisgabeverfahren von einer formellen Legalität ausgegangen werden kann, bezieht sich diese Legalität nur auf die verfahrensrechtliche Seite156. Formelle Legalität kann im Kenntnisgabeverfahren nur bedeuten, daß die im Kenntnisgabeverfahren erforderlichen Verfahrenshandlungen vorgenommen wurden und das Verfahren insoweit rechtmäßig durchgeführt wurde. Über die Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit materiellem Baurecht und dementsprechend 157 über die Notwendigkeit einer formellen Erlaubnis wird durch das Unterlassen der Untersagung des Baubeginns keine Aussage getroffen. Die legalisierende Wirkung einer Baugenehmigung steht hier einem Verbot nicht entgegen. Die sich aus der Erfüllung der Kenntnisgabeverpflichtung ergebende Erlaubnis steht daher wie bei der Regelungstechnik der Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt unter dem Vorbehalt eines Verbotes im Einzelfall. Wie § 50 Abs. 5 LBO weist § 51 Abs. 4 LBO ausdrücklich auf die Verpflichtung zur Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften hin, die ihrerseits Verbotsgesetze darstellen und im Falle der Mißachtung die Baurechtsbehörde zu einem Einschreiten berechtigen. Die Kenntnisgabepflicht ist daher rechtstechnisch als präventives Verbot mit Anzeigevorbehalt aufzufassen, wobei die sich aus der Erfüllung der Verfahrenspflichten ergebende Zulassung, wie bei der Rechtstechnik der Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt, unter dem Vorbehalt eines konkret-individuell wirkenden Verbotes steht 158 .

156 Unpräzise insoweit Jobst-Wagner, Anzeige und Anzeigeverfahren in der Verwaltungsrechtsordnung, S. 130 ff., die die Grundsätze der alten Anzeigeverfahren auf die neuen Anzeigeverfahren überträgt. 157 Zur Abhängigkeit der Anwendbarkeit des Kenntnisgabe Verfahrens von der Einhaltung der materiellen Bauvorschriften siehe unten, 6. Kap., C 1. 158 Vgl. auch Sach, Genehmigung als Schutzschild ?, S. 34, der die Anzeigeverfahren im Hinblick auf den Verbotsvorbehalt rechtstechnisch als Anzeigepflicht mit Eingriffsermächtigung einordnet.

48 2. Kap.: Verfahrensrechtliche Ausgestaltung und dogmatische Einordnung

b) Abgrenzung des Kenntnisgabeverfahrens von den rein informatorischen Anzeigepflichten Anzeigepflichten finden sich auch an anderer Stelle im Verwaltungsrecht 159 . Fast 160 alle dieser Anzeigepflichten unterscheiden sich allerdings grundlegend in ihrer Zielsetzung und ihrer Ausgestaltung von den Anzeigepflichten in den Anzeigeverfahren der Landesbauordnungen. Exemplarisch läßt sich hier die Anzeigepflicht nach § 14 GewO heranziehen. Gem. § 14 Abs. 1 GewO muß gleichzeitig mit dem Anfang des Gewerbebetriebes eine Anzeige an die zuständige Behörde erfolgen. Zweck der Gewerbeanzeige ist es, der zuständigen Behörde jederzeit Aufschluß über die Zahl und Art der in ihrem Bezirk vorhandenen stehenden Gewerbebetriebe zu geben und dadurch eine wirksame Überwachung der Gewerbeausübung zu ermöglichen 161 . Sie ist nicht Anlaß und Grundlage für eine mögliche präventive Kontrolle, sondern dient der bloßen Information der Behörde, daß ein Gewerbe ausgeübt wird, um die laufende Überwachung nach dem Betriebsbeginn sicherzustellen 162. Entsprechend ihrer bloßen Informationsfunktion sind die Anzeigepflicht nach § 14 GewO und die sonstigen rein informatorischen Anzeigepflichten nicht mit einem präventiven formellem Verbot 163 und nicht mit einer Wartefrist verbunden. Hier ist die formelle Zulässigkeit der angezeigten Tätigkeit nicht davon abhängig, daß die Anzeigepflicht erfüllt wird 1 6 4 .

159

Beispielsweise im Gewerberecht (§ 14 GewO), in der Handwerksordnung (§ 16 Abs. 2 HandwO) und dem neuen Telekommunikationsgesetz ( § 4 TKG). Ein Überblick über die Anzeigepflichten findet sich bei Fritz, in: K i m m i nich/Lersner/Storm, Handwörterbuch des Umweltrechts, Sp.138 f. 160 Eine Ausnahme bildet hier das Anzeigeverfahren nach § 14 VersammlungsG. § 14 Abs. 1 VersammlungsG entspricht in seiner Struktur den bauordnungsrechtlichen Anzeige verfahren. 161 Vgl. Mareks, in: Landmann/Rohmer, Gewerbeordnung-Kommentar, § 14, Rdn. 6. 162 Fritz, in: Kimminich/Lersner/Storm, Handwörterbuch des Umweltrechts, Spalte 138. Daher ist die Gewerbeanzeige auch dann erforderlich, wenn eine Gewerbeerlaubnis erteilt wurde, vgl. Mareks, in: Landmann/Rohmer, Gewerbeordnung-Kommentar, § 14, Rdn. 8. Für die Anzeige nach § 4 GaststättenG, vgl. Michel/Kienzle, Das Gaststättengesetz, § 4, Rdn. 96. 163 Vgl. Mareks, in: Landmann/Rohmer, Gewerbeordnung-Kommentar, § 14, Rdn. 8. 164 Mareks, in: Landmann/Rohmer, Gewerbeordnung-Kommentar, § 14, Rdn. 8. Hierdurch unterscheiden sich die Anzeigepflichten der Genehmigungsfreistellungsverfahren in Niedersachsen (§ 69a NBauO) und Mecklenburg-Vorpommern (§ 64 LBauO M - V ) , bei denen eine Wartefrist vor dem zulässigen Baubeginn nicht erforderlich ist, von den rein informatorischen Anzeigen. Zur formellen

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e t d o g m a t i s c h e Einordnung des Kenntnisgabe V e r f a h r e n s 4 9

Daher rechtfertigt die Verletzung dieser Anzeigepflicht auch nicht die Untersagung des anzeigepflichtigen Verhaltens 165 . Die rein informatorischen Anzeigen sind im Gegensatz zu den bauordnungsrechtlichen Anzeigen in den Anzeigeverfahren ohne unmittelbare Rechtsfolge 166. c) Abgrenzung des Kenntnisgabeverfahrens von den Genehmigungsfreistellungsverfahren Die im Bauordnungsrecht neu geschaffenen Genehmigungsfreistellungsverfahren 167 bilden rechtstechnisch einen Unterfall der Anzeigeverfahren 168. Auch bei den Genehmigungsfreistellungsverfahren unterliegt der zulässige Baubeginn einem Anzeigevorbehalt. Verfahrensbestandteil ist wie bei den anderen bauordnungsrechtlichen Anzeigeverfahren die Anzeige des Bauvorhabens und die Verpflichtung des Bauherrn, Erklärungen oder Bestätigungen über die Einhaltung öffentlich-rechtlicher Vorschriften einzureichen. Die Genehmigungsfreistellungsverfahren grenzen sich jedoch entscheidend durch ihre unterschiedliche Zielsetzung von den anderen bauordnungsrechtlichen Anzeigeverfahren ab. Die Anzeige des geplanten Bauvorhabens und die Wartefrist dienen in Bayern, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz nicht der Ermöglichung einer präventiven Kontrolle durch die Baurechtsbehörde, ob die öffentlich-rechtlichen Bauvorschriften eingehalten werden, sondern sie bezwecken die Absicherung der gemeindlichen Planungshoheit169. Durch die Anzeige des geplanten Bauvorhabens soll der Gemeinde die Möglichkeit

Rechtswidrigkeit des Baubeginns entgegen der Mitteilungspflicht i m niedersächsischen Genehmigungsfreistellungsverfahren, vgl. Große-Suchsdorf/Lindendorf/ Schmals/Wichert, Niedersächsische Bauordnung, 6. Auflage, § 69a Rdn. 24. 165 Schick, BayVBl. 1967, 341 (342 f.). 166 Fritz, i n : Kimminich/Lersner/Storm, Handwörterbuch des Umweltrechts, Spalte 137. 167 Genehmigungsfreistellungsverfahren finden sich in Art.64 BayBO, § 66 BremBO, § 64 LBauO M - V , § 67 BauO N W , § 69a NBauO, § 65a L B O RP. 168 Unzutreffend ist daher die Annahme von Bonifacio, Das Genehmigungsfreistellungsverfahren nach § 67 BauO N W , S. 23, das Anzeigeverfahren sei dem vereinfachten Genehmigungsverfahren ähnlicher als dem Genehmigungsfreistellungs verfahren. 169 Jäde, Das Genehmigungsfreistellungsverfahren in der Praxis, in: Hoppe/ Bauer/Faber/Schink, Rechts- und Anwendungsprobleme der neuen Bauordnung N W , S. 43 ff; ders., N V w Z 1995, 672 (673); Reichling, Effektivität in baurechtlichen Planungs- und Genehmigunsverfahren, S. 187. 4 Kruhl

50 2. Kap.: Verfahrensrechtliche Ausgestaltung und dogmatische Einordnung

eröffnet werden, ihre spezifischen ortsplanerischen Interessen in den Geschehensablauf einzubringen 170 . Die Gemeinde kann innerhalb eines Monats prüfen, ob das geplante Bauvorhaben mit ihrer planerischen Vorstellung für das betreffende Grundstück in Einklang steht. Hat die Gemeinde Bedenken gegen die Durchführung des Bauvorhabens in dem Genehmigungsfreistellungsverfahren, kann sie innerhalb der Monatsfrist vor dem zulässigen Baubeginn erklären, daß sie die Durchführung eines Genehmigungsverfahrens wünscht. Auch in Mecklenburg-Vorpommern und in Niedersachsen dienen die von dem Verfahrensvorbehalt umfaßten Pflichten zur Anzeige des geplanten Bauvorhabens und zum Einreichen der Bestätigungen über die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften nicht der Ermöglichung einer präventiven Kontrolle des Bauvorhabens. In Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen ist eine präventive Kontrolle bereits deshalb ausgeschlossen, weil nach der Mitteilung von der geplanten Baumaßnahme keine Wartefrist eingehalten werden muß, sondern der Bauherr unmittelbar mit der Bauausführung beginnen darf. Sinn und Zweck des Verfahrensvorbehalts ist es hier sicherzustellen, daß die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften durch den Entwurfsverfasser geprüft wurde, und die Abgabe einer entsprechenden Bestätigungserklärung, die an die Stelle der Prüfung durch die Baurechtsbehörde tritt, zu erzwingen 171 . Der Verfahrensvorbehalt der neuen Genehmigungsfreistellungsverfahren ist somit zwar von seiner Regelungstechnik als Anzeigevorbehalt ausgestaltet, aber die Anzeigepflicht ist im Gegensatz zu den Anzeigeverfahren kein Instrument präventiver administrativer Gefahrenabwehr. d) Abgrenzung des Kenntnisgabeverfahrens von den früheren Anzeigeverfahren In § 88 LBO/1964 war für bestimmte Vorhaben, ebenso wie in anderen Landesbauordnungen 172, bereits früher ein sogenanntes Anzeigeverfahren vorgesehen. Der Bauherr mußte das Bauvorhaben bei der Baurechtsbehörde 170 Für das Genehmigungsfreistellungsverfahren nach § 67 BauO N W , vgl. Landtag Nordrhein-Westfalen, LT-Drs. 11/7153, S. 182. Jäde, Das Genehmigungsfreistellungsverfahren in der Praxis, in: Hoppe/Bauer/Faber/Schink, Rechtsund Anwendungsprobleme der neuen Bauordnung N W , S. 43 ff. 171 Vgl. Große-Suchsdorf/Lindendorf/Schmals/Wichert, Niedersächsische Bauordnung, 6. Auflage, § 69a Rdn. 27. 172 Vgl. z.B. § 73 LBO-RP/1961, § 88 Saarl.BauO/1965, § 83 BayLBO/1962.

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e t d o g m a t i s c h e Einordnung des Kenntnisgabe Verfahrens

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anzeigen und durfte einen Monat nach dem Eingang der Bauanzeige mit der Bauausführung beginnen, sofern die Baurechtsbehörde das Vorhaben nicht untersagt hat. Im Gegensatz zum Kenntnisgabeverfahren, bei dem eine Prüfung der baurechtlichen Vorschriften zwar erlaubt, aber für den Regelfall nicht vorgesehen ist ( § 5 1 Abs. 5 S. 2 LBO), war die Baurechtsbehörde bei den früher anzeigepflichtigen Bauvorhaben verpflichtet, die Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens, wie im Genehmigungsverfahren, vollständig zu prüfen 173 . Gem. § 96 Abs. 2 LBO/1964 war das Vorhaben zu untersagen, wenn öffentlich-rechtliche Vorschriften entgegenstehen. Daraus, daß die Baurechtsbehörde einerseits verpflichtet war, die Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens zu kontrollieren, und andererseits bei einem Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften den Baubeginn untersagen mußte, wurde gefolgert, daß die Baurechtsbehörde das Bauvorhaben durch das Verstreichenlassen der Monatsfrist genehmige174. Die Baugenehmigung wurde überwiegend als stillschweigend erteilt angenommen 175 . Die Annahme einer stillschweigenden Genehmigung konnte jedoch nur für die Fälle gelten, in denen die Baurechtsbehörde durch das Verstreichenlassen der Frist auch ihren Willen zur Genehmigungserteilung zum Ausdruck bringen wollte 176 . Hatte die Baurechtsbehörde die Frist aus einem anderen Grunde verstreichen lassen, ohne das Bauvorhaben zu untersagen, konnte eine Genehmigung nur mittels einer Fiktion angenommen werden 177 . Das frühere Anzeigeverfahren war daher kein Anzeigeverfahren im vorstehend genannten Sinne des Kenntnisgabeverfahrens, sondern ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren 178, in dem die Genehmigung stillschweigend erteilt oder fingiert wurde.

173

Vgl. Söhn, D Ö V 1968, 689 (691). Schlez, Landesbauordnung für Baden-Württemberg, 1. Auflage, § 96, Rdn. 8; Söhn, D Ö V 1968, 689 (691); Mang-Simon, Bayerische Bauordnung (Stand: 15.12.1968), Art. 90, Rdn. 8. Das Bundesverwaltungsgericht ging dabei etwas zurückhaltender von einer genehmigungsartigen Legalisierungswirkung aus, vgl. BVerwGE 55, 118 (125); ebenso: Schenke, Bauordnungsrecht, in: Achterberg/Püttner, Besonderes Verwaltungsrecht, S. 502. 175 Vgl. Schlez, Landesbauordnung für Baden-Württemberg, 1. Auflage, § 96, Rdn. 8; Söhn, D Ö V 1968, 689 (691 ). 176 Vgl. Forsthoff, Verwaltungsrecht, 10. Auflage, S. 218. 177 Zur Rechtmäßigkeitsfiktion beim Verstreichenlassen der Monatsfrist im Anzeigeverfahren gem. §§ 83, 90 BayBO/1962, vgl. Mang-Simon, Bayerische Bauordnung (Stand: 15.12.1968), Art. 90, Rdn. 8. 174

52 2. Kap.: Verfahrensrechtliche Ausgestaltung und dogmatische Einordnung

D. Weitere dogmatische Einordnung des Kenntnisgabeverfahrens Bei den Tätigkeiten der Verwaltungsbehörden im Kenntnisgabeverfahren handelt es sich zweifellos um staatliche Verwaltung 179 . Das Kenntnisgabeverfahren ist auch ein interaktives Verfahren 180 , in dem eine Mehrzahl von Handlungen der Verwaltungsbehörden, des Bauherrn und der Angrenzer zeitlich und sachlich wechselseitig aufeinander bezogen und planvoll geordnet sind. Es läßt sich daher zunächst als Verwaltungsverfahren im weiteren Sinne 181 auffassen. Problematisch ist jedoch, ob das Kenntnisgabeverfahren auch als Verwaltungsverfahren im Sinne des § 9 LVwVfG zu qualifizieren ist 182 . Dies ist vor allem auch für die Frage der Anwendbarkeit der Beteiligungsvorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes von Bedeutung. Nach der Legaldefinition des § 9 LVwVfG ist das Verwaltungsverfahren die nach außen wirkende Tätigkeit der Behörden, die auf die Prüfung der Voraussetzungen, die Vorbereitung und den Erlaß eines Verwaltungsakts oder auf den Abschluß eines öffentlich-rechtlichen Vertrags gerichtet ist. Von dem Begriff des Verwaltungsverfahrens im Sinne des § 9 LVwVfG nicht umfaßt sind alle Vorgänge des internen Bereichs und alle Verfahren, die nicht auf einen Verwaltungsakt oder auf einen Verwaltungsvertrag abzielen 183 . Zu erörtern sind daher die Außenwirkung und die Zielrichtung des Verwaltungshandelns im Kenntnisgabeverfahren 184.

178 So ausdrücklich auch Söhn, DÖV 1968, 689 (691 f f ) ; offengelassen von BVerwGE 20, 12 (14). 179 Sowohl nach der negativen Begriffsbestimmung (vgl. dazu Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Band, S. 7; W. Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 5 f.) als auch nach positiver Begriffsbestimmung (vgl. dazu Forsthoff\ Verwaltungsrecht, 10. Auflage, S. 1 ff.). 180 Zum Begriff des Verfahrens, vgl. Badura, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Auflage, S. 420. 181 Zum Begriff des "Verwaltungsverfahrens im weiteren Sinne", vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Auflage, § 19, Rdn. 1. 182 Vgl. Pfaff VB1BW 1996, 281 (284). 183 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Auflage, § 19, Rdn. 1. 184 Die charakteristischen Verfahrenshandlungen bestehen in der Entgegennahme der Bauvorlagen durch die Gemeinde, der Benachrichtigung der Angren-

D. Weitere dogmatische Einordnung des Kenntnisgabe Verfahrens

53

1. Das Erlöschen des Bauverbotes als Verfahrensziel Das wesentliche Verfahrensziel ist - insbesondere aus der Sicht des Bauherrn - das Erlöschen des Bauverbotes. Während im Genehmigungsverfahren der Bauantrag durch den Erlaß eines Verwaltungsaktes beschieden wird, ist im Kenntnisgabeverfahren die Erteilung einer Genehmigung nicht das Verfahrensziel. Vielmehr erlischt das präventive Bauverbot im Kenntnisgabeverfahren mit dem Fristablauf nach der Anzeige des Bauherrn an die Gemeinde ohne behördliche Regelung. Da im Kenntnisgabeverfahren keine Baugenehmigung erteilt wird, sind die Tätigkeiten der Verwaltungsbehörden im Hinblick auf das Erlöschen des Bauverbotes schon aus diesem Grunde nicht auf die Prüfung der Voraussetzungen, die Vorbereitung und den Erlaß eines Verwaltungsaktes gerichtet und erfüllen insoweit nicht die Voraussetzungen des § 9 LVwVfG 1 8 5 . 2. Zielgerichtetheit der Verwaltung der Bauvorlagen auf eine effektive Gefahrenabwehr Durch die Kenntnisnahme von dem geplanten Bauvorhaben und die Verwaltung der Bauvorlagen schafft die Baurechtsbehörde die Voraussetzungen für eine effektive Gefahrenabwehr. Die detaillierten Informationen über das geplante Vorhaben versetzen die Baurechtsbehörde in die Lage, eine möglichst schnelle Prüfung des Bauvorhabens durchzuführen, falls sich Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen öffentliches Recht ergeben. Gefahrenabwehrende Maßnahmen durch die Baurechtsbehörde erfolgen dann regelmäßig als Verwaltungsakt. Es handelt sich bei den Handlungen im Zusammenhang mit der Verwaltung der Bauvorlagen also um vorsorgliche Tätigkeiten der Verwaltungsbehörden mit der Zielrichtung, eine schnelle Prüfüng der Voraussetzungen einer bauaufsichtsrechtlichen Maßnahme sicherzustellen.

zer, der Prüfung der Vollständigkeit der Bauvorlagen und die entsprechende Benachrichtigung des Bauherrn, die Weiterleitung der Bauvorlagen durch die Gemeinde an die Baurechtsbehörde sowie das Anlegen der Akten und gegebenenfalls die Prüfung der Bedenken einschließlich der entsprechenden Benachrichtigung. Zur fehlenden Verwaltungsaktsqualität der Bestätigung des vollständigen Eingangs der Bauvorlagen, vgl. Büchner, VB1BW 1996, 439 (439). 185 A.A. Schlez, Landesbauordnung für Baden-Württemberg, 4. Auflage, § 53, Rdn. 23, der das Unterlassen der Untersagung des Baubeginns als stillschweigende Genehmigung qualifiziert.

54 2. Kap.: Verfahrensrechtliche Ausgestaltung und dogmatische Einordnung

Ein Verwaltungsverfahren wird jedoch nur durch solches Handeln begründet, das final auf die Prüfüng gerichtet ist, also inhaltlich der Prüfüng dient 186 . Als eine der Vorbereitung eines konkreten Verwaltungsaktes vorgelagerte Maßnahme gehört die Datensammlung noch nicht zum Verwaltungsverfahren 187 . Die Handlungen der Baurechtsbehörde im Zusammenhang mit der Kenntnisnahme und Verwaltung der Bauvorlagen sind vielmehr als regelungsvorbereitende Realakte aufzufassen 188. Denn als regelungsvorbereitende Realakte werden nicht nur Handlungen verstanden, die unmittelbar der Vorbereitung eines Verwaltungsaktes dienen, sondern ebenfalls auch Handlungen, die nur mittelbar auf die Vorbereitung einer Regelung gerichtet sind 189 . Die Prüfüng der Voraussetzungen konkreter bauordnungsrechtlicher Maßnahmen bei späteren Anhaltspunkten 190 für einen Verstoß gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften erfolgt dann in einem eigenen Verwaltungsverfahren. Der Verfahrensablauf ist demnach auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Schaffüng der Voraussetzungen für eine effektive Gefahrenabwehr als Verwaltungsverfahren i.S.d. § 9 LVwVfG zu qualifizieren. 3, Beteiligung der Angrenzer Da das Kenntnisgabeverfahren im rein bipolaren Verhältnis zwischen Bauherr und Verwaltung kein Verwaltungsverfahren ist, stellt sich die Frage, ob das Verfahren der Angrenzerbeteiligung im Falle des Vorbringens von Bedenken ein Verwaltungsverfahren darstellt. Gem. § 55 Abs. 3 S. 3 LBO können die Angrenzer innerhalb von zwei Wochen Bedenken gegen das geplante Bauvorhaben vorbringen. Die Behandlung der Bedenken richtet sich gem. § 55 Abs. 3 S. 5 LBO nach der Generalklausel des § 47 Abs. 1 LBO. Mit dem Hinweis auf § 47 Abs. 1 LBO wird klargestellt, daß die Baurechtsbehörde die vorgebrachten Bedenken überprüfen

186

Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, § 9, Rdn.

79. 187

Clausen, in: Knack, VwVfG, § 9, Rdn. 3.4. Zum regelungsvorbereitenden Charakter von Maßnahmen der Datenverarbeitung im Polizeirecht, vgl. Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 3. Auflage, Rdn 432. 189 Rasch, DVB1. 1992, 207 (208). 190 Zur Differenzierung zwischen dem Verfahren der Prüfung der Angrenzerbedenken und der Vorbereitung konkreter bauordnungsrechtlicher Maßnahmen siehe nachstehend, 2. Kap., D 3. 188

D. Weitere dogmatische Einordnung des Kenntnisgabe Verfahrens

55

und im Falle der Stichhaltigkeit entsprechende Maßnahmen veranlassen muß 191 . Die Angrenzer werden über das Ergebnis benachrichtigt. Eine Pflicht zur Bescheidung der nachbarlichen Bedenken besteht jedoch nicht 192 . Die Unterrichtung über das Ergebnis der Prüfung enthält keine Regelung, sondern dient ausschließlich der Information des Nachbarn und stellt folglich keinen Verwaltungsakt dar 193 . Ein Verwaltungsverfahren wird somit auch unter diesem Gesichtspunkt nicht begründet. Ein Verwaltungsakt liegt jedoch in der Untersagung des Baubeginns nach § 55 Abs. 3 S. 5 i. V.m. § 47 Abs. 1 LBO. Das Verfahren der Prüfung der vorgebrachten Bedenken ist daher als Verwaltungsverfahren zu qualifizieren, wenn die Prüftätigkeit der Baurechtsbehörde auf den Erlaß einer Untersagungsverfügung gerichtet wäre. Zu differenzieren ist aber zwischen der Prüfung und der weiteren Behandlung der Bedenken. Prüfung der Bedenken einerseits und Prüfung, Vorbereitung und Erlaß späterer bauordnungsrechtlicher Maßnahmen andererseits stellen zwei unterschiedliche rechtliche Vorgänge dar. Zwar ist bei der Überprüfung der Bedenken die Rechtmäßigkeit des geplanten Vorhabens bezüglich der vorgebrachten Tatsachen zu prüfen, jedoch erfolgt diese Prüfung nicht im Hinblick auf den Erlaß einer Bauuntersagung, sondern hinsichtlich ihrer Stichhaltigkeit selbst. Die Behörde hat nicht den gesamten maßgeblichen Sachverhalt für eine mögliche Untersagungsverfügung zu ermitteln (§§ 24, 26 LVwVfG), sondern sie prüft lediglich die vorgebrachten Bedenken. Das Vorbringen der Bedenken ist auch kein Antrag im Sinne von § 22 S. 2 Nr. 1 2. Alt. LVwVfG, sondern eine bloße Anregung eines Bürgers, in der auf einen Sachverhalt hingewiesen wird, den die Behörde von Amts wegen zu klären berechtigt bzw. verpflichtet ist 194 . Dafür spricht auch, daß durch die Prüfung der Bedenken die Rechtssphäre des Angrenzers nicht betroffen wird. Die Entscheidung über die Behandlung der Bedenken hat keine in die Rechtsposition des Angrenzers eingreifende gestaltende oder feststellende Wirkung. Alle im Kenntnisgabeverfahren bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten des Angrenzers bleiben unberührt. Die Prüfung der vorgebrachten Bedenken hat auch keine Auswirkungen auf die Rechts191 192 193

LT-Drs. 11 /5337, S. 115. Vgl. LT-Drs. 11/5337, S. 116. Sauter , Landesbauordnung für Baden-Württemberg, 3. Auflage, § 55, Rdn.

30]. 194

Vgl. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, § 22, Rdn. \A\Maurer , Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Auflage, § 19, Rdn. 16.

56 2. Kap.: Verfahrensrechtliche Ausgestaltung und dogmatische Einordnung

Stellung des Bauherrn. Sie ist nicht zielgerichtet auf den Erlaß bauaufsichtsrechtlicher Maßnahmen, sondern inhaltlich offen. Die Prüfung der Stichhaltigkeit der vorgebrachten Bedenken dient nur der Prüfung, ob ein Verwaltungsverfahren überhaupt durchgeführt werden soll. Da sich die Behörde zu diesem Zeitpunkt diesbezüglich noch nicht entschieden hat, ist das Verfahren der Prüfüng der Angrenzerbedenken kein Verwaltungsverfahren im Sinne des Verwaltungsverfahrensgesetzes 195. Eine ein Verwaltungsverfahren begründende Prüfüng beginnt daher erst dann, wenn sich die Bedenken als stichhaltig erwiesen haben und die Behörde in einem eigenen Verfahren prüft, ob die Voraussetzungen für ein Einschreiten vorliegen. 4. Fazit Das Kenntnisgabeverfahren ist kein Verwaltungsverfahren im Sinne des LVwVfG. Es ist aber ein Verwaltungsverfahren im weiteren Sinne und hat als solches eine eigene Rechtsfolge, die in dem Erlöschen des präventiven Bauverbots besteht. Der wesentliche Unterschied besteht hier allein darin, daß es sich bei der Rechtsfolge nicht um eine administrative Regelung handelt, sondern daß sich die Aufhebung der formellen Schranke des präventiven Bauverbots unmittelbar aus dem Gesetz ergibt.

195

Vgl. Clausen, in: Knack, VwVfG, § 9, Rdn. 3.4.1.

3. Kapitel

Verfassungsrechtliche Relevanz von Verfahrensabhängigkeit und Verfahrensdauer Verfahrensvorbehalte beschränken die Ausübung der grundrechtlich geschützten Freiheiten 196 . Die Pflicht des Bürgers, sich vor der Freiheitsbetätigung einem staatlichen Aufsichtsverfahren zu unterwerfen, wirkt einerseits, für sich genommen, als Einschränkung der Selbstbestimmungsmacht. Zum anderen wird die Ausübung der verfahrensabhängigen Freiheiten durch die für das Verfahren benötigte Zeit belastet. Im Folgenden wird untersucht, inwieweit der Verfassung Vorgaben für die Gestaltung und Dauer des bauordnungsrechtlichen Verfahrens zu entnehmen sind.

A. Verfahrensabhängigkeit der Baufreiheit Das Recht, ein Grundstück im Rahmen der Gesetze zu bebauen, ist einem Verfahrensvorbehalt unterstellt. Das Eigentumsrecht ist insoweit als verfahrensabhängiges Grundrecht ausgestaltet. Aus grundrechtlicher Sicht bedeutet die Verfahrensabhängigkeit eine Beschränkung der Baufreiheit 197 . Dabei ist die Beschränkung der Freiheit um so stärker, je komplexer die Verfahrensanforderungen sind. Bei genehmigungspflichtigen Bauvorhaben ist die Freiheitsausübung von der Erteilung einer staatlichen Erlaubnis 198 abhängig. Der Bauherr muß sich vor der Verwirklichung des Bauvorhabens einem staatlichen Verfahren unterwerfen, in dem die Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens festgestellt wird. Dem Bauherren werden in diesem Verfahren eine Reihe unterschiedlicher Pflichten auferlegt, deren Erfüllung Voraussetzung für die Erlaubnis des Baubeginns ist.

196 V g l d a z u Heid^ Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, S. 161 ff. Dies gilt jedoch nicht uneingeschränkt; zur Freiheitssicherung durch die Baugenehgmigung siehe unten, 6. Kap., H. 197 Vgl. dazu Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, S. 164 f. 198 Zum Verbot mit Erlaubnisvorbehalt siehe oben, 2. Kap., C 1.

58

3. Kap.: Verfahrensabhängigkeit und Verfahrensdauer

Zusätzlich wird beim Baugenehmigungsverfahren auf eine Verschiebung der Beweislast zu Lasten des Bauwilligen gegenüber den genehmigungsfreien Verfahren hingewiesen199. Für die Frage der materiellen Beweislastverteilung gilt auch im Verwaltungsrecht der Grundsatz, daß die Unerweislichkeit einer Tatsache zu Lasten desjenigen Beteiligten geht, der aus ihr eine günstige Rechtsfolge herleiten könnte 200 . Daraus ergibt sich allgemein, daß der Bürger die Beweislast für die anspruchsbegründenden Umstände trägt, wenn er einen Rechtsanspruch auf eine Leistung oder die Vornahme eines Verwaltungsaktes geltend macht, während die Behörde für die dem Anspruch entgegenstehenden Umstände beweispflichtig ist 201 . Greift andererseits die Behörde durch Verbote, Gebote, Rücknahme von Genehmigungen und dergleichen in die Rechtsposition des Bürgers ein, so trifft sie die Beweislast für die den Eingriff rechtfertigenden Umstände 202 . Nicht unumstritten ist jedoch welche Beweislastverteilung in den Fällen des präventiven Verbots mit Erlaubnisvorbehalt gilt. Nach einer Auffassung muß der Bürger, wenn die Behörde die Erlaubnis wegen Fehlens bestimmter Voraussetzungen verweigert, das Vorhandensein dieser Voraussetzungen nachweisen203. Nach der herrschenden Auffassung trägt dagegen die Verwaltung bei einem präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt die Beweislast für die tatsächlichen Voraussetzungen der Versagung der Genehmigung 204 . Die Beweislast der Behörde ergibt sich nach dieser Auffassung aus den jeweils betroffenen Grundrechten, bei der Baugenehmigung also aus der

199 Gusy, JA 1981, 80 (80); Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, S. 163, 172 f. 200 BVerwGE 18, 168 (171); 47, 330 (339); 61, 176 (189); Pietzner, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO-Kommentar, § 132, Rdn. 91; Kopp/Schenke, VwGO, 11. Auflage, § 108, Rdn. 13; Geiger, in: Eyermann, VwGO, 10. Auflage, § 86, Rdn.3; Redeker/von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 11. Auflage, § 108, Rdn. 12. 201 Kopp/Schenke, VwGO, 11. Auflage, § 108, Rdn. 13; Redeker/von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 11. Auflage, § 108, Rdn. 12 f.; Schunk/De Clerck, Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Auflage, § 86, 1 c bb. 202 Kopp/Schenke, VwGO, 11. Auflage, § 108, Rdn. 13; Redeker/von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 11. Auflage, § 108, Rdn. 12 f.; Schunk/De Clerck, Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Auflage, § 86, 1 c bb. 203 Redeker/von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 11. Auflage, § 108, Rdn. 13. 204 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Auflage, § 9, Rdn. 53; Lüke, JZ 1966, 587 (591); Rupp, AöR 85 (1960), 301 (319); Peschau, Die Beweislast im Verwaltungsrecht, S. 108 und S. 111; Schunk/De Clerck, Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Auflage, § 86, 1 c bb.

Α. Verfahrensabhängigkeit der Baufreiheit

59

in Art. 14 GG verankerten Baufreiheit 205 , sowie dem Zweck des Genehmigungsvorbehalts, der dazu dient, eine bessere präventive Kontrolle zu ermöglichen 206 . Die Beweislastverteilung ist somit in den Fällen der Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt und bei dem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt grundsätzlich identisch, da jeweils die Behörde die Beweislast trägt. Eine Beweislastverschiebung zuungunsten des Bauherrn als Antragsteller in einem Genehmigungsverfahren im Vergleich zu den genehmigungsfreien Verfahren kann somit nur in einer faktischen Verschlechterung der Position des Antragstellers gesehen werden. Daß sich die Beweislast durch den Genehmigungsvorbehalt, der den Bauherrn in die Verfahrensposition des Antragstellers zwingt, faktisch zuungunsten des Bauherrn verschiebt, läßt sich m.E. jedoch nicht vollständig leugnen. Aufgrund seiner Regelungstechnik wirkt das Verbot mit Anzeigevorbehalt 207 weniger belastend, da die Ausübung der grundrechtlich durch Art. 14 GG geschützten Freiheit nicht von einer staatlichen Gestattung abhängig ist, sondern der Bauherr die formelle Schranke des präventiven Verbotes durch die Erfüllung der Verfahrensanforderungen selbst öffnet. Die Selbstbestimmung und Selbstverantwortlichkeit des Bürgers wird hier durch die lediglich abstrakt-generell wirkenden gesetzlichen Anforderungen gegenüber der individuellen hoheitlichen Gestattung zumindest psychologisch in den Vordergrund gerückt. In dieser Systematik bildet die Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt 208 die "freiheitliche Lösung" 209 , da die Betätigung der Baufreiheit nicht von einer staatlichen Erlaubnis abhängig ist und dem Bauherrn nicht die Last eines präventiven Verfahrens auferlegt wird. Zwischen den rechtstechnischen Konstruktionen staatlicher Aufsicht besteht somit ein Stufenverhältnis, bei dem der Bauherr durch ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt am stärksten, durch ein Verbot mit Anzeigevorbehalt weniger stark und durch eine Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt am wenigsten beeinträchtigt wird 2 1 0 . Aus diesem Stufenverhältnis ergibt sich unter 205

Schunk/De Clerck, Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Auflage, § 86, 1 c bb. Luke, JZ 1966, 587 (591); Peschau, Die Beweislast im Verwaltungsrecht, S. 111; Schunk/De Clerck, Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Auflage, § 86, 1 c bb. 207 Zum Anzeigevorbehalt siehe oben, 2. Kap., C 3. 208 Siehe dazu oben, 2. Kap., C 2. 209 Krüger, D Ö V 1958, 673 (675); Friauf, JuS 1962, 422 (422 f.). 210 BVerfGE 20, 150 (162); Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, S. 163; Schick, BayVBl. 1967, 341 (341 f.); Wahl, in: K i m m i 206

60

3. Kap.: Verfahrensabhängigkeit und Verfahrensdauer

dem Gesichtspunkt der Verfahrenslast 211, daß die am stärksten belastende Regelungstechnik des präventiven Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt nur dann verhältnismäßig ist, wenn die weniger belastende Regelung des Verbotes mit Anzeigevorbehalt nicht ausreicht, um die materiellrechtliche Zielsetzung zu verwirklichen 212 . Bei Einschätzung, ob ein Anzeigevorbehalt zur Zweckerreichung ausreicht, weil die Einhaltung öffentlich-rechtlicher Vorschriften auch durch die allgemeine Bauaufsicht gewährleistet bleibt, oder ob eine präventive Kontrolle in einem Genehmigungsverfahren notwendig ist, hat der Gesetzgeber jedoch einen weiten Spielraum. Aus dem Gesichtspunkt der Verfahrenslast ergibt sich daher keine Pflicht zur Abschaffung von Baugenehmigungsverfahren. B. Verfassungsrechtliche Relevanz der Verfahrensdauer Ob und inwieweit rechtlich verbürgte Güter reale Geltung erlangen, hängt nicht nur von ihrer materiellrechtlichen Ausprägung, sondern auch von ihrer verfahrensrechtlichen Absicherung und Durchsetzbarkeit ab. Im öffentlichen Baurecht ist das Verwaltungsverfahren das Medium der Rechtsverwirklichung 213 . Im Rahmen der verfahrensrechtlichen Gewährleistung der materiellen Rechtsposition ist die Verfahrensdauer von elementarer Bedeutung. Recht ist ein zeitabhängiges und zeitbezogenes Gut 214 . Nicht selten steht daher eine erhebliche Dauer der verfahrensrechtlichen Durchsetzbarkeit der Rechtsposition einer Versagung des Rechts gleich. Positiv ausgedrückt, wird der Rechtsposition mit abnehmender Verfahrensdauer zu einer optimalen Geltung verholfen. Es liegt daher im Grundsatz nahe, die Rechtsverwirklichung als antiproportional zur Verfahrensdauer aufzufassen. Dabei würde jedoch übersehen, daß die für das Verfahren benötigte Zeit für das Verfahrensergebnis bestim-

nich/Lersner/Storm, Handbuch des Umweltrechts, 2. Auflage, Spalte 528; ders., DVB1. 1982, 51 (53). 211 Zur Rechtssicherheit als Freiheitssicherung siehe unten, 6. Kap., A 1. Zur Baugenehmigung als Leistung siehe, 6. Kap., H. 212 Wahl, DVB1. 1982, 51 (53). 213 Vgl. Wahl, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, V V D S t R L 4 1 (1982), 151 (153). 214 Vgl. Kirchhof\ Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Verfahrensdauer und für die Rechtsmittel, in: Festschrift für Karl Doehring, 1989, 439 (440); Bullinger, JZ 1991, 53 (54); ders., JZ 1993, 492 (493); Rombach, Der Faktor Zeit in umweltrechtlichen Genehmigungsverfahren, S. 48.

Β . Verfassungsrechtliche Relevanz der Verfahrensdauer

61

mend ist. M i t zunehmender Zeit für die Entscheidungsfindung verdichtet sich die Wahrscheinlichkeit des richtigen Verfahrensergebnisses. Verfahrensdauer und Rechtsverwirklichung stehen hier also in einem proportionalen Verhältnis. Die Problematik der Verfahrensdauer liegt daher in einem Spannungsfeld zwischen der Zeitabhängigkeit der Rechtsposition und der materiellen Richtigkeit der Verwaltungsentscheidung 215. Ein überlanges Warten auf die Verwirklichung der materiellrechtlichen Rechtsposition ist ebenso rechtsstaatswidrig wie der "kurze Prozeß" 216 . Dies gilt für das Verwaltungsverfahren ebenso wie für das Gerichtsverfahren. Zwischen der zeitlichen Ausgestaltung präventiver Verfahren und der Effektivität der Grundrechtsgewährleistungen besteht ein enger Zusammenhang217. 1. Relevanz der Verfahrensdauer für Art. 14 Abs. 1 G G Mitumfaßt von der Eigentumsgarantie ist die Baufreiheit, also das Recht des Grundstückseigentümers, sein Grundstück im Rahmen der Gesetze zu bebauen218. In der Systematik des Art. 14 Abs. 1 GG bildet der grundsätzlich bestehende Verfahrensvorbehalt 219 eine Inhalts- und Schrankenbestimmung i.S.d. Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG. Das Recht, ein Grundstück ohne Genehmigung

215 Vgl. dazu Wahl, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VVDStRL 41 (1982), 151 (151 ff.); Pietzcker, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VVDStRL 41 (1982), 193 (193 ff.); Degenhard DVB1. 1982, 872 (872 ff.); Ossenbühl, N V w Z 1982, 465 (466 f.); Steinberg, D Ö V 1982, 619 (621 f.); v.Mutius, NJW 1982, 2150 (2150 ff.); Fröhler, Effektiver Rechtsschutz bei der Genehmigung technischer Anlagen, in: Festschrift für Carl Hermann Ule, 1987, 55 (68); Bullinger, Beschleunigte Genehmigungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben, S. 26 ff., Kirchhof\ Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Verfahrensdauer und für die Rechtsmittel, in: Festschrift für Karl Doehring, 1989, 439 (439 ff.); Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, S. 170. 216 Kirchhof Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Verfahrensdauer und für die Rechtsmittel, in: Festschrift für Karl Doehring, 1989, 439 (439). 217 Grundlegend hierzu und zum Folgenden: Bullinger, Beschleunigte Genehmigungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben, S. 39 ff.; Rombach, Der Faktor Zeit in umweltrechtlichen Genehmigungsverfahren, S. 48 ff. 218 Siehe oben, 2. Kap., C. 219 Nur durch die Verfahrenspflicht selbst und nicht durch das in dem Genehmigungsvorbehalt enthaltene präventive Verbot wird der Inhalt der in Art. 14 GG verankerten Baufreiheit bestimmt, da das präventive Verbot der Absicherung des Verfahrens dient und nicht das Bauen als solches verhindern soll, siehe dazu oben, 2. Kap., C 1.

62

3. Kap.: Verfahrensabhängigkeit und Verfahrensdauer

und damit ohne Zeitverlust zu bebauen, ist daher für Verfahrenspflichtige Vorhaben von vornherein nicht Bestandteil des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs. Daraus folgt aber nicht, daß die Verfahrensdauer keinerlei eigentumsrechtliche Bedeutung hätte. Dies ergibt sich aus folgender Überlegung: Würde die Erlaubnis zum Bauen in einem endlosen Verfahren geprüft, so hätte dies dieselben Konsequenzen wie eine Versagung. In beiden Fällen bleibt dem Bauherrn das Bauen verboten. Wird in dieser Konstellation unterstellt, daß das Bauvorhaben rechtmäßig wäre, so stellt sich die Versagung als rechtswidriger Eingriff in den Schutzbereich von Art. 14 Abs. 1 GG dar 220 . Dasselbe gilt für die Prüfung in einem endlosen Verfahren. Damit ist zwar nicht nachgewiesen, ab welchem Zeitpunkt Art. 14 Abs. 1 GG verletzt ist. Eindeutig ist jedoch, daß ein endloses Verfahren Art. 14 Abs. 1 GG ebenso verletzt wie die rechtswidrige Ablehnung des Bauantrags 221. Die Verfahrensdauer ist folglich unmittelbar mit der materiellen Grundrechtsverwirklichung verknüpft 222 , so daß sich der Verfahrensablauf als selbständiger Grundrechtseingriff darstellen kann, wenn die Dauer des Verfahrens eine gewisse Grenze überschreitet 223.

220

Deppert, Die Rechtsstellung des Dritten im Baugenehmigungsverfahren, in: Festschrift für Karlheinz Boujong, 1996, 533 (548 f.). So wird vor allem in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur sog. "faktischen Bausperre" die ungerechtfertigte Verweigerung der Genehmigungserteilung als rechtswidriger Eingriff in Art. 14 GG aufgefaßt, vgl. BGHZ 58, 124 (129 f.); 65, 182 (188 f.); 118, 11 (18 f.); 125, 258 (264 f.); B G H W M 1992, 1858 (1861). 221 Vgl. Deppert, Die Rechtsstellung des Dritten im Baugenehmigungsverfahren, in: Festschrift für Karlheinz Boujong, 1996, 533 (548 f.). 222 Vgl. BVerfGE 69, 161 (170), wo das Gericht zwar offen läßt, ob sich der Anspruch, binnen angemessener Zeit beschieden zu werden, für den gesamten Bereich der Verwaltungstätigkeit aus einem einheitlichen Grundsatz herleiten läßt, aber im konkreten Fall u.a. auf das materielle Grundrecht, nämlich das in Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Resozialisierungsinteresse des Beschwerdeführers abstellt. 223 Bullinger, Beschleunigte Genehmigungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben, S. 39; Rombach, Der Faktor Zeit in umweltrechtlichen Genehmigungsverfahren, S. 48 f.; Fröhler, Effektiver Rechtsschutz bei der Genehmigung technischer Anlagen, in: Festschrift für Carl Hermann Ule, 1987, 55 (68); Deppert, Die Rechtsstellung des Dritten im Baugenehmigungsverfahren, in: Festschrift für Karlheinz Boujong, 1996, 533 (549). Zur selben Problematik beim Gerichtsverfahren vgl. Kirchhof\ Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Verfahrensdauer und für die Rechtsmittel, in: Festschrift für Karl Doehring, 1989, 439 (440); Kloepfer, JZ 1979, 209 (213 ff.). Mißverständlich insoweit Otto, Der Anspruch auf ein Verfahren innerhalb angemessener Zeit, S. 168.

Β. Verfassungsrechtliche Relevanz der Verfahrensdauer

63

Wurde gezeigt, daß eine zu lange Verfahrensdauer den Eigentümer in Art. 14 Abs. 1 GG verletzt, so stellt sich die Frage, ab wann eine solche Rechtsverletzung vorliegt. Die Frage nach der zulässigen Dauer des Verfahrens kann aber nicht pauschal, sondern nur für den Einzelfall beantwortet werden, da die Dauer jedes Verfahrens von unterschiedlichen Faktoren bestimmt wird. Ob im Einzelfall das Verfahren gegen Art. 14 GG verstößt, bestimmt sich bei einer Abwägung der in Art. 14 GG verankerten Baufreiheit mit dem Zweck des Verfahrensvorbehalts nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 224. Es kommt darauf an, ob die Prüfüngszeit erforderlich und angemessen ist, um die Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit öffentlichem Recht festzustellen. Nicht erforderlich ist die Verfahrensdauer, wenn aus Gründen, die im Verfahrensablauf liegen, Verzögerungen eintreten, die sachlich nicht gerechtfertigt sind. Unangemessen ist die Dauer des Verfahrens, wenn bei einem Vergleich zwischen dem sich aus der Risikohöhe ergebenden objektiv erforderlichen Prüfaufwand und der benötigten Zeit die Verfahrensdauer außer Verhältnis steht. Durch die Dauer des präventiven Verfahrens können außer Art. 14 Abs. 1 GG auch Art. 12 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG betroffen sein, wenn die Erteilung der Baugenehmigung Voraussetzung für die Einrichtung eines Gewerbebetriebs ist 225 . Für die Frage, ob die Verfahrensdauer eine Grundrechtsverletzung darstellt, kommt es ebenso wie bei Art. 14 Abs. 1 GG auf die Verhältnismäßigkeit der Kontrollzeit an 226 . 2. Relevanz der Verfahrensdauer für Art. 3 Abs. 1 G G Insbesondere das Bundesverfassungsgericht hat bei der Frage der grundrechtlichen Relevanz der Verfahrensdauer neben den Freiheitsgrundrechten auf den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG abgestellt227. Der Gleichheitssatz verbietet es, wesentlich Gleiches ungleich und wesentlich Ungleiches gleich zu behandeln, ohne daß ein sachlicher Grund dies rechtfertigt 228 . Art. 3 Abs. 1

224

Rombach, Der Faktor Zeit in umweltrechtlichen Genehmigungsverfahren,

S. 49. 225 A u f die Gewerbefreiheit wird vor allem auch abgestellt von Bullinger, Beschleunigte Genehmigungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben, S. 39 ff. Vgl. auch Steinberg, D Ö V 1982, 619 (622); Fröhler, WiVerw 1991, 2 (14). 226 Rombach, Der Faktor Zeit in umweltrechtlichen Genehmigungsverfahren, S. 48 (Fußnote 86). 227 BVerfGE 69, 161 (168). Noch offen gelassen in E 60, 16 (41 f.). 228 BVerfGE 49, 148 (165).

64

3. Kap.: Verfahrensabhängigkeit und Verfahrensdauer

GG verpflichtet daher die Verwaltung, alle Staatsbürger auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht gleich zu behandeln229. Der allgemeine Gleichheitssatz liefert jedoch einen weniger konkreten verfassungsrechtlichen Maßstab für die zulässige Dauer von Verfahren als Art. 14 Abs. 1 GG, weil es hier nicht auf die materiellrechtliche Beeinträchtigung, sondern nur auf die übliche Verfahrensdauer als Bezugspunkt ankommt. Über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Dauer von Zulassungsverfahren insgesamt trifft Art. 3 Abs. 1 GG auf Grund seiner Relativität folglich keine relevante Aussage. Insbesondere ist der allgemeine Gleichheitssatz nicht geeignet, die Forderung nach einer Beschleunigung von Verwaltungsverfahren verfassungsrechtlich zu verankern, weil Art. 3 Abs. 1 nicht auf eine Anpassung von Verfahren an den Rhythmus von Wirtschaft und Gesellschaft 230 abzielt, sondern im Hinblick auf den bestehenden Bezugspunkt vorhandene Abläufe und damit zeitliche Rahmen konserviert. 3. Relevanz der Verfahrensdauer für Art. 19 Abs. 4 G G Zudem könnte auch Art. 19 Abs. 4 GG durch die Verfahrensdauer betroffen sein. Mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG wird die prozessuale Absicherung der materiellen Rechtspositionen grundrechtlich verbürgt. Die Vorschrift gewährleistet nicht nur den Zugang zu den Gerichten überhaupt, sondern garantiert darüber hinaus einen effektiven Rechtsschutz231. Effektiver Rechtsschutz bedeutet nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch die Durchführung des Gerichtsverfahrens in angemessener Zeit 232 .

229

Kopp, Verfassungsrecht und Verwaltungsverfahrensrecht, S. 169; F. Mayer, BayVBl. 1960, 332 (337). 230 Vgl. dazu Bullinger, JZ 1991, 53 (53 ff.); Stober, Rückzug des Staates im Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 68. 231 BVerfGE 35, 263 (274); 35, 282 (401); 25, 352 (365); 37, 150 (153); 40, 237 (257); 40, 272 (275); 46, 166 (178); 51, 268 (284); 53, 115 (127 f.); 65, 1 (70); 78, 88 (99); 81, 123 (129); 84, 34 (49). 232 BVerfGE 40, 237 (257); 55, 349 (369); 60, 253 (269); BVerfG, NJW 1980, 1511 (1511). Aus der Rechtsschutzgarantie wird daher ein Gebot zur zügigen Abwicklung des Gerichtsverfahrens abgeleitet, das auch als Beschleunigungsgebot bezeichnet wird, vgl. Otto, Der Anspruch auf ein Verfahren innerhalb angemessener Zeit, S. 37 ff., Kirchhof\ Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Verfahrensdauer und für die Rechtsmittel, in: Festschrift für Karl Doehring, 1989, 439 (448 ff.); Finkelnburg, Das Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, in: Festgabe zum 25jährigen Bestehen des Bundesverwaltungsgerichts, 1978, S. 169 (174); Ronellenßtsch, Beschleunigung und Vereinfachung der Anlagenzulassungsverfahren, S. 112; Gra-

Β . Verfassungsrechtliche Relevanz der Verfahrensdauer

65

Fraglich ist jedoch, ob Art. 19 Abs. 4 GG auch durch die Dauer präventiver verwaltungsrechtlicher Zulassungsverfahren betroffen ist. Nach einer teilweise vertretenen Auffassung umfaßt die Garantie effektiven Rechtsschutzes auch das verwaltungsrechtliche Ausgangsverfahren 233. Die rasche Abwicklung von Zulassungsverfahren ist nach dieser Auffassung ein Bestandteil oder doch eine Vorstufe des in Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisteten effektiven und daher auch hinreichend raschen Rechtsschutzes234. Der Bürger habe aus Art. 19 Abs. 4 GG einen Anspruch darauf, daß der gerichtliche Rechtsschutz nicht durch ein überlanges verwaltungsrechtliches Verfahren verzögert werde 235 . Die Relevanz der Verfahrensdauer für Art. 19 Abs. 4 GG wird teilweise auch mit einer Parallelität zu Art. 6 Abs. 1 EMRK begründet 236. Gem. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK hat jedermann einen Anspruch darauf, daß seine Sache "in billiger Weise öffentlich und innerhalb angemessener Frist gehört wird". Art. 6 Abs. 1 EMRK enthält ein Gebot zur zügigen Durchführung von Gerichtsverfahren, das sich nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auch auf das Verwaltungsverfahren erstreckt, soweit dieses notwendige Voraussetzung für den gerichtlichen Rechtsschutz ist 237 . Es wird daher argumentiert, daß die in Art. 19 Abs. 4 GG enthaltene Gewährleistung eines Gerichtsverfahrens innerhalb angemessener Zeit auf das Ausgangsverfahren anwendbar ist, weil es auch hier um ein dem Gerichtsverfahren kraft

wert, DVB1. 1983, 973 (973 f.); Kopp, BayVBl. 1980, 263 (267 ff.); Kloepfer, JZ 1979, 209 (212 f.). 233 Bullinger, Beschleunigte Genehmigungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben, S. 40 ff.; Kopp, Verfassungsrecht und Verwaltungsverfahrensrecht, S. 158; ders., BayVBl. 1980, 263 (267). So wohl auch S. Schulte, Möglichkeiten zur Beschleunigung baulicher Vorhaben, S. 42. 234 Vgl. Bullinger, Beschleunigte Genehmigungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben, S. 40. 235 Kopp, Verfassungsrecht und Verwaltungsverfahrensrecht, S. 158. 236 Bullinger, Beschleunigte Genehmigungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben, S. 41. 237 EGMR, NJW 1979, 477 (478 ff.) - Fall König -. Dieser Ansatz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wurde -was in der Literatur allerdings nur auf eingeschränkte Beachtung gestoßen ist- auch bereits vom Bundesverfassungsgericht verfolgt. In einem Beschluß vom 28.10.75, (E 40 237 (257)) hatte das Gericht festgestellt: "Das verwaltungsgerichtliche Vorverfahren darf allerdings die Anrufung der Gerichte nicht zeitlich unzumutbar lange hinauszögern. Denn daß eine sachliche Entscheidung durch die Gerichte noch "zur rechten Zeit" erlangt werden kann, ist eine wesentliche Bedingung für die Wirksamkeit des durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisteten Rechtsschutzes." 5 Kruhl

66

3. Kap.: Verfahrensabhängigkeit und Verfahrensdauer

Gesetzes vorgelagertes hoheitliches Kontrollverfahren gehe, dessen Dauer im Ergebnis auch die gerichtliche Entscheidung hinausschiebt238. Gegen die Heranziehung von Art. 6 Abs. 1 EMRK sowohl bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 4 GG als auch als selbständiger Maßstab spricht jedoch, daß der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Beschleunigungsgebot des Art. 6 Abs. 1 EMRK ausschließlich auf das Vorverfahren (§ 68 VwGO) als Sachentscheidungsvoraussetzung im Gerichtsverfahren, also gerade nicht auf das Ausgangsverfahren bezogen hat und damit die Verfahrensgarantie nicht auf den Rechtsschutz durch Verwaltungsverfahren insgesamt, sondern nur im Hinblick auf den Gerichtsschutz interpretiert hat 239 . Aus Art. 6 Abs. 1 EMRK können somit keine Anhaltspunkte für die zulässige Dauer von Zulassungsverfahren gewonnen werden 240 . Gegen das Heranziehen von Art. 19 Abs. 4 GG als verfassungsrechtlichen Maßstab für die Dauer des Ausgangsverfahrens spricht entscheidend241, daß hierdurch der Anwendungsbereich der Rechtsschutzgarantie überdehnt wird. Da Art. 19 Abs. 4 GG den Gerichtsschutz zum Gegenstand hat, wird der Schutz durch Verwaltungsverfahren regelmäßig nicht erfaßt 242. Eine Vorwirkung der Rechtsschutzgarantie auf das Verwaltungsverfahren kommt nur dann in Betracht, wenn die Verfahrensausgestaltung von unmittelbarer Bedeutung für die Verwirklichung effektiven Gerichtsschutzes ist 243 . Eine Interpretation des gesamten präventiven verwaltungsrechtlichen Kontrollverfahrens im Hin-

238

Bullinger, Beschleunigte Genehmigungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben, S. 42; Kopp, Verfassungsrecht und Verwaltungsverfahrensrecht, S. 158. 239 EGMR, NJW 1979, 477 (478 f.). 240 So auch Rombach, Der Faktor Zeit in umweltrechtlichen Genehmigungsverfahren, S. 54 f. 241 Der Ableitung eines Beschleunigungsgebotes für das Verwaltungsverfahren aus Art. 19 Abs. 4 GG ist vor allem auch Rombach, Der Faktor Zeit in umweltrechtlichen Genehmigungsverfahren, S. 54 f. mit dem Argument entgegengetreten, daß Art. 19 Abs. 4 GG effektiven Rechtsschutz nur für den Fall garantiere, daß eine Rechtsgutsverletzung vorliegt, ob dies der Fall ist, also ob die Dauer des Genehmigungsverfahrens eine Verletzung des Bauwilligen in seinen Rechten darstelle, sei Art. 19 Abs. 4 GG nicht zu entnehmen. Aus dem auf das Verfahren beschränkten Schutzbereich des Verfahrensgrundrechts läßt sich m.E. jedoch nicht folgern, daß Art. 19 Abs. 4 GG keine Aussage über das Erfordernis der zügigen Verfahrensabwicklung enthält. Vielmehr spricht der Verfahrensbezug gerade für eine solche Annahme. 242 Bettermann, VVDStRL 17 (1958), Diskussionsbeitrag, S. 245; Ule, Verwaltungsreform, S. 63. 243 Vgl. Laubinger, Grundrechtsschutz durch Gestaltung des Verwaltungsverfahrens, VerwArch 73 (1982), 60 (82).

Β. Verfassungsrechtliche Relevanz der Verfahrensdauer

67

blick auf ein möglicherweise folgendes Gerichtsverfahren würde Art. 19 Abs. 4 GG entgegen seinem auf das Gerichtsverfahren beschränkten Anwendungsbereich zu einer allgemeinen Verfahrensgarantie ausweiten244. Art. 19 Abs. 4 GG wird somit nicht durch die Dauer präventiver Zulassungsverfahren betroffen. Maßstab sind die materiellen Grundrechte. Sie sind der systematische Anknüpfungspunkt für einen effektiven, d.h. rechtzeitigen Grundrechtsschutz durch Verfahren 245 . Nur für das Gerichtsverfahren ergibt sich die Pflicht zu einer schnellstmöglichen Erledigung aus dem insoweit spezielleren 246 Art. 19 Abs. 4 GG. 4. Relevanz der Verfahrensdauer für die Rechtsstaatlichkeit Die Dauer präventiver verwaltungsrechtlicher Verfahren ist ferner auch unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten von Bedeutung. Eine wichtige Ausprägung des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzips ist der Grundsatz des fairen Verfahrens, der nicht nur ein zügiges Gerichtsverfahren fordert 247 , sondern auch eine verhältnismäßige Dauer von verwaltungsrechtlichen Verfahren verlangt 248 . Unverhältnismäßig lange staatliche Kontrollverfahren verstoßen daher gegen das Rechtsstaatsprinzip.

244

Vgl. Wahl, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VVDStRL 41 (1982), 151 (161, Fußnote 25, 166 ff., S. 188 Leitsatz Nr. 7), mit der Feststellung, daß die Rechtswahrung ein eigenständiger Auftrag des Verwaltungsverfahrens ist und grundsätzlich nicht als vorverlagerter Gerichtsschutz aufgefaßt werden kann. So auch Degenhart, DVB1. 1982, 872 (875). 245 Vgl. Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, S. 185; Fröhler, W i V e r w 1991, 2 (14). Auch das Bundesverfassungsgericht betont seit E 24, 367 (401) -Deichordnungsurteil- zunehmend die Bedeutung der materiellen Grundrechte als Grundlage effektiver Rechtsschutzgewährleistung. 246 Zum Verhältnis von Art. 19 Abs. 4 GG und den materiellen Grundrechten beim Rechtsgüterschutz durch Verfahren: vgl. Bethge, NJW 1982, 1 (4 ff.), der ebenfalls Art. 19 Abs. 4 als lex specialis für den Gerichtsschutz qualifiziert; Dolde, N V w Z 1982, 65 (70); Schenke, VB1BW 1982, 313 (318); Lorenz, AöR 105 (1980), 623 (630 ff.); Blümel, Grundrechtsschutz durch Verfahrensgestaltung, in: Blümel, Frühzeitige Bürgerbeteiligung bei Planungen, S. 23 (34); Degenhart, DVB1. 1982, 872 (874 f.). 247 Zum Gerichtsverfahren vgl. BVerfG, NJW 1992, 2472 (2472 f.); Kirchhof.\ Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Verfahrensdauer und für die Rechtsmittel, in: Festschrift für Karl Doehring, 1989, 439 (450 f.). 248 Rombach, Der Faktor Zeit in umweltrechtlichen Genehmigungsverfahren, S. 53; Bullinger, JZ 1993, 492 (493, Fußnote 14). Einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip wegen einer überlangen Verfahrensdauer hat auch das Bun-

68

3. Kap.: Verfahrensabhängigkeit und Verfahrensdauer

5. Pflicht des Staates zur Verfahrensbeschleunigung Es hat sich gezeigt, daß die Verfahrensdauer von grundrechtlicher Relevanz ist und daß sich der Grundsatz der größtmöglichen Beschleunigung249 des Verwaltungsverfahrens aus den materiellen Grundrechten, für das bauordnungsrechtliche Verfahren also vor allem aus Art. 14 Abs. 1 GG ergibt. Fraglich ist jedoch, welche Konsequenzen für die Gestaltung verwaltungsrechtlicher Verfahren an die Zeitabhängigkeit der Grundrechtsverwirklichung anknüpfen. Die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte und damit an den Grundsatz der größtmöglichen Beschleunigung ergibt sich aus Art. 1 Abs. 3 GG. Es besteht folglich eine verfassungsrechtliche Pflicht, die zeitliche Dimension bei der Normierung von Verfahren zu berücksichtigen 250. Der Gesetzgeber muß daher das präventive Verfahren so ausgestalten, daß der Grundrechtsträger nicht unverhältnismäßig belastet wird 2 5 1 . Das bedeutet, daß den Gesetzgeber eine Ausgestaltungspflicht trifft, die Verfahren von nicht erforderlichen Zeitverlusten freizuhalten. Eine verfassungsrechtliche Pflicht zur weitgehenden Abschaffüng der präventiven staatlichen Kontrolle von Bauvorhaben läßt sich aus dem Grundsatz der größtmöglichen Beschleunigung aber nicht ableiten. Der mit dem Kontrollaufwand verbundene Zeitverlust dient der Gewährleistung eines rechts-

desverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 9.2.1982, E 60, 16 (41 f.) erwogen, die Frage letztlich jedoch offen gelassen. 249 Zum Grundsatz der größtmöglichen Beschleunigung siehe Fröhler, Effektiver Rechtsschutz bei der Genehmigung technischer Anlagen, in: Festschrift für Carl Hermann Ule, 1987, 55 (68). 250 Zur bedarfsgerechten Beschleunigung als Verfassungsgebot vgl. Bullinger, Beschleunigte Genehmigungs- und Planungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben, in: Blümel/Pitschas, Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, S. 130. Dabei wird eine Handlungspflicht des Staates teilweise aus der staatlichen Schutzpflicht hergeleitet, so: Bullinger, Beschleunigte Genehmigungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben, S. 40; Stober, Rückzug des Staates im Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 69. Ein Beschleunigungsgebot kann sich aus der staatlichen Schutzpflicht m.E. allerdings nur für solche Verzögerungen ergeben, die von seiten Dritter, z.B. der Nachbarn, rechtswidrig hervorgerufen werden, weil die grundrechtliche Schutzpflicht den Staat nur zum Schutz vor Übergriffen durch Private verpflichtet. Staatliche Eingriffe werden dagegen durch das Grundrecht als Abwehrrecht erfaßt. 251 Vgl. BVerfGE 20, 150 (155 ff.); Grabitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR, 98 (1973), 568 (612); Gusy, JA 1981, 80 (80 ff.).

Β. Verfassungsrechtliche Relevanz der Verfahrensdauer

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staatlichen und die staatliche Schutzpflicht für die Grundrechte Dritter erfüllenden Verfahrens. Im Hinblick auf die Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht kommt dem Verwaltungsverfahren eine zentrale Bedeutung zu 252 . Die Ausgestaltungsfreiheit des Gesetzgebers liegt hier in einem Spannungsfeld von Beschleunigungsgebot und Rechtsstaatlichkeit bzw. Schutzpflichterfüllung und ist somit durch verschiedene verfassungsrechtliche Anforderungen begrenzt 253. Die gegenläufigen verfassungsrechtlichen Forderungen an den Gesetzgeber bewirken eine Optimierungspflicht, der der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung von Verfahren Rechnung tragen muß. Innerhalb der verfassungsrechtlichen Koordinaten für die Verfahrensgestaltung hat der Gesetzgeber einen Entscheidungsspielraum 254. Ein verfassungsrechtliches Gebot zu einer Gestaltung kurzer Verfahren würde folglich voraussetzen, daß die weiteren Verfahrensziele entweder nicht beeinträchtigt werden, oder daß der Verfahrensbeschleunigung in dem konkreten Bereich eine übergeordnete Bedeutung zukommt. Ein verfassungsrechtlicher Vorrang für die Verkürzung präventiver bauordnungsrechtlicher Verfahren gegenüber der effektiven Durchsetzung materiellrechtlicher Standards besteht dagegen nicht. Die Einführung des Kenntnisgabeverfahrens, die zwar einerseits die Verfahrensbeschleunigung bezweckt, aber andererseits ein Minus an Rechtsstaatlichkeit255 und die Verkürzung des Nachbarschutzes 256 bedeutet, war daher nicht verfassungsrechtlich geboten. 6. Ergebnis Die Dauer bauordnungsrechtlicher Zulassungsverfahren ist von verfassungsrechtlicher Relevanz. Betroffen ist in erster Linie die Eigentumsfreiheit. Gesetzgeber und Verwaltung sind gem. Art. 1 Abs. 3 GG an die grundrechtliche Pflicht größtmöglicher Verfahrensbeschleunigung gebunden. Für den Gesetzgeber folgt daraus, daß der Zeitverlust bei der Ausgestaltung von Verfahren unter Berücksichtigung der weiteren Verfahrensziele so gering wie mög-

252

Siehe dazu unten, 5. Kap., A und F. Die Mehrdimensionalität der Anforderungen an das Verwaltungshandeln betonen in diesem Zusammenhang auch Wahl/Hermes/Sach, Genehmigung zwischen Bestandsschutz und Flexibilität, in: Wahl, Prävention und Vorsorge, S. 217 (221 ff.). 254 Rombach, Der Faktor Zeit in umweltrechtlichen Genehmigungsverfahren, S. 161. 255 Siehe dazu unten, 4. Kap., B. 256 Siehe dazu unten, 5. Kap, A und B. 253

70

3. Kap.: Verfahrensabhängigkeit und Verfahrensdauer

lieh gehalten werden muß. Die Abschaffung des Genehmigungsverfahrens zugunsten des Kenntnisgabeverfahrens war dagegen nicht verfassungsrechtlich vorgezeichnet.

4. Kapitel

Zulässigkeit der Aufgabenprivatisierung im Kenntnisgabeverfahren A. Privatisierung administrativer Kontrolle im Kenntnisgabeverfahren Im Genehmigungsverfahren kontrolliert die Baurechtsbehörde, ob das Bauvorhaben öffentlich-rechtlichen Bauvorschriften entspricht. Im Kenntnisgabeverfahren findet eine präventive Kontrolle durch die Baurechtsbehörde nicht mehr statt. Gemäß § 11 Abs. 1 LBO W O hat der Planverfasser im Kenntnisgabeverfahren gegenüber den Behörden zu bestätigen, daß die Anwendungsvoraussetzungen des Kenntnisgabeverfahrens nach § 51 Abs. 1 und Abs. 2 LBO vorliegen und daß die erforderlichen Bauvorlagen unter Beachtung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften verfaßt worden sind. Der Lageplananfertiger muß gemäß § 11 Abs. 2 LBO W O die Bestätigung abgeben, daß der Lageplan öffentlichem Recht entspricht und insbesondere die Vorschriften über die Abstandsflächen und die Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung eingehalten sind. Die Bestätigungen setzen voraus, daß der Planverfasser und der Lageplananfertiger eine entsprechende Prüfüng des Bauvorhabens vorgenommen haben. Planverfasser und Lageplananfertiger sind folglich im Rahmen ihrer Beteiligung an dem Bauvorhaben verpflichtet, die formelle und materielle Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens zu prüfen. Die Pflicht zur Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften bestand und besteht für die am Bau Beteiligten jedoch auch im Genehmigungsverfahren. Es stellt sich daher die Frage, ob die Einführung des Kenntnisgabeverfahrens mit dem Begriff der Privatisierung überhaupt zutreffend erfaßt wird. Denn es ließe sich möglicherweise argumentieren, daß im Kenntnisgabeverfahren administrative Kontrolltätigkeit lediglich abgeschafft werde und eine Verlagerung von bisher staatlich erfüllten Aufgaben in den privaten Bereich überhaupt nicht stattfindet. Eine solche Sichtweise würde jedoch verkennen, daß die Einführung des Kenntnisgabeverfahrens nicht auf eine bloße Abschaffüng administrativer

72

4. Kap.: Zulässigkeit der Aufgabenprivatisierung

Kontrolle beschränkt ist, sondern daß mit dem Abbau der staatlichen Kontrolltätigkeit gleichzeitig eine Neufassung der privaten Prüfipflichten in qualitativer und quantitativer Hinsicht verbunden ist 257 . Die Neufassung der Pflichten besteht einerseits in der Verstärkung des Umfangs der notwendigen Selbstkontrolle. Die am Bau beteiligten Privaten müssen mehr und genauer prüfen, ob das Bauvorhaben öffentlichem Recht entspricht, denn sie können sich nicht mehr darauf verlassen, daß die Baurechtsbehörde eine primär von ihr zu verantwortende Entscheidung über den Bauantrag trifft, die sie vor späteren gegen das Bauvorhaben gerichteten Maßnahmen schützt. Die Abschaffung der staatlichen Kontrolle fordert von den Privaten daher bereits im eigenen Interesse eine umfangreichere Prüfung des Bauvorhabens. Die Pflicht der Privaten zur Prüfung des Bauvorhabens auf seine Zulässigkeit erhält zudem auch eine andere Qualität. Denn im Kenntnisgabeverfahren dient die Prüfung des Bauvorhabens nicht nur der Verwirklichung eigener Interessen, sondern den Privaten wurden Prüfpflichten auch im öffentlichen Interesse auferlegt, durch die der Abbau staatlicher Kontrolle kompensiert wird. Das heißt im Kenntnisgabeverfahren prüfen die Privaten an Stelle einer Kontrolle durch die Behörde selbst. Dies zeigt sich daran, daß der Planverfasser und der Lageplananfertiger im Kenntnisgabeverfahren anders als im Genehmigungsverfahren gegenüber der Behörde bestätigen müssen, daß die maßgeblichen öffentlich-rechtlichen Vorschriften eingehalten werden ( § 1 1 LBO W O ) . Erst wenn diese Bestätigungen zusammen mit den anderen Bauvorlagen bei der Behörde eingereicht worden sind, beginnt die Frist bis zum zulässigen Baubeginn im Kenntnisgabeverfahren zu laufen. Durch die Einführung des Kenntnisgabeverfahrens wird somit nicht nur staatliche Kontrolltätigkeit abgeschafft, sondern es werden Prüfjpflichten auf Private übertragen 258 . Diese Aufgabenübertragung im Kenntnisgabeverfahren läßt sich zunächst unter den Topos der Privatisierung administrativer Kontrolle fassen. Einen einheitlichen Privatisierungsbegriff gibt es in diesem Zusammenhang jedoch nicht. Der Begriff der Privatisierung umfaßt verschiedene Grundmodelle von Privatisierungstypen, bei denen zwischen Organisationsprivatisie-

257 Vgl. Koch, (Verfahrens-)Privatisierung im öffentlichen Baurecht, in: Hoffmann-Riem/Schneider, Verfahrensprivatisierung im Umweltrecht, S. 181. 258 So auch die Begründung zum Gesetzentwurf der Landesregierung, LT-Drs. 11/5337, S.73.

Α. Privatisierung administrativer Kontrolle im Kenntnisgabe verfahren

73

rung, Vermögensprivatisierung, materieller Privatisierung und funktioneller Privatisierung unterschieden wird 2 5 9 . Problematisch erscheint hier, ob die Privatisierung administrativer Kontrolle im Kenntnisgabeverfahren dem Privatisierungstypus der funktionellen Privatisierung zuzuordnen ist oder ob sich das Kenntnisgabeverfahren als materielle Privatisierung darstellt. Eine funktionelle Privatisierung liegt vor, wenn die staatliche Verantwortung für die Regelungsmaterie im Grundsatz erhalten bleibt, ihre Wahrnehmung aber auf Private verlagert oder mit ihnen kooperativ wahrgenommen wird 2 6 0 . Materielle Privatisierung ist dagegen die Reduzierung des staatlichen Aufgabenbestandes durch eine Aufgabenverlagerung auf Private 261 . Charakteristisch für die fünktionelle Privatisierung ist im Gegensatz zur materiellen Privatisierung, daß die Gewährleistungsverantwortung beim Staat verbleibt, der thematische Aufgabenbestand des Staates also nicht reduziert wird 2 6 2 . Die Besonderheit der Privatisierung im Kenntnisgabeverfahren besteht darin, daß die Prüfüng durch einen Privaten vorgenommen wird, der auch nicht mittelbar als Beliehener oder als Verwaltungshelfer Teil der staatlichen Verwaltung ist. Die Prüfüng wird im Kenntnisgabeverfahren vielmehr eigenverantwortlich durch die Privaten durchgeführt. Der Aufgabenbestand des Staates verringert sich daher insoweit um die Aufgabe der präventiven Kontrolle des Bauvorhabens. Durch die Übertragung der Kontrollaufgaben zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung auf Private wird die staatliche Gewährleistungsverantwortung für die Einhaltung der öffentlichrechtlichen Bauvorschriften aber nicht berührt. Die Baurechtsbehörde ist weiterhin verpflichtet, darauf zu achten, daß die Bauvorschriften eingehalten werden, und hat gegebenenfalls entsprechende Maßnahmen zu treffen 263 . Die Kontrollkompetenz der Baurechtsbehörde bleibt uneingeschränkt bestehen. Stellt man folglich auf die Gewährleistungsverantwortung als maßgeblichen Bezugspunkt ab, so hat die private Kontrolle lediglich eine die staatliche Gewährleistung unterstützende Funktion im Sinne einer vorverlagerten Überwachung. Daraus folgt, daß die Privatisierung administrativer Kontrolle im

259 260

Vgl. Schock, DVB1. 1994, 962 (962 f.). Hoffmann-Riem, DVB1. 1996, 225 (226); Schoch, DVB1. 1994, 962 (962 f.,

975). 261

Schoch, DVB1. 1994, 962 (962 f.). Schoch, DVB1. 1994, 962 (962 f.); Hoffmann-Riem, DVB1. 1996, 225 (226); Koch, (Verfahrens-) Privatisierung im öffentlichen Baurecht, in: HoffmannRiem/Schneider, Verfahrensprivatisierung im Umweltrecht, 170 (181); Krölls, GewArch. 1995, 129 (131). 263 Preschel, D Ö V 1998, 45 (46). Siehe dazu auch unten, 6. Kap., C. 262

74

4. Kap.: Zulässigkeit der Aufgabenprivatisierung

Kenntnisgabeverfahren trotz der Eigenverantwortlichkeit der Privaten dem Privatisierungstypus der funktionellen Privatisierung zuzuordnen ist 264 . B. Zulässigkeit der Privatisierung Gegen die Privatisierung administrativer Kontrolle auf dem Gebiet des Bauordnungsrechts werden verstärkt auch verfassungsrechtliche Bedenken vorgebracht 265. Diese Bedenken werden vor allem 266 auf den Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG 2 6 7 , das Rechtsstaatsprinzip 268 und Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG 2 6 9 gestützt. Ausgangspunkt der Problematik ist hier der Begriff der Staatsaufgaben 270, der die Verwaltungsaufgaben mit umfaßt 271 . Staatliche Aufgaben sind alle Aufgaben, die der Staat zulässigerweise für sich in Anspruch nimmt 2 7 2 . Wird die Frage nach der Zulässigkeit der Privatisierung ehemals staatlich erfüllter Aufgaben aufgeworfen, so ist zunächst von dem Grundsatz auszugehen, daß der Aufgabenbereich des Staates nicht verfassungsrechtlich vorgezeichnet, sondern offen ist 273 , und daß der Staat sich von den Aufgaben, die er übernommen hat, grundsätzlich auch wieder trennen darf 274 . Dies gilt jedoch nicht uneingeschränkt. Eine Ausnahme erfahrt der Grundsatz der Offenheit des staatlichen Aufgabenbereichs vor allem dann, wenn der Kernbereich der Staatsaufgaben betroffen ist. Der Genehmigungsvorbehalt dient der Ermögli-

264 Vgl. Hoffmann-Riem, DVB1. 1996, 225 (226); Schock, DVB1. 1994, 962 (975), "funktionale Privatisierung i.w.S.". 265 Vgl. Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (7 f.); Goerlich SächsVBl. 1996, 1 (6); Hegele, D Ö V 1995,231 (236). 266 Zum Gleichheitsgrundsatz in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, siehe Goerlich, SächsVBl. 1996, 1 (6 ff.). 267 Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (7 f.); Goerlich SächsVBl. 1996, 1 (6); Hegele, D Ö V 1995,231 (236). 268 Goerlich, SächsVBl. 1995, 249 (253 f.); Simon, BayVBl. 1994, 332 (333); ders., BayVBl. 1994, 581 (582). 269 So wohl Mampel, N V w Z 1996, 1160 (1165 f.), der den durch Art. 14 GG gebotenen Nachbarschutz in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise beschnitten sieht. 270 Osterloh, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, VVDStRL 54 (1995), 204 (207). 271 Schoch, DVB1. 1994, 962 (962). 272 BVerfGE 12, 205 (243); 30, 292 (311 f.). 273 Osterloh, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, VVDStRL 54 (1995), 204 (207). 274 Schoch, DVB1. 1994, 962 (962); Lecheler, BayVBl. 1994, 555 (558).

. Zulässigkeit der

rivatisierung

chung einer präventiven Kontrolle der Verwirklichung von Bauvorhaben als potentiell gefahrlichem privatem Verhalten 275 . Durch die staatliche Kontrolle des Baugeschehens sollen Gefahren für die öffentliche Sicherheit frühzeitig erkannt und effektiv abgewehrt werden. Bei der präventiven bauordnungsrechtlichen Kontrolle handelt es sich daher um eine polizeirechtliche Materie im weitesten Sinne 276 . Problematisch ist jedoch, ob die präventive Kontrolle des Baugeschehens aufgrund ihres gefahrenabwehrenden Charakters auch dem Kernbereich staatlicher Aufgaben zuzurechnen ist 277 . Es wird daher im Folgenden erörtert, ob die präventive Kontrolle des Baugeschehens so nahe am Kernbereich der Staatsaufgaben liegt, daß eine Privatisierung gegen ein verfassungsrechtliches Privatisierungsverbot verstößt. 1. Art. 33 Abs. 4 G G als Privatisierungssperre Eine verfassungsrechtliche Schranke für die Privatisierung bauordnungsrechtlicher Kontrolle könnte sich zunächst aus dem Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG ergeben. Art. 33 Abs. 4 GG bestimmt, daß die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Beamten zu übertragen ist. Unklar ist allerdings bereits, ob die Frage der Privatisierung von Verwaltungsaufgaben überhaupt von Art. 33 Abs. 4 GG erfaßt wird, oder ob der Funktionsvorbehalt allein Aussagen darüber enthält, welche Aufgaben innerhalb der öffentlichen Verwaltung von Berufsbeamten wahrgenommen werden müssen, also nicht Angestellten bzw. Arbeitern überlassen werden dürfen. Die überwiegende Meinung wendet Art. 33 Abs. 4 GG auf die Frage der Zulässigkeit der Privatisierung öffentlicher Aufgaben aufgrund eines argumentum a maiore ad minus an: Art. 33 Abs. 4 GG bildet zusammen mit Art. 33 Abs. 5

275 B.H. Schulte, Rechtsgüterschutz durch Bauordnungsrecht, S. 96; Dahlke, Die Bedeutung von Sachverständigen im Baugenehmigungsverfahren, in: Hoppe/Bauer/Faber/Schink, Rechts- und Anwendungsprobleme der neuen Bauordnung N W , S. 70; von Heimburg, Verwaltungsaufgaben und Private, S. 170 f. Siehe dazu bereits oben, 2. Kap., C 1. 276 Zur Zuordnung des Bauordnungsrechts zum materiellen Polizeirecht vgl. BVerfGE 3, 407 (431 ff.). Kritisch dazu Β. H. Schulte, Rechtsgüterschutz durch Bauordnungsrecht, S. 67 ff. 277 M i t einer Zuordnung zum Kernbereich der Staatsaufgaben, Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (7); Krölls, GewArch 1995, 129 (130); Scholz, Privatisierung im Baurecht, S. 31.

76

4. Kap.: Zulässigkeit der Aufgabenprivatisierung

GG die sog. institutionelle Garantie des Berufsbeamtentums 278. Diese institutionelle Garantie ist aber kein Selbstzweck, sondern der Vorbehalt der Aufgabenerfüllung durch Beamte dient der Gewährleistung objektiver, sachverständiger und zuverlässiger Erfüllung von Verwaltungsaufgaben 279. Wenn aber bestimmte Aufgaben und Befügnisse nicht von Angestellten des öffentlichen Dienstes wahrgenommen werden dürfen, weil diesen keine ausreichende Befähigung zugetraut wird, dann dürfen erst recht keine Privaten mit diesen Aufgaben betraut werden 280 . Problematisch ist ferner der Begriff der "Ausübung hoheitlicher Befugnisse". Strittig ist dabei, ob die Ausübung hoheitlicher Befügnisse nur die Eingriffsverwaltung oder auch die Leistungsverwaltung umfaßt 281 . Die administrative Kontrolle des Baugeschehens, die dem Verwaltungsbereich der Eingriffsverwaltung zuzurechnen ist, zählt jedoch nach allen Auffassungen zur Ausübung hoheitlicher Befugnisse i.S.d. Art. 33 Abs. 4 GG 282 . Die Privatisierung bauordnungsrechtlicher Kontrolle ist folglich an Art. 33 Abs. 4 GG zu messen Art. 33 Abs. 4 GG ist aber deshalb keine unüberwindliche Privatisierungssperre, weil die Ausübung hoheitsrechtlicher Befügnisse nicht ausschließlich und zwingend Beamten vorbehalten ist, sondern nur in der Regel durch Beamte erfolgen muß 283 . Ob der Funktionsvorbehalt die Privatisierung der bisher von den Beamten der Baurechtsbehörden als ständige Aufgabe erfüllten

278

Kunig, in: v.Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 33, Rdn. 53. Däubler, Privatisierung als Rechtsproblem, S. 74. 280 Zum Erst-Recht-Schluß: Bracher, Gefahrenabwehr durch Private, S. 64; Steiner, Öffentliche Verwaltung durch Private, S. 260; Däubler; Privatisierung als Rechtsproblem, S. 74. Zur Anwendbarkeit von Art. 33 Abs. 4 GG siehe auch Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (8); Ritter, Bauordnungsrecht in der Deregulierung, in: Hoppe/Bauer/Faber/Schink, Rechts- und Anwendungsprobleme in der neuen Bauordnung N W , S. 27 f.; Krölls, GewArch 1995, 129 (135). 281 Zu den einzelnen Auffassungen vgl. Schuppert, in: A K - G G 1989; Art. 33, Rdn. 25 ff.; Benndorf.\ DVB1. 1981, 23 (23 ff.). 282 Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (8); Lecheler, Der öffentliche Dienst, in: Isensee/Kirchhof, HBdStR Band III, § 72, Rdn. 26 f.; Benndorf DVB1. 1981, 23 (24). Siehe auch Ossenbühl, Eigensicherung und hoheitliche Gefahrenabwehr, S. 34, der entgegen Quidde, ZBR 1958, 229 (233), darauf hinweist, daß die Gewichtigkeit der staatlich wahrgenommenen Tätigkeit für die Anwendbarkeit von Art. 33 Abs. 4 GG irrelevant ist. 283 Daher wird teilweise gefolgert, daß Art. 33 Abs. 4 GG keine wichtige Privatisierungsschranke darstelle, so Däubler, Privatisierung als Rechtsproblem, S. 74; Schoch, DVB1. 1994, 962 (969); Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, VVDStRL 54 (1995), 243 (264). 279

. Zulässigkeit der

rivatisierung

Kontrolle des Baugeschehens verbietet, hängt daher davon ab, wie das RegelAusnahme-Verhältnis von Art. 33 Abs. 4 GG zu definieren ist. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis von Art. 33 Abs. 4 GG wird durch eine qualitative und eine quantitative Komponente bestimmt 284 . Eine quantitative Betrachtung erfordert eine mengenmäßige Limitierung des Umfangs der noch zulässigen Übertragung hoheitlicher Befugnisse auf Nichtbeamte. Eine solche quantitative Betrachtung nimmt auch das Bundesverfassungsgericht vor, wenn es feststellt, daß die Übertragung der ständigen Ausübung hoheitlicher Befügnisse in größerem Umfang auf Nichtbeamte nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist 285 . Das Regel-Ausnahme-Verhältnis bleibt daher nur gewahrt, wenn die Ausübung der hoheitlichen Befugnisse durch Nichtbeamte insgesamt eine Ausnahmeerscheinung darstellt und die Übertragung auf einzelne Zuständigkeiten beschränkt bleibt 286 . Des weiteren bedürfen Ausnahmen von der Regel des Funktionsvorbehalts eines hinreichenden legitimierenden Grundes (qualitative Betrachtungsweise) 287. Das bedeutet, daß eine Privatisierung nur dann in Betracht kommt, wenn ein sachlicher Grund für die Aufgabenübertragung besteht und sich die Ausnahme von dem Funktionsvorbehalt gegenüber den Vorteilen im Rahmen einer Zweck-Mittel-Relation als verhältnismäßig erweist 288 . Dabei gilt, daß der Grund für eine Ausnahme von dem Funktions-

284 Vgl. ausführlich Ossenbühl, Eigensicherung und hoheitliche Gefahrenabwehr, S. 36 f., Bracher, Gefahrenabwehr durch Private, S. 70 ff. 285 BVerfGE 9, 268 (284). 286 Bracher, Gefahrenabwehr durch Private, S. 70; Steiner, Öffentliche Verwaltung durch Private, S. 260 m.w.N.; Quidde, ZBR 1958, 229 (233); Däubler, Privatisierung als Rechtsproblem, S. 74 f.; Ossenbühl, Die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Private, VVDStRL 29 (1970), 137 (162); Krumsiek/Frenzen, D Ö V 1995, 1013 (1019). 287 Dazu ausführlich: Ossenbühl, Eigensicherung und hoheitliche Gefahrenabwehr, S. 37 ff. Siehe auch Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (8); Quidde, ZBR 1958, 229 (233); Isensee, Beamtenstreik, S. 84, Fußnote 1; Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Art.33, Rdn. 42.; Lerche, Verbeamtung als Verfassungsauftrag?, S. 52; Völmicke, Privatisierung öffentlicher Leistungen in Deutschland, S. 81; Di Fabio , Verwaltungsentscheidung durch externen Sachverstand, VerwArch 81 (1990), 193 (225). 288 Zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes: Ossenbühl, Eigensicherung und hoheitliche Gefahrenabwehr, S. 40; zustimmend: Bracher, Gefahrenabwehr durch Private, S. 70 f. Unzutreffend dagegen Kreuziger, Die Genehmigungsfreistellung im Baurecht, S. 194, nach dessen Auffassung es für die Rechtslage in Bayern dahinstehen kann, ob ein solcher sachlicher Grund vorliegt, weil die Bauaufsicht nicht gänzlich privatisiert werde.

78

4. Kap.: Zulässigkeit der Aufgabenprivatisierung

vorbehält um so gewichtiger sein muß, je näher die Verwaltungsaufgaben am Kernbereich der Staatsgewalt angesiedelt sind 289 . Nach einer teilweise vertretenen Auffassung ist das Regel-AusnahmeVerhältnis bei der umfangreichen Privatisierung präventiver bauaufsichtlicher Kontrolle nicht mehr gewahrt 290 . Diese Auffassung wird sowohl auf qualitative 291 als auch auf quantitative 292 Erwägungen gestützt. Bei der Privatisierung administrativer Kontrolle im Kenntnisgabeverfahren muß zunächst der Umfang der Übertragung hoheitlicher Aufgaben hervorgehoben werden. M i t der Abschaffung des Genehmigungsverfahrens und der Übertragung bisher staatlich wahrgenommener Kontrolltätigkeiten wird nicht nur eine einzelne Tätigkeit oder Funktion eines arbeitsteiligen Zusammenwirkens ausgelagert, sondern ein gesamter Vorgang privatisiert. Gegenstand der Privatisierung ist hier nahezu der gesamte Bereich der präventiven Kontrolle der Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften, der bisher zu den Hauptaufgaben der Baurechtsbehörden zählte. Des weiteren ist daran festzuhalten, daß es sich bei der Wahrnehmung baupolizeilicher Befugnisse dem Verwaltungsbereich nach um den Kernbereich staatlicher Aufgaben handelt 293 . Bei der Frage der Zulässigkeit der Aufgabenprivatisierung ist jedoch nicht allein auf den Verwaltungsbereich abzustellen, sondern es ist über die grundsätzliche Zuordnung der präventiven Kontrolle des Bauvorhabens zum Baupolizeirecht hinaus hinsichtlich der einzelnen unterschiedlichen bauordnungsrechtlichen Aufgaben zu differenzieren 294. Zum Kernbereich der Ausübung der hoheitlichen Befugnisse i.S.d. Art. 33 Abs. 4 GG zählt zweifelsfrei die Störungsbeseitigung mittels staatlicher Durchsetzungsmacht als klassischer Bereich der Eingriffsverwaltung. Von diesem Kernbereich staatlicher Aufga-

289

Ossenbühl, Eigensicherung und hoheitliche Gefahrenabwehr, S. 41 ff. Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (7 f.); ders., VVDStRL 54 (1995), Diskussionsbeitrag, S. 316; Goerlich, SächsVBl. 1996, 1 (6); Hegele, D Ö V 1995, 231 (236). 291 Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (7). Vgl. dazu auch von Heimburg, Verwaltungsaufgaben und Private, S. 184, nach der die Aufgabe der Gefahrenabwehr im Baurecht als originär staatliche Aufgabe dem Staat vorbehalten werden muß. 292 Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (7). 293 Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (7). M i t dieser Zuordnung auch Ossenbühl, D Ö V 1976,463 (463). 294 Ritter, DVB1. 1996, 542 (549); ders., Bauordnungsrecht in der Deregulierung, in: Hoppe/Bauer/Faber/Schink, Rechts- und Anwendungsprobleme in der neuen Bauordnung N W , S. 27; von Heimburg, Verwaltungsaufgaben und Private, S. 184 f. Siehe dazu auch Lecheler, Der öffentliche Dienst, in: Isensee/Kirchhof, HBdStR Band III, § 72, Rdn. 26. 290

. Zulässigkeit der

rivatisierung

ben läßt sich jedoch die präventive Kontrolle der Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit öffentlich-rechtlichen Vorschriften unterscheiden. Hierbei geht es um eine vorsorgliche Tätigkeit, die im Gegensatz zum klassischen Bereich der Eingriffsverwaltung nicht durch die Anwendung von Befehl und Zwang 295 gekennzeichnet ist. Stellt man das Interesse des Bauherrn an der Feststellung der Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens in den Vordergrund, hat die präventive staatliche Kontrolle sogar auch einen Leistungscharakter 296. Unter dem Aspekt der Zuordnung zur klassischen Eingriffsverwaltung handelt es sich bei der präventiven Kontrolle der Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit öffentlichrechtlichen Vorschriften daher allenfalls um einen Randbereich 297. Daraus folgt jedoch nicht, daß eine Privatisierung präventiver Kontrolle des Baugeschehens ohne besondere Anforderungen an einen sachlichen Grund gerechtfertigt wäre, sondern die Ausgrenzung der Materie aus dem unverzichtbaren Kernbereich der Staatsgewalt bedeutet lediglich, daß eine Privatisierung nicht bereits aus diesem Grunde von vornherein ausscheiden muß. Die Privatisierung administrativer Kontrolle durch die Einfuhrung des Kenntnisgabeverfahrens ist folglich nur verhältnismäßig, wenn ein ausreichender sachlicher Grund gegeben ist. Sachlicher Grund für die Aufgabenprivatisierung ist die Beschleunigung des Verwaltungsverfahrens und der Abbau von Verwaltungstätigkeit bei gleichzeitiger Ausweitung des Freiraumes für den Bauherrn zur Verbesserung der Investitionsbedingungen. Im Rahmen der Bewertung der Gewichtigkeit dieser Gründe hat der Gesetzgeber einen weiten Wertungsspielraum. Es ist die Aufgabe des Gesetzgebers zu bestimmen, wie gewichtig die Ziele der Privatisierung zu sehen sind. Die Beschleunigung von Verwaltungsverfahren zur Verbesserung der Wirtschaftsbedingungen und die Bekämpfüng der Wohnungsnot sowie der Abbau von Verwaltungstätigkeit sind vom Gesetzgeber als besonders wichtige Aufgaben eingestuft worden. Bei Zugrundelegung dieser Zweck-Mittel-Relation kann die Privatisierung der Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Bauvorhaben nicht von vornherein als unverhältnismäßig und daher auch nicht als Verstoß gegen den Funktionsvorbehalt aufgefaßt werden 298 .

295

Vgl. dazu Maunz, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Art. 33, Rdn. 33. Zur Baugenehmigung als Leistung siehe unten, 6. Kap., H. 297 Krölls, GewArch 1995, 129 (135). 298 So auch Ritter, Bauordnungsrecht in der Deregulierung, in: Hoppe/Bauer/ Faber/Schink, Rechts- und Anwendungsprobleme in der neuen Bauordnung N W , S. 28; Reichling, Effektivität in baurechtlichen Planungs- und Genehmigunsverfahren, S. 195. 296

80

4. Kap.: Zulässigkeit der Aufgabenprivatisierung

2. Das Rechtsstaatsprinzip als Privatisierungssperre Das Rechtsstaatsprinzip verpflichtet den Staat zur Rechtsbewahrung. Der Staat hat eine monopolistische Verantwortung für die Beachtung und Durchsetzung der Rechtsordnung, die er nicht auf Private übertragen kann, ohne sich die letztverbindliche Entscheidungskompetenz und Verantwortlichkeit vorzubehalten 299. Aus der rechtsstaatlichen Pflicht zum Gesetzesvollzug folgt die Notwendigkeit zur Bereitstellung von Mechanismen, die die Erfüllung der gesetzlichen Verhaltensbefehle effektiv gewährleisten 300. Fehlen solche Mechanismen, kommt ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip in Betracht 301 . Die sich für die Frage der Zulässigkeit der Privatisierung administrativer Kontrolle des Baugeschehens ergebende Konsequenz wäre ein verfassungsrechtliches Privatisierungsverbot im Falle einer unzulänglichen Gewährleistung der Einhaltung öffentlich-rechtlicher Vorschriften. Im Kenntnisgabeverfahren prüfen und bestätigen der Planverfasser und der Lageplananfertiger die Einhaltung öffentlich-rechtlicher Vorschriften in den von ihnen verfaßten Plänen. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ist die Privatisierung administrativer Kontrolle im Baurecht vor allem in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Zum einen geht es um die allgemeine Frage der Qualifikation und Zuverlässigkeit des Privaten, dem die Erfüllung der staatlichen Aufgabe übertragen wird. Der Verzicht auf eine staatliche Kontrolle des Baugeschehens ist auf der anderen Seite insoweit problematisch, als die Baurechtsbehörde von Verstößen gegen baurechtliche Vorschriften in der Regel nur dann erfahrt, wenn diese von Dritten angezeigt werden. Eine staatliche Kontrolle der privaten Kontrolleure ist im Kenntnisgabeverfahren nicht vorgesehen. a) Qualifikation und Zuverlässigkeit der Privaten bei der Kontrolle des Bauvorhabens Rechtsstaatliche Grundbedingung für die Aufgabenprivatisierung ist die fachliche Eignung und die persönliche Zuverlässigkeit der Privaten 302 .

299

Reinhardt, AöR 118 (1993), 617 (652). Vgl. Simon, BayVBl. 1994, 581 (582). 301 Simon, BayVBl. 1994, 332 (333). 302 Steiner, Öffentliche Verwaltung durch Private, S. 277; Dahlke, Die Bedeutung von Sachverständigen im Baugenehmigungsverfahren, in: Hoppe/Bauer/Fa300

. Zulässigkeit der

rivatisierung

Die Frage der Zuverlässigkeit der privaten Kontrolleure kann selbstverständlich nicht pauschal gestellt werden. Es können jedoch die Umstände der Aufgabenerfüllung dargestellt und von diesen ausgehend der Versuch unternommen werden, Rückschlüsse auf ihre Verläßlichkeit zu ziehen. Dabei kann als Grundsatz angesehen werden, daß das Maß des Eigeninteresses die Gefahr eines Fehlverhaltens maßgeblich bestimmt 303 . Bei den privaten Prüftätigkeiten läßt sich hinsichtlich des Eigeninteresses an dem Prüfergebnis differenzieren. Zum einen gibt es Prüftätigkeiten, bei denen der Prüfer kein oder fast kein eigenes Interesse an dem Prüfergebnis hat. Dies gilt beispielsweise für die Technischen Überwachungsvereine. Demgegenüber gibt es auch solche Prüftätigkeiten, bei denen das Prüfergebnis für den Prüfer zumindest mittelbar von beruflicher Relevanz ist. Hierzu zählt zweifelsfrei die Überprüfüng der Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens durch den Planverfasser. Als privater Vertragspartner auf einem konkurrierenden Markt von Architektenleistungen hat der Planverfasser, der seinen Auftraggeber auch für künftige Aufträge an sich binden will, zumindest potentiell ein eigenes berufliches Interesse an dem Prüfergebnis 304. Ferner ist die weitere Tätigkeit des Architekten im Rahmen der Ausführung des Bauvorhabens davon abhängig, daß die Schranke des präventiven Verbots geöffnet wird. Als Auftragnehmer des Bauherrn steht der Planverfasser auch traditionell auf der Seite des Bauherrn. Anders ist dagegen die Situation beim Lageplananfertiger. Im Kenntnisgabeverfahren ist der Lageplan durch einen Sachverständigen zu erstellen 305 . Durch die Bestellung zum Sachverständigen wird der Lageplananfertiger zur Unparteilichkeit verpflichtet. Als privatrechtlich Beauftragter steht der private Lageplananfertiger, der ein berufliches Interesse daran hat, den Bauherrn auch für Folgeaufträge zu gewinnen, jedoch ebenfalls in einer gewissen Nähebeziehung zum Bauherrn. Die Eigenverantwortlichkeit der am Bau Beteiligten bedeutet andererseits auch Risikoprivatisierung. Sofern das Bauvorhaben gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt und aus diesem Grund nicht fertiggestellt werden kann

ber/Schink, Rechts- und Anwendungsprobleme der neuen Bauordnung N W , S. 70; von Heimburg, Verwaltungsaufgaben und Private, S. 191. 303 Vgl. Däubler, Privatisierung als Rechtsproblem, S. 89. 304 Siehe dazu auch Wömer, BWGZ 1995, 456 (457 f.). 305 § 5 Abs. 1 S. 1 L B O V V O . Dies gilt nach § 5 Abs. 1 S. 2 L B O V V O nicht für bestimmte Bauvorhaben von nur untergeordneter Bedeutung. 6 Kruhl

82

4. Kap.: Zulässigkeit der Aufgabenprivatisierung

oder beseitigt werden muß, ist der finanzielle Verlust von den am Bau beteiligten Privaten zu tragen. Daher wirkt die Gefahr der Haftung des Planverfassers und des Lageplananfertigers ihrerseits rechtsbewahrend. Zudem ist die Abgabe einer unrichtigen Bestätigung der Einhaltung öffentlich-rechtlicher Vorschriften eine bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit 306 . Für die Zuverlässigkeit der einzelnen privaten Akteure lassen sich zwar auch aus diesen Feststellungen keine allgemeingültigen Rückschlüsse ziehen. Es kann aber festgehalten werden, daß es sich bei der Verwirklichung von Bauvorhaben um eine sehr sensible Materie handelt, die teilweise "eigenen Gesetzen" unterliegt 307 . Wirtschaftliche und persönliche Interessen des Bauherrn und des Architekten spielen dabei eine wichtige Rolle. Das Maß des Eigeninteresses des Planverfassers an dem Prüfergebnis ist im oberen Bereich anzusetzen. Aus diesem Grunde werden vielfach starke Zweifel geäußert, daß von einer allgemein bestehenden, ausreichenden Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln der am Bau Beteiligen ausgegangen werden könne 308 . Zusätzlich werden auch Bedenken gegen die fachliche Eignung der Planverfasser zu einer zuverlässigen Kontrolle des Bauvorhabens erhoben, da für eine Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens vielfach rechtliche Wertungen erforderlich sind, wie beispielsweise im Rahmen des Rücksichtnahmegebotes309. Zwar hatte der Planverfasser auch in der Vergangenheit die Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit öffentlich-rechtlichen Vorschriften zu prüfen, jedoch erfolgte diese Prüfung regelmäßig in einem Dialog mit der

306

§ 21 Nr. 2 L B O V V O i.V.m. § 75 LBO. M i t einem anschaulichen Beispiel: Broß, ZfBR 1991, 43 (47). 308 Vgl. Ring, L K V 1995, 236 (239), der im Hinblick auf die Erfahrungen in Mecklenburg-Vorpommern, wo ein "erheblicher Teil" der genehmigungsfrei durchgeführten Bauvorhaben rechtswidrig errichtet wurde, die der Genehmigungsfreistellung zugrundeliegende Prämisse der Rechtstreue der am Bau Beteiligten als zu optimistisch einschätzt; Goerlich, SächsVBl. 1996, 1 (2), der die Bauantragsberechtigten als "einen Kreis, der sicher schon bisher in einem Geflecht von egoistischen und privaten Interessen anderer stand", ansieht; Simon, BayVBl. 1994, 332 (333) mit der Aussage, daß der Rechtstreue und Zuverlässigkeit der Bürger beim Bauen "nach den leidvollen Erfahrungen der Gerichte und Behörden nicht immer vertraut werden könne"; ders., BayVBl. 1994, 581 (582) mit dem Hinweis auf die geringe Akzeptanz der Bauherrn hinsichtlich des Baurechts, das häufig mit eigenen Interessen kollidiert, und der Einschätzung, daß Genehmigungsfreiheit im Baurecht landläufig mit Baufreiheit auch in materiellrechtlicher Hinsicht gleichgesetzt werde. In diese Richtung auch von Heimburg, Verwaltungsaufgaben und Private, S. 191; Suckow, BayVBl. 1980, 673 (674 f.); Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (5). 307

309

Pfaff.;

VB1BW 1996, 281 (283); Köblitz, BWVP 1990, 200 (202).

. Zulässigkeit der

rivatisierung

Baurechtsbehörde 310, der die primäre Verantwortung für die Genehmigungsfahigkeit des geplanten Bauvorhabens oblag. Zweifel an der fachlichen Eignung der Planverfasser ergeben sich daneben auch aus der Abschafiüng des Architektenprivilegs, nach dem für die Errichtung von Gebäuden nur Architekten bestellt werden durften 311 . Obwohl dem Architektenprivileg im ersten Gesetzentwurf zur Neuregelung der LBO noch eine maßgebliche Bedeutung für die Einführung des Kenntnisgabeverfahrens beigemessen wurde, da mit der Verantwortungsverlagerung "entsprechende Qualifikationsanforderungen 312 einhergehen" müßten , wurde an dem Architektenprivileg nicht festgehalten, so daß für die Errichtung bestimmter Bauwerke auch Handwerksmeister als Planverfasser bestellt werden können (§ 43 LBO). Aus alledem ergibt sich, daß die Zuverlässigkeit und die fachliche Eignung der Privaten zumindest nicht vollständig garantiert sind. b) Kenntniserlangung von rechtswidrigen

Bauwerken

Die Durchsetzung der Rechtsordnung erfordert die Möglichkeit zur Kenntniserlangung von Rechtsverstößen. Mangels präventiver staatlicher Überwachung und der im Kenntnisgabeverfahren nicht vorgesehenen Bauabnahme313 erfahrt die Behörde von Verstößen gegen baurechtliche Vorschriften im Kenntnisgabeverfahren regelmäßig nur durch private Anzeigen oder entsprechende Anträge auf bauordnungsrechtliches Einschreiten durch die Nachbarn. Die Durchsetzung der Rechtsordnung bleibt dann dem Zufall überlassen, ob der Nachbar den Rechtsverstoß erkennt und ob er diesen der Baurechtsbehörde zur Kenntnis gibt. c) Ergebnis Der Verzicht auf eine staatliche Kontrolle des Baugeschehens bedeutet zwangsläufig ein Minus an staatlicher Rechtsdurchsetzung 314 und damit einen

310 311

Vgl. Kronenbitter, BWGZ 1994, 632 (634). Vgl. dazu Ruf, BWGZ 1995, 436 (446, 449); Pfaff

VB1BW 1996, 281

(283). 312

Vgl. LT-Drs. 11/5337, S. 73 und 106. Zur Freistellung kenntnisgabepflichtiger Vorhaben von der Bauabnahme, siehe LT-Drs. 11/5337, S. 120. 314 Besonders kritisch: Goerlich, SächsVBl. 1995, 249 (252 ff.), der die Privatisierungskonzepte als "Gesetzgebungsprogramm zur Erosion des Rechts" be313

84

4. Kap.: Zulässigkeit der Aufgabenprivatisierung

Verlust an Rechtsstaatlichkeit 3 1 5 . D i e fehlende präventive staatliche Überwachung w i r d durch die private Kontrolle des Baugeschehens nicht vollständig ersetzt. Daraus folgt jedoch noch nicht, daß die Privatisierung präventiver bauaufsichtlicher Vielmehr

Kontrolle aus rechtsstaatlichen

ist eine Rücknahme

rechtsstaatlicher

Gründen unzulässig Gewährleistung

ist.

zulässig,

sofern diese gegenüber dem Zweck der Aufgabenprivatisierung verhältnismäßig ist 3 1 6 . Der Gesetzgeber hat die Privatisierungsziele als besonders w i c h t i g eingestuft. Z u d e m liegt der Schaffung des Kenntnisgabeverfahrens die E i n schätzung des Gesetzgebers zugrunde, daß die Rechtsverstöße nicht i n erheblichem U m f a n g zunehmen werden 3 1 7 . E i n Verbot der Privatisierung bauordnungsrechtlicher Kontrolle ergibt sich daher bei dieser Einschätzung auch nicht aus dem Rechtsstaatsprinzip. Würde sich jedoch erweisen, daß die Rechtsverstöße stark zunehmen, bestünde eine Nachbesserungspflicht

des

Gesetzgebers zur Beseitigung der Vollzugsdefizite.

zeichnet, da es den Privatisierungskonzepten eigen sei, "daß sie Vollzugsdefizite normativ legitimieren". Unkritisch dagegen Jäde, UPR 1994, 201 (205), mit der Feststellung, daß von den Anzeigeverfahren "mittelbar eine flexibilisierende Wirkung auf die materiell-rechtlichen Anforderungen an Bauvorhaben" ausgeht. M i t der Annahme wachsender materieller Illegalität auch Koch, (Verfahrens-) Privatisierung im öffentlichen Baurecht, in: Hoffmann-Riem/Schneider, Verfahrensprivatisierung im Umweltrecht, 170 (186); Kirstenpfad, L K V 1996, 93 (95). 315 Vgl. dazu Degenhart, VVDStRL 54 (1995), Diskussionsbeitrag S. 316. A.A. Jäde, ZfBR 1996, 241 (244), nach dessen Auffassung auch eine präventive Kontrolle nur eine begrenzte Wirkung auf die Motivation des Bauherrn zu rechtmäßigem Bauen habe, "weil die gebaute Wirklichkeit schon immer ganz anders ausgesehen hat als die genehmigte". Von Jäde wird die Berechtigung der K r i t i k an dem Rückbau präventiver Kontrolle im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip bezweifelt, weil es eine Spekulation sei, daß die präventive Prüfung, die in die Erteilung einer Baugenehmigung mündet, verstärkt dazu motiviert, sich an die Baugenehmigung zu halten. Gegen die geübte K r i t i k wendet Jäde ein, daß derjenige, der genehmigungsfrei und damit ohne Bestandsschutz vermittelnde hoheitliche Entscheidung baue, notwendig risikobewußter und daher rechtstreuer sei. Der Vergleich von Jäde übersieht jedoch, daß auch derjenige, der von einer Baugenehmigung abweicht, insoweit keinerlei Bestandsschutz genießt. Ein Minus bei der präventiven staatlichen Kontrolle wird daher entgegen der Auffassung von Jäde nicht durch eine verringerte Risikobereitschaft des Bauherrn aufgrund von Bestandsschutzerwägungen ausgeglichen. 316 Vgl. dazu Steiner, Öffentliche Verwaltung durch Private, S. 270 f f ; Däubler,, Privatisierung als Rechtsproblem, S. 88. 317 Vgl. dazu LT-Drs. 11/5337, S. 110.

. Zulässigkeit der

rivatisierung

3. Die staatliche Schutzpflicht als Privatisierungssperre Ein verfassungsrechtlicher "Bestandsschutz"318 für das nachbarschützende Baugenehmigungsverfahren ergibt sich auch nicht aus der staatlichen Schutzpflicht für das Nachbareigentum 319. Der Annahme eines grundrechtlichen Privatisierungsverbotes steht hier vor allem entgegen, daß die grundrechtliche Schutzpflicht nicht das konkrete Mittel zur Schutzpflichterfüllung vorgibt, sondern nur eine Zielvorgabe enthält 320 . Für die effektive Gewährleistung des grundrechtlich geforderten Nachbarschutzes ist die Aufrechterhaltung des Genehmigungsverfahrens jedoch nicht das einzige Mittel. Vielmehr ist auch im Rahmen der allgemeinen Bauaufsicht ein hinreichend wirksamer Nachbarschutz möglich 321 . 4. Fazit Weder der Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG noch das Rechtsstaatsprinzip oder die grundrechtliche Schutzpflicht verbieten die Privatisierung präventiver Kontrollaufgaben durch die Einführung des Kenntnisgabeverfahrens.

318 Zum "Bestandsschutz" bestehender Schutznormen vgl. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, HBdStR Band V, § 111, Rdn. 160. 319 Zur staatlichen Schutzpflicht siehe ausführlich unten, 5. Kap., F. 320 PrescheU D Ö V 1998, 45 (51). Siehe dazu unten, 5. Kap., F 3. 321 Siehe dazu unten, 5. Kap., I l b und 2.

5. Kapitel

Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht für den Nachbarschutz im Kenntnisgabeverfahren Mit der Einführung des Kenntnisgabeverfahrens hat sich der Nachbarschutz grundlegend geändert. Dies gilt sowohl für die Ebene des präventiven Verfahrens als auch bei einem Schutzverlangen des Nachbarn zur Verhinderung oder Beseitigung einer Verletzung seiner Nachbarrechte. Die Einführung des Kenntnisgabeverfahrens bedeutet für den Nachbarn den Verlust der staatlichen Kontrolle der nachbarschützenden Vorschriften und eine Einschränkung der Verfahrensbeteiligung (A). Weitere Konsequenz der Verfahrensänderung ist der Wechsel des einschlägigen Nachbarschutzes von der bisherigen Genehmigungsanfechtung zur Notwendigkeit der Verpflichtung der Baurechtsbehörde zu einem Einschreiten gegen das nachbarrechtsverletzende Bauvorhaben. Der Nachbar kann nicht mehr mittels Anfechtung der Baugenehmigung eine Rechtsverletzung zuverlässig abwehren, sondern er hat nur dann einen Anspruch auf bauordnungsrechtliches Einschreiten, wenn das Ermessen der Baurechtsbehörde auf Null reduziert ist. Bislang wurde eine Ermessensreduzierung bei nicht genehmigten Bauvorhaben von der herrschenden Meinung nur unter sehr engen Voraussetzungen angenommen. Würden diese engen Voraussetzungen aufrechterhalten, wäre mit der Verfahrensänderung eine weitere starke Verkürzung des Nachbarschutzes verbunden (B). Im Kenntnisgabeverfahren richtet sich der vorläufige Rechtsschutz entsprechend der Verpflichtungskonstellation nicht mehr nach § 80a VwGO, sondern nach § 123 VwGO. Eine zusätzliche faktische Verkürzung des Nachbarschutzes im Kenntnisgabeverfahren gegenüber dem Genehmigungsverfahren würde sich aus der Änderung des einschlägigen vorläufigen Rechtsschutzes ergeben, wenn das Risiko einer Schadensersatzverpflichtung gem. § 123 Abs. 3 VwGO i. V.m. § 945 ZPO bestünde (C). Eine Kompensation des verkürzten Nachbarschutzes hatte der VGH BadenWürttemberg bereits hinsichtlich der Baufreistellungsverordnung vorgenommen und die Anforderungen an eine Ermessensreduzierung abgesenkt322. Über

322

V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1995, 320 (320 f.).

Α. Nachbar schütz durch das Kenntnisgabe ver fahren

87

die Frage, ob an den bisherigen engen Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung auch bei den genehmigungsfreien Verfahren festgehalten werden soll oder ob die sich aus der Verfahrensänderung ergebende Verkürzung des Nachbarschutzes durch die Baurechtsbehörde zu kompensieren ist, besteht jedoch nach wie vor kein Konsens (E). Voraussetzung für die Festlegung von Handlungspflichten der Baurechtsbehörde ist ein Maßstab, aus dem sich der notwendige Schutz der Nachbarrechte ergibt. Die Frage nach dem Umfang des staatlich zu gewährleistenden Nachbarschutzes läßt sich nicht aus sich selbst heraus beantworten, sondern es bedarf einer tragfahigen Grundlage für die Bestimmung des staatlich zu gewährleistenden Schutzniveaus. Hierzu ist der baurechtliche Nachbarschutz in der grundrechtlichen Schutzpflicht zu verankern und das grundrechtlich geforderte Schutzniveau aufzuzeigen (F). Bei der grundrechtlichen Schutzpflicht als Ausgangspunkt läßt sich die Rechtslage bei der Errichtung rechtswidriger Bauwerke durch die Ausnutzung einer nachträglich aufgehobenen Baugenehmigung, bei "Schwarzbauten" und rechtswidrigen Bauwerken im Kenntnisgabeverfahren im Hinblick auf den erforderlichen Schutzumfang als strukturell gleichartig qualifizieren (G). Anhand der grundrechtlichen Schutzpflicht als Maßstab für den zu gewährleistenden Nachbarschutz wird die Bedeutung der grundrechtlichen Schutzpflicht bei der Rechtsanwendung erörtert (H) und versucht, die Voraussetzungen für konkrete Handlungspflichten der Baurechtsbehörde im Kenntnisgabeverfahren zu bestimmen (I). A. Nachbarschutz durch das Kenntnisgabeverfahren Der Zusammenhang zwischen Grundrechtsschutz und Verfahrensgestaltung wurde vom Bundesverfassungsgericht insbesondere im MühlheimKährlich-Beschluß herausgestellt 323. Hier hatte das Gericht ausgeführt, daß Grundrechtsschutz auch durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken ist 324 . Effektiver Grundrechtsschutz ist auch im Baurecht nicht auf die gericht-

323 BVerfGE 53, 30 (30 ff.). Nach der vorher überwiegenden Auffassung hatten Verfahrensbestimmungen keine unmittelbaren Schutzfunktionen zugunsten der betroffenen Grundrechtsträger. Die Verfahrensbeteiligung wurde lediglich als ein der Verwaltung vorgeschriebenes Mittel zur umfassenden Sachverhaltsermittlung aufgefaßt, vgl. BVerwGE 28, 131 (132 f.); 41, 58 (65); V G H Bayern, BayVBl. 1979, 673 (677); V G H Bayern, GewArch 1975, 61 (63). 324 BVerfGE 53, 30 (65). Zum Grundrechtsschutz durch die Verfahrensgestaltung vgl. auch Grimm, N V w Z 1985, 865 (865); Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), 43 (81, 86 ff.) "status activus processualis";

88

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

liehe Kontrolle beschränkt, sondern ist bereits durch das bauordnungsrechtliche Verfahren zu gewährleisten 325. Die Gestaltung präventiver Verfahren ist daher auch unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit zu einer effektiven Gewährleistung der Nachbargrundrechte zu sehen326. Ein geeignetes Mittel zum Schutz der Nachbarrechte ist das Genehmigungsverfahren, in dem die Baurechtsbehörde die Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens umfassend prüft und die widerstreitenden Interessen zu einem gerechten Ausgleich gebracht werden können. Das Genehmigungsverfahren hatte daher eine wichtige Rechtsschutzfunktion für die vom Bauvorhaben betroffenen Angrenzer und Nachbarn 327 . Gegenstand der folgenden Darstellung sind die Auswirkungen der Verfahrensänderung für den Nachbarschutz auf der Ebene des präventiven Verfahrens. Dabei wird der Nachbarschutz im Kenntnisgabeverfahren mit dem Nachbarschutz im Genehmigungsverfahren verglichen. 1. Fehlender Schutz präventiver staatlicher Kontrolle im Kenntnisgabeverfahren Für die Sachverhaltsermittlung im Baugenehmigungsverfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz 328. Das bedeutet, im Genehmigungsverfahren prüft die Baurechtsbehörde die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften von Amts wegen (§§ 58 Abs. 1 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 LBO, §§ 22, 24 LVwVfG). Der Untersuchungsgrundsatz ist Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips, insbesondere des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 329 , und enthält

Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, S. 80 ff.; Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, S. 57 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rdn. 107; Redeker, Zur Ausgleichsfunktion von Teilhaberechten zwischen Freiheit und Bindung, in: Festgabe zum 25jährigen Bestehen des Bundesverwaltungsgerichts, 1978, 511 (511 ff.); Breuer, NJW 1978, 1558 (1564). 325 Ortloff, in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band Π, 3. Auflage, S. 188; ders., NJW 1983, 961 (961). 326 Stelkens, BauR 1986, 390 (397). 327 Ortloff,; in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band II, 3. Auflage, S. 187 f.; ders., NJW 1983, 961 (961). Zur Rechtsschutzfunktion des Verwaltungsverfahrens vgl. Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, S. 46 ff.; Wahl, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VVDStRL 41, 151 (151 ff., 160 ff.); Steinberg, NJW 1984, 457 (458). 328 Vgl. dazu Stelkens, BauR 1978, 158 (159); S. Schulte, D Ö V 1996, 551 (554). 329 Vgl. Stelkens, N V w Z 1982, 81 (83).

Α. Nachbarschtz durch das Kenntnisgabe verfahren

89

zudem ein Moment sozialstaatlicher Gewährleistung 330. Der Amtsermittlungsgrundsatz ist sowohl in seiner rechtsstaatlichen Ausprägung als auch in seiner sozialstaatlichen Komponente für den Grundrechtsschutz von Bedeutung: Aus der rechtsstaatlichen Zielrichtung des Amtsermittlungsgrundsatzes auf die sachliche Richtigkeit der Verwaltungsentscheidung 331 ergibt sich gleichzeitig die verfahrensrechtliche Absicherung grundrechtlich geschützter Freiheiten 332 . Durch die Verankerung des Amtsermittlungsgrundsatzes im Sozialstaatsprinzip wird die Fürsorgepflicht des Staates für seine Bürger hervorgehoben, da sich die Rechtsverwirklichung anders als im Zivilprozeß nicht aus dem auf dem Selbstverantwortungsprinzip basierenden Beibringungsgrundsatz ergibt, sondern weitgehend unabhängig von der Befähigung des Grundrechtsträgers zu einer Verteidigung seiner Rechte durch die staatliche Kontrolle gewährleistet wird 3 3 3 . a) Nachbarschutzfunktion

der Amtsermittlung

Die Behörde ist durch den Untersuchungsgrundsatz zu einer Ermittlung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalts verpflichtet 334 . Im Baugenehmigungsverfahren wird die Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit öffentlichrechtlichen Vorschriften umfassend geprüft. Bei der Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens prüft die Baurechtsbehörde auch die Einhaltung der nachbarschützenden Bauvorschriften 335. Verstößt das geplante Vorhaben gegen eine von der Baurechtsbehörde zu prüfende nachbarschützende Vorschrift, wird die Baugenehmigung nicht erteilt. Die Verwirklichung des rechtswidrigen, nachbarrechtsverletzenden Bauvorhabens bleibt dem Bauherrn verboten. Die staatliche Kontrolle der Einhaltung der nachbarschützenden Vorschriften erfolgt nach dem Untersuchungsgrundsatz unabhängig von dem Vorbringen der möglicherweise betroffenen Nachbarn. Der Nachbar kann sich daher dem Grundsatz nach darauf verlassen, daß die Behörde, der die Sach-

330

Dill, Amtsermittlung und Gefahrerforschungseingriffe, S. 34 f. Zur Gewährleistungsfunktion des Verwaltungsverfahrens im Hinblick auf eine richtige Entscheidungsfindung vgl. BVerfGE 42, 64 (73); 46, 325 (333); 53, 30 (74)-Sondervotum Simon/Heußner. 332 Dill, Amtsermittlung und Gefahrerforschungseingriffe, S. 34. 333 Dill, Amtsermittlung und Gefahrerforschungseingriffe, S. 35. 334 Clausen, in: Knack, VwVfG, § 24, Rdn. 3.1. 335 Ortloff in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band II, 3. Auflage, S. 188. 331

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

90

verhaltsermittlungspflicht auch gegenüber dem Nachbarn obliegt 336 , Verstöße gegen nachbarschützende Vorschriften erkennt und die Genehmigungserteilung verweigert. Die Verpflichtung der Behörde zu einer Kontrolle des Bauvorhabens hinsichtlich der Einhaltung der nachbarschützenden Vorschriften wird auch durch die Einfuhrung einer Präklusion nachbarrechtlicher Einwendungen im Genehmigungsverfahren (§55 Abs. 2 S. 2 LBO) nicht eingeschränkt 337. Vielmehr bleibt die Behörde auch bei einer materiellen Präklusion des Nachbarn in vollem Umfang zur Kontrolle und Durchsetzung der nachbarschützenden Vorschriften verpflichtet 338 . Daraus ergibt sich, daß dem Nachbarn aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes im Genehmigungsverfahren ein weitreichender staatlicher Schutz vor Beeinträchtigungen durch die Errichtung rechtswidriger Bauwerke vermittelt wird 3 3 9 . b) Selbstverantwortlichkeit

im Kenntnisgabeverfahren

Kernbestand der Ausgestaltung des Kenntnisgabeverfahrens ist der Verzicht auf eine präventive staatliche Kontrolle des Baugeschehens. Für den Nachbarn bedeutet dies den Verlust der präventiven administrativen Gewährleistung der Einhaltung nachbarschützender Vorschriften. Zwar ist der Bauherr bei der Absicht, von öffentlich-rechtlichen (drittschützenden) Vorschriften abzuweichen, verpflichtet, einen entsprechenden Antrag zu stellen ( § 5 1 Abs. 5 LBO), jedoch hilft dies dem Nachbarn nicht, wenn die am Bau Beteiligten die Rechtslage selbst nicht richtig erkennen oder bewußt gegen baurechtliche Vorschriften verstoßen 340. Durch die Bestätigungen des Lageplananfertigers und des Planverfassers, die im Gegensatz zur "neutralen" Baurechtsbehörde eher auf der Seite des Bauherrn stehen, erhält der Nachbar keinen äquivalenten Ausgleich fur die staatliche Prüftätigkeit.

336 337

Stelkens, BauR 1986, 390 (398 f.). Sauter, Landesbauordnung für Baden-Württemberg, 3. Auflage, § 55, Rdn.

28c. 338

Die Präklusion verhindert lediglich die Durchsetzbarkeit der Rechtsposition, siehe dazu BVerwGE, 60, 297 (299 ff.); Sauter , Landesbauordnung für Baden-Württemberg, 3. Auflage, § 55, Rdn. 28c. 339 Vgl. dazu auch Steinberg, NJW 1984, 457 (458). 340 Hierzu und zum Folgenden siehe oben, 4. Kap., Β 1.

Α. Nachbarschtz durch das Kenntnisgabe verfahren

91

Der Nachbar muß daher eigene Untersuchungen durchführen, um die Sicherheit zu gewinnen, daß das geplante Vorhaben seine Rechte nicht beeinträchtigt. Eine Kontrolle des geplanten Bauvorhabens hinsichtlich der eigenen Belange durch den Nachbarn ist aber regelmäßig nicht ohne fachkundige Beratung möglich. Das bedeutet, daß der Nachbar unter finanziellem und zeitlichem Einsatz die Hilfe von sachverständigen Personen in Anspruch nehmen muß. Diese Verlagerung auf eine eigenverantwortliche Interessenwahrnehmung belastet insbesondere diejenigen Nachbarn, die aus sozialen oder sonstigen Gründen nicht in der Lage sind, die notwendige Kontrolle zu veranlassen341. c) Fazit Daraus ergibt sich, daß der Nachbarschutz im Kenntnisgabeverfahren durch den Wegfall der nachbarschützenden Amtsermittlung und die Notwendigkeit zu einer eigenverantwortlichen Interessenwahrung erheblich verkürzt wird 3 4 2 . M i t der Abschaffüng der präventiven staatlichen Kontrolle des Bauvorhabens verliert der Nachbar den staatlichen Schutz, der dem öffentlichen Baunachbarrecht bisher prägend zugrunde lag. 2. Einschränkung der Verfahrensbeteiligung im Kenntnisgabeverfahren Im Genehmigungsverfahren werden die betroffenen Nachbarn als Beteiligte des Verwaltungsverfahrens in den Entscheidungsprozeß der Behörde eingebunden 343 . Als Verfahrensbeteiligte sind sie mit eigenen Verfahrensrechten ausgestattet344. Die Nachbarn können ihre Interessen daher bereits auf der Ebene des präventiven Verfahrens effektiv vertreten und dadurch auf die Entscheidungsfindung der Baurechtsbehörde Einfluß nehmen 345 .

341 Die grundrechtliche Schutzfunktion von Verfahren muß sich im sozialen Rechtsstaat aber gerade auch für den sozial Schwachen durchsetzen; denn dieser ist es, der dieses Schutzes in besonderem Maße bedarf, vgl. BVerfGE 49, 220 (226); 42, 64 (77). 342 So auch Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (4), der in der präventiven Kontrolle den wesentlichen Rechtsschutz für den Baunachbarn sieht. 343 Zur Beteiligung der Nachbarn am Baugenehmigungsverfahren vgl. Ortloff\ NJW 1983, 961 (961 ff.); Raeschke-Kessler/Eilers, N V w Z 1988, 37 (38 ff.); Stelkens, BauR 1986, 391 (395 ff.). 344 Kopp, VwVfG, § 13, Rdn. 2.

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5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

Das Kenntnisgabeverfahren ist kein Verwaltungsverfahren 346. Die Beteiligungsrechte des Verwaltungsverfahrens kommen daher grundsätzlich nicht, jedenfalls nicht unmittelbar, zur Anwendung 347 . Eine Einbindung vom Bauvorhaben möglicherweise betroffener Dritter ist im Kenntnisgabeverfahren nur für die Angrenzer vorgesehen. Sonstige Nachbarn, die durch das Bauvorhaben betroffen werden können 348 , sind von dem Verfahrensablauf grundsätzlich ausgeschlossen. a) Problematik der Informationsbeschaffung

von dem geplanten Vorhaben

Voraussetzung für eine wirksame präventive Rechtsverteidigung ist die Kenntnis von dem geplanten Vorhaben 349 . Der Nachbar bzw. Angrenzer muß wissen, wie das geplante Bauwerk gestaltet sein soll, wie es auf dem Grundstück liegt und welche Nutzung geplant ist, um überprüfen zu können, ob er durch die Verwirklichung des Bauvorhabens beeinträchtigt wird. Die Angrenzer sind gem. § 55 Abs. 3 S. 2 LBO innerhalb von fünf Arbeitstagen ab dem Eingang der Bauvorlagen von der Gemeinde zu benachrichtigen. Eine Benachrichtigungspflicht für die sonstigen Nachbarn besteht nicht. Die nichtangrenzenden Nachbarn können daher nur durch Zufall von dem geplanten Vorhaben erfahren 350. Sofern diese Nachbarn keine Kenntnis von dem Vorhaben erhalten, was regelmäßig der Fall sein wird, wenn der Eigentümer des benachbarten Grundstücks nicht gleichzeitig Hausbewohner ist, ist eine effektive präventive Rechtsverfolgung auf der Verfahrensebene bereits aus diesem Grunde ausgeschlossen. Der Nachbar, der keine Kenntnis von dem geplanten Vorhaben erlangt, ist ausschließlich auf eine nachträgliche Störungsbeseitigung angewiesen.

345 Raeschke-Kessler/Eilers, N V w Z 1988, 37 (38 ff.); Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (4). 346 Siehe oben, 2. Kap., D. 347 Vgl. Pfaff VB1BW 1996, 281 (284). 348 Nachbar im Nachbarschutzrecht ist nicht nur der Angrenzer, sondern jeder, der von der Errichtung oder Nutzung der baulichen Anlage in seinen rechtlichen Interessen betroffen werden kann, vgl. BVerwGE 28, 131 (133 f.); Dürr, Baurecht, 8. Auflage, Rdn. 255. 349 Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (6). 350 Vgl. Raeschke-Kessler/Eilers, N V w Z 1988, 37 (39).

Α. Nachbarschtz durch das Kenntnisgabe verfahren

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Für den Angrenzer stellt sich vorrangig die Problematik der inhaltlichen Kenntniserlangung von dem geplanten Bauvorhaben. Durch die Benachrichtigung gem. § 55 Abs. 3 S. 2 LBO erhalten die Angrenzer die Information, daß auf dem angrenzenden Grundstück überhaupt gebaut werden soll. Ein Anspruch auf inhaltliche Auskünfte über das geplante Vorhaben ist in der Landesbauordnung nicht normiert. Insbesondere gibt es in BadenWürttemberg keinen gesetzlich normierten Anspruch auf Einsichtnahme in die Bauvorlagen. Ein Anspruch auf Einsichtnahme ergibt sich dagegen für den Beteiligten im Verwaltungsverfahren aus § 29 LVwVfG. § 29 LVwVfG ist jedoch im Kenntnisgabeverfahren nicht unmittelbar anwendbar. Ein Anspruch auf Akteneinsicht ergibt sich auch nicht direkt aus Art. 19 Abs. 4 GG 351 . Außerhalb eines Verwaltungsverfahrens besteht nach der herrschenden Auffassung kein allgemeiner Akteneinsichtsanspruch 352. Die Entscheidung über die Einsichtnahme steht hier vielmehr grundsätzlich im Ermessen der Behörde 353. Im Rückgriff auf Art. 19 Abs. 4 GG erwägt dagegen Pfaff einen Anspruch auf Einsichtnahme in die Bauvorlagen direkt gegen den Bauherrn 354 . Dieser Anspruch soll im einstweiligen Anordnungsverfahren gem. § 123 VwGO gerichtlich durchsetzbar sein 355 . Für die Annahme einer solchen öffentlichrechtlichen Verpflichtung des Bauherrn fehlt es in Baden-Württemberg jedoch an einer gesetzlichen Grundlage 356 . In Betracht kommt aber eine analoge Anwendung von § 29 LVwVfG. Das Kenntnisgabeverfahren steht in einer engen Beziehung zu einer rechtlichen Regelung durch Verwaltungsakt 357 . Wie im Baugenehmigungsverfahren ist die 351

BVerwGE 84, 375 (377 f.). BVerwGE 84, 375 (376); 67, 300 (303 f.); 61, 15 (22); Bonk, in: Stelkens/ Bonk/Sachs, § 29, Rdn. 10. 353 BVerwGE 61,15 (22); Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, 10. Auflage, § 43, Rdn. 59; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Auflage, § 19, Rdn. 21; Stelkens, BauR 1986, 390 (396). 354 Pfaff VB1BW 1996, 281 (284). 355 Pfaff VB1BW 1996, 281 (284). 356 Eine Informationspflicht des Bauherrn gegenüber den Nachbarn findet sich dagegen in Art. 64 Abs. 3 BayBO, § 72 Abs. 1 S. 2 NBauO, § 62b Abs. 2 S. 2 Nr. 3d i.V.m. § 69 ThürBO. Eine solche Informationspflicht des Bauherrn unmittelbar gegenüber dem Nachbarn würde auch dem Kenntnisgabe verfahren am besten entsprechen, da hierdurch Verwaltungstätigkeit abgebaut und das eigenverantwortliche Handeln des Bauherrn in den Vordergrund gestellt wird. Vgl. dazu auch Preschel, D Ö V 1998,45 (52). 357 Siehe dazu oben, 2. Kap., D. 352

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5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

Aufhebung des formellrechtlichen Bauverbotes das charakteristische Verfahrensziel. In beiden Verfahren werden die Nachbarn potentiell durch den Baubeginn in ihren Rechten betroffen. Das Recht auf Einsichtnahme in die Bauvorlagen ist im Kenntnisgabeverfahren ebenso wie im Baugenehmigungsverfahren Voraussetzung fur eine effektive Rechtsverfolgung. Das rechtsstaatliche Gebot des fairen Verfahrens, das den potentiell Verfahrensbetroffenen eine wirksame Verteidigungsmöglichkeit garantiert, ist nicht auf das Verwaltungsverfahren im eigentlichen Sinne beschränkt, sondern erfaßt alle Verfahren staatlicher Verwaltung. § 29 LVwVfG ist daher für möglicherweise betroffene Nachbarn und Angrenzer im Kenntnisgabeverfahren analog anzuwenden358. Dies ergibt sich für die Angrenzer bereits aus der Ausgestaltung der Angrenzerbeteiligung, da ohne das Recht auf Akteneinsicht die Möglichkeit des Vorbringens von Bedenken leerliefe. b) Beteiligung der Angrenzer durch die Möglichkeit des Vorbringens von Bedenken Die Angrenzer können gem. § 55 Abs. 3 S. 3 LBO Bedenken bei der Gemeinde vorbringen. Die vorgebrachten Bedenken werden von der Gemeinde an die Baurechtsbehörde weitergeleitet. Für die weitere Behandlung der Bedenken durch die Baurechtsbehörde im Kenntnisgabeverfahren verweist § 55 Abs. 3 S. 5 LBO auf die bauordnungsrechtliche Generalklausel, das bedeutet, daß die Baurechtsbehörde in einem eigenen Verfahren prüft, ob und gegebenenfalls welche Maßnahmen ergriffen werden, wenn sich die Bedenken als stichhaltig erweisen 359. Durch das Vorbringen von Bedenken durch die Angrenzer wird ein Verwaltungsverfahren nicht begründet 360. Mit dem Recht des Angrenzers, Bedenken vorzubringen, korrespondiert lediglich die Verpflichtung der Behörde, die Bedenken entgegenzunehmen und auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen. Die Überprüfung des Vorhabens erfolgt dabei nur hinsichtlich der vorgebrachten Tatsachen. Eine Verpflichtung zu einer über die von dem Angrenzer vorge-

358 In diese Richtung im Ergebnis auch Sauter , Landesbauordnung für BadenWürttemberg, 3. Auflage, § 55, Rdn. 30b; Schlez, Landesbauordnung für BadenWürttemberg, 4. Auflage, § 55, Rdn. 9, die davon ausgehen, daß die Angrenzer grundsätzlich die Möglichkeit haben sollen, die Bauvorlagen bei der Gemeinde einzusehen. 359 Siehe oben, 2. Kap., D 3. 360 Dazu und zum Folgenden siehe oben, 2. Kap., D 3.

Α. Nachbarschtz durch das Kenntnisgabe verfahren

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brachten Tatsachen hinausgehenden Untersuchung besteht nicht. Insbesondere wird durch das Vorbringen von Bedenken keine Pflicht zur umfassenden Sachverhaltsermittlung i.S.d. §§ 22, 24 LVwVfG ausgelöst. M i t § 55 Abs. 3 S. 3 LBO wird daher für die Angrenzer lediglich ein Anhörungsrecht mit Überprüfüngsverpflichtung im Kenntnisgabeverfahren spezialgesetzlich normiert 361 . Die vorgebrachten Bedenken sind vor allem Anregungen des Angrenzers, die von der Behörde zwar zu prüfen sind, aber deren weitere Behandlung nicht von dem Angrenzer mitgesteuert oder beeinflußt werden kann. Vor dem Hintergrund der vorstehend dargestellten schwachen Verfahrenseinbindung der Angrenzer bietet auch die Möglichkeit des Vorbringens von Bedenken nur scheinbar einen Verfahrensschutz für den Angrenzer. Voraussetzung für einen wirksamen Schutz wäre, daß sich der Angrenzer innerhalb der Frist zum Vorbringen der Bedenken ein Bild von dem geplanten Bauvorhaben machen kann und weiß, ob seine rechtlich geschützten Interessen betroffen werden. Da der Nachbar nur die Bauvorlagen einsehen kann, was für einen nicht fachkundigen Bürger in der Regel nicht ausreichen wird, um sich ein ausreichendes Bild von dem Bauvorhaben zu verschaffen, und der Nachbar selbst prüfen muß, ob die nachbarschützenden Vorschriften eingehalten werden, sind diese Voraussetzungen nicht gegeben. c) Ergebnis zur Verfahrensbeteiligung Im Kenntnisgabeverfahren werden die möglicherweise betroffenen Angrenzer im Vergleich zum Genehmigungsverfahren nur in geringem Umfang in den Verfahrensablauf einbezogen. Sonstige Nachbarn sind von dem Verfahrensablauf vollständig ausgeschlossen. Der Bauherr kann im Kenntnisgabeverfahren mit der Bauausführung beginnen, ohne daß die Angrenzer und Nachbarn ihre Interessen effektiv in einen Entscheidungsfindungsprozeß einbringen können.

361 Vgl. Sauter , Landesbauordnung für Baden-Württemberg, 3. Auflage, § 55, Rdn. 4.

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5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

3. Ergebnis zum Nachbarschutz durch das Kenntnisgabeverfahren Mit der Einfuhrung des Kenntnisgabeverfahrens entfallt der Gundrechtsschutz des Genehmigungsverfahrens. Die Abschaffung der präventiven staatlichen Kontrolle bedeutet für den Nachbarn den Verlust des bisher wichtigsten Mechanismus bauordnungsrechtlichen Nachbarschutzes. Aufgrund der fehlenden Beteiligung an einem Entscheidungsprozeß können die Nachbarn ihre Rechte auch nur sehr eingeschränkt selbst verteidigen. B. Rechtsschutzverkürzung durch das Opportunitätsprinzip Im Kenntnisgabeverfahren wird dem Bauherrn keine Baugenehmigung erteilt. Diese Verfahrensänderung hat über die weitgehende Abschaffung des Verfahrensschutzes im Ausgangsverfahren hinaus wesentliche Konsequenzen für den Schutz des Nachbarn. Nachbarschutz ist nicht mehr auf die Beseitigung einer eingreifenden Baugenehmigung gerichtet, sondern der Nachbar bedarf eines aktiven Schutzes durch die Behörde. Im Folgenden wird analysiert, inwieweit der Nachbarschutz dadurch verkürzt wird, daß der Nachbar nicht durch die bloße Anfechtung der Baugenehmigung, sondern erst bei einer Verpflichtung der Behörde zu einem schützenden Handeln sein Rechtsschutzziel erreichen kann. Ausgehend von dem Rechtsschutz, der an die Baugenehmigung anknüpft, wird differenziert zwischen dem präventiven Nachbarschutz, der darauf gerichtet ist, daß eine nachbarrechtsverletzende Bausubstanz nicht geschaffen wird (1.), und dem repressiven Schutz des Nachbarn, bei dem eine bereits eingetretene Verletzung der Nachbarrechte durch die Errichtung eines Bauwerks oder einzelner Bauteile wieder beseitigt werden soll (2.). 1. Präventiver Schutz des Nachbarn vor Beeinträchtigungen durch die Errichtung eines nachbarrechtsverletzenden Bauwerks α) Ν achbar schütz im Genehmigungsverfahren der nachbarrechtliche Genehmigungsabwehranspruch Im Genehmigungsverfahren ist das Bestehen einer wirksamen Baugenehmigung die rechtliche Voraussetzung für die Verwirklichung des Bauvorhabens durch den Bauherrn. Erst mit der Genehmigungserteilung erlischt das präventive Bauverbot. Werden Nachbarrechte von dem Regelungsgehalt der

Β. Rechtsschutzverkürzung durch das Opportunitätsprinzip

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Baugenehmigung berührt und wird dadurch in die Rechte des Nachbarn eingegriffen, so ist die Baugenehmigung ein Verwaltungsakt mit belastender Drittwirkung 362 . Der Nachbar, der sich durch die Erteilung der Baugenehmigung in seinen Rechten verletzt sieht, kann gegen den an den Bauherrn gerichteten, ihn belastenden Verwaltungsakt Widerspruch und Anfechtungsklage erheben 363. Sofern der Nachbar mit seinem Rechtsmittel durchdringt, wird die Baugenehmigung aufgehoben 364. Nachbarwiderspruch und Nachbarklage sind begründet, wenn die Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist und den Nachbarn in seinen subjektiven Rechten verletzt (§113 Abs. 1 S. 1 VwGO) 365 . Dies ist der Fall, wenn die verletzte Norm drittschützend ist, d.h. daß die Norm nach der Schutznormtheorie366 (auch) der Rücksichtnahme auf individuelle Interessen dient und somit den Schutz der Interessen des rechtsschutzsuchenden Nachbarn gebietet367. Dabei kommt es nicht darauf an, wie schwer die rechtswidrige Baugenehmigung den Nachbarn tatsächlich trifft 368 . Vielmehr ist die rechtswidrige Baugenehmigung bei jeder auch noch so geringen Verletzung der Nachbarrechte aufzuheben 369. Mit der Aufhebung der Baugenehmigung lebt das (präventive) Bauverbot wieder auf. Das bedeutet, daß dem Bauherrn die Verwirklichung des nachbarrechtsverletzenden Bauvorhabens bereits formell verboten ist.

362 So die allgemeine Meinung, vgl. BVerwG, N V w Z 1983, 285 (285); Breuer, DVB1. 1983, 431 (431); Steinberg, NJW 1984, 457 (462); Schoch, Vorläufiger Rechtsschutz und Risikoverteilung im Verwaltungsrecht, S. 352. 363 BVerwGE 22, 129 (130 ff.). Aus der Rechtsprechung des Preußischen OVG, das die gegen die Baugenehmigung gerichtete Baunachbarklage noch als unzulässig aufgefaßt hat, vgl. PrOVGE 2, 351 (354 f.); 14, 378 (378 ff.); 61, 175 (177 ff.); 70, 377 (379); 78, 257 (359). Zur Entwicklung der öffentlichrechtlichen Nachbarklage siehe Kleinlein, Das System des Nachbarrechts, S. 2 ff. 364 Vgl. dazu Horn, D Ö V 1990, 864 (864 ff.); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Auflage, § 10, Rdn. 26. 365 Dürr, Baurecht, 8. Auflage, Rdn. 307; Jacob, BauR 1984, 1 (1); Mampel, BauR 1993, 44 (48); Schlichter, N V w Z 1983, 641 (641). 366 Zur Schutznormtheorie vgl. Ortloff\ in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band II, 3. Auflage, S. 182 ff. m.w.N.; Schmidt-Aßmann, in: MaunzDürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4, Rdn. 127 f. m.w.N.; Wahl, JuS 1984, 577 (579 f.) m.w.N.; Schlichter, N V w Z 1983, 641 (643). 367 BVerwG, N V w Z 1987, 409 (409); Dürr, Baurecht, 8. Auflage, Rdn. 307; Wahl, JuS 1984, 577 (579). 368 BVerwG, N V w Z 1985, 39 (39); Jacob, BauR 1984, 1 (1 ff.); Ortloff, in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band II, 3. Auflage, S. 226. 369 Jacob, BauR 1984, 1 (4); Mampel, BauR 1993, 44 (48); Schmaltz, NdsVBl. 1995, 241 (246). 7 Kruhl

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

98

Im Genehmigungsverfahren wird dem Nachbarn folglich durch den an die Genehmigungserteilung anknüpfenden Genehmigungsabwehranspruch 370, der gleichsam als die nachbarrechtliche Seite der Genehmigung dem Genehmigungsanspruch des Bauherrn gegenübersteht 371, umfassender Schutz gewährleistet. Über den Genehmigungsabwehranspruch kann der Nachbar die Verletzung seiner Nachbarrechte unabhängig von der Intensität der Rechtsbeeinträchtigung effektiv verhindern. Die Baugenehmigung, an die der Nachbarschutz anknüpft, hat für den Nachbarn daher eine wichtige Rechtsschutzfunktion 372 . Die Anfechtung der Baugenehmigung stand folglich bisher auch im Vordergrund des Rechtsschutzes des Nachbarn gegen die Beeinträchtigung durch nachbarrechtsverletzende Bauvorhaben 373. b) Rechtsschutzverkürzung durch Ermessensentscheidung im Kenntnisgabeverfahren Im Kenntnisgabeverfahren fehlt dem Nachbarn die Baugenehmigung als Anfechtungsgegenstand. Mit dem Wegfall des Genehmigungserfordernisses im Kenntnisgabeverfahren wird dem Nachbarn der Schutz entzogen, der ihm durch den Genehmigungsabwehranspruch vermittelt wurde. Verwaltungsrechtlicher Schutz knüpft im Kenntnisgabeverfahren nicht an den in der Baugenehmigung verkörperten staatlichen Rechtsakt an, sondern ist auf die Verhinderung der erwarteten Beeinträchtigung durch das Bauvorhaben selbst gerichtet. Begehrt der Nachbar verwaltungsrechtlichen Schutz, muß er einen Antrag auf bauordnungsrechtliches Einschreiten der Baurechtsbehörde stellen, wenn er verhindern will, daß durch die Errichtung des Bauwerks seine Position beeinträchtigt wird oder durch die weitere Bauausführung eine Schadensvertiefung eintritt. Für die baurechtliche Gefahrenabwehr gilt das Opportunitätsprinzip, d.h. der Erlaß bauordnungsrechtlicher Maßnahmen gegen den Störer steht im

370

Zum Begriff des Genehmigungsabwehranspruchs siehe Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, in: Festgabe zum 25jährigen Bestehen des Bundesverwaltungsgerichts, 1978, 89 (108); Steinberg, NJW 1984, 457 (461), Jäde, ZfBR 1996,241 (253). 371 Steinberg, NJW 1984, 457 (461). 372 Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (4). Zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Genehmigungsabwehranspruchs in Art. 19 Abs. 4 GG vgl., Kleinlein, Das System des Nachbarrechts, S. 5; Steinberg, NJW 1984, 457 (461 ). 373 Breuer, DVB1. 1983, 431 (431, 434).

Β. Rechtsschutzverkürzung durch das Opportunitätsprinzip

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pflichtgemäßen Ermessen der Baurechtsbehörde 374. Ein Anspruch des Nachbarn auf bauordnungsrechtliches Einschreiten der Baurechtsbehörde gegen den Bauherrn besteht daher nur dann, wenn das Ermessen der Baurechtsbehörde auf Null reduziert ist 375 . Werden nachbarschützende Normen verletzt, hat der Nachbar, der als Begünstigter von dem Regelungsgehalt der drittschützenden Norm erfaßt wird, zunächst nur einen Anspruch darauf, daß die Behörde über seinen Antrag auf Einschreiten ermessensfehlerfrei entscheidet376. Mit dem Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung kann der betroffene Bürger die Einhaltung der Ermessensgrenzen der Behörde durchsetzen. Der Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung bewirkt jedoch grundsätzlich keine Verpflichtung der Behörde zu einen bestimmten Handeln. Vielmehr wird mit dem Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung die bestehende objektive Pflicht der Verwaltung zu rechtmäßigem Handeln versubjektiviert und als subjektiv-öffentliches Recht ausgestaltet. Der Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung kann sich zu einem Anspruch auf ein bestimmtes Verwaltungshandeln verdichten, wenn die rechtlich gegebene Ermessensfreiheit derart zusammengeschrumpft ist, daß nur eine einzige ermessensfehlerfreie Entscheidung denkbar ist 377 . Da ein Anspruch des Nachbarn gegen die Baurechtsbehörde auf bauordnungsrechtliches Einschreiten im Kenntnisgabeverfahren nur bei einer Ermessensreduzierung besteht, bemißt sich die Effektivität des Nachbarschutzes nach den Anforderungen, die an die Ermessensreduzierung zu stellen sind.

374

Ortloff.;

in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band II, 3. Auflage,

S. 212. 375 BVerwGE 1 1, 95 (97). Zur terminologischen Differenzierung zwischen der Ermessensreduzierung auf N u l l bei Anknüpfung an den verbleibenden Ermessensspielraum und der Ermessensreduzierung auf Eins, wenn auf die allein verbleibende Entscheidungsmöglichkeit abgestellt wird, vgl. v.Mutius, Jura 1987, 92

(100). 376

So die ganz herrschende Meinung, vgl. OVG Berlin, NJW 1983, 777 (778); OVG Bremen, N V w Z 1991, 1006 (1007); V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1992, 148 (149); V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1993, 19 (19); Manssen, N V w Z 1996, 144 (146); Sarnighausen, NJW 1993 1623 (1624). 377 BVerwGE 11, 95 (97).

100

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

aa) Anforderungen der herrschenden Meinung an eine Ermessensreduzierung auf Null bei einem Antrag auf Einschreiten Nach einer früher teilweise vertretenen Auffassung kommt eine Ermessensreduzierung, die einen Anspruch auf Einschreiten begründet, nur bei einer Gefährdung oder Beeinträchtigung hochrangiger Rechtsgüter, also insbesondere von Leben und Gesundheit, nicht aber bei einer Eigentumsbeeinträchtigung in Betracht 378 . Diese Auffassung konnte sich im Baurecht jedoch nicht durchsetzen. Vielmehr ist davon auszugehen, daß sich eine Ermessensreduzierung auch aus einer Beeinträchtigung des Eigentums ergeben kann 379 . Eine Ermessensreduzierung wird bei Eigentumsbeeinträchtigungen von der herrschenden Meinung jedoch nur bei einer starken Beeinträchtigung angenommen. In seinem grundlegenden Urteil zur Ermessensreduzierung bei Verstößen gegen nachbarschützendes öffentliches Baurecht hatte das Bundesverwaltungsgericht 380 festgestellt, daß Ausmaß und Schwere der Störung oder Gefährdung maßgebende Bedeutung für eine rechtsfehlerfreie Ermessensausübung haben. Voraussetzung für eine Ermessensreduzierung war nach der Auffassung des Gerichts eine hohe Intensität der Störung oder Gefährdung 381. Das Erfordernis einer hohen Intensität der negativen Auswirkungen für den Nachbarn durch das rechtswidrige Bauvorhaben entspricht seitdem der weit überwiegenden Auffassung 382. Es wird daher ein Anspruch des Nachbarn nur bei besonders schwerwiegenden baurechtswidrigen Zuständen 383 , hoher Störungsintensität 384 , gravierenden Auswirkungen 385 , unerträglichen Belästigun-

378

V G Berlin, NJW 1981, 1748 (1749). So ausdrücklich OVG Berlin, NJW 1983, 777 (777), mit der Begründung, daß ansonsten eine Ermessensreduzierung im Baurecht praktisch ausgeschlossen sei. Siehe auch V G H Bayern, BRS 28, Nr. 161, 331 (332); OVG NordrheinWestfalen, BRS 25, Nr. 194, 322 (324). 380 BVerwGE 11, 95 (95 ff.) -Bandsägeurteil-. 381 BVerwGE 11, 95 (97). 382 Vgl. V G H Bayern, BRS 28, Nr. 161, 331 (332); V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1992, 103 (104); V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1993, 19 (19); OVG Bremen, N V w Z 1991, 1006 (1007); OVG Berlin, NJW 1993, 777 (777); V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1992, 148 (149); BVerwG Beschl. v. 24.05.1988, Buchholz 406.19, Nachbarschutz Nr. 80; Simon, BayVBl. 1994, 332 (338); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7, Rdn. 24; Hoppe/Grotefels, Öffentliches Baurecht, § 17 Rdn. 68. Kritisch dazu Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 400 f. mit ausführlichen Nachweisen zur herrschenden Meinung. 383 V G H Bayern, BRS 28, Nr. 161, 331 (332). 384 V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1993, 19 (19). 385 OVG Bremen, N V w Z 1991, 1006 (1007). 379

Β . Rechtsschutzverkürzung durch das Opportunitätsprinzip

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gen 386 , unzumutbaren Beeinträchtigungen 387 oder schwerer und unerträglicher Betroffenheit 388 angenommen. bb) Ergebnis zum präventiven Nachbarschutz bei Zugrundelegung der bisher herrschenden Meinung Bei Zugrundelegung der Anforderungen der bisher herrschenden Meinung an eine Ermessensreduzierung hat der Nachbar im Kenntnisgabeverfahren nur bei einer hohen Störungsintensität einen Anspruch auf baupolizeiliches Einschreiten. Sofern sich vor oder während der Bauausführung herausstellt, daß der Nachbar durch das Bauvorhaben in seinen Rechten verletzt wird, wäre die Baurechtsbehörde daher nur in Ausnahmefällen verpflichtet, den Baubeginn bzw. die weitere Bauausführung zu untersagen. c) Ergebnis Im Vergleich zum Genehmigungsverfahren, bei dem jede rechtswidrige Baugenehmigung, die den Nachbarn in seinen Rechten verletzt, nach zulässiger Erhebung eines Rechtsmittels des Nachbarn aufzuheben ist, besteht im Kenntnisgabeverfahren ein Anspruch des Nachbarn auf Untersagung des Baubeginns nur bei einer Ermessensreduzierung. Während also der Nachbar im Genehmigungsverfahren mit dem Genehmigungsabwehranspruch jede Verletzung seiner Nachbarrechte unabhängig von ihrer Intensität präventiv abwehren konnte, bestünde ein präventiver verwaltungsrechtlicher Nachbarschutz im Kenntnisgabeverfahren nur bei einer hohen Störungsintensität. Im Vergleich zum Genehmigungsverfahren ist der Nachbar im Kenntnisgabeverfahren bei Zugrundelegung der bisher herrschenden Meinung weitgehend schutzlos gestellt. 2. Repressiver Schutz des Nachbarn gegen die unter Verletzung der Nachbarrechte geschaffene Bausubstanz Wird im Kenntnisgabeverfahren eine nachbarrechtsverletzende Bausubstanz geschaffen oder wird eine nachbarrechtsverletzende Baugenehmigung

386 387 388

OVG Berlin, NJW 1993, 777 (777). V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1992, 148 (149). BVerwG Beschl. v. 24.05.1988, Buchholz 406.19, Nachbarschutz Nr. 80.

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5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

vor ihrer Aufhebung ausgenutzt, kann die Beeinträchtigung des Nachbarn nur durch die Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes aufgehoben werden. Ein effektiver Nachbarschutz setzt folglich den Erlaß einer entsprechenden Abbruchsverfügung bzw. Nutzungsuntersagung voraus 389 . Begehrt der Nachbar die Beseitigung der nachbarrechtsverletzenden Bauteile oder des fertiggestellten Bauwerks bzw. eine Nutzungsuntersagung, so steht die Entscheidung über den Erlaß einer entsprechenden Verfügung ebenso wie die vorstehend erörterte Baubeginnuntersagung bzw. Baueinstellungsverfügung im Ermessen der Baurechtsbehörde. Ein Anspruch auf bauaufsichtsrechtliches Einschreiten besteht daher nur bei einer Ermessensreduzierung auf Null. Die Effektivität des Nachbarschutzes richtet sich folglich auch hier nach den Anforderungen, die an eine Ermessensreduzierung zu stellen sind. a) Die Rechtslage bei nachträglicher Auftiebung der nachbarrechtsverletzenden Baugenehmigung Wenn eine bereits ausgenutzte rechtswidrige Baugenehmigung auf das Rechtsmittel des Nachbarn hin oder auf Initiative der Baurechtsbehörde aufgehoben wird und der Nachbar durch das Bauwerk in seinen Rechten verletzt wird, geht die herrschende Meinung von einer staatlichen Verantwortlichkeit für die entstandene Beeinträchtigung aus, die die Baurechtsbehörde grundsätzlich zur Beseitigung des baurechtswidrigen, nachbarrechtsverletzenden Zustandes verpflichtet. Als Grundlage für die Pflicht des Staates zur Beseitigung des baurechtswidrigen, nachbarrechtsverletzenden Zustandes wird hier der Folgenbeseitigungsanspruch herangezogen 390. Grundgedanke des Folgenbeseitigungsan389 Schoch, Vorläufiger Rechtsschutz und Risikoverteilung im Verwaltungsrecht, S. 343. 390 V G H Bayern, BayVBl. 1977, 340 (340); V G H Bayern, BayVBl. 1980, 117 (118); OVG Saarland, N V w Z 1983, 685 (685); OVG Nordrhein-Westfalen, BRS 25, Nr. 194, 322 (324); OVG Nordrhein-Westfalen, BRS 39, Nr. 178, 370 (370 f.); OVG Bremen, N V w Z 1991, 1006 (1007); OVG Niedersachsen, DVB1. 1962, 418 (420); O V G Niedersachsen, DVB1. 1975, 915 (917 f.); OVG Niedersachsen, BauR 1982, 147 (148); OVG Niedersachsen, BRS 48, Nr. 191, 451 (452 f.); Schenke, DVB1. 1990, 328 (328 ff.); Schoch, Jura 1993, 478 (485); ders., Vorläufiger Rechtsschutz und Risikoverteilung im Verwaltungsrecht, S. 350 ff.; Brohm, Öffentliches Baurecht, S. 455 f.; Schnapp, DVB1. 1969; 596 (598); Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 625; Hoppe, in: Ernst/Hoppe, Das öffentliche Bau- und Bodenrecht, Raumplanungsrecht, Rdn. 461; Obermayer, JuS 1963, 110 (113); Bender/Dohle, Nachbarschutz im Z i v i l - und Verwaltungs-

Β. Rechtsschutzverkürzung durch das Opportunitätsprinzip

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spruchs ist, daß der durch Staatshandeln geschaffene rechtswidrige Zustand beseitigt werden muß und dadurch die rechtmäßige Situation wiederhergestellt wird 3 9 1 . Sofern die rechtswidrige Baugenehmigung ausgenutzt wird, ist die Baurechtsbehörde daher nach der Aufhebung der Baugenehmigung bei Zugrundelegung des Folgenbeseitigungsgedankens grundsätzlich verpflichtet, die Folgen ihres rechtswidrigen Handelns rückgängig zu machen, also die Beeinträchtigung des Nachbarn durch das Bauwerk zu beseitigen. In dem hier vorliegenden Dreiecksverhältnis bedeutet dies, daß die Baurechtsbehörde eine entsprechende Anordnung gegen den Bauherrn erlassen müßte. Die Entscheidung, ob und wie die Behörde gegen den Bauherrn vorgeht, steht jedoch nach der gesetzlichen Regelung in §§ 47, 64, 65 LBO grundsätzlich im Ermessen der Behörde. Es wird daher von der herrschenden Meinung eine Ermessensreduzierung aufgrund des Folgenbeseitigungsanspruchs angenommen392. Uneinigkeit besteht innerhalb der herrschenden Meinung lediglich darüber, ob der Folgenbeseitigungsanspruch des Nachbarn so stark wiegt, daß das Ermessen auf Null reduziert ist und die Behörde den rechtswidrigen, nachbarrechtsverletzenden Zustand zwingend beseitigen muß, 393 oder ob trotz der Anwendung des Folgenbeseitigungsgedankens Raum für Ermessenserwägungen verbleibt und die Folgenbeseitigungslast nur einen (gewichtigen) Faktor bei den Ermessenserwägungen bildet 394 .

recht, Rdn. 423; Battis , Öffentliches Baurecht- und Raumordnungsrecht, S. 312 f.; Steinberg, NJW 1984, 457 (463). Differenzierend: Weyreuther, Empfiehlt es sich, die Folgen rechtswidrigen hoheitlichen Verwaltungshandelns gesetzlich zu regeln ?, Gutachten Β zum 47. DJT, S. 106 ff., der nicht den Folgenbeseitigungsanspruch zugrundelegt, sondern auf das Vorliegen einer Folgenbeseitigungslast bei der Behörde abstellt. 391 Vgl. BVerwG, NJW 1989, 2272 (2277); BVerwGE 69, 333 (370 ff.); Schoch, Folgenbeseitigung und Wiedergutmachung im Öffentlichen Recht, VerwArch 79 (1988), 1 (43). 392 Demgegenüber wird von Schenke, DVB1. 1990, 328 (328 ff.) eine unmittelbare Anwendung des Folgenbeseitigungsanspruchs angenommen. 393 Zur Annahme einer regelmäßigen Beseitigungspflicht vgl. O V G Saarland, N V w Z 1983, 685; OVG Nordrhein-Westfalen, BRS 25, Nr. 194, 322 (324); O V G Nordrhein-Westfalen, BRS 39, Nr. 178, 370 (370); V G H Bayern, BayVBl. 1977, 340 (340); V G H Bayern, BayVBl. 1980, 117 (118); OVG Bremen, N V w Z 1991, 1006 (1007); Schnapp, DVB1. 1969; 596 (598); Drews/ Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 625; Hoppe, in: Ernst/Hoppe, Rdn. 461; Obermayer, JuS 1963, 110 (113); Bender/Dohle, Nachbarschutz im Z i v i l - und Verwaltungsrecht, Rdn. 423. 394 BVerwG, Buchholz 406.19, Nachbarschutz Nr. 46; OVG Niedersachsen, DVB1. 1962, 418 (420); OVG Niedersachsen, DVB1. 1975, 915 (917 f.); OVG Niedersachsen, BauR 1982, 147 (148); OVG Niedersachsen, BRS 48, Nr. 191, 451 (452 f.); Weyreuther, Empfiehlt es sich, die Folgen rechtswidrigen hoheitli-

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5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

b) Die Rechtslage im Kenntnisgabeverfahren Wesentliches Element des Kenntnisgabeverfahrens ist die Übertragung staatlicher Prüfaufgaben auf Private. Mit der Privatisierung entfällt der Ansatzpunkt der herrschenden Meinung für eine staatliche Haftung für die Folgen fehlerhafter Prüftätigkeit. Der Folgenbeseitigungsgedanke kann daher im Kenntnisgabeverfahren bereits aus diesem Grund nicht zur Anwendung kommen. Daraus folgt, daß sich die Anforderungen, die an eine Ermessensreduzierung zu stellen sind, aus den allgemeinen Grundsätzen über die Ermessensreduzierung ergeben. Der Nachbar hat folglich bei Zugrundelegung der herrschenden Meinung nur dann einen Anspruch auf Beseitigung des nachbarrechtsverletzenden Bauwerks bzw. auf Untersagung der Nutzung, wenn eine hohe Störungsintensität gegeben ist und der Nachbar dadurch unzumutbar beeinträchtigt wird. c) Ergebnis Bei Zugrundelegung der herrschenden Meinung ist der Nachbar bei im Genehmigungsverfahren errichteten Bauwerken aufgrund der Folgenbeseitigungspflicht im Falle der Ausnutzung einer rechtswidrigen, nachträglich aufgehobenen Baugenehmigung in weitem Umfang geschützt. Die Baurechtsbehörde ist regelmäßig verpflichtet, gegen die eingetretene Störung einzuschreiten. Im Kenntnisgabeverfahren ist die Baurechtsbehörde dagegen bei Zugrundelegung der Anforderungen der herrschenden Meinung an eine Ermessensreduzierung nur in Ausnahmefallen verpflichtet, die Beseitigung des nachbarrechtsverletzenden Zustandes zu verfügen. Der Nachbar ist daher im Kenntnisgabeverfahren auch auf der Ebene des repressiven Nachbarschutzes praktisch schutzlos.

chen Verwaltungshandelns gesetzlich zu regeln ?, Gutachten Β zum 47. DJT, S. 111; Battis , Öffentliches Baurecht- und Raumordnungsrecht, S. 312 f.; Brohm, Öffentliches Baurecht, S. 456; Schoch, Jura 1993, 478 (485); ders., Vorläufiger Rechtsschutz und Risikoverteilung im Verwaltungsrecht, S. 350 ff.; Steinberg, NJW 1984, 457 (463); Sarnighausen, NJW 1993, 1623 (1627 f.).

C. Vorläufiger Rechtsschutz im Kenntnisgabe verfahren

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3. Ergebnis zum Nachbarschutz im Kenntnisgabeverfahren bei einem Antrag auf baupolizeiliches Einschreiten Auf der Grundlage der Anforderungen der bisher herrschenden Meinung an eine Ermessensreduzierung ist der Nachbar im Kenntnisgabeverfahren sowohl auf der präventiven als auch auf der repressiven Ebene weitgehend schutzlos gestellt. Effektiver Eigentumsschutz wird dem Nachbarn nur bei einer qualifizierten Störungsintensität gewährleistet. Beeinträchtigungen, die unterhalb der Schwelle einer schweren unzumutbaren Belastung erfolgen, kann der Nachbar nicht mehr zuverlässig verhindern, eingetretene Störungen nicht zuverlässig beseitigen. C. Vorläufiger Rechtsschutz des Nachbarn im Kenntnisgabeverfahren Dem vorläufigen Rechtsschutz kommt in baunachbarrechtlichen Streitigkeiten ein besonders hoher Stellenwert zu 395 . Für den Nachbarn geht es darum, durch die Erlangung frühzeitigen Rechtsschutzes die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern 396 . Die besondere Bedeutung des vorläufigen Rechtsschutzes ergibt sich dabei aus der Erkenntnis, daß die Effektivität des Rechtsschutzes maßgeblich von dem Zeitpunkt abhängig ist, in dem Maßnahmen zur Sicherung der Rechtsposition des Nachbarn getroffen werden 397 . Die Rechtsverteidigung des Nachbarn wird um so schwerer, je weiter der belastende Bau voranschreitet 398. Nach der Fertigstellung des Bauvorhabens stehen der Herstellung rechtmäßiger Zustände vielfach tatsächliche und rechtliche Hindernisse entgegen399.

395 Schoch, Vorläufiger Rechtsschutz und Risikoverteilung im Verwaltungsrecht, S. 342. 396 BVerfG 35, 263 (274). 397 Schoch, Vorläufiger Rechtsschutz und Risikoverteilung im Verwaltungsrecht, S. 342; Korbmacher, VB1BW 1981, 97 (101). 398 Korbmacher, VB1BW 1981, 97 (101). 399 Siehe dazu unten, 5. Kap., I la.

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5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

1. Konsequenzen der Verfahrensänderung für den vorläufigen Rechtsschutz Im räumlichen Anwendungsbereich des Kenntnisgabeverfahrens korrespondiert mit der Ablösung des Genehmigungsverfahrens die Veränderung des Nachbarschutzes im vorläufigen Rechtsschutz. Vorläufiger Rechtsschutz richtet sich im Kenntnisgabeverfahren nicht nach § 80a VwGO, sondern nach § 123 VwGO, da eine Baugenehmigung nicht erteilt wird 4 0 0 . Will der Nachbar verhindern, daß eine rechtswidrige, nachbarrechtsverletzende Bausubstanz geschaffen wird, muß er den Erlaß einer einstweiligen Anordnung gem. § 123 Abs. 1 VwGO erwirken. Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist begründet, wenn Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft gemacht sind. Der Nachbar muß glaubhaft machen, daß ein Anspruch auf Erlaß rechtssichernder Maßnahmen besteht. Der Erlaß der begehrten Maßnahme steht im Ermessen der Baurechtsbehörde. Der Nachbar muß folglich glaubhaft machen, daß das Ermessen der Baurechtsbehörde bei der Entscheidung über ein Einschreiten gegen den Bauherrn auf Null reduziert ist 401 . Die Glaubhaftmachung einer Ermessensreduzierung war dem Nachbarn bislang jedoch nur in Ausnahmefällen möglich 402 . Bei Ermessensentscheidungen der Baurechtsbehörde wurde einstweiliger Rechtsschutz folglich bisher regelmäßig verneint 403 . Die Problematik des fehlenden Genehmigungsabwehranspruchs und des Ermessens der Baurechtsbehörde bei einem Antrag auf präventives Einschreiten spiegelt sich daher im vorläufigen Rechtsschutz wieder. Während der Nachbar im vorläufigen Rechtsschutz gegen die Baugenehmigung nach § 80a VwGO bei der Verletzung nachbarschützender Bauvorschriften Erfolg hat und dadurch die Verwirklichung des Bauvorhabens verhindern kann, muß er im Kenntnisgabeverfahren zusätzlich eine Ermessensreduzierung auf Null glaubhaft machen. Aus der materiellrechtlichen Problematik der anspruchsbegründenden Tatbestandsvoraussetzungen folgt daher die Problematik der rechtzeitigen prozessualen Sicherung der Nachbarrechte. 400

LT-Drs. 11/5337, S. 111. So die herrschende Meinung, vgl. BVerwGE 63, 110 (112). Vgl. dazu auch Schoch, Vorläufiger Rechtsschutz und Risikoverteilung im Verwaltungsrecht, S. 1673 ff. m.w.N., der das subjektiv öffentliche Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung als zu sichernden Anordnungsanspruch auffaßt. Zustimmend Brühl, JuS 1995, 916 (919). 402 Vgl. Pfaff VB1BW 1996, 281 (285). 403 Ruf \ Die neue Bauordnung in Baden-Württemberg, § 51, Rdn. 8. 401

C. Vorläufiger Rechtsschutz im Kenntnisgabe verfahren

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2. Risiko von Schadensersatzansprüchen gem. § 945 ZPO ? Durch den Wechsel des einschlägigen vorläufigen Rechtsschutzes von § 80a zu § 123 VwGO könnte die Rechtsposition des Nachbarn zusätzlich durch das Risiko eines Schadensersatzanspruchs des Bauherrn gem. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 945 ZPO belastet sein. Die Konsequenz wäre eine weitere faktische Verkürzung des Nachbarschutzes gegenüber dem Rechtsschutz des Nachbarn im Genehmigungsverfahren, da die Entscheidung des Nachbarn über einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung maßgeblich durch das Haftungsrisiko mitbestimmt würde. Das Haftungsrisiko des Nachbarn wäre dabei sowohl vom Haftungsumfang als auch hinsichtlich der Überschaubarkeit der Erfolgsaussichten als erheblich einzustufen. Ob der Nachbar im Falle eines Unterliegens im Hauptsacheverfahren dem Bauherrn gem. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 945 ZPO schadensersatzpflichtig ist, ist umstritten 404 . Kernpunkt des Meinungsstreites ist die Frage, ob der Bauherr als Beigeladener gem. § 65 VwGO auch Gegner i.S.d. § 945 ZPO ist. Die Befürworter einer Anwendbarkeit von § 945 ZPO argumentieren vor allem mit der Stellung des Beigeladenen im Verfahren, die es rechtfertige, den (notwendig) Beigeladenen als Gegner des Antrags auf Erlaß der einstweiligen Anordnung aufzufassen 405. Des weiteren werden rechtspolitische Bedenken gegen eine fehlende Haftung des Antragstellers angeführt 406. Zusätzlich wird darauf hingewiesen, daß die Unanwendbarkeit von § 945 ZPO auf den Beigeladenen dem Hinweis von § 123 Abs. 3 VwGO auf § 945 ZPO die Bedeutung nehmen würde 407 . Die Annahme einer Schadenersatzpflicht des Antragstellers eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens gegenüber dem Beigeladenen aus § 945 ZPO

404 Die Anwendbarkeit von § 945 ZPO ablehnend: BGH, DVB1. 1962, 217 (218 ff.); BGH, DVB1. 1981, 28 (29 ff.); OVG Bremen, BauR 1985, 300 (303); Würtenberger, Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 241; Schoch, in: Schoch/SchmidtAßmann/Pietzner, VwGO, § 123 Rdn. 200; Wahl, JuS 1984, 577 (581); Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 3. Auflage, S. 153; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, § 945, Rdn. 19; Borges, D Ö V 1997, 900 (904). Zur Gegenauffassung siehe: Sauter , Landesbauordnung für Baden-Württemberg, 3. Auflage, § 55, Rdn. 105; Grunsky, JuS 1982, 177 (177 ff.); Redeker, DVB1. 1962, 220 (220 f.). 405 Vgl. statt vieler: Redeker, DVB1. 1962, 220 (220 f.). 406 Bender/Dohle, Nachbarschutz im Zivil- und Verwaltungsrecht, Rdn. 130; Grunsky, JuS 1982, 177 (181); Redeker, DVB1. 1962, 220 (221). 407 Redeker, DVB1. 1962, 220 (221).

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5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

stößt jedoch auf Bedenken. Gem. § 945 ZPO hat der Gegner der Anordnung einen Schadensersatzanspruch gegenüber der Partei, die die Anordnung erwirkt hat. Der beigeladene Bauherr ist aber nicht Gegner der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO. Gegner der Anordnung ist vielmehr das Land als Rechtsträger der Baurechtsbehörde bzw. die Gemeinde als untere Baurechtsbehörde. Durch die Beiladung wird der Bauherr auch nicht in die Rolle eines Verfahrensgegners versetzt, sondern er bleibt Drittbeteiligter 408 ; er kann weder über den Streitstoff verfugen noch kann er ein Anerkenntnis verhindern 409 , da ihm ein Widerspruchsrecht nicht zusteht. Dritte, die nicht Antragsgegner sind, gehören auch dann nicht zum Kreis der Anspruchsberechtigten aus § 945 ZPO, wenn sich die einstweilige Verfügung in deren Rechtskreis schädigend ausgewirkt hat 410 . In Betracht kommt daher allenfalls eine erweiternde Auslegung von § 945 ZPO dahingehend, daß der Beigeladene gleich dem Gegner der Anordnung zu behandeln ist. Dagegen spricht jedoch zunächst, daß es sich bei der Regelung des § 945 ZPO, in der ein materieller verschuldensunabhängiger Schadensersatzanspruch in Form eines Deliktsanspruchs im weiteren Sinn normiert ist 411 , um eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift handelt, die eine erweiternde Auslegung nicht zuläßt 412 . Durch die Anwendung der Regelung des § 945 ZPO würde zwischen den Privaten ein deliktsrechtliches Schuldverhältnis begründet, obwohl zwischen ihnen im Prozeß kein Rechtsverhältnis bestand413. Eine erweiternde Auslegung würde auch wegen der fehlenden Überschaubarkeit des Risikos eine erhebliche Rechtsunsicherheit bewirken, durch die der Antragsteller in seiner Rechtsverfolgung unangemessen behindert würde 414 . Des weiteren führt die einseitige Ausdehnung von Schadensersatzansprüchen des Bauherrn auf Anordnungen nach § 123 VwGO zu Wertungswidersprüchen gegenüber dem einstweiligen Rechtsschutz nach § 80a VwGO, bei dem Scha-

408

BGH, DVB1. 1962, 217 (219); BGH, DVB1. 1981, 28 (30). BGH, DVB1. 1981, 28 (30). 410 BGH, NJW 1994, 1413 (1416); Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozeßordnung, 20. Auflage, § 945, Rdn. 13 a. 411 BGH, DVB1. 1981,28 (29). 412 BGH, DVB1. 1962, 217 (219); Schoch, in: Schoch/SchmidtAßmann/Pietzner, VwGO, § 123 Rdn. 200. 413 Bothe, JZ 1975, 399 (405); Schoch, Vorläufiger Rechtsschutz und Risikoverteilung im Verwaltungsrecht, S. 1745. 4,4 Vgl. BGH, DVB1. 1981, 28 (29). 409

D. Zwischenergebnis

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densersatzansprüche nicht entstehen können 415 . Eine Schadensersatzpflicht des Nachbarn gegenüber dem Bauherrn gem. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 945 ZPO ist daher abzulehnen. 3. Ergebnis Zusammenfassend kann somit festgestellt werden, daß der Nachbar im Kenntnisgabeverfahren im Rahmen eines Antrags auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung eine Ermessensreduzierung auf Null glaubhaft machen muß und dadurch die frühzeitige präventive Verhinderung der Schaffung vollendeter Tatsachen erschwert wird. Eine faktische Verkürzung des Rechtsschutzes durch ein Schadensersatzrisiko ergibt sich aus der Änderung des vorläufigen Rechtsschutzes aber nicht. D. Zwischenergebnis Aus der weitgehenden Abschaffung des Verfahrensschutzes innerhalb des Kenntnisgabeverfahrens und der Beschränkung des Anspruchs auf Erlaß einer Baubeginnuntersagungsverfügung bzw. einer Baueinstellungsverfligung auf Ausnahmefalle mit besonderer Störungsintensität folgt, daß ein effektiver präventiver Nachbarschutz im Kenntnisgabeverfahren nicht mehr gewährleistet wird. Es hat sich ebenfalls gezeigt, daß ein effektiver repressiver Schutz bei Zugrundelegung der herrschenden Meinung nur in dem Ausnahmefall einer besonders starken Beeinträchtigung besteht. Würden also die bestehenden Grundsätze über den baurechtlichen Nachbarschutz auf das Kenntnisgabeverfahren übertragen, so wäre der Nachbar weder durch ein präventives Verfahren wirksam geschützt, noch könnte er durch einen Antrag auf bauordnungsrechtliches Einschreiten effektiv eine drohende Verletzung seiner Nachbarrechte verhindern oder eine bereits eingetretene Störung beseitigen. Ein effektiver öffentlich-rechtlicher Nachbarschutz wäre nicht mehr vorhanden.

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Würtenberger, Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 231; Ρ faff, VB1BW 1996, 281 (285). Aus diesem Widerspruch wird allerdings von Seilmann, NJW 1964, 1545 (1548), gefolgert, daß die Regelung von § 945 ZPO auch im Rahmen von § 80 VwGO heranzuziehen sei.

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5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

E. Der Meinungsstand zur Gewährleistung des Nachbarschutzes in den genehmigungsfreien Verfahren Über die Frage, in welchem Umfang der Staat zum Schutz der Nachbarrechte verpflichtet ist und ob die bestehenden Grundsätze hinsichtlich einer Rechtspflicht der Baurechtsbehörde zum Einschreiten gegen drohende oder bereits eingetretene Verletzungen der Nachbarrechte für die genehmigungsfreien Verfahren aufrechtzuerhalten sind, herrscht noch weitgehend Unklarheit. Die Unsicherheit über das administrativ zu gewährleistende Schutzniveau im Baunachbarrecht resultiert vor allem daraus, daß diese Frage bei der Novellierung der Bauordnungen aller Bundesländer weitgehend unbeachtet blieb. In der Begründung des Gesetzentwurfs für die Neufassung der Landesbauordnung Baden-Württemberg wird nur sehr unpräzise die Feststellung getroffen, daß sich das Kenntnisgabeverfahren nur auf die verfahrensmäßige Seite des Baugeschehens bezieht und die materiellrechtlichen Abwehrrechte des Nachbarn nicht berührt werden 416 . Die Verteidigung der materiellen Rechtsposition wird aber maßgeblich durch das Verfahren bestimmt. Zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen der Nachbar einen Anspruch auf bauordnungsrechtliches Einschreiten hat, wenn der Bauherr in den genehmigungsfreien Verfahren nachbarschützende Vorschriften verletzt, haben sich daher unterschiedliche Auffassungen herausgebildet, die im Folgenden näher zu erörtern sind.

1. Weiterer Rückzug der Baurechtsbehörde aus dem repressiven Nachbarschutz als Folge einer Grundentscheidung des Gesetzgebers Nach einer teilweise vertretenen Auffassung ergibt sich aus dem Abbau präventiver Kontrolle in den genehmigungsfreien Verfahren gleichzeitig eine Legitimation der Baurechtsbehörde für einen weiteren Rückzug aus dem repressiven Nachbarschutz 417. Eine Pflicht der Baurechtsbehörde zum Einschreiten gegen das nachbarrechtsverletzende Bauwerk besteht nach dieser Auffassung nicht bereits dann, wenn die bisherigen Anforderungen an eine Ermessensreduzierung bei einem Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften erfüllt sind, sondern die Schwelle, von der ab die Baurechtsbehörde im Interesse des Nachbarn einschreiten muß, verschiebt sich weiter zuungun-

416 417

LT-Drs. 11/5337, S. 110. Schmaltz , NdsVBl. 1995, 241 (246 f.); Manssen, N V w Z 1996, 144 (146).

E. Meinungsstand zum Nachbarschutz

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sten des Nachbarn 418 . Eine Ermessensreduzierung auf Null soll nach dieser Auffassung nur in Ausnahmefällen bei einem zwingenden "auch öffentlichen" Interesse angenommen werden können 419 . Der Nachbar ist nach dieser Auffassung ausreichend durch den zivilgerichtlichen Rechtsschutz geschützt420. Die Befürworter einer Verschärfung der Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung sehen in dem Abbau präventiver Kontrolle eine Grundentscheidung des Gesetzgebers, die Baurechtsbehörde aus ihrer Funktion als Schlichter des Nachbarschaftskonflikts zu entlassen421. Der Abbau des präventives Verfahrensschutzes sei ein legitimer Anlaß für die Baurechtsbehörde, sich auch auf der Ebene der repressiven Konfliktschlichtung zurückzuziehen 422 . Das Eingreifen der Baurechtsbehörde bei einem Verstoß gegen nachbarrechtliche Vorschriften des öffentlichen Rechts wird daher als "Einmischung" 423 aufgefaßt, die dem Ziel der Entbürokratisierung und Privatisierung des bauaufsichtlichen Verfahrens nicht entspricht 424 . Diese Auffassung muß jedoch auf erhebliche Bedenken stoßen. Der Abbau präventiver Kontrolle dient der Verfahrensbeschleunigung und der Entlastung der Verwaltung bei gleichzeitiger Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der am Bau Beteiligten. Eine weitere Grundentscheidung für einen Rückzug der Baurechtsbehörde aus der präventiven Konfliktschlichtung zwischen Bauherr und Nachbar liegt der Schaffung der genehmigungsfreien Verfahren nicht zugrunde. Der Rückzug aus dem nachbarrechtlichen Interessenkonflikt ist eine Folge des Verzichts auf eine präventive Kontrolle in einem Genehmigungsverfahren und nicht seine Grundlage. Die These von einer Grundentscheidung zu einem Rückzug der Baurechtsbehörde aus dem nachbarrechtlichen Interessenkonflikt wird für das Kenntnisgabeverfahren auch dadurch widerlegt, daß der Landesgesetzgeber in § 55 Abs. 3 S. 3 LBO die Möglichkeit des Vorbringens von Bedenken gegen das Bauvorhaben normiert hat und die Baurechtsbehörde gem. § 55 Abs. 3 S. 5 i.V.m. § 47 LBO eine Ermessensentscheidung über ein Einschreiten gegen den Bauherrn treffen muß, wenn sich die Beden-

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Schmaltz , NdsVBl. 1995, 241 (246 f.). Mans s en, N V w Z 1996, 144 (146) von einer geringeren anspruchsbegründenden Beeinträchtigungsintensität geht allerdings wohl Schmaltz , NdsVBl. 1995,241 (247) aus. 420 Manssen, N V w Z 1996, 144 (146); Schmaltz , NdsVBl. 1995, 241 (247). 421 Schmaltz , NdsVBl. 1995, 241 (247). 422 Schmaltz , NdsVBl. 1995, 241 (247). 423 Schmaltz, NdsVBl. 1995,241 (247). 424 Manssen, N V w Z 1996, 144 (146). 419

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5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

ken als stichhaltig erweisen 425. Auch wenn diese Verfahrensbeteiligung des Angrenzers nur einen schwachen Schutz bietet, zeigt die Normierung einer Pflicht zur Prüfung von Angrenzerbedenken, daß mit dem Abbau präventiver Kontrolle gerade keine Grundentscheidung für einen Rückzug der Baurechtsbehörde aus dem Nachbarkonflikt verbunden ist. Gegen diese Auffassung spricht des weiteren, daß, selbst wenn mit der Einführung der genehmigungsfreien Verfahren eine Grundentscheidung für einen Rückzug aus der präventiven Konfliktschlichtung verbunden wäre, sich diese Entscheidung nicht auf den repressiven Nachbarschutz übertragen ließe. Einen anerkannten Grundsatz, der eine solche Übertragung fordert, gibt es nicht 426 . Vielmehr ist im Gegenteil davon auszugehen, daß ein Rückzug aus der präventiven Kontrolle voraussetzt, daß dem Staat auf der repressiven Ebene alle Eingriffsbefügnisse erhalten bleiben und eine Verkürzung des präventiven Nachbarschutzes sich nur dann mit der Pflicht des Staates zum Schutz der Nachbarrechte vereinbaren läßt, wenn im Rahmen der allgemeinen Bauaufsicht ein effektiver Nachbarschutz möglich bleibt 427 . Gegen diese Auffassung spricht ferner, daß die Landesgesetzgeber die Frage, ob an den bisherigen Anforderungen für eine Ermessensreduzierung festzuhalten ist, wenn der Bauherr in den genehmigungsfreien Verfahren gegen nachbarschützende Vorschriften verstößt, nicht beantwortet haben. Die fehlenden Aussagen des Gesetzgebers über den administrativ zu gewährleistenden Schutz lassen jedoch nur zwei Folgerungen zu: zum einen, daß die bestehenden Anforderungen für eine Pflicht zum Einschreiten beibehalten werden sollen und eine dementsprechende Verkürzung des Nachbarschutzes mit der Verfahrensänderung intendiert war, und die umgekehrte Folgerung, daß eine substantielle Verkürzung des Nachbarschutzes ohne eindeutige legislative Willensäußerung nicht bezweckt ist. Die fehlenden Äußerungen der Landesgesetzgeber sprechen jedoch gegen die Annahme, daß die bestehenden Grundsätze für die genehmigungsfreien Verfahren dahingehend zu modifizieren sind, daß der Nachbarschutz über die mit der Verfahrensänderung verbundene Schutzverkürzung hinaus abgebaut werden soll. Zudem entspricht die dieser Auffassung zugrundeliegende Prämisse, daß der Nachbar ausreichenden zivilrechtlichen Rechtsschutz erhält, nicht der

425 426 427

Siehe dazu oben, 2. Kap., D 3 und 5. Kap., A 2. So auch Borges, D Ö V 1997, 900 (901). Siehe dazu oben, 4. Kap., C und 5. Kap., F.

E. Meinungsstand zum Nachbarschutz

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Intention des Gesetzgebers bei der Schaffung des Kenntnisgabeverfahrens. Nach dem insoweit eindeutigen Willen des Gesetzgebers ist eine Verlagerung des Rechtsschutzes auf den Zivilrechtsweg im Kenntnisgabeverfahren nicht bezweckt 428 . 2. Aufrechterhaltung der bisherigen Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung auf Null Eine weitere Auffassung hält auch für die genehmigungsfreien Verfahren an den bisherigen Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung auf Null fest 429 . Gegen diese Auffassung spricht jedoch, daß ein effektiver öffentlichrechtlicher Nachbarschutz bei einer Aufrechterhaltung der bisherigen Grundsätze praktisch nicht mehr gewährleistet wird 4 3 0 . 3. Kompensation des verringerten Nachbarschutzes durch eine Absenkung der Anforderungen an eine Ermessensreduzierung Die Notwendigkeit einer Kompensation des verringerten präventiven Nachbarschutzes, der sich aus der Abschaffung des Baugenehmigungsverfahrens ergibt, wurde vom VGH Baden-Württemberg im Rahmen eines Antrags auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO bereits hinsichtlich der Baufreistellungsverordnung festgestellt 431. Das Gericht hatte § 7 Abs. 1 S. 2 BaufreistellungsVO 432 eine kompensatorische Funktion beige-

428 LT-Drs. 11/5337, S. 111 "Eine Verlagerung der Rechtsstreitigkeiten auf die Zivilgerichte findet (...) nicht statt.". 429 Gegen eine Absenkung der hohen Anforderungen an eine Ermessensreduzierung: Simon, BayVBl. 1994, 332 (338); Grotefels, in: Hoppe/Grotefels, Öffentliches Baurecht, § 17, Rdn. 68; Kreuziger, Die Genehmigungsfreistellung im Baurecht, S. 149 ff. Kritisch auch Schmidt-Preuß, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997), 160 (198, Fußnote 144). Ein weiter Ermessensspielraum wird weiterhin auch betont von Ring, L K V 1995, 236 (239 f.). 430 Siehe dazu vorstehend, 5. Kap., A , B. 431 V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1995, 320 (320 f.). Zur Baufreistellungsverordnung als Vorläufer des Kenntnisgabe Verfahrens siehe oben, 1. Kap., B. Hinsichtlich des Schutzes der durch Art. 28 Abs. 2 GG geschützten gemeindlichen Planungshoheit hat der V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1997, 141 (141 ff.), diese Rechtsprechung bereits auf das Kenntnisgabe verfahren übertragen. 432 § 7 Abs. 1 S. 2 BaufreistVO: Der Baubeginn und die Bauausführung können untersagt werden, wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung besteht, insbesondere wenn 8 Kruhl

114

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

messen, die nur dann erfüllt werden könne, wenn an die Ermessensreduzierung keine zu hohen Anforderungen gestellt würden 433 . Ein Anspruch des Nachbarn auf Verhinderung des Baubeginns bzw. auf Baueinstellung war nach der Auffassung des Gerichts aufgrund von Art. 19 Abs. 4 GG grundsätzlich dann gegeben, wenn das Bauvorhaben nachbarschützende öffentlichrechtliche Vorschriften verletzt und die nachbarlichen Belange durch das Vorhaben mehr als nur geringfügig berührt werden 434 . Des weiteren sei der Erlaß einer einstweiligen Anordnung bereits dann nötig, wenn der Nachbar gewichtige und ernstzunehmende Bedenken gegen die in nachbarrechtlicher Hinsicht zu beurteilende Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens glaubhaft macht 435 . Die Entscheidung des VGH Baden-Württemberg ist in der Rechtsprechung 436 und im Ergebnis auch in der Literatur 437 überwiegend auf Zustimmung gestoßen. Dabei wird die Kompensation des verringerten Nachbarschutzes vom OVG Sachsen zusätzlich aus Art. 3 GG abgeleitet438. Nach der Auffassung des OVG Sachsen gibt es keine vernünftigen Gründe dafür, den Nachbarn im Hinblick auf den vorläufigen Rechtsschutz im Bauanzeigeverfahren oder gegenüber ansonsten genehmigungsfreien Vorhaben schlechter zu stellen als den Nachbarn im Genehmigungsverfahren 439. Die von der Rechtsprechung im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes vorgenommene Kompensation wurde jedoch nicht hinreichend begründet 440. Der Ansatzpunkt der Rechtsprechung, nämlich die einseitige Angleichung des Nachbarschutzes in den genehmigungsfreien Verfahren an den Nachbarschutz

1. die nach § 4 Abs. 1 erforderlichen Unterlagen und Bestätigungen nicht vorliegen, 2. die Bauausführung öffentlich-rechtlichen Vorschriften widerspricht oder 3. die Voraussetzungen der §§ 1 und 2 nicht vorliegen. 433 V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1995, 320 (320). 434 V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1995, 320 (320 f.). 435 V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1995, 320 (321). 436 Vgl. O V G Sachsen, N V w Z 1997, 922 (922); V G München, BayVBl. 1997, 54 (54 ff.); bestätigt durch V G H Bayern, N v W Z 1997, 923 (923); V G Meiningen, N V w Z 1997, 926 (928). 437 Degenhart, Genehmigungsfreies Bauen und der Rechtsschutz des Nachbarn, S. 20 ff.; ders., NJW 1996, 1433 (1437 ff.); Uechtritz, N V w Z 1996, 640 (643 ff.); Pfaff,; VB1BW 1996, 281 (284 f.); Blümel, Vereinfachung des Baugenehmigungsverfahrens und Nachbarschutz, in: Festschrift für Karlheinz Boujong, 1996, 551 (529); Sauter , Landesbauordnung für Baden-Württemberg, 3. Auflage, § 51, Rdn. 50; Brohm, Öffentliches Baurecht, § 29, Rdn. 25. 438 OVG Sachsen, N V w Z 1997, 922 (922). 439 OVG Sachsen, N V w Z 1997, 922 (922). 440 Kritisch insoweit auch Dürr, Baurecht, Rdn. 284; Brohm, Öffentliches Baurecht, S. 459; Borges, D Ö V 1997, 900 (901).

F. Die staatliche Schutzpflicht im Nachbarschafts Verhältnis

115

gegen genehmigte Bauvorhaben unter Heranziehung von Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 3 GG erzeugt erneut den Widerspruch, daß die Anforderungen an eine Ermessensreduzierung im Kenntnisgabeverfahren geringer sind als bei einem "Schwarzbau", wo von den allgemeinen Grundsätzen ausgegangen wird 4 4 1 . Die Entwicklung der Anforderungen an den administrativ zu gewährleistenden Nachbarschutz in den genehmigungsfreien Verfahren muß daher auf eine hinreichend tragfahige, systematische Grundlage gestellt werden. Eine solche Grundlage läßt sich weder Art. 19 Abs. 4 GG noch dem Gleichheitssatz des Art. 3 GG, sondern nur dem materiellen Recht entnehmen. F. Die staatliche Schutzpflicht im Nachbarschaftsverhältnis Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem "objektiv-rechtlichen Gehalt der grundrechtlichen Normen" eine umfassende Schutzpflicht hergeleitet, die es dem Staat gebietet, sich schützend und fördernd vor die in den Grundrechten genannten Rechtsgüter zu stellen, sie vor allem auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren 442. Rechtsprechung und Literatur haben sich dem Bundesverfassungsgericht weitgehend angeschlossen443.

441

Dürr, Baurecht, Rdn. 284; Borges, DÖV 1997, 900 (901); Preschel, D Ö V 1998, 45 (53). 442 BVerfGE 39,1 (41 ff.); 46, 160 (164 ff.); 49, 24 (53); 49, 89 (140 ff.); 53, 30 (57 ff.); 56, 54 (73 ff.); 66, 39 (61); 77, 170 (229); 77, 381 (402 ff.); 88, 203 (251 ff.). 443 Aus der Literatur vgl.: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 410 ff.; Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 33 ff.; ders., Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, HBdStR Band V, § 111, Rdn. 1 ff.; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 17 ff.; Dimberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 98 ff.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 5 ff.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 121 ff.; Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 88 ff.; E. Klein, NJW 1989, 1633 (1633 ff.); H. Klein, DVB1. 1994, 489 (489 ff.); Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 211 ff., 221 ff.; Götz, Innere Sicherheit, in: Isensee/Kirchhof, HBdStR Band III, § 79, Rdn. 10 ff.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage, Rdn. 350; Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, VVDStRL 38 (1980), 167 (183); Steinberg, NJW 1984, 457 (457 ff.); Scholz, Privatisierung im Baurecht, S. 47 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band m / 1 , S. 931 ff.; Jarass, AÖR 1985, 363 (379); systematisierend: Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzverpflichtungen. Zur Rechtsprechung siehe: BVerwG, NJW 1985, 339 (339 f.); BVerwG, JZ 1989, 997 (999 ff.). Zurückhaltend dagegen Böckenförde, Der Staat 1990, 1 (1 ff.); Enders, AöR 115 (1990), 610 (610 ff.).

116

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Schutzpflicht des Staates wurde anhand des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit entwickelt 444 . Die Grundsätze dieser Rechtsprechung lassen sich auf andere grundrechtlich geschützte Rechtsgüter verallgemeinern. Das Gericht selbst hat die Schutzpflicht bereits in seinem Fristenlösungsurteil als allgemein bestehende Pflicht anerkannt, indem es ausführte, daß "die Schutzverpflichtung des Staates um so ernster genommen werden müsse, je höher der Rang des in Frage stehenden Rechtsgutes innerhalb der Werteordnung des Grundgesetzes anzusetzen ist" 445 . Damit hat das Bundesverfassungsgericht implizit festgestellt, daß die Schutzpflicht grundsätzlich alle grundrechtlich geschützten Rechtsgüter umfaßt, wobei die Gewichtigkeit des einzelnen Rechtsgutes den Maßstab für den Umfang der Schutzpflicht bestimmt 446 . Die staatliche Schutzpflicht erstreckt sich folglich auch auf den im Nachbarrechtsverhältnis vorrangig 447 bedeutsamen Eigentumsschutz448. 1. Ausgestaltung und Schutz des Eigentums Adressat der grundrechtlichen Schutzpflichten ist zuvorderst der Gesetzgeber 449 . Ihn trifft die Pflicht zur normativen Absicherung grundrechtlicher Schutzgüter gegenüber privat verursachten Störungen oder Gefahrdungen 450.

444

Vgl. BVerfGE 39, 1 (41); 46, 160 (163); 49, 24 (53). BVerfGE 39, 1 (42). Kritisch zu einer Rangordnung der grundrechtlichen Schutzgüter: Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S 86 f. 446 Vgl. Dirnberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 112 f.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 131. 447 Zur Schutzpflicht des Staates für Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG im Bauordnungsrecht vgl. Scholz, Privatisierung im Baurecht, S. 49. 448 So die ganz herrschende Meinung, vgl. BVerwGE 60, 297 (301, 305); Götz, Innere Sicherheit, in: Isensee/Kirchhof, HBdStR Band III, § 79, Rdn. 10; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 410; Steinberg, NJW 1984, 457 (458); Schwerdtfeger, N V w Z 1982, 5 (8); Stelkens, BauR 1986, 390 (397); Soell, NuR 1985, 205 (207); Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (4, Fußnote 62); Dirnberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 158 ff.; Reinhardt, Die Überwachung durch Private im Umwelt- und Technikrecht, AöR 118 (1993), 617 (651 f.). Wieland, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Art. 14, Rdn. 145; Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, HBdStR Band V, § 111, Rdn. 93. 449 BVerfGE 39, 1 (51); Steinberg, NJW 1984, 457 (459); Dirnberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 155, 164 ff.; Soell, NuR 1985, 205 (207). 445

F. Die staatliche Schutzpflicht im Nachbarschafts Verhältnis

117

Aus der Struktur von Art. 14 Abs. 1 GG ergibt sich aber eine Besonderheit, die für eine Konkretisierung des staatlichen Schutzauftrags von Bedeutung ist. Während sich der grundrechtliche Schutzbereich normalerweise unmittelbar aus der Verfassung ergibt, definiert der Eigentumsbegriff des Grundgesetzes aus sich heraus keinen fertig ausgestalteten Schutzbereich 451. Vielmehr wird der Inhalt des Eigentums gemäß Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG durch Gesetz bestimmt. Daraus folgt, daß die Aufgabe des Gesetzgebers grundsätzlich zweigeteilt ist. Einerseits muß der Gesetzgeber den Inhalt des Eigentums ausgestalten und andererseits das ausgestaltete Eigentum schützen452. Bei der Ausgestaltung der Nachbarrechtsverhältnisse durch die Normierung von nachbarschützenden Vorschriften, wie beispielsweise bei der Festlegung von Grenzabständen, wird dagegen das bestehende Nachbareigentum geschützt und gleichzeitig der Inhalt des Nachbareigentums neu bestimmt 453 . Eindeutiger abgrenzbar sind die verfahrensrechtlichen Regelungen im Baunachbarrecht. Bei den Auswirkungen der Verfahrensgestaltung auf den Inhalt des Eigentums ist jedoch zu unterscheiden zwischen Verfahren, von denen die Aufnahme der Grundstücksnutzung abhängig ist 454 , und den hier in Frage stehenden Verfahren, die dem Schutz des bestehenden Eigentums dienen. M i t der Ausgestaltung von Verwaltungsverfahren oder Gerichtsverfahren, die die Möglichkeit der Verteidigung der Eigentumsposition bestimmen, wird nicht der Inhalt des Eigentums in dem Sinne bestimmt, daß das Eigentum nur insoweit besteht, als daß es tatsächlich verfahrensrechtlich oder gerichtlich im konkreten Fall geschützt wird. Der Grund dafür ist, daß die Ausgestaltung des gerichtlichen und verwaltungsverfahrensrechtlichen Schutzes der materiellrechtlichen Position eine andere rechtssystematische Ebene als die Inhaltsbestimmung bildet 455 . Diese Differenzierung liegt auch dem Topos des Grund-

450 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 70; H. Klein, DVB1. 1994, 489 (491); Dirnberger, DVB1. 1992, 879 (882). 451 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 78. 452 Zum Zusammenhang von Drittschutz und Inhaltsbestimmung bei der "Halbierung" der drittschützenden Wirkung von Abstandsflächen vgl. Wilke, Vom Abbau des Verwaltungsrechtsschutzes und von der Resistenz des Drittschutzes, in: Festschrift für Eberhard Grabitz, 1995, 905 (923 f.). 453 Zur Anreicherung vgl. Steinberg, NJW 1984, 457 (459). Siehe auch BVerwG, Buchholz 406.19, Nachbarschutz Nr. 46. 454 Siehe dazu 2. Kap., C und 3. Kap., Β 1. 455 In diesem Zusammenhang ist auch die Feststellung in der Begründung des Gesetzentwurfs für die Novellierung der Landesbauordnung, LT-Drs. 11/5337, S.

118

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

rechtsschutzes durch Verfahrensgestaltung zugrunde. Trotz der Normgeprägtheit des Eigentums wurde auch maßgeblich anhand von Art. 14 Abs. 1 GG entwickelt, daß der zu gewährleistende Verfahrensschutz des Eigentums durch das materielle Grundrecht des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG bestimmt wird 4 5 6 . Die Ausgestaltung des verfahrensrechtlichen und verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes hat somit keinen Einfluß auf den Inhalt des Eigentums. Die verfahrensrechtliche Absicherung des Eigentums ist keine Inhalts- und Schrankenbestimmung, sondern die Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht für das Eigentum. Bei der Ausgestaltung des Verfahrensrechts muß sich der Gesetzgeber daher an dem Schutzauftrag für das Eigentum orientieren 457 . 2. Die grundrechtliche Schutzpflicht als Maßstab für den zu gewährleistenden Nachbarschutz Die nachbarschützenden Vorschriften des materiellen Baurechts sind Konkretisierungen des Eigentums und somit unmittelbarer Gegenstand des Schutzbereichs von Art. 14 Abs. 1 GG 458 . Sofern eine drittschützende eigentumsbezogene Norm des einfachen Rechts verletzt wird, ist eine Rechtsposition betroffen, die gegenständlich zum Eigentum des Art. 14 GG gehört 459 . Der grundrechtliche Eigentumsschutz setzt folglich die Gefahrdung oder Verletzung einer nachbarschützenden Norm des einfachen Rechts voraus 460 , nicht mehr und nicht weniger 461 . Dies gilt unabhängig von der Intensität der Beein-

110, zu sehen, daß sich das Kenntnisgabe verfahren nur auf die verfahrensmäßige Seite des Baugeschehens bezieht und die materiellrechtlichen Abwehrrechte des Nachbarn nicht berührt werden. 456 Vgl. dazu Papier, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 43. 457 Vgl. dazu allgemein, BVerfGE 53, 30 (65); Grimm, N V w Z 1985, 865 (865); Ortloff.; in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band II, 3. Auflage, S. 188. 458 Vgl. BVerwGE 11, 95 (96); Uechtritz, N V w Z 1996, 640 (643); Breuer, DVB1. 1983, 431 (436); Steinberg, NJW 1984, 457 (459); Ortloff in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band II, 3. Auflage, S. 177. 459 Zur Inhaltsbestimmung durch Bauleitplanung vgl. Krautzberger, in: Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, 5. Auflage, § 1, Rdn. 7; Papier, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 60; W. Schrödter, in: Schrödter, Baugesetzbuch, 5. Auflage, § 1, Rdn. 1. 460 Ehlers, Eigentumsschutz, Sozialbindung und Enteignung bei der Nutzung von Boden und Umwelt, VVDStRL 51 (1992), 211 (222). 461 A.A. Schwerdtfeger, N V w Z 1982, 5 (8), der die grundrechtliche Schutzpflicht im Hinblick auf einen verfassungsunmittelbaren Schutzanspruch diskutiert

F. Die staatliche Schutzpflicht im Nachbarschaftserhältnis

119

trächtigung 4 6 2 . D i e Schutzpflicht für das Eigentum bildet daher den Maßstab für den staatlich zu gewährleistenden Nachbarschutz 4 6 3 . Daraus folgt jedoch nicht, daß der Nachbar Ansprüche unmittelbar aus Art. 14 G G herleiten k a n n 4 6 4 . V i e l m e h r g i l t hier der Anwendungsvorrang des einfachen Rechts 4 6 5 . Begehrt der Nachbar Schutz vor Beeinträchtigungen Dritter, so k a n n sich ein Anspruch des Nachbarn nur aus dem einfachen Recht ergeben. Das einfache Recht ist dabei i m L i c h t der Bedeutung der grundrechtlichen

Eigentumsgewährleistung

zu

interpretieren

und

anzuwenden.

Das

bedeutet, daß Art. 14 G G den Schutz des Eigentums gebietet, aber nicht selbst die rechtliche Grundlage für die konkreten Nachbaransprüche ist 4 6 6 .

und dabei zwischen den "Grundaspekten" des Eigentums und dem "nur einfachgesetzlich" bestimmten Eigentum differenziert: "Es liegt auf der Hand, daß sich die objektivrechtliche Wertentscheidung des Art. 14 Abs. 1 GG nur auf die Grundaspekte des Eigentums erstrecken kann, welche in Art. 14 GG unmittelbar durch die Verfassung selbst konstituiert sind". Der Verfassungsgeber könne nicht antizipiert und unbesehen all das für wertvoll gehalten haben, was der Gesetzgeber im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 S. 2 als Einzelinhalt des Eigentums bestimmt. Dagegen wurde bereits von Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 78, zutreffend eingewendet, daß, wenn die Verfassung die Aufgabe der Ausgestaltung des verfassungsrechtlichen Eigentums dem einfachen Gesetzgeber überträgt, dann der Zweck der Regelung gerade darin liegt, daß der Gesetzgeber nach den Anschauungen der jeweiligen Zeit bestimmen kann, was als Eigentumsinhalt und damit als schützenswert anzusehen ist. Die Einteilung in ein zu schützendes und ein nicht zu schützendes Eigentum begrenzt zu Unrecht die Voraussetzungen der Schutzverpflichtung, obwohl es eigentlich um eine Frage der Rechtsfolgen geht. 462 So auch Dirnberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 199, Anm. 131, "Es ist allerdings kaum nachvollziehbar, daß der Schutzbereich (!) des Art. 14 GG erst bei schwerem und unerträglichem Betroffen(!)sein berührt sein soll" [Hervorhebungen im Original]; E. Klein, NJW 1989, 1633 (1637 mit Fußnote 50). 463 Siehe auch Wahl, DVB1. 1996, 641 (646), der darauf hinweist, daß ein ganz entschiedener Beschleunigungsgesetzgeber, der nur noch die Interessen des Investors im Auge hat und ein Baurecht vorlegen würde, in dem es überhaupt keinen Nachbarschutz mehr gäbe, ein verfassungswidriges Gesetz erlassen würde. Die staatliche Schutzpflicht für das Eigentum betonen in diesem Zusammenhang auch Degenhart, Genehmigungsfreies Bauen und der Rechtsschutz des Nachbarn, S. 21 mit Fußnote 21; Schmidt-Preuß, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997), 160 (196 ff.); Uechtritz, N V w Z 1996, 640 (643). 464 Vgl. dazu Wahl, Abschied von den "Ansprüchen aus Art. 14 GG", in: Festschrift für Konrad Redeker, 1993, 245 (266 f.). 465 Wahl, DVB1. 1996, 641 (641 ff.); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Auflage, § 4, Rdn. 42. 466 Wahl, Abschied von den "Ansprüchen aus Art. 14 GG", in: Festschrift für Konrad Redeker, 1993, 245 (267).

120

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

3. Umfang der Schutzpflicht Als gesicherte Erkenntnis kann nur angesehen werden, daß die Schutzpflicht des Staates auch den Schutz des Eigentums umfaßt. Eingehender zu klären ist dagegen, in welchem Umfang der Staat zum Schutz des Eigentums verpflichtet ist. Während sich der Tatbestand der Schutzpflicht aus der Gefahrenlage für das Schutzgut ergibt 467 , geht es bei dem Umfang des zu gewährleistenden Schutzes um die Rechtsfolgen des Schutzpflichttatbestandes. Die Frage nach dem Umfang der Schutzpflicht scheint bereits durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Fristenlösungsurteil und im Schleyerurteil beantwortet worden zu sein. Hier hatte das Gericht festgestellt, daß die Schutzpflicht des Staates umfassend ist 468 . Daraus ließe sich folgern, daß der Staat jede Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Freiheiten im Sinne eines absoluten Schutzes verhindern muß. Die Feststellung einer umfassenden Schutzpflicht durch das Bundesverfassungsgericht ist jedoch nicht auf das Maß der staatlichen Handlungspflicht zum Schutze der grundrechtlichen Freiheiten bezogen, sondern begründet lediglich die Pflicht des Staates, die grundrechtlich verbürgte Rechtsposition mit einem Schutzmantel zu umfassen, der nicht nur vor staatlichen Eingriffen, sondern auch vor privaten "Eingriffen" 469 schützt. Absoluter Schutz kann und muß vom Staat nicht geleistet werden 470 . Auf der anderen Seite müssen sich aus der Schutzpflicht konkrete Handlungsaufträge für den Staat ableiten lassen, wenn die staatliche Schutzpflicht nicht auf ein rechtliches Nullum reduziert werden soll. Dabei können die Pflichten des Staates nicht aus der abstrakten Größe der Schutzpflicht allgemein gefolgert werden. Konkrete Handlungsaufträge können sich nur aus der Finalität der auf den Schutz des jeweiligen grundrechtlich geschützen Rechtsgutes gerichteten Schutzpflicht ergeben.

467 Zum Tatbestand der Schutzpflicht vgl. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, HBdStR Band V, § 111, Rdn. 89 f. 468 BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164). 469 Das Bundesverfassungsgericht hat die Beeinträchtigungen von Seiten Dritter ebenfalls als "Eingriffe" bezeichnet, vgl. BVerfGE 39, 1 (42). 470 Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 41; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 240; Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, VVDStRL 38 (1980), 167 (190); Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 105.

F. Die staatliche Schutzpflicht im Nachbarschafts Verhältnis

121

Das Bundesverfassungsgericht hat im Bereich des präventiven Schutzes von Leben und Gesundheit angenommen, daß an die Schutzverpflichtung dieselben Maßstäbe anzusetzen sind wie bei der Prüfung staatlicher Eingriffe 471 . Diese Argumentation läßt sich mit Einschränkungen auch auf den Eigentumsschutz übertragen. Zweifelsohne ist die Schutzverpflichtung im Bereich des Eigentumsschutzes insgesamt weit geringer anzusetzen als beim Schutz von Leben und Gesundheit. Geringer sind aber auch die Anforderungen zur Verhinderung staatlicher Eingriffe in das Eigentum. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts läßt sich daher die Schlußfolgerung ableiten, daß an die Pflicht zum Schutz vor Eigentumsbeeinträchtigungen Dritter vergleichbare Maßstäbe anzusetzen sind wie an den Schutz vor staatlichen Eingriffen 472 . Die Annahme der Vergleichbarkeit der Maßstäbe wird auch durch die Aussage von der umfassenden Schutzpflicht durch das Bundesverfassungsgericht gestützt, in der es betont, daß der Staat das Rechtsgut auf beiden Seiten, nämlich vor staatlichen Eingriffen und privaten rechtswidrigen "Eingriffen" zu schützen hat 473 . Eine Differenzierung hinsichtlich einer stärkeren Ausprägung des Schutzes auf einer Seite hat das Gericht nicht vorgenommen. Vielfach wird trotz der Anerkennung einer grundrechtlichen Schutzpflicht im Gegensatz zur abwehrrechtlichen Komponente der Grundrechte auf einen Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Staates hingewiesen 474 . Der Hinweis auf legislative oder exekutive 475 Freiheiten ist insoweit berechtigt, als dieser die Art und Weise der Schutzpflichterfüllung betrifft 476 . Während jeder rechtswidrige (staatliche) Grundrechtseingriff durch die nega-

471

BVerfGE 53, 30 (58). So auch E. Klein, NJW 1989, 1634 (1637 f.); Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, HBdStR Band V, § 111, Rdn. 117; H. Klein, DVB1. 1994, 489 (496); Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 111; Dirnberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 97: "Es kann aber nicht oft genug wiederholt werden, daß bei richtiger Auslegung der Grundrechte der individuelle Schutz gleichberechtigt neben der individuellen Abwehr steht, daß also mit der Ablehnung eines Einsatzes der Grundrechte als Abwehrrechte keinesfalls eine Schwächung der Position des einzelnen einhergeht.". A.A. Lübbe-Wolff\ Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 180. 473 BVerfGE 39, 1 (42). 474 BVerfGE 77, 170 (215, 229); 77, 381 (405); Dreier, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Vorbem. zu Art. 1, Rdn. 64; Jarass, in: Jaress/Pieroth, GG, Art. 2, Rdn. 50; Fluck, UPR 1990, 81 (83). 475 Zur Bindung der Exekutive an die grundrechtliche Schutzpflicht siehe unten, 5. Kap., H 1. 476 E. Klein, NJW 1989, 1633 (1637). 472

122

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

torische Komponente der Grundrechte erfaßt wird, also das konkrete staatliche Verhalten als Verfassungsverstoß verboten ist, wird durch die grundrechtliche Schutzpflicht regelmäßig nicht eine konkrete Handlung gefordert, sondern es ist eine Mehrzahl von Maßnahmen geeignet, die Integrität der grundrechtlich geschützten Freiheit sicherzustellen. Die grundrechtliche Schutzpflicht zwingt die schutzverpflichteten staatlichen Institutionen jedoch, überhaupt eine geeignete Maßnahme zu ergreifen und dadurch den grundrechtlich geforderten Schutz zu gewährleisten. Freiheiten bestehen daher nur für das "Wie", nicht jedoch für das O b " der Schutzpflichterfüllung 477 . Im Gegensatz zur Abwehrfünktion der Grundrechte, die ein konkretes staatliches Verhalten fordert, ist die Schutzfünktion also erfolgsbezogen 478. Der Staat schuldet aufgrund seiner Schutzpflicht einen bestimmten Erfolg, nämlich die Gewährleistung der Integrität des grundrechtlich geschützten Rechtsgutes. Aus dem Erfolgsbezug der Schutzpflicht ergibt sich unmittelbar auch das staatlich zu gewährleistende Schutzniveau: Die Schutzpflicht zielt auf solche Maßnahmen, die geeignet sind, Gefährdungen oder Störungen von Seiten Dritter effektiv abzuwehren, um den Erfolg der grundrechtlichen Integritätsgewährleistung zu erreichen 479. Eine effektive Gewährleistung der grundrechtlich geschützten Rechtsgüter wird aber nicht bereits durch ein Minimum an Schutzgewährleistung in dem Sinne erreicht, daß es ausreicht, wenn der Staat Maßnahmen ergreift, die nicht völlig ungeeignet sind, die Gefahr einer Rechtsgutsverletzung zu vermindern 480 , sondern der Staat ist gehalten, die ihm verfügbaren Mittel so effektiv wie möglich einzusetzen481. Aus

477

E. Klein, NJW 1989, 1633 (1637); H. Klein, DVB1. 1994, 489 (495). Nicht eindeutig insoweit BVerfGE 77, 170 (215), wo das Gericht allerdings ebenfalls auf die Art und Weise der Schutzpflichterfüllung abstellt. Hinsichtlich des grundrechtlich geforderten Schutzniveaus hat das Bundesverfassungsgericht jedoch in seinem zweiten Abtreibungsurteil (BVerfG 88, 203 (251 ff., 262 f.) unter Anknüpfung an die bereits gefestigte Rechtsprechung erneut die grundrechtliche Zielvorgabe in den Vordergrund gestellt und nur die Ausgestaltung im Einzelnen als Aufgabe des Gesetzgebers angesehen. 478 BVerfGE 39, 1 (Leitsatz Nr. 4); BVerfG 88, 203 (254); Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 261; E. Klein, NJW 1989, 1633 (1637). 479 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 422 f.; E. Klein, NJW 1989, 1634 (1637 f.); Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 111 ff. 480 BVerfGE 88, 203 (262 f.). H. Klein, DVB1. 1994, 489 (495). 481 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, HBdStR Band V, § 111, Rdn. 138; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 422 f.

F. Die staatliche Schutzpflicht im Nachbarschafts Verhältnis

123

dem Erfolgsbezug der staatlichen Schutzpflicht ergibt sich ein Optimierungsgebot für die Schutzpflichterfüllung 482 . Das bedeutet, daß der Staat zu einem bestmöglichen Grundrechtsschutz verpflichtet ist. M i t dem Begriff der Optimierung werden bereits zwei Gesichtspunkte mit erfaßt: zum einen, daß das Ziel des absoluten Schutzes nur ein imaginäres Ziel darstellt, das nicht erreicht werden kann und soll, und zum anderen, daß die staatliche Schutzpflicht nicht das einzige Moment in dem jeweiligen staatlichen Entscheidungsfindungsprozeß darstellt. Die Schutzpflicht verlangt eine Abwägung zwischen der Freiheitssicherung auf der einen Seite und der Begrenzung von Handlungsspielräumen auf der anderen Seite. Sofern unter mehreren zur Verfügung stehenden Schutzmitteln ein weniger effektives Mittel gewählt werden soll oder der staatliche Schutz insgesamt versagt werden soll, bedarf dies entsprechend dem Optimierungsgebot eines ausreichenden rechtfertigenden Grundes 483. Ist das Unterlassen des erforderlichen Schutzes nicht durch einen hinreichenden sachlichen Grund gerechtfertigt, liegt ein Verstoß gegen das Untermaßverbot 484 vor. Die grundrechtliche Schutzpflicht gebietet es dem Staat folglich, die Rechtsordnung auf einen effektiven Grundrechtsschutz auszurichten und dadurch umfassende Sicherheit für seine Bürger zu gewährleisten. Für den Schutz des Nachbareigentums bedeutet dies, daß das Bauordnungsrecht so auszugestalten und umzusetzen ist, daß Beeinträchtigungen durch die Errich-

482 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in:, Isensee/Kirchhof, HBdStR Band V, § 111, Rdn. 138; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 420 ff.; H. Klein, DVB1. 1994, 489 (495); Scholz, Privatisierung im Baurecht, S. 48; Reichling, Effektivität in baurechtlichen Planungs- und Genehmigungsverfahren, S. 222. Dem Optimierungsgebot entspricht die Forderung nach einem bestmöglichen Grundrechtsschutz. Diese Forderung wird von Heußner/Simon, BVerfGE 53, 30 (88) - Sondervotum - hervorgehoben. A.A. LübbeWolff\ Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 180; Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, in: Festgabe zum 25jährigen Bestehen des Bundesverwaltungsgerichts, 1978, 89 (109 f.). 483 E. Klein, NJW 1989, 1633 (1638). 484 Zum Begriff des Untermaßverbots vgl. Canaris , AcP 184 (1984), 200 (228); Merten, Grundrechtliche Schutzpflichten und Untermaß verbot, in: Festschrift für W i l l i Geiger, 1994, 15 (25); Fluck, UPR 1990, 81 (83); Jarras, AöR 110, 363 (383); Ehlers, VVDStRL 51 (1992), 211 (223); Götz, Innere Sicherheit, in: Isensee/Kirchhof, HBdStR Band III, § 79, Rdn. 30 f; Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, HBdStR Band V, § 1 1 1 , Rdn. 165 f; Hain, DVB1. 1993, 982 (982 ff.); H. Klein, DVB1. 1994, 489 (495). Der Begriff des Untermaßverbotes wurde jetzt auch vom Bundesverfassungsgericht (E 88, 203 (254)) übernommen.

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5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

tung eines nachbarrechtsverletzenden Bauwerks durch den Staat effektiv verhindert werden. Der Gesetzgeber muß daher im Bauordnungsrecht vor allem präventive Schutzmechanismen schaffen, durch die das Risiko rechtswidriger Beeinträchtigungen des bestehenden Nachbareigentums so gering wie möglich und nur so hoch wie unbedingt erforderlich gehalten wird 4 8 5 . Inwieweit dabei auf präventive Kontrollmechanismen verzichtet werden kann, ergibt sich neben der Gewichtigkeit des in Frage stehenden Schutzgutes aus der Effektivität späterer Maßnahmen. Da es sich bei Eigentumsverletzungen nicht um unwiederbringliche, nicht wiederherstellbare Beeinträchtigungen handelt, kann ein Schutzdefizit bei der präventiven Kontrolle bei der allgemeinen Bauaufsicht durch die Baurechtsbehörden ausgeglichen werden 486 . Nur innerhalb dieses Rahmens besteht eine Gewährleistungsfreiheit des Staates. Der Staat verletzt daher seine Schutzpflicht, wenn er weder präventiv noch im Rahmen der allgemeinen Bauaufsicht effektiven Schutz für das Nachbareigentum gewährleistet. 4. Zivilrechtlicher Nachbarschutz Öffentlich-rechtlicher und zivilrechtlicher Nachbarschutz stehen im Baurecht grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander 487. Das bedeutet, der Nachbar kann wählen, wie er eine Beeinträchtigung abwehren will 4 8 8 . Da der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Kenntnisgabeverfahrens keine konkreten verwaltungsrechtlichen Mechanismen zum Schutz des Nachbarn geschaffen hat 489 , stellt sich die Frage, ob der Nachbar im Kenntnisgabeverfahren ausreichenden Schutz durch die Zivilgerichte erhält, ob er also an Stelle der bisherigen Zweigleisigkeit des Nachbarschutzes auf den Zivilrechtsweg verwiesen werden kann 490 . Sofern der Nachbar durch ein Bauwerk rechtswidrig bzw. in nicht zu duldender Weise beeinträchtigt wird, stehen diesem die zivilrechtlichen Abwehr485

Vgl. dazu allgemein Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 70. 486 Zur Bindung der Baurechtsbehörde an die grundrechtliche Schutzpflicht siehe unten, 5. Kap., H 1. 487 So die herrschende Meinung, vgl. Mampel, Nachbarschutz im öffentlichen Baurecht, S. 19 ff; Lohr, in: Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, § 31, Rdn. 51. 488 Mampel, Nachbarschutz im öffentlichen Baurecht, S. 25. 489 Siehe oben, 5. Kap., A und B. 490 So Manssen, N V w Z 1996, 144 (146); Schmaltz , NdsVBl. 1995, 241 (247).

F. Die staatliche Schutzpflicht im Nachbarschafts Verhältnis

125

ansprüche aus §§ 1004, 906 BGB und § 823 I I BGB in Verbindung mit den nachbarschützenden Vorschriften des öffentlichen Rechts als Schutzgesetze491 zur Verfügung. Über den sog. quasinegatorischen Beseitigungsanspruch 492 aus §§ 1004, 823 II BGB kann der Nachbar die Verletzung nachbarschützender Vorschriften unabhängig von einem Verschulden des Bauherrn abwehren 493. Bei dem zivilrechtlichen Anspruch des Nachbarn entfällt das Erfordernis einer Ermessensreduzierung im Falle einer gegen nachbarschützende Vorschriften verstoßenden Grundstücksnutzung 494. Das bedeutet, daß der zivilrechtliche Rechtsschutz gegenüber dem verwaltungsrechtlichen Rechtsschutz insofern das effektivere Mittel darstellte, wenn man mit der bisher herrschenden Meinung eine Ermessensreduzierung nur bei einer hohen Störungsintensität annehmen würde. Es wird daher behauptet, daß der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz beim Erfordernis einer Ermessensreduzierung im Falle eines Antrags auf bauordnungsrechtliches Einschreiten mangels Rechtsschutzinteresses gänzlich versperrt sei, weil der Rechtsschutz vor den Zivilgerichten das effektivere Rechtsschutzmittel darstelle 495. Im Hinblick auf die Schutzpflicht des Staates ist zunächst festzustellen, daß der zivilrechtliche Rechtsschutz und der verwaltungsrechtliche Rechtsschutz unterschiedlichen Grundsätzen unterliegen, die für den Nachbarschutz von Bedeutung sind 496 . Auf eine vereinfachte Kurzformel gebracht, kann man 491

M i t der Einordnung der nachbarschützenden Vorschriften als Schutzgesetze i.S.d. § 823 I I BGB, die mittlerweile ganz herrschende Meinung, vgl. BGHZ 40, 306 (306 ff.); 66, 354 (355 ff.); 86, 356 (362); BGHZ 122, 1 (3 f.); Bassenge, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch-Kommentar, § 903, Rdn. 24; Breuer, DVB1. 1983,431 (433). 492 Zum Begriff vgl. BGH, W M 1974, 572 (573); Breuer, DVB1. 1983, 431 (433). 493 BGH, W M 1974, 572 (573 f.); Bassenge, in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch-Kommentar, § 903, Rdn. 24; L M , § 1004, Nr. 132. 494 Vgl. dazu Kleinlein, Das System des Nachbarrechts, S. 54. 495 Vgl. Schmaltz , Niedersächsischer Städtetag 1995, S. 124. Ginge man mit der bisher herrschenden Meinung davon aus, daß ein Anspruch auf baupolizeiliches Einschreiten nur bei einer hohen Störungsintensität besteht und daß demzufolge der Zivilrechtsweg der effektivere Rechtsweg wäre, würde dies eine teilweise oder im Falle eines angenommenen fehlenden Rechtsschutzinteresses insoweit vollständige Verlagerung des öffentlich-rechtlichen Nachbarschutzes auf die Zivilgerichte bedeuten. Im Interesse eines sachnahen öffentlich-rechtlichen Nachbarschutzes könnte man dann erwägen, ob sich nicht eine unmittelbare Klage des Nachbarn gegen den Bauherrn auf Einhaltung der nachbarschützenden Bauvorschriften vor dem Verwaltungsgericht konstruieren ließe. Vgl. dazu auch Finkelnburg nach Kleiner, N V w Z 1982, 670 (670). 496 Vgl. dazu auch Brohm, Öffentliches Baurecht, S. 482.

126

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

sagen, privatrechtlicher Nachbarschutz ist Selbstschutz mittels staatlicher Durchsetzungsmacht und öffentlich-rechtlicher Nachbarschutz ist staatlicher Schutz. Teilweise wird daher bereits mit dem Hinweis auf die grundsätzliche Aufgabenverteilung zwischen dem Staat als Schutzverpflichtetem und dem schutzsuchenden Bürger der zivilrechtliche Nachbarschutz nicht als Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht angesehen497. Im privatrechtlichen Nachbarschutz bestehen vor allem erhebliche Kostenrisiken für den Nachbarn. Aufgrund hoher, teils unkalkulierbarer Streitwerte trägt der Nachbar im Zivilprozeß zunächst ein großes finanzielles Prozeßrisiko 4 9 8 . Im einstweiligen Rechtsschutz besteht zudem ein hohes Risiko von Schadensersatzverpflichtungen des Nachbarn gegenüber dem Bauherrn aufgrund von § 945 ZPO 499 . Das finanzielle Risiko ist hier bei einem Schutzbegehren gegen umfangreiche Bauvorhaben unter Umständen von einem derartigen Ausmaß, daß dem Nachbarn bei zweifelhafter Rechtslage ein Rechtsschutz faktisch nahezu vollständig verschlossen ist. Das erhebliche Kostenrisiko im Zivilprozeß bewirkt daher eine zumindest faktische Verkürzung des Nachbarschutzes gegenüber dem verwaltungsrechtlichen Nachbarschutz 500. Des weiteren trägt der Nachbar im Zivilprozeß im Gegensatz zum Verwaltungsverfahren eine erhebliche Verfahrenslast, die sich u.a. aus der Beweislast, der Pflicht zur Einhaltung von Fristen, der Säumnisgefahr wie auch dem Anwaltszwang ergibt. Will der Nachbar zivilrechtlich die Beseitigung des nachbarrechtsverletzenden Bauwerks durchsetzen, so ist ferner zu berücksichtigen, daß der Bauherr einem auf §§ 823 Abs. 2, 249 S. 1 BGB bzw. § 1004 BGB i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB gestützten Beseitigungsverlangen des Nachbarn wegen § 251 Abs. 2 BGB nur dann nachkommen muß, wenn die Herstellung des früheren 497 Vgl. Steinberg, NJW 1984, 457 (464): "Es bleibt unklar, wieso die Verwaltung in der Lage sein soll, sich ihrer grundgesetzlich begründeten, gesetzlich ausgestalteten Schutzpflicht zugunsten des Nachbarn mit dem Hinweis zu entziehen, der Nachbar könne für sich selber sorgen". In diese Richtung auch Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 113, der zutreffend feststellt, daß die gerichtliche Durchsetzbarkeit individueller Ansprüche den Staat nicht von seiner Pflicht zu einem effektiven Schutz dispensiert. 498 Steinberg, NJW 1984, 457 (457). 499 Dieses Risiko besteht im vorläufigen Rechtsschutz vor den Verwaltungsgerichten dagegen nicht, siehe dazu oben, 5. Kap., C 2. 500 Vgl. Degenhart, Genehmigungsfreies Bauen und der Rechtsschutz des Nachbarn, S. 22; Knemeyer, Schutz der Allgemeinheit und der individuellen Rechte durch die polizei- und ordnungsrechtlichen Handlungsvollmachten der Exekutive, VVDStRL 35 (1977), 221 (252 mit Fußnote 102).

F. Die staatliche Schutzpflicht im Nachbarschafts Verhältnis

127

Zustandes mit nicht unverhältnismäßigem Aufwand möglich ist 501 . Es ist hier eine umfassende Abwägung der beiderseitigen Interessen vorzunehmen, bei der auch der Grad des Verschuldens zu berücksichtigen ist 502 . Bei dieser zivilrechtlichen Interessenabwägung sind grundsätzlich andere Erwägungen einzustellen als bei der verfassungsrechtlich abgeleiteten Verhältnismäßigkeitsprüfung einer Abbruchsverfügung zur Herstellung rechtmäßiger Zustände und zur Beseitigung der Nachbarrechtsverletzung. Das Verlangen der teilweisen oder vollständigen Beseitigung eines nachbarrechtsverletzenden Bauwerks ist folglich im Zivilrecht nur ausnahmsweise und unter engen Voraussetzungen erfolgreich 503 . Der sich aus der Aufrechterhaltung der hohen Anforderungen an eine Ermessensreduzierung im verwaltungsrechtlichen Nachbarschutz ergebende Verweis auf den Zivilrechtsweg würde auch bedeuten, daß sich die Rechtswegentscheidung nach der Intensität der Beeinträchtigung richten würde, da der Nachbar im Falle einer hohen Beeinträchtigungsstärke effektiven verwaltungsrechtlichen Schutz erlangt und nur unterhalb dieser Beeinträchtigungsintensität auf den Zivilrechtsweg angewiesen ist. Diese unnatürliche Aufspaltung des Rechtsschutzes bewirkt eine erhebliche Rechtsunsicherheit. Seit der Anerkennung öffentlich-rechtlicher Normen als drittschützend 504 obliegt die Aufgabe zum Schutz der öffentlich-rechtlich ausgestalteten Rechtsposition des Nachbarn den für die Gefahrenabwehr zuständigen Ordnungsbehörden 505 . Der zivilgerichtliche Nachbarschutz hat daher gegenüber dem

501 BGH, W M 1974, 572 (573 ff.); BGHZ 62, 388 (391); Grunsky, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 3. Auflage, Band 2, § 251, Rdn. 21. Zur eingeschränkten finanziellen Ausgleichbarkeit der Rechtsverletzung allgemein, vgl. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 113. 502 BGH, NJW 1970, 1180 (1180 f.); Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch-Kommentar, § 251, Rdn. 7. 503 Vgl. dazu BGH, NJW 1970, 1180 (1180 f.); BGH, W M 1974, 572 (573 ff.). 504 Ein Motiv für die Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Nachbarschutzes war dabei auch die Erkenntnis, daß der vom privaten Nachbarrecht gewährleistete Schutz unzulänglich und lückenhaft ist. Vgl. dazu BVerwGE 22, 130 (130 ff.); Kleinlein, Das System des Nachbarrechts, S. 8; Schwerdtfeger, N V w Z 1983, 199 (199 ff.). 505 Insbesondere kann sich die Baurechtsbehörde auch nicht auf den Grundsatz polizeilicher Subsidiarität berufen, da dieser nur beim Schutz von sich aus dem Privatrecht ergebenden Rechten eingreift, vgl. Steinberg, NJW 1984, 457 (464); Knemeyer, Schutz der Allgemeinheit und der individuellen Rechte durch die polizei- und ordnungsrechtlichen Handlungsvollmachten der Exekutive, VVDStRL 35 (1977), 221 (269).

128

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

öffentlichen Nachbarschutz in weitem Umfang an Bedeutung verloren 506 . Eine Rückverlagerung auf den zivilrechtlichen Rechtsschutz war aber bei der Einführung des Kenntnisgabeverfahrens nicht intendiert 507 . Mit der Verfahrensänderung ist in Baden-Württemberg andererseits auch keine Änderung der materiellen Rechtslage und damit auch keine Änderung des Verantwortungsbereichs der Baurechtsbehörden verbunden 508. Für den Nachbarn würde der sich aus der Verkürzung des öffentlich-rechtlichen Nachbarschutzes ergebende faktische Verweis auf den Zivilrechtsweg bedeuten, daß dieser die staatliche Aufgabe der Durchsetzung der öffentlich-rechtlichen Bauvorschriften auf eigenes Risiko übernehmen müßte 509 . Der Verweis des Nachbarn auf den Zivilrechtsweg entspricht folglich auch nicht der bisherigen Systematik des Baunachbarrechts, die im Falle der Verletzung öffentlich-rechtlicher nachbarschützender Vorschriften die staatliche Verantwortung für die Durchsetzung der Rechtsordnung und den Schutz des Nachbarn in den Vordergrund gestellt hat 510 . Zudem besteht, wie bereits dargestellt 511, ein erhebliches Schutzdefizit bei der präventiven Kontrolle und der Verfahrensbeteiligung. Eine Kompensation des fehlenden präventiven Nachbarschutzes kann der sachfremde und eigentümliche privatrechtliche Rechtsschutz mit seinen erheblichen Kostenrisiken und prozessualen Pflichten nicht leisten 512 . Der Erfolg der Integritätsgewährleistung grundrechtlich geschützter Freiheiten ist bestmöglich durch den Staat sicherzustellen. Mit dem Verweis des Nachbarn auf den zivilrechtlichen

506 V g l ßreue r. 9 DVB1. 1983, 431 (431); Steinberg, NJW 1984, 457 (458). So wurde bereits von Seilmann, DVB1. 1963, 273 (278) ein "Siegeszug" des öffentlich-rechtlichen Nachbarschutzes festgestellt. 507

LT-Drs. 11/5337, S. 111. Vgl. dazu allgemein Preschel, D Ö V 1998, 45 (51). Für die Einführung des Genehmigungsfreistellungsverfahrens nach Art. 70 BayBO, vgl. Kreuziger, Die Genehmigungsfreistellung im Baurecht, S. 148. 509 Degenhart, Genehmigungsfreies Bauen und der Rechtsschutz des Nachbarn, S. 22. 510 Vgl. V G H Bayern, N V w Z 1997, 923 (923); Herzog, Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, in: Isensee/Kirchhof, HBdStR Band III, § 58, Rdn. 48; Steinberg, NJW 1984, 457 (464). 511 Siehe oben, 5. Kap., A. 512 Für das Anzeigeverfahren und das vereinfachte Verfahren nach §§ 62b, 62a SächsBauO, vgl. Degenhart, Genehmigungsfreies Bauen und der Rechtsschutz des Nachbarn, S. 20. Für das Genehmigungsfreistellungsverfahren nach Art. 70 BayBO siehe Kreuziger, Die Genehmigungsfreistellung im Baurecht, S. 155 f. 508

G. Die staatliche Schutzpflicht als Ausgangspunkt

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Rechtsschutz wird die staatliche Schutzpflicht für das Nachbareigentum im Kenntnisgabeverfahren daher nicht erfüllt 513 . 5. Fazit Die grundrechtliche Schutzpflicht für das Eigentum bildet den Maßstab für den staatlich zu gewährleistenden Schutz des Nachbareigentums. Der Umfang des verfassungsmäßigen Schutzes ergibt sich aus der bestmöglichen Gewährleistung des Nachbareigentums. Der Staat ist durch die grundrechtliche Schutzpflicht zu einem effektiven Eigentumsschutz verpflichtet. M i t dem bloßen Zur-Verfügung-Stellen des zivilrechtlichen Rechtsschutzes wird der grundrechtlich geforderte Schutz vor nachbarrechtverletzenden Bauwerken dagegen nicht ausreichend gewährleistet. G. Die staatliche Schutzpflicht als Ausgangspunkt für einen systematischen Nachbarschutz Beeinträchtigungen der Nachbarrechte durch den Bauherrn werden von der herrschenden Meinung nicht einheitlich behandelt. Vielmehr wird differenziert, ob sich die Gefahrdung oder die Störung als Folge staatlichen Verhaltens darstellt oder ob diese ohne Beteiligung des Staates eingetreten ist 514 , in concreto, ob die Beeinträchtigung durch die Ausnutzung einer rechtswidrigen Baugenehmigung erfolgt ist oder ob der Bauherr ohne staatliche Erlaubnis

513

So auch Degenhart, Genehmigungsfreies Bauen und der Rechtsschutz des Nachbarn, S. 20 ff., mit Fußnote 104; ders., mündlicher Beitrag auf der Gründungsveranstaltung der Arbeitsgemeinschaft für Verwaltungsrecht im Deutschen Anwaltsverein, Landesgruppe Sachsen/Sachsen-Anhalt/Thüringen, wiedergegeben von Pohle, L K V 1996, 96 (96); Blümel, Vereinfachung des Baugenehmigungsverfahrens und Nachbarschutz, in: Festschrift für Karlheinz Boujong, 1996, 551 (528). In diese Richtung auch Steinberg , NJW 1984, 457 (457). Siehe auch Knemeyer, Schutz der Allgemeinheit und der individuellen Rechte durch die polizeiund ordnungsrechtlichen Handlungsvollmachten der Exekutive, VVDStRL 35 (1977), 221 (252, mit Fußnote 102), der zutreffend feststellt, daß, wenn der Staat in den Fällen, in denen aufgrund der Dauer und der Kosten eines Gerichtsverfahrens der Selbstschutz unter Zuhilfenahme der Gerichte nicht mehr ausreicht, nicht schützend eingreift, das Grundrecht nur noch auf dem Papier stünde und eine ungestörte Ausübung der Grundrechte illusorisch wäre. 514 Zur Differenzierung vgl. V G H Baden-Württemberg, VerwRspr. 24, Nr. 189, 815 (816); Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 625; Hoppe, in: Ernst/Hoppe, Das öffentliche Bau- und Bodenrecht, Raumplanungsrecht, Rdn. 461 f. 9 Kruhl

130

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

gebaut hat. Erfolgt die Beeinträchtigung des Nachbarn durch die Ausnutzung einer rechtswidrigen Baugenehmigung, ist der Staat nach der herrschenden Auffassung aufgrund des Folgenbeseitigungsanspruchs grundsätzlich verpflichtet, den rechtswidrigen nachbarrechtsverletzenden Zustand zu beseitigen 515 . Hat der Bauherr dagegen ohne staatliche Erlaubnis gebaut, so soll die Behörde nur ausnahmsweise zu einer Beseitigung verpflichtet sein 516 . Voraussetzung für eine Systematisierung ist die Abgrenzung von staatlichem Eingriff und privater Verletzungshandlung. Die relevanten Handlungen, die auf ihre Eingriffsqualität zu untersuchen sind, sind einerseits die Genehmigungserteilung und andererseits die konkrete Beeinträchtigung durch die Verwirklichung des Bauvorhabens. 1. Die Genehmigung als Eingriff Über die dogmatische Einordnung rechtswidriger drittrechtsverletzender Genehmigungen herrscht weitgehend Unklarheit 517 . Es geht dabei um die Frage, ob sich die rechtswidrige Genehmigung als Eingriff oder als Schutzpflichtverletzung darstellt. Der Problematik liegt die Erkenntnis zugrunde, daß staatliche Eingriffe, die den Grundrechtsträger in seinem status negativus verletzen, und Schutzpflichtverletzungen, die den Grundrechtsträger in seinem status positivus beeinträchtigen, in einem Exklusivitätsverhältnis stehen 518 . Der Tatbestand der grundrechtlichen Schutzpflicht setzt per definitionem die Abwesenheit eines staatlichen Grundrechtseingriffs voraus und erfaßt somit ausschließlich nichtstaatlich verursachte Gefahrdungslagen 519. Genehmigungsvorbehalte dienen der Ermöglichung präventiver Kontrolle potentiell gefährdender Verhaltensweisen. Die Genehmigungspflicht ist damit ihrerseits Ausfluß der staatlichen Schutzpflicht und stellt deren Konkretisierung dar 520 . Es wird daher teilweise davon ausgegangen, daß wegen des gefahrenpräventiven Charakters von Genehmigungsvorbehalten die Erteilung einer

515

Siehe oben, 5. Kap., Β 2a. Siehe oben, 5. Kap., Β 2b. 517 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 85; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 90. 518 Siehe auch Kraft, BayVBl. 1992, 456 (460). 519 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 87 f. 520 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 93; Steiger, Verfassungsrechtliche Grundlagen, in: Salzwedel, Grundzüge des Umweltrechts, S. 42, 45; Rauschning, DVB1. 1980, 831 (832). 516

G. Die staatliche Schutzpflicht als Ausgangspunkt

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rechtswidrigen Baugenehmigung keinen staatlichen Eingriff, sondern eine defizitäre Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht darstellt 521 . Daraus folge, daß der gegen die rechtswidrige Baugenehmigung vorgehende Nachbar nicht die Beseitigung eines staatlichen Eingriffs, sondern positive Schutzgewährung verlangt 522 . Gegen diese Betrachtung spricht jedoch die Rechtswirkung der Baugenehmigung. Als Verwaltungsakt mit belastender Drittwirkung beinhaltet die rechtswidrige Baugenehmigung eine selbständige Beschwer für den betroffenen Nachbarn und greift in seine Rechte ein 523 . Durch den Erlaß der Baugenehmigung werden die Nachbarrechte nicht durch ein pflichtwidriges Unterlassen, sondern durch positives Tun betroffen. Die Erteilung der rechtswidrigen Baugenehmigung ist daher als Eingriff und nicht als Schutzpflichtverletzung anzusehen, auch wenn der rechtswidrigen Genehmigungserteilung ihrerseits eine Verletzung der staatlichen Schutzpflicht zugrunde liegt 524 . M i t der gegenteiligen Auffassung werden die Grenzen zwischen Eingriff und Schutzauftrag verwischt. 2. Privates Handeln als staatlicher Eingriff kraft Zurechnung ? Problematisch erscheint hier jedoch, ob sich die konkrete Beeinträchtigung des Nachbarn durch die Ausnutzung der rechtswidrigen Baugenehmigung als staatlicher Eingriff oder als ausschließlich privates Handeln darstellt. Die Errichtung des Bauwerks ist keine staatliche Handlung, sondern eine private Tätigkeit des Bauherrn. Ein Eingriff des Staates läge demnach nur dann vor, wenn das private Handeln des Bauherrn dem Staat als eigenes zurechenbar wäre. Ansatzpunkt für eine mögliche Zurechnung ist die Genehmigungserteilung. M i t der Erteilung der Baugenehmigung wird die Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens durch die Baurechtsbehörde festgestellt und das präventive Bauverbot aufgehoben 525. Nach der überwiegenden Auffassung sind

521 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 94; in diese Richtung auch Schwerdtfeger, N V w Z 1982, 5 (7); Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen bzw. objektivrechtliche Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AÖR 1985, 363 (387). 522 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 95. 523 Pietzcker, "Grundrechtsbetroffenheit" in der verwaltungsrechtlichen Dogmatik, in: Festschrift für Otto Bachof, 1984, 131 (143). 524 Kraft, BayVBl. 1992, 456 (458); Steinberg, NJW 1984, 457 (462). 525 Siehe dazu 2. Kap., C 1 und 6. Kap., B.

132

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

daher private schädigende Handlungen aufgrund der Erlaubnis dem Staat als "unmittelbare hoheitliche Eingriffe" zurechenbar 526. Die Zurechnung wird teilweise damit begründet, daß es keinen Unterschied mache, daß der Staat das grundrechtsverletzende Verhalten nicht seinen Organen, sondern Privaten gestattet527. Mit dieser Argumentation werden jedoch die Genehmigungserteilung und die private Ausnutzung zu einem einheitlichen Sachverhalt zusammengefaßt und dem Staat zugerechnet, ohne daß sich daraus eine Erklärung ableiten läßt, warum das private Verhalten zurechenbar ist. Die bloße sachliche Verknüpfung von Genehmigung und Genehmigungsausnutzung allein rechtfertigt noch keine einheitliche Betrachtung personenverschiedener Handlungen. Eine Zurechnung kann sich aber auch nicht aus der bloßen Tatsache ergeben, daß ein bestimmtes Handeln sowohl durch den Staat als auch durch Private vorgenommen werden kann, und folglich auch nicht daraus, daß der Staat die entsprechende Handlung auch den eigenen Organen gestatten könnte 528 . Bei der Frage, ob privates oder staatliches Handeln vorliegt, muß vielmehr zunächst auf den im Einzelfall konkret Handelnden abgestellt werden. Daher bleibt das private Handeln auch dann nichtstaatlich, wenn der Staat eine entsprechende Erlaubnis erteilt hat. Es kann nicht mit dem Handeln staatlicher Organe gleichgesetzt und daher auch nicht aus diesem Grunde zugerechnet werden. Die Zurechenbarkeit wird vor allem auch aus einer finalen Zweckgerichtetheit der Genehmigungserteilung hergeleitet 529. Der rechtswidrige Zustand sei der Behörde zurechenbar, weil die tatsächliche Ausnutzung der Baugenehmigung Ziel der Erlaubniserteilung sei 530 . M.E kann sich eine Zurechnung jedoch auch nicht aus der Annahme einer solchen Zielgerichtetheit der Genehmigungserteilung ergeben. Zwar hat der Staat im Hinblick auf die geordnete städtebauliche Entwicklung grundsätzlich ein eigenes Interesse an der Aus-

526 Schoch, Jura 1993, 478 (485); Schenke, DVB1. 1990, 328 (336); Horn, Die Aufhebung des der Drittanfechtung unterliegenden Verwaltungsakts, S. 155; ders., D Ö V 1989, 976 (979); Ivo, Die Folgenbeseitigungslast, S. 27 ff. Zur Annahme einer Verantwortlichkeit des Staates siehe auch die Nachweise oben, 5. Kap., Β 2a. 527 Vgl. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 214; V G H Bayern, NJW 1983, 835 (837 f.). 528 So auch Kopp, JuS 1983, 673 (676). 529 Schoch, Jura 1993, 478 (485); Ivo, Die Folgenbeseitigungslast, S. 27 ff. 530 Schoch, Jura 1993, 478 (485); Ivo, Die Folgenbeseitigungslast, S. 27; Horn, Die Aufhebung des der Drittanfechtung unterliegenden Verwaltungsakts, S. 155; ders., D Ö V 1989, 976 (979).

G. Die staatliche Schutzpflicht als Ausgangspunkt

133

nutzung der Baugenehmigung. Dieses Interesse würde eine Zurechnung der privaten Handlung zum Staat jedoch nur dann rechtfertigen, wenn dieser mangels eigener Verletzungshandlung ein überwiegendes Interesse an der Ausnutzung der Baugenehmigung hätte. Das Interesse des Staates steht jedoch hinter dem des Bauherrn zurück 531 . Insoweit unterscheidet sich diese Konstellation von den Obdachlosenfällen, bei denen der Staat ein überwiegendes Interesse an der Beseitigung der durch die Obdachlosigkeit eingetretenen Gefahr für die öffentliche Sicherheit 532 hat. In den Fällen der unfreiwilligen Obdachlosigkeit wird daher eine vollstreckbare Beschlagnahmeverfügung 533 an den Wohnungsberechtigten gerichtet. Anders ist dagegen die Situation im Baunachbarrecht. Hier erlaubt der Staat lediglich ein privates Verhalten. Ob der Bauherr von dieser Erlaubnis Gebrauch macht, beruht dann auf einem eigenen Willensentschluß 534 . Zurechenbarkeit wäre hier nur gegeben, wenn mit der Bauerlaubnis auch eine Baupflicht verbunden wäre 535 . Dies ist jedoch nicht der Fall, da die Erteilung der Baugenehmigung kein Baugebot begründet 536 . Ginge man dagegen davon aus, daß das Handeln des Bauherrn trotz dessen eigenen Willensentschlusses zurechenbar wäre, würde dies bedeuten, daß, wenn der Bauherr mehrere alternative Baugenehmigungen erhalten hat 537 , eine alternative Zurechnung zum Staat erfolgen würde 538 . Die "Zielgerichtetheit " der Baugenehmigung rechtfertigt daher nicht die Zurechnung der 531

Vgl. dazu Pietzcker, JZ 1985, 209 (211), der zutreffend darauf hinweist, daß es auch bei genehmigtem Verhalten "immer noch der Bauherr ist, der hier handelt und seine Freiheiten und Interessen verwirklicht.". 532 Zur Gefahr für die öffentliche Sicherheit durch Obdachlosigkeit siehe Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 3. Auflage, Rdn. 316b. 533 Zur Wohnungsbeschlagnahme vgl. Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 3. Auflage, Rdn. 316e sowie Rdn. 206. 534 Eine Ausdehnung des Folgenbeseitigungsanspruchs auf die Beseitigung von Folgen, auf deren Eintritt die Amtshandlung nicht unmittelbar gerichtet war, sondern die erst durch ein Verhalten eines Betroffenen - oder eines Dritten - verursacht oder mitverursacht worden sind, das auf dessen eigener Entschließung beruht, wurde vom Bundesverwaltungsgericht (E 69, 366 (373)) ausdrücklich abgelehnt. 535 Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, VVDStRL 38 (1980), 167 (182); Kraft, BayVBl. 1992, 456 (459). 536 Uechtritz, Grenzen der "Legalisierungswirkung" der Baugenehmigung und des "Bestandsschutzes" bei Nutzungsänderungen und -Unterbrechungen, in: Festschrift für Konrad Geizer, 1991, 259 (261) m.w.N. 537 Zur Zulässigkeit der Erteilung mehrerer Baugenehmigungen für unterschiedliche Vorhaben auf einem Grundstück, die nur alternativ, aber nicht kumulativ ausgenutzt werden können, vgl. OVG Münster, N V w Z 1988, 554 (555). 538 Vgl. Kraft, BayVBl. 1992, 456 (459).

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5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

privaten Verletzungshandlung zum Staat mit der Folge, daß sich diese als staatlicher Eingriff darstellt. Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, daß die konkrete Beeinträchtigung des Nachbarn im Falle der Ausnutzung einer rechtswidrigen Baugenehmigung dem Staat nicht zurechenbar ist, sondern privates Handeln darstellt 539 . Der Staat trägt aufgrund der Genehmigungserteilung lediglich eine untergeordnete Mitverantwortung für die ausschließlich private Handlung, die den Staat nicht als Täter der Verletzungshandlung erscheinen läßt 540 . Folglich liegt in der Beeinträchtigung des Nachbarn kein staatlicher Eingriff, den es zu beseitigen gilt, sondern ein privates rechtswidriges Handeln, das die Schutzpflicht des Staates anspricht. Dies gilt erst recht für "Schwarzbauten" und rechtswidrige Bauwerke im Kenntnisgabeverfahren. In allen Konstellationen ist daher strukturell dieselbe Sachlage gegeben541. Verstößt das Bauvorhaben gegen nachbarschützende Vorschriften, geht es folglich bei "Schwarzbauten", rechtswidrigen Bauvorhaben im Kenntnisgabeverfahren und bei der Ausnutzung einer rechtswidrigen Baugenehmigung ausschließlich um die positive Gewährung von Schutz durch den Staat. 3. Systematische Einwendungen gegen die Anwendbarkeit des Folgenbeseitigungsanspruchs Die Widersprüchlichkeit der Anwendung des Folgenbeseitigungsanspruchs zeigt sich auch an ihren Ergebnissen. Für den Nachbarn bedeutet dies, daß zwei aus seiner Sicht identische Sachverhalte unterschiedlich behandelt werden. Effektiven Eigentumsschutz erhielte der Nachbar nur dann, wenn die Behörde durch die Erteilung der rechtswidrigen Baugenehmigung für die Beeinträchtigung mitverantwortlich ist, nicht aber dann, wenn sie an dem Zustandekommen der Beeinträchtigung nicht beteiligt ist. Die Gewährleistung wirk-

539 Vgl. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 90 ff.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 85 ff.; Schwerdtfeger, N V w Z 1982, 5 (7); Kraft, BayVBl. 1992, 456 (460); Wahl, DVB1. 1996, 641 (646); Dirnberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 85 ff.; Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, VVDStRL 38 (1980), 167 (184 f.), Diskussionsbeitrag, S. 383 f.; Langer, N V w Z 1987, 195 (196); Berger, Grundfragen umweltrechtlicher Nachbarklagen, S. 138 ff. 540 So auch Dirnberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 87; Steinberg, NJW 1984, 457 (462); mit der zutreffenden Feststellung, daß der Staat nicht zum Mittäter der konkreten Beeinträchtigung wird. 541 Siehe auch O V G Nordrhein-Westfalen, NJW 1984, 883 (883).

G. Die staatliche Schutzpflicht als Ausgangspunkt

135

samen repressiven Grundrechtsschutzes hinge von dem Zufall ab, ob das Bauwerk im Genehmigungsverfahren oder ohne staatliche Genehmigung, also im Kenntnisgabeverfahren oder "schwarz" errichtet wird. Aus der Sicht des Nachbarn erscheint diese Ungleichbehandlung sachlich nicht gerechtfertigt. Unauflösbar erscheint auch der Widerspruch zwischen den Folgen, die sich einerseits aus dem Vertrauenstatbestand des Bauherrn und andererseits aus der Folgenbeseitigungspflicht ergeben. Mit der Erteilung der Baugenehmigung erzeugt die Baurechtsbehörde unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Erlaubnis einen Vertrauenstatbestand beim Bauherrn 542 . Der Vertrauensschutz gebietet in erster Linie die Sicherung des status quo 543 . Bei der Anwendung des Folgenbeseitigungsgedankens würde dieselbe Handlung des Staates, nämlich die rechtswidrige Erteilung der Baugenehmigung, regelmäßig zur Beseitigung des status quo verpflichten. Der Staat würde folglich zu zwei gegensätzlichen Verhaltensweisen gezwungen, deren kumulative Erfüllung unmöglich ist 544 . Wenn man eine Ermessensreduzierung aus der Folgenbeseitigungspflicht herleitet, führt dies auch zu dem Ergebnis, daß der "Schwarzbauer" zumindest faktisch gegenüber dem Bauherrn, der auf die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung vertraut hat, privilegiert würde, da der Bauherr eines genehmigten Bauwerkes aufgrund des Folgenbeseitigungsanspruchs des Nachbarn gegen die Behörde regelmäßig den nachbarrechtsverletzenden Zustand beseitigen muß, während der Schwarzbauer nur ausnahmsweise zur Beseitigung verpflichtet wäre. Diese Privilegierung des "Schwarzbauers" gegenüber dem

542

Siehe unten, 6. Kap., F 1. Vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, NJW 1984, 883 (883) mit der zutreffenden Feststellung, daß die Tatsache der vorhergehenden Genehmigung allenfalls eine Differenzierung zu Gunsten des Bauherrn, nicht jedoch zu seinen Lasten rechtfertige. Vgl. auch Kraft, BayVBl. 1992, 456 (458). 544 Dieser Widerspruch besteht nicht nur im Falle einer nachträglichen, also der nach einer zumindest teilweisen Errichtung des Bauwerks erfolgten Anfechtung, sondern ebenfalls -wenn auch deutlich abgeschwächt- bei einer Anfechtung der Baugenehmigung vor dem Baubeginn. Freilich ist das Vertrauen in eine angefochtene Baugenehmigung nur sehr eingeschränkt schutzwürdig. Diese Wertung liegt der Regelung des § 50 L V w V f G zugrunde. Dies bedeutet hier auch für die Folgeentscheidung über bauordnungsrechtliche Maßnahmen eine nur sehr eingeschränkt mögliche Berufung auf den Vertrauensschutz. Dennoch bleibt die Berücksichtigung des Vertrauens des Bauherrn in die Baugenehmigung im Rahmen der Ermessensentscheidung über ein bauordnungsrechtliches Einschreiten geboten. Für die Ermessensentscheidung über die Rücknahme der Baugenehmigung vgl. BVerwG, BayVBl. 1994, 374 (374 f.). 543

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5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

rechtstreuen Bauherrn, der auf den Bestand der Baugenehmigung vertraut hat, verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG 545 . 4. Ergebnis Die Problematik der Beeinträchtigung der Nachbarrechte durch Dritte läßt sich nicht über die Deutung der Grundrechte als Abwehrrechte auflösen 546. Nur die staatliche Schutzpflicht und nicht das Abstellen auf eine staatliche Beteiligung an dem privaten Handeln kann die Grundlage für einen systematischen Nachbarschutz sein. Seit der Entdeckung staatlicher Schutzpflichten als zweite Seite der grundrechtlichen staatsgerichteten Verhaltensanforderungen ist die effektive Gewährleistung öffentlich-rechtlichen Rechtsschutzes nicht mehr von der Existenz eines staatlichen Eingriffs abhängig, sondern ist auch gegen Beeinträchtigungen von Seiten Dritter zu gewährleisten. Der Rückgriff auf den Folgenbeseitigungsanspruch, der eine unnatürliche 547 Zurechnung privaten Handelns zum Staat voraussetzt, ist bei einer konsequenten Umsetzung der staatlichen Schutzpflicht daher weder erforderlich noch geboten. Rechtswidrige Beeinträchtigungen des Nachbarn durch die Ausnutzung rechtswidriger Baugenehmigungen, durch "Schwarzbauten" und durch Bauwerke, die im Kenntnisgabeverfahren errichtet werden, sind daher grundsätzlich gleich zu behandeln. In allen Konstellationen ist ausschließlich die Schutzpflicht des Staates angesprochen. H . Die Verpflichtung der Baurechtsbehörde zum Schutz des Nachbareigentums Adressat der grundrechtlichen Schutzpflicht ist zunächst der Gesetzgeber. M i t der Schaffüng der normativen Grundlagen zum Schutz der Grundrechte korrespondiert der Gesetzesvollzug durch die Exekutive. Da der Gesetzgeber bei der Einführung des Kenntnisgabeverfahrens keine konkreten Schutzmechanismen zum Ausgleich des reduzierten Nachbarschutzes normiert hat,

545

O V G Nordrhein-Westfalen, NJW 1984, 883 (883). In diese Richtung auch V G H Bayern, BRS 48, Nr. 174, 425 (426); Kraft, BayVBl. 1992, 456 (458). A.A. Ivo, Die Folgenbeseitigungslast, S. 118. 546 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 98; Dirnberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 97. 547 Dirnberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 87, spricht hier von dogmatischen "Verrenkungen".

H. Die Verpflichtung der Baurechtsbehörde zum Schutz

137

hängt die Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht davon ab, ob die Exekutive im Rahmen des Gesetzesvollzugs zu einem eigenständigen Grundrechtsschutz berufen ist und ob sich aus einer Schutzverpflichtung der Exekutive konkrete Handlungspflichten ableiten lassen, die geeignet sind, den defizitären Nachbarschutz im Kenntnisgabeverfahren zu kompensieren. 1. Die Bindung der Verwaltung an die grundrechtliche Schutzpflicht Die Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor die grundrechtlich verbürgten Rechtsgüter zu stellen, ergibt sich aus den Grundrechten. Aus der Verankerung der Schutzpflicht in den Grundrechten folgt, daß Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung unmittelbar zum Schutz der Grundrechte verpflichtet sind (Art. 1 Abs. 3 GG) 548 . Adressat der grundrechtlichen Schutzpflicht ist somit auch die Exekutive 549 . Die Baurechtsbehörde ist daher im Rahmen des Gesetzesvollzugs zum Schutz der grundrechtlich geschützten Rechtsgüter des Nachbarn und somit auch zum Eigentumsschutz berufen und verpflichtet. 2. Gesetzesmediatisierte Schutzpflichten der Eingriffsverwaltung Grundlage der administrativen Verhaltenspflichten ist die Aufgabe zum Gesetzesvollzug. In der nachbarrechtlichen Drei-Personen-Konstellation obliegt der Baurechtsbehörde die Pflicht, die grundrechtlichen Freiräume im Nachbarschaftsverhältnis einem rechtmäßigen Ausgleich zuzuführen. Dabei korrespondiert mit der Schutzverpflichtung auf der einen Seite die Notwendigkeit zur Begrenzung der Freiheiten im Rahmen des Gesetzesvollzugs auf

548 Dirnberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 168; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 265; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 70, der zusätzlich Art. 20 Abs. 3 GG heranzieht; WahUMasing, JZ 1990, 553 (556); Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, VVDStRL 38 (1980), 167 (183); Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, S. 950. Die Reichweite der grundrechtlichen Schutzpflichten, die für alle Bereiche der Rechtsordnung gelten und Richtlinien für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung geben, wurde auch vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 49, 89 (141 f.); 46, 160 (164)) hervorgehoben. 549 Vgl. E. Klein, NJW 1989, 1663 (1663); Dirnberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 168; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 265; Wieland, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Art. 14, Rdn. 145; Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, HBdStR Band V, § 111, Rdn. 139.

138

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

der anderen Seite. Die grundrechtliche Schutzpflicht zwingt die Baurechtsbehörde zur Intervention gegenüber dem privaten Störer 550. Die Grundrechte selbst beinhalten aber keine Eingriffsermächtigung, aufgrund derer die Behörde belastende Maßnahmen gegen den störenden Dritten treffen könnte 551 . Aus dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes folgt, daß die Exekutive ihre grundsätzlich bestehende Schutzpflicht nur dann erfüllen kann, wenn der Gesetzgeber entsprechende Eingriffsbefügnisse geschaffen hat. Die grundrechtliche Schutzpflicht der Exekutive ist daher im Bereich der Eingriffsverwaltung zwangsläufig "gesetzesmediatisiert" 552. Die Schutzpflicht des Staates ist somit der Anlaß, aber nicht die Befügnis zum Eingriff 553 . 3. Bedeutung der grundrechtlichen Schutzpflicht für den Gesetzesvollzug Problematischer ist hingegen, inwieweit sich aus der grundrechtlichen Schutzpflicht konkrete Handlungspflichten für die Exekutive ableiten lassen. Neben dem gebundenen Vollzug gesetzlicher Schutzaufträge ergibt sich die Bedeutung der Verpflichtung der Exekutive zum Schutz der grundrechtlich gewährleisteten Freiräume vor allem bei der Norminterpretation und der Ermessensbetätigung 554. Die Behörde muß interpretationsbedürftige Normen im Lichte der Grundrechte und somit im Hinblick auf die Pflicht zu einem effektiven Grundrechtsschutz auslegen. Bei der Ermessensbetätigung hat die Behörde die grundrechtliche Schutzpflicht zu beachten und der Bedeutung der grundrechtlich gewährleisteten Freiräume Rechnung zu tragen 555 . Die grundrechtliche Schutzpflicht wirkt hier als verfassungsrechtliche Direktive für die Ermessensausübung 556. Der Opportunitätsgrundsatz steht unter dem Vorbehalt der verfassungsrechtlichen Anforderungen, die an den Gesetzesvollzug durch

550

Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 67. Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 43 "Die grundrechtliche Legitimität ersetzt nicht die Legalität"; Soell, NuR 1985, 205 (207); Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (559). 552 Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 42 ff.; ders.: Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, HBdStR Band V , § 1 1 1 , Rdn. 151; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 71; Fluck, UPR 1990, 81 (83). 553 Dirnberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 155. 554 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 71 f.; Dirnberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 168. 555 Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 51. 556 Soell, NuR 1985, 205 (207). 551

H. Die Verpflichtung der Baurechtsbehörde zum Schutz

139

die Exekutive zu stellen sind. D i e Bedeutung der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates kann die Grenzen des eingeräumten Ermessensspielraums derart verengen, daß jede andere Entscheidung als die Abwehr der Gefahr oder die Beseitigung der Störung ermessensfehlerhaft ist 5 5 7 . D e m Opportunitätsprinzip steht hier das Untermaßverbot entgegen. Aus der grundrechtlichen Schutzpflicht k a n n sich daher eine Ermessensreduzierung auf N u l l u n d somit ein Anspruch auf Einschreiten der Behörde ergeben 5 5 8 .

4. Befugnis zur Kompensation defizitärer legislativer Schutzpflichterfüllung durch die Exekutive D i e Pflicht zur Absicherung der grundrechtlichen Freiheiten obliegt vorrangig dem Gesetzgeber. W i e bereits erörtert, hat der Gesetzgeber i m K e n n t nisgabeverfahren die Schutzpflicht des Staates für das Nachbareigentum normativ nicht ausreichend konkretisiert 5 5 9 . Problematisch ist daher, ob die Exekutive zu einer Kompensation des normativen Schutzdefizits i m Rahmen der

557 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 188; Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 51 ff.; Soell, NuR 1985, 205 (207); Wieland, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar Art. 14, Rdn. 145. Zurückhaltender demgegenüber Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 246 ff. Stark einschränkend dagegen, Hain/Schlette/Schmitz, Ermessen und Ermessensreduktion - ein Problem im Schnittpunkt von Verfassungs- und Verwaltungsrecht, AöR 1997, 32 (50 ff. und 60 f.), die unzutreffend eine Handlungspflicht der Behörde nur bei einer Verletzung des Menschenwürdekerns der Grundrechte annehmen. Zur Pflicht der Ermöglichung des Vorlesungsbesuchs durch ordnungsrechtliches Eingreifen bei einem Universitätsstreik vgl. OVG Hamburg, NJW 1977, 1254 (1254 f.). 558 Dimberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 168; Wieland, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar Art. 14, Rdn. 145. A.A. dagegen Knemeyer, Schutz der Allgemeinheit und der individuellen Rechte durch die polizei- und ordnungsrechtlichen Handlungsvollmachten der Exekutive, VVDStRL 35 (1977), 221 (252 f.), nach dessen Auffassung zwar aufgrund einer Schutzpflicht des Staates bei Gefahren für individuelle Schutzgüter ein Anspruch des Bürgers auf polizeiliches Einschreiten besteht, aber der Schutzanpruch nicht aus den Grundrechten abgeleitet werden kann, weil letztlich alles staatliche Handeln im Interesse des Bürgers auf Grundrechte zurückführbar ist. Die Ablehnung der grundrechtlichen Ableitung des Schutzanspruchs wird jedoch auch von Knemeyer VVDStRL 35 (1977), 221 (253) dahingehend eingeschränkt, daß eine Ableitung aus den Grundrechten erst ausscheidet, "sobald (...) eine staatliche Aufgabe, zur Wahrung der Grundrechte beizutragen, ihren Niederschlag in einer einzelnen Aufgabenzuweisungsnorm gefunden hat ". 559 Beispiele für die normative Konkretisierung der staatlichen Schutzpflicht finden sich in § 17 Abs. 1 S. 2 und § 25 Abs. 2 BImSchG sowie in § 5 Abs. 1 Nr. 3 GaststättenG.

140

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

Ermessensausübung befügt ist. Dabei geht es, wie bereits dargestellt 560 , nicht um die Ausfüllung normativer Schutzlücken561 im Wege eines unmittelbaren Rückgriffs auf Art. 14 GG, sondern um einen Ausgleich für fehlende Konkretisierungen im gesetzlichen Schutzsystem. Die staatliche Pflicht zum Schutz der grundrechtlich gewährleisteten Freiräume gegenüber Beeinträchtigungen Dritter bedarf aufgrund des Vorbehalts des Gesetzes der Umsetzung durch ein Gesetz. Medium zur Erfüllung der administrativen Schutzpflicht ist die normative Ermächtigungsgrundlage. Daraus folgt aber nicht, daß die Pflicht der Exekutive zum Schutz der Grundrechte eine abgeleitete Pflicht darstellt. Die Verwaltung bedarf zwar zwingend einer normativen Grundlage für die Schutzgewährleistung, durch die Verankerung der Schutzpflicht in den Grundrechten ist die Exekutive jedoch gem. Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar an die Schutzpflicht gebunden. Aus der Unmittelbarkeit der Bindung der Verwaltung an die Grundrechte ergibt sich, daß die Behörde im Rahmen des Gesetzesvollzugs zu einer eigenständigen Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht berufen und verpflichtet ist 562 . Der Schutz der grundrechtlich gesicherten Freiräume ist eine originäre und nicht eine abgeleitete Pflicht der Exekutive 563 . Daraus ergibt sich, daß die Baurechtsbehörde zu einem eigenständigen Grundrechtsschutz verpflichtet und innerhalb dieser eigenständigen Schutzpflicht auch zu einer Kompensation defizitärer legislativer Schutzpflichterfüllung befugt ist. 5. Pflicht der Baurechtsbehörde zu einer Kompensation defizitärer legislativer Schutzpflichterfüllung Effektiver Grundrechtsschutz ist auf jeder Ebene des staatlichen Handelns zu gewährleisten. Das bedeutet aber nicht, daß dem Gesetzgeber oder der

560

Siehe vorstehend, 5. Kap., H 2. Zur Schutzpflichterfüllung durch die Exekutive im Falle defizitärer legislativer Umsetzung der Schutzpflicht siehe auch Dirnberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 165. 562 Siehe dazu Ortloff.\ in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band II, 3. Auflage, S. 179; Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, S. 178 f.; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 1 III, Rdn. 18, 43. 563 Insofern ist die Feststellung von Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 125, zutreffend, daß sich eine Stellung der Legislative als vorrangiger Adressat der grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 3 GG nicht ergibt. 561

H. Die Verpflichtung der Baurechtsbehörde zum Schutz

141

Verwaltung ein bestimmtes Maß an Schutzgewährung zwingend zugewiesen ist. Vielmehr müssen die Bürger durch den Staat insgesamt vor Beeinträchtigungen durch Dritte effektiv geschützt werden. Gesetzgeber und Verwaltung 564 sind daher gemeinsam, gleichsam als Gesamtschuldner, verpflichtet, die Bürger effektiv zu schützen. Die administrative Schutzpflicht ist der legislativen Schutzpflicht nachgeschaltet. Da die Verwaltung, bildlich gesprochen, am Ende der Schutzkette, bestehend aus Verfassung, Legislative und Exekutive, steht, muß der erforderliche staatliche Schutz spätestens durch ihr Handeln hergestellt werden. Die Verwaltung muß folglich das insgesamt notwendige Schutzniveau gewährleisten. Daher hat die Exekutive die Pflicht, legislative Schutzdefizite unter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben im Rahmen einer eigenen Schutzpflichterfüllung zu kompensieren. 6. Keine Kollision der Handlungspflicht mit dem Erfordernis polizeilicher Flexibilität Die Anforderungen, die an eine Ermessensreduzierung zu stellen sind, richten sich im Polizei- und Ordnungsrecht auch nach dem Erfordernis zu einem flexiblen Verwaltungshandeln 565. So können im allgemeinen Polizeirecht mitunter umfangreiche taktische Erwägungen einen flexiblen Einsatz der Mittel für eine effektive Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit erfordern 566 . Gesichtspunkte wie die Verhinderung einer Eskalation der Gewalt 567 , die Vermeidung von Gefahrdungen für die Rechtsgüter Dritter, aber auch strategische Erwägungen bei der Verbrechensbekämpfung können hier eine Rolle spielen. Die Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung polizeilicher Flexibilität kann daher im Einzelfall eine Ermessensreduzierung ausschließen568.

564 Demgegenüber ist die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung vorwiegend zur Kontrolle der Schutzgewährung durch die anderen Gewalten berufen. 565 Ossenbühl, D Ö V 1976, 463 (469). 566 V g l dazu Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 3. Auflage, Rdn. 322 ff.; Ossenbühl, D Ö V 1976, 463 (469). 567 V g l Würtenb erger/H eckmann/Riggert, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 3. Auflage, Rdn. 323. 568 A.A. Knemeyer, Der Schutz der Allgemeinheit und der individuellen Rechte durch die polizei- und ordnungsrechtlichen Handlungsvollmachten der Exekutive, VVDStRL 35 (1977), 221 (242).

142

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

Im Gegensatz zum allgemeinen Polizeirecht ist die Ermessensentscheidung über ein bauordnungsrechtliches Einschreiten jedoch weitaus weniger komplex. Taktische Erwägungen hinsichtlich des Umfangs und des Zeitpunktes der bauordnungsrechtlichen Maßnahmen sind regelmäßig nicht erforderlich. Aus der fehlenden Notwendigkeit zur Berücksichtigung taktischer Momente im Bereich des Bauordnungsrechts ergibt sich daher, daß ein Erfordernis zur Aufrechterhaltung von administrativer Flexibilität, das einer Ermessensreduzierung entgegenstehen kann, im Baurecht nicht besteht. 7. Administrative Freiheit bei der Wahl des Schutzmittels Die grundrechtlichen Schutzpflichten sind erfolgsbezogen. Das bedeutet, der Baurechtsbehörde als Schutzverpflichtete wird durch ihre Bindung an die Pflicht zum Eigentumsschutz ein Handlungsziel vorgegeben 569. Hinsichtlich des konkreten Schutzmittels ist die Baurechtsbehörde dagegen nicht gebunden. Der Adressat der Schutzpflicht kann grundsätzlich zwischen verschiedenen geeigneten Schutzmaßnahmen frei wählen. Die administrative Freiheit bei der Wahl des Schutzmittels könnte daher einer Ermessensreduzierung und folglich einem Anspruch des Nachbarn auf Gewährung konkreten Schutzes entgegenstehen. Im Bauordnungsrecht ist die Auswahl zwischen den möglichen Mitteln zur Schutzpflichterfüllung jedoch eng begrenzt 570. So kann die Beeinträchtigung des Nachbarn durch eine bereits geschaffene nachbarrechtsverletzende Bausubstanz nur durch die Beseitigung der nachbarrechtsverletzenden Bauteile aufgehoben werden. Effektiven Eigentumsschutz erhält der Nachbar bei einer bevorstehenden Ausführung eines nachbarrechtsverletzenden Bauvorhabens ebenfalls nur dann, wenn die Baurechtsbehörde den Baubeginn untersagt. Im Baurecht kommt daher in aller Regel nur eine einzige Handlung zur effektiven Schutzgewährleistung in Betracht. Daraus ergibt sich, daß die administrative Freiheit bei der Auswahl des Schutzmittels einem Anspruch des Nachbarn auf Vornahme einer konkreten Schutzhandlung grundsätzlich nicht entgegenstehen kann.

569 Zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen die Baurechtsbehörde überhaupt zu einem Einschreiten verpflichtet ist, siehe nachstehend , 5. Kap., I. 570 Dies verkennt Kraft, BayVBl. 1992, 456 (461).

I. Kompensation des defizitären Nachbarschutzes

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8. Ergebnis Die Baurechtsbehörde, die über Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar an die grundrechtliche Schutzpflicht gebunden ist, ist im Rahmen des Gesetzesvollzugs zur Kompensation des fehlenden Eigentumsschutzes im Kenntnisgabeverfahren verpflichtet. Sie hat als letztes Glied der staatlichen Schutzkette umfassenden Grundrechtsschutz zu gewährleisten. Dabei ist die grundrechtliche Schutzpflicht im Rahmen der Ermessensausübung zu berücksichtigen. Die Verpflichtung der Baurechtsbehörde zum Schutz der Grundrechte des Nachbarn kann folglich das Ermessen derart verengen, daß nur die Entscheidung zum Einschreiten rechtmäßig ist 571 . I. Kompensation des defizitären Nachbarschutzes im Kenntnisgabeverfahren Es hat sich gezeigt, daß die grundrechtlichen Schutzpflichten für das Nachbareigentum durch den Gesetzgeber im Kenntnisgabeverfahren nicht ausreichend konkretisiert wurden 572 . Daraus folgt, daß die Baurechtsbehörde im Rahmen des Gesetzesvollzugs verpflichtet ist, den defizitären Nachbarschutz zu kompensieren und dadurch den grundrechtlich geforderten Erfolg der bestmöglichen Integritätsgewährleistung des Nachbareigentums sicherzustellen 573 . Es wird im Folgenden versucht, aus der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates konkrete Handlungspflichten der Baurechtsbehörde abzuleiten. Dabei wird differenziert zwischen dem präventiven Nachbarschutz, der darauf gerichtet ist, daß eine den Nachbarn beeinträchtigende Bausubstanz nicht geschaffen wird oder eine bereits eingetretene Störung nicht vertieft wird, und dem repressiven Nachbarschutz, der darauf gerichtet ist, daß eine bereits eingetretene Störung wieder beseitigt wird.

571

Vgl. dazu im Einzelnen nachstehend, 5. Kap., I. Siehe dazu oben, 5. Kap., A, B, F 4. 573 A u f die staatliche Schutzpflicht wird im Rahmen eines Ausgleichs defizitären Nachbarschutzes bei genehmigungsfreien Bauvorhaben auch von Degenhart, Genehmigungsfreies Bauen und der Rechtsschutz des Nachbarn, S. 21, Fußnote 104, abgestellt. 572

144

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

1. Kompensation des defizitären präventiven Nachbarschutzes Begehrt der Nachbar ein präventives Einschreiten der Behörde durch den Erlaß einer Baubeginnuntersagungsverfügung oder einer Baueinstellungsverfügung, weil er befürchtet, durch das Bauvorhaben in seinen Nachbarrechten verletzt zu werden, stellt sich die Problematik typischerweise wie folgt dar: Wird seinem Antrag nicht entsprochen, werden vollendete Tatsachen geschaffen, die möglicherweise nur schwer rückgängig zu machen sind. Wird dagegen der Baubeginn untersagt oder die Einstellung der Bauarbeiten verfügt, wird der Bauherr bei der Verwirklichung seines Bauvorhabens behindert. Darüber hinaus drohen dem Bauherrn erhebliche wirtschaftliche Nachteile 574 . Sowohl die Rechtsposition des Nachbarn als auch die des Bauherrn ist grundrechtlich in Art. 14 GG verankert 575 . Ein grundsätzlicher Vorrang gebührt keiner der beiden Rechtspositionen576. Vielmehr sind beide Interessen von der Behörde im Rahmen des Gesetzesvollzugs zu berücksichtigen und bei einer Ermessensentscheidung zu einem gerechten Ausgleich zu bringen 577 . a) Notwendigkeit

von Prävention

Für den effektiven Schutz der Rechtsposition des Nachbarn ist der Zeitpunkt der Schutzgewährung von maßgeblicher Bedeutung. Der Schutz des Nachbarn ist um so wirksamer, je frühzeitiger er einsetzt, da sich mit der Ausführung der Bauarbeiten die tatsächlichen Verhältnisse mit jedem Tag des Weiterbauens zum Nachteil des Nachbarn verschlechtern 578.

574

Zu den erheblichen wirtschaftlichen Konsequenzen bei einer Baueinstellungsverfügung bzw. einer Baubeginnuntersagungsverfügung vgl. Schoch, Vorläufiger Rechtsschutz und Risikoverteilung im Verwaltungsrecht, S. 335, Korbmacher, VB1BW 1981, 97 (101 f.); Seilmann, NJW 1964, 1545 (1546). 575 BVerfGE 35, 263 (276 f.). 57 6 Seilmann, NJW 1964, 1545 (1546). 577 Vgl. Schoch, Vorläufiger Rechtsschutz und Risikoverteilung im Verwaltungsrecht, S. 340. 57 8 Schoch, Vorläufiger Rechtsschutz und Risikoverteilung im Verwaltungsrecht, S. 336; Korbmacher, VB1BW 1981, 97 (101 ).

I. Kompensation des defizitären Nachbarschutzes

145

aa) Faktische Hindernisse für die Beseitigung einer Beeinträchtigung des Nachbareigentums Die faktischen Hindernisse für die Durchsetzbarkeit der Rechte des Nachbarn bei einem Beseitigungsverlangen, das sich gegen ein fertiggestelltes Bauwerk richtet, wurde vor allem 579 vom OVG Nordrhein-Westfalen 580 hervorgehoben: Ein faktisches Hindernis bei der Rechtsdurchsetzung bildet zunächst der wachsende Widerstand des Bauherrn - und möglicherweise auch der Baurechtsbehörde - angesichts des steigenden Umfangs der Investitionen und des damit verbundenen Schadens im Falle eines Beseitigungsbegehrens 581. Ein weiteres faktisches Hindernis kann durch den Druck geschaffen werden, der "sowohl aus dem politischen Raum als vor allem auch durch die publizierte öffentliche Meinung, die in derartigen Fragen emotional und nicht nach der Rechtslage reagiert" 582 , auf den Nachbarn ausgeübt wird. Dies gilt insbesondere dann, wenn mit der bauaufsichtsrechtlichen Maßnahme ein Verlust von Arbeitsplätzen verbunden ist 583 . Die Schaffung vollendeter Tatsachen verhindert des weiteren die Möglichkeit, durch eine Abänderung des Vorhabens rechtmäßige Zustände herzustellen 584. bb) Rechtliche Hindernisse für die Beseitigung einer Beeinträchtigung des Nachbareigentums Während die tatsächlichen Nachteile für den Nachbarn bei fehlender Prävention offenkundig und allgemein anerkannt sind, erscheint es problematisch, ob rechtliche Hindernisse bei einem nachträglichen Beseitigungsbegehren hinzutreten. Rechtliche Hindernisse für die Verwirklichung der grundrechtlich geschützten Rechtsposition des Nachbarn könnten sich zunächst aus einer

579 Zu den faktischen Hindernissen siehe auch Schoch, Vorläufiger Rechtsschutz und Risikoverteilung im Verwaltungsrecht, S. 34; Korbmacher, VB1BW 1981, 97 (101). 580 OVG Nordrhein-Westfalen, NJW 1984, 1577 (1579); OVG NordrheinWestfalen, NJW 1985, 2351 (2352). 581 OVG Nordrhein-Westfalen, NJW 1984, 1577 (1579). Vgl. dazu auch Brohm, Öffentliches Baurecht, S. 456. 582 OVG Nordrhein-Westfalen, NJW 1984, 1577 (1579); OVG NordrheinWestfalen, NJW 1985, 2351 (2352). 583 O V G Nordrhein-Westfalen, NJW 1985, 2351 (2352). 584 O V G Nordrhein-Westfalen, NJW 1984, 1577 (1579).

10 Kruhl

146

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

rechtlichen Bindung der Baurechtsbehörde im Verhältnis zum störenden Bauherrn ergeben, da die Baurechtsbehörde bei der Prüfung bauordnungsrechtlicher Maßnahmen die durch Bestandsschutz, Vertrauensschutz und das Verhältnismäßigkeitsprinzip gezogenen Grenzen beachten muß. Im Kenntnisgabeverfahren stehen in rechtlicher Hinsicht jedoch weder Bestandsschutz noch Vertrauensschutz einem bauordnungsrechtlichem Einschreiten und damit einem Beseitigungsbegehren des Nachbarn entgegen585. Die Problematik besteht im Kenntnisgabeverfahren vor allem in der Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als rechtliches Hindernis einem repressiven Schutz des Nachbarn entgegensteht. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verbietet die Anordnung der Beseitigung einer baurechtswidrigen Anlage, wenn diese nicht in einem vernünftigen Verhältnis zu dem angestrebten Erfolg steht 586 . Eine im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes relevante grundrechtlich geschützte Rechtsposition des Bauherrn aus Art. 14 Abs. 1 GG auf Erhalt der rechtswidrigen Anlage besteht dagegen nicht. Mit der Beseitigung der rechtswidrigen baulichen Anlage realisiert sich lediglich ein wirtschaftlicher Schaden für den Bauherrn. Die Frage, welche Bedeutung den wirtschaftlichen Interessen des Bauherrn an der Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustandes im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zuzumessen ist, wird nicht einheitlich beantwortet. Nach der Rechtsprechung des OVG Nordrhein-Westfalen ist den wirtschaftlichen Interessen des Bauherrn keine relevante Bedeutung beizumessen 587 . Nach der Auffassung des Gerichts wird der eventuelle Beseitigungsanspruch des Nachbarn daher in rechtlicher Hinsicht nicht dadurch erschwert, daß das Bauwerk fertiggestellt wird 588 . Das Gericht betont dabei, daß der wirtschaftliche Schaden ausschließlich der Risikosphäre des Bauherrn zuzuordnen sei 589 . Der finanzielle Schaden des Bauherrn darf bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung jedoch nicht völlig außer acht gelassen werden, da der im Rechtsstaatsprinzip verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur die Einbeziehung rechtlich geschützter Güter verlangt, sondern auch die Berücksichtigung faktischer Positionen gebietet. Die wirtschaftlichen Interes585

Siehe dazu 6. Kap., C 2 und C 3. V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1982, 199 (201). 587 OVG Nordrhein-Westfalen, NJW 1984, 883 (885). 588 OVG Nordrhein-Westfalen, NJW 1984, 1577 (1579). 589 OVG Nordrhein-Westfalen, NJW 1984, 883 (885); OVG NordrheinWestfalen, NJW 1984, 1577 (1579). Kritisch dazu Schoch, Vorläufiger Rechtsschutz und Risikoverteilung im Verwaltungsrecht, S. 341. 586

I. Kompensation des defizitären Nachbarschutzes

147

sen des Bauherrn sind daher in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzubeziehen 590 . Dabei ist jedoch der Höhe des Aufwandes, mit dem die baurechtswidrige Anlage errichtet worden ist, keine übergeordnete Bedeutung beizumessen, so daß eine Beseitigungsverfügung den Bauherrn nur in eng begrenzten Ausnahmefallen unverhältnismäßig belastet591. Ein rechtlicher Hinderungsgrund kann sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aber vor allem auch dann ergeben, wenn andere als wirtschaftliche Interessen des Bauherrn, namentlich besondere persönliche oder soziale Belange von der Abbruchsverfügung betroffen sind 592 . Einer zügigen Beseitigung der Beeinträchtigung der Nachbarrechte kann ferner auch eine (vorübergehende) Unmöglichkeit der Herstellung rechtmäßiger Zustände entgegenstehen. Ein solcher Hinderungsgrund ist beispielsweise gegeben, wenn die Räumlichkeiten bereits vermietet sind und der Eigentümer zunächst die Kündigung der Wohnungen durchsetzen muß 593 . cc) Fazit Der Verwirklichung der Rechtsposition des Nachbarn auf der repressiven Ebene können tatsächliche sowie rechtliche Hindernisse entgegenstehen. Die Anforderungen an den präventiven Nachbarschutz sind daher unter dem Gesichtspunkt eines erschwerten und daher nur eingeschränkt effektiven repressiven Nachbarschutzes zu beurteilen 594 . Effektiver Schutz der grundrechtlich verankerten Nachbarrechte muß darum bereits auf der Präventionsebene ansetzen595.

590 V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1982, 199 (201); V G H BadenWürttemberg BauR 1989, 193 (194); OVG Niedersachsen, BauR 1984, 277 (277 f.). 591 Zur UnVerhältnismäßigkeit einer Rückbauverfügung bei einer geringfügigen Unterschreitung des Grenzabstands vgl. OVG Niedersachsen, BauR 1984, 277 (277 f.). 592 Zur UnVerhältnismäßigkeit einer Abbruchsanordnung bei einem geistig behinderten Hausbewohner siehe V G H Baden-Württemberg, BauR 1991, 450 (450 ff.). Zur Berücksichtigung persönlicher Momente siehe auch Schenke, GewArch. 1976, 1 (2). 593 Vgl. dazu Schlez, Landesbauordnung für Baden-Württemberg, 4. Auflage, § 65, Rdn. 39. 594 Vgl. Schoch, Vorläufiger Rechtsschutz und Risikoverteilung im Verwaltungsrecht, S. 343. 595 Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (4); Steinberg, NJW 1984, 457 (461).

148

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

b) Handlungspflicht der Baurechtsbehörde zur Gewährleistung effektiven präventiven Nachbarschutzes im Kenntnisgabeverfahren Die fehlende Prävention durch eine staatliche Kontrolle des Bauvorhabens in einem Verfahren unter Beteiligung des Nachbarn und der nicht vorhandene präventive Schutz des Genehmigungsabwehranspruchs sind im Kenntnisgabeverfahren durch die Baurechtsbehörde zu kompensieren. Ansatzpunkt für die Gewährleistung effektiven präventiven Nachbarschutzes ist die Entscheidung der Baurechtsbehörde über ein präventives Einschreiten bei einem entsprechenden Antrag des Nachbarn. Ein Vergleich der Schutzmechanismen im Genehmigungsverfahren mit den Voraussetzungen für einen Anspruch auf präventives Einschreiten ergibt ein Ausgleichsbedürfnis auf zwei Ebenen: Zum einen kann eine Kompensation bei den Anforderungen ansetzen, die an das Wahrscheinlichkeitsurteil hinsichtlich eines Verstoßes gegen nachbarrechtliche Vorschriften zu stellen sind. Auf der anderen Seite besteht ein Bedürfnis zu einem effektiven Schutz des Nachbareigentums auch unterhalb der Schwelle unerträglicher Beeinträchtigungen. aa) Unzulässigkeit einer umfassenden Kompensation im Kenntnisgabeverfahren Im Hinblick auf den Nachbarschutz im Genehmigungsverfahren würde eine umfassende Kompensation des fehlenden Schutzes im Kenntnisgabeverfahren erzielt werden, wenn für einen Anspruch des Nachbarn auf präventive Untersagung des Baubeginns sowohl an das Vorliegen von Anhaltspunkten für einen Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften als auch an die Intensität einer Nachbarrechtsverletzung keine Anforderungen gestellt würden, wenn also die Baurechtsbehörde auf den bloßen Antrag des Nachbarn unabhängig von dem Vorliegen konkreter Zweifel an der Rechtmäßigkeit zu einer Untersagung des Baubeginns und einer präventiven Kontrolle verpflichtet wäre. Es würde dadurch im Kenntnisgabeverfahren ein mit dem Widerspruchsrecht gegen die Baugenehmigung vergleichbarer Schutz vermittelt, denn mit der Untersagungsverfügung wird auf das Verlangen des Nachbarn eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens herbeigeführt und der Baubeginn bis zum Abschluß der Prüfung verschoben 596. Eine derartig weitreichende

596

Dies gilt nur für das uneingeschränkte Widerspruchsrecht, bei dem der Widerspruch aufschiebende Wirkung entfaltet. Seit der Einführung von § 212a

I. Kompensation des defizitären Nachbarschutzes

149

Kompensation ist freilich weder von einer Ermächtigungsgrundlage gedeckt noch mit dem Beschleunigungsziel des Kenntnisgabeverfahrens vereinbar. bb) Kompensation durch administrative Handlungspflicht bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens Für den Schutz des Nachbareigentums ist es von wesentlicher Bedeutung, ob der Verstoß gegen öffentlich-rechtliche nachbarschützende Vorschriften vor einem präventiven Einschreiten bereits festgestellt sein muß, oder ob es ausreicht, daß ein solcher Verstoß zwar nicht sicher feststeht, aber nach der Sachlage nicht ausgeschlossen werden kann. Diese Frage ist zunächst zu trennen von den Anforderungen, die an die Intensität der Beeinträchtigung zu stellen sind 597 . Ginge man davon aus, daß ein Rechtsverstoß vor einem präventiven Einschreiten durch eine Baubeginnuntersagungsverfügung oder eine Baueinstellungsverfügung erwiesen sein müßte, bedürfte es bei nicht offensichtlichen Rechtsverletzungen eines erheblichen administrativen Prüfungsaufwandes vor dem Erlaß einer entsprechenden Anordnung. Dabei ergäbe sich der hohe Aufwand vor allem aus der Tatsache, daß sich die Baurechtsbehörde bei Vorhaben, die im Kenntnisgabeverfahren errichtet werden, im Zeitpunkt des nachbarlichen Schutzbegehrens zum ersten Mal inhaltlich mit dem Bauvorhaben befaßt. Eine vollständige Prüfung der Einhaltung der nachbarschützenden Vorschriften würde aus diesem Grund einen nicht unerheblichen Zeitaufwand benötigen. Es bestünde daher die Gefahr, daß der Bau in dieser Zeit fortschreitet und vollendete Tatsachen geschaffen werden. Die Problematik des Gefahrverdachts war bislang im Bauordnungsrecht von nur untergeordneter Bedeutung. Bauaufsichtsrechtliche Maßnahmen gegen genehmigte Bauvorhaben setzen die Aufhebung der Baugenehmigung voraus. Die materielle Baurechtswidrigkeit wurde bei genehmigten Bauvorhaben in dem Verfahren, das der Aufhebung der Baugenehmigung vorausgeht, festgestellt. Bei sog. "Schwarzbauten" oder bei Abweichungen von der Baugenehmigung erfolgte die Untersagung der weiteren Bauausführung bereits aufgrund der formellen Rechtswidrigkeit (§ 64 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, Nr. 3 LBO), so

BauGB hat der Nachbarwiderspruch gegen die Baugenehmigung keine aufschiebende Wirkung mehr. 597 Zu den Anforderungen an die Intensität der Beeinträchtigung siehe unten, 5. Kap., I l b , cc.

150

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

daß das Erfordernis der Prüfung der Genehmigungsfähigkeit nicht mit der Gefahr der Schaffung vollendeter Tatsachen kollidierte. Die Problematik präventiver Maßnahmen aufgrund von Zweifeln hinsichtlich der Rechtmäßigkeit stellt sich daher typischerweise bei Vorhaben, die im Kenntnisgabeverfahren errichtet werden. Präventiver Schutz erfordert im Kenntnisgabeverfahren Mechanismen, die darauf gerichtet sind, daß sich die potentielle Gefahr der Verletzung der Nachbarrechte nicht realisiert. Eine teilweise Kompensation des defizitären präventiven Nachbarschutzes ließe sich daher dadurch erreichen, daß die Baurechtsbehörde bereits bei geringen Anforderungen an das Wahrscheinlichkeitsurteil hinsichtlich einer Verletzung nachbarschützender Vorschriften zur Sicherung der Rechtsposition des Nachbarn eine Baubeginnnuntersagungsverfügung bzw. eine Baueinstellungsverfügung erließe. Dadurch würde verhindert, daß der Bau so weit voranschreitet, daß eine Beeinträchtigung des Nachbarn derart verfestigt würde, daß eine Beseitigung der Verletzung der Nachbarrechte nur unter den Schwierigkeiten des repressiven Schutzes möglich wäre.

(1) Ermächtigung

zum präventiven

Einschreiten

bei Zweifeln

Voraussetzung für die Möglichkeit einer Kompensation des defizitären Nachbarschutzes im Kenntnisgabeverfahren durch eine Pflicht zum Einschreiten bereits bei geringen Anforderungen an die Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften ist, daß eine entsprechende Anordnung gegen den Bauherrn von einer Ermächtigungsgrundlage gedeckt ist. Aufgrund des Vorbehalts des Gesetzes kann die Baurechtsbehörde nur dann nachbarschützende, den Bauherrn belastende Maßnahmen ergreifen, wenn die Mindestanforderungen an die Verdachtsmomente, die sich aus dem einfachgesetzlich vorgegebenen Gefahrenbegriff ergeben 598, erfüllt sind. Nur innerhalb dieser Vorgabe kann die Behörde ihrer Schutzpflicht nachkommen 599 . Ermächtigungsgrundlage für eine Untersagung des Baubeginns ist § 47 Abs. 1 S. 2 LBO. Gem. § 47 Abs. 1 S. 2 LBO haben die Baurechtsbehörden nach pflichtgemäßem Ermessen diejenigen Maßnahmen zu treffen, die zur

598 599

Vgl. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 109. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 109.

151

I. Kompensation des defizitären Nachbarschutzes

Wahrnehmung ihrer Aufgaben, nämlich darauf zu achten, daß die baurechtlichen Vorschriften eingehalten werden, erforderlich sind. Aufgrund der weiten Fassung von § 47 Abs. 1 LBO kann die Baurechtsbehörde bereits bei ersten Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens eine Baubeginnuntersagung zur Sachverhaltsaufklärung verfugen, da § 47 Abs. 1 S. 2 LBO nicht nur zu einem Einschreiten gegen begangene oder drohende Rechtsverstöße ermächtigt, sondern auch solche Maßnahmen umfaßt, die eine wirksame Bauaufsicht überhaupt erst ermöglichen 600 . Ermächtigungsgrundlage für eine Baueinstellungsverfügung ist § 64 Abs. 1 LBO. Im Einklang mit polizeirechtlichen Grundsätzen ist es für eine Verfügung der Baueinstellung zumindest erforderlich, daß ein Anfangsverdacht vorliegt 601 . Voraussetzung sind hier Anhaltspunkte, die ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens begründen 602. Die bloße Anzeige eines Nachbarn, daß das Bauvorhaben nachbarschützende Vorschriften verletzt, reicht aufgrund des Eigeninteresses dagegen nicht aus, sofern sich hieraus keine zusätzlichen Anhaltspunkte ergeben 603. Die erforderliche Ermächtigung der Baurechtsbehörde für eine effektive präventive Gefahrenabwehr ist somit gegeben. Die Baurechtsbehörde ist daher ermächtigt, bereits bei ersten Zweifeln nach pflichtgemäßem Ermessen den Baubeginn zu untersagen, bzw. bei konkreten Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Vorhabens die Einstellung der weiteren Bauausführung zu verfügen 604. (2) Vermutung für die Einhaltung

der baurechtlichen

Vorschriften

?

Der Berechtigung der Baurechtsbehörde, bereits bei Zweifeln an der Einhaltung öffentlich-rechtlicher Vorschriften bauordnungsrechtliche Maßnahmen zur Verhinderung der Schaffung vollendeter Tatsachen zu erlassen, könnte eine Vermutung für die Einhaltung der baurechtlichen Vorschriften 605 entgegenstehen. Eine gesetzliche Vermutungsregelung mit dem Inhalt, daß die bauaufsichtlichen Anforderungen bei der Vorlage einer entsprechenden 600

Vgl. V G H Baden-Württemberg, BRS 36 Nr. 174, 355 (355 f.). V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1994, 196 (196). 602 V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1994, 196 (196). 603 Zur Erforderlichkeit der Berücksichtigung der Frage nach der Person des Anzeigenden, vgl. Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, 3. Auflage, Rdn. 283. 604 Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (6). 605 Vgl. hierzu Jade, ZfBR 1996, 241 (248 f.). 601

152

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

Bescheinigung eines Sachverständigen eingehalten werden, ist für bestimmte Sachverständige im Genehmigungsverfahren auch in der Musterbauordnung vorgesehen 606. Eine solche für das Kenntnisgabeverfahren nicht normierte Vermutung könnte sich daraus ergeben, daß die Aufgabe zur Prüfung der Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung auf Private übertragen wurde und die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften gegenüber der Behörde bestätigt wird. Zu unterscheiden ist jedoch zwischen der Prüfverantwortung und der Gewährleistungsverantwortung. Die Eigenverantwortlichkeit der am Bau Beteiligten umfaßt die Pflicht zur Prüfung der Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens und die Haftung der Privaten für etwaige Prüffehler. Demgegenüber trägt die Baurechtsbehörde weiterhin die Gewährleistungsverantwortung für die Einhaltung der öffentlichrechtlichen Bauvorschriften. Der Verantwortungsbereich der Baurechtsbehörde bleibt insoweit uneingeschränkt aufrechterhalten. Hinsichtlich der Bauvorlagen und damit auch der privaten Bestätigungen der Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften wird durch § 51 Abs. 5 S. 2 LBO mit dem Hinweis auf § 47 Abs. 1 LBO auch ausdrücklich festgelegt, daß die Verpflichtung der Baurechtsbehörde zur Überwachung und Durchsetzung der baurechtlichen Vorschriften durch den Abbau der präventiven Kontrolle nicht berührt wird. Eine Vermutung für die Einhaltung der baurechtlichen Vorschriften, die einem präventiven Einschreiten bei Zweifeln entgegenstünde, besteht im Kenntnisgabeverfahren somit nicht.

(3) Pflicht der Baurechtsbehörde zum Einschreiten bei Zweifeln Bei der Neuregelung des Kenntnisgabeverfahrens hat der Gesetzgeber keine ausreichenden präventiven Mechanismen zum Schutz des Nachbareigentums geschaffen. Ein präventiver Schutz des Nachbareigentums ist jedoch Voraussetzung für einen effektiven Grundrechtsschutz. Die grundrechtlich geforderte Kompensation des defizitären präventiven Nachbarschutzes muß daher auch bei den Anforderungen ansetzen, die an das Wahrscheinlichkeitsurteil hinsichtlich eines Verstoßes gegen nachbarschützende Vorschriften zu stellen sind 607 . Es stellt sich somit die Frage, wann die Baurechtsbehörde bei Zweifeln

606

§ 66 Abs. 4 MBO. So auch V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1995, 320 (321) für das Anzeigeverfahren der BaufreistellungsVO. Vgl. auch Degenhart, Genehmigungsfreies Bauen und der Rechtsschutz des Nachbarn, S. 24; Brohm, Öffentliches Baurecht, S. 460. 607

I. Kompensation des defizitären Nachbarschutzes

153

an der Einhaltung der öffentlich-rechtlichen nachbarschützenden Vorschriften zu einem präventiven Einschreiten verpflichtet ist. Treten Zweifel an der Einhaltung der nachbarschützenden Vorschriften auf, hat die Baurechtsbehörde sowohl das Interesse des Bauherrn an einer planmäßigen Verwirklichung des Bauvorhabens als auch die Schutzbedürftigkeit des Nachbarn zu berücksichtigen. Ginge man jedoch davon aus, daß dem Interesse des Bauherrn an der planmäßigen Verwirklichung des Bauvorhabens eine überwiegende Bedeutung zukäme und zunächst die Verletzung der nachbarschützenden Vorschriften nachgewiesen sein müßte, würde der präventive Grundrechtsschutz insgesamt nahezu leerlaufen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß im Falle der Verwirklichung der Gefahr die Beeinträchtigung oftmals nicht oder nur mit großen Schwierigkeiten zu beseitigen ist. Sofern sich die Zweifel nicht rechtzeitig beheben lassen, kommt daher im Hinblick auf die Gefahr der Schaffung vollendeter Tatsachen den Interessen des Nachbarn ein Vorrang zu 608 . Nur durch ein konsequentes Einschreiten bei entsprechenden Anhaltspunkten für einen Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften läßt sich der fehlende Verfahrensschutz und die Schutzverkürzung durch den fehlenden Genehmigungsabwehranspruch hinreichend kompensieren. Sofern der Bauherr die Bauausführung noch nicht begonnen hat, ergibt die Abwägung zwischen dem Interesse des Bauherrn an der planmäßigen Verwirklichung des Bauvorhabens und dem Schutzbedürfnis des Nachbarn daher, daß die Baurechtsbehörde grundsätzlich bei ersten Zweifeln für einen Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften zum Erlaß einer Baubeginnuntersagungsverfügung verpflichtet ist. Zu diesem Zeitpunkt ist der mögliche wirtschaftliche Schaden des Bauherrn noch begrenzt. Stellen sich die Zweifel an der Rechtmäßigkeit als begründet heraus, wird der Bauherr durch frühzeitige Maßnahmen zudem vor einem möglicherweise entstehenden größeren Schaden durch eine Baueinstellungsverfügung oder eine Abbruchsverfügung bewahrt. Nach dem Baubeginn kann dem Bauherrn durch den Erlaß einer Baueinstellungsverfügung ein erheblicher Schaden entstehen. Dies ist bei der Entscheidung über die Verfügung der Baueinstellung zu berücksichtigen. Die gegenüber der Untersagung des Baubeginns stärkere Beeinträchtigung des Bauherrn bedingt höhere Anforderungen an das Wahrscheinlichkeitsurteil. Die Baurechtsbehörde darf daher anders als bei der Entscheidung über die

608

V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1995, 320 (321).

154

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

Untersagung des Baubeginns nicht bereits bei ersten Zweifeln die weitere Bauausführung untersagen. Auf der anderen Seite muß der Nachbar auch nach dem Beginn der Bauausführung, effektiven Schutz vor der Errichtung eines seine Nachbarrechte verletzenden Bauwerks erhalten. Die Pflicht zum Schutz des Nachbarn zwingt die Baurechtsbehörde auch nach dem Beginn der Bauausführung zu einem Einschreiten aufgrund eines Wahrscheinlichkeitsurteils. Die Baurechtsbehörde muß daher regelmäßig 609 einen Baustopp erlassen, wenn konkrete Anhaltspunkte für einen möglichen Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften vorliegen. Die Kompensation des fehlenden präventiven Rechtsschutzes durch eine Verpflichtung der Baurechtsbehörde zu einem frühzeitigen Einschreiten beseitigt auch nicht die Beschleunigungswirkung des Kenntnisgabeverfahrens. Zielsetzung des Kenntnisgabeverfahrens ist die Verfahrensbeschleunigung durch den Verzicht auf eine generelle Kontrolle aller Bauvorhaben durch ein Genehmigungsverfahren. Dieses Ziel bleibt auch bei der Annahme einer Verpflichtung der Baurechtsbehörde zu einem Einschreiten bei niedrigen Anforderungen an das Wahrscheinlichkeitsurteil für einen Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften gewahrt, da eine Untersagung des Baubeginns zur Aufklärung von Zweifeln weiterhin eine Ausnahme darstellt. Insgesamt wird zwar in solchen Ausnahmefällen, in denen die Baurechtsbehörde zunächst aufgrund einer Verdachtslage zu einem Einschreiten verpflichtet ist, sich aber dennoch bei einer Überprüfung die Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens herausstellt, der Beschleunigungsvorteil für den Bauherrn eingeschränkt. Die Behörde muß dann aber unmittelbar im Anschluß an die Verfügung von Amts wegen prüfen, ob der Anfangsverdacht tatsächlich berechtigt ist 610 . Die Aufklärung des Sachverhalts im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes ist dabei unter Mitwirkung des Bauherrn zügig durchzuführen, um eine schnelle Entscheidung über die Aufrechterhaltung der Baubeginnuntersagungsverfügung oder der Baueinstellungsverfügung zu treffen. Stellt sich die Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens heraus, ist die Verfügung unverzüglich aufzuheben 611. Es ist daher gewährleistet, daß der Zeitverlust des Bau-

609

Zu den Anforderungen an die Intensität der Beeinträchtigung siehe unten, 5. Kap., I l b , cc. 610 V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1994, 196 (196). 611 Vgl. V G H Bayern, BayVBl. 1974, 436 (436); V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1994, 196 (196).

I. Kompensation des defizitären Nachbarschutzes

155

herrn auch im Falle eines präventiven Einschreitens der Baurechtsbehörde begrenzt bleibt. (4) Fazit Aus der Bedeutung des präventiven Schutzes für die Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates ergibt sich, daß die Behörde grundsätzlich bei ersten Zweifeln an der Einhaltung der nachbarschützenden Vorschriften zum Erlaß einer Baubeginnuntersagungsverfügung verpflichtet ist 612 bzw. bei konkreten Anhaltspunkten für einen möglichen Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften einen Baustopp erlassen muß 613 . Der Nachbar hat daher bei entsprechenden Anhaltspunkten grundsätzlich einen Anspruch gegen die Baurechtsbehörde auf ein bauordnungsrechtliches Einschreiten. cc) Folgerungen aus der Pflicht der Behörde zu einem effektiven Eigentumsschutz für die anspruchsbegründende Beeinträchtigungsintensität (1) Verpflichtung zu einem effektiven präventiven Nachbarschutz unabhängig von der Intensität der Beeinträchtigung im Kenntnisgabeverfahren Die Schutzpflicht für das Eigentum setzt ein, wenn eine Rechtsposition betroffen ist, die Bestandteil des von Art. 14 Abs. 1 GG gewährleisteten Schutzbereichs ist 614 . Auf die Intensität der Beeinträchtigung kommt es für die Begründung der Schutzpflicht nicht an. Die Schutzpflicht der Baurechtsbehörde wird durch jede Gefahrenlage für das Nachbareigentum aktiviert. Daraus folgt, daß die Baurechtsbehörde grundsätzlich unabhängig von der Intensität der Verletzung nachbarschützender Vorschriften zu einem Einschreiten

612 Die niedrigen Anforderungen, die an das Wahrscheinlichkeitsurteil für einen drohenden Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften vor dem Baubeginn zu stellen sind, werden für das Anzeigeverfahren nach § 62 b SächsBauO auch von Degenhart, Genehmigungsfreies Bauen und der Rechtsschutz des Nachbarn, S. 24, hervorgehoben. 613 M i t der Annahme einer Pflicht zum Einschreiten bereits bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens auch auch Jade, ZfBR 1996, 241 (253), der ansonsten unzutreffend davon ausgeht, daß in den Landesbauordnungen durchweg hinreichende Kompensationsmechanismen der Nachbarbeteiligung vorgesehen sind und teilweise sogar "nachbarrechtlich überkompensiert" werde. Die Reduzierung der Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit betont auch Brohm, Öffentliches Baurecht, S. 460. 614 Siehe oben, 5. Kap., F 2.

156

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

gegen den privaten Störer verpflichtet ist. Sofern die Baurechtsbehörde den gebotenen Schutz verweigert, liegt ein Verstoß gegen das Untermaßverbot vor, wenn das Unterlassen des erforderlichen Schutzes nicht durch einen hinreichenden Grund gerechtfertigt ist 615 . Auf der Seite des Bauherrn sind solche Umstände nur in besonderen Ausnahmefallen denkbar, etwa wenn der Nachbar nur sehr geringfügig beeinträchtigt wird und der Bau bereits weit fortgeschritten ist 616 . Sofern dagegen die Bauausführung noch nicht begonnen wurde, ist das Absehen von einer Baubeginnuntersagungsverfügung mangels hinreichender Intensität der Beeinträchtigung als Verstoß gegen das Untermaßverbot grundsätzlich ermessensfehlerhaft. Die grundrechtliche Schutzpflicht fordert somit ein präventives administratives Einschreiten bei Verstößen gegen nachbarschützende Vorschriften grundsätzlich unabhängig von der Intensität der Beeinträchtigung des Nachbarn. Der Nachbar hat nicht nur ausnahmsweise bei einer hohen Störungsintensität, sondern umgekehrt im Regelfall einen Anspruch auf Erlaß einer Bauuntersagungsverfügung oder Baueinstellungsverfügung durch die Baurechtsbehörde. (2) Verpflichtung zu einem effektiven präventiven Nachbarschutz unabhängig von der Intensität der Beeinträchtigung bei "Schwarzbauten" Aus dem Untermaßverbot ergibt sich, daß die Baurechtsbehörde nicht nur ausnahmsweise bei einer hohen Störungsintensität, sondern im Regelfall bei einer Beeinträchtigung des Nachbarn zum Erlaß einer Baueinstellungsverfügung verpflichtet ist, sofern das Unterlassen des erforderlichen Schutzes nicht durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist. Für die Handlungspflicht der Behörde ist es insoweit nicht von Bedeutung, ob das nachbarrechtsverletzende Bauwerk im Kenntnisgabeverfahren oder "schwarz" errichtet wird. Die Annahme einer hohen Störungsintensität als Voraussetzung für einen Anspruch auf Erlaß einer Baueinstellungsverfügung entspricht daher auch bei "Schwarzbauten" nicht der grundrechtlichen Schutzpflicht. In beiden Kon-

615 Für einen prinzipiellen Anspruch des Nachbarn auf Wahrung und Herstellung baurechtskonformer Zustände auch Degenhart, Genehmigungsfreies Bauen und der Rechtsschutz des Nachbarn, S. 23. 616 Vgl. auch Blümel, Vereinfachung des Baugenehmigungsverfahrens und Nachbarschutz, in: Festschrift für Karlheinz Boujong, 1996, 551 (529); Pfaff VB1BW 1996, 281 (285).

I. Kompensation des defizitären Nachbarschutzes

157

stellationen ist die Baurechtsbehörde folglich grundsätzlich zum Einschreiten verpflichtet. Die einseitige, auf das genehmigungsfreie Verfahren beschränkte Kompensation des defizitären Nachbarschutzes durch den VGH Baden-Württemberg 617 , durch die die Diskrepanz zwischen dem präventiven Nachbarschutz im Genehmigungsverfahren und dem Nachbarschutz im Kenntnisgabeverfahren verringert wird, erzeugt dagegen erneut den Widerspruch, daß der Nachbar im Kenntnisgabeverfahren bereits bei einer geringen Beeinträchtigungsintensität einen Schutzanspruch hat, während der Nachbar eines nachbarrechtsverletzenden "Schwarzbaus" nur bei einer hohen Störungsintensität effektiv geschützt wird. Dies zeigt, daß sich ein systematischer Nachbarschutz nur aus der staatlichen Schutzpflicht ergeben kann. 2. Folgerung aus der Pflicht der Behörde zu einem effektiven Eigentumsschutz für einen Anspruch auf repressives Einschreiten Bei Bauwerken, die im Kenntnisgabeverfahren errichtet werden, fehlt die präventive staatliche Kontrolle des Bauvorhabens. Rechtsverstöße werden nur dann bekannt, wenn der Nachbar den Rechtsverstoß erkennt und diesen der Baurechtsbehörde anzeigt, oder wenn die Baurechtsbehörde auf sonstige Weise durch Zufall von der Baurechtswidrigkeit erfährt. Die Möglichkeit der präventiven Gefahrenabwehr besteht nur in den Fällen, in denen der mögliche Verstoß gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften frühzeitig erkannt wird. Präventive Gefahrenabwehr setzt im Kenntnisgabeverfahren folglich regelmäßig die Initiative des Nachbarn zur Kontrolle des Bauvorhabens voraus. Der Nachbar wird jedoch nur in Ausnahmefällen eine Überprüfung anhand der Bauvorlagen durchführen, da die Beschaffung des erforderlichen Sachverstandes mit einem erheblichen finanziellen Aufwand verbunden ist. In der Regel wird aufgrund der fehlenden präventiven staatlichen Prüfüng des Bauvorhabens und der daraus folgenden Eigenverantwortlichkeit des Nachbarn bei der Kontrolle der Einhaltung der nachbarschützenden Vorschriften eine Verletzung der nachbarrechtlichen Vorschriften daher erst nach der Fertigstellung des Bauwerks oder einzelner Bauteile offenkundig werden. Es ist zu bezweifeln, daß der unter Schutzpflichtgesichtspunkten zweifellos erforderliche, aber auf der Initiative des Nachbarn basierende präventive

617

V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1995, 320 (321).

158

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

Rechtsschutz in der Praxis überwiegen wird. Aus der faktischen Übertragung bauaufsichtlicher Kontrolle auf den Nachbarn ergibt sich daher eine umfangreiche Verlagerung des Nachbarschutzes auf die repressive Ebene618. a) Grundsätzliche Pflicht zum Einschreiten bei rechtswidrigen Beeinträchtigungen des Nachbarn Aus dem Rückzug des Staates aus der präventiven Kontrolle des Baugeschehens und damit aus dem präventiven Eigentumsschutz folgt, daß der Schutz des Nachbarn vor allem auch auf der repressiven Ebene zu gewährleisten ist. Administrativer Eigentumsschutz ist aber auch im repressiven Bereich nicht auf einen Kernbestand des von Art. 14 GG gewährleisteten Eigentums beschränkt. Die Schutzpflicht ist vielmehr beim repressiven Eigentumsschutz ebenfalls grundsätzlich unabhängig von der Intensität der Verletzung des grundrechtlich geschützten Rechtsgutes. Die Annahme der bisher herrschenden Meinung hinsichtlich des Erfordernisses einer hohen, unerträglichen Intensität der Störung für eine Pflicht zum Einschreiten verkennt die Bedeutung der Schutzpflicht für das Nachbareigentum im Rahmen der Ermessensbetätigung 619. Nachbarschutz ist durch den Staat nicht nur partiell und jenseits der Grenze der unerträglichen Beeinträchtigung zu gewährleisten, sondern erfordert eine effektive Verwirklichung der Nachbarrechte. An dieser Schutzpflicht hat sich die Baurechtsbehörde im Rahmen des Gesetzesvollzugs zu orientieren. Die Baurechtsbehörde ist daher im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes regelmäßig verpflichtet, gegen nachbarrechtsverletzende Bauwerke einzuschreiten. Die Verweigerung des erforderlichen Schutzes mit der Begründung, es fehle an einer hohen Störungsintensität, ist auch auf der repressiven Ebene als Verstoß gegen das Untermaßverbot regelmäßig ermessensfehlerhaft. Eine Pflicht zum Einschreiten der Baurechtsbehörde besteht daher im Rahmen des Verhältnismäßigkeits-

618

Zur Verlagerung der Bauaufsicht auf die repressive Kontrolle vgl. Kronenbitter, BWGZ 1994, 632 (633); Ortloff, N V w Z 1994, 229 (237); Goerlich, SächsVBl. 1996, 1 (5). 619 Zweifelnd jetzt auch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, UPR 1996, 390 (390)), das entgegen der bisher herrschenden Meinung ausdrücklich offen gelassen hat, ob Verstöße gegen nachbarschützende Vorschriften nur dann eine Pflicht zum Einschreiten begründen, wenn eine hohe Intensität der Störung oder Gefährdung gegeben ist. Kritisch auch Ehlers, Eigentumsschutz, Sozialbindung und Enteignung bei der Nutzung von Boden und Umwelt, VVDStRL 51 (1992), 211 (223).

I. Kompensation des defizitären Nachbarschutzes

159

grundsatzes auf der repressiven Ebene grundsätzlich bereits bei jeder nicht nur unwesentlichen Beeinträchtigung der Nachbarrechte 620. b) Ergebnis Daraus ergibt sich, daß der Nachbar bei der Errichtung eines rechtswidrigen, nachbarrechtsverletzenden Bauwerks einen Anspruch gegen die Baurechtsbehörde auf Erlaß einer Abbruchsverfügung bzw. auf Erlaß einer Nutzungsuntersagung hat, sofern nicht ausnahmsweise gewichtige Belange entgegenstehen. Die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates erfordert im Kenntnisgabeverfahren somit jenes Maß administrativen Schutzes, das von der herrschenden Meinung im Falle der Ausnutzung einer rechtswidrigen Baugenehmigung durch den aus dem grundrechtlichen status negativus abgeleiteten Folgenbeseitigungsanspruch gewährt wurde. c) Systemgerechtigkeit beim repressiven Nachbarschutz auf der Grundlage der staatlichen Schutzpflicht als Ausgangspunkt Bei rechtswidrigen nachbarrechtsverletzenden Bauwerken, die im Kenntnisgabeverfahren errichtet wurden, und bei nachbarrechtsverletzenden "Schwarzbauten" ist strukturell dieselbe Sachlage gegeben wie bei nachbarrechtsverletzenden Bauwerken, die auf der Ausnutzung einer rechtswidrigen Baugenehmigung beruhen 621. Die Ausnutzung der rechtswidrigen Baugenehmigung ist nicht als staatlicher Eingriff aufzufassen, sondern stellt eine private Beeinträchtigung des Eigentumsrechts des Nachbarn dar, die ausschließlich die im status positivus der Grundrechte verankerte Schutzpflicht anspricht. In allen drei Konstellationen ist die Baurechtsbehörde zum Eigentumsschutz verpflichtet. Der Umfang des zu gewährleistenden Eigentumsschutzes ergibt sich 620 So im Ergebnis bereits das OVG Nordrhein-Westfalen, NJW 1984, 883 (883 f.), das die Verpflichtung der Behörde jedoch nicht aus der Schutzpflicht des Staates, sondern ausschließlich aus dem Zweck der Ermächtigungsnorm herleitet. Zustimmend Ortloff in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band II, 3. Auflage, S. 215 f. Ebenso Knemeyer, Schutz der Allgemeinheit und der individuellen Rechte durch die polizei- und ordnungsrechtlichen Handlungsvollmachten der Exekutive, VVDStRL 35 (1977), 221 (233 ff.), der von einer prinzipiellen Pflicht zum Einschreiten aufgrund einer aus der gesetzlichen Aufgabenzuweisung abgeleiteten Schutzpflicht ausgeht. Für die Ausweitung einer Pflicht zum Einschreiten, wenn der Schutz durch den Eingriff in nicht grundrechtlich gesicherte Bereiche zu realisieren ist, auch Erichsen, VVDStRL 35 (1977), 171 (200). 621 Dazu und zum Folgenden siehe oben, 5. Kap., G.

160

5. Kap.: Konsequenzen aus der staatlichen Schutzpflicht

im Kenntnisgabeverfahren, bei "Schwarzbauten" und im Falle einer ausgenutzten Baugenehmigung aus der Verpflichtung zu einem effektiven Eigentumsschutz. Insofern ist es auch auf der repressiven Ebene für die bestehende Schutzpflicht der Baurechtsbehörde grundsätzlich unerheblich, welches bauordnungsrechtliche Verfahren der Errichtung zugrunde lag bzw. ob das Bauwerk "schwarz" errichtet wurde. In allen Konstellationen ist die Baurechtsbehörde daher regelmäßig verpflichtet, gegen den rechtswidrigen Zustand einzuschreiten. Eine hohe Intensität der Beeinträchtigung des Nachbareigentums ist jeweils nicht erforderlich. Dies zeigt, daß auch auf der repressiven Ebene nur die staatliche Schutzpflicht Grundlage eines systematischen Nachbarschutzes sein kann. Aus dem Grundsatz, daß es unter Schutzpflichtgesichtspunkten unerheblich ist, ob das Bauvorhaben aufgrund einer Genehmigung, im Kenntnisgabeverfahren oder "schwarz" errichtet wurde, kann jedoch nicht gefolgert werden, daß die Eingriffsschwelle in allen Konstellationen zwingend identisch ist. Denn bei der Ausnutzung einer nachträglich aufgehobenen Baugenehmigung muß die Baurechtsbehörde den durch die Genehmigungserteilung beim Bauherrn erzeugten Vertrauenstatbestand im Rahmen der Ermessenserwägungen mit berücksichtigen 622 . Im Einzelfall kann ein schutzwürdiges Vertrauen des Bauherrn daher dazu fuhren, daß gesteigerte Anforderungen an eine Pflicht der Baurechtsbehörde zum Einschreiten zu stellen sind. Der Widerspruch, daß der auf den Bestand der Genehmigung vertrauende Bauherr schlechter gestellt ist als der Schwarzbauer, bei dem der Folgenbeseitigungsgedanke nicht zur Anwendung kommen kann, löst sich daher bei einer Begründung der administrativen Handlungspflichten aus der Schutzpflicht von selbst auf. J. Zusammenfassung Die Schutzpflicht des Staates verlangt einen effektiven Schutz des Nachbareigentums. Effektiver Nachbarschutz ist auch im Kenntnisgabeverfahren öffentlich-rechtlich zu gewährleisten. Die Pflicht zum Schutz des Nachbareigentums obliegt vor allem der Baurechtsbehörde, die im Rahmen der ihr zugewiesenen Aufgabe der Gefahrenabwehr bei einer Entscheidung über ein bauordnungsrechtliches Einschreiten unmittelbar zu einem eigenständigen Schutz der in Art. 14 GG verankerten Rechtsposition des Nachbarn verpflichtet ist. Die defizitäre Ausgestaltung konkreter Schutzmechanismen durch den 622

Siehe oben, 5. Kap., G 3.

J. Zusammenfassung

161

Gesetzgeber ist durch die Baurechtsbehörde zu kompensieren. Die staatliche Schutzpflicht für das Nachbareigentum verlangt im Bereich des präventiven Eigentumsschutzes ein bauordnungsrechtliches Einschreiten zur Verhinderung der Schaflung vollendeter Tatsachen bereits bei niedrigen Anforderungen an die Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften und grundsätzlich unabhängig von der Intensität der Beeinträchtigung. Auf der repressiven Ebene wird die grundrechtliche Schutzpflicht ebenfalls durch jede Beeinträchtigung des Nachbareigentums aktiviert. Das Ermessen der Baurechtsbehörde ist nicht nur ausnahmsweise bei einer hohen Störungsintensität, sondern umgekehrt im Regelfall auf Null reduziert. Der Nachbar hat im Kenntnisgabeverfahren regelmäßig einen Anspruch auf behördliches Einschreiten gegen nachbarrechtsverletzende Bauwerke. Nur über die Begründung des öffentlich-rechtlichen Nachbarschutzes aus der grundrechtlichen Schutzpflicht läßt sich ein systematischer Eigentumsschutz erzielen, der die Widersprüche der Ungleichbehandlung des Nachbarn im Kenntnisgabeverfahren gegenüber dem Nachbarn eines "Schwarzbaus" einerseits und der Privilegierung des "Schwarzbauers" gegenüber dem Inhaber einer aufgehobenen Baugenehmigung andererseits auflöst.

11 Kruhl

6. Kapitel

Die Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabeverfahren Im Kenntnisgabeverfahren wird die präventive staatliche Kontrolle des Bauvorhabens durch eine private Prüfung ersetzt. M i t der Privatisierung administrativer Kontrolle wird die staatliche Prüfverantwortung abgebaut und die Eigenverantwortlichkeit der am Bau Beteiligten in den Vordergrund gestellt. Eine Baugenehmigung, die dem Bauherrn als staatliche Unbedenklichkeitsbescheinigung einen umfassenden Schutz vermittelt hat, wird nicht mehr erteilt. Aus dieser Verfahrensänderung ergeben sich weitreichende Konsequenzen für die Rechtssicherheit des Bauherrn, die im Folgenden näher untersucht werden.

A. Verfassungsrechtlicher Standort und wirtschaftliche Bedeutung der Rechtssicherheit Rechtssicherheit bedeutet Sicherheit im und durch das Recht. Der Grundsatz der Rechtssicherheit fordert und umfaßt die Verläßlichkeit, Transparenz und Vorhersehbarkeit des Rechts623. Die Beständigkeit und Verständlichkeit der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Freiheitsbetätigung der rechtsunterworfenen Bürger sind elementare Bestandteile der Rechtssicherheit. 1. Rechtssicherheit als Freiheitssicherung Die Rechtssicherheit ist nach allgemeiner Auffassung verfassungsrechtlich im Rechtsstaatsprinzip verankert 624 . Der verfassungsrechtliche Bezug der

623

Vgl. BVerfG 13, 261 (271); 82, 6 (12); Degenhart, Staatsrecht I, 12. Auflage, Rdn. 300. 624 So das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung, vgl. BVerfGE 7, 89 (92); 13, 261 (271); 45, 142 (167); 59, 128 (164); 63, 343 (358); 67, 1 (14); 72, 175 (196); 73, 118 (164); 74, 129 (152); 78, 249 (284); 86, 288 (327); 87, 48 (63); 88, 384 (403). Aus der Literatur vgl. Badura, Staatsrecht, 2. Auflage, S. 270 f.; Degenhart, Staatsrecht I, 12. Auflage, Rdn.300.

Α. Verfassungsrechtlicher Standort und wirtschaftliche Bedeutung

163

Rechtssicherheit erschöpft sich aber nicht in der Rechtsstaatlichkeit. Vielmehr steht die Rechtssicherheit ebenso wie das Rechtsstaatsprinzip selbst in einem engen Zusammenhang mit der Garantie der grundrechtlich verbürgten Freiheiten 625 . Zuverlässigkeit und Transparenz der rechtlichen Rahmenbedingungen sind notwendige Voraussetzungen für die Entfaltung der persönlichen Freiheit innerhalb des rechtlich vorgegebenen Rahmens626. Sofern das Recht dem Bürger keine ausreichende Sicherheit bei der Freiheitsbetätigung vermittelt, wird die grundrechtliche Position selbst in Frage gestellt. 2. Rechtssicherheit als Investitionsfaktor Investitionsentscheidungen ergehen auf der Grundlage eines vielfaltigen Spektrums wirtschaftlicher Bedingungen und Erwartungen. Die Entscheidung für eine Investition setzt voraus, daß sich die erwartete Rendite mit einem vertretbaren unternehmerischen Risiko realisieren läßt. Das unternehmerische Risiko wird bei Vorhaben mit baurechtlichem, umweltrechtlichem oder sonstigem sicherheitsrechtlichem Bezug um die Pflicht und damit um das Risiko der Erfüllung der sicherheitsrechtlichen Anforderungen erweitert. Zur Erfassung der bei der Verwirklichung von Bauvorhaben bestehenden Risikofaktoren und der Auswirkungen im Falle der Realisierung des Investitionsrisikos läßt sich das insgesamt bestehende Risiko in ein Planungs-, Ausführungs- und Bestandsrisiko für den Bauherrn aufspalten. Während der Entwicklungsaufwand als der konkreten Ausführungsplanung vorgelagerter Planungsaufwand ein typisches und kalkulierbares Investitionsrisiko darstellt, sind Hindernisse bei der Ausführung des Bauvorhabens oder gar gegen den Bestand oder die Nutzung gerichtete Maßnahmen von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung. Das Risiko reicht hier von einer erheblichen Steigerung der Baukosten bis zu einem Totalverlust der eingesetzten Mittel. Die Investitionsentscheidung hängt daher maßgeblich von dem Wahrscheinlichkeitsgrad und der Höhe des wirtschaftlichen Schadens im Falle einer Risikoverwirklichung ab. Grundlage des hier in Frage stehenden Risikos

625 Das Rechtsstaatsprinzip enthält daher eine materielle Komponente, vgl. BVerfGE 52, 131 (144). Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rdn. 505, spricht hier von "rechtsstaatlicher Freiheit". Die Freiheit des Bürgers als Ziel und Zentrum rechtsstaatlicher Prinzipien wird vor allem auch betont von Herzog, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Art. 20, VII., Rdn. 12 und 33. 626 Vgl. B V e r f G 8 2 , 6 ( 1 2 ) .

164

6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabe ver fahren

des Bauherrn sind die rechtlichen Rahmenbedingungen des Bauens. Maßgeblich sind dabei alle Rechtssätze, die die Behörde zu bauordnungsrechtlichen Maßnahmen berechtigen oder sogar verpflichten, und solche, die ein Einschreiten ausschließen können. Je nach Ausgestaltung der rechtlichen Voraussetzungen fur ordnungsrechtliche Maßnahmen wirkt das Recht für den Bauherrn risikovermindernd oder risikoerhöhend, oder anders ausgedrückt: sicherheitserhöhend oder sicherheitsvermindernd. Für die Risikobewertung durch den Bauherrn ist daher maßgeblich, inwieweit er durch das Recht in zeitlicher und sachlicher Hinsicht geschützt wird. Die Risikobewertung ist abhängig von dem Maß an Rechtssicherheit, das dem Bauherrn durch die Rechtsordnung zuteil wird. Der Faktor Rechtssicherheit ist folglich ein wesentliches Element der Investitionssicherheit und für die Investitionsentscheidung von unmittelbarer Bedeutung. Der Faktor Rechtssicherheit ist daher auch ein wichtiger Standortfaktor 627 . B. Die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung Die Baugenehmigung ist die zentrale Institution des Bauordnungsrechts 628. Der Regelungsgehalt der Baugenehmigung besteht in einem verfügenden 629 und einem feststellenden Teil 6 3 0 . In ihrem feststellenden Teil enthält die Baugenehmigung in ihrer traditionellen Gestalt 631 die verbindliche Feststellung, daß das genehmigte Vorhaben mit dem im Zeitpunkt der Erteilung der Genehmigung geltenden, von der Baurechtsbehörde zu prüfenden öffentlichen Recht übereinstimmt 632 . Die Bauausführung sowie das Vorhaben als solches

627 Der Faktor Rechtssicherheit ist bislang äußerst positiv in die Bewertung des Standorts Deutschland eingeflossen, vgl. Schlichter, DVB1. 1995, 173 (174). 628 Simon, BayVBl. 1994, 332 (333). 629 Zum verfügenden Teil der Baugenehmigung siehe oben, 2. Kap., C 1. 630 So die allgemeine Auffassung, vgl. nur BVerwGE 48, 242 (245); B G H Z 60, 112 (115 ff.); Uechtritz, Grenzen der "Legalisierungswirkung" der Baugenehmigung und des "Bestandsschutzes" bei Nutzungsänderungen und -Unterbrechungen, in: Festschrift für Konrad Geizer, 1991, 259 (261). Nach früherer Auffassung bildete die Baugenehmigung dagegen lediglich einen feststellenden oder beurkundenden Verwaltungsakt, vgl. PrOVGE 5, 376 (379); 98, 220 (221). 631 Zur beschränkten Feststellungswirkung der Baugenehmigung in den neuen vereinfachten Genehmigungsverfahren siehe unten, 6. Kap., Β 2. 632 BVerwGE 26, 287 (288); 28, 145 (147 f.); 58, 124 (127); BVerwG, DVB1. 1964, 184 (184).

Β. Die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung

165

und seine Nutzung werden als rechtmäßig anerkannt 633 . Solange die erteilte Genehmigung wirksam ist, kann sich die Frage der materiellen Legalität der baulichen Anlage im Zeitpunkt ihrer Genehmigung nicht stellen 634 . Die Feststellungswirkung der Baugenehmigung ist die Grundlage des Bestands- und Vertrauensschutzes im öffentlichen Baurecht 635 und aus diesem Grunde für die Rechtssicherheit des Bauherrn von besonderer Bedeutung. Die Rechtswirkungen des feststellenden Teils der Baugenehmigung für den Bauherrn lassen sich daher unter dem Topos der Legalisierungswirkung 636 zusammenfassen. Im Kenntnisgabeverfahren fehlt dem Bauherrn die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung. Im Hinblick auf die Frage, inwieweit mit der Einführung des Kenntnisgabeverfahrens ein Verlust von Rechtssicherheit für den Bauherrn verbunden ist, wird zunächst dargestellt, welches Schutzmaß dem Bauherrn durch die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung vermittelt wurde. Dabei wird zwischen dem Legalisierungsww/ûwg als der inneren Seite der Genehmigung und der Legalisiemngsawytettw&wwg, also der Bindungswirkung der Baugenehmigung, differenziert. 1. Der Umfang der Legalisierungswirkung Der sachliche Umfang der Legalisierungswirkung bestimmt sich nach dem Regelungsgehalt der Baugenehmigung637. Hier gilt der Grundsatz der Kongruenz von Inhalt und Bindungswirkung eines Verwaltungsakts 638. Dabei

633

Ortloff,;

in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band II, 3. Auflage,

S. 102. 634

BVerwGE 58, 124 (127). Kleinlein, Das System des Nachbarrechts, S. 46. 636 Der Begriff der Legalisierungswirkung geht auf das Bundesverwaltungsgericht, E 55, 118 (121) zurück. Zur Legalisierungswirkung von Genehmigungen vgl. Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten S. 69 ff. und S. 448 ff.; Fluck, Die "Legalisierungswirkung" von Genehmigungen als ein Zentralproblem öffentlich-rechtlicher Haftung für Altlasten, VerwArch 79 (1988), 406 (408 ff.); Uechtritz, Grenzen der "Legalisierungswirkung" der Baugenehmigung und des "Bestandsschutzes" bei Nutzungsänderungen und -Unterbrechungen, in: Festschrift für Konrad Geizer, 1991, 259 (259 ff.); Roesler, Die Legalisierungswirkung gewerbe- und immissionsschutzrechtlicher Genehmigungen vor dem Hintergrund der Altlastenproblematik, S. 8 ff.; Engel, Planungssicherheit für Unternehmen durch Verwaltungsakt, S. 4 ff. 637 Vgl. Fluck, Die "Legalisierungswirkung" von Genehmigungen als ein Zentralproblem öffentlich-rechtlicher Haftung für Altlasten, VerwArch 79 (1988), 406 (414 und 420). 638 Vgl. Gaentzsch, NJW 1986, 2787 (2787). 635

166

6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

bestimmt sich der Inhalt nach dem objektiv nach außen getretenen Willen der Behörde 639 . Maßgeblich ist folglich der Wortlaut der Baugenehmigung. Dieser ist in Zweifelsfällen nach den im öffentlichen Recht anwendbaren 640 zivilrechtlichen Regeln auszulegen641. Abzustellen ist auf den objektiven Empfängerhorizont 642 . Bei der Auslegung der Baugenehmigung ist auch das Begehren des Antragstellers, das in dem Antrag verkörpert ist, einzubeziehen 643 . Unklarheiten gehen zu Lasten der Verwaltung 644 . Bei der Auslegung besteht jedoch eine Vermutung für die Kompetenzgemäßheit der Verwaltungsentscheidung645. In sachlicher Hinsicht umfaßt die Legalisierungswirkung des weiteren alle Tatsachen, deren Vereinbarkeit mit öffentlich-rechtlichen Vorschriften von der Baurechtsbehörde im Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Es gilt insoweit der Grundsatz der Kongruenz von Sachentscheidungskompetenz und Inhalt der Baugenehmigung646. Die Baurechtsbehörde ist verpflichtet, alle öffentlich-rechtlichen Vorschriften zu prüfen, die das Bauvorhaben berühren 647 . Ausgenommen sind lediglich solche Vorschriften, die von einer anderen Behörde in einem gesonderten Verwaltungsverfahren, insbesondere aufgrund eines weiteren Genehmigungsvorbehalts heranzuziehen sind 648 . Nach der bisher herrschenden Schlußpunkttheorie 649 durfte die Baurechtsbehörde die Baugenehmigung erst erteilen, wenn die übrigen Behörden die materielle Rechtmäßigkeit des Vorhabens im Rahmen ihrer Sachentschei-

639

BVerwGE 29, 310 (312); Ossenbühl, NJW 1980, 1353 (1354). Zur Anwendbarkeit der zivilrechtlichen Auslegungsregeln im öffentlichen Recht, vgl. BVerwGE 49, 244 (247). 641 Vgl. Gaentzsch, NJW 1986, 2787 (2787). 642 BVerwGE 41, 305 (306). 643 Fluck, Die "Legalisierungswirkung" von Genehmigungen als ein Zentralproblem öffentlich-rechtlicher Haftung für Altlasten, VerwArch 79 (1988), 406 (414 und 427). 644 BVerwGE 41, 305 (306). 645 Fluck, Die "Legalisierungswirkung" von Genehmigungen als ein Zentralproblem öffentlich-rechtlicher Haftung für Altlasten, VerwArch 79 (1988), 406 (423 und 427). 646 Gaentzsch, NJW 1986, 2787 (2787); Ortloff NJW 1987, 1665 (1669). 647 Sauter, Landesbauordnung für Baden-Württemberg, 3. Auflage, § 58, Rdn. 57. 648 BVerwGE 74,315 (324). 649 V G H Bayern, BayVBl. 1984, 566 (567); V G H Hessen, NuR 1990, 277 (278). Aus der Literatur vgl. Ortloff NJW 1987, 1665 (1668 f.) m.w.N.; Hahn, DVB1. 1992, 1408 (1412 f.); Gaentzsch, NJW 1986, 2787 (2792 f.). 640

Β. Die Legalisierungsirkung der Baugenehmigung

167

dungskompetenz festgestellt haben. Die Baugenehmigung enthielt somit die Feststellung, daß weitere Genehmigungen nicht erforderlich sind 650 . Der Bauherr konnte mit dem Bau beginnen, sobald die Baugenehmigung vorlag 651 . Nach neuer Auffassung 652 und teilweise geändertem Bauordnungsrecht 653 bildet die Baugenehmigung nicht mehr den Schlußpunkt des Verfahrens. Die Feststellung der Vereinbarkeit des Vorhabens mit öffentlich-rechtlichen Vorschriften umfaßt hiernach solche Normen nicht, die von einer anderen Behörde verwaltet werden 654 . Voraussetzung für den Baubeginn ist daher das Vorliegen aller erforderlichen Genehmigungen, auch wenn dem Bauherrn eine Baugenehmigung erteilt wurde 655 . Der Bauherr ist nach dieser Auffassung auch nach Erteilung der Baugenehmigung verpflichtet abzuklären, ob dem Baubeginn weitere Genehmigungserfordernisse entgegenstehen656. In zeitlicher Hinsicht ist zu differenzieren zwischen der Geltungsdauer vor und nach der Ausnutzung der Baugenehmigung. Gemäß § 62 LBO erlischt die Baugenehmigung, wenn nicht innerhalb von drei Jahren mit der Bauausführung begonnen wird oder die Bauausführung drei Jahre unterbrochen wird. Nach der Ausnutzung der Baugenehmigung gilt diese grundsätzlich solange, wie das Bauwerk besteht657. Von dem Ausnahmefall des dreijährigen Unterlassens oder Unterbrechens der Ausnutzung abgesehen, ist die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung daher zeitlich unbeschränkt. Die Baugenehmigung ist nicht personengebunden, sondern auf das Grundstück bzw. das Bauobjekt bezogen. In personeller Hinsicht schützt die Bauge-

650

Vgl. Ortloff,; NJW 1987, 1665 (1669). Gaentzsch, NJW 1986, 2787 (2793). 652 V G H Bayern Gr.S., BayVBl. 1993, 370 (371 ff.); V G H BadenWürttemberg, NVwZ-RR 1991, 140 (140 f.); BVerwG, ZfBR 1996, 55 (55 f.). So bereits Fluck, Die "Legalisierungswirkung" von Genehmigungen als ein Zentralproblem öffentlich-rechtlicher Haftung für Altlasten, VerwArch 79 (1988), 406 (424). 653 Die Aufgabe der Schlußpunkttheorie wurde teilweise bereits in den Landesbauordnungen festgeschrieben. Zu den Regelungen der Länder im Einzelnen, vgl. Jäde, ZfBR 1996, 241 (247). 654 Kritisch dazu Ortloff N V w Z 1995, 112 (113). 655 V G H Bayern Gr.S., BayVBl. 1993, 370 (370 ff.). 656 Vgl. Ortloff N V w Z 1995, 112 (113). 657 Uechtritz, Grenzen der "Legalisierungswirkung" der Baugenehmigung und des "Bestandsschutzes" bei Nutzungsänderungen und -Unterbrechungen, in: Festschrift für Konrad Geizer, 1991, 259 (262); Ortloff in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band II, 3. Auflage, S. 101. 651

168

6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

nehmigung mit ihrem dinglichen Charakter 658 daher nicht nur den Antragsteller, sondern auch nachfolgende Grundstückseigentümer (§ 58 Abs. 2 LBO). 2. Die Bindungswirkung der Baugenehmigung Im Hinblick auf die Schutzfunktion der Genehmigung für den Bauherrn ist des weiteren von Bedeutung, inwieweit die Nachbarn einerseits und die staatlichen Institutionen andererseits an die Baugenehmigung gebunden sind. a) Keine privatrechtsgestaltende

Wirkung der Baugenehmigung

Bei der Frage nach der Bedeutung der Baugenehmigung für das zivilrechtliche Nachbarschaftsverhältnis ist zwischen einer privatrechtsgestaltenden Wirkung einerseits und der Bindung der Zivilgerichte an die Baugenehmigung andererseits zu unterscheiden 659. Eine privatrechtsgestaltende Wirkung läge nur dann vor, wenn die Baugenehmigung die Rechtsposition des Nachbarn in ihrem Bestand unmittelbar verändern würde. Die Frage der Bindung des Zivilrichters an die Baugenehmigung betrifft dagegen die zivilgerichtliche Überprüfbarkeit der Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung. Adressat der Bindungswirkung ist einerseits der Nachbar in seiner zivilrechtlichen Position und andererseits das Gericht als Teil des staatlichen Kompetenzgefüges 660. Nach der herrschenden Auffassung hat die Baugenehmigung grundsätzlich keine privatrechtsgestaltende Wirkung 661 . Für die Annahme einer privat658

Broß, D Ö V 1978, 283 (287); Kleinlein, Das System des Nachbarrechts, S. 35; Ortloff,\ in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band II, 3. Auflage, S.

101.

659 Diese Unterscheidung wird häufig übersehen; zu dieser Differenzierung, siehe Papier, Der Bebauungsplan und die Baugenehmigung in ihrer Bedeutung für den zivilrechtlichen Nachbarschutz, in: Festschrift für Felix Weyreuther, 1993, 291 (301 ff.). 660 Vgl. Ortloff in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band II, 3. Auflage, S. 104. 661 Papier, Der Bebauungsplan und die Baugenehmigung in ihrer Bedeutung für den zivilrechtlichen Nachbarschutz, in: Festschrift für Felix Weyreuther, 1993, 291 (301) m.w.N.; Grotefels, in: Hoppe/Grotefels, Öffentliches Baurecht, § 15, Rdn. 49; Schwerdtfeger, N V w Z 1983, 199 (201) m.w.N.; Kleinlein, Das System des Nachbarrechts, S. 73 und 76 m.w.N.; Baur, Das Verhältnis von verwaltungs- und zivilrechtlichem Rechtsschutz gegenüber Immissionen aus der Sicht eines Zivilisten, in: Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, 1987, 545 (550 f.). Zur Gegenauffassung vgl. Manssen, Privatrechtsgestaltung durch Hoheitsakt, S.

Β. Die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung

169

rechtsgestaltenden Wirkung fehlt es einerseits an einer gesetzlichen Regelung 662 , andererseits steht der Wortlaut der Bauordnungen, die ausdrücklich bestimmen, daß die Baugenehmigung unbeschadet privater Rechte Dritter ergeht, der Annahme einer privatrechtsgestaltenden Wirkung entgegen663. Der Regelungsgehalt der Baugenehmigung ist demnach grundsätzlich auf öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnisse begrenzt und hat insoweit keine gestaltende Wirkung auf das privatrechtliche Verhältnis zwischen dem Bauherrn und dem Nachbarn. Ein zivilrechtlicher Anspruch des Nachbarn gegen den Bauherrn, der sich gegen ein von der Baugenehmigung umfaßtes Verhalten richtet, wird daher von der Genehmigung nicht ausgeschlossen664. b) Bindung der Zivilgerichte

an die Baugenehmigung

Umstritten ist dagegen, ob der Nachbar einen Anspruch aus den §§ 1004, 823 I I BGB i.V.m. den nachbarschützenden Bauvorschriften des öffentlichen Rechts gegen eine bestandskräftige Baugenehmigung zivilgerichtlich durchsetzen kann oder ob der Zivilrichter an die in der Baugenehmigung verkörperte Entscheidung der Baurechtsbehörde, daß die öffentlich-rechtlichen Vorschriften eingehalten werden, gebunden ist. Nach einer zivilrechtlichen Auffassung steht die Bestandskraft des Verwaltungsakts einer Überprüfung durch den Zivilrichter grundsätzlich nicht entgegen665. Die Zivilgerichte seien demnach zu der Prüfung der Rechtmäßig44 ff.; ders., N V w Z 1996, 144 (146); Schapp, Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht, S. 162 ff.; Engel, Planungssicherheit für Unternehmen durch Verwaltungsakt, S. 130; H. Schrödter, in: Schrödter, Baugesetzbuch, § 31, Rdn. 43 ff.; H. Schulte, Eigentum und öffentliches Interesse, S. 241; Bartlsperger, Das Dilemma des baulichen Nachbarrechts, VerwArch 60 (1969), 35 (62), Broß, D Ö V 1978, 283 (288). 662 Wie z.B. in § 14 BImSchG. 663 Vgl. § 69 Abs. 4 MBO. 664 Finkelnburg, in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band I, 4. Auflage, S. 3 f. 665 BGH, NJW 1959, 2013 (2014); BGH, DVB1. 1971, 744 (744). Für die vergleichbare Problematik beim Amtshaftungsanspruch vgl. BGHZ 2, 209 (214); BGHZ 9, 129 (132); BGH, NJW 1983, 2823 (2823); BGH, DVB1. 1991, 379 (379 ff.). Aus der Literatur vgl. Jesch, Die Bindung des Zivilrichters an Verwaltungsakte, S. 149; Schwerdtfeger, N V w Z 1983, 199 (201); Gerlach, JZ 1988, 161 (172). Entgegen der Vorinstanz hat der BGH jedoch in einer neueren Entscheidung (BGHZ 122, 1 (1 ff.) im Fall der unter Auflagen erteilten Baugenehmigung hinsichtlich der Auflage eine Bindungswirkung für das Zivilgericht angenommen und eine grundsätzliche Bindung der Zivilgerichte an wirksame Verwaltungsakte bejaht.

170

6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabeverfahren

keit des Bauvorhabens ohne Rücksicht auf die Rechtswirksamkeit der Baugenehmigung berechtigt 666 . Dies ergebe sich daraus, daß die Baugenehmigung grundsätzlich keine rechtlichen Wirkungen auf das private Nachbarrecht habe, sondern auf die Regelung des öffentlich-rechtlichen Verhältnisses zwischen Bauherr und Behörde beschränkt sei 667 . Die bauaufsichtliche Genehmigung bringe ohne Beeinflussung der zivilrechtlichen Verhältnisse lediglich zum Ausdruck, daß dem Bauvorhaben Hindernisse aus dem öffentlichen Recht nicht entgegenstehen668. Der Zivilrichter sei im Rahmen von § 823 I I BGB nur dann an die Baugenehmigung gebunden, wenn die Rechtmäßigkeit durch Urteil eines Verwaltungsgerichts festgestellt worden ist 669 oder dem Bauherrn wirksam eine Befreiung erteilt wird 6 7 0 . Nach der im öffentlichen Recht herrschenden Sichtweise ist der Zivilrichter dagegen an die bestandskräftige Entscheidung der Baurechtsbehörde gebunden 671 . Dies ergibt sich vor allem daraus, daß sich die Frage der Verletzung einer öffentlich-rechtlichen Schutzvorschrift nach öffentlichem Recht richtet, die Frage nach der inneren Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung nach dem Eintritt der Bestandskraft aber nicht mehr aufgeworfen werden kann 672 . Die sich aus einer fehlenden Bindung des Zivilrichters ergebende Möglichkeit der Umgehung der verwaltungsrechtlichen Rechtsmittelfristen würde zu fundamentalen Wertungswidersprüchen zwischen dem Zivilrecht und dem öffentli-

666 Für Amtshaftungsprozesse: BGHZ 2, 209 (214); BGHZ 9, 129 (132); BGHZ, NJW 1983, 2823 (2823); BGH, DVB1. 1991, 379 (379 ff.). 667 BGH, NJW 1959, 2013 (2014). 668 BGH, DVB1. 1971, 744 (744). 669 BGHZ 9, 329 (332); 90, 4 (12); 95, 238 (242); RGRZ § 839, Rdn. 579. 670 BGHZ 66, 354 (358); Schwerdtfeger, N V w Z 1983, 199 (201). 67 1 Steinberg, Baurecht, in: Meyer/Stolleis, Staats- und Verwaltungsrecht für Hessen, S. 391, Papier, Der Bebauungsplan und die Baugenehmigung in ihrer Bedeutung für den zivilrechtlichen Nachbarschutz, in: Festschrift für Felix Weyreuther, 1993, 291 (302); Kleinlein, Das System des Nachbarrechts, S. 53; Ortloff,; in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band II, 3. Auflage, S. 105 f.; Schlichter/Roeser, in: Schlichter/Stich, Berliner Kommentar zum BauGB, 2. Auflage, Vorbem. zu §§ 29-38, Rdn. 4 f.; Arbeitskreis "Bauliches Nachbarrecht", in: BBauBl. 40 (1991), 10 (21 f.); Broß, Zur Bindung der Zivilgerichte an Verwaltungsentscheidungen, VerwArch 78 (1987), 91 (105); Breuer, DVB1. 1983, 431 (438); J.Ipsen, Die Verwaltung 17 (1984), 169 (178); Schröder, DVB1. 1991, 751 (753). 67 2 Papier, Der Bebauungsplan und die Baugenehmigung in ihrer Bedeutung für den zivilrechtlichen Nachbarschutz, in: Festschrift für Felix Weyreuther, 1993, 291 (302); Broß, Zur Bindung der Zivilgerichte an Verwaltungsentscheidungen, VerwArch 78 (1987), 91 (106); Berkemann, DVB1. 1986, 183 (184).

Β. Die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung

171

chen Recht führen 673 und ist daher mit dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung unvereinbar. c) Bindung der Verwaltung an die Baugenehmigung Die Baurechtsbehörde ist an ihre in der Baugenehmigung verkörperte Entscheidung gebunden674. Eine von dem Regelungsgehalt der Baugenehmigung abweichende Entscheidung darf grundsätzlich nicht getroffen werden. Insbesondere darf die Baurechtsbehörde keine bauaufsichtsrechtlichen Maßnahmen gegen den Bauherrn richten. Die Baugenehmigung gilt des weiteren nicht nur "inter partes" 675 , sondern bindet alle Behörden an die von der Baurechtsbehörde getroffene Regelung 676 . Der Genehmigungsempfanger kann sich daher darauf verlassen, daß weder die erlassende Behörde noch eine andere Behörde eine von dem ursprünglichen Regelungsgehalt abweichende Regelung trifft. Die Bindung der Baurechtsbehörde an die von ihr getroffene Regelung ist lediglich insofern abgeschwächt, als sie die Baugenehmigung unter den Voraussetzungen der §§48 ff LVwVfG aufheben kann 677 . 3. Fazit Den Grundsätzen der Kongruenz von Inhalt und Bindungswirkung sowie der Kongruenz von Sachentscheidungskompetenz und Inhalt der Baugenehmigung entsprechend hat die Baugenehmigung, die einen komplexen Lebenssachverhalt erfaßt, eine umfassende Legalisierungswirkung. Der Bauherr erhält eine weitreichende Unbedenklichkeitsbescheinigung für das Bauvorha-

67 3

Kleinlein, Das System des Nachbarrechts, S. 53 f. So die allgemeine Auffassung, vgl. nur Ortloff\ in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band II, 3. Auflage, S. 104. 67 5 J.Ipsen, Die Verwaltung 1984, 169 (176). 676 Unklarheiten bestehen dabei allein in der dogmatischen Herleitung. Als Grundlage der ΒindungsWirkung wird einerseits auf die staatliche Zuständigkeitsordnung abgestellt, vgl. Knöpfte, BayVBl. 1982, 225 (228); J.Ipsen, Die Verwaltung 1984, 169 (176 f.); Schröder, DVB1. 1991, 751 (753) und andererseits der Grundsatz der Rechtssicherheit herangezogen, vgl. Fluck, Die "Legalisierungswirkung" von Genehmigungen als ein Zentralproblem öffentlichrechtlicher Haftung für Altlasten, VerwArch 79 (1988), 406 (413) m.w.N.; Erichsen/Knoke, N V w Z 1983, 185 (185). 677 Zur Einbeziehung der Aufhebungsmöglichkeit in eine Verbindlichkeitsdefinition und der damit verbundenen Schaffung einer weiteren Kategorie der Bindungswirkung, vgl. J.Ipsen, Die Verwaltung 1984, 169 (172 f.). 674

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6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

ben. Die Legalisierungswirkung ist zeitlich unbeschränkt und erstreckt sich auch auf die Rechtsnachfolger des Bauherrn. An die wirksame Sachentscheidung der Baurechtsbehörde sind alle Behörden und nach herrschender öffentlich-rechtlicher Auffassung alle Gerichte gebunden. Nach Eintritt der Bestandskraft wird die Legalisierungswirkung nur durch die gesetzlichen Regelungen über die Aufhebung gemäß §§ 48, 49 LVwVfG eingeschränkt. Die Baugenehmigung verschafft dem Begünstigten eine gesicherte Rechtsposition, die ihm durch Rechtsmittel Drittbetroffener nicht mehr entzogen werden kann. Sie bildet das Schutzschild gegen Maßnahmen, die gegen die Errichtung, den Bestand oder die Nutzung der Anlage gerichtet sind. Der Bauherr und dessen Rechtsnachfolger können sich daher auf die in der Genehmigung getroffene Regelung verlassen. Daraus ergibt sich, daß die Baugenehmigung dem Bauherrn ein hohes Maß an Rechtssicherheit bietet.

C. Schutz des Bauherrn im Kenntnisgabeverfahren Im Kenntnisgabeverfahren fehlt dem Bauherrn der Schutz der Genehmigung. Während sich aus der weitreichenden Prüfjpflicht der Baurechtsbehörde im Genehmigungsverfahren die umfassende Legalisierung des Bauvorhabens ergibt und diese in Form einer zeitlich unbeschränkt wirksamen Unbedenklichkeitsbescheinigung festgestellt wird, liegt die Verantwortlichkeit für die materielle Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens im Kenntnisgabeverfähren ausschließlich bei den am Bau beteiligten Personen. Der Bauherr kann bei drohenden bauordnungsrechtlichen Maßnahmen nicht auf die staatliche Erlaubnis verweisen. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit der Bauherr im Kenntnisgabeverfahren durch die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts vor bauordnungsrechtlichen Maßnahmen geschützt wird. 1. Bestandsschutz Ein Schutz des Bauherrn vor bauordnungsrechtlichen Maßnahmen gegen das im Kenntnisgabeverfahren errichtete Bauwerk könnte sich zunächst aus dem Grundsatz des Bestandsschutzes ergeben. Bestandsschutz bedeutet, daß ein zu einem früheren Zeitpunkt legales Bauwerk, das mit geltendem Recht

C. Schutz des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

173

nicht mehr vereinbar ist, erhalten und weitergenutzt werden darf 678 . Dreh- und Angelpunkt des Bestandsschutzes ist die Sicherung des legal geschaffenen Bestandes679. Nach allgemeiner Auffassung steht der in der Eigentumsgarantie verfassungsrechtlich verankerte Bestandsschutz680 repressiven Maßnahmen entgegen, wenn das fertige 681 Bauwerk zu irgendeinem Zeitpunkt formell oder materiell rechtmäßig war 682 . Im Kenntnisgabeverfahren erlischt das präventive Bauverbot mit dem Fristablauf nach der Anzeige von dem Bauvorhaben 683. Mit dem Erlöschen des präventiven Bauverbotes kann der Bauherr die Bauausführung insoweit formell rechtmäßig beginnen. Es ließe sich daher erwägen, ob die erfolgreiche Durchführung des Kenntnisgabeverfahrens, die darin besteht, daß die Baurechtsbehörde nach der Anzeige von dem geplanten Vorhaben den Baubeginn nicht vor dem Fristablauf untersagt, eine formelle Rechtmäßigkeit erzeugt, die Bestandsschutz vermittelt 684 . Im Kenntnisgabeverfahren kann sich bei einem Widerspruch des Bauwerks zu materiellem Baurecht ein Bestandsschutz jedoch nicht ergeben. Die materielle Rechtswidrigkeit von Bauwerken ergibt sich aus einem Abweichen von materiellen Vorschriften des Bauordnungs- oder Bauplanungsrechts. Abweichungen von materiellem Baurecht bedürfen im Kenntnisgabeverfahren eines gesonderten Dispenses685. Die erforderliche Erlaubnis für eine Abweichung von materiellem Baurecht wird durch die Durchführung des Kenntnisgabeverfahrens aber nicht ersetzt. Die Anwendbarkeit des Kenntnisgabeverfahrens richtet sich daher insoweit nach der materiellen Rechtslage, weil für die Erteilung der erforderlichen Abweichung, Ausnahme oder Befreiung ein gesondertes Dispensverfahren hätte durchgeführt werden müssen. Das im 67 8 Ortloff in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht, Band II, 3. Auflage, S. 141; Kutschern, Bestandsschutz im öffentlichen Recht, S. 3 und S. 11; Schulze-Fielitz, Die Verwaltung 20, 307 (309 ff.). 679 BVerwGE 50, 49 (57). 680 Zur Ableitung des Bestandsschutzes aus Art. 14 GG, vgl. BVerwGE 36, 296 (300); 42, 30 (39); 47, 126 (128); 50, 49 (57); 72, 362 (363); BVerwG, NJW 1980, 252 (252); Friauf WiVerw 1986, 87 (95 ff.). 681 Zum Erfordernis der funktionsgerechten Nutzbarkeit als Bestandsschutzvoraussetzung, vgl. BVerwG, NJW 1971, 1624 (1625). 682 Brohm, Öffentliches Baurecht, § 21, Rdn. 24. 683 Dazu und zum Folgenden siehe oben, 2. Kap., C 3. 684 Zur Annahme von Bestandsschutz trotz materieller Rechtswidrigkeit des im genehmigungsfreien Verfahren errichteten Bauwerks siehe Jäde, UPR 1995, 81 (83). 685 Siehe oben, 2. Kap., A 3.

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6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

Kenntnisgabeverfahren errichtete, materiell rechtswidrige Bauwerk ist daher immer auch formell rechtswidrig. Ferner hat der Begriff der formellen Legalität im Kenntnisgabeverfahren ohnehin eine andere Bedeutung als im Genehmigungsverfahren. Anders als im Genehmigungsverfahren bedeutet formelle Legalität nicht, daß außer dem Erlöschen des Bauverbotes eine Feststellung über die Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens getroffen wurde. Eine Feststellungswirkung kommt dem Ablauf der Wartefrist im Kenntnisgabeverfahren nicht zu 686 . Grundlage der bestandsschutzbegründenden Legalisierungswirkung ist aber im Genehmigungsverfahren nicht das Erlöschen des Bauverbotes, als der verfugende Teil der Baugenehmigung, sondern der feststellende Teil der Baugenehmigung687. Der unbeanstandete Fristablauf im Kenntnisgabeverfahren erzeugt somit keinen Bestandsschutz, der repressiven Maßnahmen gegen das fertige Bauwerk entgegensteht. 2. Vertrauensschutz Im Kenntnisgabeverfahren reicht der Bauherr die Bauvorlagen bei der Gemeinde ein und gibt dadurch der Behörde Kenntnis von dem geplanten Bauvorhaben 688. Die Frist nach der Anzeige des Bauvorhabens dient der Ermöglichung einer präventiven Kontrolle des Bauvorhabens im Einzelfall 689 . Sofern die Baurechtsbehörde den Baubeginn nicht innerhalb der zweiwöchigen Frist gemäß § 59 Abs. 4 Nr. 1 LBO bzw. der Monatsfrist gemäß § 59 Abs. 4 Nr. 2 LBO untersagt, ist das Kenntnisgabeverfahren zunächst erfolgreich durchgeführt 690 . Es stellt sich daher die Frage, ob sich aus dem Unterlassen der Untersagung des Baubeginns ein schützenswertes Vertrauen des Bauherrn ergeben kann, daß die Baurechtsbehörde, die die Möglichkeit der Untersagung des Baubeginns nicht genutzt hat, auch in Zukunft nicht gegen die Errichtung oder gegen das fertige Bauwerk einschreitet.

686 687 688 689 690

Siehe oben, 2. Kap., C 3a. Brohm, Öffentliches Baurecht, § 21, Rdn. 24. Siehe oben, 2. Kap., A 3. Siehe dazu oben, 2. Kap., C 3. Hierzu siehe oben, 2. Kap., C 3.

C. Schutz des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

175

Nach der Auffassung von Degenhart 691 und Jäde692 ist eine Berufung des Bauherrn auf Vertrauensschutz nicht als von vornherein unzulässig anzusehen, wenn die Baurechtsbehörde die Frist bis zum zulässigen Baubeginn verstreichen läßt, da durch das Verstreichenlassen der Frist ein Rechtsschein erzeugt werde, der einen Vertrauenstatbestand hervorrufen kann. Vertrauensschutz wird auch von Erbguth/Stollmann 693 angenommen, wenn die Gemeinde in Bayern 694 oder Nordrhein-Westfalen 695 im Rahmen ihrer Entscheidungsbefugnis über die Durchführung eines Genehmigungsverfahrens innerhalb der Monatsfrist keine Erklärung abgibt und der Bauherr anschließend mit dem Bau beginnt. Die Anwendung des Vertrauensschutzgedankens kommt auch in der Auffassung von Jobst-Wagner zum Ausdruck, nach der eine durch den Ablauf der Untersagungsfrist eingetretene formelle Legalität in entsprechender Anwendung der Regeln über die Rücknahme einer Baugenehmigung zu beseitigen sei 696 . Vertrauensschutz ist die Verteidigung von schützenswerten Verhaltenserwartungen des Bürgers gegenüber dem Staat, die durch staatliches Handeln hervorgerufen werden 697 . Der Vertrauensschutzgedanke ist im öffentlichen Recht erst Anfang der fünfziger Jahre aufgekommen 698. Seitdem hat sich das Vertrauensschutzprinzip als allgemeiner Grundsatz des Verwaltungsrechts etabliert 699 . Über seine rechtlichen Grundlagen besteht aber kein allgemeiner Konsens 700 . Die herrschende Auffassung leitet den Vertrauensschutz aus dem

691

Degenhart, Genehmigungsfreies Bauen und der Rechtsschutz des Nachbarn, S. 17 ff; ders., SächsVBl. 1995, 1 (6), für die Rechtslage in Sachsen, wo die Baurechtsbehörde jedoch im Unterschied zu der Rechtslage in Baden-Württemberg eine stichprobenartige Prüfung vornehmen soll. 692 Jäde, ZfBR 1996, 241 (246). 693 Erbguth/Stollmann, BayVBl. 1996, 65 (71). 694 Vgl. Art. 64 Abs. 2 S. 1 BayBO. 695 Vgl. § 67 Abs. 2 S. 2 BauO NW. 696 Jobst-Wagner, Anzeige und Anzeigeverfahren in der Verwaltungsrechtsordnung, S. 130 f. 697 Ossenbühl, D Ö V 1972, 25 (25). 698 Vgl. Ossenbühl, D Ö V 1972, 25 (26); Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee/Kirchhof, HBdStR Band III, § 60, Rdn. 3. 699 Püttner, Vertrauensschutz im Verwaltungsrecht, VVDStRL 32 (1974), 200 (211). Der Vertrauensschutz wird auch als unabänderbarer Verfassungsgrundsatz des Art. 79 I I I GG angesehen, vgl. Herzog, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Art.20, VII., Rdn. 64. 700 Siehe zu den verschiedenen Auffassungen ausführlich: Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, S. 29 ff. Vgl. auch Püttner, Vertrauensschutz im Verwaltungsrecht, VVDStRL 32 (1974),

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6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabeverfahren

Rechtsstaatsprinzip und dem Prinzip der Rechtssicherheit ab 701 und zieht teilweise zusätzlich den Grundsatz von Treu und Glauben heran 702 . Vertrauensschutz setzt zunächst einen Vertrauenstatbestand voraus, an den Rechtswirkungen anknüpfen können. Grundlage des öffentlich-rechtlichen Vertrauensschutzes ist eine staatlich geschaffene Vertrauensgrundlage 703. Ein schutzwürdiges Vertrauen des Bauherrn kann sich im Kenntnisgabeverfahren nicht bereits aus der Bestätigung der Vollständigkeit der Bauvorlagen ergeben, da mit dieser Bestätigung keine Aussagen über die materielle Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens verbunden sind 704 . Das staatliche Verhalten, an das ein Vertrauen des Bauherrn auf zukünftiges Unterlassen anknüpfen kann, ist hier das Verstreichenlassen der Frist durch die Baurechtsbehörde 705. Der Vertrauenstatbestand setzt weiterhin voraus, daß der einzelne auf den Bestand des staatlichen Aktes vertraut. Es muß eine Vertrauensbildung im Sinne eines "Vertraut haben" 706 erfolgt sein 707 . Die dritte Voraussetzung ist, daß der Bürger

200 (201 ff.); Ossenbühl, Die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte, 2. Auflage, S. 71 ff., 153 ff. 701 BVerfGE 59, 128 (164); 51, 356 (362); 50, 244 (250); 45, 142 (168); 30, 392 (403); 25, 371 (403); 24, 220 (230); 22, 330 (347); 13, 261 (271); 13, 215 (224); BVerwGE 67, 129 (131) Herzog, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Art.20, Rdn. 64; Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee/Kirchhof, HBdStR Band III, § 60, Rdn. 3. 702 So vor allem das Bundesverwaltungsgericht, vgl. BVerwGE 8, 261 (269); 8, 296 (304); 9, 251 (253 ff.); 10, 64 (68); 10, 308 (309); 11, 136 (137); 19, 188 (189 ff.); 21, 119 (124); 27, 215 (217 f.); 29, 291 (295); 40, 147 (150); siehe auch Ossenbühl, D O V 1972, 25 (27). Kritisch: Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, S. 29 ff. Zur Anwendbarkeit zivilrechtlicher Vorschriften im Verwaltungsrecht vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Auflage, § 3, Rdn. 28. 703 Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, S. 80; Kutschern, Bestandsschutz im öffentlichen Recht, S. 162 und S. 243. 704 Vielmehr hat die Gemeinde die Vollständigkeitsbestätigung auch dann zu erteilen, wenn sie weiß, daß das Kenntnisgabeverfahren für das geplante Vorhaben nicht anwendbar ist, vgl. Ruf\ Die neue Bauordnung in Baden-Württemberg, § 51, Rdn.5; Pfaff VB1BW 1996, 281 (284). 705 Zum administrativen Unterlassen als mögliche Vertrauensgrundlage vgl. Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, S. 88 m.w.N. 706 Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, S. 89. 707 BVerwGE 68, 159 (164).

C. Schutz des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

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sein an der Vertrauensgrundlage ausgerichtetes Vertrauen auch betätigt 708 , das Vertrauen muß "ins Werk gesetzt" sein 709 . Sofern die Baurechtsbehörde den Baubeginn nicht innerhalb der ZweiWochen-Frist bzw. der Monatsfrist untersagt hat und der Bauherr das Bauvorhaben im Vertrauen darauf ausfuhrt, daß die Baurechtsbehörde auch künftig keine gegen das Bauvorhaben gerichtete Maßnahmen verfügt, so stellt sich die Frage, ob das Vertrauen des Bauherrn auch schutzwürdig ist. Wesentlicher Bestandteil des Kenntnisgabeverfahrens ist der Abbau präventiver staatlicher Kontrolle und die Verlagerung von Prüfaufgaben auf Private. Mit der Privatisierung der bisher staatlichen Prüfpflichten korrespondiert eine Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der Bauherren. Eigenverantwortlichkeit bedeutet, daß der Bauherr und die von ihm beauftragten Personen die materielle Rechtslage selbst prüfen und alle Fehler bei dieser Prüfung selbst verantworten müssen. Die Verpflichtung des Bauherrn zur Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften wird für das Kenntnisgabeverfahren (§ 51 Abs. 4 LBO) ebenso wie für die verfahrensfreien Vorhaben (§ 50 Abs. 5 LBO) ausdrücklich hervorgehoben. Dabei wird die Verantwortlichkeit der am Bau Beteiligten zusätzlich durch die Verpflichtung zur Abgabe von Bestätigungen über die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften in den Vordergrund des Kenntnisgabeverfahrens gestellt. Dies zeigt, daß sich die Annahme eines schützenswerten Vertrauens des Bauherrn nicht mit der Struktur des Kenntnisgabeverfahrens vereinbaren läßt. Der Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Bauherrn darauf, daß die Baurechtsbehörde, die die Frist bis zum zulässigen Baubeginn verstreichen lassen hat, auch in Zukunft nicht gegen den Bauherrn einschreiten wird, weil sie die Rechtslage kennt oder zumindest kennen könnte, steht hier auch der eindeutige Wortlaut des Gesetzes entgegen. Gemäß § 51 Abs. 5 S. 2 LBO werden die Bauvorlagen im Kenntnisgabeverfahren nicht geprüft, so daß der Bauherr nicht von einer staatlichen Duldung oder stillschweigenden Erlaubnis ausgehen kann, wenn die Behörde nicht vor dem Fristablauf einschreitet. Zur Klarstellung, daß der Baurechtsbehörde trotz des normierten PrüfVerzichts im Kenntnisgabeverfahren alle Eingriffsbefugnisse erhalten bleiben, weist

708 BVerfGE 51, 356 (363 f.); 62, 117 (163 f.); 63, 343 (359); 69, 272 (309); 72, 175 (196); BVerwGE 68, 159 (164). 709 BVerfGE 72, 200 (242). 12 Kruhl

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6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabeverfahren

§ 51 Abs. 5 S. 2 LBO zusätzlich darauf hin, daß die Geltung der baurechtlichen Generalklausel unberührt bleibt 710 . Der Annahme eines schützenswerten Vertrauens steht des weiteren das Rechtsstaatsprinzip entgegen. Das Rechtsstaatsprinzip verpflichtet den Staat zur Rechtsdurchsetzung. Ginge man hingegen davon aus, daß dem Staat trotz einer fehlenden präventiven Kontrolle repressive Maßnahmen von vornherein nicht gestattet wären, würde dies faktisch die Vollziehbarkeit des Baurechts ausschließen und das Kenntnisgabeverfahren mit materieller Baufreiheit gleichsetzen. Die Annahme eines schützenswerten Vertrauens läßt sich zudem auch nicht mit der staatlichen Pflicht zum Schutz der Nachbarrechte vereinbaren 711 . Daraus ergibt sich, daß die unbeanstandete Durchführung des Kenntnisgabeverfahrens keinen Vertrauensschutz erzeugt, der bauordnungsrechtlichen Maßnahmen entgegensteht712. 3. Verwirkung Da einem bauordnungsrechtlichen Einschreiten weder Bestandsschutz noch Vertrauensschutz entgegensteht, bleibt zu erörtern, ob der Bauherr durch die Rechtsfigur der Verwirkung vor der Möglichkeit einer zeitlich unbegrenzten Inanspruchnahme durch die Baurechtsbehörde geschützt wird. Die Verwirkung bildet eine allgemeine Schranke der zulässigen Rechtsausübung und ergibt sich als Ausprägung des Verbotes des venire contra factum proprium aus dem im öffentlichen Recht anwendbaren Grundsatz von Treu und Glauben 713 . Voraussetzung der Rechtsverwirkung ist, daß der Verpflich-

710

LT-Drs. 11/5337, S. 112. Unter dem Gesichtspunkt der staatlichen Schutzpflicht weist vor allem Schmidt-Preuß, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997), 160 (196 ff.) darauf hin, daß der Verwaltung bei einer Rücknahme der Präventivkontrolle das repressive Eingriffsinstrumentarium ungeschmälert zur Verfügung stehen muß. Zur staatlichen Schutzpflicht siehe oben, 5. Kap., F. 712 Vgl. auch Simon, BayVBl. 1994, 332 (337 f.), der daraufhinweist, daß einem Einschreiten der Bauaufsichtsbehörde nicht entgegensteht, daß der Bauherr nach dem Fristablauf formell rechtmäßig mit dem Bauen beginnen durfte. 713 BVerwGE 44, 339 (343); Forsthoff.\ Verwaltungsrecht, 10. Auflage, S. 172; Stich, DVB1. 1959, 234 (234); Bauer, Die Verwaltung 23 (1990), 211 (212 f.); Ossenbühl, N V w Z 1995, 547 (549). Zur Entwicklung des Verwirkungsgedankens 711

C. Schutz des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

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tete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte und tatsächlich darauf vertraut hat, daß dieser ein bereits seit langer Zeit bestehendes, aber nicht ausgeübtes Recht auch künftig nicht mehr geltend machen wird und der Verpflichtete sein Handeln aufgrund dieses Vertrauens derart ausgerichtet hat, daß ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde 714 . Problematisch ist hier vor allem, ob die Baurechtsbehörde das "Recht zum Einschreiten" überhaupt verwirken kann. Nach einer teilweise vertretenen Auffassung sind bauordnungsrechtliche Befugnisse als Rechtspositionen verwirkbar 715 . Der Annahme einer Verwirkung steht jedoch entgegen, daß die Befugnis zum Einschreiten kein subjektives Recht der Behörde ist. Die Ermächtigungsgrundlage bildet vielmehr als Kompetenzzuweisung die rechtsstaatliche Grundlage für belastende Maßnahmen gegen den Bürger. Die Rechtsgüter, deren Durchsetzung die Ermächtigungsgrundlage bezweckt, sind keine eigenen Rechte der Behörde, sondern insoweit fremde Rechte, die nicht zur Disposition der Behörde stehen716. Die Befugnis der Behörde zum Einschreiten im Rahmen ihrer Aufgabe zum Gesetzesvollzug ist daher nicht als disponibles Recht, sondern als Pflicht der Baurechtsbehörde aufzufassen. Dies ergibt sich bereits aus der Aufgabenzuweisungsnorm des § 47 Abs. 1 LBO, der zufolge die Baurechtsbehörde darauf zu achten hat, daß die baurechtlichen Vorschriften eingehalten werden. Die Zuordnung der bauordnungsrechtlichen Befugnisse zu den administrativen Pflichten ergibt sich auch aus der rechtsstaatlichen Aufgabe der Baurechtsbehörden zur Rechtsdurchsetzung und der Bindung der Verwaltung an das Gesetz. Auch die Tatsache, daß der Baurechtsbehörde hinsichtlich des Einschreitens ein Ermessen eingeräumt ist, entbindet die Baurechtsbehörde bei Rechtsverstößen nicht von der Verpflichtung, über das Ob und Wie des Vorgehens

im öffentlichen Recht vgl. Böhmer, BayVBl. 1956, 129 (129 ff.); ders., BayVBl. 1956, 173 (173 ff.). 714 BVerwGE 44, 339 (343 f.); Stich, DVB1. 1959, 234 (237 f.). 715 V G H Baden-Württemberg, BRS 32, Nr. 186, 344 (345 f.); O V G RheinlandPfalz, BRS 36, Nr. 216, 423 (424); Schlez, Landesbauordnung für BadenWürttemberg, 4. Auflage, § 65, Rdn. 44; Dürr, Baurecht, Rdn. 246; Schenke, Bauordnungsrecht, in: Achterberg/Püttner, Besonderes Verwaltungsrecht, S. 511; Grotefels, in: Hoppe/Grotefels, Öffentliches Baurecht, § 15, Rdn. 82. 716 Hermes!Wieland, Die staatliche Duldung rechtswidrigen Verhaltens, S. 37. M i t einer Beschränkung der Verwirkung auf verzichtbare Rechte auch Striewe, ZfW 1985/1986, 273 (290); Erichsen, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Auflage, § 11, Rdn. 51, Bauer, Die Verwaltung 23 (1990), 21 1 (213).

180

6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden717. Die Befugnis, nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ist nicht Ausdruck eigennütziger Freiheit, sondern dient der optimalen Verwirklichung der gesetzgeberischen Zielsetzung im Einzelfall 718 . Daraus ergibt sich, daß die verspätete Entscheidung über ein Einschreiten nicht als unzulässige Rechtsausübung aufgefaßt werden kann, sondern daß die Behörde im Gegenteil mit ihrer Entscheidung eine bestehende Pflicht erfüllt und dadurch ihr pflichtwidriges Unterlassen beendet719. Bei der Befugnis zum Einschreiten gegen baurechtswidrige Zustände handelt es sich daher nicht um ein subjektives, verzichtbares, und folglich nicht um ein verwirkbares Recht 720 , sondern um eine von der Baurechtsbehörde wahrzunehmende Pflicht. Verwirkung käme somit nur dann in Betracht, wenn man davon ausginge, daß die Rechtsfigur der Verwirkung nicht nur die Ausübung einer Rechtsposition verbietet, sondern auch die Wahrnehmung von Pflichten untersagen kann. Dagegen spricht jedoch, daß das Bestehen von subjektiven Rechten für den Begriff der Rechtsverwirkung konstituierend ist und die Verwirkung keinen allgemeinen Rechtssatz darstellt, der auf den Schutz eines nicht bestehenden oder nicht schutzwürdigen Vertrauens abzielt 721 . Der Annahme einer zeitlichen Begrenzung der Befugnis zum bauordnungsrechtlichen Einschreiten gegen ein im Kenntnisgabeverfahren errichtetes rechtswidriges Bauwerk steht ferner entgegen, daß das bloße Unterlassen des bauordnungsrechtlichen Einschreitens auch bei der Annahme einer Verwirkbarkeit von Eingriffsbefugnissen nicht ausreichend ist, um bei dem Bürger ein Vertrauen hervorzurufen, das darauf gerichtet ist, daß die Behörde auch in Zukunft keine Maßnahmen zur Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes treffen wird 7 2 2 . Vielmehr wäre es auch nach dieser Auffassung erforderlich,

717

V G H Bayern, BRS 22, Nr. 210, 292 (293). Hermes/Wieland, Die staatliche Duldung rechtswidrigen Verhaltens, S. 37. 719 Vgl. V G H Hessen, BRS 44, Nr. 198, 455 (462). 720 O V G Berlin, BRS 22, Nr. 209, 292 (292); V G H Bayern, BRS 22, Nr. 210, 292 (293); V G H Hessen, BRS 44, Nr. 198, 455 (457 ff.); V G H Hessen, N V w Z 1985, 664 (666); V G H Hessen, UPR 1988, 74 (74). Aus der Literatur vgl. Ortloff,\ in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht, Band II, 3. Auflage, S. 153; Brohm, Öffentliches Baurecht, § 28, Rdn. 14; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 3. Auflage, Rdn. 655 mit Fußnote 106. 721 Gegen eine Aufweichung der Verwirkungsvoraussetzungen bereits Stich, DVB1. 1959, 234 (237), sowie Bauer, Die Verwaltung 23 (1990), 211 (213). 722 Forsthoff Verwaltungsrecht, 10. Auflage, S. 173; Stich, DVB1. 1959, 234 (237). 718

C. Schutz des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

181

daß die Baurechtsbehörde objektiv zu erkennen gibt, daß sie sich mit der Existenz des Bauwerks abgefunden hat und den Zustand daher künftig dulden will. Daraus folgt, daß die Baurechtsbehörde auch bei der Annahme der Verwirkbarkeit von Eingriffsbefugnissen noch nach Jahren oder Jahrzehnten gegen ein Bauwerk einschreiten kann, obwohl sie zuvor den rechtswidrigen Zustand stillschweigend geduldet hat 723 . Die Tatsache, daß die Baurechtsbehörde über einen längeren Zeitraum trotz Kenntnis oder Kenntnismöglichkeit nicht gehandelt hat, stellt sich dann für den Bauherrn lediglich als rechtlich unerheblicher Vorteil einer rechtswidrigen Grundstücksnutzung dar 724 . Der Bauherr sowie ihm nachfolgende Eigentümer sind somit nicht durch die Rechtsfigur der Verwirkung vor einer zeitlich unbegrenzten Inanspruchnahme durch die Baurechtsbehörde geschützt. 4. Verjährung Das Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu fordern, unterliegt nach zivilrechtlichen Grundsätzen der Verjährung. Dem liegt vor allem der Gedanke der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens zugrunde 725 . Die Veijährung soll sowohl den Schuldner, der das Bestehen eines Anspruchs kennt, vor der ständigen, zeitlich unbegrenzten Befürchtung bewahren, der Gläubiger werde kurzfristig seinen Anspruch geltend machen, obwohl dieser seinen Anspruch möglicherweise nicht zu erheben gedenkt, als auch den ahnungslosen Schuldner vor der plötzlichen Geltendmachung eines vor langer Zeit entstandenen Anspruchs schützen726. Steht ein Bauwerk seit langer Zeit im Widerspruch zu öffentlichem Recht, ist im Bauordnungsrecht aus der Sicht des Bauherrn und dessen Rechtsnachfolgern eine mit dem der zivilrechtlichen Verjährung zugrundeliegenden Rechtsgedanken vergleichbare Sachlage gegeben. Die Problematik der ständigen Befürchtung einer bauordnungsrechtlichen Inanspruchnahme bzw. die Gefahr eines plötzlichen und unerwarteten Einschreitens durch die Baurechts-

723

So ausdrücklich: V G H Bayern, BRS 22, Nr. 210, 292 (293). OVG Berlin, BRS 22, Nr. 209, 292 (292). 725 BGH, NJW-RR 1993, 1059 (1060); Pawlowski, Allgemeiner Teil des BGB, Rdn. 330; v.Feldmann, in: MüKo, 3. Auflage, § 194, Rdn. 6. Ausführlich zur Begründung der Verjährung im Zivilrecht: Spiro, Die Begrenzung privater Rechte durch Verjährungs-, Verwirkungs- und Fatalfristen, Bd.I, S. 7 ff. 726 Spiro, Die Begrenzung privater Rechte durch Verjährungs-, Verwirkungsund Fatalfristen, Bd.I, S. 11 ff. 724

182

6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

behörde sind kennzeichnend für die mangelnde Rechtssicherheit im Kenntnisgabeverfahren. Es stellt sich daher die Frage, ob auch die Pflicht des Bauherrn und seiner Rechtsnachfolger zur Beseitigung eines baurechtswidrigen Zustandes der Veijährung unterliegt 727 . Gegen die Annahme einer Verjährung der Befugnis zu bauordnungsrechtlichem Einschreiten könnten zunächst rechtsstaatliche Bedenken erhoben werden, die allgemein an das Erfordernis der Rechtsbewahrung anknüpfen 728 . Eine solche Argumentation würde jedoch verkennen, daß das Institut der Veijährung im Einklang mit den rechtsstaatlichen Erfordernissen der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens gerade darauf angelegt ist, einen Zustand zu zementieren, der der materiellen Rechtslage nicht entspricht 729 . Die Situation der polizeirechtlichen Inanspruchnahme des Störers ist jedoch, wie bereits dargestellt 730, insofern nicht mit zivilrechtlichen Schuldverhältnissen vergleichbar, als sich die Ordnungsbehörde und der Bauherr nicht als Berechtigter und Verpflichteter eines zweiseitigen Rechtsverhältnisses gegenüberstehen, sondern sowohl die Baurechtsbehörde als auch der Störer als Verpflichtete angesehen werden müssen. Daher geht es bei der Veijährung bauordnungsrechtlicher Befugnisse vor allem um die Frage, ob im Bauordnungsrecht der Durchsetzung der Rechtsordnung gegenüber der Schaffung von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden ein Vorrang zukommt. Im Unterschied zu den der Verjährung unterliegenden zivilrechtlichen Ansprüchen ist die Befugnis zum ordnungsrechtlichen Einschreiten kein Selbstzweck, sondern sie dient der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und somit dem Schutz wesentlicher, unverjährbarer Güter. Aus der Bedeutung dieser Schutzverpflichtung begründet sich im Ordnungsrecht ein Vorrang der Rechtsdurchsetzung gegenüber der Veijährung zugrundeliegenden Zielsetzungen.

727 Zur Verjährung im öffentlichen Recht vgl. Maas, Die Verjährung i m öffentlichen Rechte, S. 11 ff.; Schach, BB 1954, 1037 (1037 ff.); Lange, Die verwaltungsrechtliche Verjährung; Ossenbühl, N V w Z 1995, 547 (548 f.). 728 Vgl. Lange, Die Verwaltungsrechtliche Verjährung, S. 22, der die Unanwendbarkeit der Verjährung ausschließlich darauf stützt, daß die Beteiligten ansonsten in der Lage wären, durch bloße Untätigkeit einen polizeiwidrigen Zustand zu legalisieren. 729 So weist bereits Schultzenstein, Deutsche Juristen-Zeitung 1914, Sp. 17 (18), daraufhin, daß bei dieser Argumentation nirgends eine Verjährung zugelassen werden dürfte. Kritisch auch Ossenbühl, N V w Z 1995, 547 (549). 730 Siehe vorstehend, 5. Kap., C 3.

D. Rechtsunsicherheit durch erhöhte Gefahr von Nachbarklagen

183

Daraus ergibt sich, daß die Befugnis zu bauordnungsrechtlichem Einschreiten nicht verjährt 731 . 5. Fazit Der unbeanstandete Fristablauf im Kenntnisgabeverfahren erzeugt keine durch Bestands- oder Vertrauensschutz gesicherte Rechtsposition. In zeitlicher Hinsicht stehen die Grundsätze der Verwirkung und der Verjährung einem bauordnungsrechtlichen Einschreiten nicht entgegen. Der Bauherr und dessen Rechtsnachfolger müssen daher im Falle einer rechtswidrigen Errichtung des Bauwerks mit Maßnahmen der Baurechtsbehörde rechnen, solange der Widerspruch zu geltendem Recht besteht.

D. Verstärkung der Rechtsunsicherheit im Kenntnisgabeverfahren durch erhöhte Gefahr von Nachbarklagen 1. Verstärkung der Rechtsunsicherheit durch fehlenden Interessenausgleich im Kenntnisgabeverfahren Eine effektive Nachbarbeteiligung findet im Kenntnisgabeverfahren nicht statt 732 . Die Nachbarn werden inhaltlich nicht ausreichend über das geplante Bauvorhaben informiert und können ihre Interessen nicht effektiv in den der Errichtung des Bauvorhabens zugrundeliegenden Entscheidungsfindungsprozeß einbringen. Informationsdefizite schaffen Mißtrauen 733 . Dieses Mißtrauen wird dadurch noch verstärkt, daß die Kontrolle des Bauvorhabens nicht mehr durch die neutrale und sachlich kompetente Baurechtsbehörde, sondern durch

731

Ebenso: V G H Hessen, BRS 44, 455 (458); V G H Hessen, UPR 1988, 74 (74); Maas, Die Verjährung im öffentlichen Rechte, S. 60; Lange, Die verwaltungsrechtliche Verjährung, S. 22; Forsthoff\ Verwaltungsrecht, 10. Auflage, S. 174. Vgl. auch Ossenbühl, N V w Z 1995, 547 (549), der die Verjährung der Befugnis zum Einschreiten verneint, aber eine Inanspruchnahme des Verhaltensstörers nur unter den Voraussetzungen der Inanspruchnahme Dritter im polizeilichen Notstand zulassen w i l l . Die Verjährbarkeit der Befugnis zum Einschreiten wird dagegen offengelassen von Schach, BB 1954, 1037 (1037). 732 Siehe hierzu und zum Folgenden oben, 5. Kap., A. 733 M i t der Feststellung eines gesteigerten Mißtrauens der Nachbarn gegenüber dem benachbarten Bauvorhaben im Kenntnisgabe verfahren auch Ruf Die neue Bauordnung in Baden-Württemberg, § 51, Rdn. 8.

184

6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

die vom Bauherrn beauftragten Privaten vorgenommen wird 7 3 4 . Die Konsensfunktion 735 des Verwaltungsverfahrens kommt im Kenntnisgabeverfahren nicht zur Anwendung. Das Bauvorhaben ist nicht mehr das Produkt eines Interessenausgleichsprozesses, an dem der Nachbar beteiligt war. Der Nachbar kann sich nicht mit der dem Bauvorhaben zugrundeliegenden Entscheidung identifizieren. Die unzureichende Information des Nachbarn und der fehlende Verfahrensdialog, in dem die Nachbarn ihre Interessen artikulieren können, verursachen somit potentiell ein Akzeptanzdefizit der Nachbarn gegenüber dem Vorhaben des Bauherrn 736 . Die fehlende Akzeptanz verstärkt die Neigung, Maßnahmen gegen das Bauvorhaben zu ergreifen 737. Die im Kenntnisgabeverfahren strukturell verursachten Akzeptanzdefizite verschärfen daher die Rechtsunsicherheit des Bauherrn. 2. Verstärkung der Rechtsunsicherheit aufgrund der Notwendigkeit effektiver präventiver Gefahrenabwehr Die grundrechtlich geforderte Kompensation des defizitären präventiven Nachbarschutzes im Kenntnisgabeverfahren verlangt ein präventives Einschreiten der Baurechtsbehörde bereits bei Zweifeln an der Einhaltung der nachbarschützenden Bauvorschriften 738. Hier kommt der Notwendigkeit der Verhinderung vollendeter Tatsachen zu Lasten des Nachbarn ein Vorrang gegenüber dem Interesse des Bauherrn an der planmäßigen Fertigstellung zu.

734 Zum Vertrauen in die Sachkompetenz des Entscheidungsträgers als Akzeptanzvoraussetzung siehe Würtenberger, Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, S. 70. 735 Zur Konsensfunktion des Verwaltungsverfahrens siehe Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, S. 62 ff. Vgl. auch Schoch, Der Verwaltungsakt zwischen Stabilität und Flexibilität, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann, Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, S. 231, der darauf hinweist, daß sich die Konsensbildung unter Umständen unter dem Einsatz von Macht vollzieht. 736 Zum Zusammenhang von Verfahrensbeteiligung und Akzeptanz vgl. Würtenberger, Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, S. 67; ders., NJW 1991,257 (259 ff.). 737 Vgl. dazu Ring, L K V 1995, 236 (240), "Der Gedanke, vorsichtshalber die Rechtmäßigkeit des Vorhabens seitens der Baurechtsbehörde oder sogar im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes durch das V G überprüfen zu lassen, ist (...) nicht weit." 738 Hierzu und zum Folgenden siehe oben, 5. Kap., I l b , bb.

D. Rechtsunsicherheit durch erhöhte Gefahr von Nachbarklagen

185

Für den Bauherrn bedeutet dies, daß das Risiko bauordnungsrechtlicher Maßnahmen weiter erhöht und dadurch die Rechtsunsicherheit zusätzlich verstärkt wird. 3. Schutz des Bauherrn im Kenntnisgabeverfahren vor zeitlich unbegrenzter Inanspruchnahme aufgrund von Nachbaransprüchen Im Kenntnisgabeverfahren fehlt dem Bauherrn die bestandskräftige Baugenehmigung als Schutzschild vor nachbarrechtlichen Ansprüchen. Eine gesetzliche Befristung der Rechtsmittel besteht im Kenntnisgabeverfahren nicht. Eine zeitliche Begrenzung der Geltendmachung von Nachbaransprüchen ergibt sich auch nicht daraus, daß die Angrenzer Bedenken innerhalb von zwei Wochen vorbringen können und daß der Bauherr nach dem Fristablauf mit dem Bau beginnen darf 3 9 . Die Einführung einer Präklusion bei nicht vorgebrachten Bedenken wurde im Gesetzgebungsverfahren mit dem Hinweis auf das Fehlen einer formellen behördlichen Entscheidung im Kenntnisgabeverfahren und die zurückgenommene verfahrensrechtliche Rechtsstellung der Angrenzer im Kenntnisgabeverfahren abgelehnt740. Der Nachbar kann seine Nachbaransprüche somit bis zur allgemeinen Grenze der Verwirkung geltend machen 741 . Es stellt sich daher die Frage, inwieweit der Bauherr in zeitlicher Hinsicht durch den Grundsatz der Verwirkung geschützt wird. Zwischen den Nachbarn besteht ein besonderes nachbarliches Gemeinschaftsverhältnis, das nach Treu und Glauben eine gegenseitige Rücksichtnahme erfordert 742. Der Nachbar ist nach Treu und Glauben verpflichtet, durch ein zumutbares aktives Handeln mitzuwirken, einen wirtschaftlichen Schaden des Bauherrn zu vermeiden oder den Vermögensverlust möglichst gering zu halten 743 . Sofern der Nachbar gegen diese Pflicht verstößt, steht einem Anspruch des Nachbarn auf bauordnungsrechtliches Einschreiten der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen. Nachbarliche Abwehrrechte sind daher

739

In diese Richtung allerdings Degenhart, SächsVBl. 1995, 1 (6); Jäde, BayVBl. 1994, 363 (364), für die Rechtslage in Bayern. Kritisch dazu: Kreuziger, Die Genehmigungsfreistellung im Baurecht, S. 152 f. 740 Vgl. LT-Drs. 11/5337, S. 116. 741 Simon, BayVBl. 1994, 332 (337); Stollmann, NWVB1. 1995, 41 (44). 742 BVerwGE 44, 294 (299); BVerwG, BRS 48, Nr. 179, 435 (436); O V G Nordrhein-Westfalen, BRS 23, Nr. 168, 248 (250 f.). 743 BVerwGE 44, 294 (299); BVerwG, BRS 48, Nr. 179, 435 (436).

186

6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

grundsätzlich verwirkbar 744 . Dies gilt nicht nur für die verfahrensrechtlichen Rechte, die an die Baugenehmigung anknüpfen, sondern auch für die materielle Rechtsposition selbst745. Voraussetzung für eine Verwirkung der Abwehrrechte ist zunächst, daß der Nachbar die Rechtsverletzung erkannt hat oder zumindest hätte erkennen müssen746. Die Kenntnis des Nachbarn ergibt sich im Kenntnisgabeverfahren mangels verfahrensrechtlicher Beteiligung oder sonstiger inhaltlicher Information von dem geplanten Bauvorhaben regelmäßig erst aus der Errichtung der nachbarrechtsverletzenden Bauteile, bzw aus der entsprechenden Nutzung 747 . Eine über die Einschätzung des Bauwerks hinausgehende Nachforschungspflicht besteht nicht. Erforderlich ist des weiteren, daß der Nachbar durch seine über eine längere Zeit andauernde Untätigkeit beim Bauherrn ein berechtigtes Vertrauen darauf schafft, daß er sein Abwehrrecht nicht mehr ausüben werde 748 . Dabei richtet sich die Frist nach der Lage des Finzelfalls 749 . Der Zeitraum muß jedoch zumindest so bemessen sein, daß sich der Nachbar ausreichend über die Sachund Rechtslage Klarheit verschaffen und über sein weiteres Vorgehen entscheiden kann 750 . Hierbei ist auch von Bedeutung, daß der Nachbar im Kenntnisgabeverfahren keine Möglichkeit hat, sich bei der Baurechtsbehörde über das Bauvorhaben zu informieren, und daher eine gewisse Zeit benötigt, den erforderlichen Sachverstand einzuholen. Da die Nachbarn im Kenntnisgabeverfahren regelmäßig erst mit der Errichtung der entsprechenden Bauteile Kenntnis von dem möglicherweise vorliegenden Rechtsverstoß erlangen und

744

So die allgemeine Auffassung, vgl. nur BVerwG, BRS 48, Nr. 179, 435 (436); BVerwG, BRS 48, Nr. 180, 437 (437); V G H Baden-Württemberg, VB1BW 1992, 103 (104); O V G Nordrhein-Westfalen, BRS 23, Nr. 168, 248 (249 ff.); O V G Nordrhein-Westfalen, BRS 36, Nr. 188, 390 (391 f.); Bauer, Die Verwaltung 23 (1990), 211 (214); Grotefels, in: Hoppe/Grotefels, Öffentliches Baurecht, S. 678; Ortloff in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht, Band II, 3. Auflage, S. 228. 745 BVerwG, BRS 48, Nr. 179, 435 (436 f.). 746 BVerwG, BRS 48, Nr. 180, 437 (437 f.); Grotefels, in: Hoppe/Grotefels, Öffentliches Baurecht, S. 678. 747 Für die vergleichbare Situation bei "Schwarzbauten", vgl. de Vivi/Barsuhn, BauR 1995,492 (496). 748 BVerwG, N V w Z 1991, 1182 (1183); BVerwG, N V w Z - R R 1993, 397 (398); O V G Nordrhein-Westfalen, BRS 23, Nr. 168, 248 (251 f.); BVerwGE 52, 16 (25); OVG Nordrhein-Westfalen, BRS 36, Nr. 188, 390 (391). 749 Vgl. dazu de Vivi/Barsuhn, BauR 1995, 492 (494). 750 O V G Nordrhein-Westfalen, BRS 23, Nr. 168, 248 (251 f.).

D. Rechtsunsicherheit durch erhöhte Gefahr von Nachbarklagen

187

der Nachbar den erforderlichen Sachverstand anderweitig beschaffen muß, wird vielfach ein vertrauensbegründendes Unterlassen erst nach so langer Zeit vorliegen, daß das Bauwerk zu diesem Zeitpunkt bereits fertiggestellt ist. Daraus folgt, daß der Bauherr bei einem Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften durch den Grundsatz der Verwirkung bis zur Fertigstellung des Bauwerks in der Regel keinen Schutz erhält. Zudem besteht in der Rechtsprechung die Tendenz, eine Verwirkung nur dann anzunehmen, wenn ein, durch das Nichtgeltendmachen des nachbarrechtlichen Abwehrrechts erzeugtes, berechtigtes Vertrauen des Bauherrn kausal für die Vermögensdisposition, also die Errichtung des Bauwerks geworden ist 751 . Ist das Bauwerk zu dem Zeitpunkt, von dem an der Bauherr auf das weitere Nichtgeltendmachen des Anspruchs vertrauen durfte, bereits fertiggestellt, fehlt es bei Zugrundelegung dieser Rechtsprechung an der für die Verwirkung erforderlichen Kausalität zwischen dem treuewidrigen Verhalten des Nachbarn und der Vermögensdisposition des Bauherrn, mit der Folge, daß Verwirkung überhaupt nicht mehr in Betracht kommt 752 . Bei der Annahme eines Kausalitätserfordernisses zwischen dem Unterlassen der Geltendmachung der Nachbaransprüche und den Vermögensdispositionen sind jedoch auch die nach der Fertigstellung des Bauwerks vorgenommenen Vermögensdispositionen mit einzubeziehen753. Denn auch hier ist es dem Bauherrn nicht zumutbar, die Investitionen rückgängig zu machen, die infolge des Vertrauens getätigt wurden, das der Nachbar durch sein Verhalten hervorgerufen hat. Daraus ergibt sich, daß eine Verwirkung auch dann bestehen kann, wenn dem Nachbarn zwar seine Abwehrrechte gegen das Bauwerk zunächst erhalten geblieben sind, er es aber weiterhin unterläßt, diese Rechte geltendzumachen und der Bauherr daraufhin weitere Vermögensdispositionen trifft 754 . Daraus ergibt sich, daß der Grundsatz der Verwirkung dem Bauherrn nur eingeschränkt Schutz vermittelt. Eine Verwirkung der Nachbarrechte liegt vielfach erst nach der Fertigstellung des Bauwerks vor. Bis zu diesem Zeitpunkt ist der Bauherr gegenüber einer Geltendmachung der Nachbarrechte weitgehend schutzlos.

751

BVerwG, N V w Z 1991, 1182 (1185); BVerwG, NVwZ-RR 1993, 397 (398). Vgl. dazu auch de Vivi/Barsuhn, BauR 1995, 492 (495 ff.). 752 BVerwG, N V w Z 1991, 1182 ( 1184 f.). 75 3 de Vivi/Barsuhn, BauR 1995, 492 (498). 75 4 de Vivi/Barsuhn, BauR 1995, 492 (498).

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6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

4. Fazit Mangelnde Akzeptanz der Nachbarn gegenüber dem Bauvorhaben und die Verpflichtung der Baurechtsbehörde zu einem bauordnungsrechtlichen Einschreiten bereits bei Zweifeln an der Einhaltung der nachbarschützenden Vorschriften verstärken die Rechtsunsicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabeverfahren. Für die Problematik des Nachbarrechts ergibt sich daher aus der Einführung des Kenntnisgabeverfahrens, daß dem Bauherrn einerseits der Schutz der Baugenehmigung entzogen wird und andererseits die Eingriffsschwelle bei Nachbarrechtsverletzungen abgesenkt wird. In zeitlicher Hinsicht wird der Bauherr durch den Grundsatz der Verwirkung nur eingeschränkt geschützt. E. Beurteilung bei unbestimmten Rechtsbegriffen Handlungsgrundlage des Bauherrn im Kenntnisgabeverfahren sind der Bebauungsplan und das gesamte materielle Baurecht. Anhand dieser Gesetze müssen Bauherr und Architekt die Zulässigkeit des Bauvorhabens prüfen. Problematisch wird diese Prüfung, wenn sich aufgrund von unbestimmten Rechtsbegriffen nicht unmittelbar und offenkundig aus den Gesetzen ergibt, welche Grundstücksnutzung erlaubt ist. Im Anwendungsbereich des Kenntnisgabeverfahrens besteht eine solche Unsicherheit vor allem im Rahmen von § 15 BauNVO, nach dem eine im Bebauungsplan vorgesehene Grundstücksnutzung im Einzelfall unzulässig ist, wenn diese der Eigenart des Baugebiets widerspricht 755 . Die Prüfung der Zulässigkeit des Bauvorhabens setzt hier eine wertungsbedürftige Beurteilung durch den Bauherrn und den Planverfasser voraus. Die Privaten müssen eine umfassende Abwägung der verschiedenen betroffenen Belange vornehmen. Diese Notwendigkeit zur Beurteilung birgt zwangsläufig die Gefahr, die nicht eindeutig vorgegebenen Maßstäbe falsch anzulegen. Es stellt sich daher die Frage, ob den Privaten bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens ein durch die Baurechtsbehörde oder die Verwaltungsgerichte nicht überprüfbarer Beurteilungsspielraum zusteht. Für die Annahme eines nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraums der Privaten im Kenntnisgabeverfahren spricht, daß dem Privaten im Kennt-

75 5

Mampel, N V w Z 1996, 1160 (1165). Zur Einordnung als unbestimmter Rechtsbegriff siehe Fickert/Fieseler, Baunutzungsverordnung, § 15, Rdn. 1.13.

F. Nichtigkeit des Bebauungsplans

189

nisgabeverfahren eine Beurteilungspflicht auferlegt wird und die Beurteilung die Notwendigkeit einer Wertung beinhaltet. Wenn dem Privaten aber eine Wertungsaufgabe zugewiesen wird, erscheint es zunächst konsequent, daß diese Wertung nur hinsichtlich bestimmter Grenzen überprüft werden kann. Gegen die Annahme eines privaten Beurteilungs- oder Wertungsspielraums bei der Prüfung der Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit öffentlich-rechtlichen Vorschriften spricht jedoch entscheidend, daß die am Bau beteiligten Privaten durch die Privatisierung von Kontrollaufgaben nicht zum Adressaten der Beurteilungsverantwortung werden. Im Kenntnisgabeverfahren bleibt die Gewährleistungsverantwortung der Baurechtsbehörde für die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften uneingeschränkt aufrechterhalten 756. Dies gilt auch, wenn die Frage, ob gegen öffentliches Recht verstoßen wird, eine Wertung voraussetzt. Eine Änderung der materiellen Rechtslage ist mit der Einführung des Kenntnisgabeverfahrens nicht bezweckt. Ob ein Bauvorhaben beispielsweise aufgrund von § 15 BauNVO unzulässig ist, richtet sich daher ausschließlich nach der gerichtlich voll überprüfbaren 757 Beurteilung der Baurechtsbehörde 758. Aus der uneingeschränkten Überprüfbarkeit der Beurteilung ergibt sich, daß das Bauvorhaben bei einer unzutreffenden Beurteilung materiell und somit auch formell rechtswidrig ist 759 . Daraus folgt, daß sich der Bauherr bei zweifelhaften Sachlagen nicht sicher sein kann, ob die Behörde der privaten Einschätzung folgt oder gegebenenfalls gegen das Bauvorhaben einschreitet. Durch die Notwendigkeit einer Beurteilung verstärkt sich daher die Rechtsunsicherheit des Bauherrn.

F. Die Rechtsstellung des Bauherrn bei Nichtigkeit des Bebauungsplans Voraussetzung für die Durchführung des Kenntnisgabeverfahrens ist gemäß § 5 1 Abs. 2 LBO, daß das Vorhaben im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans bzw. einer Satzung nach § 7 BauGB-MaßnahmenG liegt. Ist

756

Siehe oben, 1. Kap., A 2. Vgl. Fickert/Fieseler, Baunutzungsverordnung, § 15, Rdn. 1.13. 758 So auch Hoffmann-Riem, DVB1. 1996, 225 (229); Große-Suchsdorf/Lindendorf/Schmals/Wichert, Niedersächsische Bauordnung, 6. Auflage, § 69a Rdn. 27; Mampel, N V w Z 1996, 1160 (1165). 759 Siehe oben, 6. Kap., C 1. 757

190

6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

die Satzung rechtswidrig u n d daher n i c h t i g 7 6 0 , so k o m m t das Kenntnisgabeverfahren nicht zur A n w e n d u n g 7 6 1 . D i e Anwendbarkeit des Kenntnisgabeverfahrens richtet sich insoweit nach der materiellen Rechtslage. Einschlägig ist dann das Genehmigungsverfahren, sofern die Errichtung nicht ausnahmsweise verfahrensfrei (§§ 49, 50 L B O ) ist 7 6 2 . Das bedeutet, daß die i m Kenntnisgabeverfahren errichtete Anlage formell rechtswidrig ist, da das erforderliche Genehmigungsverfahren

nicht durchgeführt wurde 7 6 3 . D i e Zulässigkeit der

Bebauung richtet sich dann materiell nach §§ 34, 35 BauGB u n d nicht nach § 30 I B a u G B 7 6 4 , so daß regelmäßig auch materielle Rechtswidrigkeit gegeben ist 7 6 5 . Der bislang bestehenden erheblichen Unsicherheit i m H i n b l i c k auf die Beständigkeit v o n Bebauungsplänen 7 6 6 k o m m t somit i m Kenntnisgabeverfahren eine besondere Bedeutung zu. Es w i r d i m Folgenden dargestellt, welche Konsequenzen sich für den Bauherrn aus der N i c h t i g k e i t des Bebauungsplans ergeben. Dabei w i r d erörtert, inwieweit der Bauherr, der i m Vertrauen auf die Beständigkeit des Bebauungsplans gehandelt hat, durch die Grundsätze des Bestandsschutzes u n d des

760 Ein rechtswidriger Bebauungsplan ist nach allgemeiner Meinung als rechtswidrige Satzung ( § 1 0 BauGB) grundsätzlich nichtig und somit unwirksam, vgl. Gaentzsch, in: Schlichter/Stich, Berliner Kommentar zum BauGB, 2. Auflage, § 10, Rdn. 11; Schmidt-Aßmann, DVB1. 1984, 582 (586); Pietzcker, DVB1. 1986, 806 (806); Pietzner, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, § 183, Rdn. 5; Mampel, N V w Z 1996, 1160 (1161). Die Nichtigkeitsentscheidung des OVG nach § 47 VwGO beseitigt daher den Bebauungsplan nicht konstitutiv. Für die Nichtigkeitsfolge treffen §§ 214 ff. BauGB jedoch eine einschränkende Regelung. 761 Für die Genehmigungsfreistellungsverfahren, siehe Erbguth/Stollmann, BayVBl. 1996, 65 (65); Mampel, N V w Z 1996, 1160 (1161). 762 Für das Genehmigungsfreistellungsverfahren nach Art. 70 BayBO/1994, vgl. V G München, BayVBl. 1997, 54 (55). 763 Vgl. Pfaff,; VB1BW 1996, 281 (284); Jäde/Weinl/Dirnberger, BayVBl. 1994, 321 (325); Stollmann, NWVB1. 1995, 41 (42); Erbguth/Stollmann, JZ 1995, 1141 (1144). 764 BVerwGE 55, 369 (378); BVerwG, ZfBR 1987, 96 (97); Lohr, in: Battis/ Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, § 10, Rdn. 22; BGHZ 84, 292 (294). Zur Konstellation der Nichtigkeit einer Änderungssatzung und der damit verbundenen fortdauernden Gültigkeit des vorherigen Bebauungsplans, vgl. V G München, BayVBl. 1997, 54 (55). 765 Die materielle Rechtmäßigkeit des Vorhabens kann sich jedoch aus § 34 Abs. 1 BauGB ergeben, wenn bereits ein im Zusammenhang bebauter Ortsteil entstanden ist, vgl. BVerwG, ZfBR 1996, 55 (55); Jäde, Das Genehmigungsfreistellungsverfahren in der Praxis, in: Hoppe/Bauer/Faber/Schlink, Rechts- und Anwendungsprobleme der neuen Bauordnung N W , S. 42. 766 Vgl. Broß, ZfBR 1991, 43 (44), der einen gültigen B-Plan als Zufallstreffer bezeichnet. Siehe dazu auch Mampel, NVwZ 1996, 1160 (1161).

F. Nichtigkeit des Bebauungsplans

191

Vertrauensschutzes vor ordnungsrechtlichen Maßnahmen der Baurechtsbehörde geschützt ist und ob gegebenenfalls Ersatzansprüche des Bauherrn gegen den Staat für fehlgeschlagene Aufwendungen bestehen. 1. Die Rechtslage im Genehmigungsverfahren Im Genehmigungsverfahren ist der Bauherr durch die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung vor bauaufsichtsrechtlichen Maßnahmen geschützt. Beruht die Baugenehmigung auf einem nichtigen Bebauungsplan, ist diese rechtswidrig 767 , aber wirksam 768 . Wird die rechtswidrige Genehmigung aufgehoben, hat der Bauherr einen Ersatzanspruch aus Amtshaftung 769 bzw. einen Ausgleichsanspruch gemäß § 48 Abs. 3 LVwVfG 7 7 0 . Zur Absicherung der Planungsphase kann der Bauherr im Genehmigungsverfahren einen Bauvorbescheid (§ 57 LBO) erwirken 771 . Durch die Bebauungsgenehmigung772 bzw. den Bauvorbescheid wird im Hinblick auf das zukünftige Genehmigungsverfahren verbindlich festgestellt, daß dem beabsichtigten Bauvorhaben hinsichtlich der zur Entscheidung gestellten Fragen öffentlich-rechtliche Hindernisse nicht entgegenstehen773. Mit der vorgezogenen Feststellung einzelner Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen des Bauvorhabens wird dann der für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgebliche Zeitpunkt von der Entscheidung über den Baugenehmigungsantrag auf die Ent-

767

BGHZ 86, 356 (359); Deutsch, DVB1. 1995, 546 (551). Die Wirksamkeit der Baugenehmigung bleibt von der Feststellung der Nichtigkeit des Bebauungsplans gem. § § 4 7 Abs. 5 S. 3, 186 VwGO unberührt, vgl. BVerwGE 56, 172 (176); BGHZ 86, 356 (359). 76 9 Battis, in: Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, § 39, Rdn. 6. Zur Amtshaftung bei rechtswidriger Genehmigungserteilung vgl. BGHZ 60, 112 (117 ff.); BGH, NJW 1980, 2578 (2579 f.); BGH, NJW 1985, 1692 (1692); BGH, N V w Z 1989,287 (287 f.). 77 0 Deutsch, DVB1. 1995, 546 (551); Schenke, WiVerw 1990, 226 (248); Battis, in: Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, 5. Auflage, § 39, Rdn. 6. A.A. Birk, N V w Z 1984, 1 (6), der einen Ausgleichsanspruch aus § 39 BauGB analog herleitet. 771 Zur Notwendigkeit der Absicherung durch einen Bauvorbescheid für den Fall der Nichtigkeit eines Bebauungsplans vgl. Haldenwang, BauR 1982, 543 (546). 772 Zur Bebauungsgenehmigung siehe PrOVG 104, 206 (208). 773 BVerwGE 48, 242 (245); BVerwG, NJW 1984, 1474 (1474); V G H BadenWürttemberg, VB1BW 1982, 137 (138); Degenhart, DVB1. 1981, 994 (996); Goerlich, N V w Z 1985, 90 (90). 768

192

6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

Scheidung über die Bauvoranfrage vorverlegt 774 . Die Bindungswirkung des Vorbescheids 775 schützt den Bauherrn vor einer nachfolgenden Änderung der Sach- oder Rechtslage776. Dies gilt auch dann, wenn sich nach Erteilung des Bauvorbescheids der Bebauungsplan als nichtig herausstellt, da der Vertrauensschutz hier an den rechtswirksamen Verwaltungsakt anknüpft. Ist der Bebauungsplan nichtig, so ist der Bauvorbescheid regelmäßig rechtswidrig. Die Baurechtsbehörde kann den rechtswidrigen Verwaltungsakt nach § 48 LVwVfG zurücknehmen, die Erteilung der Baugenehmigung verweigern und dadurch baurechtswidrige Zustände verhindern. Sofern dem Bauherrn durch die rechtswidrige Erteilung des Bauvorbescheids ein Schaden entstanden ist, hat dieser einen Anspruch aus Amtshaftung 777 bzw. einen Ausgleichsanspruch gemäß § 48 Abs. 3 LVwVfG 7 7 8 . 2. Die Rechtslage im Kenntnisgabeverfahren Im Falle der Nichtigkeit des Bebauungsplans fehlt dem Bauherrn im Kenntnisgabeverfahren jener Schutz, der durch die Legalisierungswirkung der bestandskräftigen Genehmigung vermittelt wird. Des weiteren entfallt im Kenntnisgabeverfahren die Möglichkeit der Absicherung der Planungsphase durch den Erwerb eines Bauvorbescheids 779. Dies ergibt sich einerseits aus dem Wortlaut von § 57 LBO, der an das Einreichen eines Bauantrags anknüpft und somit nur auf das Genehmigungsverfahren abstellt, und andererseits aus der Zielsetzung des Kenntnisgabeverfahrens, in dem auf eine präventive staatliche Kontrolle gerade verzichtet wird. Die Problematik unwirksamer Bebauungspläne hat durch die Einführung des Kenntnisgabeverfahrens daher

77 4

Ortloff

in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band II, 3. Auflage,

S. 112. 775

BVerwGE 48, 242 (245 f.); Degenhart, DVB1. 1981, 994 (995 ff.). BVerwGE 69, 1 (2 ff.); Ortloff in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band II, S. 112; ders., N V w Z 1983, 705 (705 ff.). 777 BGH, N V w Z 1984, 333 (333); Battis , in: Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, § 39, Rdn. 6. 778 Ein Entschädigungsanspruch für die Aufhebung eines Bauvorbescheids, der im Zeitpunkt seiner Erteilung und seiner Rücknahme rechtswidrig war, bestand nach § 91 Abs. 2 i.V.m. § 99 Abs. 1 Nr. 1 LBO-BW /1972 nicht. Erst seit der Aufhebung von § 99 LBO-BW /1972 (BWGB1. v. 15.7.83, S. 262) wird ein Entschädigungsanspruch mit dem Verweis auf den Vertrauensschutz des Bauherrn (vgl. LT-BW Drs. 8/3410, S. 109 f.) aus § 48 Abs. 3 L V w V f G anerkannt. 779 Vgl. Sauter , Landesbauordnung für Baden-Württemberg, 3. Auflage, § 57, Rdn. 5. 776

F. Nichtigkeit des Bebauungsplans

193

eine neue Bedeutung erhalten. Während sich die Rechts- und Investitionssicherheit bisher aus dem bestandskräftigen Verwaltungsakt ergeben hat, ist die Handlungsgrundlage im Kenntnisgabeverfahren ausschließlich der Bebauungsplan. Ist der Bebauungsplan unwirksam, so fehlt dem Bauherrn die Handlungsgrundlage 780. Es stellt sich daher die Frage, ob der Bauherr im Falle der Nichtigkeit des Bebauungsplans durch die allgemeinen Grundsätze des Bestandsschutzes und des Vertrauensschutzes vor bauordnungsrechtlichen Maßnahmen geschützt ist, wenn er auf die Rechtswirksamkeit des Bebauungsplans vertraut hat. a) Bestandsschutz Bestandsschutz bedeutet, daß ein zu einem früheren Zeitpunkt legales Bauwerk, das mit geltendem Recht nicht mehr vereinbar ist, erhalten und weitergenutzt werden darf. Ist das Bauwerk im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung über eine bauaufsichtsrechtliche Maßnahme formell und materiell illegal, steht einem Einschreiten der Behörde Bestandsschutz entgegen, wenn die Anlage zu einem früheren Zeitpunkt mit dem materiellen Baurecht im Einklang stand 781 . Ein rechtswidriger Bebauungsplan ist von Anfang an unwirksam. Hat der Bauherr im Kenntnisgabeverfahren im Vertrauen auf den Bestand eines in Wahrheit unwirksamen Bebauungsplans gebaut, ist das Bauwerk formell und, sofern sich die planungsrechtliche Zulässigkeit nicht aus §§ 34, 35 BauGB ergibt, auch materiell rechtswidrig. Die nunmehr genehmigungspflichtige, nicht genehmigte Anlage stand zu keinem Zeitpunkt mit materiellem Baurecht im Einklang. Art. 14 GG schützt jedoch nur rechtmäßige Eigentumspositionen 782 . Der eigentumsrechtliche Bestandsschutz erfaßt daher nur solche Bauwerke, die zu einem Zeitpunkt legal bestanden haben und somit Eigentum im Sinne des Art 14 GG geworden sind. Der Bauherr, der sich ohne Baugenehmigung auf den Rechtsschein eines nichtigen Bebauungsplans verlassen hat, hat daher eine bestandsgeschützte Rechtsposition nicht erworben 783 . % Im 780

Vgl. dazu Maurer, Bestandskraft für Satzungen ?, in: Festschrift für Otto Bachof, 1984,215 (218). 781 BVerwG, BRS 24, Nr. 193, 303 (303 ff.); BVerwG, NJW 1980, 252 (252). 782 Broy-Bülow, Baufreiheit und baurechtlicher Bestandsschutz, S. 121; A.A. Kutschern, Bestandsschutz im öffentlichen Recht, S. 202 ff. 783 Vgl. BVerwG, NJW 1981, 473 (473); Haldenwang, BauR 1982, 543 (546); Boujong, WiVerw 1991, 59 (65). 13 Kruhl

194

6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabeverfahren

Kenntnisgabeverfahren wird der Bauherr bei einer Nichtigkeit des Bebauungsplans folglich auch nicht durch den Grundsatz des eigentumsrechtlichen Bestandsschutzes geschützt784. b) Schutz des Vertrauens in die Wirksamkeit eines rechtswidrigen Bebauungsplans Das Vertrauensschutzprinzip betrifft die Frage, in welchem Umfang der Bürger in seinem Vertrauen auf den Fortbestand gesetzlicher Regelungen und behördlicher Entscheidungen geschützt werden kann und muß 785 . Das Rechtsstaatsprinzip, das einerseits die Bindung der staatlichen Gewalt an Recht und Gesetz umfaßt und andererseits Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns verlangt, erzeugt ein Spannungsfeld zwischen der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und dem Vertrauensschutz des Bürgers. Anknüpfungspunkt für einen Vertrauenstatbestand kann hier nur der Rechtsschein sein, den ein beschlossener und bekanntgegebener Bebauungsplan erzeugt 786 . Bei einer Betrachtung der Rechtslage ex ante aus der Sicht des Bürgers erzeugt ein rechtmäßiger Bebauungsplan dieselben Erwartungen und dasselbe Vertrauen wie ein unheilbar rechtswidriger Bebauungsplan, da die Fehlerhaftigkeit der Satzung für den Normadressaten regelmäßig nicht erkennbar ist 787 . Nimmt man an, daß sich der Vertrauenstatbestand nur aus der Ausstrahlungswirkung, die der staatliche Rechtsakt unabhängig von seiner Rechtmäßigkeit hat, dem subjektiven Element des Vertrauens und dem Vertrauensverhalten zusammensetzt, dann erzeugt auch ein nichtiger Bebauungsplan zweifellos einen solchen Vertrauenstatbestand, wenn der Bürger im Vertrauen auf den Bebauungsplan Investitionen zu dessen Verwirklichung tätigt 788 . Sieht man folglich das subjektive Element des Vertrauens als maßgebliche Grundlage des Vertrauensschutzes an, so ist das auf einen nichtigen

784

A.A. allerdings ohne Begründung Jäde, UPR 1995, 81 (83). Broy-Bülow, Baufreiheit und baurechtlicher Bestandsschutz, S. 118. 786 Zum Rechtsschein des Bebauungsplans vgl. BVerwGE 75, 142 (142 ff.); BVerwG, ZfBR 1987, 96 (97); Gaentzsch, in: Schlichter/Stich, Berliner Kommentar zum Baugesetzbuch, 2. Auflage, § 10, Rdn. 16. 787 BVerwG, ZfBR 1987, 96 (97). 788 Das Vertrauen des Bürgers auf die Beständigkeit des staatlichen Rechtsaktes hat gleichzeitig vertrauenstatbestandsbegründende und -begrenzende Funktion. Daraus ergibt sich, daß im Falle der Kenntnis der Unwirksamkeit eines Bebauungsplans kein Vertrauenstatbestand vorliegt, an den Rechtsfolgen anknüpfen könnten. 785

F. Nichtigkeit des Bebauungsplans

195

Bebauungsplan gegründete Vertrauen nicht von vornherein weniger wert als das auf einer gültigen Rechtsnorm beruhende Vertrauen 789 . Einem bauordnungsrechtlichen Einschreiten würde demnach der Vertrauensschutzgrundsatz entgegenstehen, wenn bei einer Interessenabwägung 790 die Belange der Allgemeinheit das Interesse des Bauherrn an einer Aufrechterhaltung des status quo nicht überwiegen 791. Die herrschende Meinung faßt dagegen nicht das Vertrauen als solches als maßgebliches Kriterium auf, sondern stellt vorrangig auf die staatliche Handlung als Vertrauensgrundlage ab. Nach dieser objektiven Betrachtungsweise fehlt bei rechtswidrigen Rechtsnormen aufgrund der Ex-tunc-Nichtigkeit von Anfang an eine rechtsverbindliche Grundlage für einen Vertrauensschutz 792. Ein Vertrauen auf die Rechtsgültigkeit eines nichtigen Hoheitsakts verdient nach dieser Auffassung grundsätzlich keinen Schutz 793 . Daß bei Bebauungsplänen wie auch in anderen Fällen der Nichtigkeit einer gesetzlichen Regelung ein Vertrauensschutz nicht eingreift, ist nach dieser objektiven Betrachtungsweise die zwingende Konsequenz der bei rechtswidrigen Normen grundsätzlich gegebenen Nichtigkeit 794 . Ein rechtswidriger Bebauungsplan entfaltet 789

Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, S. 88. 790 Zur Interessenabwägung hinsichtlich der Schutzwürdigkeit des Vertrauens allgemein, vgl. BVerfGE 14, 288 (300); 24, 220 (230 f.); 25, 142 (154); 51, 356 (363 ff.); 59, 128 (166); 64, 87 (104); 71, 1 (22); 71, 255 (273); 88, 384 (404); Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, S. 104 ff. m.w.N. Zur Interessenabwägung bei dem Vertrauen in einen nichtigen Bebauungsplan siehe Jäde, Das Genehmigungsfreistellungsverfahren in der Praxis, in: Hoppe/Bauer/Faber/Schink, Rechts- und Anwendungsprobleme der neuen Bauordnung N W , S. 42. 791 M i t der Annahme eines schutzwürdigen Vertrauens: Jäde, Das Genehmigungsfrei stellungs verfahren in der Praxis, in: Hoppe/Bauer/Faber/Schink, Rechtsund Anwendungsprobleme der neuen Bauordnung N W , S. 42 ; ders., UPR 1995, 81 (83); Jäde/Weinl/Dirnberger, BayVBl. 1994, 321 (325). Nach der Auffassung von Manssen, N V w Z 1996, 144 (146) ist die Gemeinde aufgrund eines schutzwürdigen Vertrauens des Bauherrn zur rückwirkenden Inkraftsetzung des Bebauungsplans verpflichtet. 792 So ausdrücklich: BGHZ 84, 292 (296 f.). 793 Schenke, WiVerw 1990, 226 (251). Vertrauensschutz steht einem ordnungsrechtlichen Einschreiten nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 84, 314 (321 f.)) daher selbst dann nicht entgegen, wenn das insWerk-gesetzte Vertrauen durch einen, insoweit konkreter wirkenden, nicht evident nichtigen Verwaltungsakt erzeugt worden ist. In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt hatte die Behörde eine konkrete gewerbliche Nutzung erlaubt und später die Erlaubnis wegen Sittenwidrigkeit für nichtig erklärt und die Einstellung des Betriebs angeordnet. 794 Schenke, DÖV 1987, 45 (49).

196

6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

auch nicht deshalb die von ihm beabsichtigten Rechtswirkungen, weil es einer formellen Aufhebung bedarf 95 . Vielmehr dient die Aufhebung lediglich der Klarstellung 796 . Ein schutzwürdiges Vertrauen in die Wirksamkeit nichtiger Rechtsnormen 797 bzw. nichtiger Bebauungspläne798 wird daher überwiegend abgelehnt. Das Bundesverfassungsgericht ging dabei zunächst noch von einer im Einzelfall nicht vorhandenen Schutzwürdigkeit des Vertrauens auf ungültige Rechtsnormen aus 799 und hat später entschieden, daß das Vertrauen des Staatsbürgers nicht schutzwürdig ist, wenn es sich auf eine ungültige Norm bezieht, die nur einen Rechtsschein erzeugt hat 800 . Dies entspricht auch der § 3 9 BauGB 801 zugrundeliegenden Wertung des Gesetzgebers, durch die zum Ausdruck gebracht wird, daß nur das Vertrauen in rechtsverbindliche Bebauungspläne als schutzwürdig anzusehen ist 802 . Der Grundsatz des Vertrauensschutzes steht einem Einschreiten der Behörde daher nicht entgegen. 3. Konsequenzen aus der Rechtslage für die Entscheidung der Behörde über ein bauordnungsrechtliches Einschreiten Einem bauordnungsrechtlichen Einschreiten gegen das formell und materiell rechtswidrige Vorhaben bzw. den vorhandenen Bestand steht weder der Grundsatz des Vertrauensschutzes noch Bestandsschutz entgegen. Eine entsprechende Verfügung ist demnach nicht von vornherein ermessensfehlerhaft. Nach der Auffassung von Pfaff 803 kann der Bauherr im Kenntnisgabeverfahren 795

A u f diesen Gesichtspunkt stützen sich aber Lenz, BauR 1981, 215 (216 ff.); ders., BauR 1982, 546 (546 ff.) und Heinze, Kommentar zum BBauG, § 39 j , Rdn. 4. Zum Erfordernis einer Aufhebung des nichtigen Bebauungsplans vgl. BVerwG, ZfBR 1987, 96 (97 f.); Finkelnburg, in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht Band I, 4. Auflage, S. 169. 796 BGHZ 84, 292 (296). 797 BVerfGE 13, 261 (272); 18, 429 (439); 19, 187 (197); 50, 177 (193 f.); 72, 200 (260). Aus der Literatur vgl. Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee/Kirchhof, HBdStR Band III, § 60, Rdn. 17. 798 BGHZ 84, 292 (295); 109, 380 (391); Schenke, D Ö V 1987, 45 (49); ders., W i V e r w 1990, 226 (251); Deutsch, DVB1. 1995, 546 (551); Haldenwang, BauR 1982, 543 (543 ff.); Birk, N V w Z 1984, 1 (5 f.); Boujong, WiVerw 1991, 59 (65). 799 BVerfGE 13, 261 (272); 18, 429 (439). 800 BVerfGE 19, 187 (197). 801 Siehe dazu unten, 6. Kap., F 4a. 802 Die Wertung fehlender Schutzwürdigkeit des Vertrauens in nichtige staatliche Rechtsakte liegt ebenfalls der Regelung des § 48 Abs. 3 V w V f G zugrunde. Auch hier wird ein schutzwürdiges Vertrauen in einen nichtigen Verwaltungsakt nicht anerkannt. 803 Pfaff.; VB1BW 1996, 281 (284).

F. Nichtigkeit des Bebauungsplans

197

daher nur hoffen, daß die Baurechtsbehörde bei der Ermessensentscheidung dem Bauherrn zugute hält, daß er im Vertrauen auf die Rechtsbeständigkeit der planerischen Grundlage gebaut hat. Sinn und Zweck des der Baurechtsbehörde eingeräumten Ermessens ist es jedoch u.a., atypische Fallkonstellationen berücksichtigen zu können, um im Einzelfall gerecht und zweckmäßig zu entscheiden804. Aus dieser gesetzgeberischen Zielsetzung ergibt sich eine inhaltliche Ermessensbindung der Behörde 805 . Die Baurechtsbehörde muß daher im Rahmen einer pflichtgemäßen Ermessensausübung berücksichtigen, daß der Bauherr im Kenntnisgabeverfahren auf den Bebauungsplan als Handlungsgrundlage angewiesen ist und daß sich der Bauherr, der sich auf die Wirksamkeit des Bebauungsplans verlassen hat, grundsätzlich rechtstreu verhalten wollte 806 . Hat der Bauherr im Vertrauen auf die Wirksamkeit des Bebauungsplans ein Bauwerk errichtet, ist daher nicht die typische Sachlage eines "Schwarzbaus" gegeben, bei dem sich der Bauherr bewußt oder fahrlässig über die Rechtsordnung hinwegsetzt. Wird dem Bauherrn die Rechtssicherheit, die mit der staatlichen Genehmigung verbunden ist, entzogen, so darf die Behörde nicht uneingeschränkt bauordnungsrechtliche Maßnahmen ergreifen, wenn auch der Bebauungsplan als Handlungsgrundlage für den Bauherrn wegfällt und der Bauherr aus diesem Grunde ohne Verschulden einen baurechtswidrigen Zustand herbeiführt. Die Grenze der zulässigen Ermessensausübung wird von der Behörde daher überschritten, wenn bei einer Abbruchsanordnung nicht gewichtige öffentliche Interessen oder schützenswerte Interessen Dritter die Beseitigung des Bauwerks fordern 807 . Ein überwiegendes öffentliches Interesse ist aber auch hier nicht ausgeschlossen. So wäre eine Abbruchsverfügung beispielsweise dann nicht von vornherein ermessensfehlerhaft, wenn die Gemeinde beabsichtigt, das fehlerhaft beplante Gebiet neu und gleichzeitig inhaltlich anders zu beplanen und das errichtete Bauwerk dieser Planung entgegenstünde.

804

Kopp, VwVfG, § 40, Rdn. 1. Vgl. Soell, Das Ermessen der Eingriffsverwaltung, S. 85. 806 Zur Einbeziehung von Billigkeitsgesichtpunkten vgl. auch Stern, BayVBl. 1964, 381 (382). 807 Noch etwas weitergehend Stollmann, NWVB1.95, 41 (42), der davon ausgeht, daß im Grundsatz bauaufsichtsrechtliche Maßnahmen ermessensfehlerhaft sind. In diesem Sinne auch Jäde/Weinl/Dirnberger, BayVBl. 1994, 321 (325); Jäde, Das Genehmigungsfreistellungsverfahren in der Praxis, in: Hoppe/Bauer/Faber/Schink, Rechts- und Anwendungsprobleme der neuen Bauordnung N W , S. 42. 805

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6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabeverfahren

Anders ist dagegen die Situation, wenn die Bauausführung im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung noch nicht begonnen wurde oder die Errichtung des Bauwerks noch nicht weit fortgeschritten ist. Hier würde mit der Verwirklichung des Bauvorhabens eine Schadensvertiefüng eintreten, die nachträglich nicht mehr oder nur noch schwer wieder beseitigt werden kann. In diesem Zeitpunkt überwiegt daher grundsätzlich das öffentliche Interesse an der Verhinderung baurechtswidriger Zustände. Insbesondere kann auch der Schutz des Nachbarn ein Einschreiten der Baurechtsbehörde erfordern, wenn das Bauvorhaben nachbarschützende Vorschriften verletzt 808 . Stellt sich der Bebauungsplan als nichtig heraus, wird die Baurechtsbehörde den Baubeginn folglich regelmäßig untersagen beziehungsweise die Einstellung der weiteren Bauausführung verfügen. Hier trägt allein der Bauherr das Risiko der Rechtswidrigkeit des Bebauungsplans. 4. Staatshaftung Untersagt die Baurechtsbehörde die Verwirklichung des Bauvorhabens oder wird ausnahmsweise der Abbruch der Anlage angeordnet bzw. die Nutzung untersagt, so stellt sich die Frage, ob der Bauherr, der im Vertrauen auf die Rechtsbeständigkeit der gemeindlichen Planung einen Schaden erleidet, einen Anspruch auf staatliche Ersatzleistung hat. a) Fehlgeschlagene Planungsaufwendungen Im Falle einer Baubeginnuntersagung entsteht dem Bauherrn ein Schaden in Höhe seiner bisher getätigten Planungsaufwendungen 809. Mit der Problematik der Entschädigungspflicht bei vorbereitenden Aufwendungen, die der Bauherr im Vertrauen auf den Rechtsschein eines nichtigen Bebauungsplans gemacht hat, hat sich der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung vom 24. Juni 1982 810 grundlegend befaßt. Hier hatte der Bundesge-

808

Vgl. V G München, BayVBl. 1997, 54 (55). Als Planungsaufwendungen kommen hier vor allem Architekten- und Ingenieurhonorare, Finanzierungskosten, Schadensersatzzahlungen für Auftragsannulierungen sowie Kosten für Grundstücksteilungen und Grundstücksvermessungen in Betracht. 810 BGHZ 84, 292 (293 ff.). 809

F. Nichtigkeit des Bebauungsplans

199

richtshof zunächst die Anwendbarkeit von § 39 BauGB verneint 811 . Nach § 39 BauGB haben die Eigentümer oder sonstigen Nutzungsberechtigten einen Anspruch auf angemessene Entschädigung in Geld, wenn sie im berechtigten Vertrauen auf den Bestand eines Bebauungsplans Vorbereitungen für die Verwirklichung von Nutzungsmöglichkeiten getroffen haben, soweit die Aufwendungen durch die Änderung, Ergänzung oder Aufhebung des Bebauungsplans an Wert verlieren. Nach dem Wortlaut des § 39 BauGB wird jedoch nur das Vertrauen auf einen rechtsverbindlichen und nicht das Vertrauen in einen rechtsunwirksamen Bebauungsplan geschützt. § 39 BauGB ist auf rechtswidrige Bebauungspläne auch nicht analog anwendbar, weil der Gesetzgeber hier eine abschließende Regelung getroffen hat. Ein Entschädigungsanspruch läßt sich daher weder direkt noch im Wege der Analogie aus § 39 BauGB ableiten 812 . Ein allgemeiner Vertrauensschutzanspruch auf angemessene Entschädigung für Aufwendungen, die im enttäuschten Vertrauen auf die Wirksamkeit eines Bebauungsplans gemacht worden sind, wird ebenfalls nicht anerkannt 813 . Des weiteren hat der Bauherr keinen Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff 814 . Ein Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff setzt voraus, daß die betroffene Rechtsposition vom Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG umfaßt wird 8 1 5 . Die aufgrund des nichtigen Bebauungsplans geplante Bebau811 Die Entscheidung des B G H erging zum inhaltsgleichen § 39 j BBauG/1976. Diese Rechtsprechung wurde für § 39 BauGB n.F. bestätigt durch BGHZ 109, 380 (391). 812 BGHZ 84, 292 (295 ff.); 109, 380 (391). Aus der Literatur vgl. Gaentzsch, in: Schlichter/Stich, Berliner Kommentar zum Baugesetzbuch, 2. Auflage, § 39, Rdn. 3; ders., N V w Z 1990, 505 (506 f.); Boujong, WiVerw 1991, 59 (64); Birk, N V w Z 1984, 4 (5 f.); Breuer, in: Schrödter, Baugesetzbuch, 5. Auflage, § 39, Rdn. 36 ff.; Schenke, WiVerw 1990, 226 (251 f.); ders., D Ö V 1987, 45 (46 ff.); Haldenwang, BauR 1982, 543 (544); Jung, N V w Z 1985, 790 (795); Koch/Hosch, Baurecht, Raumordnungs- und Bauplanungsrecht, S. 192; Deutsch, DVB1. 1995, 546 (551); Battis , in: Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, 5. Auflage, Rdn. 6, der zudem unter Berufung auf BVerfGE 58, 300 ff. (Naßauskiesung) darauf hinweist, daß der Bauherr die Möglichkeit hat, die Wirksamkeit des Bebauungsplans verwaltungsgerichtlich überprüfen zu lassen. Diese Art der Verschaffung von Rechtssicherheit würde freilich den Beschleunigungszweck des Kenntnisgabeverfahrens in das Gegenteil verkehren. Zur Gegenauffassung siehe Lenz, BauR 1981, 215 (216 ff.); ders., BauR 1982, 546 (546 ff.); Heinze, BBauG, § 39 j , Rdn. 4. 813

BGHZ 84, 292 (297); 109, 380 (391). Gaentzsch, in: Schlichter/Stich, Berliner Kommentar zum Baugesetzbuch, 2. Auflage, § 39, Rdn. 3; Boujong, W i Verw 1991, 59 (65). 814 Boujong, W i V e r w 1991, 59 (65) m.w.N. 815 Boujong, WiVerw 1991, 59 (65).

200

6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabeverfahren

ung ist aber nicht durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützt, da sie im Widerspruch zur Rechtsordnung steht 816 . Des weiteren führen die fehlgeschlagenen Planungsaufwendungen nur zu einer Vermögenseinbuße. Als reiner Vermögensschaden werden die fehlgeschlagenen Planungsaufwendungen nicht von Art. 14 Abs. 1 GG erfaßt 817. Möglicherweise könnte dem Bauherrn jedoch ein Ersatzanspruch für seine nutzlosen Planungsaufwendungen aus Amtshaftung zustehen. Bei der Beschlußfassung über den Bebauungsplan handeln die Mitglieder des Gemeinderates als Beamte im haftungsrechtlichen Sinne 818 . Der Amtshaftungsanspruch setzt die Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht voraus. Das bedeutet, daß ein Amtshaftungsanspruch des Bauherrn nur dann in Betracht kommt, wenn die Gemeinderatsmitglieder bei der Aufstellung des Bebauungsplanes eine Amtspflicht verletzt haben, die nicht nur im Interesse der Allgemeinheit, sondern auch im Interesse des Bauherrn bestand819. Während der Gesetz- und Verordnungsgeber nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in der Regel ausschließlich Aufgaben gegenüber der Allgemeinheit, nicht aber gegenüber bestimmten Personen als "Dritte" i.S.d. § 839 Abs. 1 S. 1 BGB wahrnimmt 820 , bilden die durch einen Bebauungsplan betroffenen Grundstückseigentümer aufgrund des begrenzten Personenkreises und ihrer rechtlichen Beziehung zu dem von dem Bebauungsplan erfaßten Grundstück eine Gruppe "Dritter" i.S.d. § 839 Abs. 1 S. 1 BGB, auf deren schutzwürdige Interessen bei der Planung Rücksicht zu nehmen ist 821 . Nicht völlig unumstritten ist jedoch, wann bei einem Fehler, der zur Unwirksamkeit des Bebauungsplans führt, ein Amtshaftungsanspruch gegeben ist. Nach einer Mindermeinung besteht ein Amtshaftungsanspruch bei jedem Fehler, der zur Unwirksamkeit des Bebauungsplans geführt hat, da den Mitgliedern des Gemeinderates die Amtspflicht gegenüber den Planbetroffenen obliegt, die Aufstellung eines unwirksamen Bebauungsplanes zu unterlassen 822 . Nach der ganz herrschenden Auffassung ist es jedoch erforderlich, daß der Fehler, der zu der Nichtigkeit des Bebauungsplans geführt hat, auf der

816 817 818 819 820 821 822

Siehe dazu auch oben, 6. Kap., C 1. Boujong, W i V e r w 1991, 59 (65). BGHZ 84, 292 (298 f.); 92, 34 (51); 106, 323 (330). BGHZ 84, 292 (301); Boujong, WiVerw 1991, 59 (66). BGHZ 102, 350 (367). BGHZ 92, 34 (51 f.).Boujong, WiVerw 1991, 59 (66 f.). Johlen, BauR 1983, 196 (198 f.).

F. Nichtigkeit des Bebauungsplans

201

Verletzung einer drittschützenden Amtspflicht beruht 823 . Eine allgemeine Amtspflicht gegenüber dem planunterworfenen, auf die Wirksamkeit des Plans vertrauenden Bürger mit dem Inhalt, den Bürger vor wertlosen Aufwendungen im Hinblick auf einen nichtigen Bebauungsplan zu bewahren, wird abgelehnt 824 . Drittbezogene Amtspflichten bestehen bei der Aufstellung von Bebauungsplänen daher nur ausnahmsweise, wie etwa bei der Verletzung des Abwägungsgebotes825. Daraus folgt, daß der Bürger nur dann einen Amtshaftungsanspruch für seine wertlosen Planungsaufwendungen hat, wenn die Nichtigkeit des Bebauungsplans (zufällig) auf der Verletzung einer den Schutz des Bauherrn bezweckenden Amtspflicht beruht. Ist dies nicht der Fall, muß der Bauherr den Planungsschaden selbst tragen. b) Verlust des Gebäudewertes Sofern die Baurechtsbehörde den Abbruch des Bauwerks verfugt oder die Nutzung untersagt, entsteht dem Bauherrn ein Schaden in Höhe des Gebäudewertes. Ein Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff scheitert hier ebenfalls bereits an dem Erfordernis einer durch Art. 14 GG geschützten Rechtsposition. Ein Amtshaftungsanspruch des Bauherrn besteht auch hier nur dann, wenn die Nichtigkeit des Bebauungsplans auf der Verletzung einer den Schutz des Bauherrn bezweckenden Amtspflicht beruht. 5. Ergebnis Durch die Einführung des Kenntnisgabeverfahrens wird das Risiko fehlerhafter Planung privatisiert. Hat der Bauherr im Vertrauen auf die Wirksamkeit eines unerkannt rechtswidrigen Bebauungsplans gehandelt, trägt er das Risiko eines bauordnungsrechtlichen Einschreitens. Die Rechtssicherheit, die dem Bauherrn durch die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung vermittelt wird, und die Planungssicherheit, die der Bauherr durch den Erwerb eines

823 BGHZ 84, 292 (301); 92, 34 (52); 102, 350 (367 f.); 106, 323 (331); Boujong, W i V e r w 1991, 59 (67); Müller, BauR 1983, 193 (193 ff.). 824 B G H Z 84, 292 (301 f.); Boujong, WiVerw 1991, 59 (67); Haldenwang, BauR 1982, 543 (543); Müller, BauR 1983, 193 (193 ff.). Ein Amtshaftungsanspruch kommt jedoch in Betracht, wenn die Gemeinde trotz erkannter Rechtswidrigkeit der Satzung den Rechtsschein des Bebauungsplans aufrecht erhält. 825 Vgl. BGHZ 84, 292 (302); 106, 323 (331).

202

6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabeverfahren

Bauvorbescheids erhält, werden ihm entzogen. Die Grundsätze des schutzes und des Vertrauensschutzes greifen nicht zugunsten des ein. Der Bauherr hat grundsätzlich keine Ersatzansprüche gegen wegen fehlerhafter Planung. Durch diese Unvorhersehbarkeit und lierbarkeit von Risiken im Falle eines nichtigen Bebauungsplans erebliche Rechtsunsicherheit ein.

BestandsBauherrn den Staat Unkalkutritt eine

6. Versuch einer Problemlösung in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen Der Problematik nichtiger Bebauungspläne in den genehmigungslosen Verfahren wurde bei der Novellierung der Landesbauordnungen in NordrheinWestfalen und Niedersachsen Rechnung getragen 826. In der niedersächsischen Bauordnung wurde festgelegt, daß eine genehmigungsfreie Baumaßnahme auch dann keiner Baugenehmigung bedarf, wenn nach ihrer Durchführung die Nichtigkeit des Bebauungsplans festgestellt wird (§ 69a Abs. 10 NBauO). Ein etwas anderer Ansatz wurde in Nordrhein-Westfalen gewählt: Gemäß § 67 Abs. 1 S. 3 LBO NW wird die Rechtmäßigkeit des Vorhabens durch die spätere Feststellung der Nichtigkeit des Bebauungsplans nicht berührt. Im Gegensatz zur niedersächsischen Regelung setzt § 67 Abs. 1 S. 3 LBO NW also nicht bei der formellen, sondern bei der materiellen Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens an. Die Regelung in Nordrhein-Westfalen enthält ihrem Wortlaut nach eine Art materielle Rechtmäßigkeitsfiktion 827. § 67 Abs. 1 S. 3 LBO NW ist jedoch dahingehend auszulegen, daß auch hier nur die formelle Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens betroffen ist, daß es also mit der Durchfüh-

826

§ 69a Abs. 10 NBauO: "Eine (...) genehmigungsfreie Baumaßnahme bedarf auch dann, wenn nach ihrer Durchführung die Nichtigkeit des Bebauungsplans festgestellt wird, keiner Baugenehmigung." § 67 LBauO NW: Die Rechtmäßigkeit des Vorhabens wird durch die spätere Feststellung der Nichtigkeit des Bebauungsplans oder der Satzung nach § 7 des Maßnahmengesetzes zum Baugesetzbuch nicht berührt." Die zunächst nicht im Gesetzentwurf enthaltene Regelung, vgl. L T - N R W Drs. 11/7153, wurde nachträglich als "redaktionelle Änderung zur Klarstellung des rechtlich Gewollten" in den Gesetzesentwurf aufgenommen, vgl. L T - N R W Drs. 11/8435, Ani.52. 827 Kritisch dazu: Jäde, Das Genehmigungsfreistellungsverfahren in der Praxis, in: Hoppe/Bauer/Faber/Schlink, Rechts- und Anwendungsprobleme der neuen Bauordnung N W , S. 40 ff.

G. Wirtschaftliche Konsequenzen der Rechtsunsicherheit

203

rung des Genehmigungsfreistellungsverfahrens sein Bewenden haben soll. Denn es ist dem Landesgesetzgeber verwehrt, über die sich aus dem Bundesrecht ergebende städtebauliche Zulässigkeit von Bauvorhaben zu disponieren 828 . Die materielle Rechtswidrigkeit des Bauwerks ergibt sich also in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen ebenso wie im Kenntnisgabeverfahren unmittelbar aus der Unwirksamkeit des Bebauungsplans829. Die Regelungen, daß es im Falle der Nichtigkeit des Bebauungsplans keines Baugenehmigungsverfahrens bedarf, sind des weiteren zunächst insoweit ohne Wirkung, als hierdurch keine bauaufsichtsrechtlichen Maßnahmen entgegenstehende formelle Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens eintritt. Denn die Annahme einer formellen Rechtmäßigkeit kann sich auch hier 830 nur darauf beziehen, daß das Verfahren rechtmäßig durchgeführt wurde. Über die Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit materiellem Baurecht wird dagegen durch den (fingierten) rechtmäßigen Verfahrensablauf keine Aussage getroffen. Hier fehlt die in der Baugenehmigung enthaltene Feststellung der Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens als Grundlage der Legalisierungswirkung. Durch ihre Wertung, daß die Rechtswidrigkeit des Bebauungsplans keinen Einfluß auf den Bestand haben soll, erzeugen § 67 Abs. 1 S. 3 LBO NW und § 69 a Abs. 10 NBauO jedoch einen Vertrauensschutz, der die Befugnis der Baurechtsbehörde zu bauordnungsrechtlichen Maßnahmen einschränkt. Dies gilt nach dem Wortlaut der niedersächsischen Bauordnung allerdings nur dann, wenn das Bauvorhaben fertiggestellt ist. Die Regelungen in NordrheinWestfalen und Niedersachsen wirken insoweit einer verstärkten Rechtsunsicherheit entgegen.

G. Wirtschaftliche Konsequenzen der Rechtsunsicherheit im Kenntnisgabeverfahren Die Privatisierung administrativer Kontrolle bedeutet gleichzeitig eine Verlagerung von Risiken auf die am Bau Beteiligten. Aus der Risikoprivati-

828 Jäde, Das Genehmigungsfreistellungsverfahren in der Praxis, in: Hoppe/ Bauer/Faber/Schlink Rechts- und Anwendungsprobleme der neuen Bauordnung N W , S. 41; Preschel, D Ö V 1998, 45 (50). 829 Zum Zusammenhang zwischen der Unwirksamkeit des Bebauungsplans und der materiellen Rechtswidrigkeit des Bauvorhabens siehe vorstehend, 6. Kap., F. 830 Für das Kenntnisgabeverfahren siehe oben, 2. Kap., Β 3a.

204

6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

sierung ergeben sich dabei wirtschaftliche Folgeprobleme, die an die fehlende Rechtssicherheit im Kenntnisgabeverfahren anknüpfen. 1. Baufinanzierung Der Erwerb von Grundstücken und deren Bebauung ist mit hohen Kosten verbunden. Für den gewerblichen Investor wie für den privaten Bauherrn ist die Beschaffung von Fremdkapital regelmäßig die wirtschaftliche Voraussetzung für die Verwirklichung des Bauvorhabens. Insbesondere bei der gewerblichen Bauwirtschaft ist der Eigenkapitalanteil aus wirtschaftlichen Gründen regelmäßig besonders niedrig angesetzt. Die Fremdfinanzierung des Bauvorhabens durch die Kreditinstitute erfolgt auf der Grundlage des Wertes des Grundstücks und seiner Bebauung als Sicherheit für die Darlehensgewährung. Sofern sich nachträglich die Rechtswidrigkeit des Bauvorhabens herausstellt und demzufolge der Bau nicht fertiggestellt werden kann oder das fertige Bauwerk abgerissen werden muß, würde dies für die Bank den Verlust eines wesentlichen Teils ihrer Sicherheiten bedeuten. Dieser Sicherheitenverlust wäre für das Kreditinstitut besonders gefahrlich, wenn es sich um ein nicht durch den Kreditnehmer selbst genutztes Bauwerk handelt, sondern die Vermietung der Immobilie die Grundlage der Darlehensrückführung darstellen sollte. Hier würde dem Kreditnehmer zusätzlich die Grundlage für die Erfüllung der Zins- und Tilgungsforderungen fehlen. Die Rechtsunsicherheit im Kenntnisgabeverfahren fordert daher zusätzliche Sicherungsmechanismen bei der Fremdkapitalbeschaffüng, die die Baufinanzierung erschweren 831. 2. Weiterveräußerung Aus der Rechtsunsicherheit im Kenntnisgabeverfahren ergeben sich zudem Probleme für die Weiterveräußerung von Immobilien. Dem im Kenntnisgabeverfahren errichteten Bauwerk haftet während der gesamten Zeit seiner Existenz der Makel der Rechtsunsicherheit an. M i t der Veräußerung der Immobilie geht die Polizeipflichtigkeit auf den Käufer über,

831

Siehe hierzu auch Stollmann, NWVB1. 1995, 41 (44); Simon, BayVBl. 1994, 581 (582); Kreuziger, Die Genehmigungsfreistellung im Baurecht, S. 176 f.

G. Wirtschaftliche Konsequenzen der Rechtsunsicherheit

205

genauer gesagt: die Zustandshaftung wird beim Erwerber neu begründet 832. Der Makel der Rechtsunsicherheit wird somit mit der Veräußerung übertragen. Der Käufer muß daher das Risiko einer bauordnungsrechtlichen Inanspruchnahme im Falle der Rechtswidrigkeit der baulichen Anlage mit berücksichtigen. Für den Bauherrn bedeutet dies, daß die Weiterveräußerung des ohne Baugenehmigung errichteten Bauwerks ohne eine angemessene Risikoverteilung nicht ohne weiteres erreichbar ist. 3. Baulandhandel Für die Bauwirtschaft von Bedeutung ist auch die mit der Abschaffung der Baugenehmigung bzw. des Bauvorbescheids verbundene Problematik der fehlenden konkreten Beplanung des Baulandes. Während bisher vielfach bereits vollständig beplante Grundstücke veräußert wurden, der Bauherr also das bereits beplante Grundstück einschließlich der Baugenehmigung erwerben konnte, ist der Handel mit beplantem Bauland im Kenntnisgabeverfahren erschwert. Dem Erwerber fehlt hier die Sicherheit der Baugenehmigung als zuverlässige Investitionsgrundlage. Die bisher vielfach vorhandene Trennung von Projektentwicklung und Bauverwirklichung, die einen nicht unerheblichen Teil des Baulandhandels ausmachte, ist daher im Kenntnisgabeverfahren ohne die Publizitätswirkung der Baugenehmigung nur eingeschränkt möglich. 4. Ergebnis Daraus ergibt sich, daß die Rechtsunsicherheit im Kenntnisgabeverfahren wesentliche wirtschaftliche Folgeprobleme für den Bauherrn schafft. Diese wirtschaftlichen Folgeprobleme können - anders als das Risiko der bauordnungsrechtlichen Inanspruchnahme selbst - nicht durch erhöhte Selbstkontrolle vermieden werden. Sie knüpfen vielmehr unmittelbar an die im Kenntnisgabeverfahren strukturell bestehende Rechtsunsicherheit an und sind daher von allen Bauherren gleichermaßen zu tragen. Dem Bauherrn fehlt hier die Publizitätswirkung der Baugenehmigung.

832

Zum allgemeinen Polizeirecht vgl. Würtenberger/Heckmann/Riggert, 313; Peine, DVB1. 1980, 941 (948 f.).

Rdn.

206

6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

H . Die Baugenehmigung als staatliche Leistung Die staatliche Kontrolle des Baugeschehens wird als Gefahrenabwehr traditionell dem Bereich der Eingriffsverwaltung zugerechnet. Dies gilt auch für die präventive Kontrolle aufgrund des Genehmigungsvorbehaltes, der den Bauherrn zwingt, sich vor der Betätigung der grundrechtlich geschützten Baufreiheit einem Verfahren zu unterwerfen, in dem die Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit öffentlich-rechtlichen Vorschriften geprüft wird. Geht es jedoch um die Frage nach einem Abbau staatlicher Aufsicht über die Betätigung grundrechtlicher Freiheiten, ist über die grundsätzliche Zuordnung ordnungsrechtlicher Kontrolle zur Eingriffsverwaltung hinaus auch die positive Wirkung des hoheitlichen Handelns für den Grundrechtsträger einzubeziehen. Die mangelnde Transparenz rechtlicher Rahmenbedingungen im Baurecht und ein breites Spektrum zu berücksichtigender gegensätzlicher Interessen bewirken eine erhebliche Rechtsunsicherheit und damit eine faktische Verkürzung der grundrechtlich geschützten Baufreiheit 833 . Vor dem Hintergrund dieser Problematik wird durch die staatliche Kontrolle des Bauvorhabens in einem präventiven Verfahren und die Erteilung einer Baugenehmigung der grundrechtlich verbürgte Freiraum des Bauherrn verfahrensrechtlich abgesichert. Im Genehmigungsverfahren wird ein Ausgleich zwischen den betroffenen Interessen geschaffen. Dadurch wird das Risiko von Einwendungen gegen das Bauvorhaben vermindert und der Bauherr geschützt. Vor späteren Maßnahmen gegen das Bauwerk bildet die Baugenehmigung ein Schutzschild, das dem Bauherrn ein hohes Maß an Rechtssicherheit verschafft und diese Rechtssicherheit im Wirtschaftsverkehr auch gegenüber Dritten beurkundet. Das Genehmigungsverfahren und die Baugenehmigung wirken in ihrer Schutzfünktion, der Interessenausgleichsfünktion und der Publizitätsfünktion daher auch freiheitssichernd 834. Die staatliche Kontrolle des Bauvorhabens enthält für den Bauherrn insofern auch eine staatliche Leistung 835 .

833 Zum Zusammenhang von Rechtssicherheit und Freiheitssicherung siehe oben, 6. Kap., A 1. 834 Vgl. Bullinger, Beschleunigte Genehmigungs- und Planungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben, in: Blümel/Pitschas, Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, S. 133; Kronenbitter, B W G Z 1994, 632 (633). 835 Zur Genehmigung als Leistung vgl. Bullinger, Beschleunigte Genehmigungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben, S. 70; ders., Beschleunigte Genehmigungs- und Planungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben, in: Blümel/Pitschas,

I. Anspruch auf feststellenden Verwaltungsakt

207

Der Wert dieser Leistung für den Bauherrn zeigt sich auch an der großen Nachfrage nach der Baugenehmigung im Rahmen des noch bestehenden Wahlrechts zwischen dem Kenntnisgabeverfahren und dem Genehmigungsverfahren. So hat eine umfassende, vom Gemeindetag Baden-Württemberg im Jahr 1997 durchgeführte empirische Untersuchung 836 ergeben, daß die Bauherren bei 75,7 % der kenntnisgabefähigen Bauvorhaben an Stelle des Kenntnisgabeverfahrens das Genehmigungsverfahren gewählt haben. Die große Mehrheit der Bauherren empfindet folglich das Genehmigungsverfahren gegenüber dem Kenntnisgabeverfahren als die bessere Verfahrenslösung zur Freiheitsverwirklichung. Hier überwiegt der Faktor Rechtssicherheit den Faktor Zeit.

I. Anspruch des Bauherrn auf Erlaß eines feststellenden Verwaltungsakts Während der Bauherr nach der Baufreistellungsverordnung zwischen dem beschleunigten Verfahren und dem Genehmigungsverfahren wählen konnte und damit in der Lage war, selbst zu entscheiden, ob die Beschleunigungsvorteile den Nachteil des Verlustes an Rechtssicherheit überwiegen, ist die Durchführung des Kenntnisgabeverfahrens für den Bauherrn nach dem 31. Dezember 2001 837 obligatorisch (§ 77 Abs. 2 LBO). Mit dem Ablauf der Übergangsfrist wird dem Bauherrn im Anwendungsbereich des Kenntnisgabeverfahrens die Rechtssicherheit entzogen, die ihm durch das Genehmigungsverfahren vermittelt wurde. Im Hinblick auf die in den genehmigungsfreien Verfahren bestehende erhebliche Rechtsunsicherheit wird daher von Goerlich ein Anspruch des Bauherrn auf Erteilung eines die Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit öffentlich-rechtlichen Vorschriften feststellenden Verwaltungsakts angenommen838.

Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, S. 133; Beschleunigungskommission, S. 42; Goerlich, SächsVBl. 1996, 1 (7 f.). 836 A n der -noch unveröffentlichten- Untersuchung waren 87 Städte und Gemeinden beteiligt, und es wurden 24.538 Verfahren ausgewertet. 837 Ursprünglich war eine Obergangszeit von drei Jahren vorgesehen, in der der Bauherr zwischen dem Genehmigungsverfahren und dem Kenntnisgabeverfahren wählen konnte (§ 77 Abs. 2 LBO/a.F.). Diese Frist ist «nunmehr um weitere drei Jahre verlängert worden. 838 Goerlich, Materielle Ziele, Privatisierung, Funktionen der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem/Schneider, Verfahrensprivatisierung im Umweltrecht, S. 160 ff.

208

6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

Durch die Feststellung der Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens würde im Kenntnisgabeverfahren entsprechend der Feststellungswirkung der Baugenehmigung eine umfassende Legalisierung des Bauvorhabens geschaffen und dadurch dem Bauherrn ein hohes Maß an Rechtssicherheit gewährleistet. Ein solcher Anspruch auf Erlaß eines die Einhaltung der Bauvorschriften feststellenden Verwaltungsaktes ergibt sich nach der Auffassung von Goerlich aus dem Gleichheitssatz in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip 839. Goerlich sieht in der unterschiedlichen Behandlung zwischen dem Großinvestor, der für sein Bauvorhaben eine Genehmigung erhält, und dem "kleinen Häuslebauer", der die Verantwortung für sein nur kenntnisgabepflichtiges Bauvorhaben selbst tragen muß, einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz 840 . Die Landesbauordnungen, die ein Kenntnisgabeverfahren oder Anzeigeverfahren vorsehen, seien daher dahingehend verfassungskonform auszulegen, daß dem Bauherrn ein Anspruch auf Erteilung eines feststellenden Verwaltungsaktes zustehe841. Dies sei die einzige Möglichkeit, den Gleichheitsverstoß auszuräumen und das Verdikt der Verfassungswidrigkeit abzuwenden842. Die Forderung von Goerlich, dem Bauherrn durch das Zugeständnis eines feststellenden Verwaltungsaktes die erforderliche Rechtssicherheit zu vermitteln, deckt sich der Sache nach mit der vielfach erhobenen Forderung, dem Bauherrn ein Wahlrecht zwischen Genehmigungsverfahren und den genehmigungsfreien beschleunigten Verfahren einzuräumen 843. Ein solches Wahlrecht 844 verschafft dem Bauherrn die Möglichkeit, sich je nach seinen Bedürfnissen zwischen Beschleunigung und Rechtssicherheit zu entscheiden. Problematisch erscheint jedoch die verfassungsrechtliche Ableitung eines einfachgesetzlich nicht normierten Anspruchs auf Erteilung eines solchen

839 Goerlich, Materielle Ziele, Privatisierung, Funktionen der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem/Schneider, Verfahrensprivatisierung im Umweltrecht, S. 163. 840 Goerlich, Materielle Ziele, Privatisierung, Funktionen der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem/Schneider, Verfahrensprivatisierung im Umweltrecht, S. 152, 162 ff. 841 Goerlich, Materielle Ziele, Privatisierung, Funktionen der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem/Schneider, Verfahrensprivatisierung i m Umweltrecht, S. 162 ff. 842 Goerlich, Materielle Ziele, Privatisierung, Funktionen der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem/Schneider, Verfahrensprivatisierung im Umweltrecht, S. 163, 167. 843 Bullinger, JZ 1994, 1129 (1130 f.); Beschleunigungskommission, S. 162; Schlichter, DVB1. 1995, 174 (178); Stollmann, NWVB1. 1995,41 (45). 844 Wahlrechte finden sich beispielsweise in § 9 Berliner BaufreistellungsVO, § 69a Abs. 8 NBauO, § 65a Abs. 5 LBO RP, § 66 Abs. 10 LBO Saarland.

I. Anspruch auf feststellenden Verwaltungsakt

feststellenden Verwaltungsaktes im Wege der verfassungskonformen

209

Aus-

legung 845 . Gegen das Vorliegen eines Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz spricht, daß - sofern man von einer Vergleichbarkeit beider Gruppen ausgeht ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung von großen und kleineren Bauvorhaben gegeben ist. Die präventive Kontrolle des Baugeschehens erfolgt zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Sachlicher Grund für die Genehmigungsbedürftigkeit bzw. Genehmigungsfahigkeit im verfahrensrechtlichen Sinne ist die größere Gefahr, die von großen Bauvorhaben ausgeht. Die Orientierung des Gesetzgebers an dieser Zielsetzung und die entsprechende Differenzierung zwischen verschiedenen Größen von Bauvorhaben ist daher sachlich gerechtfertigt 846. Dagegen spricht auch nicht der personelle Bezug, in dem der private Bauherr zu dem Bauwerk steht 847 und deshalb in besonderer Weise auf den Schutz einer behördlichen Entscheidung angewiesen sein kann, da sich die sachliche Rechtfertigung der Differenzierung aus der staatlichen Aufgabe der Gefahrenabwehr ergibt. Gegen die Herleitung eines Anspruchs auf Erteilung eines feststellenden Verwaltungsaktes aus dem Sozialstaatsprinzip (in Verbindung mit dem Gleichheitssatz) spricht ferner der objektivrechtliche Charakter des Prinzips, so daß eine Herleitung subjektiver Rechte nur ausnahmsweise und nur in Verbindung mit einer materiellen Grundrechtsposition erfolgen kann 848 . Die Entscheidung des Gesetzgebers für eine Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der am Bau Beteiligten versetzt den Bauherrn auch nicht in eine Position der Hilflosigkeit, die nur durch eine sozialstaatliche Absicherung beseitigt werden kann 849 . Vielmehr verpflichtet die Eigenverantwortlichkeit zu einer besonderen Prüfung der Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens, die der Bauherr gegen entsprechende Vergütung ebenso erwerben kann wie eine private Versicherung zur Absicherung eines eventuell bestehenden finanziellen Risikos für den Fall, daß eine Regreßmöglichkeit bei dem Architekten nicht besteht. 845 Kritisch auch Jäde, ZfBR 1996, 241 (243); Bonifacio, Das Genehmigungsfrei stellungs verfahren nach § 67 BauO N W , S. 114 ff. 846 Vgl. auch Ritter, Bauordnungsrecht in der Deregulierung, in: Hoppe/Bauer/ Faber/Schink, Rechts- und Anwendungsprobleme der neuen Bauordnung N W , S.

28.

847

M i t diesem Argument aber Goerlich, Materielle Ziele, Privatisierung, Funktionen der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem/Schneider, Verfahrensprivatisierung i m Umweltrecht, S. 162. 848 Vgl. Degenhart, Staatsrecht I, Rdn. 361. 849 Ritter, DVB1. 1996, 542 (549). 14 Kruhl

210

6. Kap.: Rechtssicherheit des Bauherrn im Kenntnisgabe verfahren

Daraus ergibt sich, daß sich die Forderung nach einem Anspruch auf Erteilung einer Baugenehmigung oder eines rein feststellenden Verwaltungsaktes nicht durch eine verfassungskonforme Auslegung der Bauordnung oder im unmittelbaren Rückgriff auf die Verfassung, sondern nur durch eine Änderung der Bauordnung durch den Gesetzgeber verwirklichen läßt. J. Zusammenfassung Die Einführung des Kenntnisgabeverfahrens bedeutet für den Bauherrn einen erheblichen Verlust an Rechtssicherheit. Dem Bauherrn fehlt im Kenntnisgabeverfahren die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung, die bisher als Schutzschild gegen ordnungsrechtliche Maßnahmen die Grundlage für die Planungs-, Ausführungs- und Bestandssicherung gebildet hat. Bei einem unerlaubten Abweichen von materiellen Bauvorschriften ist das Bauvorhaben formell und materiell rechtswidrig. Eine durch Art. 14 GG geschützte Rechtsposition kann der Bauherr in diesem Fall nicht erwerben. Einem ordnungsrechtlichen Einschreiten der Baurechtsbehörde stehen dann weder Bestandsschutz noch Vertrauensschutz entgegen, so daß der Bauherr und dessen Rechtsnachfolger mangels Verwirkbarkeit und Verjährbarkeit der bauordnungsrechtlichen Eingriffsbefugnisse zeitlich unbegrenzt bauaufsichtsrechtliche Maßnahmen zu befürchten haben. Fehlende Akzeptanz der Nachbarn und die Notwendigkeit zu einem erhöhten Schutz des Nachbareigentums verstärken die Rechtsunsicherheit des Bauherrn. Zudem bietet auch der Bebauungsplan keine verläßliche Handlungsgrundlage, da im Falle der Nichtigkeit der Satzung die Grundsätze des Bestandsschutzes und des Vertrauensschutzes nicht zugunsten des Bauherrn eingreifen. Für den Bauherrn bedeutet die fehlende Leistung der staatlichen Kontrolle eine erhöhte Investitionsunsicherheit und ein Minus an Freiheitssicherung. Zudem können sich wirtschaftliche Folgeprobleme für den Bauherrn vor allem bei der Baufinanzierung und der Weiterveräußerung ergeben. Aus der Investitionsunsicherheit folgt des weiteren eine zurückgenommene Investitionsbereitschaft und somit eine Einschränkung im Hinblick auf die Zielsetzung der Standortverbesserung.

7. Kapitel

Vergleich der Beschleunigungsmechanismen in den beschleunigten Verfahren der Bundesländer Das Ziel der Verfahrensbeschleunigung wurde in den Bundesländern mit unterschiedlichen verfahrensrechtlichen Ansätzen verfolgt 850 . Die unterschiedlichen Beschleunigungsansätze werden im Folgenden hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf den Nachbarschutz und die Rechtssicherheit vergleichend erörtert. A. Privatisierung administrativer Kontrolle im Genehmigungsfreistellungsverfahren Bei den Genehmigungsfreistellungsverfahren wird die Verfahrensbeschleunigung ebenso wie beim Kenntnisgabeverfahren durch eine umfassende Privatisierung administrativer Kontrolle erzielt. Der zulässige Baubeginn ist gleich den Anzeigeverfahren einem Verfahrensvorbehalt unterworfen und regelmäßig von einer Wartezeit nach dem Einreichen der Bauvorlagen abhängig 851 . Eine Baugenehmigung wird nicht erteilt. Entsprechend den gleichartigen Konstruktionen der Genehmigungsfreistellungsverfahren und der Anzeigeverfahren ergeben sich im Genehmigungsfreistellungsverfahren strukturell dieselben Konsequenzen für die Rechtssicherheit des Bauherrn und den Schutz des Nachbarn. Ebenso wie im Kenntnisgabeverfahren fehlt dem Bauherrn bei den Genehmigungsfreistellungsverfahren die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung. Daraus ergibt sich, daß der Bauherr auch in den Genehmigungsfreistellungsverfahren nicht vor einer zeitlich unbegrenzten Inanspruchnahme durch die Baurechtsbehörde geschützt ist und der Nachbar bei einem Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften einen Anspruch auf baubehördliches

850

Zur Verfahrensausgestaltung in den Bundesländern siehe oben, 2. Kap., B. Zur Differenzierung zwischen Anzeigeverfahren und Genehmigungsfreistellungsverfahren siehe oben, 2. Kap., C 3c. 851

212

7. Kap.: Vergleich der Beschleunigungsmechanismen

Einschreiten bis zur Grenze der Verwirkung durchsetzen kann. Auch die Beschleunigungsvorteile entsprechen denen des Kenntnisgabeverfahrens 852. Das Genehmigungsfreistellungsverfahren ist gegenüber dem Kenntnisgabeverfahren jedoch insofern eine weitgehendere Lösung, als daß eine präventive bauordnungsrechtliche Kontrolle auch der Möglichkeit nach nicht vorgesehen ist 853 . Im Gegensatz zu den Anzeigeverfahren, bei denen die Anzeige und die Wartefrist der Ermöglichung einer Überprüfung des Bauvorhabens dienen, findet hier eine präventive bauordnungsrechtliche Kontrolle überhaupt nicht mehr statt. Aus diesem Gesichtspunkt läßt sich jedoch nicht die Wertung rechtfertigen, daß die Anzeigeverfahren aufgrund ihres Verfahrensvorbehalts und der Rechtsunsicherheit die Nachteile des Genehmigungsverfahrens mit den Nachteilen der Genehmigungsfreiheit verbinden, während das Genehmigungsfreistellungsverfahren ein Optimum an Verfahrensgestaltung darstellt 854 . Vielmehr wird der Bauherr durch die Verfahrensvorbehalte beider Modelle strukturell gleichermaßen belastet und erhält denselben Beschleunigungsvorteil. Für den Nachbarn folgt aus der Abschaffung der Baugenehmigung in den Genehmigungsfreistellungsverfahren ebenso wie im Kenntnisgabeverfahren ein Abbau des Verfahrensschutzes und der Verlust des Genehmigungsabwehranspruchs. Die Notwendigkeit einer Kompensation des zurückgenommenen präventiven Nachbarschutzes besteht daher auch bei den Genehmigungsfreistellungsverfahren 855. B. Verringerung des Prüfungsumfangs im vereinfachten Genehmigungsverfahren In den vereinfachten Genehmigungsverfahren wird an dem traditionellen Genehmigungsvorbehalt festgehalten. Der Mechanismus der staatlichen Kontrolle des Bauvorhabens in einem präventiven Verwaltungsverfahren bleibt aufrechterhalten. Bei den vereinfachten Genehmigungsverfahren wird der Beschleunigungseffekt dadurch erzielt, daß die bauaufsichtliche Prüfung in

852

Zu den Wartefristen vor dem zulässigen Baubeginn siehe oben, 2. Kap., B. Vgl. Jäde, ZfBR 1996, 241 (246). 854 M i t dieser Wertung aber Jäde, ZfBR 1996, 241 (246 f.) und Reichling, Effektivität in baurechtlichen Planungs- und Genehmigunsverfahren, S. 189. 855 Für das Genehmigungsfreistellungsverfahren nach Art. 70 BayBO/1994, vgl. auch V G München, BayVBl. 1997, 54 (55). 853

Β. Vereinfachtes Genehmigungsverfahren

213

ihrem Umfang eingeschränkt wird 8 5 6 und deshalb zügiger durchgeführt werden kann 857 . Entsprechend der Kongruenz von Prüfpflicht und Inhalt der Baugenehmigung 858 stellt die Baugenehmigung nicht mehr umfassend die Übereinstimmung des Bauvorhabens mit den öffentlich-rechtlichen Bauvorschriften fest, sondern die in der Baugenehmigung enthaltene Feststellung der Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens ist auf die nach der jeweiligen Bauordnung vorgesehenen Prüfungsgegenstände beschränkt 859. Im Hinblick auf den Nachbarschutz bedeutet das vereinfachte Genehmigungsverfahren zunächst die Aufrechterhaltung des Verfahrensschutzes im Rahmen der zurückgenommenen Prüfpflicht und die grundsätzliche Beibehaltung der Verfahrensbeteiligung des Nachbarn. Für die an die Genehmigungserteilung anknüpfenden Rechtsschutzmöglichkeiten ist jedoch zu differenzieren 860 : Aufgrund der sich aus der zurückgenommenen Prüfpflicht ergebenden beschränkten Feststellungswirkung der Baugenehmigung im vereinfachten Verfahren folgt, daß der Nachbar mittels des Genehmigungsabwehranspruchs nur dann erfolgreich ist, wenn die verletzten nachbarschützenden Bauvorschriften Gegenstand des behördlichen Prüfbereichs waren und der Nachbar aus diesem Grunde durch die Erteilung der Baugenehmigung in seinen Rechten verletzt ist 861 . Wird dagegen durch die Errichtung des Bauvorhabens gegen nachbarschützende Vorschriften verstoßen, die nicht Gegenstand der behördlichen Prüfüng sind und über deren Einhaltung die Baugenehmigung folglich keine Aussage trifft, kann der Nachbar nicht mittels Widerspruch und Anfechtungsklage beziehungsweise nach § 80a VwGO gegen die Verletzung seiner Nachbarrechte vorgehen, sondern er muß wie im Kenntnis-

856 Bei der Verringerung des Prüfumfangs im vereinfachten Verfahren handelt es sich daher um eine teilweise Abspaltung und Privatisierung administrativer Kontrolle, vgl. Jäde, GewArch 1995, 187 (191). 857 Der Ansatz der Rücknahme der Prüfungsanforderungen wird in den Bauordnungen mit weiteren Beschleunigungsmechanismen (Fristen, fiktive Genehmigung) kombiniert. 858 Vgl. dazu oben, 6. Kap., Β 1. 859 Uechtritz, N V w Z 1996, 640 (646 f.). 860 Vgl. dazu ausführlich Uechtritz, N V w Z 1996, 640 (646 f.). 861 Uechtritz, N V w Z 1996, 640 (646 f.). A.A. Herbert/Keckemeti/Dittrich, ZfBR 1995, 67 (69 f.), die davon ausgehen, daß die im vereinfachten Verfahren erteilte Baugenehmigung durch den Nachbarn nicht anfechtbar ist.

214

7. Kap.: Vergleich der Beschleunigungsmechanismen

gabeverfahren die Verpflichtung der Baurechtsbehörde zu einem Einschreiten gegen den Bauherrn erreichen 862. Sieht sich der Nachbar sowohl in solchen Rechten verletzt, die Gegenstand der administrativen Kontrolle sind, als auch in solchen, die nicht zum Prüfbereich der Baurechtsbehörde zählen, muß er sowohl mittels Widerspruch gegen die Baugenehmigung als auch mittels Verpflichtungsantrag auf behördliches Einschreiten gegen die Verletzung seiner Nachbarrechte vorgehen 863 . Da der Nachbar in zeitlicher Hinsicht gegen die nicht von der Baugenehmigung erfaßten Verletzungen bis zur Grenze der Verwirkung vorgehen kann, kann ein entsprechender Antrag auch zeitversetzt nach der Anfechtung der Baugenehmigung erfolgen. Für den Bauherrn bedeutet die Verfahrensausgestaltung, daß weiterhin eine Baugenehmigung erteilt wird, diese jedoch keine umfassende, sondern nur eine beschränkte öffentlich-rechtliche Unbedenklichkeitsbescheinigung darstellt 864 . Mit dem Abbau administrativer Kontrolle korrespondiert daher auch in den vereinfachten Genehmigungsverfahren eine Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der am Bau Beteiligten 865 . Daraus folgt, daß der Bauherr trotz der Erteilung der Baugenehmigung nicht sicher sein kann, daß die Baurechtsbehörde nicht aufgrund von Verstößen gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften, insbesondere bei Verstößen gegen nachbarschützende Vorschriften, bauordnungsrechtliche Maßnahmen gegen die Errichtung oder den Bestand des Bauwerks verfugt. Obwohl dem Bauherrn im Vergleich zu den genehmigungsfreien Verfahren durch die in die Erteilung einer Baugenehmigung mündende staatliche Prüfung ein deutlich erhöhtes Maß an Rechtssicherheit geboten wird, bleibt aufgrund der zeitlich unbegrenzten Möglichkeit bauordnungsrechtlicher Maßnahmen ein nicht unerhebliches Maß an Rechtsunsicherheit erhalten. Ein Vergleich der Genehmigungsfristen in den vereinfachten Genehmigungsverfahren mit der Wartefrist im Kenntnisgabeverfahren deutet darauf hin, daß der Beschleunigungseffekt bei den vereinfachten Verfahren deutlich geringer ausfällt als beim Kenntnisgabeverfahren. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, daß der Bauherr im Kenntnisgabeverfahren im Falle eines

862

Uechtritz, N V w Z 1996, 640 (646 f.). Uechtritz, N V w Z 1996, 640 (646 f.). 864 Jäde, GewArch 1995, 187 (191); Kreuziger, Die Genehmigungsfreistellung im Baurecht, S. 53. 865 Vgl. Gesetzentwurf der Landesregierung Hessen, LT-Drs. 13/4813, S. 168. 863

C. Fiktion der Baugenehmigung nach Fristablauf

215

geplanten Abweichens von baurechtlichen Vorschriften die Erteilung der entsprechenden Abweichung, Ausnahme oder Befreiung abwarten muß, bevor die betroffenen Bauarbeiten begonnen werden dürfen. Für den Bauherrn bedeutet dies, daß aus planerischen, kalkulatorischen und technischen Gründen mit dem Bau häufig insgesamt nicht begonnen werden kann, solange der Dispens nicht erteilt ist. Dabei bildet die Notwendigkeit eines Dispenses im Kenntnisgabeverfahren eher die Regel als die Ausnahme 866 , so daß der Beschleunigungsefifekt des Kenntnisgabeverfahrens zwar immer noch größer ist als bei den meisten vereinfachten Genehmigungsverfahren, aber vielfach nicht in dem Umfang besteht, wie es durch die kurzen Fristen indiziert wird.

C. Fiktion der Baugenehmigung nach Fristablauf Ein weiterer Beschleunigungsansatz ist die Einführung einer fiktiven Baugenehmigung 867 als Sanktion bei einer Überschreitung der vorgegebenen Prüfzeiten. Die Beschleunigung des bauordnungsrechtlichen Verfahrens wird hier zunächst durch die Einführung von Fristen erzielt. Sofern die Baurechtsbehörde die Genehmigung nicht innerhalb der gesetzlich bestimmten Frist erteilt, wird die Erteilung der Baugenehmigung zur Sicherstellung 868 der Beschleunigungswirkung der Fristbestimmung fingiert. In seinen Rechtswirkungen steht dieser fiktive Verwaltungsakt der tatsächlich erteilten Baugenehmigung grundsätzlich gleich 869 . Die fiktive Baugenehmigung hebt das präventive formellrechtliche Bauverbot auf und stellt die Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens fest. Für die Aufhebung der fiktiven Bau-

866

So hat eine vom Gemeindetag Baden-Württemberg durchgeführte Untersuchung -noch unveröffentlicht- ergeben, daß in fast der Hälfte aller Fälle, in denen das Kenntnisgabe verfahren gewählt wurde, Anträge auf Ausnahmen, Abweichungen oder Befreiungen gestellt wurden. Darüber hinaus wurde bei weiteren 15,6 % der Bauvorhaben, die im Kenntnisgabe verfahren errichtet werden sollten, die Notwendigkeit eines Dispenses festgestellt, ohne daß ein entsprechender Antrag vorlag. 867 Dem Begriff der "fiktiven" Baugenehmigung steht der Begriff der "fingierten" Baugenehmigung gleich. Zum Begriff vgl. Ortloff\ Die fiktive Baugenehmigung, in: Festschrift für Konrad Geizer, 1991, 223 (223). 868 Vgl. Gesetzentwurf der Landesregierung Hessen, LT-Drs. 13/4813, S. 174. 869 Ortloff Die fiktive Baugenehmigung, in: Festschrift für Konrad Gelzer, 1991, 223 (227); Uechtritz, N V w Z 1996, 640 (647). So ausdrücklich auch: Gesetzentwurf der Landesregierung Hessen, LT-Drs. 13/4813, S. 174: "Die fingierte Baugenehmigung (...) ist verfahrensrechtlich und prozessual wie eine tatsächlich erteilte Baugenehmigung zu behandeln ".

216

7. Kap.: Vergleich der Beschleunigungsmechanismen

genehmigung gelten die allgemeinen Regeln, d.h. die Baugenehmigung kann von drittbetroffenen Nachbarn angefochten und von der Baurechtsbehörde zurückgenommen werden 870 . Für den Rechtsschutz des Nachbarn bedeutet die Genehmigungsfiktion eine Verminderung des Verfahrensschutzes im Vergleich zum tatsächlich durchgeführten Genehmigungsverfahren. Im Falle der Fiktion der Baugenehmigung ergeben sich im Hinblick auf die Schutzfünktion der Sachverhaltsermittlung ähnliche Konsequenzen wie im Kenntnisgabeverfahren, sofern eine Prüfung der nachbarschützenden Vorschriften bei Fristablauf noch nicht erfolgt ist. Bei der fiktiven Genehmigung wird dabei zusätzlich das Interesse des Antragstellers einseitig durch die scheinbare Verwaltungsentscheidung bestätigt, die die nachbarlichen Belange per defmitionem unberücksichtigt läßt. Die Interessenausgleichsfünktion des Genehmigungsverfahrens wird dadurch in ihr Gegenteil verkehrt 871 . Allerdings entfallt nur der Teil des Verfahrensschutzes, der auf der hoheitlichen Prüfüng selbst beruht. Im Gegensatz zu den Anzeigeverfahren, die dem Anwendungsbereich des Verwaltungsverfahrensgesetzes entzogen sind, stehen dem Nachbarn in den mit einer Fiktionsregelung versehenen Genehmigungsverfahren grundsätzlich alle Beteiligungsrechte zu. Einen weiteren wesentlichen Vorteil für die Rechtsschutzsituation des Nachbarn bildet die Aufrechterhaltung der Baugenehmigung als Anknüpfungspunkt für die Nachbarklage. Der Nachbar kann im Gegensatz zum Kenntnisgabeverfahren weiterhin mittels des Genehmigungsabwehranspruchs die Verletzung seiner Nachbarrechte effektiv präventiv verhindern. Mangels Bekanntgabe der fiktiven Genehmigung gegenüber dem Nachbarn werden keine Rechtsmittelfristen in Gang gesetzt, die den Genehmigungsabwehranspruch zeitlich begrenzen 872. Aus der Sicht des Bauherrn wird mit der fiktiven Baugenehmigung bei rein formeller Betrachtung zunächst jenes Maß an Rechtssicherheit gewährleistet, das durch eine tatsächlich erteilte Baugenehmigung vermittelt wird. Die fiktive Genehmigung ist bestandsschutz- und vertrauensschutzbegründend und

870

Ortloff\ Die fiktive Baugenehmigung, in: Festschrift für Konrad Geizer, 1991,223 (227). 871 Zur K r i t i k an der Genehmigungsfiktion insbesondere i m Regelungsbereich mehrpoliger Interessenbeziehungen vgl. Bullinger, Beschleunigte Genehmigungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben, S. 68 ff. 872 Vgl. Degenhart, Genehmigungsfreies Bauen und der Rechtsschutz des Nachbarn, S. 14; Uechtritz, N V w Z 1996, 640 (647); Jachmann, Die Fiktion im öffentlichen Recht, S. 321.

C. Fiktion der Baugenehmigung nach Fristablauf

217

schützt den Bauherrn vor ordnungsrechtlichen Maßnahmen. Die Fiktion der Genehmigung bezieht sich jedoch nur auf den Erlaß des Verwaltungsaktes 873. Die materielle Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens wird im Einklang mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht fingiert 874 . Für den Bauherrn, der nur über eine scheinbare Unbedenklichkeitsbescheinigung verfügt 875 , bedeutet dies, daß Fiktionsgenehmigungen mit einem hohen Rücknahmerisiko behaftet sind 876 , wodurch ebenfalls eine nicht unerhebliche Rechtsunsicherheit erzeugt wird. Im Vergleich zum Kenntnisgabeverfahren, das keine Vertrauensschutzposition vermittelt, ist der Bauherr, der über eine fiktive Baugenehmigung verfügt, jedoch unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit deutlich besser gestellt, da von der fiktiven Baugenehmigung eine Legalisierungswirkung ausgeht und bauordnungsrechtliche Maßnahmen die Rücknahme der rechtswidrigen Baugenehmigung voraussetzen. Für die Baurechtsbehörde bedeutet die Fiktion der Baugenehmigung, daß ihr ein Verwaltungsakt aufgezwungen wird, den sie unter Umständen nicht erlassen hätte. Die Baurechtsbehörde muß daher auch nach dem Fristablauf weiterprüfen, ob die öffentlich-rechtlichen Vorschriften eingehalten werden und gegebenenfalls die Baugenehmigung zurücknehmen. Die Fiktionslösung schafft nicht nur haftungsrechtliche Folgeprobleme, sondern die Fiktion einer nicht oder nicht vollständig erfolgten staatlichen Kontrolle ist auch unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten äußerst bedenklich. Durch die Einführung einer fiktiven Baugenehmigung wird die Ordnungsfunktion der Genehmigung in ihr Gegenteil verkehrt, da der fiktiven Genehmigung keine Prüfung der Sach- und Rechtslage und kein Ausgleich der verschiedenen Belange zugrundeliegt. Verstößt das Bauvorhaben gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften,

873

Jachmann, Die Fiktion im öffentlichen Recht, S. 315. Ortloff\ Die fiktive Baugenehmigung, in: Festschrift für Konrad Geizer, 1991, 223 (227); Uechtritz, N V w Z 1996, 640 (647); Jachmann, Die Fiktion im öffentlichen Recht, S. 318. 875 Aufgrund der nur scheinbar erfolgten materiellrechtlichen Prüfung und des fehlenden Interessenausgleichs sowie des bestrittenen Beschleunigungseffektes wird die fiktive Genehmigung im Schrifttum überwiegend abgelehnt, vgl. Bullinger, Beschleunigte Genehmigungs- und Planungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben, in: Blümel/Pitschas, Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, S. 136, "gefährliche Schein- Beschleunigung"; ders., Beschleunigte Genehmigungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben, S. 68, "Hammerlösung", Beschleunigungskommission, S. 160 f.; Jäde, GewArch 1995, 187 (188), "Irrweg"; Ortloff, Die fiktive Baugenehmigung, in: Festschrift für Konrad Geizer, 1991, 223 (228 f.); Steinberg/Allert/Grams/Scharioth, Zur Beschleunigung des Genehmigungsverfahrens, S. 123 f. M i t einer positiven Bewertung dagegen Stich, WiVerw 1994, 83 (117). 876 Jäde, GewArch 1995, 187 (188). 874

218

7. Kap.: Vergleich der Beschleunigungsmechanismen

wird für das rechtswidrige Bauvorhaben eine Unbedenklichkeitsbescheinigung erteilt. Diese Handlungsweise der "blind" erteilten staatlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung beeinträchtigt das Vertrauen der Bürger in die Verwaltung und vermindert die Akzeptanz gegenüber Verwaltungsentscheidungen über den Bereich der Bauverwaltung hinaus.

Resümee M i t der Einführung des Kenntnisgabeverfahrens wird die Problematik zu langer Genehmigungsverfahren auf Kosten der Rechtssicherheit des Bauherrn und zu Lasten des Nachbarschutzes aufgelöst. Der Rückzug des Staates aus der präventiven Kontrolle des Baugeschehens und die Abschaffung der Baugenehmigung als zentrale Institution des Bauordnungsrechts bedeuten einen Verlust der Ordnungsfünktion, der Schutzfünktion und der Interessenausgleichsfünktion des Baugenehmigungsverfahrens. Aus dem Verzicht auf eine präventive staatliche Kontrolle ergibt sich für den Nachbarn der Verlust des bisher wichtigsten Schutzmechanismus im öffentlichen Nachbarrecht. Der Verfahrensschutz für das Nachbareigentum wurde mit Einführung des Kenntnisgabeverfahrens weitgehend beseitigt. Die grundrechtliche Schutzpflicht für das Eigentum fordert eine Kompensation des sich aus der Verfahrensänderung ergebenden defizitären Nachbarschutzes. Effektiver Nachbarschutz ist auch im Kenntnisgabeverfahren öffentlichrechtlich zu gewährleisten. Die Bindung der Baurechtsbehörde an die Schutzpflicht für das Eigentum wirkt als Ermessensdirektive bei der Entscheidung über ein Einschreiten zur Verhinderung oder Beseitigung einer Verletzung der Nachbarrechte. Die Verpflichtung zu einem effektiven Eigentumsschutz fordert den Erlaß gefahrenabwehrender Maßnahmen bereits bei Zweifeln hinsichtlich der Einhaltung der nachbarschützenden Vorschriften. Ein Anspruch des Nachbarn auf baupolizeiliches Einschreiten besteht bei der Verletzung nachbarschützender Vorschriften nicht nur ausnahmsweise bei einer hohen Störungsintensität, sondern die Baurechtsbehörde ist in der Regel verpflichtet, zum Schutz des Nachbarn gegen das rechtswidrige Bauvorhaben einzuschreiten. Die Baugenehmigung ist eine wichtige Dienstleistung des Staates. Dies gilt nicht nur aus der Sicht der möglicherweise von dem Bauvorhaben betroffenen Nachbarn, sondern auch für den Bauherrn. Vor dem Hintergrund der hohen Regelungsdichte und Komplexität des materiellen Baurechts einerseits und der Problematik des Nachbarrechts andererseits ist die staatliche Leistung der Prüfüng der Übereinstimmung des Bauvorhabens mit öffentlich-rechtlichen Vorschriften für viele Bauherren nahezu unverzichtbar. Bei dem Verzicht auf eine präventive staatliche Kontrolle steht im Hinblick auf die Freiheitsge-

220

Resümee

währleistung der Faktor Rechtssicherheit dem Faktor Zeit gegenüber. Für den Bauherrn ist jedoch der Faktor Rechtssicherheit mindestens ebenso bedeutend wie der Faktor Zeit. Das traditionelle Genehmigungsverfahren, das dem Bauherrn ein hohes Maß an Rechtssicherheit gewährleistet, wirkt nicht ausschließlich freiheitsverkürzend, sondern ebenfalls freiheitssichernd. Die geringe Akzeptanz der Bauherrn gegenüber dem Kenntnisgabeverfahren zeigt, daß die Regel, nach der der Anzeigevorbehalt gegenüber dem Genehmigungsvorbehalt die freiheitlichere Lösung darstellt, eine Ausnahme erfährt, wenn der Bürger zur Absicherung der grundrechtlich garantierten Freiheiten eine Genehmigung als Schutzschild benötigt. Eine Vereinfachung des Bauverfahrens hat sich aus der Einführung des Kenntnisgabeverfahrens nicht ergeben. Die Position des Bauherrn wird durch die obligatorische Anwendung des Kenntnisgabeverfahrens nicht gestärkt. Eine Verbesserung der Investitionsbedingungen läßt sich durch die Abschafiung der Baugenehmigung nicht erreichen.

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Sachwortverzeichnis Abbruchsverfugung

102, 127, 142,

184 89 ff., 154

Amtsermittlungsgrundsatz Amtshaftung Angrenzer

- als Verwaltungsakt mit Drittwirkung 89

97 ff.

191 f., 200 f. 33 f., 54 ff, 92 ff, 112,

185

- Bindungswirkung

168 ff.

- feststellender Teil

164 f.

- fingierte

Anspruch auf Einschreiten 102 ff,156,157

86 ff,

37, 41, 51 f., 203, 215 ff.

- verfügender Teil Baulandhandel

ff.

Anzeige verfahren

29, 36 ff, 40 f.

50 ff.

- r e i n informatorische Anzeigepflichs. präventives Ver-

bot mit Anzeigevorbehalt

28

Bauverbot, präventives

46, 53, 96 f.,

131, 173,215 Bauvorlagen

191 f., 205 32 ff, 53, 71 f., 92 ff,

157, 176 f.

Aufgaben, staatliche 74, 128

Bebauungsplan -Nichtigkeit

23, 29f., 34 ff, 46, 49 ff,

57, 72, 94 - Untersagung

43 f., 164

205

Bauproduktenrichtlinie

Bauvorbescheid

48 f.

Anzeigevorbehalt

Baubeginn

206 f.

- stillschweigende Erteilung 46 f., 51 f.

Amtsermittlung

- frühere

172

- als staatliche Leistung

159, 197 Akzeptanz

ten

- als Schutzschild

46 f., 55, 101 f., 114,

31, 34 189 ff

Beschleunigung

20 ff, 68 f., 79, 208

Bestandsschutz

172 ff, 193 f.

Beurteilungsspielraum

188

142 ff, 150 ff, 167, 174 ff. 198 Baueinstellungsverfügung

109, 144,

150 ff.

Dispens

Bauen, gesellschaftliche Anforderungen

Deregulierung Duldung

25 ff

34, 173,215 177, 181

27

Baufmanzierung Baufreigabe Baufreiheit

204

Eigentum

34 42 ff., 57 ff., 206

Baufreistellungsverordnung Baugenehmigung

Eigenverantwortlichkeit 29, 86

43

130 f.

-Legalisierungswirkung

96 ff.

Eingriff

199

Erlaubnis mit Verbots vorbehält 41 ff, 45,59

165 ff.

22, 25, 32,

74,81, 152, 157, 177, 209, enteignungsgleicher

- a l s Anfechtungsgegenstand - a l s Eingriff

41 ff, 57, 61 ff, 116 ff,

144,155

Ermessen

98 ff, 140, 179

arverzeichnis

246

Ermessensreduzierung auf Null 99 ff.,

Nachbar -Anspruch

113 ff., 125, 135, 139, 141

lagen Fiktion der Baugenehmigung

s. Bau-

auf Einsicht in Bauvor-

93 f.

- Bedenken gegen Bauvorhaben 33 f., 54 f., 94 ff., 111, 114, 185

genehmigung, fingierte Folgenbeseitigungsanspruch

102 ff.,

- Verfahrensbeteiligung

formelle Rechtmäßigkeit 173 f., 202 f.

Nachbarschutz

formelle Rechtswidrigkeit

- öffentlich rechtlicher

Funktionsvorbehalt

174, 189 f.

74 ff.

Gefahrenabwehr

98,127,151,206

23, 32 ff., 92, 94, 175

Genehmigung

88 ff., 96 ff.,

110 ff., 115 ff., -präventiver

Gemeinde

52, 54, 71,

91 f., 94 f., 96, 112, 128, 183

130, 134 ff., 159

31, 43 f., 130 ff.

- repressiver

88 ff., 96 ff., 144 ff. 101 I I , 15 7 ff.,

- zivilrechtlicher

113, 124 ff., 168 ff.

Nutzungsuntersagung

102, 159

Opportunitätsprinzip

96 ff., 139

Genehmigungsabwehranspruch 96, 98,

101 Genehmigungsfreistellungsverfahren 35 ff., 49 f., 211 f.

Planungsschaden

Genehmigungspflicht

35,43 f.

Planverfasser

Gleichheitsgrundsatz

63 f., 114 f.,

136,208

188 präventives Verbot

grundrechtliche Schutzpflicht

43 f.

- mit Anzeige vorbehält

s. staatliche Schutzpflicht

45 ff., 59 f.

- mit Erlaubnisvorbehalt Privatisierung

Kenntnisgabe verfahren

20 ff.

- funktionelle

- als Anzeigeverfahren

45 ff.

- materielle

- Regelungstechnik

41 ff., 52 ff.

- Verfahrensablauf

32 ff.

Kontrollerlaubnis

201

25, 33, 71 f., 80 ff., 90,

41 ff., 60

24 ff., 71 ff., 73 f. 73

- Zulässigkeit im Kenntnisgabeverfahren

74 ff.

44 quasinegatorischer

Lageplananfertiger 25, 33, 71 f., 80 f.,

spruch

Beseitigungsan-

125

90 Rechtsschutzgarantie materielle Rechtmäßigkeit

71, 166,

172 f., 176,217

64 ff.

62 ff.

- als Freiheitssicherung

materielle Rechtswidrigkeit 190, 193, 196,210 Musterbauordnung

Rechtssicherheit

173 f.,

- als Investitionsfaktor Rechtsstaatsprinzip

34 f., 152

162 163

67, 74, 80, 84,

88, 146, 162, 176, 178, 198

247

Sachwortverzeichnis Schlußpunkttheorie

unbestimmte Rechtsbegriffe

166

Schutznormtheorie

97

Untermaßverbot

Sozialstaatsprinzip

98, 208 f.

staatliche Aufgaben

74, 128

staatliche Schutzpflicht 115 ff.,

118 ff.,

69, 85 ff.,

120 ff., 125 f.,

129 ff., 134, 136 ff., 140 ff., 155, 158 ff. - Gesetzesmediatisiertheit bers

vereinfachtes Genehmigungsverfahren 34 ff., 40, 51, 212 ff. Verfahrensbeschleunigung

137 f.

121 f. durch

Exekutive

137 ff.

63, 127, 146 f.,

158 181 ff.

Vertrauensschutz

135, 146, 165,

174 ff., 183, 191 ff., 202 f., 210, 216

-fürEigentum

155 ff., 158

- Optimierungspflicht -Umfang

57 ff.

Verhältnismäßigkeit Verjährung

- Gewährleistung

21,23 ff.,

68 ff., 111, 154,211 Verfahrensdauer

- Gestaltungsspielraum des Gesetzge-

188

123, 139, 56, 158

69, 123

Verwirkung

178 ff., 185 ff.

vorläufiger Rechtsschutz

105 ff.

120 ff. Zurechnung privater Handlungen zum

Tatsachen, vollendete

144, 149

Staat

131 ff.