Mythos - Paradies - Translation: Kulturwissenschaftliche Perspektiven 9783839438800

Transdisciplinary reflections on Michael Rössner's work with a focus on topics such as myth, paradise and cultural

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German Pages 422 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort der Herausgeber
Mythos
Das Bindeglied von Mythos und Metamorphose
Schöne Nymphen
Mythos, Zeitlichkeit und kollektives Gedächtnis
Translatio imperii in den »Sister Republics« Schweiz und Amerika im 18. Jahrhundert
Gedächtnis, Erinnerung, Mythos
Habsburg Zentraleuropa zwischen 1945 und heute
Carl Schmitt und der Nordlicht-Mythos Theodor Däublers
Spanien/al-Andalus: Alte und junge Mythen
Paradies
De México al Paraíso
La ricerca dell’immagine del paradiso
Metafore bestiali e metamorfosi moderniste in Pirandello e Kafka
»Porque el agua es Proteo«
Auf der Suche nach dem verlorenen Einhorn
Umberto Ecos Monster
«La fable du Mexique»
Theater als Medium der Utopie
Die »Brückenbauer«
Translation
Erzählen und Übersetzen
Tausendundeine Nacht, Joseph von Hammer-Purgstall und die République des lettres
John Donnes »Floh« auf deutschen Versfüßen, oder Fessel und Freiheit der Reime
Werwolf in Beugehaft
»Das Eisen mit Ton vermischt«
Translationen des Popularen
Der Kommensalismus der quiltros
Contatti culturali tra l’Italia, l’Ungheria e l’Austria durante il Ventennio
Viel Puppe und ein wenig Zwerg
Scontro di civiltà per un ascensore a piazza Vittorio di Amara Lakhous
Unorte der Translation
Schriftenverzeichnis
Autorinnen und Autoren
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Mythos - Paradies - Translation: Kulturwissenschaftliche Perspektiven
 9783839438800

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Daniel Graziadei, Federico Italiano, Christopher F. Laferl, Andrea Sommer-Mathis (Hg.) Mythos – Paradies – Translation Festschrift für Michael Rössner

Edition Kulturwissenschaft  | Band 135

Daniel Graziadei, Federico Italiano, Christopher F. Laferl, Andrea Sommer-Mathis (Hg.)

Mythos – Paradies – Translation Kulturwissenschaftliche Perspektiven

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: mosaiko / photocase.com Lektorat: Andrea Sommer-Mathis Satz: Gerhard Spring Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3880-6 PDF-ISBN 978-3-8394-3880-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort der Herausgeber  | 9

M y thos Das Bindeglied von Mythos und Metamorphose Reflexionen zu einem transformativen Potential Vittoria Borsò | 23

Schöne Nymphen Horst Weich | 41

Mythos, Zeitlichkeit und kollektives Gedächtnis Peter Stachel | 51

Translatio imperii in den »Sister Republics« Schweiz und Amerika im 18. Jahrhundert Antike Mythen und Helden im Nation-Building Michael Böhler | 63

Gedächtnis, Erinnerung, Mythos Aspekte zu einer Hermeneutik von Mehrdeutigkeit und Differenz Moritz Csáky | 81

Habsburg Zentraleuropa zwischen 1945 und heute Wechselnde Perspektiven auf ein Forschungsfeld Johannes Feichtinger/Heidemarie Uhl | 95

Carl Schmitt und der Nordlicht-Mythos Theodor Däublers Andreas Höfele | 109

Spanien/al-Andalus: Alte und junge Mythen Johannes Thomas | 123

P aradies De México al Paraíso Cuadros de costumbres y milagros del Cielo en los villancicos de Sor Juana Inés de la Cruz Bernardo Teuber | 137

La ricerca dell’immagine del paradiso La difficile impresa di Paolo Segneri nelle prediche del Quaresimale Claudio Vicentini | 155

Metafore bestiali e metamorfosi moderniste in Pirandello e Kafka Fausto De Michele | 165

»Porque el agua es Proteo« Wasser und sich wandelnder Mythos in der Lyrik von Jorge Luis Borges und José Lezama Lima Nora Zapf | 175

Auf der Suche nach dem verlorenen Einhorn Überlegungen zur Fantastik von Adolfo Bioy Casares und Jorge Luis Borges Laura Kohlrausch | 189

Umberto Ecos Monster Monika Schmitz-Emans | 203

«La fable du Mexique» Esotismo e rivoluzione nel western italiano (1964–1976) Dominique Budor | 217

Theater als Medium der Utopie Lieto fine und Wiener Schluss Elisabeth Großegger | 227

Die »Brückenbauer« Mathias Enard – Abdelkebir Khatibi – Fouad Laroui – Abdelwahab Meddeb – Lizzie Doron – Boualem Sansal Alfonso de Toro | 239

T ransl ation Erzählen und Übersetzen Hanna Dyâb triff t Antoine Galland, oder: Tausend und eine Nacht in Paris Birgit Wagner | 259

Tausendundeine Nacht, Joseph von Hammer-Purgstall und die République des lettres Johanna Borek | 269

John Donnes »Floh« auf deutschen Versfüßen, oder Fessel und Freiheit der Reime Ein ›komparatistischer‹ Selbstversuch Werner von Koppenfels | 281

Werwolf in Beugehaft Oder Deklination und Translation Martin von Koppenfels | 291

»Das Eisen mit Ton vermischt« Translatio imperii als Kreolisierung der Tropen Daniel Graziadei | 303

Translationen des Popularen Zur Darstellung popularer Musik in afrokaribischer und afrobrasilianischer »ernster« Lyrik Christopher F. Laferl | 319

Der Kommensalismus der quiltros Lateinamerikanische Hunde-Geschichten Jörg Dünne | 333

Contatti culturali tra l’Italia, l’Ungheria e l’Austria durante il Ventennio Ilona Fried | 345

Viel Puppe und ein wenig Zwerg Žižek, Benjamin und die Gruppe 47 in wechselseitiger Überset zung Christoph Leitgeb | 357

Scontro di civiltà per un ascensore a piazza Vittorio di Amara Lakhous Un esempio di traduzione culturale nella letteratura italofona Alessandra Sorrentino | 371

Unorte der Translation Travelling Concepts zwischen den Disziplinen Monika Mokre | 381

Schriftenverzeichnis  | 393 Autorinnen und Autoren  | 413

Vorwort der Herausgeber

1984, also vor 34 Jahren, gab Michael Rössner gemeinsam mit Birgit Wagner eine Festschrift für ihren akademischen Lehrer Hans Hinterhäuser heraus; sie eröffneten das Vorwort dazu mit dem Satz »In diesem Jahr wird Hans Hinterhäuser 65 Jahre alt.« Im Jahre 2018 können wir nun den gleichen Satz schreiben, in dem nur das Subjekt durch ein anderes ersetzt wird: »In diesem Jahr wird Michael Rössner 65 Jahre alt.« Das Vorwort zum vorliegenden Band soll aber nicht zu einer Medi­ tation über das Tempus fugit-Thema werden, sondern möchte vielmehr bewusst an die Hinterhäuser-Festschrift anknüpfen, und zwar in dreifacher Weise: Erstens wollen wir jene Kontinuitäten deutlich machen, denen sich eine bestimmte Ausrichtung innerhalb der Romanistik verpflichtet fühlt und für die auch Michael Rössner steht – eine weltoffene und die Grenzen der eigenen Disziplin unbeschwert überschreitende Romanistik, die neue theoretische und methodologische Ansätze aufgreift, darüber aber nicht die Texte vergisst und noch weniger die Lust an diesen aus den Augen verliert. Zweitens soll die hier vorgelegte Aufsatzsammlung, wie jene, die vor 34 Jahren zusammengestellt wurde, für sich stehen, indem sie ein kohärentes collectaneum darstellt, gegliedert nach drei Schwerpunkten, die das Werk Michael Rössners in ganz besonderem Maße auszeichnen: Mythos, Paradies und Translation. Eine dritte, andere Kontinuität lässt sich an den Beitragenden ablesen, denn zwei der hier vertretenen Verfasserinnen und ein Verfasser hatten auch schon für die Hinterhäuser-Festschrift geschrieben, nämlich Johanna Borek, Johannes Thomas und Birgit Wagner. Für den vorliegenden Band haben aber auch noch viele andere Kolleginnen und Kollegen, die Michael Rössner ebenfalls in Freundschaft verbunden sind, Aufsätze geschrieben, von denen jeder zumindest eines der drei genannten Schwerpunktthemen aufgreifen sollte. Vor den einzelnen Beiträgen möchte dieses Vorwort – nach einer knappen Einführung zu Rössners akademischem Werdegang und zu seiner Lehre – die drei genannten Bereiche in seinen eigenen Schriften kurz charakterisieren.

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Mythos – Paradies – Translation

E in pa ar W orte zum ak ademischen W erdegang und zur L ehre von M ichael R össner Alle, die Michael Rössner als akademischen Lehrer kennen und Sinn für Literatur haben, wissen, dass er auf ungemein einnehmende Art Begeisterung für Literatur zu vermitteln weiß. Er lässt nicht nur ›seine‹ Themen mit stets neuem Enthusiasmus lebendig werden, er sorgt damit auch aktiv – und bisweilen recht unakademisch (¡valga la paradoja!) – für eine translatio studii; zugleich versteht er es, seine eigene Lust am literarischen Text weiterzugeben. Denn eines ist Michael Rössner stets gewesen: ein froher und enthusiastischer Wissenschaftler und Lehrer, mit einem ausgeprägten Sinn für Komik, was man nicht von allen Literaturwissenschaftlern behaupten kann. In der Studienzeit galt sein Interesse noch nicht ungeteilt der Literatur und der Literaturwissenschaft, hat er doch an der Universität Wien auch ein Studium der Jurisprudenz mit dem Doktorat abgeschlossen. Schon bald widmete er seine akademische Aufmerksamkeit aber ganz der Literaturwissenschaft. Kurz, nachdem Hans Hinterhäuser, der zuvor in Kiel und Bonn gelehrt hatte, den Ruf nach Wien angenommen hatte, wurde Michael Rössner sein Assistent am Wiener Romanistik-Institut – genauer in demjenigen Teil des Instituts, der in der Schwarzspanierstraße angesiedelt war. Die ›Schwarzspanierstraße‹, in der – zum Namen passend 1 – viel über spanische, aber auch über französische, italienische und mitunter auch über portugiesische Literatur gesprochen und geschrieben wurde, war eine große Wohnung in einem Haus aus der Gründerzeit, deren Räume für eine universitäre Nutzung behelfsmäßig adaptiert worden waren: ein kleiner Hörsaal, eine kleine Bibliothek, zwei Assistentenzimmer, ein Sekretariat, ein geräumiges Professorenzimmer – und eine Badewanne, die der Umwidmung von Wohn- zu Lehr- und Forschungszwecken nicht geopfert wurde, jedoch, soweit bekannt ist, danach niemals mehr dem ursprünglichen Zweck entsprechend verwendet wurde. Die Tatsache, dass sich dieser Institutsteil nicht in unmittelbarer Nähe zu den anderen Räumen der Wiener Roma­nistik befand, also disloziert war (wie es in der damaligen universitären Amtssprache hieß), wurde von den meisten Angehörigen des ›Mikrokosmos Schwarzspanierstraße‹ keineswegs als unangenehm befunden. Man hörte weder von Hans Hinterhäuser noch von Michael Rössner, Johanna Borek, Birgit Wagner oder Christopher Laferl, die sich in dieser eigenartigen Umgebung kennen und schätzen lernten, kaum je eine Klage darüber. Im romanistischen Umfeld der Schwarzspanierstraße erhielt Michael Rössner seine akademische Prägung: Dort entstanden sowohl seine Dissertation über 1 | Der Name ›Schwarzspanierstraße‹ stammt von den Benediktinern vom Montserrat in Katalonien, die von Kaiser Ferdinand II. nach Wien berufen wurden und ein schwarzes Habit trugen. Das Kloster existiert heute nicht mehr, und auch von der Klosterkirche ist nur die Fassade erhalten. Im Namen der Straße lebt der Orden jedoch – für viele wohl auf geheimnisvolle Weise – weiter.

Vor wor t

Pirandello,2 mit der er sub auspiciis praesidentis rei publicae promoviert wurde, als auch seine Habilitation zum mythologischen Bewusstsein in der europäischen und lateinamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts.3 Auch nach seiner Berufung nach München im Jahre 1991 und nach dem Umzug aller romanistischen Teilinstitute in das zum Universitätscampus umgewandelte ehemalige alte Allgemeine Krankenhaus (AAKH) im Spätherbst 1997 blieb Michael Rössner der Wiener Romanistik mit kontinuierlicher Lehre treu. In seiner Wiener Anfangszeit galt er nicht nur als anspruchsvoller, sondern auch als strenger Lehrer. Sein Einführungsproseminar zu Theorie und Methoden der Literaturwissenschaft, für dessen positiven Abschluss man sich im Selbststudium – aber mithilfe einer von ihm klug zusammengestellten Anthologie – einen Überblick über die gesamte spanische und lateinamerikanische Literaturgeschichte erwerben musste, war für viele Studierende nicht nur eine große Hürde, sondern auch eine Art ›Initiationsritus‹ in das für die meisten Studierenden weitgehend unbekannte Universum der spanischsprachigen Literaturen. Gewitzte Studierende erkannten freilich schon bald, dass sich hinter der Strenge des Lehrenden nicht wenig Lust am Spiel verbarg. Deutlicher wurden der lustvolle Umgang mit der Literatur und die bisweilen ›pikareske‹ Haltung akademischen Vorgaben gegenüber in weiterführenden, thematisch ausgerichteten Proseminaren, Seminaren und Vorlesungen – über den Libro de Buen Amor, Lope de Vegas La dama boba, Borges’ Erzählungen und viele andere Texte. Stets war ihm dabei die Förderung von Kreativität und Originalität im akademischen Arbeiten ein wichtiges Anliegen. In die letzten Semester vor seiner Berufung nach München fiel ein für viele Teilnehmende unvergessliches interdisziplinäres Seminar zur mystischen Lite­ ratur, für das sich Lehrende und Studierende der Altphilologie, Germanistik, Theologie und Romanistik im Stift Zwettl in Niederösterreich zu einem regen fachlichen Austausch trafen. Auch Bernhard Teuber aus München, der sich später über die mystischen Texte des Johannes vom Kreuz habilitieren sollte, 4 war in Zwettl dabei. In die frühen 1990er-Jahre reicht auch die Organisation des großen Forschungsprojekts zur Kaffeehausliteratur zurück, wobei es Michael Rössner gelang, eine große Zahl von internationalen Fachleuten dazu zu motivieren, kohärent zur Produktion und Rezeption von Literatur im Kaffeehaus zu forschen. Gekrönt wurde dieses Projekt durch eine Tagung im Jahr 1996, die in verschiedenen Kaffeehäusern Wiens stattfand, und durch eine 650 Seiten starke Publikati2 | Michael Rössner, Pirandello Mythenstürzer. Fort vom Mythos – Mit Hilfe des Mythos – Hin zum Mythos (= Junge Wiener Romanistik 1), Wien u.a.: Böhlau, 1980. 3 | Michael Rössner, Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Zum mythologischen Bewußtsein in der Literatur des 20. Jahrhunderts (= Athenäums Monografien 88), Frankfurt am Main: Athenäum, 1988. 4 | Bernhard Teuber, Sacrificium litterae. Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz, München: Fink, 2003.

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on,5 in der sich Aufsätze zur Kaffeehausliteratur nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch in Mailand, Madrid, Lissabon, Buenos Aires, Montevideo, Rio de Janeiro oder Bogotá finden. Die Bedeutung dieses Projekts bestand nicht zuletzt in der einzigartigen Zusammenschau verschiedener literarischer Kaffeehauskulturen, die trotz aller sprachlichen und kulturellen Unterschiede gleichen Soziabilitäts­ traditionen folgen und ähnliche Öffentlichkeitsstrukturen aufweisen. Als junger Professor am Institut für Romanische Philologie mit dem Aufgabengebiet »Romanische und Vergleichende Literaturwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung Lateinamerikas«6 an der Ludwig-Maximilians-Universität führte Michael Rössner seinen originellen und stets intellektuell anspruchsvollen Lehrstil fort. Auch in München bot er unzählige wissenschaftliche Übungen und Konversatorien an, in denen sowohl aktuelle und innovative als auch kanonische und traditionellere Fragen gestellt wurden. Durch aufmerksame Lektüren und umfassende Kontextualisierungen wurde eine Vielzahl von literarischen und theoretischen Texten untersucht. Für seine Haupt- und Proseminare entwickelte Rössner eine Dramaturgie, die das Seminar in eine simulierte ›Herausgeberkonferenz‹ verwandelte, bei der keine langatmigen Referate die Stunden füllten, sondern alle Beteiligten Skizzen zu einzelnen Kapiteln eines fiktiven Sammelbandes zum Seminarthema diskutierten. Sein Oberseminar gestaltete Rössner zu einem Freiraum, in dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre aktuellen Forschungsfragen und Abschlussarbeiten präsentierten, vor allem aber auch Probleme schildern und Lösungsvorschläge diskutieren konnten. Der Fokus lag dabei nicht auf der Selbst­darstellung und auf den Präsentationen eigener Projekte, die nur oberflächliche Aufmerksamkeit erregen, sondern vielmehr auf der Darlegung von Problemen, dem Aufzeigen von Ungereimtheiten oder der Artikulation von Zweifeln und in der Folge auf einer intellektuell anspruchsvollen, stets aber konstruktiven Diskussion. Im Rahmen der Reform der Studiengänge gegen Ende der ersten Dekade des neuen Jahrtausends entwickelte Michael Rössner eine Einführungsvorlesung in die Romanistische Literatur- und Kulturwissenschaft: Nach zwei einführenden Sitzungen zur Stellung der Romanistik innerhalb der Wissenschaften und zur literarischen Kommunikationssituation skizzierte er im historischen Hauptteil vergleichend die Entwicklung und Verbreitung literarischer Strömungen und Epochen in der gesamten Romania, bevor er ein Panorama literaturwissenschaftlicher Analysemethoden und Theorien entwarf. Die Konzeption und Umsetzung einer derart umfassenden Vorlesung, die im Mittelteil die Entwicklungen der gesamten Romania mit teils verblüffenden Einsichten in die Translationsprozesse

5 | Michael Rössner (Hg.), Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien/Köln/ Weimar: Böhlau, 1999. 6  | http://www.romanistik.uni-muenchen.de/personen/professoren/roessner/index.html (abgerufen am 04.05.2018).

Vor wor t

zwischen den literarischen Feldern offenlegte,7 zeugten von einer in jeder Hinsicht imponierenden Belesenheit und profunden historiografischen wie philologischen Kenntnissen, die sich – nationale Perspektivierungen übersteigend – hin zu einer gesamtromanischen und komparatistischen Perspektive öffneten. Die aufmerksame Verfolgung der Entwicklungen literarischer Moden qua Übersetzungen aus dem jeweiligen literarischen Zentrum bis in die entsprechenden Peripherien kann auch in der von ihm herausgegebenen lateinamerikanischen Literaturgeschichte beobachtet werden.8 Wer je ein Seminar oder eine Vorlesung bei Michael Rössner besucht hat, wird sich an seine ausdrucksstarken Lesungen der Textbeispiele erinnern. Dies blieb jedoch nicht auf die Halböffentlichkeit des Seminarraums beschränkt: Wiederholt konnte sein histrionisches Talent, das er, seinen Eltern folgend, durch eine Schauspielausbildung gefördert hatte, bewundert werden – so etwa im Dezember 2014, als er im Rahmen einer abendlichen Rahmenveranstaltung des Symposiums 7 | Einige Details dieser Prozesse und ihre Interpretation sind in verschiedenen Artikeln Michael Rössners nachzulesen, z.B. in: Spuren der europäischen Avantgarde im »modernistischen Jahrzehnt« in Brasilien, in: Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Europäische Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext, Frankfurt am Main: Vervuert, 1991, S. 31–50; Zerrspiegel, Marionetten, Grotesken. Valle-Incláns esperpentos im Vergleich mit dem italienischen teatro del grottesco und Pirandello, in: Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Ramón del Valle-Inclán (1866–1936). Akten des Bamberger Kolloquiums vom 6.–8. November 1986, Tübingen: Niemeyer, 1988, S. 147–162; Theater auf dem Theater und »Bühnen-Pikareske« bei Corneille und Cervantes. Zur Illusion comique und zu Pedro de Urdemalas, in: Romanische Forschungen 101 (1989), S. 42–59; »Literatura fantástica« in Brasilien? Die phantastische Kurzerzählung bei Joao Guimarães Rosa, in: Erna Pfeiffer/Hugo Kubarth (Hg.), Canticum Ibericum. Neuere spanische, portugiesische und lateinamerikanische Literatur im Spiegel von Interpretation und Übersetzung. Georg Rudolf Lind zum Gedenken, Frankfurt am Main: Vervuert, 1991, S. 244–256; Vom »goldenen Zeitalter« zum »arkadischen Endspiel«. Das Schäferspiel in Italien und Frankreich zwischen Tasso und Du Ryer, in: Hans-Jürgen Lüsebrink/Hans Theo Siepe (Hg.), Romanistische Komparatistik. Begegnungen der Texte – Literatur im Vergleich, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang, 1993, S. 49–64; Post-Boom, noch immer Boom oder gar kein Boom? Gedanken zu den Problemen von Übersetzung und Vermarktung lateinamerikanischer Literatur im deutschen Sprachraum, in: Ludwig Schrader (Hg.), Von Góngora bis Nicolás Guillén. Spanische und lateinamerikanische Literatur in deutscher Übersetzung. Erfahrungen und Perspektiven (= Akten des internationalen Kolloquiums Düsseldorf 1992), Tübingen: Narr, 1993, S. 13–23; La América de las vanguardias. Observaciones acerca de algunos manifiestos caribeños, in: Matthias Perl/Klaus Pörtl (Hg.), Identidad cultural y lingüística en Colombia, Venezuela, y en el Caribe hispánico (= Beihefte zur Iberoromania 15), Tübingen: Niemeyer, 1999, S. 55–63. 8 | Michael Rössner (Hg.), Lateinamerikanische Literaturgeschichte. Stuttgart: Metzler, 1 1995, 22002, 32007 (jede Neuauflage erweitert um ein Kapitel des Herausgebers zu den neuesten Entwicklungen).

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»Erzählen zwischen Postmoderne und Fantastik« im Münchner Instituto Cervantes das zweistimmige Kapitel 34 aus Julio Cortázars Rayuela (zusammen mit Daniel Graziadei) als Lesestück auf die Bühne brachte. Den vollen Umfang seiner einnehmenden schauspielerischen Leistungen konnte das Münchner Publikum ein halbes Jahr später genießen, als Michael Rössner in der Rolle des Marqués in Luces de Bohemia glänzte: Die Theatergruppe des Instituts für Romanistik, teatRom.25, übertrug im Juli 2015 das Stück von Ramón María del Valle-Inclán unter dem Titel »(Ab-)Glanz der Ludwig 25 – Ein romanistisches Stationendrama« in die Räumlichkeiten des Instituts für romanische Philologie der Ludwig-Maximilians-­Universität in der Ludwigstraße 25 in München und setzte sich dabei kritisch mit der bevorstehenden Entkernung und Umwidmung des Gebäudes auseinander. Dieses Engagement für die Vermittlung von (romanischer) Literatur(-wissenschaft) kann als eine von Rössners Antworten auf die Titelfrage seiner »provokatorische[n] Denkanstöße für eine Zweckbestimmung der Literaturwissenschaft« verstanden werden: »Auf dem Weg zu einer Literaturwissenschaft für den Leser?«9

M y thos Schon in seinem ersten wissenschaftlichen Artikel untersuchte Michael Rössner Aspekte einer »coscienza mitica« in den Novellen von Luigi Pirandello.10 Der komplexen Beziehung zum Mythos und den Mythen im Werk des sizilianischen Schriftstellers und Theatermachers, dessen Werk er wie kein anderer mit der Genauigkeit des Übersetzers, der Sorgfalt des Herausgebers und der großen Liebe des wahrhaft Begeisterten kennt,11 widmete er in der Folge seine Dissertation und kam dabei zu dem Schluss, dass die späte Phase des Autors als letzte Station jenes Dreisprungs betrachtet werden kann, den er auch im Untertitel seiner Monografie hervorhob: Fort vom Mythos – Mit Hilfe des Mythos – Hin zum Mythos. Pirandello stürzt nicht einfach […] alte Mythen und schafft dafür neue, sondern er weist nach, daß die Logik selbst und alle auf ihr beruhenden Einrichtungen einen mythischen Urgrund haben, daß also der Mythos für das menschliche Selbst- und Weltverständnis unerläßlich ist. Unser Autor gelangt somit durch diesen […] gestürzten Logos, sozusagen ge-

9 | Michael Rössner, Auf dem Weg zu einer Literaturwissenschaft für den Leser? Provokatorische Denkanstöße für eine Zweckbestimmung der Literaturwissenschaft, in: Romanistik integrativ (Festschrift für Wolfgang Pollak), Wien: Braumüller 1985, S. 445–451. 10 | Michael Rössner, Aspetti di «coscienza mitica» nelle novelle di Pirandello, in: Stefano Milioto (Hg.), Le novelle di Pirandello (Atti del 6° Convegno internazionale di studi pirandelliani), Agrigento: Centro nazionale di studi pirandelliani, 1980, S. 239–252. 11 | Luigi Pirandello-Werkausgabe in deutscher Sprache, Mindelheim: Sachon, 1985–1989 (Herausgeberschaft von Michael Rössner ab 1987), Neuausgabe im Propyläen-Verlag in 16 Bänden (1997–2000).

Vor wor t läutert, wiederum zum Mythos in Form des mythischen Bewußtseins, fern der toten, starren Mythen, wie sie in der Welt logischen Bewußtseins bestanden hatten.12

Die »ursprünglich komparatistische[n] Absichten«13 dieser Studie konnte Michael Rössner in einer, bis in die Gegenwart der Drucklegung des vorliegenden Bandes andauernden, fruchtbaren und vielfältigen Auseinandersetzung mit den Mythen und dem mythischen Bewusstsein umsetzen. Dabei reicht die Spannweite von der Mythenbildung bei anderen Autoren der italienischen Literatur, z.B. in seinen Bemerkungen zu Ethno-Literatur und Mythisierung des Mezzogiorno bei Carlo Levi,14 über die Elemente mythisch-magischer Weltsicht bei Borges und Cortázar15 bis hin zum Gaucho als argentinische Identitätsfigur zwischen Politik, Literatur und Sport von den Unabhängigkeitskriegen bis zum Fußball-WM-Maskottchen.16 Die Beschäftigung mit den vielschichtigen und dekonstruktiv angelegten Mythen in den Werken seiner argentinischen Freunde Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares nimmt hierbei eine besondere Stellung ein.

Par adies Rössners komparatistisches Interesse am Mythos findet seinen extensivsten Ausdruck in seiner Habilitationsschrift Zum mythologischen Bewußtsein in der Literatur des 20. Jahrhunderts. In dieser Monografie verfolgt Rössner »die Denkfigur der Suche nach dem verlorenen Paradies« und konstatiert »die erstaunliche Langlebigkeit einer literarischen Fragestellung, die von Hofmannsthals Chandos-Brief (1901) zumindest bis zu Rayuela (1963) reicht.«17 Diese Befreiung der »Paradiesvorstellung von allen leiblichen Annehmlichkeiten« und ihre Ansiedlung »in einem Reich des Geistes, in dem dieser Geist auf sich selbst Verzicht leistet, in dem die Vernunft sich selbst aufhebt, das Subjekt sich selbst negiert, um Teil einer mythisch-magischen Einheitsvision zu werden«,18 untersucht Rössner an Beispie12 | Rössner 1980, S. 332. 13 | Ebd., S. 331. 14 | Michael Rössner, Die Krise kam nur bis Eboli. Bemerkungen zu Ethno-Literatur und Mythisierung des Mezzogiorno bei Carlo Levi, in: Italienische Studien 11 (1988/89), S. 51–60. 15 | Michael Rössner, Mythos und Magie als poetische Kategorie in einigen Erzählungen von Borges und Cortázar, in: Lateinamerika-Studien 19 (1985), S. 427–445. 16  | Michael Rössner, Der Gaucho als argentinische Identitätsfigur zwischen Politik, Literatur und Sport von den Unabhängigkeitskriegen bis zum Fußball-WM-Maskottchen, in: Michael Riekenberg/Stefan Rinke/Peer Schmidt (Hg.), Kultur-Diskurs, Stuttgart: Heinz, 2001, S. 85–102. 17 | Rössner 1988, S. 283. 18 | Ebd.

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len der französischen Literatur zwischen 1900 und dem Zweiten Weltkrieg, an den Literaturen der südlichen Romania etwa zur selben Zeit, und an der lateinameri­ kanischen Literatur der Jahrzehnte nach 1945. Dabei identifiziert er den »Roman als Erkenntnisweg« und dessen essayistisch-philosophische Untersuchungen als Resultat einer Bewusstseinskrise, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts bestehen geblieben sei, da »sich eine (trügerische) Selbstsicherheit des Denkens, wie sie zuletzt im 19. Jahrhundert gegeben war, nicht mehr eingestellt hat«; darin sieht er den wesentlichen Grund für die »Hartnäckigkeit des Krisen- und Paradies­ themas«.19 Rössner arbeitet aus den heterogenen Formen innerlicher Paradiessuche eine grundlegende Gemeinsamkeit heraus: die »Ablehnung der Alleinherrschaft der Ratio, an deren Stelle eine Art harmonische Koexistenz mit anderen Formen der menschlichen Welterfassung treten soll; kein Irrationalismus also, sondern ein anderer Gebrauch der Vernunft, außerhalb der logischen Kategorien, an der Seite und mit Hilfe mythischer Bilder und Rituale, die aus ihrem Kontext gelöst, ästhetisch verarbeitet und vielfältig verfügbar gemacht werden«.20 Besonders auffällig ist nicht nur Rössners wiederkehrende tiefgreifende Beschäftigung mit Alternativen zu Ratio und Realismus, sondern auch seine Bereitschaft, die Perspektivwechsel bis in ihre letzten Konsequenzen hinein ernst zu nehmen. Der Aufsatz zu Fernando del Paso mit den darin formulierten Vorschlägen eines Realismo loco o lo real mara­ villoso europeo21 stellt eines seiner interessantesten diesbezüglichen Ergebnisse dar. Die Darstellung von Abel Posses Los perros del paraíso anlässlich des problematischen ›Amerika-Jubiläums‹ im Jahre 1992 zeigt »Nuestra América« und das »exotische Europa« und somit die Umkehrung der Blickrichtung der exotistischen Paradiessuche auf literarisch-diskursiver Ebene. Diese sich intensivierende Spur einer Integration postkolonialer Denkansätze in die eigene Forschung wird anhand einer zunehmenden Beschäftigung mit der transatlantischen Kommunikation zwischen Europa und Lateinamerika deutlich, die vom inneren Paradies wieder hinausführt in die Projektionen unterschiedlicher Mythen und ihre Translationen.

Tr ansl ation Michael Rössner, der 2001 zum korrespondierenden und 2009 zum wirklichen Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gewählt wurde, übernahm 2009 die Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der ÖAW und implementierte dort einen neuen Forschungsschwerpunkt, die Translation. Unter seiner Leitung wurde die 19 | Ebd. 20 | Ebd., S. 284. 21 | Michael Rössner, Fernando del Paso: Realismo loco o lo real maravilloso europeo, in: Karl Kohut (Hg.), Literatura mexicana hoy, Frankfurt am Main: Vervuert, 1991, S. 223–229.

Vor wor t

vom Historiker Moritz Csáky gegründete und zu internationalem Renommee gebrachte Kommission zum Institut umbenannt und 2012 entfristet. Das Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte ist eine Forschungseinrichtung der Geistes- und Kulturwissenschaften, die Grundlagenforschung mit aktuellen Theorieansätzen verbindet. Ziel des transdisziplinär arbeitenden Instituts ist die Analyse komplexer kultureller Systeme, wobei im Mittelpunkt der Forschungen Untersuchungen zur Herausbildung, Vermittlung und Nutzung von kollektiver Erinnerung und Identität durch Erzählung, Inszenierung und Übersetzung stehen. Unter Translation verstehen Rössner und seine Mitarbeiter nicht allein den verbalen Transfer von Sprache zu Sprache, sondern all jene Prozesse, die durch Deund Rekontextualisierung Kommunikation im Rahmen kultureller Interaktion ermöglichen.22 Dieser Cluster umfasst daher sowohl Projekte, die transmediale, trans­ kulturelle und transdisziplinäre Übersetzungen in ihren gegebenen Kontexten erforschen, als auch Projekte, deren Forschungsschwerpunkte auf kulturellen Über­ setzungen durch verschiedene historische Epochen und soziale Subsysteme liegen. Diese Themen werden in der ›Freitagsrunde‹, dem wöchentlichen Jour Fixe des Instituts, in zwangloser Atmosphäre, ernsthaft diskutiert, wobei Michael Rössner für die Anregungen und Projektvorschläge aus dem Kreise seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die aus ganz unterschiedlichen Disziplinen stammen, mehr als nur ein offenes Ohr hat. Ganz aktiv greift er die Ideen der hier vereinten Literatur- und Theaterwissenschaftler, Historiker und Politikwissenschaftler auf und fördert nach Kräften ihre Vorschläge und Projektideen, deren Ergebnisse in Tagungen, Workshops, Ausstellungen und einer großen Zahl von Publikationen national und international beachteten Niederschlag gefunden haben. In vielen seiner neueren Schriften hat Michael Rössner dieses Translationskonzept umrissen, weiterentwickelt und immer wieder an unterschiedlichen Beispielen aus der italienischen, französischen, spanischen, portugiesischen und hispanoamerikanischen Literatur dokumentiert und präzisiert. Mit dem Artikel Traducción, Translación, translatio, transscriptio … Reflexiones sobre un concepto actual de la discusión en las ciencias culturales23 legte er den Grundstein für die theoretische und begriffliche Definition der kulturellen Übersetzung, die mit der Herausgabe des Bandes Translatio/n. Narration, Media and the Staging of Differences,24 in Zusammenarbeit mit Federico Italiano, auch internationale Resonanz 22 | Vgl. Michael Rössner, Translating War. Zur kulturellen Übersetzung des Weltkriegserlebnisses in die europäische Literatur, in: Brigitte Mazohl (Hg.), Translating War. Der Erste Weltkrieg und seine kulturelle Verarbeitung (= Forschung und Gesellschaft 9), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2016, S. 7–8. 23 | Michael Rössner, Traducción, Translación, translatio, transscriptio … . Reflexiones sobre un concepto actual de la discusión en las ciencias culturales, in: René Ceballos et al. (Hg.), Passagen: Hybridity, Transmédialité, Transculturalidad, Hildesheim: Olms, 2010, S. 33–44. 24 | Federico Italiano/Michael Rössner (Hg.), Translatio/n. Narration, Media and the Staging of Differences, Bielefeld: transcript, 2012.

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erzielte. In seinem darin enthaltenen Artikel präsentiert Rössner eine umfassende Analyse des Translationsbegriffes, die das komplexe Verhältnis zwischen Mimesis und Übersetzung rekonstruiert und dies als epistemologischen Gewinn für die Herausbildung eines neuen Modells der kulturellen Analyse darstellt.25 Translation oder translatio/n ist für Michael Rössner «not only a metaphorical extension of the meaning of linguistic translation to other codes and systems, but a kind of practice, not unlike that which Derrida conceived for deconstruction, a conflictive process of negotiation».26 Betrachtet man Übersetzungsprozesse aus dieser Perspektive, so lassen sich auch fixe Ideen von ›Original‹ oder ›Kopie‹ revidieren. Rössners Verständnis der Translation: […] provides no static roles for an original and a copy, it refrains from ›importing‹ or ›exporting‹ static contents from one context to another. Instead, it takes place in a third space, an ›in-between‹. If we want to return to the traditional metaphors of translation as bridgings and ferrymen, this space would be the »third bank of the river« described by the Brazilian narrator João Guimarães Rosa in his story A Terceira margem do rio. 27

In einem rezenten Aufsatz schrieb Rössner: »Translation ist nötig, wenn Verständnishorizonte (common sense; pouvoir-savoir) voneinander differieren.«28 Aus dieser translatorischen Perspektive lassen sich komplexe übernationale Kulturphänomene wie die Komödie der frühen Neuzeit,29 der Tango30 oder auch die literarische Darstellung des Ersten Weltkrieges31 besser verstehen und präziser analysieren. Dies gilt aber auch für intra-linguale Übersetzungsprozesse, die über mehrere Jahrhunderte den gleichen Stoff adaptieren, modellieren, re-kontextualisieren, d.h. ›übersetzen‹, wie etwa im Falle des mittelalterlichen Epos El Cid, das als »founding narrative« von spanischen und hispanoamerikanischen Identitäts-

25 | Michael Rössner, Translating Translation. On Mimesis, Translatio/n and Metaphor. Some Reflexions on the Boundaries of Cultural Translation and the ›Translational Turn‹, in: ebd., S. 35–50. 26 | Ebd. S. 48. 27 | Ebd. 28 | Rössner 2016, S. 8. 29 | Michael Rössner, Überlappungen und Translationen: Zur Gattung der comedia/sainete/Komödie/Posse im spanischen und österreichischen (aber nicht deutschen) Literatursystem, in: Paul Danler/Christopher F. Laferl/Bernhard Pöll (Hg.), Typen – Klassen – Formen. Methoden und Traditionen der Klassifikation in Spanien und Österreich, Wien/ Münster: LIT 2013, S. 301–315. 30 | Tangowelten. Transmediale Übersetzungen und hybride Identitäten, in: Sabine Zubarik (Hg.), Tango Argentino in der Literatur(wissenschaft), Berlin: Frank und Timme 2014, S. 17–34. 31 | Rössner 2016, S. 7–18.

Vor wor t

konstruktionen immer wieder und immer wieder anders gefasst und behandelt wurde und wird.32 Nachdem auf den vorgehenden Seiten versucht wurde, ein Bild vom Lehrer und Forscher Michael Rössner zu skizzieren, indem sein akademischer Werdegang, seine Lehre und vor allem seine wissenschaftliche Arbeit, gegliedert nach den Schwerpunkten Mythos, Paradies und Translation, beschrieben wurden, sollen nun die Kolleginnen und Kollegen zu Wort kommen, die dankenswerterweise dem Aufruf, an dieser Festschrift mitzuwirken, gefolgt sind. Leider war das – in der Regel wegen Arbeitsüberlastung – nicht allen möglich, die wir angefragt haben. Dass sich aber doch so viele Forscherinnen und Forscher, die in verschiedenen Ländern kulturell geprägt wurden und auch ganz unterschiedlichen Generationen angehören, die Zeit genommen haben, mit einem Artikel zu diesem Band beizutragen, zeigt nicht nur die weit reichende Resonanz von Rössners Œuvre, sondern legt auch Zeugnis ab für die außerordentliche Kraft und Fruchtbarkeit seiner im besten Sinne humanistischen Lehre, für seine akademische Gelehrsamkeit, sein originelles Denken, seine große Aufmerksamkeit für die ihn umgebende Welt und nicht zuletzt für sein kreatives und stets positiv gestimmtes Engagement. Dafür soll ihm mit der vorliegenden Festschrift aus ganzem Herzen gedankt sein! *** Abschließend möchten wir uns bei mehreren Institutionen für die finanzielle Unterstützung bedanken, durch welche die Drucklegung dieses Bandes ermöglicht wurde; wir danken dem Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, dem Institut für Romanische Philologie der Universität München, dem Fachbereich Romanistik und der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Universität Salzburg. Unser Dank gebührt natürlich vor allem den Autorinnen und Autoren, die ihre Artikel rechtzeitig abgegeben und auf unsere Anmerkungen und Änderungsvorschläge so konstruktiv eingegangen sind, um die Kohärenz des Bandes zu gewährleisten. Nicht zuletzt sind wir Doris Pitzer für die Unterstützung bei der Redaktion der Bibliografie, Magdeleine Walger für die Beschaffung einiger Abbildungen, Gerhard Spring für seine exzellente und rasche Arbeit bei der Erstellung des Satzes und dem transcript-Verlag für die Aufnahme dieses Bandes in sein Verlagsprogramm zu großem Dank verpflichtet. 32 | Michael Rössner, Translation/s of Identity-Building Narratives: The Character of «El Cid» in Spanish and Latin American Texts from the 12 th to the 20 th Century, in: Hermann Blume/Christoph Leitgeb/Michael Rössner (Hg.), Narrated Communities – Narrated Realities. Narration as Cognitive Processing and Cultural Practice (= Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 183), Leiden/Boston: Brill/Rodopi, 2015, S. 173–183.

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Das Bindeglied von Mythos und Metamorphose Reflexionen zu einem transformativen Potential Vittoria Borsò

Die für die Pirandello-Forschung bahnbrechende Studie von Michael Rössner1 zeigte anhand dieses paradigmatischen »Mythenstürzers« der Moderne die veränderte Funktion des Mythos. Im Anschluss an das späte 19. Jahrhundert galt der Mythos als fantastische Narration, als Ausdruck von Begehren und, für Pirandellos kritische Betrachtung des Mythos, als eine Halluzination, die die leeren Formeln eines rationalistischen Logos dekuvrieren sollte. Rössner illustriert auch die Transformationsphasen des Mythos in Pirandellos Œuvre: von einer kritischen Haltung zu einer erneuten Hinwendung zum Mythos, der im letzten Zyklus dramatischer Werke (Miti) als Mittel fungiert, letzte Mythenreste zu stürzen.2 Als Form vorlogischen Denkens erfährt der Mythos im 20. Jahrhundert eine Aufwertung. Dies geschieht einerseits im Zuge der vitalistischen Ansätze der Jahrhundertwende, bei denen die biologische Metamorphose des Lebens eine Rolle spielt, die sich im kontinuierlichen Wandeln des Körpers manifestiert. Zum anderen rückt im Existenzialismus der Körper ins Zentrum.3 Und auch bei Pirandello wird der Körper zum Medium der Infragestellung rationalistischer Vernunft:4 von der Spaltung des Subjektes im Frühwerk, etwa Il fu Mattia Pascal, bis hin zu den zersetzenden Kräften des Begehrens im Spätwerk, die besonders im Kontext technologischer Entwicklungen die Form negativer Mythen übernehmen.5 1 | Michael Rössner, Pirandello Mythenstürzer. Fort vom Mythos – Mit Hilfe des Mythos – Hin zum Mythos (= Junge Wiener Romanistik 1), Wien/Graz/Köln: Böhlau, 1980; Ders., Mythos und Magie als poetische Kategorie in einigen Erzählungen von Borges und Cortázar, in: Lateinamerika-Studien 19 (1985), S. 427–445. 2 | Rössner 1980, S, 330–331. 3 | So Rössner mit Bezug auf Gusdorf, ebd., S. 32. 4 | Dieses für Pirandello zentrale Moment führt Rössner mit Bezug auf Kolakowski ein; ebd., S. 48. 5 | Etwa in Bezug auf Quaderni di Serafino Gubbio operatore, vgl. Rössner, ebd., S. 200–201.

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Wenn ich nun im Folgenden die transformatorische Kraft des Mythos in den Zusammenhang mit der Metamorphose bringe, nehme ich gewissermaßen den von Rössners Studie eröffneten Pfad wieder auf, der über die einfache Dualität von mythopoeitischer Leistung des Mythos (als Gegensatz von rationalem Wissen) und mythenkritischer Sicht hinausführt. Im dritten Weg der Verwandlung wohnt dem Mythos eine andere Art von Vernunft inne, die aus dem existentiellen Werden und der metamorphotischen Kraft des Körpers entspringt. Derartige Akzente sind schon in Giambattista Vicos Scienza nuova zu erkennen, worauf Rössner hinweist. Vico adressiert die Bindung des Mythos an einer anderen Art von – gewiss für das 18. Jahrhundert niederer, aber auch reicherer – Vernunft, die körperlich markiert ist und im vorlogischen Zustand der menschlichen Imagination vorhanden war. Es sind die »vaste immaginative di questi primi uomini«, die nicht dem abstraktem Denken entstammten, sondern aus »menti […] tutte seppellite nei corpi«.6 Das materielle und körperliche Werden des Lebens ist demnach das Binde­ glied von Mythos und Metamorphose. So nennt auch Ernst Cassirer den Mythos eine Stufe des Wissens, und zwar »diejenige Begriffssprache, in der sich die Welt des Werdens aussprechen lässt«.7 Metamorphose meint Verwandlung.8 Die enge Verbindung von Mythos und Metamorphose gehört – besonders bei aitiologischen Erzählungen9 – zu den Anfängen des Mythos. Dies gilt in doppelter Hinsicht, als Metamorphose des Mythos und als Mythos der Metamorphose. Ersteres bezieht sie auf die Verwandlung von Mythen im Zuge der Überlieferung; zweites auf dessen Funktion als Welterklärung. Auf beiden Ebenen ist die Metamorphose maßgeblich für das Nachleben von und für die Nähe des Mythos zum konkreten Leben. Auf beides weist auch Hans Blumenberg hin, wenn er die »Arbeit am Mythos« als entscheidend für die ästhetische Bearbeitung im Zuge der Aktualisierung von Mythen bezeichnet. Dabei ist bekanntlich die Arbeit am Mythos dafür verantwortlich, dass die infolge der »Arbeit des Mythos« tendenziell geschlossene, weil auf die Sicherheit des Menschen zentrierte Weltsicht in Frage gestellt wird 10 – etwa durch die ironischen und selbstreflexiven Prozesse literarischer Texte. Während Operationen von Selektion und Formung bei der Arbeit des Mythos die Furcht erregende Unbestimmtheit des Realen eindämmen, so vermag die jeweilige Aktualisierung die 6 | Giambattista Vico, Scienza nuova, III, IV, in: Opere II, hg. von Roberto Parenti, Neapel: Francesco Rossi, 1972, S. 12, zit. nach Rössner, ebd., S. 11. 7 | Ernst Cassirer, Die Philosophie der symbolischen Formen, Bd. II: Das mythische Denken, Berlin: Bruno Cassirer, 1925, S. 5, zit. nach Rössner, ebd., S. 8. 8 | Aus griechisch μετά »inmitten, Veränderung«, und, μορφή »Gestalt«. 9 | So findet sich die Erzählung der Sintflut, die bei Ovid mit der Menschenschöpfung durch Deukalion und Pyrrha in Verbindung steht, nicht nur in der mindestens 400 Jahre älteren Genesis, sondern beispielsweise auch im Gilgamesch-Epos, dessen Erzählungen sich ungefähr auf das zweite vorchristliche Jahrtausend datieren lassen. 10 | Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 151.

Das Bindeglied von Mythos und Metamorphose

Unbestimmtheit und Komplexität des Realen wiederherzustellen. Dafür sind von Anfang an Metamorphosen zuständig, weil diese das im Mythos absolute Sein der Götter mit dem Werden des Menschen verbinden. Wenn wir nun auf das Bindeglied von Mythos und Metamorphosen näher eingehen, so verschieben wir den Blick der Mythosforschung jenseits des Absoluten, nämlich jenseits der Großerzählungen von Götterdynastien und metaphysischer Schöpfung, und wenden uns einem Raum von Verhandlungen zwischen Göttern und Menschen, zwischen Transzendenz und Immanenz zu. In diesem Raum artikuliert sich das unbestimmte Werden des diesseitigen Lebens jenseits der absoluten Zeit zyklischer Wiederkehr eines Seins, durch das sich das Wahrsagen des Mythos äußert. Im Zentrum von Mythos und Metamorphose steht somit die generative Dynamik der Arbeit am Mythos und die Teilhabe an der Materialisierung eines Wissens des Lebens. Dieses Wissen geht weiter als die selegierende und ordnende Arbeit des Mythos als Dispositiv, das zur Stütze großer Erzählungen politischer oder geopolitischer Identitäten werden und Macht über das Leben erlangen kann. So wurden etwa auch in Lateinamerika die auf einem angenommenen Mangel und Kulturverlust basierenden, eurozentrisch gerahmten Identitätsdiskurse übernommen und im Kontext der Literatur des Booms mit Bezug auf den Mythos als das Gegenteil der Vernunft im Sinne einer kompensatorischen Identitätsformel definiert.11 Zu Recht setzt Aleida Assmann die eher im außereuropäischen Raum zu findenden »Kulturen der Verwandlung«, in denen die kategorialen Grenzen des Menschen fließend gedacht werden, von »Kulturen der Identität« ab.12 Metamorphosen, wie etwa solche, die in der europäischen Literatur des Phantastischen im 19. Jahrhundert inszeniert wurden, provozieren das identitätskulturelle System.13 Im Folgenden werde ich – soweit der knappe Rahmen dieses Aufsatzes es ermöglicht – beide Dimensionen aus der Verbindung von Mythos und Metamorphose vertiefen: Die Zeitlichkeit als Werden und die prozessuale Ontologie.

11 | Octavio Paz zählt zu den wichtigsten Vertretern des Mythos als alternativer Logik (El arco y la lira, 1956), die »la nada« (das Nichts) am Ursprung der mexikanischen Kultur (El laberinto de la soledad, 1950) kompensieren soll. Vgl. Vittoria Borsò, Mexiko jenseits der Einsamkeit. Versuch einer interkulturellen Analyse, Frankfurt am Main: Vervuert, 1994. 12 | Aleida Assmann, Kulturen der Identität, Kulturen der Verwandlung, in: Aleida Assmann/Jan Assmann (Hg.), Verwandlungen. Archäologie der literarischen Kommunikation IX, München: Fink, 2006, S. 24–25. 13 | Die Beispiele sind zahlreich: von Guy de Maupassants Le horla (1886) über Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (1890) bis zu Franz Kafkas Verwandlung (1912).

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D as B indeglied von M y thos und M e tamorphose Die Metamorphose führt das Sein des Mythos in das Werden der Überlieferung und in die Zeitlichkeit des Lebens ein. Dies betrifft einmal den Bereich der Arbeit am Mythos, die das Potential des Mythos unendlich werden lässt, ergeben sich doch aus der Re-Kontextualisierung von Mythen auch jeweils andere Aktualisierungsformen. Zum anderen tritt durch Metamorphosen die Zeitlichkeit in den Mythos ein, sodass die Zeit zum Thema des mythischen Konfliktes werden kann. Die ephemere Zeit des metamorphotischen Übergangs bricht mit der Absolutheit ewiger Zeit. Die Metamorphose macht Existenzen, Räume, Gattungen instabil. Die zeitlichen Vektoren, welche die identitäre Politik des Mythos provozieren, mögen in zweierlei Richtung wirken: Die Übergangszeit führt einen Bruch in das mythische Kontinuum ein oder unterbricht die Diskontinuität politischer Mythen durch die Kontinuität des Biologischen – etwa in biologischen Metamorphosen. Der Konflikt zwischen der ewigen Welt der Götter und der kontingenten und endlichen Welt der Menschen gehört zum Beginn des Mythos und wird anhand von Tiermetamorphosen inszeniert und bearbeitet. Die Verbindung von Mythos und Metamorphose ist dabei ontologisch produktiv, wie sich in zahlreichen Mythen aus den 250 Metamorphosen Ovids zeigt, wo Tiermetamorphosen das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz regeln: Götter müssen sich in Tiere verwandeln, um mit den Menschen zu kommunizieren und in eine Liebesbeziehung einzutreten. Der König der Verwandlungen ist selbstverständlich Zeus. Dabei sind derartige Mythen häufig eine Inszenierung von (bio-) politischer Macht – Verwandlungen sind Dispositive göttlicher Macht –, aber auch von Widerstand, der vom Körper der Menschen besonders dann geleistet wird, wenn sich der Gott oder Halbgott des Körpers bemächtigen will. Daphne entzieht sich z.B. dem Zugriff Apolls, Syrinx jenem Pans durch die Transformation des Körpers. Die Metamorphose ist auch der Augenblick von Affekten, von Lust, aber genauso von Trauer wegen des Nicht-Erreichten (Pan), aber auch vom Potential zur Kreativität durch techné. Die Syrinx mutiert in einen Rosenstrauch, aus dem Pan seine Flöte baut. Der Lorbeerbaum, der aus dem Körper der Daphne hervorgeht, wird zum Symbol der Kunst. Widerstand artikuliert sich auch in der Fähigkeit des Körpers, trotz göttlicher Bestrafung mittels der Technik die Produktion fortzusetzen. Noch mehr: Zwar besteht die Bestrafung darin, dass der Körper des Menschen durch die Metamorphose in einer Identität mit dem nicht-humanen Körper verschmilzt, etwa bei Lykaon oder Arachne, was nach der aristotelischen Ordnung einem Abstieg in der Skala der Wesen darstellt, doch kann das bestrafte Opfer auch im Körper des Tiers durch die Identität mit seiner technischen Fertigkeit seine Tätigkeit weiterführen. Und auch hier gilt es, zweierlei zu bedenken: Einmal zeigt die Metamorphose das Walten der Götter im Sinne einer biopolitischen Macht: Götter bestrafen den Hochmut der Menschen durch die Sühne der Verwandlung. So etwa bei Narziss und Echo, die zur schönen Blume und zum Widerhall werden (III, 339–510), bei der Weberin Arachne, die zu einer Spinne wird (IV, 1–145), oder

Das Bindeglied von Mythos und Metamorphose

dem König Lykaon, der als Wolf weiterlebt (I, 209-239). Zum anderen zeigt die Metamorphose aber auch, dass eine Lebensform nicht ist, sondern geworden ist. Die Metamorphose verflüssigt die Differenz zwischen den Formen des Seins. Das »Ist« wird zum »Wird«, die Identität weicht dem Prozess des Lebens, der ein ständiges »anders Werden« bedeutet. Metaphern im Sinne verkürzter Vergleiche verlieren ihre ontologische Basis, nämlich die Differenz zwischen den Gattungen.14 Dass die temporäre Alterität, welche sich durch die tierische Metamorphose des Körpers manifestiert, eine Bedrohung für das abendländische Alteritätsdenken ist, zeigt sich in Mythen von Metamorphosen, die Übergangszustände zwischen Tier und Mensch darstellen. Es ist der schon bei Titus Petronius‘ Satyricon bekannte Mythos der temporären Lycanthropie des Menschen, der zeitweisen Transformation des Mannes in einen Wolf. Die Aktualisierung dieses Mythos im Lai de Bisclavret von Marie de France betont die bedrohliche Funktion der animalischen Alterität des nackten Körpers, ist doch das Ausziehen die Bedingung für die nächtliche Transformation, und das Nicht-Wiederfinden der Kleider die Ursache für die Unmöglichkeit, zur Gestalt des Menschen zurückzufinden. In Umkehrung der Logik göttlicher Bestrafung sind Tier-Metamorphosen in der Ästhetik der Moderne das Medium der Transgression par excellence. Metamorphose ist die Entgrenzung der Differenzen, das Zusammenfließen der »tierischen Bedürfnisse«. Mit der Metamorphose widerspricht Georges Bataille dem Denken der Diskontinuität des Lebens, deren Bedingung die (biopolitische) Differenz zwischen den Spezies ist.15 Transgressiv ist das Begehren deshalb, weil es gegen die rationalistische Logik der Grenzziehungen verstößt und die Kontinuität in einem gemeinsamen Raum des Fließens wieder einführt. Bataille provoziert damit die Normalisierung der Grenzen bei der biopolitischen Verwaltung des Lebens, bei der das Begehren nur hinter bürgerlicher Symbolik dissimuliert wird. Die Ästhetik der Metamorphose unterbricht die Diskontinuität und wirft Licht auf die zerstörerische Wirkung der exkludierenden Ordnung. Sie macht das Ausgeschlossene, das Abjekte sichtbar, das Bataille durch die Heteroglossie in das Leben reintegriert.16 Dabei wird das erbauliche Monument der abendländischen Philosophie und Anthropologie gestürzt.17

14  | Vgl. auch Ernst Schmidt, Verwandlung und Identität in Ovids Metamorphosen, in: Assmann/Assmann, 2006, S. 225–244, hier S. 234. 15 | Georges Bataille, Le Dictionnaire critique, Paris: L’Écarlate, 1993. 16 | Vgl. Vittoria Borsò, Rêve d’une pensée hétérologique. George Bataille am Ursprung ohne Ursprung, in: Christoph Weismüller (Hg.), Kontiguitäten: Texte-Festival für Rudolf Heinz, Wien: Passagen, 1997, S. 49–64, hier S. 52. 17 | Ich beziehe mich auf Denis Holliers Interpretation von Batailles Œuvre als Kampf gegen die Architektur des »hegelianischen Bauwerkes« von abendländischen Werten; vgl. Denis Hollier, La prise de la Concorde suivi de Les dimanches de la vie. Essais sur Georges Bataille, Paris: Gallimard, 1993, S. 31.

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O ntologische und erkenntnistheore tische L eistung von M e tamorphosen in der N euzeit Die Verbindung von Mythos und Metamorphose wirft indes ein differenzierteres Licht auf die abendländische Geschichte. Der humanistische Anthropozentrismus und die materialistische Kosmologie der Renaissance finden im Körper das Gravitationszentrum eines Denkens des Werdens, wobei der Körper die disparaten Dinge des Kosmos einander annähert. Dieses Denken vereint verschiedene Autoren der Renaissance, von Pico della Mirandola zu Pietro Pomponazzi und Giordano Bruno bis hin zu Rabelais.18 In vielen Fällen wird die Metamorphose zum Medium der Imagination von Pluralität. Die Verbindung von Mythos und Metamorphose erweist sich als Raum, in dem das Eine und das Multiple, das Universale und das Singuläre im menschlichen Leben miteinander in Verbindung gebracht werden können. Sie dient dem Versuch, die Inkongruenz von Metaphysik und Realität des Menschen, vom Universellen und Partikulären, vom Makro- und Mikrokosmos zu bearbeiten und der Erfahrung der Krise von Unendlichkeit, Einheit und Zentralität des Denkens Ausdruck zu verleihen. Das Modell, das den Menschen im Zentrum einer Hierarchie von Oben und Unten, Gott/Engel und Tier situiert hatte, wird fragil. Zu fragen wäre deshalb, ob das humanistische Modell nicht schon in den Texten, die es stiften, brüchig ist. Der italienische Philosoph Roberto Esposito macht diese Brüchigkeit im italienischen Quattrocento aus. Eine neue Dynamik habe ins Zentrum des Modells des Mikrokosmos, als »minor mundus«, als Metapher für das große Universum, Brüche hervorgebracht. Im Zentrum steht nicht mehr das Sein, sondern das Werden des Menschen. Der Mensch ist das, was er wird. So ist etwa bei Pico della Mirandola der Mensch ein indiscretae opus imaginis, ein »Werk mit undefiniertem Bild«, d.h. der Beginn einer Form, die der Mensch selbst transformieren kann und soll.19 In diesem Zusammenhang sind Renaissance-Texte ein Archiv der ontologischen und zeitstrukturierenden Dimension der Metamorphose bei der Aktualisierung von Mythen, die dazu dienen, beim Bezug auf das neoplatonische Verhältnis von Makro- und Mikrokosmos den Akzent auf die flexible Natur des Menschen, auf dessen Individualität und auch körperliche Transformation und Diversität zu setzen. Gewiss sind Mythen von Metamorphosen auch bei Petrarca und dem Petrarkismus fundamental, im Folgenden soll jedoch das Potential des Bindeglieds zwischen Mythos und Metamorphose bei Giordano Bruno näher betrachtet werden. Seine Schriften möchte ich mit Bezug auf Deleuze und Guattari 18 | Zur ontologischen Rolle der Metamorphose bei Pico della Mirandola und Bruno vgl. Karine Safa, Antiquité et métamorphose à la Renaissance. Pic de la Mirandole et Giordano Bruno, in: Anabases 8 (2008), S. 127–136. 19 | »Ut tui ipsius quasi arbitrarius honorariusque plastes et fictor in quam malueris tute formam effingas«, Pico della Mirandola, Oratio, S. 102–104, zit. nach Roberto Esposito, Pensiero vivente, Turin: Einaudi, 2010, S. 43–44.

Das Bindeglied von Mythos und Metamorphose

als »littérature mineure«20 bezeichnen, im Sinne eines gewichtigen, heterodoxen Denkens, das einen Widerstand gegen ideologische Zentren leistet, im Verborgenen latent bleibt und in der Geistesgeschichte bei genealogischen Krisen und bestimmten materiellen Anfängen relevant werden kann.21 So hat Brunos materialistische Kosmologie, die auf Philosophen wie Spinoza und Leibniz wirkte, in den letzten Jahrzehnten eine intensive Forschung erlebt. Aus der Fülle möglicher Themen adressieren meine nachfolgenden Überlegungen die Rolle der Metamorphose im Rahmen seiner prozessualen Ontologie, Erkenntnisphilosophie und Ästhetik, was im begrenzten Rahmen dieses Aufsatzes aber nur angedeutet werden kann. Durch die ästhetische Transformation von Mythen äußert sich zum einen Brunos Aufstand gegen den Klassizismus der Spätrenaissance; zum anderen ist sie das ausgesprochene Mittel der Imagination einer komplexen Dynamik, die in Brunos Œuvre selbst verschiedene Stufen erfahren hat. Er geht von der Ablehnung des Aristotelismus als einer Ontologie aus, die isolierte und in sich geschlossene Substanzen voraussetzt. Dies gilt über die Aufhebung des hierarchisch strukturierten Substanzenpluralismus bis hin zu einer als Prozess verstandenen »sustanza nel particolare«, womit Bruno das Prinzip des »omnia ubique« (das Ganze scheint in der Welt wieder) von Cusanus reinterpretiert und in Richtung eines auf Spinoza und Leibniz vorausgreifenden Monismus führt (De la Causa, Principio et Uno).22 Substanz ist bei Bruno eine dynamische Prozessualität, bei der sich das »fare« als Potenz der Form und das »essere fatto« als Potenz der Materie wechselseitig bedingen,23 was den aristotelischen Hylemorphismus brüchig macht und zugleich einen Monismus denkt, in dem im konkreten Einzelnen das Ganze, das absolute Sein Gottes vorhanden und kommuniziert werden kann. Genau der Verfall dieses Vermögens wird in Lo spaccio de la bestia trionfante kritisiert. 1584 in London erschienen, handelt es sich bei dieser dem englischen Reformer Philipp Sidney gewidmeten Schrift um drei philosophische und allegorische Dialoge zwischen Sofia (der Weisheit), dem fiktiven Saulino und Merkur, in der 20 | Vgl. auch Thomas Leinkauf, Giordano Bruno: Denken am Rande – Thesen zu Philosophie und Theologie, in: Recherches de Théologie et Philosophie médiévales 73 (2006) 2, S. 375–397. 21 | Ich beziehe mich auf die Genealogie, die Foucault im Anschluss an Nietzsche formuliert. Michel Foucault, Nietzsche, la généalogie, l’histoire, in: Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Dits et Écrits 1954–1988. Bd. II, Paris: Gallimard, 1994 [1971], S. 136–156. 22 | Darauf hat auch Cassirer hingewiesen; vgl. Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1974 [1923], S. 301. 23 | Form und Materie bedingen sich wechselseitig als »atto sustanzialissimo« (Form) und als »potenza passiva di tutto, potestà di essere fatto«, d.h. als Potenz der Materie (Causa III, Opere italiane di Giordano Bruno, hg. von Giovanni Aquilecchia, Bd. 2, Turin: Einaudi, 2002, S. 262–263).

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römischen Mythologie der Götterbote.24 Das Thema der Dialoge über eine von Jupiter angeordnete Reform der Himmelssphäre, die zum Ziel hat, die alten Laster zugunsten neuer Tugenden aus dem Himmel zu vertreiben, dient Bruno zu einer Polemik gegen die protestantische Reform, die in Brunos Auge den Tiefpunkt einer mit dem Christentum begonnenen Dekadenz darstellt. Diese wird als Verfall der Fähigkeit der Götter zur Metamorphose und zur Vermittlung ihrer Kraft gezeigt. So kann sich Zeus nicht mehr in einen Stier oder in einen Gold­ regen verwandeln, um sich mit Europa bzw. Danaë zu vermählen: Ora non son bestie nelle quali si trasmute […] perchè quel temone che volgeva e dirizzava questa nave de la metamorfosi, è dovenuto sì fiacco, che poco più che nulla può resistere a l’émpeto de l’onde, e forse che l’acqua ancora gli va mancando a basso. La vela è di maniera tale stracciata e sbusata che in vano per ingongiarla il vento soffia. 25

Die Metaphorik des Schiffes für die Metamorphose reiht letztere in die Qualitäten des guten Herrschers ein, der das Schiff als alte Metapher für die Gesellschaft durch die Wirren und Widerstände des Meeres zu führen vermag. Diese Qualität ist die Fähigkeit zur Verwandlung, die einen Übergang zwischen der Zentralität der Macht und der widerständigen Dynamik des materiellen Lebens schafft. Diese kulturelle Technik sei – so Bruno – seit dem Christentum verkommen.26 Dementsprechend argumentiert der Text mit Sofias Worten zugunsten der Deifizierung von Tieren nach dem Modell der ägyptischen Religion, wobei die gegen die Hierarchie der Spezies im Dritten Dialog gerichtete Ironie auch den Ernst einer pantheistischen Vorstellung der Durchdringung aller Entitäten ausdrückt.27 Tatsächlich bezieht sich die Rolle der Metamorphose als Verbindung zwischen der 24 | Zur ästhetischen und erkenntnistheoretischen Funktion von Dialogen in Brunos Œuvre vgl. Henning Hufnagel, Ein Stück von jeder Wissenschaft. Gattungshybridisierung, Argumentation und Erkenntnis in Giordano Brunos italienischen Dialogen, Stuttgart: Franz Steiner, 2009. 25 | Giordano Bruno, Spaccio de la bestia trionfante, hg. von Giovanni Aquilecchia, Florenz: Sansoni, 2008, S. 14. 26 | Bruno ging es nicht um die Reform der katholischen Kirche. Diese hielt er vielmehr für eine Irrlehre, insbesondere wegen der Dreifaltigkeit. Und seine vehemente Kritik galt gleichermaßen der kalvinistischen, anglikanischen, wie lutheranischen Reformation. Luther schätzte Bruno zwar, allerdings nur wegen seiner strategischen Erfolge. 27 | So Bruno im dritten Dialog: »Conchiuse dunque Iside per il Capricorno, che, per aver egli le corna e per esser egli una bestia, ed oltre aver fatti dovenir gli dei cornuti e bestie (il che contiene in sé gran dottrina e giudicio di cose naturali e magiche circa le diverse raggioni con le quali la forma e sustanza divina o s’immerge, o si explica, o si condona per tutti, con tutti e da tutti suggetti), è un dio non solamente celeste, ma, ed oltre, degno di maggiore e meglior piazza che non è questa. E per quello che gli più vili idolatri, anzi gli vilissimi de la Grecia [...]. Gli Egizii, come sanno i sapienti, da queste forme naturali esteriori

Das Bindeglied von Mythos und Metamorphose

Macht der Götter und der materiellen Realität des Einzelwesens auf die wechselseitige Implikation des absoluten Seins Gottes und des wirklich existierenden Seienden vieler Individuen. So sind Gestirne »gewaltige Organismen und erhabene Gottheiten«. Das universelle Prinzip, das die Natur als natura naturans gestaltet, ist die Potentialität der Materie,28 deren inneres Vermögen der universale Intellekt ist – und dies als ein der Materie inhärentes Vermögen zur Selbstgestaltung. Der organizistische Pantheismus Brunos ist auch die Basis für eine polyzentrische Kosmologie mit der Relation zwischen der Unendlichkeit des Weltalls und der unendlichen Anzahl infinitesimaler Welten und intelligenter Lebewesen. Mit seiner Verschiebung des Neoplatonismus in Richtung der dynamischen Substanz des wirklich existierenden Seienden fokussiert Bruno das seit der Antike schwierigste Problem der Philosophie, nämlich das Verhältnis der Teile zum Ganzen. Seine Lösung führt zum Polyzentrismus: Denn jeder Punkt der Welt kann zum Mittelpunkt werden, und umgekehrt sind die unterschiedlichen Perspektiven und die proteische Natur der Welt nichts anderes als der Ausdruck der Unendlichkeit des Einen. Aus diesen Gründen ist das Streben nach Kenntnis des Einen eine kontinuierliche und mühevolle Suche.29 Weil die varietas sich aus der Relationalität der Wesen im Kosmos als Prinzip des organischen und psychischen Lebens ergibt, geschieht das Leben als kontinuierlicher Prozess der Selbstüberschreitung. Dies ist das Schicksal der heroischen Raserei im Begehren des Absoluten bis zur Zerstörung seiner Selbst. Diese Haltung des Subjektes, das der Liebeslyrik seit Petrarca nicht fremd ist, hat bei Giordano Brunos Verarbeitung des Mythos von Aktaions Metamorphose ontologische, ethische und erkenntnistheoretische Akzente. Bruno bezieht sich auf den Aktaion-Mythos, als Aktaion die Göttin Diana unverhüllt erblickt und selbst von seinen eigenen Hunden zerfleischt wird, und verwandelt den an sich schon verstörenden Mythos Ovids (III, 138, 251). Der Jäger Aktaion wird nicht wegen seines Hochmuts bestraft. Vielmehr hat er zufällig Einblick in die Grotte der Göttin erhalten – Ovid bezieht sich direkt auf »fortuna«. Die Rache der Göttin ist dennoch brutal. Denn der Jäger erfährt das Schicksal des Gejagten, der wehrlos der Gewalt seiner Verfolger ausgeliefert wird. Ovid insistiert auf der Selbstwahrnehmung des Verlustes der Sprache als Herrschaft über die Stimme, die zu keiner menschlichen Kommunikation mehr fähig ist, aber umso mehr den Affekt der extremen Ohnmacht erfährt, was Ovid durch Wechseln zwischen interner Fokalisierung und Nullfokalisierung eindringlich inszeniert. Als Mensch abwesend-anwesend legt diese Metamorphose das Dilemma zwischen Vernunft und Affekt offen, das Aristoteles durch die Trennung der Gattungen zu di bestie e piante vive ascendevano e (come mostrano gli lor successi) penetravano alla divinità« (Bruno, 2008, S. 80–81). 28 | So Teofilo im Vierten Dialog, De la causa, 1584. 29 | Die unterschiedlichen Perspektiven und die proteische Natur der Welt ist nichts anderes als der Ausdruck der Unendlichkeit des Einen, weshalb der Mensch in einer kontinuierlichen und mühsamen Suche nach Kenntnis des Einen streben soll.

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lösen glaubte: Im ersten Buch der Politik wird nämlich zwischen Sprache und Stimme unterschieden. Während die Sprache zur vernünftigen Unterscheidung zwischen gut und böse fähig ist und damit die Grundlage des zoon politikón darstellt, kann Stimme lediglich Affekte ausdrücken (Schmerz und Lust). Ist in diesem Sinne die Stimme dem Menschen und den anderen Lebewesen gemeinsam,30 so ist die reflexive Kraft des Logos nur dem menschlichen Bewusstsein eigen. Ovid lässt den Übergang zwischen Sprache und Stimme offen, zeigt nur die psychische Tragik von Übergangssituationen, die keine sauberen Grenzen mehr zwischen beiden Zuständen zulassen. Und darauf schließt Bruno an, um aber die aristotelische Sprach- und Bewusstseinstheorie auf den Kopf zu stellen. Denn Aktaions Metamorphose stellt den Augenblick höchster Erkenntnis dar. Bruno beschreibt diesen Augenblick folgendermaßen: Rarissimi, dico, son gli Atteoni alli quali sia dato dal destino di posser contemplar la Diana ignuda, e dovenir a tale che dalla bella disposizione del corpo della natura invaghiti in tanto, e scorti da que’ doi lumi del gemino splendor de divina bontà e bellezza, vegnano trasformati in cervio, per quanto non siano più cacciatori ma caccia. Perché il fine ultimo e finale di questa venazione è de venire allo acquisto di quella fugace e selvaggia preda, per cui il predator dovegna preda, il cacciator doventi caccia; perché in tutte le altre specie di venaggione che si fa de cose particolari, il cacciatore viene a cattivare a sé l’altre cose, assorbendo quelle con la bocca de l’intelligenza propria; ma in quella divina ed universale viene talmente ad apprendere che resta necessariamente ancora compreso, assorbito, unito. 31

Der Prozess der Erkenntnis wird mit der Metapher des Jagens als Begehren nach der Beute der Wahrheit dargestellt. Mit dem Aktaion-Mythos steht das Erreichen der Erkenntnis jenseits des Willens und der planmäßigen Suche des Subjektes. Die Begegnung mit der Wahrheit erfolgt zufällig, wenn die Schönheit der Natur sich so der Kontemplation anbietet, dass das Subjekt vom Glanz göttlicher Güte und Schönheit ergriffen wird. Das Ergriffen-Sein transformiert das Subjekt vom Handelnden zum Erbeuteten. Brunos Metaphorik wird buchstäblich materialisiert: Einerseits ist das Ergriffen-Sein des Subjekts körperlich; es macht das Subjekt zur Beute. Zum anderen wird mit der Metapher der wahrnehmenden Erkenntnis als körperlicher Aufnahme (»assorbendo quelle con la bocca dell’intelligenza propria«) die Relationalität von sinnlichem Wahrnehmen und geistigem Intellekt ausgedrückt. Aber noch mehr: Erkennen wird als metabolischer Prozess der wechselseitigen Transformation beschrieben. Das aktive Subjekt, welches das Wahrgenommene aufnimmt, wird zum Aufgenommenen; und auch hier ist die 30 | Im ersten Buch der Nikomachischen Ethik weist Aristoteles darauf hin, dass der Mensch mit den Tieren die Fähigkeit zur Empfindung teilt. 31 | Giordano Bruno, De gli eroici furori, in: Giovanni Aquilecchia (Hg.), Dialoghi italiani, Florenz: Sansoni, 21985, S. 85.

Das Bindeglied von Mythos und Metamorphose

sinnlich-körperliche Intensität im italienischen Lexem »assorbire« (aufsaugen) hervorgehoben. Die aus der Mystik bekannte Metaphorik hat in Brunos Erzählung eine spezifische erkenntnistheoretische Komponente. Es ist die Wechselbeziehung vom Sein des Einen und der wirklichen Substanz von jedem einzelnen Seienden. Das empfangende Subjekt überwindet zwar so – wie in der Mystik – die sinnliche Verwirrung der unendlichen Diversität; dem so metamorphisierten Jäger gelingt der Anblick der »Monade«, wobei jedoch der Unterschied zum mystischen Erleben entscheidend ist: Nicht das absolute Licht des Seins wird erblickt, sondern Diana, ihr Bild (»la vede nella sua genitura che gli è simile, che è la sua imagine«). Überdies ist die Diversität in der Monade aufgehoben, welche die »vera essenza de l’essere de tutti« ist, wobei das vom Sein generierte Bild (Diana) ebenso »substantia« ist wie sie selbst. Perchè dalla monade che è la divinitade, procede questa monade que è la natura, l’uni­ verso, il mondo; dove si contempla e specchia, come il sole nella luna, mediante la quale ne illumina trovandosi egli nell’emisfero delle sustanze intellettuali. Questa è la Diana, quello uno che è l’istesso ente, quello ente che è l’istesso vero, quello vero che è la natura compensibile, in cui influisce il sole ed il splendor della natura superiore, secondo che l’unità è destinta nella generata e generante, o producente e prodotta. 32

Diese Bildtheorie, welche die Wahrheit des Bildes aus der Wirklichkeit eines jeden Einzelwesens ableitet, basiert auf der Relationalität und der generativen Dynamik aller Seienden. Die Polarität zwischen außen und innen, aktiv und passiv ist im Augenblick höchster Erkenntnis überwunden, da im höchsten Sein die Hierarchie zwischen Sein und Seiendem aufgehoben ist. Bei dieser immanenten und generativen Ontologie denkt Bruno Erkenntnis in Kategorien von Leidenschaft, Furor und Liebe: Onde il furioso si vanta d’essere preda della Diana, a cui si rese, per cui si stima gradito consorte, e più felice cattivo e suggiogato, che invidiar possa ad altro uomo che non ne può aver ch’altre tanto. 33

Diana ist der Name der Angebeteten in seiner Liebeslyrik. Im flüchtigen Moment höchster Erkenntnis wird der Mensch vom Jäger zum Gejagten und erfährt die Fragilität des Liebenden – eine Vulnerabilität, die in der Vita von Bruno keineswegs nur metaphorisch gewesen ist. Zum anderen wird mit dem Paradigma der Liebe auch das Verhältnis von Erkenntnissubjekt und -objekt umkehrt. Erkennen bedeutet, sich durch die aufgenommenen Dinge verwandeln lassen; es ist Ergriffenwerden von der Kraft der Natur, die zugleich materiell und göttlich, singulär und universell, sinnlich und intelligibel ist. Durch das metabolische Moment, das 32 | Ebd. 33 | Ebd.

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den Austausch zwischen Heterogenem ermöglicht – nämlich Transzendenz und Immanenz, Makro- und Mikrokosmos, das Eine und das Singuläre, Körper und Intellekt –, entfernt sich Brunos Ontologie und Erkenntnistheorie vom Platonismus, auf den zu Beginn der Passage mit dem Höhlengleichnis Bezug genommen wurde. Der Jäger, der das Erkennen der Wahrheit begehrt, wird mit dem Dickicht und der Komplexität materieller Wirklichkeit konfrontiert (»antri cavernosi ricetti, fatti intessuti de spine, conchiusi de boscose, ruvide e frondose piante, dove con le raggioni più degne ed eccellenti maggiormente s’asconde«), und dies ist für Bruno Anlass, die Irrwege der griechischen Erkenntnis-Philosophie zu kommentieren. Nicht der höhere, vom Vermischten abgetrennte unpersönliche Weltgeist (nous), wie bei den Vorsokratikern, die das Niedere (»cosa tanto minima«) übersahen, aber auch nicht die abstrakte Idee, deren Jagd allerlei Artifizien und Klassifizierungen bedarf, damit die körperlosen Dinge überhaupt festgehalten werden können,34 kann das Objekt des Begehrens nach Erkenntnis sein: Qua Platone andava como isvoltando, spastinando e piantando ripari; perchè le specie labili e fugaci rimanessero come nella rete, e trattenute da le siepe de le definizioni, considerando le cose superiori essere participativamente, e secondo similitudine speculare nelle cose inferiori, e queste in quelle secondo maggior dignità ed eccellenza; e la verità essere ne l’une e l’altre secondo certa analogia, ordine e scala, nella quale sempre l’infimo dell’ordine superiore conviene con il supremo de l’ordine inferiore. E cossí si dava progresso da l’infimo della natura al supremo, come dal male al bene, dalle tenebre alla luce, dalla pura potenza al puro atto, per gli mezzi. 35

Bruno differenziert klar die platonische Bildtheorie von seiner eigenen, ist doch das Abbild der Ideen lediglich eine spekuläre Relation und keine Substanz, wobei das Verhältnis der niederen Dinge, die nur eine Widerspiegelung der Idee sind, zwangsläufig eine Hierarchie von Ferne und Nähe zur Wahrheit nach sich bringt, die auch das Gute und Böse, Finsternis und Licht, Potenz und Akt hierarchisch ordnet. Bruno beklagt bei Plato das Erkennen als epistemé, als Wissen der äußeren Formen und als Spaltung zwischen Sein und Schein. So hat für Plato auch das Begehren, das bei Bruno den Erkenntnisprozess in Gang setzt, eine andere Funktion, nämlich den Hiatus zwischen Wahrheit der Ideen und dem Schein des Bildes zu überbrücken und das Phänomenale damit zu retten.36 Angesichts der pla34 | So artikuliert sich die Kritik am Platonismus, ohne dabei eine Präfiguration moderner Ästhetik zu sein. Vgl. zu dieser These Maria Moog-Grünewald, Inverser Platonismus – Zur erkenntnistheoretischen Begründung moderner Ästhetik bei Giordano Bruno, in: Andreas Kablitz/Gerhard Regn (Hg.), Renaissance – Episteme und Agon. Festschrift für Klaus W. Hempfer, Heidelberg: Winter, 2007, S. 221–238. 35 | Bruno 1985, S. 83–84. 36 | Vgl. in Bezug auf Platos Symposium Giorgio Agamben, Gusto, Macerata: Quodlibet, 2015, S. 20.

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tonischen Kritik wird die ontologische Dimension des Bildes als Teilhabe an der Substanz wirklicher Entitäten abermals klar. Deutlich wird auch, dass Brunos immanente und generative Ontologie den platonischen Irrweg der spekulären, d.h. verkennend-reflektierenden Funktion des Bildes vermieden hat, der bis hin zur transgressiven Ästhetik der Moderne die abendländische Diskussion des Schönen bestimmte.37 Bei der aristotelischen Logik als Erkenntnismethode der Wahrheit hat sich der Jäger verlaufen, wie Dante in der »selva oscura«, ohne die Spuren der Schritte erkennen zu können, so Brunos bissige Ironie gegen Aristoteles.38 In Brunos Schöpfungstheorie ist die individuelle Substanz nicht mehr theologisch, sondern kosmologisch, nämlich durch Produktion und ständige Transformation bestimmt. Sie muss mit furore eroico, mit Pathos und Imagination, angestrebt werden, wofür Bruno selbst in Clavis magna beeindruckende Beispiele liefert. Wie dort das Gedächtnis, so steht in De gli eroici furori39 der Affekt in Relation zur Erkenntnis. Wissen ist leidenschaftlicher Furor der Partizipation am Unendlichen. 40 Er weckt die Leidenschaft und damit eine Form von Streben, die körperlich für die von außen kommende, sensible Information offen und daher empfänglich macht. Erst derjenige Mensch ist heroisch, der im Erkenntnisdrang und in der Leidenschaft für das Gute und Schöne von seinem Gegenstand affektiert und überwältigt wird. Subjekt sein heißt für Bruno streben nach dem Anderen und betroffen sein vom Anderen, d.h. fähig sein zur sozialen Relation – auch hier im Vorgriff auf Spinozas Conatus. Der Augenblick höchster Erkenntnis ist mit Affekt verbunden. Denn der Erkennende macht keine Beute aus der Natur; vielmehr wird der Erkennende als Subjekt aus sich hinaus geworfen und durch Verinnerlichung des Anderen verwandelt. Was Ovid als verstörendes Moment des 37 | Die Ästhetik der Moderne hat immer noch eine platonische Grundlage, wenn auch in Form von Kritik dualistischer Weltanschauungen. So definiert Pierre Klossowski das Bild mit Bezug auf den Aktaion-Mythos als simulierende Verdoppelung der Spielmetaphorik; vgl. Pierre Klossowski, Le Bain de Diane, Paris: Gallimard, 1956. Daran schließt auch Foucaults Besprechung des Mythos als literarische Veranschaulichung des Simulacrums und als Gegenentwurf zum christlichen Dualismus an; vgl. Michel Foucault, Die Prosa des Aktaions, in: Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, Bd. I, 1954– 1969, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001 [1964], S. 434–449. 38 | »Qua Aristoteles si vanta pure da le orme e vestigii impressi di posser pervenire alla desiderata preda, mentre da gli effetti vuol amenarsi a le cause; bechè egli per il più (masime che tutti gli altri ch’hanno occupato il studio a questa venazione) abbia smarrito il camino per non saper a pena distinguere de le pedate« (Bruno 1985, S. 85). 39 | Zur spezifischen Poetizität der Eroici furori als partizipatives Analogon zur in ihnen verhandelten (allerdings im Sinne der Moderne verstandenen) Ontologie und Epistemologie vgl. Maria Moog-Grünewald, Giordano Bruno. Die heroischen Leidenschaften, Berlin: Suhrkamp, 2017. 40 | Hartmut Böhme, Giordano Bruno 1548–1600, in: Gernot Böhme (Hg.), Klassiker der Naturphilosophie; München: Beck, 1989, S. 117–136.

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Abwesend-Anwesend-Seins offen gelassen hatte, wird bei Brunos erotisch gedeutetem Erkenntnisakt als schöpferische Transformation inszeniert. Erkenntnis der Natur ist für Bruno nicht Herrschaft über die Natur oder ihre technische Funktionalisierung, sondern vielmehr Verlust der Souveränität des Selbst als Dispositiv der Herrschaft über die Natur. Ein Modell, in dem der Affekt Motor für Erkenntnis ist, ist konträr zum dominanten Modell, von Descartes bis zu Francis Bacon. 41 Erkenntnis ist bei beiden mit Kampf und Unterwerfungsmetaphern beschrieben: Erkennen ist Erleiden der Erkenntnis, ist Schmerz und Lust in einem. In der Idee eines von Leidenschaft ergriffenen Liebhabers der Wahrheit konzentriert sich Brunos Konzept des nicht-kriegerischen Heros. Der Heros bei Bruno öffnet nicht Handlungsfelder kriegerischer Politik. 42

O per ationen von M e tamorphosen Brunos immanente Ontologie ergibt sich aus der Konzeption einer dynamischen Materie, die den aristotelischen Hylemorphismus ins Wanken bringt. 43 Im Dritten Dialog von De la causa kehrt Bruno, u.a. mit Bezug auf Demokrit, das Corpus Hermeticum und die Pythagoreer, die Priorität zwischen Form und Materie, um. Die Formen sind nichts anderes als akzidentelle Dispositionen der Materie;44 die Materie ist dagegen »seminal«; ihre aktiven und passiven Prinzipien sind Quelle der Diversität der Welt, sagt Teofilo in offenem Widerspruch zu Aristoteles. Die Produktivität ist dem lebendigen Prinzip der Materie immanent: Hervorbringen und sich Transformieren, die Merkmale also des Organischen. Stattdessen ist im aristotelischen Dualismus von Form (Geist) und Materie (Körper) die Materie in sich selbst undifferenziert, ein Nichts, und für Aristoteles höchstens eine Potenz ohne Aktion. Bei der schwierigen Frage, wie man Materie definieren sollte, verweist Teofilo auf die Kunst. Der Künstler leitet die Diversität der Formen aus der

41 | Wenn auch schon bei Plato Leidenschaft der Motor der Erkenntnis ist, so ist bei Bruno die Erkenntnis tragisch und lebensgefährlich angesichts der herrschenden Ignoranz, Pedanterie, Dogmatismus und Autoritätenglaubens (vgl. besonders Dialogo della cabala del cavallo pegaseo, London 1585). 42 | Vgl. Böhme 1989. 43 | Hier zeigt sich eine weitere Beziehung zum alchimistischen Hermetismus: nämlich die Deutung der Materie als Mater, Matrix, Genetrix, als mütterliche Gebärkraft, so Hartmut Böhme, der auch die matriachalische Richtung von Brunos Würdigung der Materie kommentiert und auf die naturphilosophische Tradition der dynamischen Materie zurückführt; vgl. ebd. 44 | Giordano Bruno, Dialoghi italiani Causa III, Opere italiane, hg. von Giovanni Aquilecchia, Turin: Einaudi, 2002, S. 678.

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Beschaffenheit des Materials ab. 45 Im vierten Dialog fasst Bruno das Verhältnis von Form und Materie zusammen: Die Materie wird durch das Potential definiert, die Form durch die diferencia specifica. Die Materie trägt die Potenz der Form in sich. Sie ist unendlich und wandlungsfähig. War für Plato die Materie bloß Material für die Abbilder der Ideen, so sind Form und Materie bei Bruno eins, eine Art Verbindung von Stoff und Form. Während für das aristotelisch-thomistische Denken die Materie, weil formlos, zur Erhaltung der Form ein Subjekt braucht (Gott oder den Menschen), hat für Bruno die Materie die Fähigkeit zur Selbst­ organisation. Der Materie wohnt der Universalintellekt inne, 46 der alles geformt hat und als intrinsischer Agent bezeichnet wird, welcher in Brunos Pantheismus dem höchsten Sein entstammt. So ist die Materie die Potenz des Werdens, des Produzierens, ist die Potenz zu machen, herzustellen. Nichts ist der Materie äußerlich, weshalb Gott in der Materie und auch in uns ist. Dieses in der Geschichte des Abendlandes recht extrem heterodoxe Verständnis, das als blasphemisch an den Rand gedrängt wurde, ist eine potentielle Subversion der herrschenden aristotelisch-thomistischen Wissensanordnung seiner Zeit. In De monade, numero et figura (Frankfurt 1591) und De umbris idearum sowie Clavis Magna (Paris 1582) wird eine Zeichen- und Medientheorie entfaltet, die wir heute »performativ« bezeichnen würden. In De monade numero et figura entwickelt Bruno ein materialistisches und performatives Verständnis von Zeichen. Die Verbindung von Zahlen und Figuren bringt den organischen Nexus zwischen Teil und Ganzem hervor. Die Werkzeuge dieser Prozesse sind Buchstaben, Bilder, Siglen und Operationen der Kombinatorik, der Sequenzialisierung, der Kontiguität und der Assemblage, die Bruno in De umbris idearum beeindruckend veranschaulicht. Derartige figurale und dynamische Zeichen und Prozesse bringen nicht nur Erkenntnisse über die Natur, sie generieren diese vielmehr und kooperieren bei ihrer Transformation. Denn, so Bruno in De monade, numerische Beziehungen und geometrische Figuren handeln mit den Dingen und reagieren auf die Dinge. Giordano Brunos prämoderne Epistemologie verdankt diese ›performative‹ – oder prämodern ausgedrückt: ›animistische‹ – Vorstellung dem hermetischen Wissen, das er in die ›moderne Wissenschaft‹ überführt. Ein solch materialistisches Verständnis von Bildern widerspricht dem herrschenden Repräsentationalismus. Es fasst vielmehr die Rolle von Bildern als Handelnde im Sinne einer Mediation – operativen Bild- und Medientheorien nicht unähnlich. In diesem Sinne muss man auch die Rolle der Magie bei Bruno verstehen, nämlich als Fähigkeit, mit Kraft zu handeln, etwa Relationen herzustellen, Mediationen von der Multiplizität zur Einheit und umgekehrt zu ermöglichen, und als Vermögen, Pro-

45 | Die Nähe zum New Materialism ist hier evident, etwa in den Thesen von Tim Ingold zur Agentialität des Materials. 46 | Wenn die Materie Potentialität ist, so ist der Intellekt der Artefix. Giordano Bruno, Causa II, Opere italiane, hg. von Giovanni Aquilecchia, Turin: Einaudi, 2002, S. 653–654.

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zesse der Multiplizität herbeizuführen. 47 Brunos Zeichentheorie ist insoweit magisch im Sinne von performativ; es hat wenig mit der schwarzen Magie zu tun, die ihm u.a. das Leben gekostet hat. De umbris idearum und Clavis Magna sind eine mise en œuvre der in De monade entwickelten materialistischen Zeichentheorie. Auch dies bleibt zu untersuchen, wurden doch diese Werke infolge der einflussreichen Interpretation von Frances Yates lediglich als Ars reminiscendi (The Art of Memory, 1966) gesehen und deshalb verkannt. Als Schülerin von Aby Warburg hatte Yates nach dessen Tod seine Bruno­ Rezeption gründlich missverstanden. In De umbris idearum ist der Warburg beeindruckende Pathos der Bilder von mythologischen oder heroischen Figuren tatsächlich einer der wichtigsten Akteure in der Produktion von Gedächtnis. Für Bruno sind »Affekte die Tür zum Gedächtnis« (III, VI, 228) – heute eines der zentralen Elemente der Gedächtnistheorie und eine in literarischen Werken wie der Recherche von Proust erprobte These. Yates verdanken wir indes die Rekon­ struktion des Bilds von Brunos dynamisiertem Rad, das auf Raimundus Lullus zurückgeht. Im ersten Ring sind die Ziffern platziert, welche die Akteure entsprechend mythologischer Figuren der Antike bezeichnen. Im zweiten Ring sind dagegen die potentiellen Handlungen oder Szenen dargestellt, die mit den Akteuren assoziiert werden. Wenn man den ersten inneren Ring rotieren lässt, so können unendliche Ziffern-Kombinationen produziert werden, die animiert sind und die Attribute oder Aktionen bekannter mythologischer Figuren zusammenmischen. Beim Rotieren aller anderen Ringe stehen die Mythen in ständiger Metamorphose. Die Produktion von Bildern und ihre Kombinatorik ist eine mise en œuvre der generativen Ontologie, welche die neoplatonischen Grundlagen in eine immanente, operative Dimension verlegt. Im 6. Fragment des 1. Teils fragt Bruno nach der Rolle der Kunst. Kunst sei Mediation der Potentialität der Materie, der Kraft, die aus der Materie und ihrer Verkörperung in Zeichen und Bildern entsteht. 48 Wollten wir meinen, dass Kunst eine der Materie externe spirituelle Essenz ist oder eine Energie, die erst die Materie durchdringen muss (Fragment IV), so wäre dies besonders weit entfernt von unserer Absicht, ergänzt er. 49 Bruno beginnt mit einer Definition der Urmaterie, des »primum subiectum«:

47 | De magia/de vinculis in genere, 1586–1591, erstmals 1891 in Florenz erschienen. 48 | So ist Gedächtnis nicht eine »vis« des Intellekts, sondern eine Kraft, die von der Materie kommt. 49 | Im zweiten Teil stellt nun Bruno seine prozessuale Ontologie dar: »Il primo subiectum, dunque, è uno spazio artificiale, ovvero un grembo posto nella facoltà fantastica, disseminato di specie di ricettacoli sfocianti dalle finestre dell’anima.« Vgl. Fabio Ferrucci, L’arte della memoria di Giordano Bruno. Il trattato »De umbris idearum« rivisto dal noto esperto di scienza della memoria, hg. von Gianni Golfera, Mailand: Anima, 2014, S, 179–279, hier S. 190. »Das Universum (primum subiectum/erster Raum) ist ein artifizieller Raum, eine im Vermögen der Imagination liegende viszerale Höhle, die nicht leer, sondern mit Nestern

Das Bindeglied von Mythos und Metamorphose [I]l primo subiectum, secondo i principi della Clavis Magna, è un caos fantastico così malleabile che mentre l’immaginazione raccoglie con precisione le cose viste e udite, può procedere in tale ordine di immagini da poter mostrare continuamente senza il minimo problema, nei suoi elementi principali e fino alle ultime parti […]. Ugualmente tale caos sembra essere come una nube mossa dai venti che, a seconda dei tipi diversi di spinta, può assumere tutte le infinite configurazioni di aspetto.

Die Metaphorik dieser prominenten Passage zeigt das, was Warburg mit »Denken in Bildern« meinte: Die erste Materie ist ein unbestimmtes Chaos von Potentialitäten50, vorstellbar mit Hilfe des Bildes einer Wolke, die von Winden bewegt wird, sodass sie sich in Abhängigkeit von verschiedenen Weisen des Handelns mit einer unendlichen Zahl von Konfigurationen aktualisieren kann. Im weiteren Teil des Buchs werden die unterschiedlichen Mediationen der verschiedenen Existenzmodi demonstriert, wobei Kombinatorik und Assemblage sinnliche Erfahrungen, Farbe, Geschmack oder Geruch51 und damit Sinnlichkeiten, Affekte und Emotionen produzieren. Die Multiplizität der Natur ist dabei besonders hoch – dies wird an verschiedenen Stellen betont.52 Der Vollständigkeit halber sei betont, dass nur der dritte Teil des Buchs eine Ars memoriae darstellt. Hier ist das scrutinium am Werk, das Schaffen der Ordo zur Sicherung des Gedächtnisses. Aber dies verlangt gerade die Arretierung der bisher beobachteten Dynamik. An deren Stelle sind Selektion sowie Reduktion von Kontingenzen und Multiplizität am Werk. Dies und nur dies ist die eigentliche ars memorandi. *** Anhand der Verbindung von Mythos und Metamorphose konnten wir aus der in den letzten Jahren stärker bearbeiteten Vielfalt von Themen in Brunos Œuvre die schöpferische Dimension der Metamorphose im Sinne von a) einer medialen Operation zur Schöpfung von Diversität und b) die Umkehrung der Metamorphose Mensch-Tier mit den entsprechenden ethischen, anthropologischen bzw. ökologischen Konsequenzen besprechen, die mit dem anthropozentrischen Weltbild der historischen Mythen der Renaissance brechen. Vernunft ist bei Bruno in der gesamten Natur – beim Schöpfer ebenso wie bei dessen Kreaturen. Dabei sind oder Sammelbecken übersät ist, die in die Fenster der Seele einmünden.« (Übers. V.B.). Dieses Bild ist antiplatonisch, versteht doch Plato die »chora«, die Urmaterie, als leer. 50 | Wie in De Causa erarbeitet, ist dies eine epikuräische Reminiszenz. Materie ist die einzige Substanz, während die Form nur eine Konsequenz ist. 51 | Ferrucci 2014, S. 213. 52 | In der Kombinatorik zeigt sich Brunos differenzierte Konzeption der Operationen des Bildens: »[I]l senso esterno concerne i corpi, la phantasia le immagini dei corpi, l’imaginatio le singole intentiones delle immagini, l’intellectus le essenze comuni e le rationes completamente incorporee delle signole intentiones« (Ferrucci 2014, S. 211).

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Intelligenzen so vielfältig, wie es Individuen gibt, denn die spezifische Art der Seele ist für Bruno abhängig von der jeweiligen körperlichen Gestalt, Technik und Lebensweise. Die Entwicklung von Geist und Seele – heute würden wir ›Gehirn‹ sagen – ist also vom Körper abhängig. Zwar haben nach Bruno die Tiere mehr Geistes- und Verstandeskraft,53 ihnen fehlt jedoch das körperliche Werkzeug, das den Menschen durch Technik zum Herrscher der Welt gemacht hat, nämlich die Hände.54 Das Erkenntnisvermögen, eine Wirkung innerer Sinne, ist in Tieren wie in Menschen gleich; menschliche Seelen sind nicht wesensmäßig von den Seelen anderer Tiere verschieden.55 Die Konsequenz dieser materialistischen und umwelttheoretischen Thesen ist ethisch. Die sich daraus ergebende Kritik des Anthropozentrismus entspricht nicht nur den heutigen neurowissenschaftlichen Befunden – sie ist heute mehr und mehr biopolitisch notwendig.56

53 | Vgl. Dialogo della Cabala del cavallo pegaseo. 54 | Die Zehnheit ist nach Bruno die periodische Zahl, die sich auf die Spezies des Menschen bezieht; vgl. Sabine Müller, Giordano Bruno und die Evolutionäre Erkenntnistheorie, in: Gertrude Cepl-Kaufmann/Dominik Groß/Gereon Schäfer (Hg.), Die Konstruktion von Wissenschaft. Beiträge zur Medizin-, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, Kassel: kassel university press, 2008, S. 29–50, hier S. 38. Müller geht auf die Kongruenz von Brunos These der Abhängigkeit des Denkens vom Körper mit den heutigen Ergebnissen der Neurowissenschaften ein. 55 | Dialog zwischen Sebasto und Onorio (1585), zit. nach Müller 2008, S. 37. 56 | Bruno selbst zieht ethische Konsequenzen, etwa, wenn er sich gegen das Töten von Tieren ausspricht und den Jagd-Kult des Renaissance-Adels kritisiert.

Schöne Nymphen Horst Weich

Die romanische Liebeslyrik der Renaissance ist keine romantische Ich-Aussprache. Sie gibt keinem individuellen, spontanen Gefühlsausbruch Ausdruck, sondern sie versteht sich als kunstvolles Spiel mit Konventionen im Rahmen einer elitären Kommunikation von Gebildeten mit Gebildeten. Dieses Spiel betrifft sowohl – auf der Inhaltsebene – die Konzeption der Liebe als auch – auf der Ebene der Vermittlung – ihre poetische Umsetzung und gar metapoetische Reflexion. Eingebunden ist es in einen Prozess transnationaler Rezeption und Aneignung des als vorbildlich erachteten Fremden mit dem Anspruch, nicht nur die Ebenbürtigkeit der eigenen Sprache und Kultur unter Beweis zu stellen (imitatio), sondern gar, im spielerischen dichterischen Wettstreit (aemulatio), deren Überlegenheit zu demonstrieren (superatio). Diese bereits die Antike kennzeichnende translatio studii, die in der Renaissance erneut an Aktualität gewinnt und ihren Ausgang in Italien nimmt, geht politisch einher mit der translatio imperii.1 Für die Iberische Halbinsel bedeutet dies einen mehrfach gestuften Prozess kreativer Rezeption. So wie sich die römische Kultur über die Aneignung der griechischen fundierte und die italienische über deren beider Aneignung, so fundiert sich die volkssprachliche – kastilische und portugiesische – Lyrik der Frühen Neuzeit in der Nachahmung und Überbietung sowohl der klassischen Antike als auch der modernen italienischen Literatur. Die nationale Aneignung steht dabei immer auch im Dienst eines nation building, der Wiedergeburt, Aufhebung und Überbietung des imperium romanum im Imperium Karls V. bzw. im Weltreich der portugiesischen Seefahrernation. Garcilaso de la Vega und Luís Vaz de Camões sind diejenigen prototypischen Figuren, die mit ihrer dichterischen Produktion (letras), aber auch mit Waffentaten (armas) diesen Prozess maßgeblich mitbestimmen. Die hier vorangestellten Überlegungen sind alles andere als neu, vielmehr Gemeingut literarhistorischer Reflexion. Es geht im Folgenden auch nicht darum, 1 | Vgl. hierzu etwa Stephan Leopold, Die Erotik der Petrarkisten. Poetik, Körperlichkeit und Subjektivität in romanischer Lyrik Früher Neuzeit, München: Fink, 2009, S. 9–24.

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neue Vorschläge zu machen, sondern darum, an einem kanonischen spanischen und einem etwas weniger bekannten portugiesischen Beispiel diesen mehrfach gestuften Prozess produktiver Rezeption – Michael Rössner würde von »kultureller Übersetzung« sprechen – einmal mehr exemplarisch vor Augen zu führen. Es ergeht die Einladung zum Eintauchen in die mythische Welt der Nymphen und hierbei, dies ist nicht unwichtig, näherhin der Spezies der Flussnymphen, der Najaden. Diese erfahren eine Übersetzung im doppelten Wortsinn: Sie werden übersetzt vom Lateinischen ins Italienische, Kastilische und Portugiesische, und sie setzen über von der Sorgue an den Tajo und den Tejo.

D ie L iebe Die weltliche Liebesdichtung der Renaissance ist bekanntlich Liebesdichtung von Dichtern, die nicht verliebt sind. Als Diskurstypenspieler2 inszenieren sie sich vielmehr als geschickte Rhetoriker, die mit den zuhandenen Konzeptionen der Liebe virtuos ihr poetisches Spiel zu treiben vermögen. Derer sind vornehmlich drei, wie sie bereits Marsilio Ficino 1469 in seiner maßgeblichen Liebesbibel De amore konturiert hat3 und wie sie in der Folge nicht nur theoretisch von den zahlreichen Traktaten über die Liebe4 und etwa Castigliones Cortegiano 5 durchdekliniert, sondern vor allem auch in der poetischen Praxis selbst immer wieder in Szene gesetzt wurden. Auf der Iberischen Halbinsel hat die drei Stufen der Liebe Fernando de Herrera in seinem Kommentar zu Garcilasos Sonett VII unter dem Lemma »amor« prägnant zusammengefasst:6 Die mittlere Stufe bildet der amor honesto, der der petrarkistischen Liebeskonzeption entspricht. Die obere und edelste bildet der amor contemplativo: der Blick richtet sich auf die Transzendenz, das ewig Wahre, Gute und Schöne, und sie entspricht dem Neuplatonismus. Die niederste hingegen, bei der der Blick nach unten auf die Körpermitte wandert und

2 | Diesen glücklichen Begriff hat, wenngleich in Bezug auf Shakespeare, geprägt Klaus W. Hempfer, Shakespeares Sonnets: Inszenierte Alterität als Diskurstypenspiel, in: Dieter Mehl/Wolfgang Weiß (Hg.), Shakespeares Sonette in europäischen Perspektiven. Ein Symposium, Münster/Hamburg: Lit Verlag, 1993, S. 168–205. 3 | Marsilio Ficino, Über die Liebe oder Platons Gastmahl, übers. von Karl Paul Hasse, hg. von Paul Richard Blum, Hamburg: Meiner, 21984, bes. S. 216–221. 4 | Vgl. etwa Pietro Bembo, Gli Asolani, hg. von Giorgio Dilemmi, Florenz: Accademia del­ la Crusca, 1991; León Hebreo, Diálogos de amor, hg. von Andrés Soria Olmedo, Madrid: Tecnos, 1986. 5 | Baltasar de Castiglione, El cortesano, übers. von Juan Boscán, hg. von Teresa Suero Roca, Barcelona: Bruguera, 1972. 6 | Fernando de Herrera, Anotaciones a la poesía de Garcilaso, hg. von Inoria Pepe/José María Reyes, Madrid: Cátedra, 2001, S. 318–327.

Schöne Nymphen

vom »desseo de tocar«7 getrieben ist, bildet den amor lascivo und entspricht einer hedonistischen Liebeskonzeption. Für die Liebeslyrik der Zeit gilt als Norm, dass der amor lascivo schicklicherweise ausgeblendet werden muss. 8 In Bezug auf Garcilasos berühmtes Sonett XI hat die Forschung neuerdings herausgearbeitet, dass hier im Gewand eines petrarkistischen amor honesto punktuell ein indezenter Flirt mit lasziven Gelüsten betrieben wird, der von Anbeginn an durch das Codewort »ninfas« ins Spiel kommt, das im Argot der Zeit ein gängiger Euphemismus für ›Huren‹ ist; die exzessiv vergossene Körperflüssigkeit der »lácrimas« konnotiere zudem eine »eyaculación«.9 Gegenüber dieser heterodoxen Umakzentuierung petrarkistischer Liebesrede, die sicherlich nicht von der Hand zu weisen ist und einmal mehr Garcilasos raffiniertes Spiel mit den Liebesdiskursen seiner Zeit beweist,10 möchte ich doch eine orthodoxe Lektüre stark machen, die mir noch nicht gesehen worden scheint und die in der raffinierten Überbietung petrarkistischer Liebesklage durch Omission gipfelt. 4

Hermosas ninfas, que en el rio metidas, contentas habitáis en las moradas de relucientes piedras fabricadas y en columnas de vidrio sostenidas,

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agora estéis labrando embebescidas o tejendo las telas delicadas, agora unas con otras apartadas contándoos los amores y las vidas:

dejad un rato la labor, alzando vuestras rubias cabezas a mirarme, 11 y no os detendréis mucho según ando, que o no podréis de lástima escucharme, o convertido en agua aquí llorando, 14 podréis allá despacio consolarme.11

7 | Ebd, S. 322. 8 | Zur Kompatibilität von neuplatonischer und petrarkistischer Liebeslyrik und der dabei geforderten Abgrenzung zum lasziven Liebesdiskurs vgl. Gerhard Regn, Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik und die petrarkistische Tradition. Studien zur Parte prima der Rime (1591/1592), Tübingen: Narr, 1987, bes. S. 36–52. 9 | Ignacio Navarrete, Los huérfanos de Petrarca. Poesía y teoría en la España renacentista, übers. von Antonio Cortijo Ocaña, Madrid: Gredos, 1997, S. 133–135. 10 | Vgl. hierzu einlässlich Leopold 2009, S. 133–162. 11 | Garcilaso de la Vega, Obra poética y textos en prosa, hg. von Bienvenido Morros, Barcelona: Crítica, 1995, S. 26.

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Auffällig ist, dass das Gedicht im Vorfeld einer Rede stecken bleibt; es ergeht und erschöpft sich in Exordialtopik. Kern ist die an den Anfang des Sextetts gesetzte captatio benevolentiae, die Bitte um Aufmerksamkeit: Die Nymphen mögen einen Moment in ihren Tätigkeiten innehalten und ihren Blick auf den Sprecher richten (Z. 9–10). Eingeleitet wird die Bitte durch die preisende Anrede an die Nymphen (Z. 1) und eine ausgedehnte schmeichelnde Lobrede (die gesamte Oktave), mit der die Adressatinnen bereits geneigt gestimmt werden sollen. Der Bitte wird insofern Nachdruck verliehen, als beschwichtigend begründet wird, dass die Unterbrechung nur von kurzer Dauer sein wird (Z. 11). Denn entweder würden die Nymphen sich vor Leid rasch abwenden oder aber der Tränenstrom würde den Sprecher in Wasser verwandeln, wonach sie ihn in aller Ruhe in ihrem Reich trösten können. Das Schlussdistichon, das überaus gelehrt auf einen entlegenen Mythos anspielt – die Verwandlung der unglücklich Liebenden Byblis in den Metamorphosen des Ovid (Najaden fangen ihre Tränen auf und sie wird zur Quelle12) –, ist deutlich von Hyperbolik geprägt, also einer Steigerung über die Glaubwürdigkeit hinaus, und betont damit das exzessive Leid des Sprechers. Dieses bildet auch, in »según ando« (Z. 11) versteckt und zugleich deutlich hervorgehoben durch das metrische Skandalon des unmittelbaren Aufeinandertreffens zweier betonter Silben, die propositio der Rede, also den Gegenstand des Gedichts. Doch dieser – der estado des Sprechers – wird nicht weiter narrativ oder argumentativ ausgeführt und entfaltet, wie etwa in Garcilasos Sonett I, sondern in dieser knappen Benennung lediglich evoziert. Aufgerufen ist hier natürlich die petrarkistische Konzeption einer Schmerzliebe, die dem Sprecher insofern Leid beschert, als das Begehren stets abgewiesen wird, aber zugleich auch Freude, insofern sich der unglücklich Liebende masochistisch an seinem Leid weidet in der typisch oxymoralen Verfassung der dolendi voluptas.13 Die Überbietung topischer Liebesklage leistet Garcilaso hier raffiniert durch Unterbietung im scheinbar beiläufigen understatement des »según ando« und durch die Omission der die Klage substantiierenden argumenta. Herausgestrichen wird aber gerade dadurch die Unermesslichkeit des Leids. In typischer Doppelstrategie petrarkistischer Dichtung ist das manifeste Lob der Nymphen letztlich nur Vorwand für die Selbst­ inszenierung des Sprechers und sein latentes Eigenlob nicht nur als übermenschlich Leidender und unverbrüchlich petrarkistisch Liebender, sondern gerade auch als rhetorisch versierter Liebesdichter.

12 | »sic lacrimis consumpta suis Phoebeïa Byblis/ vertitur in fontem« (»so ist Byblis, die phoebusentstammte, verzehrt in den eignen/ Tränen geworden zur Quelle«); Publius Ovidius Naso, Metamorphosen. In deutsche Hexameter übertragen und herausgegeben von Erich Rösch. Mit einer Einführung von Niklas Holzberg, München/Zürich: Artemis, 111988, IX, 663f., S. 352–353. 13 | Vgl. Regn 1987, S. 26–32.

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D ichterische A neignung Der Meister Petrarca wird zudem gleich im Auftakt zitiert, wie Fernando de Herrera in seinem gelehrten Kommentar vermerkt; die im Sonett »Amor che meco al buon tempo ti stavi« (Canzoniere 303)14 angesprochenen Nymphen (»o nimphe«, Z. 10) kehren als »Hermosas ninfas« wieder.15 Doch im Zitat zeigt sich sogleich die Doppelstrategie der Untererfüllung einerseits und der amplificatio andererseits. Denn die bei Petrarca nicht näher spezifizierten Nymphen sind dort nur eine einer ganzen Reihe von Naturinstanzen, die vom Sprecher als Adressaten seiner Klage über den Tod der Laura angesprochen werden; neben »fior, frondi, herbe, ombre, antri, onde, aure soavi,/ valli chiuse, alti colli et piagge apriche« (Z. 5–6) sind es auch Vögel und Fische: »o vaghi habitator’ de’ verdi boschi,/ o nimphe, et voi che ’l fresco herboso fondo/ del liquido cristallo alberga et pasce« (Z. 9–11). Die hier im Rahmen einer ausufernden enumeratio eher beiläufig gesetzten Nymphen setzt Garcilaso ins Zentrum, stattet sie reich aus und demon­ striert damit seine Gelehrtheit, denn in ihrer lobenden Beschreibung zitiert er, wie die belesenen Kommentatoren der Zeit, El Brocense16 und Herrera, aber auch der moderne Herausgeber Bienvenido Morros bescheiden, vor allem die Georgica des Vergil sowie die Arcadia des Sannazaro. Die dichterische Überbietung Petrarcas liegt somit in der auftrumpfend ausgespielten Aneignung der antiken Klassiker Ovid und Vergil, des modernen Klassikers bukolischer Liebesdichtung Sannazaro sowie – und darin liegt die Bedeutung der Betonung der Flussnymphen – deren aller ›Translation‹, Heimholung in die eigene, nationale Gegenwart. Zwar wird hier nicht spezifiziert, um welchen »rio« (Z. 1) es sich handelt (der übrigens durch die metrische Lizenz der Synärese, wiederum in einem Gestus des understatement, zusätzlich klein gemacht wird), doch Kenner Garcilasos sehen sich sofort verwiesen auf die vier schönen Najaden Filódoce, Dinámene, Climene und Nise aus der Écloga III, die »[c]erca del Tajo« emsig dem Weben ihrer Wandteppiche mit mythologischen Motiven nachgehen.17 Garcilaso übersetzt mithin die lateinischen und italienischen Vorbilder in das Kastilische und ›verwebt‹ sie ingeniös zum Sonett;18 zugleich setzt er die Nymphen über, und zwar an und in den

14 | Francesco Petrarca, Canzoniere, hg. von Marco Santagata, Mailand: Mondadori, 5 2001, S. 1173. 15 | Herrera 2001, S. 351. 16 | Antonio Gallego Morell, Garcilaso de la Vega y sus comentaristas. Obras completas del poeta acompañadas de los textos íntegros de los comentarios de El Brocense, Fernando de Herrera, Tamayo de Vargas y Azara, Madrid: Gredos, 21972, S. 268. 17 | Garcilaso 1995, S. 226–237, Z. 57–272. 18 | Zum Weben als Textmetapher vgl. grundsätzlich Erika Greber, Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2002.

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kastilischen Nationalstrom par excellence.19 Garcilaso, der Hocharistokrat, der in Kriegsdiensten Kaiser Karls V. den frühen Tod finden wird, inszeniert sich somit nicht nur als príncipe de los poetas in Liebesdingen und deren mustergültiger Versprachlichung, sondern zudem als den Nationaldichter schlechthin.

»M or ador as gentis « Dies nimmt der portugiesische Nationaldichter Luís Vaz de Camões auf und führt es in spezifisch lusitanischer Umakzentuierung fort. 4

Moradoras gentis e delicadas do claro e áureo Tejo, que metidas estais em suas grutas escondidas, e com doce repouso sossegadas:

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agora estais de amores inflamadas, nos cristalinos paços entretidas; agora no exercício embevecidas das telas de ouro puro matizadas.

Movei dos lindos rostros a luz pura de vossos olhos belos, consentindo 11 que lágrimas derramem de tristura. E assi, com dor mais própria, ireis ouvindo as queixas que derramo da Ventura, 14 que com penas de amor me vai seguindo. 20

Die Zuschreibung des Gedichts ist umstritten. Wie die Herausgeberin Maria de Lurdes Saraiva anmerkt, wurde es erst 1668 erstmals durch Álvares da Cunha publiziert, und der moderne Spezialist Álvaro J. da Costa Pimpão etwa nimmt es in seine Ausgabe der Rimas nicht auf. Die Analyse wird jedoch zeigen, dass es durchaus würdig ist, dem engenho des Camões zugerechnet zu werden. Das Sonett bekundet seine Hommage an Garcilaso durch auffällig gesetzte Imitatio-Signale. Diese betreffen die Metrik, die rhetorisch-syntaktische wie auch die pragmatische Strukturierung. Wie es schon im mittelalterlichen Dichterwett19 | Vgl. hierzu etwa die Profecía del Tajo des Fray Luis de León, wo der Fluss in einer berühmten Prosopopöie die nationale Katastrophe der Conquista weissagt; Fray Luis de León, Poesías completas, hg. von Cristóbal Cuevas, Madrid: Castalia, 2000, S. 113–117. 20 | Luís de Camões, Lírica Completa, Bd. 2: Sonetos, hg. von Maria de Lurdes Saraiva, Lissabon: Imprensa Nacional – Casa da Moeda, 21986, S. 90.

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streit der tenso üblich war, übernimmt Camões die Reimstruktur abba abba cdcdcd; allerdings invertiert er in der Oktave: Der a-Reim wird bei ihm zum b-Reim, b hingegen zu a, deutlich herausgestellt durch das im Auftakt gesetzte wörtliche Zitat »metidas« (Camões Z. 2, Garcilaso Z. 1), dem später noch das Zitat »embevecidas« folgt (Camões Z. 7, Garcilaso Z. 5), sowie durch »delicadas« (Camões Z. 6, Garcilaso Z. 1). Die Nähe wird zudem durch die anaphorisch angezeigte Parallelführung im zweiten Quartett (»agora« – »agora«) in absoluter Positionsäquivalenz (Z. 5/7) markiert. Damit sind allein schon über die formale Gestaltung das Grundprinzip der Traditionsbindung und der Anspruch der eigenständigen Variation und Überbietung formuliert. Das Sextett wahrt zwar die Reimstruktur, die Füllung der Reime ist hingegen gänzlich anders. Es ist mithin davon auszugehen, dass Camões vor allem hier zeigt, was er und seine portugiesische Muttersprache zu leisten vermögen. Um es vorweg zu sagen: Er überbietet Garcilaso mit Petrarca zum Frommen Portugals. Die Oktave folgt weithin Garcilaso, allerdings mit gewissen Modifikationen. Die initiale preisende Anrede bleibt, jedoch ersetzt Camões das vielleicht tatsächlich etwas krude »ninfas« durch die höfliche Periphrase »moradoras gentis« (Z. 1), wodurch die möglicherweise anrüchigen Nymphen zu edlen Hofdamen nobilitiert werden, die somit auch zu Recht in »cristalinos paços« (Z. 6) ihren Liebschaften nachgehen.21 Deren Verortung präzisiert Camões sogleich, auch hier mit der metrischen Lizenz der Synärese:22 Sie befinden sich im »claro e áureo Tejo« (Z. 2), damit also in exakter geographischer Kontinuität und Fortführung Garcilasos im nunmehr portugiesischen Nationalfluss par excellence. Die figura etymologica »áureo« (Z. 2) – »ouro« (Z. 8) deutet dabei näherhin auf Garcilaso, denn in Kastilien wie in Portugal ging die bereits in der Antike topische Fama, dass der Tajo/Tejo Gold führt, und in der Écloga III weben die Nymphen daher auch mit aus ihm gewonnenen Goldfäden: »Las telas eran hechas y tejidas/ del oro que’l felice Tajo envía.«23 Das Sextett setzt gleichfalls mit der Bitte ein; diese richtet sich allerdings nicht darauf, die Arbeit kurz ruhen zu lassen und den Sprecher anzublicken, sondern darauf, dass ihre Augen (die bei Garcilaso bezeichnenderweise keine Entsprechung haben) bereitwillig Tränen vergießen mögen. Gänzlich anders ist das zweite 21 | Wie die berühmte Écloga dos Faunos (»As doces cantilenas que cantavam«) bezeugt, sind die Nymphen bei Camões überaus keusch. Unbeeindruckt von den rhetorischen Überredungskünsten der lüsternen Satyrn, die sie heimlich beim Baden beobachten, ihnen nachstellen und sie zum Verweilen einladen, laufen sie fliehend davon. Luís de Camões, Lírica Completa, Bd. 3, hg. von Maria de Lurdes Saraiva, Lissabon: Imprensa Nacional – Casa da Moeda, 1981, S. 303–324. 22 | Das dreisilbige Adjektiv »áureo« muss zu zwei Silben zusammengezogen werden, damit der Zehnsilber nicht hypermetrisch und die Akzentstruktur 2-2-2-4 mit dem typischen besonderen Ton auf der 6. Silbe (decassílabo heróico) nicht zerstört wird. 23 | Garcilaso 1995, S. 229.

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Terzett. Zwar wird auch hier nur nebenbei die propositio formuliert, »as queixas« (Z. 13), doch die Sprechweise wechselt, denn hier prophezeit der Sprecher, dass die Nymphen auf diese Weise, also indem auch sie weinen, mit »dor mais própria« (Z. 12) den Liebesklagen des Sprechers werden lauschen können, und verweist dann eindringlich emotiv auf sein Liebesleid, breitet also im abschließenden Di­ stichon eigentlich unelegant aus, was Garcilaso gerade in der Auslassung umso eindringlicher formuliert. Der Sprecher bittet um Mitleid und Gleichgestimmtheit, wie das Polyptoton »derramem« (Z. 11) – »derramo« (Z. 13) deutlich macht, zugleich aber und vor allem auch um die Aneignung des fremden Schmerzes. Dieses Zu-Eigen-Machen, das vorderhand das Liebesleid betrifft, ist zugleich lesbar als poetologisches Programm. Camões beansprucht, Garcilaso noch zu überbieten: was jener sich aus der antiken und italienischen Dichtung angeeignet hat, macht er sich noch mehr zu eigen. Nicht nur, dass seine Nymphen eigene Liebeserfahrungen machen dürfen (Z. 5–6), während sie bei Garcilaso nur darüber reden (Z. 8), seine Nymphen sind zudem prototypisch nationale Nymphen: Tágides. Im exordium der Lusíadas werden sie bekanntlich Epos-konform als Musen angerufen mit der Bitte, dem Sänger für seinen hohen Gegenstand den angemessenen hohen Stil zu schenken (»E vós, Tágides minhas, […]/ Dai-me agora um som alto e sublimado«24), und am Ende des Canto V taucht sogar die Kollokation »Tágides gentis« auf.25 Zwar hat Camões die Tágides nicht erfunden, wohl aber aus einem neulateinischen Langgedicht des André de Resende übersetzt: »Camões co­ nheceu-o e nele se inspirou quando transpôs para o português os termos Tágides e (terras) transtaganas (este último relativo ao Alentejo).«26 In der dritten Ekloge schließlich (»Passado já algúm tempo que os amores«) bindet der Sprecher die Nymphen explizit und entlegen-gelehrt an ihre römischen Ahninnen an und bittet sie, das Leid der unglücklichen Schäferin Belisa zu sprechen, da ihm selbst vor allzu großem Schmerz die Stimme versagt: »mas as [mágoas] que ela [Belisa] dizia,/ lembrando-lhe que via/ as águas murmurar do Tejo amenas,/ remeto a vós, ó Tágides Camenas,/ que, de mágoa, não posso dizer tanto,/ porque em tamanhas penas/ me cansa a pena e a dor me impede o canto«.27 Was Camões mit seinen Tágides leistet, bringt Virgínia Soares Pereira prägnant auf den Begriff: 24 | Luís de Camões, Os Lusíadas, hg. von Álvaro Júlio da Costa Pimpão, Lissabon: Ministério dos Negócios Estrangeiros. Instituto Camões, 52003, I,4, S. 2. 25 | Ebd., V, 100, S. 148. 26 | Virgínia Soares Pereira, »Tágides«, in: Vítor Aguiar e Silva (Hg.), Dicionário Luís de Camões, Lissabon: Caminho, 2011, S. 917. 27 | Camões, 1981, S. 292. »Camenae« sind »römische Quellgottheiten, seit Livius Andronicus mit den Musen identifiziert« (Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden, hg. von Konrat Ziegler/Walter Sontheimer, Bd. 1, München: dtv, 1979, Sp. 1028). Oder auch: »CAMENAE, arum, ein gemeiner Beynamen der Musen, welchen sie von Cano, ich singe, haben; oder auch von Castus, und mens, weil sie keuscher Sinnen oder Gemüther Vorsteherinnen sind […], wiewohl letztere Ableitung etwas hart und weit hergeholet ist.« (Benjamin

Schöne Nymphen Dado que em Camões (como em Resende) o rio identifica o país, as Tágides camonianas são invocadas como entitades míticas especialmente vocacionadas para inspirarem o poeta na celebração dos heróis portugueses; o epíteto de »gentis« sublinha a sua predisposição favorável a essa celebração. Sendo divindades nacionais, mas integrando-se numa longa tradição clássica de ninfas inspiradoras, as Tágides dignificam o Tejo como representação da pátria e elevam-no ao domínio do simbólico. 28

Soweit die national-lusitanische Aneignung der Tajo-Nymphen. Nun zum scheinbar uneleganten Schluss von Camões’ Gedicht, mit dem er freilich versteckt (in einer stark metapoetischen Lektüre von »escondidas«, Z. 3 als Textmetapher) und einlässlicher als Garcilaso Petrarcas Sonett (Canzoniere 303) zitiert, das Herrera ja als Impulsgeber für Garcilaso XI ausgewiesen hat. Die Tágides sind in Tejo-­ Höhlen versteckt (»em suas grutas escondidas«, Z. 3), was bei Garcilaso wiederum bezeichnenderweise keine Entsprechung hat; wohl aber finden sich die Höhlen bei Petrarca (»antri«, Z. 5), und der Fluss (»fiume«, Z. 4), an dem der trauernde Sprecher mit Amor rechtet, wird über die »valli chiuse« (Z. 6) in raffinierter Weise seinerseits geographisch situiert: wir befinden uns im Vaucluse, der Fluss ist die Sorgue. Das an den Flüssen festgemachte poetologische Programm formuliert Camões auch andernorts, wenn auch im Konditional, in den Oitavas »Quem pode ser no mundo tão quieto«: »cantara-nos aquele que tão claro/ o fez o fogo da árvore Febeia,/ a qual ele, em estilo grande e raro/ louvando, o cristalino rio enfreia;/ tangera-nos na frauta Sannazaro,/ ora nos montes, ora pela aldeia,/ passara celebrando o Tejo ufano/ o brando e doce Lasso castelhano.«29 Die Genealo­ gie ist explizit benannt, mit Sannazaro als Bukoliker (zwei Verse) und Garcilaso als Sänger des (kastilischen!) Tejo (zwei Verse). Deren Ursprung aber, der am meisten Raum bekommt (vier Verse), ist dagegen antonomastisch und meto­ nymisch-metaphorisch verhüllt. Der gepriesene Sänger ist natürlich Petrarca und der durch ihn berühmt gewordene Apollinische Baum der Lorbeer (it. lauro), der immer schon für Laura steht, die unerreichbare Geliebte, nach der sich der Liebende im oxymoralen ›eisigen Feuer‹30 petrarkistischer Liebe (»o fogo« / »o cristalino rio«) verzehrt. In der zweiten Ausgabe der Rimas (1598) findet sich zudem der »rio« geografisch präzisiert als »o cristalino Sorga«31 und zeigt damit hilfreich auf den toskanischen, im provenzalischen Exil lebenden Meister. Der Baum des Apoll zeigt nun freilich vor allem auf den überaus bekannten Gründungsmythos Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon, Nachdruck der Ausgabe Leipzig: Gleditsch, 1770, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1996, Sp. 618). 28 | Pereira 2011, S. 917. 29 | Luís de Camões, Quem pode ser no mundo tão quieto. A Dom António de Noronha, sobre o desconcerto do mundo, in: Camões 1981, S. 209–218, dort S. 215, Z. 201–208. 30 | Leonard Forster, The Icy Fire. Five Studies in European Petrarchism, Cambridge: Cambridge University Press 1969. 31 | So die Anmerkung der Herausgeberin, Camões 1981, S. 218.

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allen petrarkistischen Dichtens, auf die Nymphe Daphne, die Tochter des Flussgottes Penëus, die, vom Bleipfeil Amors getroffen, den ihr lüstern nachstellenden Apoll flieht und im Wunsch, ewig jungfräulich zu bleiben, sich diesem entzieht, indem sie in einen Lorbeerstrauch verwandelt wird.32 Damit ist die Reihe der Flüsse aufgemacht – vom antiken griechischen Peneios über die provenzalische Sorgue hin zum iberischen Tajo/Tejo – und zugleich die Translationsreihe indiziert, die nicht nur die Nymphen erfahren, sondern eben auch die sie besingenden Texte. Diese Reihe beschließt Camões (vorläufig?) mit seinem Sonett. Die offensichtliche Reverenz an das gelobte Vorbild Garcilaso endet jedoch mit der versteckten Verbeugung vor dem noch größeren Vorbild Petrarca: mit dem Reimwort »Ventura« (Z. 13) zitiert er dessen abschließende, pessimistische Sentenz: »così nel mondo/ sua ventura à ciaschun dal dì che nasce« (Z. 13–14). Nicht der – möglicherweise laszive – Trost der Nymphen in den Untiefen des Tajo bildet den Abschluss, sondern das widrige Geschick, das den klagenden Liebenden unablässig mit »penas de amor« (Z. 14) verfolgt. Dies betont natürlich wiederum die petrarkistische Liebesklage. Doch gerade im Portugiesischen versteckt sich in dieser letzten Zeile ein so nicht in eine andere Sprache übersetzbarer Überschuss an Bedeutung. Durch einen glücklichen Zufall der portugiesischen Sprachgeschichte ist pena homonym; es bedeutet ›Qual‹, ›Pein‹ (lat. poena), aber auch ›Feder‹ (lat. penna). Verfolgt wird der Liebende somit nicht nur von den topischen Liebesqualen, sondern auch vom geflügelten Amor, der ihm diese boshaft bereitet. Wie der oben zitierte poetologische Passus aus der III. Ekloge des Camões über das äquivoke Polyptoton zudem nahelegt (»em tamanhas penas/ me cansa a pena«), ist damit aber immer auch die Schreibfeder des Dichters hereingespielt. Hier zeigt sich die voluptas des lusitanischen Poeten: Er zerfließt auf Inhaltsebene in petrarkistischer Liebesklage, auf der Textebene feiert er sich als Hüter der Tágides, die ihm erlauben, fremde Reden über die Liebe lustvoll, mit geschickt vorgetäuschter »dor mais própria« zu singen und sie sich besser als die Vorgänger in geschickt gesetzten verba propria33 zu eigen zu machen.

32 | Ovid 1988, I,452-567, S. 28-35. Vgl. auch das berühmte Sonett XIII von Garcilaso (1995, S. 28). 33 | Aufgerufen ist natürlich die rhetorische Stiltugend der sprachlichen puritas, »die idio­ matische (d.h. mit dem System der betreffenden Sprache übereinstimmende) Korrektheit (recte loquendi) der Rede«. »Der Anforderung der puritas entspricht das v e r b u m p r o p r i u m , d.h. ein Wortkörper, der dem idiomatischen Bestande der Wortkörper der entsprechenden Sprache angehört und dem der Redner den Wortinhalt beilegt, der diesem Wortkörper im System der betreffenden Sprache üblicherweise zukommt.« Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie, München: Hueber, 41971, S. 44 bzw. 46; Hervorhebung im Original.

Mythos, Zeitlichkeit und kollektives Gedächtnis Peter Stachel

Die Mythen sind die wichtigste Form der Gedanken.1 Jorge Luis Borges (1899–1986)

Z um B egriff M y thos »Der Gebrauch des Wortes ›Mythos‹ kennt im Deutschen keine gemeinverbindliche Regel«,2 wie Hermann Lübbe zutreffend feststellt. Er hätte noch hinzufügen können, dass dies keineswegs ein Spezifikum der deutschen Sprache ist und dass der Begriff in den letzten Jahren geradezu inflationär verwendet wird, meist um ein zweites Substantiv ergänzt. Eine google-Suche ergibt eine Unzahl derartiger Begriffsdoppel von Mythos Panamericana, über Mythos Bier, zu Mythos Wien, Mythos Heldenplatz, Mythos Sisi, Mythos Frankreich, Mythos Fremdenlegion usw. ad infinitum. Für einen Historiker besonders odios klingt etwa Mythos Geschichte, der Titel, unter dem das dritte Programm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens Österreichs (ORF III) eine Serie historischer Dokumentationen ausstrahlt. In dieser Form hat der Begriff Mythos jede halbwegs konkrete Bedeutung längst verloren, er dient als ein Füllwort, das einzig dazu verwendet wird, den zweiten Begriff auf nicht näher bestimmte Weise in ein besonderes Licht zu setzen; die verbale Entsprechung einer ›bengalischen Beleuchtung‹ und eine wie auch immer triviale Bestätigung von Roland Barthes’ (1915–1980) Behauptung, dass nicht durch die Objekte, sondern durch die Art und Weise, wie die Objekte angesprochen oder eben ›beleuchtet‹ werden, bestimmt wird, was zum Mythos wird. In Barthes’ Worten: »Da der Mythos eine Aussage ist, kann alles, wovon ein Diskurs Rechen1 | Das Prinzip Außerdem. [Fritz J. Raddatz interviewt Jorge Luis Borges], in: Die Zeit, 13. Juli 1984, online: http://www.zeit.de/1984/29/das-prinzip-ausserdem/seite-2 (abgerufen am 22.12.2017). 2 | Hermann Lübbe, Die zweite deutsche Demokratie in Ja-Sager Perspektive. Gespräch mit Jens Hacke, in: Hermann Lübbe, Im Gespräch, München: Wilhelm Fink Verlag, 2010, S. 25–39, hier S. 28.

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schaft ablegen kann, Mythos werden. Der Mythos wird nicht durch das Objekt seiner Botschaft definiert, sondern durch die Art und Weise, wie er diese ausspricht. Es gibt formale Grenzen des Mythos, aber keine inhaltlichen.«3 In seiner ursprünglichen Wortbedeutung im Altgriechischen und Lateinischen bedeutet Mythos nicht mehr und nicht weniger als Erzählung. Dabei meint das griechische Wort mythología nicht allein den Inhalt der Geschichten, die mythoí selbst, sondern bezieht sich ausdrücklich auch auf den Akt des Erzählens (légein)4 . Zu den charakteristischen Eigenschaften dieser Erzählungen gehört auch, dass sie in den meisten Fällen mit Ritualen verbunden sind: »Ein Mythos ist demnach nicht nur eine Aussage, sondern eine Handlung. In ihrer konsequentesten Ausprägung besagt diese Theorie, dass alle Mythen von Ritualen und alle Rituale von Mythen begleitet werden.«5 In ihrer klassischen Ausprägung sind Mythen religiöse Erzählungen, in denen das Leben der Götter mit jenem der Menschen verknüpft wird. Dazu gehörten insbesondere Schöpfungs- und Ursprungsmythen, Erzählungen von der Entstehung der Welt, der Menschheit oder auch einzelner Völker. So gut wie alle archaischen Gesellschaften haben ihre eigenen Schöpfungsmythen hervorgebracht, darüber hinaus auch Mythen über Götter, gottähnliche Wesen und Heroen. Für jene Mythentheorien, die auf Carl Gustav Jung (1875–1961) zurückgehen, symbolisieren Schöpfungsmythen die Erschaffung des Bewusstseins aus dem Un­ bewussten. Das kollektive Unbewusste verfügt nach dieser Auffassung über einen (beschränkten) Vorrat von Archetypen, die sich in Mythen in unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen in vergleichbarer Weise konkretisieren. Dabei handelt es sich, so Jung, um bloß »formale« Vorgaben, die erst dann inhaltlich bestimmt werden, wenn sie »mit dem Material bewußter Erfahrung ausgefüllt«6 werden. Heroen in mythischen Überlieferungen sind dementsprechend allenfalls in zweiter Linie historisch lokalisierbare Individuen, wesentlich an ihnen ist, dass sie allesamt mehr oder weniger ein und demselben gegebenen Archetypus des Helden entsprechen.7 So betrachtet sind Mythen kein Phänomen einer weit zurückliegenden Vergangenheit, sondern Elemente einer »Kollektivpsychologie […]: gemeinsames Beherrschtsein durch Überindividuelles in unmittelbar erfahrenen Bildern«.8 3 | Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1964, S. 85. 4 | Vgl. Karl Kerényi, Die Mythologie der Griechen. Götter, Menschen & Heroen, Stuttgart: Klett Cotta, 72016, S. 15 (Original: 1951 und 1958). 5 | Robert A. Segal, Mythos. Eine kleine Einführung, Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2007, S. 86. 6 | C.G. Jung, Die psychologischen Aspekte des Mutterarchetypus, in: Ders., Die Arche­ typen und das kollektive Unbewußte, Ostfildern: Schwabenverlag, 52011, S. 89–123, hier S. 95. 7 | Vgl. Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten, Berlin: Insel Verlag, 2011 (Original: 1949). 8 | Kerényi 2016, S. 14.

Mythos, Zeitlichkeit und kollektives Gedächtnis

U rsprungsmy then Der über die unmittelbare Trauer angesichts eines aktuellen Todesfalls hinausgehende Totenkult ist vielleicht die genuin menschliche Kulturleistung schlechthin. Während Sprache, strategisches Planen, Werkzeugverwendung und -herstellung auch bei einzelnen höheren Tierarten nachweisbar sind, ist das ritualisierte Totengedenken, das nicht allein die unmittelbaren Vorfahren, sondern auch die lange Reihe der Ahnen einschließt, offenkundig ein Zeichen menschlicher Kultur: »Gegen das Vergessen im Tode haben die Menschen seit eh und je Wälle der Erinnerung aufgerichtet, so daß Spuren, die auf ein Totengedächtnis schließen lassen, bei Prähistorikern und Archäologen als die sichersten Anzeichen für das Vorhandensein einer menschlichen Kultur gelten«,9 merkt dazu der Romanist Harald Weinrich an. Vieles spricht dafür, dass auch die seit der Antike bekannten Formen der Mnemotechnik ihren Ursprung im Totenkult haben.10 Wer sich in dieser Weise als Glied in einer langen Kette von Ahnen versteht, dem stellt sich folgerichtig die Frage, wo diese Kette, wo das eigene Volk oder die Welt als Ganzes ihren Anfang genommen hat. Charakteristisch für klassische Ursprungsmythen ist die Auffassung, dass die menschliche Gemeinschaft ein Ausschnitt aus dem Universum ist und ihre Gesetze sich daher im Einklang mit der kosmischen Ordnung befinden. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine simple Übertragung in der Natur erkannter Ordnungsschemata auf den sozialen Bereich, sondern um komplexe Prozesse von Projektion und Reprojektion: Zuerst werden »soziale Verhältnisse als analogiehafte Modellvorstellungen auf den Kosmos übertragen, [dann wird] in Rückanwendung dieser Projektion auf ihr Urbild [...] die irdische Staats- oder Gesellschaftsordnung in die vermeintlich kosmische eingefügt und ihr untergeordnet: der soziale Mikrokosmos erscheint nunmehr als Abbild des allumfassenden Makrokosmos, das menschliche Gesetz soll dem ›Weltgesetz‹ nachgebildet werden.«11 Der Philosoph Ernst Topitsch (1919–2003) hat sich in zahlreichen Studien12 mit derartigen Programmen der kosmologischen Rechtfertigung bestehender Gesellschaftsordnungen beschäftigt und dabei vier Grundtypen definiert:

9 | Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München: C.H. Beck, 1997, S. 40. 10 | Vgl. dazu: Stefan Goldmann, Statt Totenklage Gedächtnis. Zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Keos, in: Poetica 21 (1989), S. 43–66. 11 | Ernst Topitsch, Philosophie zwischen Mythos und Wissenschaft, in: Kurt Salamun (Hg.), Was ist Philosophie? Neuere Texte zu ihrem Selbstverständnis, Tübingen: UTB, 2 1986, S. 290. 12 | Vgl. u.a. Ernst Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik. Eine Studie zur Welt­ anschauungskritik, Wien: Springer, 1958; Ders., Erkenntnis und Illusion. Grundstrukturen unserer Weltauffassung, Hamburg: Hoffmann & Campe, 1979.

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1) Soziomorphe Modelle: Bei diesen wird das kosmische Geschehen nach dem Modell der planmäßigen Tätigkeit im Bereich sozialer Handlungszusammenhänge interpretiert; das ganze Universum wird als ein einziges, großes, hie­ rarchisch geordnetes Sozialgebilde aufgefasst. 2) Technomorphe Modelle: Diese stellen eine Interpretation des kosmischen Geschehens nach dem Modell des künstlerischen oder handwerklichen Planens dar, demgemäß die Welt als normativer Werksentwurf erscheint. Einschlägige Beispiele sind die Vorstellung vom Kosmos als ›Weltenmantel‹ oder ›Himmelszelt‹ oder auch die Vorstellung von Gott als ›Weltbaumeister‹. 3) Ekstatisch-kathartische Modelle: Interpretationen des Kosmos auf der Grundlage psychischer und emotioneller Bedürfnisse, mit dem Grundzug, sich dem Realitätsdruck durch Beschreiten eines ›Heilsweges‹ zu entziehen. Darunter fallen alle Vorstellungen von der Rückkehr zu einem als Normgestalt verstandenen Ursprung oder Urbild, die Vorstellungen von Erlösung und Messianismus sowie die Idee einer apokalyptischen Totalerneuerung. 4) Biomorphe Modelle: Die Erklärung kosmischer Vorgänge auf der Grundlage von Wissen über den Bereich des organischen Lebens. Dazu gehören etwa die Vorstellungen vom Weltei, vom Weltelternpaar, vom Weltenbaum oder vom doppelgeschlechtlichen Urwesen. Topitsch präzisiert dazu, dass die vier Grundtypen zumeist nicht in reiner Form, sondern als Mischtypen auftreten und dass derartige kosmologische Mythen aufgrund ihrer engen Verbundenheit mit institutionell verfestigten Herrschaftssystemen und ihrer emotionellen Aufgeladenheit in hohem Maße resistent gegenüber rationaler Kritik seien. Wer in einem solchen Gesellschaftssystem gegen die Autorität auftritt, stellt sich nicht nur außerhalb der Gemeinschaft, sondern auch außerhalb der göttlichen Ordnung. Aus der Perspektive eines modernen, linearen Zeitverständnisses läge es nahe, die Zeit des Ursprungs und der Schöpfung von Welt und/oder Volk als vor der Gegenwart liegend aufzufassen; damit würde jedoch der spezifische Charakter des mythischen Zeitverständnisses missverstanden. »Mythen operieren mit mythischer Zeit, das heißt: mit ewiger Gegenwart, nicht mit fließender Vergangenheit.«13 Tatsächlich sind archaische Stammesgesellschaften und auch die Gesellschaften der Antike, wie etwa die griechische Polis, von einem zyklischen Zeitverständnis geprägt, das sich an den Vegetationszyklen und wiederkehrenden astronomischen oder natürlichen Phänomenen orientierte. Der mythische Ursprung liegt mithin in einer eigenständigen, nicht-profanen Form von Zeit, in die durch Rituale oder ekstatische Erfahrungen der zeitweise Eintritt möglich ist. Die Zeit wird annulliert, die Geschichte durch die im Ritual verwirklichte Rückkehr in das von dem Religionswissenschaftler Mircea Eliade (1907–1986) 13 | Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München: C.H. Beck, 2004, S. 322.

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sogenannte illud tempus, in die Zeit des mythischen Anbeginns der Welt, aufgehoben. Alle Rituale, die den Zeitablauf strukturieren, stellen nach Eliades Ansicht eine derartige Vergegenwärtigung des Mythos dar, sodass eine stetige Rückkehr zum Ausgangspunkt der Zeit praktiziert wird: Alle menschlichen Handlungen gelten nur insoweit als ›wirklich‹, als sie am mythischen Urbild Anteil haben (primitive Ontologie). Der archaische Mensch – so Eliade – weigert sich, sich als historisches Wesen zu betrachten und entwertet durch seine Rituale und Haltungen die Zeit: Dieses Leben in einer fortdauernden, absoluten Gegenwart ermöglichte es ihm, den Leidens- und Realitätsdruck zu ertragen, »eine Immunität gegenüber den sich verändernden Bedingungen zu entwickeln«.14 Nach Eliade ist »das kollektive Gedächtnis […] nicht in der Lage, die historischen Ereignisse und Individuen festzuhalten, wenn es sie nicht in Archetypen verwandelt, also alle ihre ›historischen‹ und ›persönlichen‹ Besonderheiten aufhebt«.15 Vor dem Entstehen eigentlicher geschichtlicher Darstellungen dienten Legenden und Mythen, welche an Hand der Namenslisten von Vorfahren ein grobes genealogisches Orientierungsmuster darboten, als ›kollektives Gedächtnis‹; diese Legenden wurden durch Generationen hindurch mündlich, beispielsweise durch Rezitation bei festlichen Anlässen, überliefert. Der Gedanke einer Entwicklung in irgendeinem Sinn hat in einer solchen Überlieferungstradition keinen Platz: So ist das antike, sowohl das griechische als auch das römische Geschichtsverständnis als eine Bewegung gedeutet, »in der in allem Wechsel immer das gleiche geschieht, in neuen Konstellationen«.16 Dementsprechend berichten die antiken Historiker beinahe ausschließlich von Ereignissen der unmittelbaren Zeitgeschichte und dies mit Konzentration auf die politischen und militärischen Ereignisse. Der italienische Historiker Carlo Ginzburg führt dazu aus: »In ihren Forschungstechniken kommt eine klare Bevorzugung der direkten Beobachtung bei der Untersuchung der Gegenwart und der mündlichen Überlieferung bei der Untersuchung der Vergangenheit zum Ausdruck. Sobald ein klassischer Historiker aufhörte, unabhängige Unter­ suchungen über gesehene oder gehörte Dinge anzustellen, neigte er dazu, zum bloßen Kompilator früherer Historiker zu werden. […] Besonders in Griechenland sollte der Historiker vor allem ein Zeuge sein, so nah wie möglich an den Ereignissen, über die er sprach.«17 In dieser beinahe journalistisch zu nennenden Art der Geschichtsschreibung überwog, ebenso wie bei den archaischen Mythen und Legenden, das rhetorische Element. Die Werke sind von fiktiven Reden durch14 | Marshall Sahlins, Kultur und praktische Vernunft, Frankfurt am Main: Fischer, 1981, S. 66. 15 | Mircea Eliade, Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Reinbek: Rowohlt, 1986, S. 60. 16 | Rudolf Bultmann, Geschichte und Eschatologie, Tübingen: Mohr, 1958, S. 2. 17 | Carlo Ginzburg, Veranschaulichung und Zitat. Die Wahrheit der Geschichte, in: Der Historiker als Menschenfresser. Über den Beruf des Geschichtsschreibers, Berlin: Wagenbach, 1990, S. 93.

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setzt, während längere analytische Passagen fast völlig fehlen, das zentrale Paradigma der antiken Geschichtsschreibung war der Begriff der enargeia, der »Anschaulichkeit«, demgegenüber der für die moderne Geschichtsforschung zentrale Begriff der Faktizität des Geschilderten nur von untergeordneter Bedeutung war. Die Geschichte war denn auch für die Griechen keine Wissenschaft oder Kunst, sondern wurde der Rhetorik zugerechnet.

D er U rsprung des line aren Z eit verständnisses im M onotheismus Das moderne lineare Zeitverständnis hat seinen historischen Ursprung im Judentum, in dem das zyklische Geschichtsverständnis der Antike vom eschatologisch motivierten linearen Geschichtsdenken einer monotheistischen Offenbarungsreligion abgelöst wurde. An die Stelle der ewigen Wiederkehr tritt eine zielgerichtete Bewegung; die gesamte Geschichte wird als teleologisches Heilsgeschehen aufgefasst, das zwischen zwei Fixpunkten, der Schöpfung und der Apokalypse, aufgespannt ist, wodurch Geschichtsdenken und -deutung – die beide erst in diesem Kontext entstehen konnten – sich nicht allein auf die Vergangenheit, sondern auch auf Gegenwart und Zukunft beziehen. So wurden die Juden, einer Formulierung von Jacques Le Goff (1924–2014) zufolge, zum »Gedächtnisvolk par excellence«,18 das mit Nachdruck darauf beharrt, dass es sich bei der Überlieferung der Geschichte des eigenen Volkes um Ereignisse in der Zeit, also um historische Geschehnisse handelt, die erinnert, nicht aber wiedererlebt werden. Zwischen Gott und seinem auserwählten Volk besteht, so Harald Weinrich, ein »Gedächtnisvertrag«, ein zeitlich unbegrenzter Pakt, »der auf gegenseitigem Gedächtnis beruht […]. Dieser Vertrag hat zum Inhalt, daß Israel den Namen Gottes ehrt und streng nach seinem Gesetz lebt, Gott dafür allzeit seine mächtige Hand über Israel hält. Nie wird Gott folglich sein erwähltes Volk vergessen, unter der Bedingung allerdings, daß dieses Volk ebensowenig seinen Gott vergißt«19 . Dementsprechend gelten im traditionellen Judentum strenge religiöse Erinnerungsgebote.20 Diese erhalten nicht nur den Bund mit Gott, sie stiften auch die Gemeinschaft der Menschen untereinander: »Bei den Juden«, so Jan Assmann, »ging es um die Erziehung zum Juden, zum Mitglied des auserwählten Volkes Israel, der nicht nur mit seinesgleichen, sondern auch mit Gott im Bunde lebt. Es geht um eine doppelte, eine horizontale und vertikale Bindung […]. Der Bund, den JHWH mit Israel geschlossen hat, stiftet nicht nur ein Band zwischen Gott und

18 | Jacques Le Goff, Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main: Fischer, 1992, S. 32. 19 | Weinrich 1997 , S. 37. 20 | Vgl. Josef Hayim Yerushalmi, Zachor. Erinnere dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin: Wagenbach, 1996.

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Volk, sondern auch zwischen den zu einem Volk verbundenen Menschen.«21 Für das Judentum fallen »Religion, Gedächtnis und kollektive Identität […] in eins«.22 Der Philosoph Karl Löwith (1897–1973) konstatierte, dass »der Geschichtsbegriff […] eine Schöpfung des Prophetismus«23 sei. In der Tat waren es die alttestamentarischen Propheten, die als erste der Geschichte einen Wert verliehen, in dem sie der Zeit einen Sinn verliehen; beispielhaften Ausdruck findet dieses veränderte Verständnis der Zeit insbesondere im alttestamentarischen Buch Kohelet (wörtlich: Versammler, traditionell meist mit Prediger übersetzt), in dem mit Nachdruck darauf beharrt wird, dass alles, was geschieht, in der Zeit stattfindet und mit der Zeit vergeht. Die Propheten verstanden sich als eine Art geistige Elite, die dem gemeinen Volk, das sich durchaus den lebensnäheren archetypischen Auffassungen zugeneigt zeigte, ein neues religiöses Verständnis aufoktroyierte. »Die periodische Rückkehr der Juden zu den Baalen und Astarten«, so Eliade, »erklärt sich zu einem guten Teil durch die Weigerung, der Geschichte einen Wert beizulegen, das heißt, sie als Theophanie anzusehen. Die Masse des Volkes [...] zog die alte religiöse Vorstellung vor; denn sie hielt sie näher am Leben und half ihr, die Geschichte, wenn schon nicht zu vergessen, so doch zu ertragen. Die messianischen Propheten aber besaßen den unerschütterlichen Willen, der Geschichte ins Gesicht zu sehen und sie anzunehmen als einen schreckenerregenden Dialog mit Jahwe.«24 Und weiter heißt es dazu: »In der messianischen Vorstellung (kann) die Geschichte ertragen werden, weil sie eine eschatologische Tendenz hat. Aber sie kann wiederum nur ertragen werden, weil sie eines schönen Tages ganz zu Ende sein wird [...]. Die periodische Regeneration der Schöpfung wird ersetzt durch eine einzige Regeneration, die in einem künftigen illud tempus stattfinden wird.«25 Wie das Judentum ist auch das Christentum eine Gedächtnisreligion, »deren zeitlich-historische Dimension jedoch gegenüber dem Judentum vor allem dadurch verändert ist, dass«, so Harald Weinrich, »die ›Realpräsenz‹ im Sakrament, zumindest für katholische Christen, dahin tendiert, die ›Memorialpräsenz‹ Gottes zu überlagern.«26 Durch das Urchristentum erfuhr das jüdisch-messianische Geschichtsverständnis eine charakteristische Umformung: Die Evangelien galten den frühen Christen als eschatologische Botschaft, die den unmittelbar bevor21  | Jan Assmann, Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München: C.H. Beck, 2015, S. 237. 22 | Fried 2004, S. 304. 23 | Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart: Vandenhoeck & Ruprecht, 61973, S. 25. Wie bereits der Untertitel von Löwiths klassischer Studie belegt, wird darin die neuzeitliche Geschichtsphilosophie als im Prinzip religiös geprägt gedeutet. Vgl. allgemein auch Michael Walzer, Exodus und Revolution, Berlin: Fischer, 1988. 24 | Eliade 1986, S. 121. 25 | Ebd., S. 124. 26 | Weinrich 1997, S. 37.

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stehenden Weltuntergang vorhersagte, und die urchristliche Gemeinschaft verstand sich als Endzeitgemeinde, die sich als aus der bestehenden Welt der Unreinheit und der Sünde ausgeschlossen und bereits dem zukünftigen Gottesreich angehörig betrachtete. Bezeichnenderweise entwickelte das Urchristentum weder einen Rahmen organisatorischer Institutionen noch ein soziales oder politisches Programm. Das grundlegende Problem, aus dem in der Folge die christliche Theologie als intellektuelle Rationalisierung der Heilsbotschaft erwuchs, resultierte aus dem Nichteintreffen der eschatologischen Prophezeiung, dem Ausbleiben des Weltunterganges durch die erwartete endzeitliche Wiederkunft Christi (Parusieverzögerung, von parousian = Anwesenheit). Als Belege für das Bemühen der frühen christlichen Gemeinden, mit diesem grundlegenden Problem – das in zentraler Weise auch ein Problem des Geschichtsverständnisses war – fertig zu werden, gelten vor allem die Pastoralbriefe des Paulus (vor 10–nach 60): Die Lösung bestand in einem teilweisen Rückgriff auf die archaische »primitive Ontologie« in Form des Sakramentalismus. Die Sakramente galten als eine reale Vergegenwärtigung des mythischen Heilsgeschehens: Nach katholischem Verständnis ist Christus in den Sakramenten gegenwärtig, das Altarsakrament (Eucharistie) erinnert nicht bloß an das letzte Abendmahl Christi, es führt die das Sakrament vollziehende Gemeinde in das illud tempus der Teilhabe am Gründungsakt der religiösen Gemeinschaft. Darüber hinaus verschiebt sich durch den Sakramentalismus das Interesse des Gläubigen von der universalen Eschatologie weg auf das individuelle Seelenheil, die durch das Sakrament garantierte Unsterblichkeit der Seele, hin. Dadurch, dass die Erteilung der Sakramente in den Verfügungsbereich des kirchlichen Amtes gelegt wurde, erhielten die ursprünglich eher lose organisierten Gruppen überdies einen festen institutionellen Rahmen. Die urchristliche Gemeinde verwandelte sich von einer eschatologischen Gemeinde in eine Kultgemeinde, die zwar die Eschatologie nicht vollkommen aufgab, jedoch in die Zukunft eines unbestimmten illud tempus verlegte und auf diese Weise neutralisierte. Im Gegensatz zur jüdischen Religionsgemeinschaft verstand das Christentum die Geschichte jedoch nicht als Volksgeschichte, sondern als universale Geschichte der ganzen Menschheit. Die lineare Auffassung der Zeit und der Geschichte fand ihre theoretisch-theologische Ausprägung im Christentum vor allem durch Augustinus (354–430), der die Welt- und Heilsgeschichte in sechs Zeitalter gliederte. Die als Herrschaftsverband etablierte Kirche, deren offizielle politische Theologie in erster Linie der Rechtfertigung des bestehenden sozialen Systems diente, versuchte in der Folge die apokalyptisch-eschatologische Komponente der Heilsbotschaft so weit wie möglich zu sterilisieren und politisch unwirksam zu machen. Im Gegensatz dazu haben vor allem radikale kirchen- und damit auch sozialkritische Bewegungen millenarisch-chiliastischen und messianischen Zuschnitts diese eschatologische Komponente immer wieder für ihre Zwecke reaktiviert. Zwischen der theologischen Erklärung des Sakramentalismus als Herbeiführung einer Realpräsenz Christi und der alltäglichen rituellen Praxis besteht frei-

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lich zumeist ein Unterschied, auf den beispielsweise Sybille Krämer hinweist: »Ein Gutteil des Tuns religiöser Gemeinschaften besteht darin, ursprüngliche Stiftungsakte durch Praktiken der Erinnerung zu bezeugen. In der christlichen Religion dient diesem Eingedenken die rituelle Wiederholung von Urworten in Gebet, Gesang und Verkündigung, die Sakramentalhandlungen, die Einhaltung der Festtage […]. Doch wie die Geschichte der römischen Kirche bis 1500 zeigt: Die ritualisierte Erinnerungskultur befördert – sobald sie die Form einer nahezu bewußtlosen Automatik annimmt – zugleich das Vergessen. Den theologischen Dogmatikern ebenso wie den Gläubigen entglitt die Bedeutung der Sakralsemiotik.«27 Hier setzte die Kritik der Reformatoren an: Luther interpretierte die Sakramente nicht länger als Ausdruck einer göttlichen Realpräsenz, sondern als »signum memoriale, ein reines Erinnerungszeichen«.28

D as M it tel alter : G eschichte als H eilsgeschehen Die Vorstellung von der Geschichte als einem durch göttlichen Plan festgelegten Heilsgeschehen prägte während des gesamten Mittelalters nicht nur die theoretische Auffassung von Geschichte, sondern bestimmte auch nachhaltig den Stil historiographischer Darstellungen (wobei die Historiographie im Mittelalter nicht in das System der artes liberales integriert war, also nicht als ›Wissenschaft‹ galt). Das durch Isidor von Sevilla (um 560–636) und Beda Venerabilis (672/73–735) schematisierte Verlaufsmodell der sechs ›Weltalter‹, beziehungsweise der vier ›Weltreiche‹ (des alttestamentarischen Buchs Daniel) bildete für alle mittelalterlichen Chronisten den Rahmen ihrer Arbeiten, wobei die jeweilige Gegenwart stets dem letzten Stadium der prophezeiten Entwicklung entsprach. »Es ist«, so der Mediävist Herbert Grundmann, »trotz mancher Stil- und Formwandlung, trotz der Vielzahl wechselnder Gattungen, weithin das Gemeinsame der mittelalterlichen Historiographie, dass sie in der Geschichte die ratio temporum zu erfassen sucht, die von Gott gesetzte Zeitordnung, und in ihrem Rahmen das Typische, oft mit typologischem Bezug auf biblische und historische Gestalten und Ereignisse«.29 In jedem Fall erstreckte sich dabei das Wissen des Historikers, aufgrund der zumindest allgemeinen Kenntnis des göttlichen Heilsplanes, nicht allein auf das Vergangene, sondern stets auf das Ganze des Geschichtsverlaufes, also auch auf die Zukunft. Am deutlichsten kommt dies in den sogenannten Weltchroniken

27 | Sybille Krämer, Das Vergessen nicht vergessen! Oder: Ist das Vergessen ein defizienter Modus von Erinnerung?, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 9 (2000) 2, S. 251–275, hier S. 267. 28 | Ebd. 29 | Herbert Grundmann, Geschichtsschreibung im Mittelalter. Gattungen, Epochen, Eigenart, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1965, S. 72.

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zum Ausdruck, die stets die ganze Menschheitsgeschichte als Heilsgeschichte, von der Schöpfung bis zum bevorstehenden Weltgericht, umfassten. Dass bzw. wie die Deutung der Realgeschichte der Heilsgeschichte angepasst wurde, belegt insbesondere auch die Idee der translatio imperii: Den Visionen von vier Tieren im alttestamentarischen Buch Daniel werden vier Weltreiche zugeordnet. In der Interpretation des spätantiken Kirchenvaters Hieronymus (347–420) handelt es sich um Babylon, Persien, das alexandrinische Griechenland und Rom. Das römische Reich wurde als imperium sine fine verstanden, das bis zum Ende der Zeiten bestehen würde. Der im 5. Jahrhundert weitgehend abgeschlossene Zerfall des römischen Reiches und das Entstehen des fränkischen Reichs unter Karl dem Großen (747/748–814) mehr als drei Jahrhunderte später wurde daher als Übertragung der römischen Kaiserwürde (translatio imperii) auf Karl gedeutet.30 Eine vergleichbare Unterordnung der säkularen Geschichte unter die sinnstiftenden Kategorien der Heilsgeschichte lässt sich auch bei einer anderen charakteristischen Form der historischen Darstellungen des Mittelalters beobachten, der origo gentis, den Volksgeschichten, die – in der Regel mit vergleichbaren Grundelementen – die mythischen Erzählungen der Herkunft eines Volkes sind. Formen einer säkularen Gedächtniskultur entwickelten sich daraus jedoch in auffälliger Weise nicht, da all diese Darstellungen universalhistorisch orientiert waren, sodass von einem vollständigen Aufgehen der Volksgeschichte in der Heilsgeschichte gesprochen werden kann.31 Die Erinnerungsgemeinschaft war also nicht eine politische oder ethnische Gruppe, sondern stets die Religionsgemeinschaft. »Los Alemanes grande memoria y poco entendimiento«32 – Als der spanische Autor Juan Huarte de San Juan (ca. 1529–1591) im 16. Jahrhundert den Deutschen ein ausgeprägtes Gedächtnis, aber geringen Verstand bescheinigte, bezog er sich dabei auf den von ihm angenommenen Zusammenhang der Beschaffenheit des Gehirns mit der Erinnerung. Ein Volk wie das deutsche, das aus der Sicht des Südländers Huarte im kalten und feuchten Norden des Kontinents lebte, musste über feuchtere Gehirne verfügen, deren zähe Masse eine große Zahl von Erinnerungen festhielt, die dem ingenium, dem Gebrauch des Verstandes, hinderlich wäre. Was Huarte damit nicht meinte, ist eine Kultur des kollektiven Erinnerns. Die Erinnerungsgemeinschaft war die Religionsgemeinschaft: Königshäuser und 30 | Vgl. Werner Goez, Translatio imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorie im Mittelalter und der frühen Neuzeit, Tübingen: Mohr, 1958. 31 | Vgl. Grundmann 1965, S. 17. 32 | Juan Huarte de San Juan, Examen de ingenios para las ciencias, hg. v. Ildefonso Martinez y Hernandez, Madrid: D. Ramon Campuzano, 1846, S. 130 (Original 1575). In der deutschen Übersetzung von Lessing: »Die Deutschen […] ein stark Gedächtnis und wenig Verstand.« Gotthold Ephraim Lessing, Johann Huartes Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften, Zerbst: Verlag der Zimmermann’schen Buchhandlung, 1752, S. 154.

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adelige Familien verfügten über eine eigene Erinnerungskultur in Form von – meist teilweise fiktiven – Stammbäumen, die Stände bezogen ihr Selbstverständnis aus ihren alten Rechtsansprüchen, aber eine über diese Kreise hinausreichende säkulare Form einer identitätsstiftenden kollektiven Erinnerung existierte nicht – weder im Sinn einer ›Volksgemeinschaft‹ noch im Sinn einer Gemeinschaft von Untertanen. Tatsächlich war die staatliche Ebene vielmehr traditionell mit Vergessensgeboten verbunden: Mit einem Friedensschluss ging in aller Regel abolitio (Tilgung), oblivio (Vergessen) und remissio (Vergeben) des Geschehenen einher, woraus Amnestie (im ursprünglichen Wortsinn: Nicht-Erinnern) resultierte.33 Durch das verordnete Vergessen der Gräuel des Krieges sollten mögliche Motive für künftige Revancheakte unterbunden werden; in ähnlicher Weise wurden auch Brüche in der staatlichen Ordnung durch Vergessensgebote getilgt.

D ie E ntstehung säkul arer E rinnerungskollek tive und ihre religiösen W urzeln Die entscheidende Veränderung hin zu einem kollektiven Gedächtnis säkularer Gemeinschaften vollzog sich gegen Ende des 18. und vor allem in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss der Französischen Revolution und insbesondere der Napoleonischen Kriege durch die mit diesen Entwicklungen verbundene Politisierung breiter Teile der Bevölkerung im Sinne eines neuen, national argumentierenden Selbstverständnisses. Während einerseits die Religion als gruppenidentitätsstiftender Faktor langsam aber stetig an Bedeutung zu verlieren begann, entwickelten die jungen Nationen ihre eigenen Helden- und Ursprungsmythen.34 Bereits ein oberflächlicher Vergleich der »Mythen der Nationen«35 mit religiösen Mythen lässt auffallende Gemeinsamkeiten erkennen. Hier wie dort gibt es das starke Interesse am Ursprung (z.B. im nationalen Mythos der Landnahme), gibt es vergleichbare Formen des Heroischen, Erzählungen vom Opfer für die 33 | Vgl. Christian Meier, Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München: Siedler, 2010, S. 40. 34 | Mircea Eliade hat beiläufig darauf hingewiesen, dass die Krise der traditionellen Religionen im 19. Jahrhundert in auffälliger Weise von einer allgemeinen Tendenz der »Suche nach Ursprüngen« in unterschiedlichsten, auch wissenschaftlichen Bereichen begleitet wurde. Vgl. Mircea Eliade, Die Suche nach den »Ursprüngen der Religion«, in: Antaios 6,1, hg. v. Mircea Eliade und Ernst Jünger, Stuttgart: Ernst Klett Verlag, 1964, S. 1–18, hier S. 8. 35 | Unter dem Titel »Mythen der Nationen« fanden im Deutschen Historischen Museum in Berlin in den Jahren 1998 und 2004/05 zwei komparatistisch orientierte Großausstellungen statt. Vgl. Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, Leipzig: Koehler & Amelang, 1998; Dies. (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Berlin–Mainz: von Zabern, 2004.

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Gemeinschaft und Märtyrertum, etc. Besonders auffällig sind vielfältige Gemeinsamkeiten in der rituellen Praxis, in der religiöse und nationale Akte teilweise unmittelbar ineinandergreifen. Und die in den letzten Jahren verstärkt spürbare Tendenz, Gedenkakte als reenactment historischer Ereignisse nachzuspielen, lässt an Eliades Konzept der rituellen Rückkehr ins illud tempus denken. In diesem Sinn erscheint es zulässig, die Mythen der Nationen und die Akte der nationalen kollektiven Erinnerung als im Prinzip religiös strukturiert zu interpretieren, wobei, wie Sybille Krämer anmerkt, auch nationale bzw. staatliche Akte der Gedächtnispolitik denselben Regeln einer Inflation durch Gewöhnung unterliegen können wie die sakramentalen Handlungen der Religionen.36 Wenn aber die Auffassung zutrifft, dass das kollektive Gedächtnis grundsätzlich dazu neigt, historische und individuelle Besonderheiten zugunsten der Anpassung an vorgegebene Archetypen abzuwerten, dann sind auch die modernen Formen kollektiver Gedächtniskultur von ihren Wurzeln her religiös geprägt und implizit auf Transzendenz hin orientiert, was möglicherweise die in konkreten Situationen immer wieder zu beobachtende elementare Wucht des Ausbruchs nationaler Emotionen mit erklären kann. In diesem Sinn könnte gerade eine vergleichende Untersuchung der Mythen der Nationen in Hinblick auf gemeinsame Grundstrukturen und Typen ein lohnendes Feld künftiger Untersuchungen sein.

36 | Vgl. Krämer 2000, S. 266–269. Krämer bezieht sich in ihren Ausführungen zu diesem Punkt insbesondere auf: Hans Ulrich Reck, Totales Erinnern und Vergessensphobie. Aktueller Gedächtniskult und digitale Speichereuphorie, in: Kunstforum International 148 (1999), S. 46–50.

Translatio imperii in den »Sister Republics« Schweiz und Amerika im 18. Jahrhundert Antike Mythen und Helden im Nation-Building Michael Böhler

D as römische I mperium in U pstate N e w York Wer sich dem strudelnden Sog der Metropole New York eine Weile zu entziehen vermag und auf zwei, drei Tage erst nordwärts dem Hudson folgend, dann nordwestlich dem sich durch dicht bewaldete Hügel schlängelnden Delaware, später dem Susquehanna River entlang nach Upstate New York bewegt, der wird nicht nur von einer wie aus der Zeit gefallenen Ländlichkeit derart nahe der Weltstadt überrascht sein. Weiter in Richtung Finger Lakes wird er sich bald auf einer ZeitRaum-Reise glauben, die ihn stracks in die griechisch-römische Antike entführt: Da tauchen auf den Ortstafeln nicht nur Städte-, Orts- und Ländernamen wie Syracuse, Rome, Utica, Troy, Ithaca, Sparta, Greece, Corinth, Ilion, Pompey, Macedon, Minoa, Salina auf; unter diese mischen sich auch gleich die dazu gehörigen antiken Mythenfiguren, Gründergestalten und Helden wie Ulysses, Hector, Solon, Lysander, Romulus, Camillus, Cincinnatus, Manlius, Hannibal, Fabius, Junius, Marcellus, Scipio, Sempronius, Cato, Brutus, Aurelius, Tully, Fabius; und schließlich die Dichter, Philosophen und Gelehrten Homer, Virgil, Cicero, Ovid, Seneca, Galen; zu ihnen gesellen sich in einem erneuten Zeitsprung Milton, Locke, Dryden. Vergegenwärtigt man sich weiterhin den ›nickname‹ »Empire State« für den Staat New York – das »Empire State Building« kennt jedermann –, so sehen wir uns einer Translation ganz eigener Art gegenüber. Die gebündelte toponomastische Übertragung des mittelmeerischen Imperiums der römisch-griechischen Antike in den Raum südlich des Lake Ontario hat ihre genau datierbare Herkunft: Sie geht auf den Unabhängigkeitskrieg 1776 bis 1783 zurück und führt uns unmittelbar in die Anfänge des Nation Building der USA, wo Landnahme, Namensgebung und territoriale Staatsbildung mehr oder weniger zeitgleiche Stiftungsakte und als Teil der lokalen histoire de longue durée

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seither präsent geblieben sind. Wie weiland die römischen Legionäre wurden die Kriegsteilnehmer des New Yorker Truppenkontingents im sogenannten »(New) Military Tract of Central New York« 1781/99 für ihre Dienste im Unabhängigkeitskrieg mit Landbesitz entschädigt, dessen Umfang nach militärischem Rang und nach Funktion variierte.1 Nachdem die 28 Townships mit je rund 100 Parzellen und mitten drin den beiden Reservaten der Cayuga- und Onondaga-Stämme – diese hatte man wegen ihrer teilweisen Loyalität zu den Briten in der Sullivan-Expedition verfolgt, ihre Siedlungen gebrandschatzt und Teile der Bevölkerung vertrieben – zunächst lediglich durchnummeriert worden waren, erhielten sie später die klassi­ schen griechisch-römischen Städte-, Helden- und Dichternamen. Ein Akt der translatio, der lange dem Geometer und Surveyor General des Staates New York, Simeon de Witt, Esq., zugeschrieben wurde, offenbar jedoch auf den New Yorker Deputy Secretary of State, Robert Harpur, früher Mathematikdozent an der Columbia University, Lehrer von Alexander Hamilton und Antike-Verehrer, zurückgeht. De Witt selbst soll nichts von diesen »obnoxious names« gewusst haben, »til they were officially communicated to him«.2 Das hinderte spätere Spötter nicht, auf ihn und seine Ortstaufe eine satirisch enkomiastische Ode to Simeon De Witt, Esquire, Surveyor General zu dichten, worin die Namensgebung als Auferweckungsritual der antiken Toten, deren onomastische trans-latio aus Alt-Europa und erneute Ruhelegung in einer trans-figuratio nun als Bürger des Westens gefeiert wird, auf dass sie den Kindern der Neuen Welt keine Fremden mehr, sondern Vorbilder seien: God­f ather of the christened West! Thy wonder­w orking power Has called from their eternal rest The poets and the chiefs who blest Old Europe in their happier hour: Thou gavest, to the buried great, A citizen’s certificate, And, aliens now no more, The children of each classic town Shall emulate their sire’s renown In science, wisdom, or in war. 3

1 | Grace M. Pierce, The Military Tract of New York State, in: New York Genealogical and Biographical Record, Bd. XL (1909) 1, S. 15–22, https://babel.hathitrust.org/cgi/ pt?id=wu.89119484723;view=1up;seq=27 (abgerufen am 18.07.2017). 2 | Joseph Lemak, Roman Grandeur in Central New York: The Classical Tradition in a Nine­ teenth-Century Pioneer Town, in: New York History 89 (2008) 3, S. 235–255, hier S. 245, http:// archive.is/38E2 / http://www.jstor.org/stable/23185072 (abgerufen am 18.07.2017). 3 | Fitz-Greene Halleck, The Poetical Writings, With Extracts from those of Joseph Rodman Drake, hg. von James Grant Wilson, New York: D. Appleton and Company, 1894, S. 315-318, https://archive.org/details/cu31924021991140 (abgerufen am 10.03.2018).

Translatio imperii in den » Sister Republics « Schweiz und Amerika

Abbildung 1: Revolutionary War Bounty Land Grants, Seneca County, NY

Quelle: Seneca County New York USGW Archives, http://seneca.nygenweb.net/military/ miltract.htm#miltract (abgerufen am 08.07.2017)

Ob das über den Raum gelegte filigrane Netzwerk der Selektion und Kombination von Namen auch eine sinnhafte ›Topo-Textur‹ als Ganzes darstellt, lässt sich nur vermuten, aus den Quellen jedoch kaum erschließen. Dass mit der causa des Republikanismus, gesetzgeberischer, staatsgründender und -erhaltender Akte ver-

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knüpfte Namen gehäuft auftauchen, ist evident. Auch der Ausdruck »Empire State« für New York – die exakte Herkunft liegt im Dunkeln bzw. ist umstritten – fällt in jene Gründerjahre und wird meist mit einem Brief von George Washington an den Bürgermeister von New York, James Duane, vom 10. April 1785 in Verbindung gebracht, wo er vom Staat New York als »The Seat of the Empire« spricht; anderswo soll er für New York den Ausdruck »Pathway to the Empire« gebraucht haben – angesichts der geschätzten damaligen Bevölkerung der dreizehn revolutionären Kolonien von etwa zweieinhalb Millionen eine verwegene, doch weitsichtige Wortwahl:4 »I pray that Heaven may bestow its choicest blessings on your City – That the devastations of War, in which you found it, may soon be without a trace – That a well regulated & benificial Commerce may enrichen your Citizens. And that, your State (at present the Seat of the Empire [kursiv von MB]) may set such examples of Wisdom & liberality, as shall have a tendency to strengthen & give permanency to the Union at home – and credit & respectability to it abroad.«5 Wie in einem Brennglas bündeln sich in dieser lokalhistorischen Momentaufnahme Vorstellungen, die sich mit der alten Idee der translatio imperii zu berühren scheinen – wie weit tun sie das aber wirklich? Ihrem alttestamentarischen Ursprung nach mit Daniels Deutung von Nebukadnezars Traum von den vier Reichen in Verbindung gebracht,6 wird die Vorstellung einer Abfolge von Imperien und einer Übertragung (translatio) der legitimen Herrschergewalt von einem Imperium zum nächsten im Mittelalter im Anschluss an den Kirchenvater Hieronymus zu einer beherrschenden, freilich auch umstrittenen Lehre des europäischen Geschichts- und Staatsdenkens im Rahmen religiöser Vorstellungen und kirchlicher Glaubenslehren.7 Sind es zunächst die Reiche der Babylonier, Perser, Makedonen und Römer, die in eine translationale Abfolge gebracht werden, so verlängert sich die Reihe im Mittelalter in die nachrömischen christlichen Reiche, mit prominentem Anspruch z.B. bereits in der Namensgebung des ›Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation‹, konkurrenziert durch andere Ansprüche. Zentral sind dabei die Aspekte:

4 | Milton M. Klein (Hg.), The Empire State. A History of New York, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 2005, Introduction, S. XIX. 5 | George Washington an Mayor James Duane, in: National Archives – Founders Online, https://founders.archives.gov/documents/Washington/04-02-02-0347#GEWN-04-0202-0347-fn-0002 (abgerufen am 21. 07. 2017). 6 | »Und er [Gott, MB] ist es, der Zeiten und Fristen wechseln lässt, er setzt Könige ab und setzt Könige ein. Er gibt Weisen die Weisheit und Verständigen den Verstand.«, Buch Daniel 2, in: Zürcher Bibel, Zürich: Theologischer Verlag, 2007, S. 21ff., https:// www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/zuercher-bibel/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/27/20001/29999/ (abgerufen am 30.07.2017). 7 | Werner Goez, Translatio Imperii: Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Tübingen: Mohr, 1958.

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a) einer translatorischen Instanz: Gott als ›translator‹ bzw. der Papst als Stellvertreter Christi (mit den entsprechend vorprogrammierten bekannten Konflikten zwischen Kaisertum und Papst), welche die Imperialherrschaft verleihen bzw. weiterreichen, b) einer Aufstiegs- und Verfallsgeschichte mit heilsgeschichtlich eschatologischer Fernperspektivierung, c) einer Verknüpfung der Macht- mit der Wissens- und Weisheitsgeschichte – translatio imperii et studii, d) einer geographisch-geopolitischen Bewegung von Osten nach Westen, zuletzt hin zum Britischen, dann dem Amerikanischen Imperium. Mit der Herausbildung nationalstaatlicher Ideen in der Neuzeit schwächt sich zwar der Gedanke einer theokratisch gesteuerten translatio aufeinander folgender Imperien ab, es bleiben indessen – wenn auch in unterschiedlichen Graden, Intensitäten und Ausformungen – die retrospektive Rückbeziehung auf das Römische Reich, dessen Geschichte und deren Akteure als staatspolitisch imperiale Referenzgestalten und der prospektive Geschichtsentwurf verbunden mit einer Reichsabfolge von Osten nach Westen. So grenzt Herfried Münkler in seinen Überlegungen zur politischen Legitimation imperialer Macht im Spiegel vergangener Imperien die Translation bzw. Filiation von der Analogisierung bzw. Parallelisierung ab: »Während Translation und Filiation wesentlich der Legitimierung imperialer Herrschaft (oder auch bloß imperialer Ansprüche) dienen, spielt das Legitimationserfordernis bei der Bildung von Analogien eine deutlich geringere Rolle. Analogien und Parallelen sollen vor allem Orientierung schaffen und das politische Neuland, in dem sich ein Imperium bewegt, übersichtlich machen. Analogisierung und Parallelisierung schaffen ein Ensemble ähnlicher und dadurch vergleichbarer Geschichtsverläufe, auf deren Basis die politischen Akteure Vertrauen in die Richtigkeit ihrer Entscheidungen zu gewinnen suchen.« 8 Kehren wir mit den gewonnenen historischen und theoretischen Perspektivierungen nochmals kurz in die Seneca Lake-Gegend, zur satirischen Ode auf den Surveyor General de Witt und George Washingtons Prägung vom ›Empire‹ für New York zurück, so erscheint uns das Ensemble wie das – mitunter als Travestie anmutende – Skript einer translatio imperii et studii: In der panegyrischen Apostrophe »God­father of the christened West / Thy wonder­working power […]« wird in säkularisierter Gestalt statt des Allmächtigen oder seines Statthalters der profane Landvermesser de Witt zum Translator der Antike an die (damalige) westliche Frontier der Neuen Welt erkoren und als Taufpate noch unerschlossener Ländereien gefeiert (mit der besonderen Ironie im Ausdruck »God-father« – Pate/ 8 | Herfried Münkler, Translation, Filiation und Analogiebildung: Politische Legitimation und strategische Reflexion im Spiegel vergangener Imperien, in: Herfried Münkler/Eva Marlene Hausteiner (Hg.), Die Legitimation von Imperien: Strategien und Motive im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2012, S. 34–69, hier S. 47.

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Gott-Vater, dass das »christening« mit lauter heidnischen Namen erfolgt). In geradezu paradigmatischer Weise bezeugen die Vorgänge auch die von Münkler imperialtheoretisch postulierte Imaginierung einer griechisch-römischen Welt als »per analogiam gewonnene, orientierende Selbstvergewisserung« der in diesem Fall ja nicht nur – wie Münkler sagt – historisches, sondern auch geographisches Neuland betretenden Akteure: »Sie konnten sich im Unbekannten und Unvertrauten nur bewegen, indem sie es sich als bekannt und vertraut imaginierten.«9 Und fassbar wird schließlich sowohl in der Ode wie in George Washingtons Rede vom »Pathway to the Empire« ein weiterer Grundzug des imperialen Diskurses, nämlich die Legitimation durch das, was Münkler die »imperiale Mission« bei progressiver Rechtfertigung durch Rückbezug auf das Alte nennt: »Zentrale Werte […] können danach nur durch die imperiale Macht zur Geltung gebracht werden. Der Fortschritt der Menschheit ist an die Macht des Imperiums gebunden und alle, die für die weitere Ausbreitung der Werte und Normen sind, […] müssen sich hinter dieser Fahne versammeln […].«10 – in De Witt’s Ode: »The children of each classic town / Shall emulate [kursiv von MB] their sire’s renown / In science, wisdom, or in war.«11 Das Stichwort heißt aemulatio, Nacheiferung, statt einer filiatorischen, herkunftsabgeleiteten translatio. Ganz ähnlich in Washington’s Brief: » […] And that your State (at present the Seat of the Empire) may set such examples [kursiv von MB] of Wisdom & liberality, as shall have a tendency [kursiv von MB] to strengthen & give permanency to the Union at home – and credit & respectability to it abroad.«12 Dass die »imperiale Mission« ihre Kehrseite im missionarischen Imperium USA hat, gehört zum imperialtheoretischen Diskurs der Vereinigten Staaten bis auf den heutigen Tag,13 wobei hier die republikanische Rom- und die christliche Jerusalem-Filiation teils konvergieren, teils parallel laufen. Letztere zeigt sich nicht nur erneut in einer toponomastischen translatio in den unzähligen biblischen Ortsnamen wie ›Salem‹, ›Canaan‹, ›Goshen‹ etc. über das ganze Land verstreut,14 sondern vor allem im einzigen so charakterisierbaren ›Gründungsepos‹ und seinerzeitigen Bestseller The conquest of Canäan … des Pastors, Politikers und nachmaligen Präsidenten von Yale, Timothy Dwight, von 1785.15 In 9 | Ebd. 10 | Ebd., S. 48. 11 | Vgl. Fußnote 3. 12 | Vgl. Fußnote 6. 13 | Vgl. dazu Sebastian Huhnholz, Imperiale oder Internationale Beziehungen? Imperiumszyklische Überlegungen zum jüngeren American-Empire-Diskurs, in: Münkler/Hausteiner 2012, S. 194–230. 14  | https://en.wikipedia.org /wiki/List _of_biblical_place_names_in_Nor th_ America (abgerufen am 22.08.2017). 15 | Timothy Dwight, The conquest of Canäan; a poem, in eleven books, Hartford: Elisha Babcock, 1785, https://archive.org/details/cocana00dwig (abgerufen am 19.03.2017). – Vgl. dazu Christina Dokou, America – No Second Troy – A Study of Early American Epic, in:

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seiner allegorischen Überblendung des Kampfs der Israeliter und der amerikanischen Unbhängigkeitsbewegung verquickt Dwight nicht nur in einer figurativen Hybridisierung die alttestamentarische Gestalt des Heerführers Josua mit George Washington, dem Feldherrn, sondern widmet das knapp 10.000 Verse umfassende Epos auch explizit dem »commander in chief of the American Armies, the Saviour of his Country, the Supporter of Freedom And the Benefactor of Mankind«.16 Viel häufiger freilich als diese Engführung George Washington’s mit biblischen Gestalten17 sind solche mit römischen, zuvorderst Cincinnatus18 und Cato19 . In dreiunddreißig in einer kürzlichen MA-Thesis untersuchten Eulogien zu Washington’s Tod wird der Founding Father, General und erste US-Präsident mit folgenden Gestalten verglichen: Aemilius, Aeneas, Alexander der Große, Archimedes, Aristides, Belisarius, Caesar, Cimon, Cyrus, Epaminondas, Fabius Maximus, Fabricius, Hannibal, Herkules, Leonidas, Lykurg, Marcus Aurelius, Minerva, Numa Pompilius, Philopoeman, Pompeius, Pyrrhus, Romulus, Scipio, Sokrates, Solon, Timoleon, Titus.20 Was wir hier an einem winzigen Ausschnitt verfolgt haben, ist Teil eines umfassenden Geflechts an symbolischen, figurativen, allegorischen Bezugnahmen in Verbindung mit einem stetigen Strom an diskursiven – seien es analogisierenden, parallelisierenden, affirmativen oder kritischen – Erörterungen durch die von Münckler sogenannten »Deutungseliten«,21 der vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht und der in seiner Gesamtheit als diskursiv-symbolisch-my-

Ben Pestell/Pietra Palazzolo/Leon Burnett (Hg.), Translating Myth (Studies in Comparative Literature 37), Cambridge: Legenda, 2016, S. 92–106, hier S. 97–104: »[…] in trying to combine all traditions, the classical and the protestant, the biblical and the contemporary historical, and the courtly romance with pious lay philosophy, Dwight […] fails to excel in any one of them. The resulting work expresses the patriotic sentimentality of his day with­ out any lasting literary merit, yet can tell us a lot about the miscarried miscegenation of classical heroism in the States.« (S. 97). 16 | Dwight 1785, Dedication. 17 | Dazu gehört auch die Engführung mit Moses: Nathan Eugene Stone, Silver Breathed Upon the Stage: The American Revolution as Drama and Mythology, MA-Thesis, Lynchburg, VA: Liberty University, 2012, S. 88–95. 18 | Garry Wills, Cincinnatus: George Washington and the Enlightenment, Garden City, N.Y.: Doubleday, 1984; Stone 2012, S. 81–89. 19 | Siehe unten. 20 | Stephanie Kaye Lawton, Substance or Window-Dressing? Classical Conceptions of Patriotic Citizenship in the Eulogies of George Washington and Andrew Jackson, MA-Thesis, Charlottesville, VA: University of Virginia, 2016, S. 10. 21 | Münkler 2012, S. 47–50.

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thisches Konstrukt mit Fug und Recht als translatio imperii et studii bezeichnet werden kann.22

»D as höl zerne B ein « in P ennsylvanien Nur wenigen ist wohl bekannt, dass der allererste öffentliche Bericht über die Unabhängigkeitserklärung Amerikas in deutscher, nicht in englischer Sprache erschien, und zwar einen Tag nach dem Entscheid des Kontinentalkongresses am 5. Juli 1776 in Henrich Millers Pennsylvanischer Staatsbote. Am 9. Juli folgte sodann daselbst die erste deutsche Übersetzung.23 Keine drei Wochen später, am 26. Juli 1776, erschien im selben Staatsboten, ebenfalls auf der Frontseite, Salomon Gessners Idylle Das hölzerne Bein. Ein Schweitzer Hirten-Gedicht. Was mochte der Zusammenhang zwischen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und Gessners historischer Schweizer Idylle sein? Von ihr hatte Goethe vier Jahre zuvor in seiner ansonsten eher abschätzigen Rezension geschwärmt: »O hätt er nichts als ›Schweizer-Idyllen‹ gemacht! Dieser treuherzige Ton, diese muntre Wendung des Gesprächs, das Nationalinteresse! ›Das hölzerne Bein‹ ist mir lieber als ein Dutzend elfenbeinerne Nymphenfüßchen.«24 Goethe bietet den Leitbegriff für den Zusammenhang: das Nationalinteresse. Dieses wird schon im zweiten Absatz der Idylle geradezu proklamatorisch formuliert:

22 | Als Beispiele allein aus den letzten etwa zwanzig Jahren: Carl J. Richard, The Founders and the Classics: Greece, Rome, and the American Enlightenment, Cambridge, MA/London: Harvard University Press, 1994; Cullen Murphy, Are we Rome? The Fall of an Empire and the Fate of America, Boston: Houghton Mifflin Harcourt, 2007; Carl J. Richard, The Golden Age of the Classics in America: Greece, Rome, and the Antebellum United States, Cambridge, MA/London: Harvard University Press, 2009; Eran Shalev, Rome Reborn on Western Shores: Historical Imagination and the Creation of the American Republic (Jeffersonian America), Charlottesville, VA: University of Virginia Press, 2009; Margaret Malamud, Ancient Rome and Modern America, Hoboken, NJ: Wiley-Blackwell Press, 2009; Vaclav Smil, Why America Is Not a New Rome, Cambridge: MIT Press, 2010; Margaret Malamud, Translatio Imperii: America as the New Rome ca 1900, in: Mark Bradley (Hg.), Classics & Imperialism in the British Empire, Oxford: Oxford University Press, 2010, S. 249–283; Russell Kirk, What Did Americans Inherit from the Ancients?, in: The Imaginative Conservative, 2012, http://www. theimaginativeconservative.org/2012/05/what-did-americans-inherit-from.html (abgerufen am 30.05.2017). 23 | Photo: Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek, https://www.dhm.de/archiv/ magazine/unabhaengig/staatsbot.htm (abgerufen am 28.07.2017). 24 | Johann Wolfgang Goethe: ›Moralische Erzählungen‹ und ›Idyllen‹ von Diderot und S. Geßner, in: Berliner Ausgabe. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen, Bd. 17, Berlin: Aufbau Verlag, 1970, S. 223.

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Abbildung 2: Titelseite »Pennsylvanischer Staatsbote«, 9. Juli 1776

Quelle: Rutgers University Libraries, Legacy Catalog, Microfilm XMCARD no.1731; Early American Newspapers series (mit Dank an Prof. Nicola Behrmann, Rutgers University)

Abbildung 3: Titelseite »Pennsylvanischer Staatsbote«, 26. Juli 1776

Quelle: Rutgers University Libraries, Legacy Catalog, Microfilm XMCARD no.1731; Early American Newspapers series (mit Dank an Prof. Nicola Behrmann, Rutgers University)

Der Alte. […] Daß mancher eurer Väter, so sprach er, voll Narben und zerstümmelt ist, das sollt ihr Gott und ihnen danken, ihr Jungen. Muthlos würdet ihr den Kopf hängen, statt jetzt

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Michael Böhler an der Sonne froh zu seyn und mit muntern Liedern den Wiederhall zu rufen. Munterkeit und Freude tönt jetzt durchs Thal, und frohe Lieder hört man von einem Berg zum andern; Freyheit, Freyheit beglückt das ganze Land! Was wir sehen, Berg und Thal, gehören uns; freudig bauen wir unser Eigenthum, und was wir sammeln das sammeln wir mit Jauchzen für uns. Der junge Hirte. Der ist nicht werth ein freyer Mann zu seyn, der je vergessen kann, daß unsre Väter es erfochten. Der Alte. Und der’s nicht eben so thun würde, mein Sohn!25

Der Alte mit dem hölzernen Bein: Ein Kämpfer in der Schlacht der Alten Eidgenossen gegen die Habsburger beim glarnerischen Näfels nahe dem Walensee 1388, der unter das fallende Pferd eines Ritters gerät, von einem Mitkämpfer gerettet wird, zeitlebens nach seinem unbekannten Retter sucht, jedes Jahr zum Schlachtge­ denken auf den Berg zur Walstatt pilgert,26 dort in einer Anagnorisis im jungen Hirten den Sohn seines verstorbenen Retters erkennt. Happy End (Goe­the fand es abgeschmackt): Der reiche verkrüppelte Alte vermählt seine Tochter mit dem armen schönen Hirtensohn und ist der »glücklichste Mann«. Alt und Jung, Arm und Reich, Vornehm und Einfach hilfreich vereint im republikanischen Kampf um Freiheit, Unabhängigkeit, Wohlergehen gegen die Übermacht der imperialen Feudalherrschaft Habsburgs. Mit dieser Einrückung des Hölzernen Beins in den Pennsylvanischen Staatsboten wird Salomon Gessners Schweitzer Idylle ein Orientierungs- und Leitnarrativ zur Unabhängigkeitserklärung für die deutschsprachigen Kolonisten. Die intentionale Engführung ist nicht bloß hypothetisch, sondern plausibel: Ein Jahr zuvor, 1775, hatte der Herausgeber des Pennsylvanischen Staatsboten, Henrich Miller, eine Schrift The Law of Liberty. A Sermon on American Affairs […] with an Appendix, giving a concise Account of the Struggles of Swisserland [sic! MB] to recover their Liberty veröffentlicht. Sie entstammte der Feder des aus St. Gallen gebürtigen Pastors John Joachim Zubly aus Savannah, der als Repräsentant Georgias zum Kontinentalkongress nach Philadelphia gekommen war. Darin zieht Zubly – wie bereits in seinem 1744 in London publizierten Pamphlet Great Britain’s Right to Tax […] By a Swiss – eine Analogie zwischen der Unterdrückung der Alten Eidgenossenschaft durch Habsburg im 13./14. Jahrhundert mit der zeitgenössischen Repression der amerikanischen Kolonien durch England, parallelisiert König George III. mit Leopold von Österreich, die 13 Alten Orte mit den 13 neuen Kolonien, er­ innert an die Schlachten am Morgarten, bei Sempach und Näfels (!) und daran, dass »all the power of the House of Austria could not re-conquer a handful of Swiss«.27 25 | Salomon Gessner, Das hölzerne Bein, in: Henrich Millers Pennsylvanischer Staats­ bote, 818. Stück, 26. Juli 1776, S. 1. 26 | Noch heute findet jedes Jahr im April die sogenannte ›Näfelser Fahrt‹ in militärischer Ehrenformation und kirchlicher Prozession zum Schlachtort statt. 27 | James Howard Hutson, Switzerland and the United States from 1776 to the Present. The Sister Republics: Die Schweiz und die Vereinigten Staaten von 1776 bis heute, Bern: Stämpfli Verlag, 1992, S. 17–18.

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Zur Schweitzer Idylle qua aktualisierter Polit-Parabel mit der historischen Pa­ rallelisierung USA/Schweiz gesellt sich ebenfalls in jenen Jahren der Begriff »Sister Republics«: Am 14. April 1778 schreibt der vielfach vernetzte und umtriebige schweizerisch-englische Doppelbürger Jean-Rodolphe Valltravers (Vautravers) aus Biel, Theologe, Erzieher und Hofmeister, Kunsthändler und Bankrotteur, Politiker und Gelehrter, Briefkorrespondent u.a. mit Rousseau, Haller, Linné, Mitglied der Royal Society28 etc. an Benjamin Franklin einen langen Brief, worin er ihm die Schaffung einer Allianz der Freundschaft, der guten Dienste, ja ein Verteidigungsbündnis anträgt und Franklin emphatisch beschwört: »Let us be united, as two Sister-Republicks in spite of all arbitrary, invidious, and infesting Ennemies! Let us jointly maintain the Rights of Humanity, legal Liberty, Toleration, and Property secured to honest Industry! Let us enjoy the well earned Blessings of Peace, incourage Arts and Sciences, and be the Asÿlum to its oppressed Votaries! This, my dear Friend, is a noble Task!«29 Eine Antwort Benjamin Franklins blieb zum Leidwesen Valltravers’ aus, die Prägung der »Sister Republics« dagegen hatte Bestand bis auf den heutigen Tag.30 Von tiefergreifender Bedeutung für das Staatswesen beider Länder als die Verschränkung der amerikanischen Zukunfts-Utopie der 13 Kolonien mit dem eidgenössischen Vergangenheits-Narrativ der 13 Alten Orte oder die metaphorisch familiale Verschwisterung in den »Sister Republics« – wie dauerhaft sie haften bleiben mochten – sind die Engführungen im Staatsrechtsdenken der beiden im 18. und 19. Jahrhundert, im Nation Building im wörtlichen Sinn also. So ist bekannt, dass der Genfer Staatsrat und Professor für Ethik und Naturrecht, Jean­ Jacques Burlamaqui und sein Neuenburger Schüler, Staats- und Völkerrechtslehrer Emer de Vattel von ganz entscheidendem Einfluss auf die »Founding Fathers« in ihren Entwürfen eines neuen Staatswesens waren. Burlamaquis’ Principes du droit naturel von 1747, seine Principes du droit politique von 1751 und de Vattels’ Le 28 | Catherine Phillips, Rodolphe Valltravers (1723–1815), Swiss Gentleman, and the Promotion of Useful Knowledge, in: Век Просвещения / Le Siècle de Lumières, Bd. III, Moskau: Nauka, 2011, S. 96–121. 29 | »[…] Connection of Amity, of acknowledging and warranting our Independence, of mutual Defense against all Invaders, and of reciprocal good offices, as Might still add to our Security, and avert any sinister Designs of ambitious Neighbours upon our Liberties.«, in: The Papers of Benjamin Franklin, Sponsored by The American Philosophical Society and Yale University, Digital Edition by The Packard Humanities Institute 2006 (1987), ed. by William B. Willcox u.a., Bd. 26 (1.3.–30.6.1778), http://franklinpapers.org/franklin// framedNames.jsp. (abgerufen am 02.09.2017). 30 | Urs Hammer, Vom Alpenidyll zum modernen Musterstaat: Der Mythos der Schweiz als »Alpine Sister Republic« in den USA des 19. Jahrhunderts, Basel: Helbing & Lichtenhahn, 1995 (Dissertation, Universität Basel, 1993); Pierre Louis Surchat, »The Sister Republics«. Die Schweiz und die Vereinigten Staaten: Literatur aus den Beständen der Schweizerischen Landesbibliothek, in: Jahresbericht der Schweizerischen Landesbibliothek 79 (1992), S. 49–59.

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Droit des gens: Principes de la loi naturelle, appliqués à la conduite et aux affaires des Nations et des Souverains von 1758 wurden jeweils schnell übersetzt und dienten laut einem Brief an James Madison als Referenzwerke bei den Debatten des Ersten Kontinentalkongresses von 1774: »By what I was told Vattel, Barlemaqui [sic!], Locke, and Montesquieu seem to be the standards to which they refer when settling the rights of the colonies or when a dispute arises on the justice or propriety of a measure.«31 Insbesondere soll es Burlamaqui zuzuschreiben sein, dass Thomas Jefferson im Entwurf der Unabhängigkeitserklärung – worin er auch sonst auf ihn zurückgriff – die Trias absoluter Menschenrechte von ursprünglich »life, liberty, and property« in das berühmte »life, liberty, and the pursuit of happiness« umänderte. Treffe diese These Morton G. White’s zu, so habe »the most memorable phrase in the American political vocabulary […] a Swiss accent«.32 Bewegt sich der Ideen-, Wissens- und Inspirationsfluss im Nation Building im 18. Jahrhundert von der Schweiz, vorab der ›Ecole romande du droit naturel‹,33 zu den amerikanischen Kolonien hin, wobei die Vorzüge und Nachteile des real gelebten, ausgeprägten Föderalismus der Schweiz heftig debattiert wurden, so geschieht das Umgekehrte im 19. Jahrhundert bei den Arbeiten an der Bundesverfassung von 1848, ja auch bei einzelnen Kantonsverfassungen; dies in einem Maße, dass ein Schweizer Verfassungsrechtler meinte, man könne »almost speak of a plagiary«.34 Im Kontext unserer Leitfrage nach der translatio imperii ergibt sich mit unserem Einbezug des Verhältnisses zwischen den Sister Republics und der damit verbundenen Schaffung einer Dreiecksbeziehung USA–Schweiz–Imperium Romanum nicht nur eine neue Konstellation, sondern auch ein paradoxes Bild: In der 31 | Zit. bei Hutson 1992, S. 22. George Washington soll, fünf Monate nach seiner Inauguration als Präsident der USA, am 5.Oktober 1789 einen Band von de Vattels Le droit des gens bei der New York Society Library ausgeliehen und nie zurückgegeben haben, sodass diese den Band am 20. Mai 2010 (!) als verschollen erklärte. https://fr.wikipedia.org/wiki/ Emer_de_Vattel#cite_note-3 (abgerufen am 03.09.2017). 32 | Hutson 1992, S. 22. In der ersten deutschen Übersetzung im Pennsylvanischen Staatsboten wurde die Formel noch in beiden Fassungen mit dem religiös konnotierenden »[…] Bestreben nach Glückseligkeit« wiedergegeben, ein Reflex wohl von Henrich Millers jahrelangen engen persönlichen Verbindungen zu Graf N. L. von Zinzendorf und den mährischen Brüdern. Vgl. dazu Patrick Erben, »Henrich Miller«, in: Immigrant Entrepreneurship: German-American Business Biographies, 1720 to the Present, Bd. 1, hg. von Marianne S. Wokeck (German Historical Institute), https://www.immigrantentrepreneurship.org/entry. php?rec=10#_edn1 (abgerufen am 29.08.2017). 33 | Simone Zurbuchen, Die Westschweizer Naturrechtsschule: Von Jean Barbeyrac zur Encyclopédie d’Yverdon, in: Dies., Patriotismus und Kosmopolitismus. Die Schweizer Aufklärung zwischen Tradition und Moderne, Zürich: Chronos Verlag, 2003, S. 49–70. 34 | Hutson 1992, S. 32–41, hier S. 40; Jens Drolshammer, The Americanization of Swiss Legal Culture: Highlights of Cultural Encounters in an Evolving Transatlantic History of Law, Bern: Stämpfli Verlag, 2016.

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mit Gessners Schweitzer Idylle auf der Frontseite des Pennsylvanischen Staatsboten stipulierten Analogiebildung zwischen den 13 Alten Orten versus Habsburg und den 13 Kolonien versus England mutiert die Idee des Imperiums als Hort und Garant göttlich legitimierter Ordnung zum Zerrspiegel bzw. Feindbild, erscheint sie doch jetzt in der Negativfolie der Bekämpfung imperialen Denkens und Handelns und von Imperatoren jedweder Couleur. Damit wechselt die translatio imperii in den Modus einer superatio imperii, wogegen republikanische Ideen und deren Helden im Kampf gegen imperiale Herrschaft gesetzt werden. Der translatio imperii schreibt sich folglich in einer Form negativer Dialektik ein anti-imperialistischer Gestus ein, wie er als Dilemma den amerikanischen Imperialdiskurs periodisch ebenfalls bis auf den heutigen Tag begleitet35 und in der Schweiz ohnehin – und dies nicht nur wegen der Schlacht bei Bibracte, wo die Römer die Helvetier unters Joch zwangen – zur staatspolitisch völkerrechtlichen Grundausrüstung gehört. Dies bedeutet freilich nicht, dass das Imperium Romanum als Orientierungsgröße ganz aus Abschied und Traktanden fiele. Vielmehr verlagert sich der Rückbezug auf einzelne historische Momente der römischen Geschichte und verengt sich auf ganz bestimmte Leitfiguren und -konstellationen des Republikanismus, in welchen dessen Grundwerte-Trias von Tugend, Freiheitsliebe und Gemeinsinn exemplarisch auf- und vorleuchtet. Die translatio imperii et studii wird zu einer translatio virtutum, einer Konfiguration nicht des Herrschafts- und Wissenstransfers, sondern des Wertetransfers.

C ato U ticensis in V alle y F orge , L eipzig und Z ürich Quid ergo? Libertas sine Catone? Non magis quam Cato sine Libertate. Valerius Maximus

Neben der legendären Delaware-Überquerung George Washington’s mit seinen Truppen in der eisigen Weihnachtsnacht 1776 – berühmt nicht zuletzt durch E. G. Leutzes Monumentalgemälde – gehört die Überwinterung im Valley Forge nordwestlich Philadelphias im Winter darauf zu den herausstechenden Wendepunkten des Revolutionskriegs. Von einem durch Kälte, Hunger und Misserfolge zermürbten und demoralisierten Heer herausgefordert, soll Washington nicht nur zu drakonischen Disziplinarmaßnahmen, sondern auch zur Erhebung der Moral durch Kunst gegriffen haben, indem er trotz des Verbots von Theateraufführungen durch den Kontinentalkongress als »contrary to republican principles«36 im

35 | Siehe S. 4, Fußnote 14. 36  | Joseph Addison, Cato: a tragedy, and selected essays, hg. von Christine Dunn Henderson und Mark E. Yellin, mit einem Vorwor t von Forrest McDonald, Indianapolis:

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Mai 1778 Joseph Addison’s Drama Cato aufführen ließ37 – dies womöglich bereits mit dem auf die aktuellen Ereignisse zurechtgeschnittenen New Epilogue von Jonathan Mitchel Sewall.38 Darin überblendet dieser nicht nur Cato mit Washington, King George III. mit Caesar (»Our British Cesar«), sondern faktisch das gesamte Dramenpersonal mit den Hauptakteuren des aktuellen Revolutionskriegs: »Our senate, too, the same bold deed has done, / And for a Cato, arm’d a WASH­ INGTON! / A chief in all the ways of battle skill’d / Great in the council, glorious in the field!« Einmündend in den Schlachtruf »Rise then, my countrymen! For fight prepare, / Gird on your swords, and fearless rush to war! / For your griev’d country nobly dare to die, / And empty all your veins for LIBERTY« endet der Epilog mit dem imperialen Gestus einer Eroberung des ganzen Kontinents im Kon­ trast zu Catos wagenburgähnlichem Rückzug auf Utica und heldenhaftem Suizid: »No pent-up Utica contracts your pow’rs / But the whole boundless continent is yours [reimen tut es sich freilich auf ›ours‹, MB].«39 Und erneut greift Washington im Heereslager vor Newburgh am 15. März 1783 angesichts einer drohenden Meuterei seiner Offiziere zu den rhetorischen Waffen aus Addisons Cato. 40 Die Beispiele an Referenzen, sei es auf Addison’s Drama, sei es auf die Gestalt Catos als solcher, könnten um manche weitere vermehrt werden. Insgesamt bezeugen sie in der Stilisierung George Washingtons durch andere wie in seiner Selbststilisierung die Schaffung einer mythisch überhöhten Persona Cato scilicet Washington, die als Doppelrolle performativ in den aktuellen politischen Auseinandersetzungen eingesetzt wird. Ähnliches könnte von anderen Schlüsselgestalten im amerikanischen Nation Building gezeigt werden. 41 Addisons Drama von 1712 war eines der erfolgreichsten Stücke des 18. Jahrhunderts in England wie auf dem Kontinent und in Übersee und behandelt die letzten Tage und Stunden von Marcus Porcius Cato Uticensis (95–46 v. Chr.) im Konfliktfeld von Tyrannei und Freiheitsliebe, republikanischer Tugend bis zum Liber ty Fund, 2004, hier S. VIII, http://oll.libertyfund.org/titles/1229 (abgerufen am 03.09.2017). 37 | Rob Hardy, Cato, The Digital Encyclopedia of George Washington, http://www.mountvernon.org/digital-encyclopedia/article/cato/; Randall Fuller, Theaters of the American Revolution: The Valley Forge Cato and the Meschianza in Their Transcultural Contexts, in: Early American Literature 34 (1999), S. 126–146 (abgerufen am 22.08.2017). 38 | Shalev 2009, Kindle-Version, Pos. 2110–2111. 39  | Ever t Augustus and George Long Duyckinck, Cyclopaedia of American Literature, Bd. 1, New York: Charles Scribner, 1855, S. 286–287, https://ia801404.us.archive. org/11/items/cyclopaediaamer01duycgoog/cyclopaediaamer01duycgoog.pdf (abgerufen am 07.09.2017). 40 | Addison 2004, S. VIII. 41 | Dazu ausführlich die Kap. 4 Taking the Toga: American Patriots performing Antiquity und Kap. 5. Cato Americanus: Classical Pseudonyms and the Ratification of the Federal Constitution, in: Shalev 2009, Kindle-Version, Pos. 3108–3840.

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stoischen Selbstopfer und politischem Opportunismus, privater Liebe und Gemeinsinn und bietet damit eine ideale Plattform zur staatsrechtlich gesellschaftspolitischen Reflexion und Debatte im spielerischen Medium des Theaters. Während das Stück jedoch auf der amerikanischen Revolutionsbühne gleichsam live – das tragische Ende lediglich als Omen – durchgespielt wird, ist es auf dem Kontinent in den Jahrzehnten zuvor primär ein Tummelplatz vergleichsweise abgehobener ästhetischer, staatspolitischer und ethischer Erörterungen. Exemplarisch dafür Johann Christoph Gottscheds Sterbender Cato von 173242 und die Cato-Parodie seines berühmten Kontrahenten Johann Jacob Bodmer. 43 Ziel Gottscheds in Leipzig ist die »Verbesserung der deutschen Schaubühne«, 44 was er mit einem synkretistischen Verschnitt von Addisons englischem und François-Michel-Chrétien Deschamps’ französischem Caton d’Utique von 1715 in deutschen Alexandrinern und unter Streichung der ganzen Liebesthematik zu erreichen versucht. Damit hat er zwar auf den deutschen Bühnen einige Jahre Erfolg, erntet aber für sein Bemühen um französisierend-aristotelisierende Regel-Reinheit bei Bodmer, 45 später auch bei Lessing 46 und anderen beißenden Spott. Bodmer transformiert Gottscheds gestelzt klassizistische Tragödie unter beibehaltenem hohem Ton in das Burleskstück eines Theaterwettstreits mit Gottsched in der Rolle Catos und seiner eigenen Person selbstironisch in jener Caesars, worin Gottsched/Cato am Schluss sein überlebensnotwendiges Schreibwerkzeug zerbricht, statt sich das Schwert ins Herz zu stoßen: »Grimm. O Schmerz! O harter Fall! Es war bey meiner Treu / Ein fruchtbar Schreibezeug! Die Quell unzähl’ger Reime / Und war es etwas mehr, der allermattsten Träume. / Krüger. Kommt, tragt das Schreibezeug zu einem Denker hin / Vielleicht, wenn er draus schreibt, verändert er den Sinn / Und hilft uns künftighin selbst über Bodmern siegen. / Ripel. O! o! das ist

42 | Johann Christoph Gottsched, Sterbender Cato, ein Trauerspiel, nebst einer Critischen Vorrede, darinnen von der Einrichtung desselben Rechenschaft gegeben wird, Leipzig: Teubners Buchladen, 1732. 43 | Johann Jacob Bodmer, Gottsched, ein Trauerspiel in Versen oder der parodirte Cato, Zürich: o. Verlag, 1765. 44 | Gottsched 1732, Vorrede. 45 | J. J. Bodmer, Strukaras oder Die Bekehrung; Eine hiſtoriſche Erzehlung aus dem Franzoeſiſchen, in: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften, Bd. 12, Zürich: Conrad Orell und Comp., 1744, S. 58: »Er hat mittelſt einer Scheer und eines Topfes voll Pappe ein Trauerſpiel verfertiget, in welchem alle ſeine Regeln dieſer Schreib­a rt beobachtet ſind […].«http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/bodmer_sammlung12_1744/?hl=Scheer&p=60 (abgerufen am 09.09.2017). 46  | Gotthold E. Lessing, Briefe, die neueste Literatur betreffend, 17. Brief, 16. Februar 1759, in: Ders., Werke, Bd. 5, hg. von Jörg Schönert, München: Hanser Verlag, 1973, S. 71: »er verfertigte, wie ein Schweizerischer Kunstrichter sagt, mit Kleister und Schere seinen ›Cato‹.«

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die Frucht von euren Federkriegen!« 47 Cato taugt für den Zürcher Republikaner Bodmer schlechterdings nicht mehr als Leitfigur republikanischer Tugendlehren auf dem Theater, und er begründet dies auch in einer theaterpsychologisch aufschlussreichen Überlegung: Lasset uns der Wahrheit Zeugnis geben; wenn Cato, und andere ausserordentliche Charakter den Beyfall vermissen, so ist die wahre Ursache diese: Man denket und empfindet in den Logen und dem Parterre nicht mit ihnen. Es ist eine Anmerkung, die weniger Ehre dem Publico als dem Poeten machet, das ein Stoicker in dem Trauerspiel eine unerträgliche Person seyn, und in der Comödie ein beständiges Gelächter verursachen würde. Und man hat nicht sehr übertrieben gesagt, das [sic!] die Vernunft auf der Schaubühne nichts tauge, den Beyfall zu erhalten. Ein Mensch ohne Leidenschaften, oder der sie beherrschet, wird diejenigen nicht sehr einnehmen, die Leidenschaften haben, die davon bemeistert werden, und ihren Neigungen geschmeichelt wissen wollen. Denn wer siehet sich gerne in einer Gestalt, die ihn sich selbst verachtungswürdig vorstellt?48

Dies bedeutet freilich keineswegs, dass Bodmer auf die Parallelführung von antikem Republikanismus mit politischen Zeitfragen des aufklärerischen Republikanismus schweizerischer Observanz verzichtete, ganz im Gegenteil: Er betreibt in den Jahren 1768/69 eine eigentliche Translatio-Manufaktur der Herstellung von elf (!) explizit als solcher betitelter »Politischer Schauspiele« 49 aus dem griechisch-römischen Stoffe-Fundus: Beginnend mit Marcus Brutus; ein politisches Schauspiel folgen mit jeweils gleichem oder ähnlichem Untertitel Tarquinius Superbus, Italus, Timoleon von Korinth, Pelopidas, Octavius Caesar, Nero, Thrasea Paetus (ein römischer Senator zur Zeit Neros, der sein eigenes Leben nach dem Vorbild Catos gestaltete), Die Tegeaten, Die Rettung in den Mauern von Holz, Aristomenes von Messenien. In eine »Catonische Klage« lauter rhetorischer Fragen ex negativo gekleidet, entwirft Bodmer in der Vorrede zum dritten Band ansatzweise eine disputative Dramaturgie der verfremdenden Fernstellung, einer dissimulativen aemulatio nicht unähnlich Brechts epischem Theater mit seinen V-Effekten. Sie beginnt schon mit dem sprechenden Satz: »Laß es dich nicht befremden [kursiv von MB], Leser, daß der Dichter den Stoff und die Sitten in den Tagen der griechischen Republiken gesucht hat; in unsren Jahrhunderten fand er ihn nicht […].« Und er fährt fort:

47 | Bodmer 1765, S. 47–48. 48 | Bodmer, Drey neue Trauerspiele. Næmlich: Johanna Gray. Friederich von Tokenburg. Oedipus, Zürich: Heidegger und Compagnie, 1761, S. 6. 49 | J. J. Bodmer, Politische Schauspiele [1], Zürich: Orell, Gessner und Comp., 1768, J. J. Bodmer, Politische Schauspiele, Zweytes Baendgen. Aus den Zeiten der Caesare. Lindau und Chur: Typographische Gesellschaft, 1769; J. J. Bodmer, Politische Schauspiele, Drittes Baendgen. Von griechischem Innhalt. Lindau und Chur: Typographische Gesellschaft, 1769.

Translatio imperii in den » Sister Republics « Schweiz und Amerika […] können Leute griechisch denken, die nur ihre Vaterstadt, ihre Provinz kennen? Die glauben, daß sie die Nationen kennen, wenn sie ihre Nation kennen; und daß sie die Menschen kennen, wenn sie ihre Mitbürger kennen […]. Was bekümmern sie sich […] um die Verschiedenheit der Staatsanordnungen, da ihnen nicht in den Sinn kömmt, daß eine menschlichere seyn kann als ihre eigene nicht ist; oder wenn eine seyn könnte, daß sie die ihrige um dieselbe verlassen dürften? Denn sie glauben sich zu den Gesezen gebohren, unter welchen sie gebohren sind. 50

Deutlicher kann ein progressiv experimentelles, aufklärerisches Theaterprogramm in der Rückorientierung an antiken Schlüsselgestalten kaum formuliert werden. Zu Recht wurde Bodmers Dramenschaffen daher auch als »Debatten­ Dramaturgie« gekennzeichnet.51 Diese freilich war bereits zu Bodmers Lebzeiten kaum mehr erfolgreich und wurde nur wenige Jahre darauf vom Sturm-undDrang-Drama hinweggefegt, Bodmer selbst von einem deutschen Literaturkritiker unserer Tage gar des »politische[n] Primitivismus« geziehen.52 Im Kontext unserer Fragestellung und des republikanischen Staatsdenkens sieht das freilich etwas anders aus. Unsere translatorische Rundreise nach Upstate New York, Philadelphia, Valley Forge, zu den Staatsdenkern der welschen Schweiz und ins gessnerisch-bodmerische Zürich abschließend lebt als Befund und Ertrag die Idee einer translatio imperii im 18. Jahrhundert der »Sister Republics« USA/Schweiz im oszillierenden Spiel von hybriden Rhetoriken der aemulatio, dissimulatio, superatio, deliberatio, von Übertragung, Nacheiferung, Absetzung, Überwindung, Erörterung vielgestaltig, immer aber munter und lebhaft fort.

50 | Bodmer, Politische Schauspiele, Drittes Baendgen 1769, S. 5–7. 51 | Albert Meier, »Keine Fesseln von einem König!«. Bodmers Poetik des »politischen« Schauspiels, in: Anett Lütteken/Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.), Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung (= Das achtzehnte Jahrhundert, Supplementa 16), Göttingen: Wallstein, 2009, S. 314–326, hier S. 319; vgl. dazu auch Jesko Reiling, Die Genese der idealen Gesellschaft: Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodmer (1698–1783), Berlin: De Gruyter, 2010, S. 237–291; Arnd Beise, Geschichte, Politik und das Volk im Drama des 16. bis 18. Jahrhunderts (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 40), Berlin: De Gruyter, 2010, S. 257–314. 52 | Kurt Wölfel, zit. bei Reiling 2010, S. 237.

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Gedächtnis, Erinnerung, Mythos Aspekte zu einer Hermeneutik von Mehrdeutigkeit und Differenz Moritz Csáky

I. Im Zusammenhang mit Zentraleuropa wird zu Recht immer wieder auf jene sprachlich und kulturell komplexe, hybride Konstellation hingewiesen, die ein, wenn nicht das charakteristische Merkmal dieser Region ist. Dies gilt, aus einer historischen Perspektive, unter anderem auch für den ehemaligen habsburgischen Vielvölkerstaat. Das berühmte Staats-Lexikon von Rotteck und Welcker aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte daher in einem Beitrag über die Monarchie diese als ein »Europa im Kleinen« bezeichnen: »Die Stellung und der Umfang der mehreren Hauptnationen der Monarchie hat auf den Gedanken geführt, diese als ein Europa im Kleinen zu betrachten und, neben einem europäischen, ein besonderes östreichisches Gleichgewicht vorauszusetzen.«1 Zwanzig Jahre zuvor hatte bereits der Polyhistor Johann (Jan) Csaplovics (Čaplovič) das mehrsprachige und plurikulturelle Ungarische Königreich, das 1820 ein Teil des Österreichischen Kaisertums war, als ein »Europa im Kleinen« bezeichnet.2 Um sich von der Monarchie als einem »Europa im Kleinen« ein Bild machen zu können, sei unter anderem auf die Sprachenvielfalt des habsburgischen Empire verwiesen. Von den ca. 52,7 Millionen Einwohnern des Gesamtstaates im Jahre 1900 entfielen entsprechend der mit der Volkszählung durchgeführten Sprachenerhebung 23,36 % auf Deutsch (12 Millionen), 19,57 auf Ungarisch (10 Millionen) und 44,79 % auf »Slawisch« (ca. 24 Millionen), das heißt auf solche, die eine der slawischen Sprachen als ihre Umgangs- beziehungsweise Mut1 | Oestreich, in: Carl von Rotteck/Carl Welcker (Hg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften. Bd. 12, Altona: Johann Friedrich Hammerich, 1841, S. 125– 235, hier S. 143. 2 | Johann v. Csaplovicz [sic!], Das Königreich Ungern [sic!] ist Europa im Kleinen, in: Erneuerte Vaterländische Blätter für den österreichischen Kaiserstaat 13 (1820), S. 409–417.

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tersprache angaben, dazu kam noch Rumänisch (ca. 6 %), Italienisch (ca. 1,7 %) und Sonstige (ca. 1,6 %).3 1910 bekannten sich von den ca. 31 Millionen Einwohnern Zisleithaniens, der österreichischen Reichshälfte der Doppelmonarchie, 35,78 % zu Deutsch und 60,46 % zu einer der slawischen Umgangssprachen, die sich auf Tschechen/Mährer/Slowaken (23,24 %), Polen (16,59 %), Ruthenen/Ukrainer (13,21 %), Slowenen (4,65 %) und Kroaten (2,77 %) verteilten. 4 Zu Recht konnte daher die Monarchie auch als ein »Staat der Contraste« (Friedrich Umlauft) bezeichnet werden, in dem freilich die Grenzen zwischen den Sprachen und Nationalitäten zuweilen durchlässig waren, wovon vor allem zahlreiche Städte der Region betroffen waren. »Da jedoch die genannten Völker nicht durchweg scharf abgegrenzte, abgeschlossene Gebiete bewohnen«, meinte der Geograph Umlauft, »so ist in solchen Grenzbezirken häufig eine eigenthümlich gemischte Bevölkerung zu finden.«5 Es ist dies eine Situation, die Ernest Gellner zufolge eher einem Gemälde von Kokoschka vergleichbar wäre, wo sich die Farben »in einem solchen Aufruhr« befinden, »daß sich in den Details keine klaren Muster abzeichnen«, ganz im Unterschied zu einem Bild von Modigliani, wo es »nur sehr wenige Farbabstufungen« gibt und »Mehrdeutigkeiten und Überlappungen […] so gut wie gar nicht vor[kommen].«6 Jean-Pierre Rioux hatte daher mit Blick auf Zentraleuropa schon vor längerer Zeit etwas überheblich angemerkt, dass im Unterschied zu Frankreich, das »une construction politique et morale: culturelle au sens le plus noble« sei, in dieser Region, die von »cacophonies [sic!] des langues et des peuples« gekennzeichnet wäre, die Bildungen von eindeutigen nationalen Identitäten nur schwer hätten verwirklicht werden können.7 In der Tat bemächtigte sich vor allem die nationale Ideologie dieser sprachlichen Heterogenität. Mit dem Erstarken der Nationalismen, die, um das Gellner’sche Bild von Modigliani zu bemühen, die Separation der unterschiedlichen sprachlich-kulturellen Gemeinschaften zum Ziele hatten, gerieten die Sprachen und Völker Zentraleuropas und seiner Subregionen zunehmend in ein rivalisierendes und konkurrieren3 | Volkszählung von 1910. Vgl. www.österreich-ungarn.de/demografie.html (abgerufen am 20.07.2017). Vgl. auch die detaillierte Übersicht der Umgangssprachen in: Peter Ur­ banitsch, Die Deutschen, in: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. III: Die Völker des Reiches. 1. Teilband, Wien: Verlag der ÖAW, 1980. S. 33–410, hier S. 38, Tabelle 1: Die Bevölkerung der Kronländer Cisleithaniens nach der Nationalität und nach der Umgangssprache 1851–1910 (absolut und in Prozenten). 4 | Vgl. www.deutsche-schutzgebiete.de/kuk_bevoelkerung.html (abgerufen am 24.07.2017). 5 | Friedrich Umlauft, Die Oesterreichisch-Ungarische Monarchie. Geographisch-statistisches Handbuch mit besonderer Rücksicht auf politische und Cultur-Geschichte für Leser aller Stände, Wien/Pest: Hartleben, 1876, S. 2. 6 | Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne. Aus dem Englischen von Meino Büning, Berlin: Rotbuch, 1991, S. 202–203. 7 | Jean-Pierre Rioux, La mémoire collective, in: Ders./Jean-François Sirinelli (Hg.), Pour une histoire culturelle, Paris: Édition du Seuil, 1997, S. 325–353, hier S. 343.

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des Verhältnis zueinander. Dadurch ergab sich eine Situation, an der allerdings auch die Volkszählungen ihren Anteil hatten, insofern nämlich, als die Sprache als eines der wesentlichen Kennzeichen für eine Nationalität galt, wurde das bei den Volkszählungen erhobene Bekenntnis zu nur einer bestimmten Umgangssprache auch zu einem repräsentativen Indikator für die Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft, sie wurde zu einem »identity marker« und zugleich zu einem »boundary marker«, indem sie eine Abgrenzung von denen signalisierte, die sich zu einer anderen Sprache bekannten. Die in der Realität vielfach vorhandene »eigenthümlich gemischte Bevölkerung«, die auch in der praktizierten Mehrsprachigkeit zum Ausdruck kam und die zugleich eine Multipolarität von Identitäten signalisierte, wurde durch die Rubrik Umgangssprache verdrängt oder negiert (in der ungarischen Reichshälfte wurde neben der Muttersprache auch nach der Beherrschung einer zweiten Sprache gefragt, freilich um damit indirekt nachzuweisen, wie verbreitet die ungarische Sprache auch bei jenen war, die nicht Ungarisch als ihre Muttersprache angegeben hatten). Davon betroffen waren unter anderem jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, denen es zum Beispiel in Galizien nicht gestattet war, Jiddisch, das nicht als eine offiziell anerkannte Sprache galt, als ihre tatsächliche, angestammte Umgangssprache anzugeben und sich für eine der landesüblichen Umgangssprachen entscheiden mussten, die sie selbstverständlich auch beherrschten. »Die StaatsbürgerInnen gewöhnten sich nicht nur daran«, meint Wolfgang Göderle folgerichtig, »die Fragen nach den Gesichtspunkten der Erhebungen zu beantworten, die abgefragten Gesichtspunkte wurden auch ein Teil ihrer sozialen Wirklichkeit.« 8 Die Volkszählungen entsprachen also auch einem offiziell praktizierten Zwang, soziale beziehungsweise nationale Realitäten nicht nur zu strukturieren, sondern diese auch zu konstruieren; sie bedeuteten in letzter Konsequenz den Zwang zur Assimilation. »Die Kategorie der ›Umgangssprache‹ entwickelte sich [daher] in der Folge zur umstrittensten und meistdiskutierten Rubrik der Erhebung.«9 Das heißt, ein solches durch den Zensus verordnetes Bekenntnis zu nur einer Sprache spielte den nationalen Ideologen in die Hände, die die Sprache zu einem wesentlichen, konstitutiven Kriterium für Nation beziehungsweise für eine ethnische Zugehörigkeit erklärt hatten und folglich aus der in den Volkszählungen angegebenen Sprachenzugehörigkeit auch auf die ethnisch-nationale Zugehörigkeit schließen konnten. »Dies hatte zur Folge«, meint Michaela Wolf, »dass aus den erhobenen Daten scheinbar problemlos auf die ethnische Verteilung der Bevölkerung geschlossen werden konnte.«10 Individuen und ganze soziale Gruppen wurden folg8  | Wolfgang Göderle, Zensus und Ethnizität. Zur Herstellung von Wissen über soziale Wirklichkeiten im Habsburgerreich zwischen 1848 und 1910, Göttingen: Wallstein, 2016, S. 151. 9 | Ebd., S. 225. 10 | Michaela Wolf, »Die großartige Versuchsstation der Habsburgermonarchie«: Übersetzen und Dolmetschen als Beitrag zur Konstruktion von Kulturen, in: Ewa Cwanek-Florek/

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lich durch die derart instrumentalisierte offizielle Sprachenerhebung automatisch bestimmten Nationalitäten zugeordnet, selbst wenn sie es nicht wollten.

II. Freilich entsprachen die nationalen Narrative keineswegs den klaren Intentionen beziehungsweise dem Bewusstsein von ganzen Bevölkerungs- oder Sprachgruppen, sie wurden vielmehr, betont Eric Hobsbawm, von kleinen, national gesinnten Eliten, beispielsweise von Vertretern »städtischer Mittelschichten« konzipiert und medial (Schrifttum, Schule, Denkmäler, Straßennamen) verbreitet, 11 sie wurden also, wie Paul Ricœur hervorhebt, ideologisch »manipuliert«, in ein kollektives Gedächtnis implementiert und zu dominanten Inhalten des historischen Bewusstseins erklärt,12 obwohl ein Großteil der Bevölkerung, zum Beispiel die ländlichen Bewohner, davon nicht berührt war. Ein solches historisches Bewusstsein als Teil des kollektiven Gedächtnisses, das sich aus übereinstimmenden Inhalten, aus vermeintlichen gemeinsamen Erinnerungen an Ereignisse oder aus gemeinsamen Erfahrungen jener Individuen zusammensetzt, die einer Gruppe (einem Kollektiv) angehören,13 erweist sich allerdings als überaus komplex und mehrdeutig. Seine konkreten Inhalte sind zunächst individuell verankert und werden so zu Bestandteilen sowohl einer personalen als auch kollektiven Identität. Das historische Bewusstsein ist nicht zuletzt abhängig vom Akt der historischen Rekonstruktion, von der Art der Vergegenwärtigung der Vergangenheit durch historische Darstellungen. Eine historische Darstellung kann sich freilich nicht mit einer bloßen Aufzählung und Archivierung von Ereignissen begnügen, vielmehr versucht sie, Ereignisse zu kontextualisieren, das heißt diese zu erklären und in einen Bedeutungszusammenhang einzuordnen. Über eine zeitliche und kulturelle Distanz hinweg geschehen solche Deutungen immer mit Hilfe von Erfahrungen und Erkenntnissen, das heißt von »Rahmungen« (Erving Goffman 14) aus der jeweiligen Gegenwart. Diese »Rahmungen«, die sich dem lebensweltliIrmgard Nöbauer (Hg.), Deutsch und die Umgangssprachen der Habsburgermonarchie, Wien: PAN, 2014, 43–56, hier S. 45. 11 | Eric J. Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter 1875–1914. Aus dem Englischen von Udo Rennert, Frankfurt am Main/New York: Campus, 1989, S. 197. 12 | Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. Aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek, Heinz Jatho und Markus Sedlaczek, München: Wilhelm Fink, 2004, S. 130–139 (»das manipulierte Gedächtnis«), S. 683–696 (»das verhinderte Gedächtnis«). 13 | Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis. Mit einem Geleitwort zur deutschen Ausgabe von Heinz Maus. Aus dem Französischen von Holde Lhoest-Offermann, Frankfurt am Main: Fischer, 1985, S. 25. 14 | Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltags­ erfahrungen. Übersetzt von Hermann Vetter, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980.

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chen, wissenssoziologischen Kontext (Alfred Schütz, Peter L. Berger15) verdanken, können sich immer wieder verändern. Daraus ergibt sich einerseits eine Vielzahl von möglichen Interpretationen, in denen die res factae und die res fictae, das heißt historische Ereignisse ( facta) und bedeutungszuweisende Erklärungen ( ficta), ineinander übergehen. Die Erkenntnis und Bewertung einer historischen ›Wahrheit‹ besteht daher letztlich in der Erkenntnis und Bewertung von möglichen Wahrscheinlichkeiten. Andererseits ergibt sich daraus jedoch auch die Möglichkeit, dass historischen Zusammenhängen aus einer nationalideologischen Per­ spektive der Gegenwart Bedeutungen eingeschrieben werden, die den fiktionalen Gesichtspunkten von nationalen Narrativen entsprechen.

III. Der Mythos ist nach Roland Barthes eine besonders wirkungsmächtig deutende »poetische Fiktion«, denn er ist »kein Objekt, kein Begriff oder eine Idee«, sondern vor allem »eine Weise des Bedeutens«.16 Nationale Narrative entsprechen »fiktionalen« Geschichtsmythen, die gegenüber empirisch verifizierbaren Erklärungsversuchen historische Realitäten deutend inszenieren. Werden solche Geschichtsmythen einer rationalen wissenschaftlichen Reflexion unterzogen, wird auch ihre »poetische Fiktion« zerstört oder wenigstens ironisch hinterfragt. Seit dem 19. Jahrhundert argumentieren nationale Geschichtsdiskurse zunehmend mit fiktional-mythischen Bildern, indem sie unter anderem Nation mit Hilfe von drei Kriterien definieren: einer fiktionalen gemeinsamen Abstammung, einer fiktionalen gemeinsamen (National-) Geschichte und einer postulierten gemeinsamen (National-) Sprache. Die Geschichte und der Ursprung einer Nation werden anachronistisch möglichst weit in die Vergangenheit zurückprojiziert, wodurch der Gründungsmythos der Nation inszeniert und legitimiert wird. Auch andere (fiktionale) mythische Bedeutungszuweisungen dienen dem Zweck, nationale Kohärenz zu imaginieren: Herrschergestalten werden zu mythischen Heroen, Kriege und ihre Feldherren zu mythischen Konstitutiven einer Nation. Nicht zuletzt sind es vor allem Opfermythen, die zum Beispiel traumatische Erfahrungen der Vergangenheit durch eine positiv deutende Erinnerung bewusst machen und als konstitutiv für die Nation erscheinen lassen. »Denn Opfer gewesen zu sein«, so Tzvetan Todorov, »gibt [den Menschen] das Recht, sich zu beklagen, zu protes-

15 | Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe von Helmuth Plessner. Übersetzt von Monika Plessner. 26. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer, 2016. 16 | Roland Barthes, Mythen des Alltags. Deutsch von Helmut Scheffel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1964, S. 85.

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tieren, Ansprüche zu stellen.«17 Als Menschen, die ein Opfer (sacrifice) auf sich genommen haben, werden selbst den Gefallenen eines verlorenen Krieges posthume Ehrungen zuteil, zum Beispiel durch die Errichtung von Denkmälern. Sie avancieren zu identitätsstiftenden Helden einer Nation. Hier findet eine Umkehrung der Positionen statt. Nicht nur jener, der sich geopfert hat, auch der Unterdrückte (victime) wird zum Sieger, der Forderungen (zum Beispiel nach Freiheit) stellen kann. Der Unterdrückte mutiert zum Starken, der Unterdrücker zum Schwachen. »Der Unterdrückte macht die Welt, er hat«, nach Roland Barthes, »nur eine aktive, positive (politische) Sprache, der Unterdrücker konserviert sie, seine Aussage ist allgemein, intransitiv, gestenhaft, theatralisch, es ist der Mythos. Die Sprache des einen meint Veränderung, die des anderen Verewigung.«18 Dabei ist wichtig, dass die Haltung des Opfers, wie Paul Ricœur meint, »ein gewaltiges Privileg [schafft], das dem Rest der Welt die Position des Schuldners zuweist.«19 Haben sich Opfermythen als etwas Fiktional-Imaginäres in das kollektive Gedächtnis eingenistet, erweisen sie sich gegenüber anderen Deutungen als äußerst resistent. Je größer der (rationale) Widerstand gegen solche Mythen ist, umso mehr scheinen sie sich zu verfestigen. Denn der »Mythos entzieht dem Objekt, von dem er spricht, jede Geschichte. Die Geschichte verflüchtigt sich aus ihm.«20

IV. Opfermythen sind seit der Antike gängige Topoi mit der Funktion, innerhalb bestimmter Gemeinschaften Identität zu stiften. Diese Gemeinschaften können unterschiedlichster Natur sein und ihr Opferstatus kann mehr oder weniger auch in einem realen Leiden begründet sein: Frauen als Opfer patriarchaler Herrschaft, Bauern als Opfer der Industrialisierung, Arbeiter (»Proletarier«) als Opfer des Kapitalismus, Sprachminoritäten als Opfer von Repressionen und Ausgrenzungen, Intellektuelle als Opfer von totalitären Regimen, selbst eine »dominant minority« als Opfer einer plurikulturellen Gesellschaft – oder, ein noch immer gängiger fingierter Opfermythos als ein Code der Antisemiten: die ganze Welt als Opfer des jüdischen Finanzkapitals.21 Ein Opfermythos beginnt nicht dort, wo die Mitglieder einer Gemeinschaft real zum Opfer werden, sondern dort, wo diese Gemeinschaft eine Erzählung von einer solchen Erfahrung ins kollektive Ge17 | Tzvetan Todorov, Les Abus de la mémoire, Paris: Arléa, 1995, S. 56, zit. in: Ricœur 2004, S. 138. 18 | Barthes 1964, S. 138 (kursiv im Original). 19 | Ricœur 2004, S. 138. 20 | Ebd., S. 141. 21 | Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, in: Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays., München: C. H. Beck, 22000, S. 13–36.

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dächtnis zu implementieren versucht, um die oben erwähnten diskursiven Effekte zu erzielen. Opfermythen gehören also immer zu einem politischen, vor allem zu einem nationalpolitischen Diskurs. Dieser zweite Fall scheint für die Geschichten Zentraleuropas in besonderem Maße relevant zu sein, denn in diesem Raum wurden unterschiedlichste Gemeinschaften von verschiedenen nationalpolitischen Diskursen vereinnahmt, instrumentalisiert und manipuliert. Die entsprechenden Opfermythen haben dabei eine verschieden lange und sehr divergierende Herkunft.22 Während in Deutschland beispielsweise nach dem Ersten Weltkrieg die ›Schmach‹ der Pariser Friedensverträge einem relativ kurzlebigen, jedoch politisch umso wirksameren Opfermythos Vorschub geleistet hat (Opfer des Friedensvertrags von Versailles), wurde in Österreich die ›Opferthese‹, es wäre 1938 gewaltsam, gegen seinen Willen, in das nationalsozialistische Deutsche Reich integriert worden, nach 1945 zu einem integralen Bestandteil des österreichischen Staatsnarrativs bis in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Im Vergleich zu diesen Narrativen waren im kollektiven Gedächtnis (Geschichtsbewusstsein) von Slaven und Magyaren langlebige Opfermythen bereits seit Generationen verankert. Man denke an die leidvolle Geschichte des ehemals dreigeteilten Polen oder an die von Polen, Deutschen oder Russen (Sowjets) okkupierte, vereinnahmte Ukraine. Weniger prominent spielt der Opfermythos auch im slowakischen historischen Bewusstsein eine Rolle, in dem das slowakische Volk zunehmend zwischen ›zwei Fronten‹ angesiedelt wird, zwischen einer unterdrückenden magyarischen beziehungsweise tschechischen Majorität. Für die ungarischen Geschichtsdiskurse beginnt die Tradition eines Opfermythos spätestens im ausgehenden 18. Jahrhundert: Die hundertfünfzig Jahre währende Okkupation durch die Osmanen (Schlacht von Mohács), die jahrhundertelange ›Unterdrückung‹ durch die Habsburgerherrschaft (zum Beispiel Niederlage des Rákóczi’schen ›Freiheitskampfes‹, die Niederlage während der Revolution von 1848/49). Diese Opfermythen wurden zu einem Habitus des politisch-intellektuellen Diskurses und werden in der Folge auch auf neuere historische Erfahrungen übertragen und politisch instrumentalisiert. Beispiele dafür sind das ›Friedensdiktat‹ von Trianon, durch das Ungarn zwei Drittel seines Territoriums verlor, ferner die Unterdrückung durch die Sowjetunion (kommunistisches Herrschaftssystem) und neuestens auch die Unterdrückung der nationalen Souveränität durch die Brüsseler EU-Bürokratie. Der Opfermythos, das heißt die pessimistisch-fatalistische Sicht auf die schicksalhafte, leidgeprüfte Geschichte des ungarischen Volkes (Stichwort: ›Ungarn zwischen Ost und West‹), wurde vor allem seit dem 20. Jahrhundert in der Tat zu einem geläufigen Topos des intellektuellen Diskurses.23 22 | Hierzu u.a. Sabine Offe, Opfererzählungen. Europäische Gedächtnisorte, in: Moritz Csáky/Johannes Feichtinger (Hg.), Europa – geeint durch Werte? Die europäische Werte­ debatte auf dem Prüfstand der Geschichte, Bielefeld: transcript, 2007, S. 133–143. 23 | Zu diesem Opfermythos-Diskurs vgl. z.B. Gyula Szekfű (Három nemzedék [Drei Generationen], 1920), Lajos Prohászka (A vándor és a bújdosó [Der Wanderer und der Flücht-

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V. Unter dem Gesichtspunkt eines möglichen hermeneutischen Zugangs erhal­ ten solche rhetorisch konstruierten nationalen mythischen ›Texte‹ (Inhalte) nicht zuletzt auch durch ihre ›Leser‹, die Rezipienten, erst jene Gewichtung, die dann im Nachhinein oft unbedacht und vorschnell auf ganze Gesellschaften übertragen werden. Für eine redliche wissenschaftliche Reflexion und Analyse solcher Vorgänge gilt es also, sowohl die von den ›Autoren‹ des nationalen Narrativs beabsichtigte Wirkung als auch den schöpferischen Anteil der Rezipienten als den bedeutungszuweisenden, interpretierenden Lesern solcher Texte zu beachten. Diese kritische Differenzierung zwischen einer Wirkungs- und einer Rezeptionsanalyse kann in der Tat ein fruchtbares methodisches Instrumentarium für eine notwendige Entmythologisierung beziehungsweise Dekonstruktion von nationalen Ideologien sein. Sie kann zudem dazu beitragen, die von einzelnen sozialen Gruppen propagierten nationalen Inhalte nicht mit dem kollektiven Bewusstsein einer ganzen Generation zu identifizieren. Dies zu betonen scheint deshalb wichtig, weil manche historische Darstellungen letzteres ganz einfach vorauszusetzen scheinen und sich beispielsweise bei ihrer Argumentation die medial propagierten nationalen Inhalte zu eigen machen, um auf diese Weise den Bewusstseinshorizont einer ganzen Zeit zu umschreiben. Mit einer solchen Vorgangsweise tappt man freilich zuweilen in die Falle einer nationalistischen Methodologie, denn ling], 1936), Lászlo Németh (Kisebbségben [In der Minderheit], 1942), aber ebenso István Bibó, der Ungarn, Böhmen und Polen im Verlaufe ihrer Geschichte als die großen europäischen »Verlierernationen« bezeichnete. Vgl. Bibó István, A kelet-európai kisállamok nyomorúsága (Das Elend der kleinen Staaten Osteuropas) [1946], in: Bibó István, Válogatott tanulmányok (Ausgewählte Studien). Bd. 2, Budapest: Magvető 1986, S. 185–265. Auch Jenő Szűcs’s Charakterisierung Ostmitteleuropas als einer »rückständigen Region« verdankt sich u.a. dem Einfluss von Bibó. Vgl. Szűcs Jenő, Vázlat Európa három történeti régiójáról, Budapest: Magvető, 1983. Deutsch: Jenő Szűcs, Die drei historischen Regionen Europas. Mit einem Vorwort von Fernand Braudel. Aus dem Ungarischen von Béla Rásky, Frankfurt am Main: Neue Kritik, 21994. Zu den Diskursen in der Zwischenkriegszeit vgl. v.a. die kritischen Analysen von Lackó Miklós, Korszellem és tudomány (Zeitgeist und Wissenschaft), Budapest: Gondolat, 1988 und Lackó Miklós, Sziget és külvilág. Válogatott tanulmányok (Insel und Außenwelt. Ausgewählte Studien), Budapest: MTA T TI, 1996. Vgl. auch die allgemeine, weniger analytische Darstellung von Romsics Ignác, Clio bűvöletében. Magyar történetírás a 19.–20. században – nemzeközi kitekintéssel (Unter Clios Zauber. Ungari­s che Geschichtsschreibung im 19.–20. Jahrhundert – mit einem internationalen Ausblick), Buda­ pest: Osiris, 2011. Vgl. dazu auch die Ergebnisse einer ungarischen Forschungs­initiative und das Resümee von Balogh László Levente, Az emlékezetpolitika és az áldozat elbeszélései (Die Gedächtnispolitik und die Erzählungen über das Opfer), in: Balogh László Levente/ Valastyán Tamás (Hg.), Az áldozat reprezentációi (Die Repräsentationen des Opfers), Debrecen: Debrecen University Press, 2016, S. 361–383.

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man schreibt, ohne es wahrzunehmen oder zu beabsichtigen, das nationale Narrativ so nur fort.24 Das heißt im Konkreten – und ich denke hier vor allem an manche Darstellungen der historischen Gedächtnisforschung –, dass man damit zum Beispiel ursprünglich national codierten metaphorischen oder real-topographischen ›Orten‹ eine zeitübergreifende und eine allgemein gültige, eindeutige (nationale) Relevanz zuschreibt, wodurch man sich gegenüber anderen vorhandenen oder möglichen Erinnerungs- beziehungsweise Deutungsweisen verschließt. »So we should be careful«, kommt Pieter M. Judson zum Schluss, »not to confuse too easily the predominance of the nation in public political rhetoric with the emotional commitments in individual people«.25 Der Kulturphilosoph Michel de Certeau spricht in einem solchen Zusammenhang von den »schweigenden Regionen« (»zones de silence«), die es gleichermaßen zu berücksichtigen gelte,26 und der Mediävist Jacques Le Goff fordert dazu auf, »ein Inventar der Archive des Schweigens zu erstellen und Geschichte auf der Grundlage von Quellen und fehlenden Quellen zu erarbeiten.«27 Von einer anderen Seite aus betrachtet erschließen sich freilich von einem solchen angedeuteten rezeptionshermeneutischen Gesichtspunkt, der im Kontext der kulturwissenschaftlichen Thematisierung von Gedächtnis, Erinnerung und Identität erstaunlicherweise bislang wenig Beachtung gefunden hat, vielfältige, unterschiedliche und mehrdeutige Erinnerungsmodi.28 Bei der Unterscheidung zwischen dem Autor, seinem Werk mit seinen Inhalten (Gedächtnisinhalten) und den Rezipienten kommt aus einer solchen rezeptionshermeneutischen Perspektive in erster Linie den Rezipienten eine besondere Bedeutung zu. Ihnen und nicht dem Autor oder seinem ›Text‹ werden primär jene Deutungshoheiten zugeschrieben, die die Inhalte erst sichtbar und erfahrbar machen. Freilich gilt es dabei auch zu beachten, dass auch ein Autor, im Sinne Michel Foucaults, Rezipient ist. Denn in ihm bündeln sich zahlreiche Diskurse, die sich dann in seinem ›Text‹ als diskursive Formationen darstellen. Es 24 | Vgl. dazu John Deak, Forging a Multinational State. State Making in Imperial Austria from the Enlightenment to the First World War, Stanford: Stanford University Press, 2015. Schon zu Beginn seiner Ausführungen warnt Deak davor, nur die nationalen Narrative zu beachten: »nonnational narratives – narratives that do not arrive at the establishment of nation-states – have been ignored« (S. 4). 25 | Pieter M. Judson, Nationalism and Indifference, in: Johannes Feichtinger/Heidemarie Uhl (Hg.), Habsburg neu denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa. 30 kulturwissenschaftliche Stichworte, Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 2016, S. 148–155, hier S. 152. 26 | Michel de Certeau, Das Schreiben der Geschichte. Aus dem Französischen von Sylvia M. Schomburg-Scherff. Mit einem Nachwort von Roger Chartier, Frankfurt am Main/New York: Campus, 1991, S. 58. 27 | Jacques Le Goff, Geschichte und Gedächtnis. Aus dem Französischen von Elisabeth Hartfelder, Frankfurt am Main/New York: Campus, 1992, S. 228. 28 | Dazu u.a. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 2. durchgesehene und verb. Aufl., München: Wilhelm Fink, 1984.

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handelt sich also um den Autor »als Prinzip der Gruppierung von Diskursen, als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutungen, als Mittelpunkt ihres Zusammenhalts«.29 Schon Goethe war sich dessen vollauf bewusst, dass er als Autor unterschiedliche diachrone und synchrone Diskurse beziehungsweise Gedächtnisse beziehungsweise Erinnerungsmodi in sich vereinen würde. In einem kurz vor seinem Tod am 17. Februar 1832 geführten Gespräch mit dem Weimarer Prinzenerzieher Frédéric Soret brachte er diese Einsicht unmissverständlich zum Ausdruck: »Was bin ich selbst? Was habe ich getan? Ich habe alles, was ich gehört, beobachtet habe, gesammelt, benutzt. Meine Werke sind von Tausenden verschiedenen Individuen genährt, Unwissenden und Weisen, Geistreichen und Dummköpfen. Die Kindheit, das reife Alter, das Greisentum, alle haben mir ihre Gedanken, ihre Fähigkeiten, ihre Seinsart dargeboten, ich habe oft die Ernte gesammelt, die andere gesät hatten. Mein Werk ist das eines Kollektivwesens und trägt den Namen Goethe.«30 Ähnlich hatte sich Goethe bereits 1809 in den Wahlverwandtschaften geäußert: »Indem uns das Leben fortzieht […] glauben wir aus uns selbst zu handeln, unsre Tätigkeit, unsre Vergnügungen zu wählen, aber freilich, wenn wir es genau ansehen, so sind es nur die Plane, Neigungen der Zeit, die wir mit auszuführen genötigt sind.«31 Auf die Gedächtnistheorie übertragen heißt das, dass erst durch die erinnernde Aneignung von fluiden, diskursiven ›Gedächtnisorten‹ durch seine Rezipienten, ob Verfasser oder Leser von ›Texten‹, diesen Orten bestimmte Inhalte beziehungsweise Deutungen eingeschrieben werden.32 Dies betrifft auch ein ›historisches‹ Erinnern, die Geschichtsschreibung. Es gilt also nicht so sehr, danach zu fragen, welche Absicht mit der Etablierung eines Gedächtnisortes als eines ›Textes‹, der die res factae beinhaltet, bezweckt war oder ob die mit einem Gedächtnisort intendierte Wirkung – im Sinne einer Wirkungshermeneutik – 29 | Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, in: Michel Foucault, Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader. Diskurs und Medien. Hg. von Jan Engelmann, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1999, S. 54–73, hier S. 63. 30 | Zit. in: Bernd Hamacher, Johann Wolfgang von Goethe. Entwürfe eines Lebens, Darmstadt: WBG, 2011, S. 10. 31 | Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften, in: Goethes Werke. Bd. VI: Romane und Novellen I. Textkritisch durchgesehen von Erich Trunz. Kommentiert von Erich Trunz und Benno Wiese, München: C. H. Beck, 101981 (= Hamburger Ausgabe), S. 242–490, hier S. 417. 32 | »Gedächtnisorte« oder »Orte des Gedächtnisses« ist die korrekte Übersetzung der Pierre Nora’schen »lieux de mémoire«. In der deutschsprachigen Gedächtnisforschung hat sich der Terminus »Erinnerungsor te« eingebürger t, der allerdings im Französischen den »lieux de souvenir« entsprechen würde. Vgl. dazu Aleida Assmanns Unterscheidung zwischen »Speichergedächtnis« und »Funktionsgedächtnis«, in: Aleida Assmann, Erin­ nerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C. H. Beck, 1999 (52011), S. 130–145.

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von den Rezipienten auch eindeutig übernommen wird, sondern es stellt sich die Frage, aufgrund welcher spezifischer struktureller Bedingungen ein solcher ›Gedächtnisort‹ (als Text) tatsächlich erinnert beziehungsweise eben unterschiedlich erinnert beziehungsweise erzählt werden kann und ihm erst dadurch bestimmte Bedeutungen – Gedächtnisse –, das heißt res fictae, durch die Rezipienten eingeschrieben werden. »In diesem Prozeß wird die klassische Scheidung von res fictae als Reich der Poesie und res factae als Gegenstand der Historie dadurch aufgehoben«, meint Hans Robert Jauß, »daß die poetische Fiktion zum Horizont der Wirklichkeit, die geschichtliche Wirklichkeit zum Horizont der Poesie erhoben wird.«33 Es gilt also in einem solchen Zusammenhang zu fragen, welcher kon­ krete lebensweltliche, wissenssoziologische Kon-Text dafür haftet, dass die mit einem Gedächtnisort ursprünglich intendierte ›offizielle Lesart‹, zum Beispiel eine ursprünglich intendierte nationale Lesart, von Seiten der Rezipienten gegebenenfalls nicht beachtet wird, sondern statt dessen andere, dieser ursprünglichen Intention gegenläufige Erinnerungen, ›Erzählungen‹ beziehungsweise Be­ deutungszuweisungen die Oberhand gewinnen. Und dass also gerade diese Erinnerungsmodi es sind, die das Gedächtnis beziehungsweise die Gedächtnis­ inhalte erst jeweils neu konstituieren. Damit wird weiterhin deutlich, dass sich Gedächtnis und Erinnerung in einer kontinuierlichen Interdependenz zueinander befinden und dass Gedächtnisinhalte sich durch die Erinnerung ständig, prozesshaft, flexibel neu konstituieren, strukturieren und neue, mehrdeutige, das heißt ›zerbrechliche‹ Konfigurationen eingehen können. Eine solche nur andeutungsweise skizzierte Problematik gewinnt vor allem im Zusammenhang mit der Mehrsprachigkeit beziehungsweise Plurikulturalität der zentraleuropäischen Region in der Tat an Relevanz. Hier gilt es, über das eingangs Gesagte auch einer differenztheoretischen Hermeneutik zu folgen, um den Differenzen und Heterogenitäten der Region gerecht zu werden und diese für einen erkenntnisorientierten wissenschaftlichen Diskurs fruchtbar zu machen. Einerseits wird klar, dass ein und derselbe Gedächtnisort nicht zuletzt aufgrund eines differenten konkreten soziokulturellen Kontextes unterschiedlich erzählt beziehungsweise erinnert wird, ihm also im Sinne der res fictae unterschiedliche, zuweilen widersprüchliche Bedeutungen zugeschrieben werden können. Vor mehr als hundert Jahren hatte der tschechische Schriftsteller und Regisseur Jaroslav Kvapil Hugo von Hofmannsthal, der einen Band mit dem Titel Ehrenstätten Oesterreichs herausgeben wollte, eine Beschreibung von Gedächtnisorten, die für alle Bewohner der Monarchie verbindlich wären, davor gewarnt, dass sich für Tschechen an zahlreiche solche Gedächtnisorte völlig andere Erinnerungen 33 | Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984, S. 327 (kursiv im Original). Vgl. dazu u.a. Hayden White, Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie, in: Ders., Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Aus dem Amerikanischen von Margit Smuda, Frankfurt am Main: Fischer, 1990, S. 40–77.

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knüpfen würden als für Österreicher: »[…] Es sind da eben grundsätzliche Unterschiede. Was für uns Böhmen in unserer Geschichte ruhmvoll und teuer erscheint, passt manchmal sehr wenig in einen gut österreichischen Rahmen, und Österreich möchte sich wieder mit manchen Sachen aus unserer Geschichte rühmen, die uns bedauernswert und plagvoll erscheinen.«34 Oder ein und dasselbe Doppelkreuz, das ursprünglich eine kosmopolitische Funktion hatte (ein Symbol für das ehemalige mehrsprachige Ungarische Königreich), wird im gegenwärtigen ungarischen und slowakischen Staatswappen zum Zeichen von jeweils unterschiedlichen, getrennten nationalen Gesellschaften (›boundary marker‹), es wird zum Symbol einer ungarischen und einer von dieser verschiedenen slowakischen Nation. Andererseits bildet in Zentraleuropa eine allen gemeinsame heterogene, von Differenzen bestimmte Lebenswelt auch jene übergreifende Klammer, in einem übertragenen Sinne jene ›Metasprache‹, die die Unterschiede, die unterschiedlichen Bedeutungszuweisungen, die zuweilen widersprüchlichen Er­ zählungen zu erklären und zu rechtfertigen vermag. Von daher ergibt sich konsequenterweise auch die Möglichkeit, diese Differenzen nicht nur zu tolerieren, sondern sie zu akzeptieren und gelten zu lassen beziehungsweise sich diese in ihrer Synchronizität vor Augen zu führen und miteinander zu vergleichen. Peter Zajac hat eine solche gleichzeitige Vergegenwärtigung von Differenzen, die einer heterogenen zentraleuropäischen Lebenswelt eingeschrieben sind, mit einer synoptischen Karte verglichen und zu erklären versucht, derer sich die Meteorologie bedient, um auf dieser unterschiedliche klimatische Konstellationen wie Schönwetter, Bewölkung, Regen, Windrichtungen oder Kälte und Wärme aufscheinen zu lassen, die sich synchron auf ein und denselben Raum beziehen. Aus einer solchen Perspektive erschließt sich die Möglichkeit, Unterschiede auf einen grundsätzlich von Differenzen bestimmten Raum auszurichten, auf eine heterogene Region, und nicht auf übliche differenzierende Merkmale wie Ethnie oder Nation zurückzuführen. Und eine solche Sicht erlaube, Zajac zufolge, zum Beispiel auch, die in unterschiedlichen Sprachen verfassten Literaturen der Region miteinander zu vergleichen, weil sie, so unterschiedlich sie auch sein mögen, sich demselben lebensweltlichen Raum verdanken und sich auf denselben Raum beziehen, sich also diesbezüglich ähnlich sind: »[…] sie orientieren sich an der Region und an der Heterogenität und Hybridität des mitteleuropäischen Kulturraums. Dem entspricht auch der synoptische Begriff der inneren und äußeren Differenziertheit und Verknotung.«35 Daraus folgt letztlich, dass nicht nur von den zentral­ 34 | Kurt Ifkovits, »Nur noch Deutsche!« oder »slawisches West-Reich«. Hermann Bahrs Kriegspublizistik in den Jahren 1914/15, in: Johannes Feichtinger/Peter Stachel (Hg.), Das Gewebe der Kultur. Kulturwissenschaftliche Analysen zur Geschichte und Identität Österreichs in der Moderne, Innsbruck/Wien/München: Studienverlag, 2001, S. 209–231, hier S. 231. 35 | Peter Zajac, Nationalliteratur und mitteleuropäische Literatur als Bestandteile des kulturellen Gedächtnisses, in: Moritz Csáky/Elisabeth Großegger (Hg.), Jenseits von Gren-

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europäischen Literaturen (im Plural), sondern auch von einer zentraleuropäischen Literatur (im Singular) gesprochen werden kann, so wie schon seinerzeit Ernst Robert Curtius den Zusammenhang zwischen dem lateinischen Mittelalter und einer übergreifenden europäischen Literatur (im Singular) betont und mit Valéry Larbaud darauf aufmerksam gemacht hat, dass in der Regel ein großer Unterschied zwischen nationalpolitischen und intellektuellen Grenzziehungen bestünden: »Il y a une grande différence entre la carte politique et la carte intellectuelle […].«36 *** Mit diesen wenigen Überlegungen sollte nur angedeutet werden, wie gewinn­ bringend die Thematisierung der heterogenen, hybriden Verfasstheit Zentraleuropas aus der Perspektive unterschiedlicher hermeneutischer Zugänge für kulturwissenschaftliche Fragestellungen sein kann. Während rezeptionsästhetische Aspekte die fluide Konvergenz von Gedächtnis, Erinnerung und Identität zu veranschaulichen vermögen, respektiert eine differenztheoretische Hermeneutik nicht nur die in der Region vorhandenen Differenzen, Heterogenitäten und Widersprüche, sie ist vielmehr für das Verständnis von kulturellen Phänomenen und für die Erkenntnis von kulturellen Prozessen ganz allgemein von Bedeutung. Das betrifft zum Beispiel nicht nur die Situation in einer globalisierten Welt, es betrifft ebenso, wie Tzvetan Todorov ausgeführt hat, das Verständnis von einem Europa als einer politischen und kulturellen Gemeinschaft, in der es neben übereinstimmenden Faktoren und Ähnlichkeiten auch Differenzen und Widersprüche gibt, die anerkannt und akzeptiert werden wollen: »Zu verlangen, dass jeder Franzose, Deutsche oder Pole die gleiche Erinnerung an die Vergangenheit habe, ist ebenso sinnlos wie von ihm zu fordern, seiner Gemeinschaft den Rücken zu kehren. Dagegen ist es durchaus möglich, ihn aufzufordern, den Standpunkt der anderen zu berücksichtigen, sich Ähnlichkeiten und Unterschiede bewusst zu machen und sie auf eine allgemeine Ebene zu heben. […] Die Europäer von morgen werden somit nicht jene sein, die die gleiche Erinnerung haben, sondern jene, die […] anzuerkennen vermögen, dass die Erinnerung der Nachbarn ebenso legitim ist wie die eigene.«37 Eine analytische Reflexion über Europa könnte sich unter anderem eben jene Erkenntnisse zunutze machen, die sich aus der kulturwissenschaftlichen Analyse Zentraleuropas als eines »Europa im Kleinen« ergeben. Diese Erkenntnisse bestehen, wie ich angedeutet habe, unter anderem darin, Differenzen und Hezen. Transnationales, translokales Gedächtnis, Wien: Praesens, 2007, S. 129–142, hier S. 134. 36 | Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München: Francke, 81973, hier S. 276. 37 | Tzvetan Todorov, Die Angst vor den Barbaren. Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen. Aus dem Französischen von Ilse Utz, Hamburg: Hamburger Edition, 2010, S. 233.

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terogenitäten sichtbar und deren Realität und Existenzberechtigung durch ein hermeneutisches Verfahren bewusst zu machen, zu respektieren und entweder zu akzeptieren oder gegebenenfalls ehrlich zu diskutieren. Sie verweisen auch auf das mythische Substrat des nationalen Narrativs, das einerseits Differenzen zu eliminieren verspricht, andererseits jedoch, nicht zuletzt mit Hilfe von Opfermythen, Gegensätze schafft, implementiert und ideologisch verfestigt. Es gilt daher, wie Johannes Feichtinger gefordert hat, dieses nationale Narrativ »in seiner historischen Situiertheit zu erfassen und als veränderliche[n] Zustand – als historische Episode – zu rekonstruieren und archivieren. Sein normativer Anspruch muss aber delegitimiert werden, und zwar in der Einsicht, dass er entzweiend wirkt.«38

38 | Johannes Feichtinger, Europa quo vadis? Zur Erfindung eines Kontinents zwischen transnationalem Anspruch und nationaler Wirklichkeit, in: Moritz Csáky/Johannes Feichtinger (Hg.), Europa – geeint durch Werte? Die europäische Wertedebatte auf dem Prüfstand der Geschichte, Bielefeld: transcript, 2007, S. 19–43, hier S. 40.

Habsburg Zentraleuropa zwischen 1945 und heute Wechselnde Perspektiven auf ein Forschungsfeld* Johannes Feichtinger/Heidemarie Uhl

In der viel beachteten Gegenwartsgeschichte Das Zeitalter des Zorns (2017) liefert die Habsburgermonarchie um 1900 für Pankaj Mishra ein historisches Anschauungsbeispiel zur Genealogie moderner Hassgefühle: »Das Wien des Fin de siècle, wo 1895 ein antisemitischer Bürgermeister gewählt wurde und sowohl Hitler als auch Herzl ihre prägenden Jahre verbrachten, war ein Treibhaus für hochtoxische Vorurteile.« Freud habe die »paranoiden Einwohner der Stadt« vor Augen gehabt, als er seine »Theorie der psychologischen Projektion« entwickelte.1 Mishras Argumentation ist ein rezenter Beleg für die Relevanz von und internationale Aufmerksamkeit für Wien um 1900 als Hauptstadt der Moderne und zugleich als »Schlachtfeld der nationalen Chauvinismen, der ethnischen und sozialen Gegensätze und schlussendlich der Rassismen aller Art und des Antisemitismus.«2 Diese antagonistischen Perspektiven bestimmen die Auseinandersetzung mit der Wiener Jahrhundertwende seit Jahrzehnten. Was sich als Leitmotiv durch die Habs­burg-­Historiografie zieht, ist die Verbindung von jeweils gegenwartsrelevanten Problemen, die mit analogen Konstellationen in der Habsburgermonarchie in Verbindung gesetzt werden. Habsburg Zentraleuropa wird so zur historischen Ressource und Projektionsfläche für Gegenwartsfragen, wobei jeweils unter* Dieser Aufsatz ist eine erweiterte, um neue Argumente und Fakten bereicherte Fassung des Artikels Stichwort Habsburg Zentraleuropa. Ein kulturwissenschaftliches Untersuchungsfeld aus dem Band Johannes Feichtinger/Heidemarie Uhl (Hg.), Habsburg neu denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa. 30 kulturwissenschaftliche Stichworte, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2016, S. 9–18. 1 | Pankaj Mishra, Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart, Frankfurt am Main: S. Fischer, 2017, S. 235f. (englisch: Age of Anger. A History of the Present, London: Penguin, 2017). 2 | Jacques Le Rider, Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffes. Essay, Wien: Deuticke, 1994, S. 78.

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schiedliche Perspektiven im Spannungsfeld von schwarzen und goldenen Mythen angesiedelt werden.3 In den folgenden Ausführungen geht es um die unterschiedlichen Erkenntnis­ interessen, Forschungsperspektiven und Konjunkturen, die seit 1945 den his­ toriografischen Blick auf Habsburg Zentraleuropa geprägt haben und noch immer prägen. Bemerkenswert ist das durchgehende internationale Interesse an dem Konfliktpotential eines Vielvölkerreiches im Zeitalter des Nationalismus. Welche Kategorien, Semantiken zur Beschreibung und Erklärung, welche Strategien der »kulturellen Übersetzung« (Michael Rössner)4 und welche gegenwartsrelevanten Lehren aus der Geschichte gezogen werden, ist dem jeweiligen Gegenwartshorizont geschuldet. Der Wandel der Perspektive erstreckt sich von der Erforschung der Nationalitätenfrage seit den 1950er-Jahren über das neue Interesse an der Kunst und Kultur der zentraleuropäischen Metropolen als Leuchtfeuer der Moderne seit den 1970er-Jahren, die kulturwissenschaftlich-postmoderne Analyse der Konstruktion ethnischer Identitäten seit den 1990er-Jahren bis hin zu postkolonialen und post-postkolonialen Ansätzen sowie zu jüngsten Konzepten einer »critical strategy to de-pathologize Central Europe« (Pieter Judson).5 Davon angeregt beschäftigen sich jüngste Arbeiten mit den Kohäsionskräften innerhalb des Habsburg Empire, wie »State Making«, Bürokratie und Föderalismus.6

F okus V ielvölkersta at und N ationalitätenfr age Der Blick auf die Monarchie als multinationaler Vielvölkerstaat verdankt sich Historikern, die außerhalb Österreichs lebten. Viele davon waren nach dem »Anschluss« 1938 vertrieben worden. Der in Wien geborene Historiker und Jurist 3 | Vgl. Peter Demetz, Prag in Schwarz und Gold. Sieben Momente im Leben einer europäischen Stadt, München/Zürich: Piper, 1998. 4 | Michael Rössner, (Kulturelle) Übersetzung, in: Johannes Feichtinger/Heidemarie Uhl (Hg.), Habsburg neu denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa. 30 kulturwissenschaftliche Stichworte, Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 2016, S. 214–221; vgl. weiters: Federico Italiano/Michael Rössner (Hg.), Translatio/n. Narration, Media, and the Staging of Differences, Bielefeld: transcript, 2012. 5 | Peter Judson, Nationalism and Indifference, in: Feichtinger/Uhl 2016, S. 148–155, hier S. 148. 6 | Vgl. John Deak, Forging a Multinational State. State Making in Imperial Austria from the Enlightenment to the First World War, Stanford, CA: Stanford University Press, 2015; Peter Becker, Recht, Staat, Krieg. ›Verwirklichte Unwahrscheinlichkeiten‹ in der Habsburgermonarchie, in: Administory. Zeitschrift für Verwaltungsgeschichte 1 (2016) (= Themenheft: Verwaltungsgeschichte im Dialog, hg. von Peter Becker und Stefan Nellen), S. 28–53; Jana Osterkamp, Kooperatives Imperium. Politische Zusammenarbeit in der späten Habsburgermonarchie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2018.

Habsburg Zentraleuropa zwischen 1945 und heute

Robert A. Kann veröffentlichte 1950 sein zweibändiges Werk The Multinational Empire, 1964 in Deutsch unter dem Titel Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie erschienen.7 Sein Forschungsinteresse lag auf dem Spannungsfeld zwischen dem »politischen Nationalismus unter den Völkerschaften des Reiches« und »den parallel entwickelten Reformvorschlägen«, die »österreichische Nationalitätenfrage verstehen, ausgleichen oder gar lösen sollten.« Kann schrieb die »Geschichte des Konflikts zwischen den nationalen Interessen […] und der Forderung des Vielvölkerreiches nach seinem Fortbestand.« Insbesondere ging es ihm darum, die Auswirkungen der »Idee des Nationalismus« auf das politische Handeln »in einem besonders kritischen Bereich und zu einer besonders kritischen Zeit« aufzuzeigen.8 Gemeint ist damit eine »Untersuchung des Nationalismus in einem national uneinheitlichen geographischen Raum« im Zeitalter nationaler Radikalisierung.9 Kann reflektiert in seiner Einleitung zur deutschsprachigen Ausgabe (1964) auch die veränderte Gegenwartsrelevanz dieser Problemkonstellation. 1950 habe er mit seiner Studie die Hoffnung verbunden, »dass die österreichische, im Bereich des Nationalitätenproblems erworbene Erfahrung im Rahmen der in Ostmitteleuropa heute existierenden Staaten, ja selbst über Europa hinaus nutzbar gemacht werden könne.«10 Zugleich habe er davor gewarnt, »ein Problem, das durch Jahrhunderte mit den natürlichen Bedingungen bestimmter geographischer Räume verbunden ist, durch das brutale Mittel des Bevölkerungsaustausches lösen [zu wollen].«11 14 Jahre später schrieb Kann in der deutschen Ausgabe seiner Studie, dass diese beiden Gedanken »heute kaum mehr zeitgemäß« seien. Die »kurz nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges noch zu erhoffende Demokratisierung des östlichen Donauraumes« sei gescheitert und die »Idee des Massenaustausches von Bevölkerungsgruppen« nach 1945 vielfach Realität geworden.12 Dennoch sei seiner Studie »in einem tieferen Sinne eine gewisse Zeitgemäßheit« zuzusprechen: »Unsere Gegenwart wird ja nicht nur von den raschen und kurzen Wellenstößen des Nationalismus beherrscht, die […] das alte Österreich zerstört haben, sondern von der weit mächtigeren und langsameren Woge einer übernationalen Zukunft als Rettung vor der Zerstörung unserer Welt.« Die

7 | Robert A. Kann, The Multinational Empire. Nationalism and National Reform in the Habsburg Monarchy 1848–1918. 2 Bände, New York: Columbia University Press, 1950. 8 | Robert A. Kann, Einleitung zum ersten Band, in: Ders., Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches 1918. Band 1: Das Reich und die Völker, Graz/Köln: Böhlau, 1964, S. 11–15, hier S. 11. 9 | Ebd., S. 13. 10 | Ebd. 11 | Ebd. 12 | Ebd., S. 14.

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Geschichte des Habsburgerreiches könne man als »Versuch ansehen, eine solche übernationale Ordnung herzustellen.«13 Robert A. Kann war neben anderen aus Zentraleuropa geflüchteten Wissenschaftlern (u.a. Hans Kohn, Friedrich Engel-Janosi) Mitglied des »Habsburg Monarchy Committee« der »Conference Group of Central European History«, die gemeinsam mit Historikern in Österreich ein internationales Projekt zur Geschichte der Habsburgermonarchie entwickeln sollte. Vor dem Hintergrund des anlaufenden Prozesses der europäischen Integration sowie des Kalten Krieges sollte die Habsburgermonarchie als historischer Modellfall für »die Schaffung supra- oder multinationaler politischer und wirtschaftlicher Einheiten« untersucht werden, wobei die »Probleme des Vielvölkerstaates« besonders zu berücksichtigen seien.14 Den Anstoß für das Projekt soll 1952 der österreichische Unterrichtsminister Heinrich Drimmel gegeben haben; man versuchte die Rockefeller Foundation für die Finanzierung zu gewinnen, unter anderem mit dem Argument, dass der supra- bzw. multinationale Vielvölkerstaat einen Modellfall für den bevorstehenden Integrationsprozess in Europa darstelle.15 Fritz Fellner und Gerald Stourzh erarbeiteten das Memorandum »Die Habsburgermonarchie und das Problem des übernationalen Staates« als Antragsgrundlage für die Rockefeller Foundation.16 1959 wurde an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften die »Kommission für die Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie« eingesetzt, die ein Förderansuchen einreichte. Der Förderantrag wurde schließlich von der Rockefeller Foundation als zu »vag« abgelehnt.17 Das Forschungsprojekt »Die Habsburgermonarchie 1848–1918«, eine »Gesamtdarstellung der Geschichte und Kultur der österreichisch-ungarischen Monarchie«, wurde jedoch an der Öster-

13 | Ebd. 14 | Brief von Dr. Wilhelm Schlag, Austrian Consulate General. Cultural Affairs Section, New York, an das Bundesministerium (BM) für Unterricht. Abteilung 8, Wien, 26. Jänner 1959, in: Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), BM für Unterricht. 15 B1 – Akademie der Wissenschaften 1945–1959, 1204. 32.372-I/59. 15 | Vgl. ebd. – Zu den unterschiedlichen Zugängen zur Habsburgermonarchie in der Zweiten Republik vgl. Johannes Feichtinger/Heidemarie Uhl, Stichwort Habsburg Zentraleuropa. Ein kulturwissenschaftliches Untersuchungsfeld, in: Dies. 2016, S. 9–18. 16 | Vgl. Adam Wandruszka, Planung und Verwirklichung, in: Alois Brusatti (Hg.), Die wirtschaftliche Entwicklung (= Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 1), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1973, S. XI–XIX. 17 | Brief von Hajo Holborn, Yale Universität, an Dr. Wilhelm Schlag, Austrian Consulate General. Cultural Affairs Section, New York, 13. Jänner 1959, und Brief von Friedrich Engel-Janosi an Dr. Wilhelm Schlag, Austrian Consulate General. Cultural Affairs Section, New York, 22. Jänner 1959, in: ÖStA, AdR, BM für Unterricht. 15 B1 – Akademie der Wissenschaften 1945–1959, 1204. 32.372-I/59.

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reichischen Akademie der Wissenschaften weiterverfolgt.18 1973 erschien der erste Band der Reihe Die Habsburgermonarchie 1848–1918.19 Im Band 3 der Reihe zum Thema Die Völker des Reiches (1980) beschäftigte sich Gerald Stourzh mit der »Gleichberechtigung der Volksstämme als Verfassungsprinzip 1848–1919«. In der erweiterten Buchfassung seiner Analyse der Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918 (1985) weist Stourzh darauf hin, dass das »Nationalitätenproblem jener sieben Jahrzehnte […] unter einem ganz bestimmten Vorzeichen stand.« »Der Ruf nach gleichen Rechten, ein Rechtsanspruch also, wird zum Signum der 1848 anhebenden Zeit, […] das Postulat der nationalen und sprachlichen Gleichberech­ tigung prägt ab 1848 dem Nationalitätenkonflikt im Habsburgerreich seinen Stempel auf.« 1867 wurde das Gleichberechtigungsgebot »zum staatsgrundrechtlich geschützten […], von der Verwaltung zu beachtenden und justiziablen Rechtsgut«.20 Stourzh zeigte des Weiteren die paradoxen Konsequenzen des Postulates der Gleichberechtigung der Nationalitäten auf, das letztlich entscheidend zur nationalen Radikalisierung im cisleithanischen Österreich ab 1867 geführt habe.21 1989 hat Stourzh in seiner Robert A. Kann Memorial Lecture am Center for Austrian Studies der Universität Minnesota insbesondere darauf hingewiesen, dass die »Ethnisierung der österreichischen Politik« durch die Verrechtlichung der Kategorie Ethnizität (›Volksstämme‹) im Verfassungsrang den Nationalitätenkonflikt verschärfte.22 Auch für Vertreter/innen der neuen Nationalismusforschung, wie Gary B. Cohen, sollte Habsburg Zentraleuropa seit den 1980er-Jahren zu einem höchst relevanten Forschungsfeld werden, weil sich hier Prozesse der Ethnisierung von Politik, Recht und Gesellschaft zeigten, die in den vorgeblich homogenen National­ staaten in dieser Form nicht erfolgten bzw. nicht wirksam wurden. Cohen hat sich

18 | Hugo Hantsch, Forschungsprojekt zu einer Gesamtdarstellung der Geschichte und Kultur der österreichisch-ungarischen Monarchie, in: Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse 13 (1960), S. 65–74, hier S. 65–66. 19 | Brusatti 1973. 20 | Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissen­ schaften, 1985, S. 1. Aktualisierte und erweiterte Buchfassung: Ders., Die Gleichberech­t igung der Volksstämme als Verfassungsprinzip 1848–1918, in: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Völker des Reiches (= Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 3,1), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1980, S. 875–1206. 21 | Stourzh 1985, S. 13. 22 | Gerald Stourzh, The Multinational Empire Revisited: Reflections on Late Imperial Austria, in: Austrian History Yearbook 23 (1992), S. 1–22.

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noch vor den Nationalismustheorien von Ernest Gellner und Benedikt Anderson23 in seinem Buch The Politics of Ethnic Survival (1981)24 die Frage gestellt, wie kollektive Identitäten mittels der Kategorie Ethnizität konstruiert wurden. Sein Fall­ beispiel waren die Deutschen in Prag 1861 bis 1914.25

F okus K unst und K ultur um 1900 Mitte der 1960er-Jahre lässt sich ein neues Interesse an der Kunst und Kultur in der späten Habsburgermonarchie beobachten. 1964 veranstaltete das Kulturamt der Stadt Wien in der Wiener Secession, dem Künstlerhaus und dem Historischen Museum der Stadt Wien die erste Ausstellung unter dem Titel Wien um 1900.26 1966 wurde Claudio Magris’ Il mito absburgico in deutscher Übersetzung publiziert. Mit dem Schlagwort vom »habsburgischen Mythos« analysierte der Triestiner Germanist erstmals die bis in die Zeit der Zweiten Republik wirkenden literarischen Konstruktionen der Kakanien-Nostalgie.27 Von 1969 bis 1979 erschien die von Renate Wagner-Rieger herausgegebene elf bändige Reihe des von der Fritz Thyssen-Stiftung getragenen Projekts Die Wiener Ringstraße.28 Einen Meilenstein der Neubelebung des internationalen Interesses an der habsburgischen Kulturgeschichte bildete William M. Johnstons 1972 veröffentlichtes Buch The Austrian Mind. An Intellectual and Social History 1848–1938.29 Friedrich Heer spricht in seinem Geleitwort zur deutschsprachigen Ausgabe 1974 von der »Entdeckung eines Kontinents«, der den Österreichern selbst weitgehend 23 | Ernest Gellner, Nations and Nationalism, Ithaca: Cornell University Press, 1983; Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationa­lism, London/New York: Verso, 1986. 24 | Gary B. Cohen, The Politics of Ethnic Survival. Germans in Prague, 1861–1914, Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1981; West Lafayette: Purdue University Press, 22006. 25 | Vgl. Cohen, Preface to the Second Edition, in: Ders. 22006 , S. XIII–IV. 26 | Wien um 1900 (Ausstellung, veranstaltet vom Kulturamt der Stadt Wien. 5. Juni–30. Au­ gust 1964), Wien: Historisches Museum der Stadt Wien, 1964. 27 | Claudio Magris, Il mito absburgico nella letteratura austriaca moderna, Turin: G. Einaudi, 1963; deutsch: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, Salzburg: Otto Müller Verlag, 1966. 28 | Renate Wagner-Rieger (Hg.), Die Wiener Ringstraße. Bild einer Epoche. Die Erweiterung der Inneren Stadt Wien unter Kaiser Franz Joseph. 11 Bände, Wien/Köln/Graz: Böhlau; Wiesbaden: Steiner, 1969–1978. 29 | William M. Johnston, The Austrian Mind. An Intellectual and Social History 1848– 1938, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, 1972; deutsch: Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938 (= Forschungen zur Geschichte des Donauraums 1), Wien/Graz/Köln: Böhlau, 1974, hier verwendete Ausgaben: Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 31992, 42006).

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unbekannt sei. Vielmehr könne man vom »Vergessen des Geisteskontinents Österreich« in Österreich selbst sprechen.30 Johnson fragt sich in seiner Einleitung, »warum so viele […] Glanzlichter in Vergessenheit oder sogar in Mißkredit geraten sind.« Er verortet die »grundlegende Ursache dieser Vernachlässigung« darin, dass das Habsburgerreich nicht mehr existierte. Aus seiner Sicht, die eine Position der 1970er-Jahre dokumentiert, könnten »das verstümmelte Österreich und Ungarn […] kaum behaupten, sie wären die Epigonen dieser verlorenen Herrschaftsräume. Umschreibungen wie ›östliches Mitteleuropa‹ oder der ›Donauraum‹« würden »bloß die Zerstückelung, die hier vor rund fünfzig Jahren erfolgte,« verbergen.31 Johnston rückte die Habsburgermonarchie in ein neues, kulturgeschichtliches Licht: Wien, Prag, Budapest wurden erstmals als jene Städte vorgestellt, aus denen »viele, vielleicht sogar die meisten bahnbrechenden Denker des zwanzigsten Jahrhunderts« hervorgegangen sind.32 Zwei dieser Städte lagen mittlerweile jenseits des Eisernen Vorhangs. Johnston plädierte damals dafür, den historischen Raum über die Blockgrenzen hinaus in seinen Verflechtungen wahrzunehmen: »Es ist an der Zeit, daß der Gelehrte Wien nicht mehr bloß als Konkurrenz von Paris oder Berlin betrachte, sondern vielmehr als Ausgangspunkt von Wegen, die nach Prag oder Budapest führen.«33 Sein Verdienst liegt vor allem darin, die urbanen Zentren der späten Habsburgermonarchie erstmals in der Topographie der Moderne verortet zu haben. Die große Resonanz von Johnstons Österreichischer Kultur- und Geistesgeschichte mag die Neuauflage eines weitgehend vergessenen Werkes angeregt haben. Albert Fuchs’ Geistige Strömungen in Österreich 1867–1918 wurde in der Zeit seines Exils in London verfasst und 1949 aus dem Nachlass vom Globus-Verlag publiziert.34 Der Jurist Fuchs war als Jude und Kommunist nach dem »Anschluss« 1938 aus Österreich in die Tschechoslowakei und 1939 weiter nach London geflüchtet. Wien rückte offenkundig zunehmend in das Zentrum eines neuen kulturhistorischen Interesses. 1973 erschien mit Wittgenstein’s Vienna35 ein weiteres kulturhistorisches Werk; Allan Janik und Stephen Toulmin vertraten darin die These, dass die Philosophie Ludwig Wittgensteins »nur in ihrer Verbindung« mit dem

30 | Friedrich Heer. Entdeckung eines Kontinents, Geleitwort, in: Johnston 31992, S. 13. 31 | Johnston, Einleitung. Schwierigkeiten und Ziele einer österreichischen Kultur- und Geistesgeschichte, in: Ders. 31992, S. 23. 32 | Johnston 42006, S. 19. 33 | Ebd., S. 24. 34 | Albert Fuchs, Geistige Strömungen in Österreich 1867–1918, Wien: Globus-Verlag, 1949; hier verwendete Ausgabe Wien: Löcker, 1996. Mit einem Essay von Friedrich Heer. 35 | Alan Janik/Stephen Toulmin, Wittgenstein’s Vienna, London/New York: Simon & Schuster, 1973; deutsch: Wittgensteins Wien, München/Wien: Piper, 1984, 21998.

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»historischen und kulturellen Hintergrund« der Wiener Jahrhundertwende zu verstehen ist.36 Zum Topos wurde ›Wien um 1900‹ durch Carl E. Schorskes epochemachendes Werk Fin-de-Siècle Vienna – Politics and Culture.37 Seine zentrale Hypothese ent­ wickelte der amerikanische Historiker vor dem Hintergrund der Wahr­nehmung, dass sich die Intellektuellen in den USA des Kalten Krieges und der McCarthy-Ära aus der Politik zurückgezogen hätten. Eine analoge Entwicklung erkannte er im Wien des späten 19. Jahrhunderts. Die junge Generation sei durch die Erfahrung des Scheiterns des liberalen Projekts ihrer Väter geprägt worden. Mit dem Verlust des rational-liberalen Wertesystems hätten die Söhne das Vertrauen in die Politik verloren und sich philosophischen, wissenschaftlichen und ästhetischen Konzepten des ›L’art pour l’art‹ gewidmet. Laut Schorske ist es gerade der Bruch mit der Vergangenheit und die Suche nach einer neuen Identität, die dazu herausgefordert habe, »abgestorbene Überzeugungen zu revidieren oder zu ersetzen.«38 Die »Krise des liberalen Ich«39 habe zentrale Werke des Wiener Fin de Siècle hervorgebracht, aber auch den Hintergrund für den Erfolg des populistischen Antisemitismus Karl Luegers gebildet. Gerade durch das »scharf empfundene Beben seiner sozialen und politischen Desintegration« habe sich das Wien des Fin de Siècle als eine »der fruchtbarsten Brutstätten der […] Kultur unseres Jahrhunderts« erwiesen. 40 Wien wurde als Ort einer ambivalenten Moderne entdeckt mit einer »ungewöhnlichen Verbindung von Provinzialismus und Weltbürgertum, von Traditionalismus und Modernität« im Unterschied zu Weltstädten der Modernisierung wie London, Paris oder Berlin, zugleich Metropolen von Kolonialmächten.41 Schorskes mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnetes Buch Fin-de-Siècle Vienna verweist auf die erstaunliche »Faszination«, die das Wien der Jahrhundertwende in den 1980er-Jahren »auf ganz Europa und Amerika« auszuüben begann. 42 Vor

36 | Janik/Toulmin 21998, S. 32. 37 | Carl E. Schorske, Fin-de-Siècle Vienna. Politics and Culture, New York: Alfred A. Knopf, 1979; deutsch: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Frankfurt am Main: S. Fischer, 1982, hier verwendete Ausgaben München/Zürich: Piper, 1994, Wien: Molden, 2017. 38 | Schorske 1994, S. VII. 39 | Ebd., S. 195–264. 40 | Ebd., S. VIII. 41 | Schorske 1994, S. XVI. 42 | Johnston 31992, S. X. Hinzuweisen ist auf eine frühe komparatistische Studie zu Wien und Budapest von Péter Hanák, A Kert és a Műhely, Budapest: Gondolat, 1988; deutsch: Der Garten und die Werkstatt. Ein kulturgeschichtlicher Vergleich. Wien und Budapest um 1900 (= Kulturstudien 13), Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 1992; englisch: The Garden and the Workshop. Essays on the Cultural History of Vienna and Budapest. With a foreword by Carl E. Schorske, Princeton, NJ: Princeton University Press, 1998.

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diesem Hintergrund wurde die »Wiener Moderne« als neuer Begriff geprägt. 43 Zwar sprach Schorske noch nicht von Wiener Moderne, seine zentrale These wurde jedoch grundlegend für die Definition des neuen Begriffs. Jacques Le Rider schreibt im Vorwort zur neuen deutschsprachigen Auflage von Fin-de-Siècle Vienna (2017): »Die Wiener Moderne, die sich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt, ist eine Antwort auf die Krise des liberalen kulturellen und politischen Systems.« 44 Die Schorske-These fand auch in der österreichischen Wissenschaftslandschaft zunehmend Resonanz. Unter anderem lieferte sie die Grundlage für die Ausstellung Traum und Wirklichkeit. Wien 1870–1930 im Wiener Künstlerhaus 1985. 45 In den 1990er-Jahren eröffnete sie Anknüpfungspunkte für zwei unterschiedliche historiografische Zugänge. Dominant wurde ein spezifischer kulturwissenschaftlicher Zugang, der sich an der Postmoderne orientierte (siehe unten). Aus dieser Cultural Studies-Perspektive entwickelte die Wiener Forschungsgruppe um Wolfgang Maderthaner, Siegfried Mattl und Lutz Musner kritische Positionen. Sie rückte die »Dimension des Urbanen, Popularen und Sozialen« in den Vordergrund und versuchte, »den Mythos der Wiener Moderne als Elitenkultur und gleichsam vorweggenommene Postmoderne« zu dekonstruieren. 46 Kritisiert wurde vor allem »die Ontologisierung eines auf Elitenkunst und Wissenschaft begrenzten Begriffs von Wiener Kultur«. 47

F okus P ostmoderne Im Zeitalter der Postmoderne gewann die Wiener Moderne eine neue Relevanz: Sie wurde zum Ort einer Moderne, in der die große Erzählung von Fortschritt und Aufstieg, die Vorstellung einer ungebrochen verlaufenden Modernisierung bereits um 1900 zerbrochen war. Die Wiener Moderne, in der Ambivalenzerfah43 | Der Begriff ›Wiener Moderne‹ setzte sich zunächst in den 1980er-Jahren als Bezeichnung für die Kunst und Kultur der Jahrhundertwende durch. Vgl. den wegweisenden Band, hg. von Gotthart Wunberg unter Mitarbeit von Johannes J. Braakenburg, Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart: Reclam, 1981. 44 | Jacques Le Rider, Carl E. Schorske und die Wiener Moderne, in: Schorske 2017, S. 7–16, hier S. 13. 45  | Vgl. Heidemarie Uhl, Museums as Engines of Identity: »Vienna around 1900« and Exhibitionar y Cultures in Vienna – A Comment, in: Austrian Histor y Yearbook 46 (2015), S. 97–105. 46  |  Presseaussendung vom 6. Jänner 2001: https://www.pressetext.com/news/20010106011? likes=like (abgerufen am 07.06.2018). 47 | Vorwort, in: Roman Horak/Wolfgang Maderthaner/Siegfried Mattl/Gerhard Meissl/ Lutz Musner/Alfred Pfoser (Hg.), Metropole Wien. Texturen der Moderne. 2 Bände, Wien: WUV Universitätsverlag, 2001, S. 7. Vgl. weiters Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner (Hg.), Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt am Main: Campus, 1999.

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rungen, Widersprüche und Krisen Ausdruck fanden, wurde zu einem Gründungsort der Postmoderne. Jean-François Lyotard stellte in seinem Bericht La condition postmoderne (1979)48 als erster den Zusammenhang der gegenwärtigen »postmodernen Welt« mit dem »Pessimismus, der die Generation der Jahrhundertwende in Wien genährt hat«, her. 49 Ausgehend von Janik und Toulmins Wittgenstein’s Vienna nannte Lyotard die Künstler Musil, Kraus, Hofmannsthal, Loos, Schönberg, Broch, aber auch die Philosophen Mach und Wittgenstein. Sie haben Lyotard zufolge bereits in Wien um 1900 entscheidende Positionen der Postmoderne vorgeprägt. 1990 setzte Jacques Le Rider mit seinem Buch Modernité viennoise et crises de l’identité (1990)50 einen neuen Akzent: Den Zusammenhang zwischen der Wiener Moderne und »den Konturen dessen, was gegenwärtig als die ›Postmoderne‹ bezeichnet wird«,51 erkannte er in den »Krisen der Identität«, die bereits konstitutiv für Wien um 1900 gewesen seien. Le Rider ging dabei von drei miteinander verschränkten Prozessen aus: das »Scheitern« der »alten Gewißheiten« von stabilen Identitäten, die in der Wiener Moderne als unabgeschlossen, beweglich und unbestimmt erscheinen, die »Infragestellung der herkömmlichen Geschlechterrollen« und die »Krise der jüdischen Identität«.52 Im gleichen Jahr erschien in Wien die erste Buchpublikation der Arbeitsgemeinschaft Wien um 1900 im Rahmen der Österreichischen Forschungsgemeinschaft mit dem Titel Die Wiener Moderne. Der Band umfasste die Ergebnisse eines Forschungsgespräches zum Thema »Aktualität und Moderne« unter postmodernen Vorzeichen. »Die wiedergewonnene Aktualität der Kulturgeschichte« wurde »als ein Bestandteil dieser postmodernen Neuorientierung«53 gesehen. Ausgehend von zentralen postmodernen Analysekategorien wie Identität und Differenz wurden an der Universität Graz im FWF-Spezialforschungsbereich 48 | Jean-François Lyotard, La condition postmoderne, Paris: Éditions de Minuit, 1979; deutsch: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien: Passagen, 1986; es handelt sich dabei um die vollständig überarbeitete Fassung der Übersetzung, die in der Zeitschrift Theatro machinarum 3/4 (1982) erschienen ist. 49 | Lyotard 1986, S. 121. 50 | Jacques Le Rider, Modernité viennoise et crises de l’identité, Paris: Presses Universitaires de France, 1990; deutsch: Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität, Wien: ÖBV, 1990. 51 | Ebd., S. 7. 52 | Ebd. 53 | Einleitung, in: Emil Brix/Patrick Werkner (Hg.), Die Wiener Moderne. Ergebnisse eines Forschungsgespräches der Arbeitsgemeinschaft Wien um 1900 zum Thema »Aktualität und Moderne«, Wien/München: Verlag für Geschichte und Politik/Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 1990, S. 9–11, hier S. 9. Vgl. weiters Emil Brix/Allan Janik (Hg.), Kreatives Milieu. Wien um 1900, Wien/München: Verlag für Geschichte und Politik/Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 1993.

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Moderne. Wien und Zentraleuropa um 1900, initiiert von Moritz Csáky, kontrovers diskutierte Fragestellungen der Zweiten Moderne und Globalisierung aufgegriffen. Dieser Spezialforschungsbereich (1995–2004) war das erste transdisziplinäre Großprojekt einer kulturwissenschaftlich orientierten Grundlagenforschung in den Geisteswissenschaften in Österreich, das auch international auf große Resonanz stieß. Der SFB wurde wegweisend für die ebenfalls von Moritz Csáky 1998 eingerichtete, transdisziplinäre Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (2008 umgewandelt in ein Institut, seit März 2009 geleitet von Michael Rössner). Der Zugang des Grazer Spezialforschungsbereichs Moderne hat die Perspektive auf die Wiener Moderne entscheidend erweitert, zum einen durch die Neuverortung Wiens im zentraleuropäischen Raum; zum anderen durch den explizit kulturwissenschaftlichen Forschungsansatz. Hier wurde – über das Feld der Kunst und Kultur hinausgehend – die Moderne als komplexes gesellschaftliches Phänomen analysiert. Dieser neue Zugang ist konstitutiv für die Definition des Untersuchungsraums Zentraleuropa. Nach Moritz Csáky ist Zentraleuropa »jenseits von territorialen oder nationalen Eindeutigkeiten die Bezeichnung für ein Netzwerk von soziokulturellen Interaktionen und sozioökonomischen Verflechtungen, ebenso aber auch für die enge Kohabitation von Pluralitäten, Heterogenitäten und Differenzen, die sich nicht nur den unterschiedlichen sprachlichen Kommunikationsformen verdanken.«54 Insofern versteht Moritz Csáky »Zentraleuropa und vor allem seine urbanen Milieus zur Zeit der Moderne aufgrund ihrer soziokulturellen Differenziertheit, aufgrund ihrer Funktion als ›Zwischenräume‹, in denen sich unterschiedliche kulturelle Kommunikationsräume performativ verschränkten, als ›Laboratorien‹« für Prozesse von gegenwärtig globaler Relevanz.55

F okus H absburg post- postkolonial Mit dem Aufgreifen von postkolonialen Ansätzen wurde die interdisziplinäre Analyse von Habsburg Zentraleuropa erneut in weltweit diskutierte innovative Theoriemodelle eingebettet.56 Die Herausforderung lag darin zu prüfen, inwieweit die Anwendung eines für koloniale Empires entwickelten Analyseinstru54 | Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 2010, S. 62. 55 | Ebd., S. 364–365. 56 | Johannes Feichtinger/Ursula Prutsch/Moritz Csáky (Hg.), Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis (= Gedächtnis – Erinnerung – Identität 2), Innsbruck u.a.: StudienVerlag, 2003. Siehe dazu jüngst das Kapitel »Habsburg postkolonial« von Epp Annus, Marijan Bobinac, Dirk Göttsche und Iulia-Karin Patrut, in: Dirk Göttsche/ Axel Dunker, Gabrielle Dürbeck (Hg.), Handbuch Postkolonialismus und Literatur, Stuttgart: Metzler, 2017, S. 89–91; im Bereich der Literaturwissenschaft siehe weiters: Wolfgang

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mentariums auf einen wirtschaftlich, sozial und kulturell sehr heterogenen und bald multinationalen Vielvölkerstaat sinnvoll ist und welche neuen Perspektiven sich daraus ergeben. Jedenfalls wurde der Blick geschärft auf vielschichtige Machtkonstel­lationen, Machtasymmetrien und kulturelle Hegemonien innerhalb der Habsburgermonarchie.57 Im Rückblick wird allerdings deutlich, wie sehr der postkoloniale Zugang noch der postmodernen Leitvorstellung eines Gegensatzes von Identität und Alterität bzw. Gleichheit und Differenz – mochte dieser auch konstruiert sein – verpflichtet war. Dem internationalen Forschungsparadigma folgend, waren dichotome Binaritäten wie Zentrum und Peripherie, Machteliten und Subalterne, das Eigene und das Fremde forschungsleitend. Demgegenüber hat der postkoloniale Zugang auch den Blick geschärft für Prozesse der nationalen Selbstermächtigung, u.a. durch die zeitgenössische strategische Verwendung des Kolonialismusvorwurfs (wie etwa in Galizien).58 Der gegenwärtige post-postkoloniale Blick stellt den Zugang über dichotome Binaritäten in Frage. Asymmetrische Machtverhältnisse werden weitaus komplexer konzeptualisiert. Hegemonien entfalten ihre Wirksamkeit auf vielschichtigen, zum Teil widersprüchlichen Ebenen, beruhen auf unterschiedlichen Akteurs­ konstellationen, die durch jeweils situative Praktiken und »cross-cultural interactions« produziert, gestaltet und interpretiert werden.59 Übertragen auf das Forschungsfeld Habsburg Zentraleuropa bedeutet dies, dass die binäre Logik der Herstellung von Identität durch Differenz von den jüngsten Forschungen zunehmend auf den Prüfstand gestellt wird. Aus dieser Perspektive wird der Blick darauf geschärft, dass der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert dominante Diskurs der ethnischen Differenz, der von den nationalen Aktivist/inn/en geführt wurde, jene Handlungsformen und Lebensweisen ausgeblendet hat, die von Indifferenz gegenüber ethnisch-nationalen Kategorisierungen geprägt waren. Pieter Judson hat in Guardians of the Nation (2006) eindringlich dazu aufgefordert, den Blick

Müller-Funk/Birgit Wagner (Hg.), Eigene und andere Fremde. Postkoloniale ›Konflikte‹ im europäischen Kontext, Wien: Turia & Kant, 2005. 57 | Vgl. insbesondere Anna Veronika Wendland, Imperiale, koloniale und postkoloniale Blicke auf die Peripherien des Habsburgerreiches, in: Claudia Kraft/Alf Lüdtke/Jürgen Martschukat (Hg.), Kolonialgeschichten. Regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen, Frankfurt/New York: Campus, 2010, S. 211–235. 58 | Vgl. Johannes Feichtinger, Modernisierung, Zivilisierung, Kolonisierung als Argument. Konkurrierende Selbstermächtigungsdiskurse in der späten Habsburgermonarchie, in: Christof Dejung/Martin Lengwiler (Hg.), Ränder der Moderne. Neue Perspektiven auf die europäische Geschichte (1800–1930) (= Peripherien. Neue Beiträge zur Europäischen Geschichte 1), Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2016, S. 147–181, hier S. 169–173. 59 | Kapil Raj, Beyond Postcolonialism … and Postpositivism. Circulation and the Global History of Science, in: Isis 104 (2013), S. 337–347, hier S. 343.

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auf Formen der »national flexibility (or indifference)«60 zu richten; er beruft sich dabei explizit auch auf Arbeiten von Gary B. Cohen und John Boyer.61 In seinem neuesten Buch The Habsburg Empire. A New History (2016, dt. 2017) zeigt Pieter Judson, »dass eine Annäherung an die Geschichte des Habsburgerreiches aus der Perspektive gemeinsamer Institutionen, Praktiken und Kulturen, die herkömmlichen Darstellungen fragwürdig werden lässt, die die unterschiedlichen Völker und ihre Differenzen in den Vordergrund rücken.«62 Der Begriff der nationalen Indifferenz ist für Judson ein wichtiges Werkzeug, so sein Plädoyer, »to find strategic rhetorical practices that will help us to think outside the hegemony of nationhood«.63 Auch aus einer transnationalen kulturtheoretischen Perspektive wurde zuletzt eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Denkfigur von Differenz und Alterität geführt.64 Maßgeblich angeregt durch die Arbeiten von Anil Bhatti und Dorothee Kimmich wurde der Begriff der ›Ähnlichkeit/Similarity‹ ins Spiel gebracht. Das Paradigma der Ähnlichkeit schärft den Blick auf alltägliche Praktiken transkultureller Begegnungen, die unter dem Vorzeichen des Denkens in Unterschieden aus dem Blickfeld geraten sind. Wenn nicht Differenz, sondern Ähnlichkeit zur Analysekategorie wird, werden vielfach ›vergessene‹ soziale Praktiken und Formen des Zusammenlebens in den heterogenen, plurikulturellen Gesellschaften Habsburg Zentraleuropas wieder sichtbar gemacht.65 Ähnlichkeit, nationale Indifferenz und ›cross-cultural interactions‹ sind heute Leitbegriffe einer neuerlich neu gewendeten kulturwissenschaftlichen Habsburg 60 | Pieter M. Judson, Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria, Cambridge, Mass./London: Harvard University Press, 2006, S. 5; Pieter M. Judson, Tara Zahra, Introduction, in: Austrian History Yearbook 43 (2012), S. 21–27 (Themenschwerpunkt: »Sites of Indifference to Nationhood«). 61 | Gary B. Cohen, The Politics of Ethnic Survival. Germans in Prague, 1861–1914, Prince­ ton, N.J.: Princeton University Press, 1981; John W. Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna. The Origins of the Christian Social Movement, Chicago/London: The University of Chicago Press, 1980. 62 | Peter M. Judson, Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740–1918, München: C. H. Beck, 2017, S. 17; englisch: The Habsburg Empire. A New History, Cambridge, Mass.: The Belknap Press of Harvard University Press, 2016. 63 | Judson, 2016, S. 154; vgl. auch Tara Zahra, Imagined Noncommunities. National In­ difference as a Category of Analysis, in: Slavic Review 69 (2010) 1, S. 93–119. 64 | Anil Bhatti/Dorothee Kimmich (Hg.), Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma, Konstanz: Konstanz University Press, 2015; englisch und erweitert: Dies. unter Mitarbeit von Sara Bangert, Similarity. A Paradigm for Culture Theory, New Delhi: Tulika Books, 2018. 65 | Anil Bhatti, Heterogeneities and Homogeneities. On Similarities and Diversities, in: Johannes Feichtinger/Gary B. Cohen (ed.), Understanding Multiculturalism. The Habsburg Central European Experience (= Austrian and Habsburg Studies 17), New York/Oxford: Berg­ hahn, 2014, S. 17–46.

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Zentraleuropa-Forschung. Dass Zentraleuropa in den letzten Jahrzehnten immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven neu gedacht und erforscht wird, lässt vermuten, dass dieser historische Erfahrungsraum als Projektionsfläche und Experimentierfeld für gegenwärtige Problemlagen auch zukünftig Aktualität besitzen wird.

Carl Schmitt und der Nordlicht-Mythos Theodor Däublers Andreas Höfele

Aber in diesem Augenblick, da man Gottes Tod verkündet hat, da der Mensch nun tatsächlich ganz allein die Last dieser absurden Welt tragen müßte, da beginnt sich als letzte Stütze sein schlafendes mythisches Bewußtsein wieder zu regen.1

I Nach der Abdankung obsoleter »Bildungsenthusiasmen«, so der Philosoph Hans Blumenberg, sei eine immer noch mögliche Quelle der Bewunderung für das Leben Goethes »die einzigartige Anstrengung an diesem Leben, die sich mit der Arbeit am Mythos nicht nur aneignend, variierend, Bilder suchend verbindet, sondern anders sich selbst nicht wahrnehmbar werden würde.«2 Ob auch im Falle des Staatsrechtlers und politischen Philosophen Carl Schmitt dieser Anstrengung Bewunderung gebührt, stehe dahin; dass sie der von Blumenberg an Goethe beobachteten in einiger Hinsicht ähnelt, ist allerdings kaum zu übersehen. Auch für Schmitt gilt, dass nicht die »Erfahrung selbst« von mythischer Qualität ist, sondern »die Einbildungen [es sind], die zum Mythos Beziehung stiften«,3 die Selbststilisierungen, Selbstfiktionen eines Mannes, der, wie Oscar Wilde in De Profundis, 4 davon überzeugt war, ›in symbolischer Beziehung zu seinem Zeitalter zu stehen‹. Und mindestens ebenso sehr wie Blumenberg bei 1 | Michael Rössner, Pirandello Mythenstürzer. Fort vom Mythos – Mit Hilfe des Mythos – Hin zum Mythos (= Junge Wiener Romanistik 1), Wien/Graz/Köln: Böhlau, 1980, S. 31. 2 | Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 436. 3 | Ebd. 4 | »I was a man who stood in symbolic relation to the art and culture of my age.« Oscar Wilde, De Profundis, in: Complete Works of Oscar Wilde, London/Glasgow: Collins, 1969, S. 912. Bei Schmitt sind es die Großzäsuren der Ereignisgeschichte, die immer wieder

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Goethe mag man versucht sein, bei Schmitt auszurufen: »Welche Mühsal, welche Illusionen! Und welche Durchsichtigkeit beider in ihrer Verwendung vor dem Auge des Zuschauers!«5 Carl Schmitt ist eine, gelinde gesagt, problematische Gestalt, was aber nicht verhindert hat, dass spätestens seit den 1990er-Jahren eine weltweite Schmitt-Welle ins Rollen gekommen ist, die eine bis dato unaufhaltsam wachsende Publikationsfülle zeitigt.6 Erst kürzlich beklagte ein Kommentar in der Süddeutschen Zeitung die Aktualität dieses »Wegbereiter[s] der Nazis« in Zeiten von »Erdoğan & Co.«,7 und der Verfasser einer neuen Aufsatzsammlung über Schmitt beginnt seine Einleitung mit der Feststellung, Schmitt erweise sich angesichts von »Terrorismus, Eurokrise, Finanzkrise und [...] Flüchtlingskrise [...] wieder einmal als ein Autor der Stunde.«8 Für die einen »der jüngste Klassiker der Politik«,9 ist Schmitt für die anderen der ›Totengräber der [Weimarer] Republik‹, ›Zuhälter der Gewalt‹ (Graf Krockow) und ›Kronjurist des Dritten Reiches‹ (Waldemar Gurian), wobei die Schand- und Ehrentitel einander nicht einmal ausschließen müssen. Kern aller Kontroversen um Schmitt ist seine Rolle in der Endphase der Weimarer Republik und den frühen Jahren der Naziherrschaft. Als juristischer Berater der Kabinette Papen und von Schleicher hatte er in der Agonie von Weimar das strauchelnde Präsidialsystem verteidigt,10 doch sobald dieses System gefallen war, gelang ihm ein zügiger Übergang ins neue Regime. Die akademische Karriere der Zwanzigerjahre, die den aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden Juristen auf einen Lehrstuhl an der Friedrich-Wilhelms Universität Berlin geführt hatte, erreichte in dem von Göring 1933 verliehenen Titel eines Preußischen Staatsrats ihren Gipfel. Die Schriften, die Schmitt weit über juristische Fach-

direkt mit der eigenen Biographie korreliert werden. Siehe Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München: Beck, 2009, S. 13. 5 | Blumenberg 2006, S. 436. 6 | So beispielsweise gerade auch in Asien, nicht zuletzt in der Volksrepublik China. Nicht zufällig ist es eine Doktorandin aus China, die die bislang einzige Dissertation zum Thema Carl Schmitt als Literaturkritiker vorgelegt hat: Linjing Jiang, Carl Schmitt als Literaturkritiker. Eine metakritische Untersuchung, Diss. Heidelberg 2013, http://www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/15770. 7 | Heribert Prantl, Wolfs-Demokratie, in: Süddeutsche Zeitung, 22./23. Juli 2017, Nr. 167, S. 4. 8 | Reinhard Mehring, Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk – Wirkung – Aktualität, Freiburg/München: Verlag Karl Alber, 2017, S. 7. 9 | Henning Ottmann, Carl Schmitt, in: Karl Graf Ballestrem/Henning Ottmann (Hg.), Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, München: Oldenbourg, 1990, S. 61–87; hier S. 61. 10 | Übrigens wurde Schmitt in dieser Tätigkeit 1932 erstmals als ›Kronjurist‹ geschmäht; in: Hellmut von Gerlach, Schleicher und sein Stahlhelm, in: Die Weltbühne 28 (1932) 2, S. 343.

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kreise hinaus als brillanten Denker der antirepublikanischen Rechten berühmt gemacht hatten, stellten kein Hindernis für diesen Aufstieg dar. Als führender Vertreter seiner Zunft lieferte Schmitt eine juristische Rechtfertigung der Ermordung Röhms und der SA-Führung,11 befürwortete die Nürnberger Rassegesetze12 und wetterte in der Schlussrede der von ihm organisierten Tagung des NS-›Rechtswahrerbundes‹ 1936 gegen »Das Judentum in der Rechtswissenschaft«. Diese Rede markiert allerdings auch bereits das Ende seiner Glanzzeit im NS-Staat. Sie war der Versuch, seine Linientreue mit allen Mitteln zu beweisen. Denn inzwischen war im SS-Blatt Das schwarze Korps und in den Mitteilungen des Amtes Rosenberg eine Kampagne gegen ihn in Gang gebracht geworden, die ihn als Opportunisten, Judenfreund und früheren Gegner der NSDAP bloßstellte.13 Schmitt verlor seine Spitzenämter im NS-Hochschulwesen. Doch mächtige Fürsprecher verhinderten Schlimmeres: Dank Göring und Hans Frank behielt er sowohl seinen Lehrstuhl als auch den Titel Staatsrat. Gleichwohl fühlte sich Schmitt nach 1945 doppelt bestraft: Opfer der Nationalsozialisten wie auch alliierter Siegerjustiz. Im Gegensatz zu anderen belasteten Vertretern seiner Zunft blieb ihm der Rückweg ins akademische Lehramt versperrt. Nach zweijähriger Internierung zog er sich in seinen Geburtsort Plettenberg im Sauerland zurück, ein Exilant in der westlich orientierten Nachkriegsrepublik, freilich einer, der viel besucht und viel gefragt war, und zwar beileibe nicht nur im Lager der politischen Rechten. Ein Exilant aber trotz alledem, was Schmitt mit der Benennung des Bungalows anzeigte, in den er 1962 aus seinem Elternhaus umzog: San Casciano, nach dem Ort bei Florenz, in dem der verbannte Machiavelli seinen Principe schrieb. In dieser Selbststilisierung ist schon etwas von dem zu erkennen, was man mit Blumenberg als Schmitts ›Arbeit am Mythos‹, nicht zuletzt am Mythos seiner selbst bezeichnen könnte. An Schmitts Othello-Obsession der 1920er-Jahre ließe sich dies ebenso zeigen wie an seinen politisch-allegorischen Lektüren von Hamlet und Herman Melvilles Novelle Benito Cereno.14 Hier möchte ich aber auf ein anderes Beispiel eingehen: die Schrift über Theodor Däublers heute vergessenes Monumentalpoem Das Nordlicht, die der 28-jährige Schmitt bereits 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, veröffentlichte, und von dieser literarischen Studie aus zum Schluss dann noch einen Blick auf den Aufsatz Die politische Theorie des Mythus von 1923 werfen, mit

11 | Carl Schmitt, Der Führer schützt das Recht, in: Deutsche Juristen-Zeitung 39 (1934), Sp. 945–950. 12 | Ders., Die Verfassung der Freiheit, in: Deutsche Juristen-Zeitung 40 (1935), Sp. 1133–1135. 13 | Munitioniert wurde diese Kampagne – Ironie des Schicksals – durch Artikel in der Schweizer Exilzeitschrift Deutsche Briefe, verfasst von Waldemar Gurian, einem ehemaligen Schüler. 14 | Ich habe mich damit an anderer Stelle beschäftigt: Andreas Höfele, No Hamlets: German Shakespeare from Nietzsche to Carl Schmitt, Oxford: Oxford University Press, 2016.

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dem Schmitt sich als politischer Programmatiker der sogenannten ›Konservativen Revolution‹ profilierte.

II »Der Roman im modernen Sinne«, schreibt Hegel, »setzt eine bereits zur Prosa geordnete Wirklichkeit voraus.« Als »moderne[...] bürgerliche[...] Epopöe« verbinden ihn mit dem alten Epos zwar »der Reichtum und die Vielseitigkeit der Interessen, Zustände, Charaktere, Lebensverhältnisse, der breite Hintergrund einer totalen Welt sowie die epische Darstellung von Begebenheiten«, doch was ihm »fehlt, ist der ursprünglich poetische Weltzustand, aus welchem das eigentliche Epos hervorgeht.«15 Jeder Versuch, das Epos in der Moderne wieder erstehen zu lassen, ist somit eine Unternehmung gegen die Gegenwart, ein heroisch-quixotischer Anachronismus. Dieses entschieden Unzeitgemäße hat Theodor Däublers Epos Das Nordlicht schon zur Zeit seiner Veröffentlichung vor dem Ersten Weltkrieg einem breiteren Publikum unzugänglich gemacht, seine wenigen Leser aber zu umso glühenderen Verehrern. Däublers Dichtung blieb über diesen Verehrerkreis hinaus weitgehend unbekannt, der Dichter selbst freilich gelangte zu einiger Prominenz.16 Die Maler liebten und porträtierten seine kolossale Gestalt.17 Von überbordender Leibesfülle, ein Riese mit wallendem Bart, für Walter Mehring »der leibhaftige Jupiter tonans«,18 Charismatiker und Clochard, ein authentischer Prophet, den aber doch ein Hauch von Hochstapelei umwehte,19 war er ein Gegen­ typus zur wilhelminischen Bürgerlichkeit; aber ein ganz anderer als etwa Stefan 15 | Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, in: Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel (Hg.), G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 13, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1970, S. 392. 16 | Als Gestalt von repräsentativer Bedeutung würdigt ihn Arthur Moeller van den Bruck im 5. Band von Die Deutschen. Unsere Menschengeschichte: Gestaltende Deutsche, Minden: J. C. C. Bruns, o. J. – Moeller van den Bruck war es auch, der die Erstpublikation des Nordlichts in die Wege leitete. 17 | Klaus Schuhmacher, Allmacht, Museum, Geschlecht: Theodor Däubler als Typus einer Wendezeit, in: Dieter Werner (Hg.), Theodor Däubler: Zum Erscheinen der geistigen Landschaft Europas in der Kunst. Die Vorträge des Berliner Däubler-Kolloquiums von 1996, Dillenburg: M & N, 2000, S. 83–93, besonders S. 84–85. 18 | Walter Mehring, Erinnerungen an Theodor Däubler, in: National-Zeitung Basel, 19. Juni 1934, Nr. 275, S. 2. 19 | Ernst Barlach, der mit dem Dichter befreundet war und ihn bewunderte, konnte gleichwohl in einem Brief vom 23. Sept. 1915 schreiben: »[E]s gibt irgendwo in mir eine Wut auf ihn, da ist ein Schwindel mit Geist und Bedeutung, ein Aufwand an vermeintlicher Tiefe, die mich bald entsetzen, bald empören.« Ernst Barlach, Die Briefe, hg. von Friedrich Dross, Bd. 1, München: Piper, 1968, S. 446.

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George, dessen Strenge und Zucht seinem verschwenderisch-ungezügelten Temperament diametral entgegenstand. Im mehrsprachigen Triest aufgewachsen, ähnelte er George allerdings darin, dass der Einzugsbereich seines Werkes weit über die deutsche Literatur hinaus die gesamte, vor allem mediterrane, europäische Dichtungstradition umspannt.20 Carl Schmitt sah in ihm die Vereinigung von deutscher Mystik und lateinischem Formbewusstsein. Er lernte den »ungepflegten Koloss«21 im Frühjahr 1912 kennen; 1913 war man schon so eng befreundet, dass der Dichter ohne festen Wohnsitz für mehrere Wochen bei Schmitt logierte. Nicht weniger als einen Gesamtmythos der Menschheitsgeschichte, von der Kosmogonie bis zum Ende der Zeiten entfaltet Das Nordlicht in mehr als 30.000 Versen, zugleich auch »the growth of a poet’s mind«22: »Autobiographisch, in einem gleichnishaften Sinn«, schreibt Däubler in seiner Selbstdeutung, »ist [...] die Dichtung, besonders in ihrem ersten Teil.«23 In der Engführung von autobiographischer und kosmologischer Bewegung ›hämmert‹24 Däubler aus seiner »kind­ lichen Privatmythologie«25 den Weltmythos des Nordlichts. Seine Grundidee ist die, dass das in der Erde gespeicherte Sonnenlicht »am Pol, wo die Erdrinde am dicksten ist«, in Gestalt des Nordlichts »aus dem Innern der Erde ausströmt.« Nordlicht ist also »gesiebtes Sonnenlicht und das Eigenlicht der Erde.«26 Die Sonne ist die leiblich-vitale wie auch spirituelle Urkraft des Kosmos: »Polarlicht ist der Erde Weltgebet.«27 Der Weg der Menschheit ist der Weg zur Sonne und folglich – mit 20 | Eine weitere Gemeinsamkeit Däublers mit George benennt Schuhmacher 2000, S. 89: »Es dürfte kaum einen Dichter gegeben haben, der im beginnenden Zeitalter der medialen Reproduktion als Autor eines schwer verkäuflichen Werkes das Bild des Dichters, seine Ikone, so nachhaltig vergegenwärtigte. Unter diesem Aspekt der Bildzirkulation ist er die Parallelfigur Stefan Georges.« 21 | Carl Schmitt, Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47, Berlin: Duncker & Humblot, 42015, S. 46. 22 | Siehe William Wordsworth, The Prelude or Growth of a Poet’s Mind. An Autobiographical Poem, Erstfassung 1799. 23 | Theodor Däubler, Die Selbstdeutung [erstmals abgedruckt in: Zeitschrift für Bücherfreunde 12 (Leipzig 1920/21) 1/2, S. 22–37], in: Stefan Nienhaus/Dieter Werner (Hg.), Theodor Däubler, Kritische Ausgabe 6.3: Das Nordlicht, Apparatband, Dresden: Thelem, 2004, S. 55–88, hier S. 55. 24 | ›Hämmern‹ wird mehrfach zur Bezeichnung dichterischer Formgebung gebraucht; etwa: »Bleiben wir zuerst beim ursprünglich visionären, nicht beim verdichteten Erdämmern der urweltlichen Anschauungen, die in diesem Werk zur Hämmerung gelangten.« Däubler 2004, S. 55. 25 | Ebd., S. 56; an anderer Stelle auch »Privatkosmogonie«, ebd., S. 60. 26 | Carl Schmitt, Theodor Däublers »Nordlicht«: Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes, Erstdruck: München: Georg Müller, 1916; Nachdruck: Berlin: Duncker & Humblot, 2009, S. 11–12. 27 | Däubler 2004, S. 604.

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vielen Windungen, Hindernissen, Verirrungen und ›Kataklismen‹ – der Weg nach Norden, wo er am Austrittspunkt des erdeigenen Sonnenlichts ans Ziel gelangt: Tief überwunden sind des Zweifels Schemen: Die Welt versöhnt und übertönt der Geist!28

III Schmitts Abhandlung über Das Nordlicht widmet sich in ›drei Studien‹ (1) den ›Elementen‹, (2) dem ›Geist‹ und (3) der ›Aktualität‹ des Werkes. Der erste Teil beginnt mit einer Gesamteinordnung des Epos, das geistesgeschichtlich »in den engsten Zusammenhang mit der nachklassischen Periode« gehöre: »In der künstlerischen Gestaltung des ›Nordlichts‹ herrscht allerdings eine ungewöhn­ liche Traditionslosigkeit und Originalität. Inhaltlich aber liegen die Wurzeln des Werkes in der Romantik. Ahnen in gerader Linie sind die großen Schwaben Hegel und Schelling.«29 Hegels Geschichtsphilosophie mit ihrem Telos einer Versöhnung von Natur und Geist,30 Schellings antimechanistisch-dynamische Theorie einer unendlich produktiven, unendlich wandelbaren natura naturans – diese Zuordnungen leuchten unmittelbar ein; was jedoch überrascht, ist ihre positive Wertung. Von Schmitts »Todfeindschaft« (Hugo Ball) gegen die Romantik, die sich in seiner drei Jahre später veröffentlichten Polemik gegen die Politische Romantik Bahn bricht, ist in den geradezu hymnischen Lobpreisungen des Nordlichts rein gar nichts zu spüren.31 Dessen Dichter sei »vielleicht der erste, in dem die geistige Einheit des Okzidents aus der Sehnsucht zur Erfüllung gelangt ist.«32 Schmitt konzentriert seine Lektüre auf den zweiten Teil des Werkes, da es »die eigentliche Geschichtsphilosophie« enthalte, »die Wanderung der Erde zum Norden.«33 Diese verläuft freilich alles andere als geradlinig, auch die Ellipse – 28 | Ebd., S. 610. 29 | Schmitt 2009, S. 17. 30 | G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Nachschriften zu dem Kolleg des Wintersemesters 1822/23, hg. von Bernadette Collenberg-Plotnikov (=Hegel, Gesammelte Werke 27,1), Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2015. 31 | »Was tut Carl Schmitt?« fragt Nicolaus Sombart hierzu rhetorisch und antwortet mit einer Erklärung Hugo Balls: »›Der Todfeind der Romantik‹ [...] bekämpft in ihr die irrationale Gefahr seines eigenen schöpferischen Fonds, dessen Klärung seine Schriften sämtlich gewidmet scheinen.« Hugo Ball, Carl Schmitts Politische Theologie, in: Hochland 21 (1923/24), S. 265, zitiert in Nicolaus Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos, München: Carl Hanser, 1991, S. 56. 32 | Schmitt 2009, S. 18. 33 | Ebd., S. 19.

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»Grundhieroglyphe der Schöpfung«34 – liefert kein übersichtliches Bewegungsmuster durch das »Labyrinth philosophischer Spekulationen«,35 in dem, so Schmitt, gleichwohl »die aus einem strengen Formbedürfnis erwachsenen Maße und Relationen erkennbar«36 seien. Kulturen steigen auf, übersteigern sich und landen mit Getöse im Orkus der Geschichte. Nach dem ursprünglichen »Kataklisma, als die Erde in kolossalen Konvulsionen aus der großen Flut auftaucht«,37 tritt mit Ra, dem Sonnengott, »die erste, noch ganz wilde [...] Offenbarung der Sonnenkraft« auf; Ra »ist der Gott der grausamen Macht, der männliche, gewaltsame Herrscher, der seinen Staat auf die brutale Kraft gründet und schließlich sich in seinem eigenen Brande verzehrt.«38 Zentrales Symbol dieses »Ra-Dramas« ist die Pyramide. Ihr steht als Gegengewicht in der »Iranischen Rhapsodie« der Ararat gegenüber, »ein anderer, ebenso kolossaler Bau [...] ein anderes Weltgrab«, in das »die Menschheit am Schlusse jeder Periode ihrer Entwicklung«39 stürzt und dem sie erneut entsteigt. Immer wieder »geht der historische Vorgang [...] im mythisch-symbolischen unter«:40 Eine Welt von Bildern. Die Realität ist in Bildern erkannt und aufgehoben, die Pyramide wird durch die Gegenüberstellung mit dem phantastischen ›Ararat‹ zu einem mythologischen Gebilde, der Phantasiebau des Ararat erhält Realität durch die Beziehung zur Pyramide. 41

»Alles« in der Welt des Nordlichts »hat ungeheure Bedeutung und sucht diese im Bild wiederzugeben, in einem anschaulichen Vorgang.« 42 Wenn das Mittelmeer mit seiner hellenistisch-römischen Kultur der Menschheit den Weg nach Norden »verlegt«, so lässt Däubler es zu einem »mit dantesker Anschaulichkeit gemalt[en]« Drachen werden, 43 den der heilige Georg – der zuvor Perseus war und von Augustinus in Alexandria getauft wurde – »mit seinem magischen Schwerte, seinem ›Lichtdegen‹ tötet«. 44 Schmitt rühmt die Plastizität der Bilder, die »unbeirrte geradezu mythenbildende Kraft der Phantasie« und eine Sprache, die sich radikal von alltagssprachli34 | Ebd., S. 13. Schmitt zitiert eine Formulierung aus Johann Malfatti von Monteregio, Studien über Anarchie und Hierarchie des Wissens mit besonderer Beziehung auf die Medicin, Leipzig: F.A. Brockhaus, 1845. 35 | Schmitt 2009, S. 19. 36 | Ebd. 37 | Ebd. 38 | Ebd. 39 | Ebd., S. 20. 40 | Ebd., S. 35. 41 | Ebd., S. 29. 42 | Ebd. 43 | Ebd., S. 21. 44 | Ebd.

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cher Üblichkeit entfernt: »Die Sprache des täglichen Lebens ist beherrscht durch den Zweck: sich einem anderen verständlich zu machen. [...] In der Sprache des täglichen Lebens lässt sich kein Mythos dichten.« 45 Dem Mythopoeten Däubler hingegen sei es gelungen, »das eigene Reich der künstlerischen Sprache zu begründen«, und dies sei »vielleicht das Kühnste und Sensationellste, was in der Geschichte irgendeiner Kunst je erlebt wurde.«46 Der Sinn ist im Laut, jenseits des Diskursiv-Rationalen unmittelbar affektiv vernehmbar. Schmitt demonstriert dies an der Silbe Ra, die über das »Ra-Drama« hinaus durch den ganzen zweiten Teil des Nordlichts in Alliterationskaskaden proliferiert. Ra ist der furchtbare, mystische Schrei, den die Menschheit in der höchsten Not des Kataklisma ausstößt: Kolossale Bergesrachen Seh ich ganze Meere spein. Alles muß zusammenkrachen, Und die Menschheit hör ich schrein: »Ra«. 47

»Die Menge der Bilder und Wortzusammenfassungen [gemeint sind neologistische Komposita, AHö], die sich mit ihrem Gedankenreichtum in der Verständlichkeit gegenseitig beeinträchtigen, ist durch den künstlerischen Effekt im höchsten Sinne gerechtfertigt«, kommentiert Schmitt die Passage, in der das Ra-Drama sich im Brand des Herrscherpalastes von Theben vollendet: In den rasend schnellen Worten »raglast-erfaßten Pilastern« 48 ist mit beklemmender Anschaulichkeit geschildert, wie die Glut die Pfeiler des Tempels erfaßt und zum Einstürzen bringt; die »Brandgarben« und »Brandfalter« sind prachtvolle Bilder für die Flammen des Feuers. Aber das Wichtigste ist, daß hier das Wort restlos zum Mittel künstlerischer Anschaulichkeit geworden ist. Das »Ra« zieht sich als reiner Klang- und Farbenwert durch den zweiten Teil des »Nordlichts« mit immer neuer Wirkung. Wie offenbart es seine Kraft in dem Vers der Iranischen Rhapsodie: Wahrhaftig, der Satan ragt senkrecht zu Tage!49

45 | Ebd., S. 43. 46 | Ebd. 47 | Ebd., S. 43–44. 48 | Die auf den ersten Blick unverständliche Wortfügung ist als dreigliedrig aufzufassen: »ra-glast-erfasst«, also »vom Ra-Glanz/Ra-Schimmer erfasst«. 49 | Schmitt 2009, S. 46.

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IV Vieles von dem, worüber Schmitt in Begeisterung gerät, mag heutigen Lesern so bombastisch überladen erscheinen wie die Prunkgemälde gründerzeitlicher ›Malerfürsten‹: nicht Antithese, vielmehr Abbild, symptomatischer Ausdruck des wilhelminischen Monumentalismus. Bezeichnenderweise lässt Friedhelm Kemp auf ziemlich genau der Hälfte der 860 Dünndruckseiten seiner Auswahlausgabe von 195750 den Prosaisten Däubler zu Wort kommen und wird dafür ausdrücklich gelobt: Laut Walter Jens »besitzen wir in der neuen Ausgabe endlich Materialien für die gerechte Deutung eines Mannes, dessen eigentliches Gebiet [...] die Prosa war. Nicht die krausen Mythologeme des ›Nordlicht‹-Epos, nicht die konventionellen Reime der Hymnen, [...] nicht Anruf im Vers, sondern Beschreibung und Deutung im Satz geben Däubler überzeitliche Wirkung.«51 Natürlich hätte Schmitt dem entschieden widersprochen. In der Tat aber stellt sich die Frage, was er mit den ›krausen Mythologemen‹ Däublers zu schaffen hatte, wieso der katholische Ordnungsdenker die Phantasien seines Dichterfreundes nicht den Auswüchsen jenes »zügellosen Prophetentums«52 zurechnete, das in Römischer Katholizismus und politische Form (1923) scharfe Ablehnung und in der Ordnungsmacht der katholischen Kirche ein wirksames Antidot findet. Die Antwort kündigt sich am Ende des ersten Teils der Nordlicht-Abhandlung bereits deutlich an, wo es von Däublers Sprachverwendung heißt, ihre »Gewaltsamkeit [sei] nur vollkommene Hingabe«,53 und weiter: »Die höchste Selbstbejahung wird zur Selbstverneinung, die Selbstverneinung zur Selbstbejahung, das Leben wird aufgegeben, um es zu gewinnen.«54 Das sind christliche Töne, Töne einer mystischen imitatio, die in der Däublerschen Dichtung durchaus zu vernehmen sind, in Schmitts Deutung aber erkennbar verstärkt werden. Im zweiten Teil von Schmitts Abhandlung wird der Mythensynkretismus des Nordlichts55 zur christlichen Botschaft vereindeutigt.

50 | Theodor Däubler, Dichtungen und Schriften, hg. von Friedhelm Kemp, München: Kösel, 1957. 51 | Walter Jens, Theodor Däubler der letzte Grieche. Betrachtungen anläßlich des Erscheinens einer großen Ausgabe seiner Werke, in: Die Zeit, 17. Januar 1957, http://www. zeit.de/1957/03/theodor-daeubler-der-letzte-grieche (abgerufen am 06.08.2017). 52 | Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form (1923), Stuttgart: Klett-Cotta, 1984, S. 24. 53 | Schmitt 2009, S. 47. 54 | Ebd. 55 | Nicht unpassend erscheint auch das Wort »Mythenstapelei«: Thomas Keller, Theodor Däublers gnostische Spekulation. Zwischen Mythenstapelei und Mythenreflexion, in: Dieter Werner (Hg.), Theodor Däubler: Zum Erscheinen der geistigen Landschaft Europas in der Kunst, Niederscheld: Edition M & N, S. 95–136; hier S. 95.

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Für das Ziel des Menschheitsweges findet Schmitt die Worte der Johannesapokalypse: »Ein neuer Himmel und eine neue Erde.«56 Und an diesem Ziel, an dem der Geist »überirdisch schön und geheimnisvoll klar«57 hervortritt, verschwindet auch der (scheinbare) Gegensatz zwischen mystischer Bildlichkeit und philosophischem Gedanken. Däubler und Hegel werden zu Brüdern im selben Geist, »denn der Panlogismus des Schwaben Hegel ist im Grunde nur Glaube.«58 »In gläubigem Schauen wird die Welt erkannt«; und: »Am Ende aller Dinge steht der Geist, die Erkenntnis, die Gnosis, die Visio Dei.«59 Der zweite Teil von Schmitts Interpretation endet mit einer Gnadentheologie, die sich auf »die erhabenen Erscheinungen Augustinus, Luther und Pascal«60 beruft; mit einer complexio oppositorum, die die Natur als sündhaft zu erkennen und gleichwohl zu verklären vermag. »Das alles ist so unerklärlich wie Gottes Güte und die Leiden dieser Welt.«61 In Schmitts Lektüre wird Däublers Nordlicht zum christlichen Epos geistbeseelter Natur; »es mündet, nach einem wilden und großartigen Lauf, als ruhiger, mächtiger Strom in dem europäischen Meere von Gedanken, das eingeschlossen ist in den beiden Worten: Natur und Gnade.«62

V Zeigt sich in Däublers zwischen 1898 und 1910 geschaffenem Epos das Wetterleuchten des bevorstehenden Weltkriegs? Ist in den ›Kataklismen‹ des Nordlichts die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« (Herfried Münkler) vorausgeahnt? Skepsis, rät Lothar Müller, sei hier angebracht, und nennt »Däublers Bilder der vulkanisch zersprengten Erde [...] eher Produkt der synthetisierenden als der antizipierenden Einbildungskraft«, »eine synkretistische Synthese der um 1900 virulenten Revitalisierung mystisch-gnostischer und naturphilosophischer Tradi­ tionen«.63 56 | Schmitt 2009, S. 50. 57 | Ebd., S. 51. 58 | Ebd. 59 | Ebd., S. 55. 60 | Ebd., S. 58. 61 | Ebd., S. 57. 62 | Ebd., S. 60. Vom (Zusammen-)Strömen spricht auch Johannes Schlaf, allerdings ohne Schmitts christliche Vereindeutigung: »Hier ist kein Mythos mehr; aber allerdings strömen dafür alle Mythen in ein und die gleiche allumfassende Geistigkeit und Weltanschauung zusammen wie in einen gewaltigen väterlichen Ozean, um sich in ihr von ihrer Vielspältigkeit zu erholen.« Johannes Schlaf, Theodor Däubler. Zu Däublers Vorlesung am 22. November, in: Der Brenner 3 (1912) 3, S. 120–127, hier S. 124. 63 | Lothar Müller, Elektrische Ekstasen. Kataklystische Natur und technische Modernität bei Theodor Däubler, in: Eberhard Lämmert/Giorgio Cusatelli (Hg.), Avantgarde, Moderni-

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Schmitt kann im Erscheinungsjahr 1916 die Kriegsgegenwart nicht unerwähnt lassen. Er beginnt den dritten Teil seiner Abhandlung, den zur Aktualität, mit der Feststellung: »In den Tagen, da die europäische Welt sich selbst zerfleischt, wird diese Dichtung bekannt; in den Jahren, die materiell und metaphysisch die Verwüstung ermöglichten, ist es entstanden.«64 Die Ermöglichungsbedingungen der Verwüstung sind es, die Schmitt auf den abschließenden Seiten ins Visier nimmt. Er greift dabei auf »die soziologischen Analysen der Moderne« zurück, die er »bei Max Weber, Werner Sombart und vor allem Georg Simmel« vorfand, »dramatisiert sie aber zugleich als Diagnosen der Heraufkunft des Antichrist«:65 Dies Zeitalter hat sich selbst als das kapitalistische, mechanistische, relativistische bezeichnet, als das Zeitalter des Verkehrs, der Technik, der Organisation. In der Tat scheint der ›Betrieb‹ ihm die Signatur zu geben, der Betrieb als das großartig funktionierende Mittel zu irgendeinem kläglichen oder sinnlosen Zweck, der betrieb, der den Einzelnen so vernichtet, daß er seine Aufhebung nicht einmal fühlt [...]. 66

Müller charakterisiert dies als »dämonisierende Paraphrase auf Simmels Philosophie des Geldes« und spricht von »Schmitts Überblendung des Panoramas zeitgenössischer Indifferenz mit dem Schatten des Antichrist«.67 Im Voranschreiten der drei Teile von Schmitts Nordlicht-Schrift findet eine zunehmende Entfernung vom Werk selbst statt: Während der Interpret sich den ›Elementen‹ (1) bis zum close reading einzelner Zeilen nähert, fügt er dem ›Geist‹ (2) bereits eine nur mehr zum Teil vom Däublerschen Text gedeckte Theologie bei. Die ›Aktualität‹ (3) schließlich ist dann so gut wie ganz seine Eigenkreation. Die Zeitdiagnose kommt so, wie Schmitt sie stellt, im Nordlicht nicht oder allenfalls in versprengten Andeutungen vor. Schmitts Diagnose beschreibt nicht, sie komplementiert das Werk, auf eine Weise freilich, die dem Werk doch auch wieder ähnelt: Dem Positiv­ Mythos des Nordlichts kontrastiert Schmitt den Negativ-Mythos der Moderne. Ihre Untrennbarkeit bezeugen Antithesen: Das Nordlicht »ist so tief wie die Zeit flach, so groß, wie die Zeit klein, so voll des göttlichen Geistes, wie die Zeit leer davon«.68 »[D]ie Aktualität [des Nordlichts] beruht auf dem Verhältnis zum innersten

tät, Katastrophe. Letteratura, Arte e Scienza fra Germania e Italia nel primo ‘900, Florenz: Leo S. Olschki, 1995, S. 141–168, hier S. 150. Und an anderer Stelle desselben Aufsatzes, S. 158: »[...] eher die Verschränkung [der] neuen Geologie mit dem Erdbeben von Messina im Jahre 1908 als die aufgerissene Erde zwischen den Schützengräben von 1916.« 64 | Schmitt 2009, S. 59. 65 | Müller 1995, S. 154. 66 | Schmitt 2009, S. 59. 67 | Müller 1995, S. 155. 68 | Schmitt 2009, S. 64.

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Wesen der Zeit, dessen großartige Verneinung dieses Werk ist.«69 Schmitt löst sich frei von seinem Sujet, dem Nordlicht-Epos, schafft, kaum weniger bildstark als dieses, seine eigene Dämonologie und erzeugt dabei eine rhetorische Dynamik, die dem immer wieder berufenen ›Strom‹ der Däublerschen Dichtung wenig nachsteht. Als »Buch der Freundschaft«, einen »Liebesdienst«70 »ohne Spitze«71 hat Nicolaus Sombart die Nordlicht-Abhandlung bezeichnet und sie in scharfen Gegensatz zur »Kampfansage« 72 an die Politische Romantik gestellt. Übersehen ist dabei die Kampfansage an die bürgerlich-liberale Moderne im Aktualitätsteil von Schmitts Nordlicht-Abhandlung, vor allem aber auch, dass die dort postulierte Gegenposition Däublers zu dieser Moderne das Nordlicht selbst als Spitze gegen den ›alt-bösen Feind‹ in seiner neu-bösen Erscheinungsform in Stellung bringt. Insofern ist der von Schmitt christlich gedeutete Heilsmythos des Nordlichts zwar kein direkt ›politischer‹ Mythos, wohl aber politisch grundiert. Das bestätigt ein Blick auf den sieben Jahre späteren Aufsatz »Die politische Theorie des Mythus« (1923). Angelehnt an Georges Sorels Réflexions sur la violence73 teilt er deren Feindbild einer Bourgeoisie, die, »in Angst um Geld und Besitz verkommen [...], durch Skeptizismus, Relativismus und Parlamentarismus moralisch zerrüttet [...]«, die Kraft zur »großen moralische[n] Dezision und [zum] große[n] Mythos«74 verloren habe. Gemeint ist der die Massen mobilisierende Mythos einer blutigen Entscheidungsschlacht, der sich bei Sorel um die Idee des Generalstreiks formt, von Schmitt aber – problemlos von links nach rechts umgepolt, vom Syndikalismus zum Faschismus – mit dem nationalen Mythos aus Mussolinis Rede vor dem Marsch auf Rom kurzgeschlossen wird. Nun kann Däublers Sonnen­ Mythos zwar weder nachgesagt werden, er mobilisiere die Massen, noch auch, dass ihm eine explizit politische Stoßrichtung zu eigen sei oder von Schmitt unterstellt werde, doch macht die Däublersche Aktualität, wie Schmitt sie in seiner mythisierenden Feindbildbeschreibung darstellt, Das Nordlicht immerhin zu so etwas wie einer poetischen Parallelaktion der action directe.

69 | Ebd., S. 65. 70 | Sombart 1991, S. 125. 71 | Ebd., S. 129. 72 | Ebd., S. 125. 73 | Georges Sorel, Réflexions sur la violence, Paris: Marcel Rivière et Cie, 1908. 74 | Carl Schmitt, Die politische Theorie des Mythus, in: Ders. (Hg.), Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar–Genf–Versailles 1923–1939, Berlin: Duncker & Humblot, 31994, S. 11–21, hier 14.

Carl Schmitt und der Nordlicht-Mythos Theodor Däublers

VI Ob Däubler sich mit dieser politischen Grundierung der Schmittschen Interpretation seiner Dichtung im Einverständnis befand? Ob seine Entscheidung für die Entscheidung wohl so eindeutig ausfiel, wie sein enthusiastischer Exeget sie als unabweisbares moralisch-politisches Gebot der Stunde proklamierte? Es darf bezweifelt werden. »Meiner Ansicht nach«, gab Däubler 1920 zu Protokoll, leiden die Menschen, die ganz nach links orientiert sind, an einem: sie überschätzen die Menschheit! Lieber sind sie mir aber in ihrer oft harmlosen Vertrauensseligkeit als die Menschen der Rechten, die wohl oft kirchlich gesinnt bleiben, aber trotzdem nicht an Gott, das heißt an die Erfüllung seiner Verheißungen glauben können. Leider sind sie aber die besseren Menschenkenner und behalten daher im Augenblick fast immer recht.75

Es ist kaum möglich, im »Menschen der Rechten« nicht die Züge Schmitts wiederzuerkennen. »Er kann alles gut heißen«,76 hat dieser selbst drei Jahrzehnte nach der Nordlicht-Schrift über den 1934 verstorbenen Däubler geschrieben, und das ist hier zwar nicht als Makel gemeint, aber doch als Distanzsignal zu verstehen. Im Rückblick ist Schmitt sich auch seiner Fehleinschätzung des Nordlichts bewusst: Ich habe [...] eine christliche Deutung gegeben, und Däubler, in seiner grenzenlosen Großzügigkeit, hat das ohne Widerspruch hingenommen. Heute weiß ich, daß das Nordlicht in dem fahlen Schein einer Menschheits-Gnosis leuchtet. Es ist das meteorologische Signal einer sich selbst rettenden Menschheit, eine autochthone Strahlung, die von den Prome­ thiden der Erde in den Kosmos hineingesendet wird.77

›Fahl‹ ist in Däublers Epos das Licht des Mondes, des toten Erdtrabanten, von dem kein Heil zu erwarten ist. Schmitt bekennt, dass er sich schon bald nach Abschluss der Nordlicht-Studie von Däubler »innerlich entfernt«78 habe. Mit den Promethiden und ihren ›Erwartungsmythen‹, seien sie geistig-kosmisch wie bei Däubler oder politisch wie bei Sorel (oder Mussolini), hat der Schmitt der Nachkriegszeit gebrochen. An die Stelle von Däubler ist ihm Konrad Weiß getreten – kein Promethide, sondern ein Dichter, in dessen Werk Schmitt sich selbst mythisch verklären kann: als »christlicher Epimetheus«.79

75 | Theodor Däubler, in: Tribüne der Kunst und der Zeit 13 (Berlin 1920), zit. in: Däubler 2004, S. 88. 76 | Schmitt 2015, S. 48. 77 | Ebd., S. 49. 78 | Ebd., S. 51. 79 | Ebd., S. 53.

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Spanien/al-Andalus: Alte und junge Mythen 1 Johannes Thomas

Pirandello weist nach, dass der Mythos für das menschliche Selbst- und Weltverständnis unerläßlich ist. Michael Rössner, Pirandello Mythenstürzer

Die Mythen, die für unser Verständnis der iberischen Halbinsel seit dem Ende des Römischen Reichs produziert und perpetuiert wurden und werden, sind vielfältig und heterogen. Wie in der Folge ausgeführt wird, haben die Mythen vom ›einen und ewigen Spanien‹ und seinen ewig gleichbleibenden Spaniern die Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung vieler zum Christentum konvertierter Juden und Muslime legitimiert, während der Mythos einer historisch einzigartigen Totalzerstörung eines blühenden Westgotenreichs als historisch-mythologische Legitimation von bellizistischen Rückeroberungen und der internen Kolonisierung durch den franquistischen Totalitarismus dienen konnten. Nicht alle Mythen, die die iberische Halbinsel betreffen, wurden jedoch aus einer Perspektive entwickelt, die die westgotisch-christliche Tradition positiv besetzt und eine Identifikation mit dieser zu erzeugen versucht: Auch die arabische Historiografie wusste die schnelle Eroberung und jahrhundertelange Herrschaft über einen Großteil der Halbinsel für ihre Zwecke zu nutzen. Ein Mythos, der hierbei auch im Westen nahezu alle aktuellen al-Andalus-Diskurse seit Américo Castro beeinflusst, ist der Mythos einer, im Vergleich zu den christlichen Reichen des Mittelalters, größeren Toleranz für ein friedliches Zusammenleben zwischen den Anhängern der drei Schriftreligionen im muslimisch regierten al-Andalus. Der vorliegende Artikel versucht, diesen weit verbreiteten Mythos zu dekonstruieren und seine unüberlegte Perpetuierung zu problematisieren.

1 | »Mythos« wird hier im Sinne von Mircea Eliade verwendet: »Ce mot est utilisé aujourd’hui aussi bien dans le sens de ›fiction‹ ou d’›illusion‹ […] que dans le sens de tradition sacrée […].« Mircea Eliade, Aspects du mythe, Paris: Gallimard, 1963, S. 9.

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1.H omo H ispanicus und W estgoten -M y thos Bis in jüngere Zeiten hinein war der Mythos des ›einen, ewigen Spanien‹ das weithin dominierende ideologische Konstrukt der spanischen Historiografie. Der ›iberische Mensch‹ war danach immer gleich geblieben. Seine Identität und Kontinuität waren durch seine römische wie westgotische Prägung, vor allem aber durch die historische Erfahrung des Kampfes um die nationale Einheit gegen die Araber, die Reconquista, garantiert.2 Begründet worden war die These von der westgotischen Fundierung der nationalen Identität schon durch Isidor von Sevilla (um 570–630). Die Goten seien, so Isidor, von Gott dazu auserwählt, die Nachfolge Roms anzutreten. Sie hätten dann mit der Abkehr vom Arianismus (587/9) Spanien religiös geeint und durch die Vertreibung der Byzantiner von spanischem Boden auch die politische Einheit herbeigeführt.3 Im 13. Jahrhundert wurde dieser Mythos durch Erzbischof Jiménez de Rada auf Kastilien übertragen. Auf ihn vor allem stützten sich die spanischen Autoren, die im 15. und 16. Jahrhundert den Westgoten-Mythos wiederbelebten. 4 In Verbindung mit der Reconquista-Idee diente er zur Begründung jener Ideologie der Blutsreinheit (limpieza de sangre), welche die Diskriminierung, inquisitorische Verfolgung und Ermordung vieler zum Christentum konvertierter Juden und Muslime legitimierte.5

1.1. Mythos der totalen Zerstörung des Landes durch die Sarazenen Die älteste Chronik6 aus der Zeit nach der arabischen Eroberung Spaniens, eine um orientalische Informationen bereicherte Fortsetzung der lateinischen Chroniken im Gefolge Isidors von Sevilla, lieferte einen auch für weitere Mythenbildungen geeigneten Fundus an Legenden und religiös-ideologischen Vorstellungen. So verlässt sie an einer Stelle den nüchternen Ton des Chronik-Stils, um mit einer Klage über die historisch unvergleichliche Totalzerstörung des Landes ein rhetorisches Bravourstück vorzuführen, das trotz seiner Unglaubwürdigkeit mythenbildend werden sollte: »Wer kann von solchen Gefahren erzählen? Wer kann all 2 | Claudio Sánchez-Albornoz, España, un enigma histórico, Buenos Aires: Editorial Sud­ americana, 21962, S. 1, 15. 3 | José Miguel Alonso-Núñez, Die Universalgeschichte in der Spätantike und die westgotische Historiographie, in: Jürgen Dummer/Meinolf Vielberg (Hg.), Zwischen Historiographie und Hagiographie. Ausgewählte Beiträge zur Erforschung der Spätantike, Wiesbaden: Franz Steiner, 2005, S. 9–25. 4 | Jocelyn N. Hillgarth, Spanish Historiography and Iberian Reality, in: History and Theory 24 (1985) 1, S. 23–43. 5 | Max Sebastián Hering Torres, Rassismus in der Vormoderne. Die »Reinheit des Blutes« im Spanien der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main: Campus, 2006. 6 | José Eduardo Lopez Pereira, Crónica mozárabe de 754. Edición crítica y traducción, Zaragoza: Anubar, 1980.

Spanien/al-Andalus: Alte und junge Mythen

diese schlimmen Desaster aufzählen […]? Spanien, das einst so anmutig war und so verelendet ist, hat ebenso viel und mehr erduldet [...] als Troja […], Jerusalem […], Babylon […] oder Rom […].«7 Diese Klage passt weder zum Stil des restlichen Berichts noch zu den von ihm ansonsten referierten Zuständen in al-Andalus. Die Verwüstungen Spaniens werden auch nicht durch andere, etwa arabische, Quellen bestätigt8 noch auch durch die Archäologie. Man hat mit El Bovalar bei Lérida die bisher einzige Ortschaft gefunden, die zu Beginn des 8. Jahrhunderts völlig ausgebrannt ist; man konnte aber trotz enorm vieler Fundstücke keinerlei Verbindung zu irgendeiner Eroberung herstellen.9 Gleichwohl hat die Klage des lateinischen Chronisten der Historiographie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts das zentrale Zitat für den Mythos der kriegerischen Vernichtung eines blühenden Westgotenreichs durch barbarische Invasoren geliefert.10

1.2. Mythos vom strafenden und rettenden Gott Die mozarabische Chronik enthält noch weitere mythische Vorstellungen. So wird etwa an einer Stelle Gottes Unterstützung für die Eroberer angesprochen. Der mit den Sarazenen verbündete westgotische Bischof Oppa habe die uralte und überaus blühende Stadt Toledo, die durch Gottes Urteil (iudicio Dei) geöffnet worden sei, durch Schwert, Hunger und Gefangenschaft entvölkert.11 Die Behauptung, dass die Öffnung der Stadt zugunsten der Sarazenen von Gott entschieden worden sei, scheint die alttestamentarische Idee eines Gottes vorauszusetzen, der sein sündiges Volk bestrafen will und sich in diesem Fall der Sarazenen bedient. Diese Vorstellung wird später in den asturischen Chroniken und in der Chronik von Moissac noch deutlicher ausformuliert.12 Dass aber auch schon dem früheren Chronisten alttestamentarisch gefärbte heilsgeschichtliche Vorstellungen nicht fremd waren, belegt weiter die Erzählung von den Christen, die sich auf die höchsten Berge im Norden des Landes gerettet hätten. Dort, in den Pyrenäen, habe »Abdelmelic« sie mit einem großen Heer ohne Erfolg bekämpft und schließlich Gottes Macht anerkennen müssen, den die wenigen Christen auf den Ge-

7 | Ebd., S. 68–69. 8 | Alejandro García Sanjuán, La conquista islámica de la península ibérica y la tergi­ versación del pasado. Del catastrofismo al negacionismo, Madrid: Marcial Pons, 2013, S. 395–400. 9 | Pedro de Palol, Las excavaciones del conjunto de »El Bovalar«, Serós (Segria, Lérida) y el reino de Akhila, in: Antiguëdad y Cristianismo 3 (1986), S. 513–525. 10 | García Sanjuán 2013, S. 35–36. 11 | Lopez Pereira 1980, S. 70, 72. 12 | Alexander Pierre Bronisch, Reconquista und heiliger Krieg. Die Deutung des Krieges im christlichen Spanien von den Westgoten bis ins frühe 12. Jahrhundert, Münster: Aschendorff, 1998, passim.

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birgsgipfeln um Mitleid angefleht hätten.13 Die Geschichte vom Eingreifen Gottes zugunsten seines unterdrückten Volkes fügt sich ein in das alttestamentarisch-apokalyptische Konzept der Errettung des Volkes nach seiner Bestrafung bei Jesaja.14 In den späteren asturischen Chroniken taucht die Vorstellung von Gottes Hilfe für die geflüchteten Christen dann als breit ausgeschmückter Bericht über die sagenhafte Schlacht bei Covadonga wieder auf nebst einer Prophezeiung des endgültigen Sieges über die Sarazenen. Die islamische Herrschaft wird hier als eine von Gott zeitweilig verfügte Fremdherrschaft über ein rechtmäßig den Christen und damit den Westgoten als früheren christlichen Herrschern zustehendes Gebiet dargestellt.15 Die lateinischen Chroniken wurden im 19. Jahrhundert im nationalkatholischen Sinne verwendet und gedeutet. Auch General Franco griff auf diese Traditionen zurück, als er den Spanischen Bürgerkrieg in einen Kreuzzug uminterpretierte. Die Legenden um die sogenannte Niederlage Spaniens im Jahre 711, den heldenhaften Kampf der in die asturischen Berge geflüchteten Westgoten und die allmähliche Rückeroberung des ursprünglich christlichen Landes dienten den Faschisten als historisch-mythologische Legitimation.16

2. J unge al-A ndalus -M y then Die arabische Historiografie gefällt sich darin, triumphalistisch-schönfärbende Erzählungen zu produzieren.17 Der angesehene al-Andalus-Historiker Ahmed Tahiri etwa meint, die »Eingliederung in das Haus des Islam« habe die »iberische Halbinsel« aus der »Massenverdummung des europäischen Mittelalters herausgeholt und in den Glanz der arabischen Zivilisation hinein geführt«.18 Solche auch in der arabischen Volkskultur weit verbreitete Ideen liefern neben den religiö13 | »Convictus de Dei potentia, a quem Xpiani tandem preparui pinnacula retinentes prestolabant misericordiam, […].« Lopez Pereira 1980, S. 102. Als Hinweis auf die legendäre Schlacht bei Covadonga, das freilich hier ebenso wenig wie ein Westgotenanführer namens Pelayo erwähnt wird, lesen diese Stelle: Claudio Sánchez-Albornoz, Otra vez Guadalete y Covadonga, in: Cuadernos de Historia de España 1/2 (1944), S. 68–69; Juan Gil, Para la edición de los textos visigodos y mozárabes, in: Habis 4 (1973), S. 229–234 sowie J. Pérez de Urbel und viele andere. 14 | Johannes Thomas, Frühe spanische Zeugnisse zum Islam. Vorschläge für eine differenziertere Betrachtung der Konflikte und religiösen Gemeinsamkeiten zwischen dem Osten und dem Westen des arabischen Reiches, in: Markus Groß/Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Schlaglichter. Die beiden ersten islamischen Jahrhunderte, Berlin: Schiler, 2008, S. 158–160. 15 | Bronisch 1998, S. 97–102. 16 | García Sanjuán 2013, S. 35–43. 17 | Ebd., S. 55–69. 18 | Ebd., S. 63, 66–67.

Spanien/al-Andalus: Alte und junge Mythen

sen Mythen des Scharia-Islam die kulturelle Unterfütterung für die Forderung von Muslimbrüdern, al-Qaida-Anhängern und IS-Terroristen, Spanien für den Islam zurückzuerobern.19 Sie sind aber auch im Westen charakteristisch für nahe­ zu alle aktuellen al-Andalus-Diskurse.

2.1. Mythos der Toleranz islamischer Herrschaft Es waren nicht zuletzt die Terrorangriffe auf die Zwillingstürme in New York, welche im Westen die Sehnsucht nach einem toleranten Islam befördert haben, wie man ihn in al-Andalus verorten zu können glaubte. So schlug der New Yorker Imam Feisal Abdul Rauf als Namen für das in der Nähe der zerstörten New Yorker Türme geplante islamische Zentrum ganz selbstverständlich und mit großer Unterstützung von politischen Eliten und Medien ›Cordoba House‹ vor.20 Der Vorschlag des Imams war ganz im Sinne Barack Obamas gewesen. Der hatte 2009 in seiner Kairoer Rede ausgeführt: »Islam has a proud tradition of tolerance – as we see in the history of Andalusia and Cordoba during the inquisition«.21 Die Zeitangabe »during the inquisition« ist natürlich historisch unsinnig. Aber wenn sie auch historisch unsinnig ist, so kann sie doch durch den Kontrast zur andalusischen ›Idylle‹ den Glanz des toleranten islamischen Spaniens umso strahlender erscheinen lassen. Darum bemüht sich auch die UNESCO. So liest man etwa auf ihren Webseiten, die dem »Intercultural Dialogue« gewidmet sind: »Während der ganzen Zeit der islamischen Herrschaft war Andalusien […] die Heimat von Formen der Toleranz, wie man sie bis zu modernen Zeiten nicht mehr beobachtet hat.«22 Intellektuell vorbereitet wurde der überaus erfolgreiche ›Toleranz-Mythos‹ insbesondere durch Américo Castro. Er hatte 1948 in España en su historia. Cristianos, moros y judíos23 erklärt und detailliert ausgeführt, dass sich das islamische Spanien dank der »tolerancia islámica« durch eine friedliche und produktive »convivencia de cristianos, moros y judíos« ausgezeichnet habe.24

19  | http://www.elmundo.es/espana/2017/08/23/599dc953e5fdea50398b456f.html/ (abgerufen am 15.08.2017). 20 | Feisal Abdul Rauf, Building on faith, in: The New York Times, 7. Sept. 2010. 21 | https://www.whitehouse.gov/the-press-office/remarks-president-cairo-university-6-04-09/ (abgerufen am 15.08.2017). 22 | http://unesdoc.unesco.org/images/0011/001144/114426eo/ (abgerufen am 15.08.2017). 23 | Américo Castro, España en su historia. Cristianos moros y judíos, Barcelona: Crítica, 2013 (Mexico 1948). 24 | Ebd., S. 55.

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In der neueren historischen Forschung wird diese These allerdings zumeist kritisch gesehen, so etwa von Kenneth Baxter Wolf,25 Maya Soifer Irish,26 Bruna Soravia27 oder Eduardo Manzano Moreno.28 Letzterer hält den convivencia-Mythos für eine ideologische Konstruktion, die kein Fundament in der realen Geschichte besitzt. Américo Castro habe vor allem seine persönlichen Überzeugungen ausgebreitet und sich dafür punktuell auf einzelne literarische Textpassus gestützt, aber nicht die verfügbaren Quellen studiert.29 Dergleichen Kritik ficht postmoderne GeisteswissenschaftlerInnen etwa aus dem Umfeld von María Rosa Menocal30 natürlich nicht an.31 Sie haben die convivencia in eine Art ›Verteilstation‹ für den ungehinderten Austausch zwischen der arabischen und der westlichen Welt umgedeutet, zum Symbol eines beglückenden Globalisierungsprozesses, der sich den engherzigen Lokalinteressen der Einzelnationen widersetzt. Mit solch fortschrittlichen Überzeugungen im Gepäck darf man, so Menocals Credo, bewusst ahistorisch arbeiten und ebenso wie Américo Castro die Quellen ignorieren. Und nicht nur die Quellen! Übersehen wird auch, dass dergleichen al-Andalus-Propaganda vor allem die marketingkonforme Begleitmusik für die Globalisierungsstrategien der Wirtschaft liefert.

3. J enseits der al-A ndalus -P ropaganda 3.1. Mythos göttliches Recht oder: Intoleranz und Diskriminierung Das im muslimischen Spanien durch die Jahrhunderte hindurch offiziell geltende und auch noch unter christlicher Herrschaft für Muslime verbindliche sunni-

25 | Kenneth Baxter Wolf, Convivencia in Medieval Spain. A Brief History of an Idea, in: Religion Compass 3 (2009) 1, S. 72–85. 26 | Maya Soifer Irish, Beyond convivencia: Critical Reflections on the Historiography of Interfaith Relations in Christian Spain, in: Journal of Medieval Iberian Studies 1 (2009) 1, S. 19–35. 27 | Bruna Soravia, Al-Andalus au miroir du multiculturalisme. Le mythe de la convivencia dans quelques essais nord-américains récents, in: Manuela Marín (Hg.), Al-Andalus/ España. Historiografías en contraste. Siglos XVII–XXI, Madrid: Casa de Velázquez, 2009, S. 351–366. 28 | Eduardo Manzano Moreno, Qur ṭuba: Algunas reflexiones críticas sobre el Califato de Córdoba y el mito de la convivencia, in: Awraq 4 (2013), S. 225–245. 29 | Ebd., 227. 30 | Vgl. insbesondere María Rosa Menocal, The Ornament of the World: How Muslims, Jews, and Christians Created a Culture of Tolerance in Medieval Spain, New York: Little Brown, 2002. 31 | Soravia 2009.

Spanien/al-Andalus: Alte und junge Mythen

tisch-malikitische Recht wurde erst im 9. Jahrhundert eingeführt.32 Erst von da an konnte es allmählich und in dem Maße, wie die jeweiligen Herrscher seine Durchsetzung betrieben, praktische Geltung entfalten. Dieses Recht galt als göttliches Recht. Die westlich-säkulare Unterscheidung zwischen einerseits religiös-kirchlichem und andererseits bürgerlichem sowie öffentlichem Recht machte und macht im Herrschaftsbereich der Scharia keinen Sinn. In der Sammlung der malikitischen Rechtsvorschriften von Ibn ʿAbdi Zayd al-Qayrawānī, des in al-Andalus überaus einflussreichen Kairuaner Rechtsgelehrten, heißt es einleitend, dass die Rechtsgelehrten die »Religion Gottes« und zugleich »seine Gesetze« lehren sollen.33 Die Gesetze sind aus dem Koran und den Aussprüchen des Propheten, den Hadith, abgeleitet. In beiden Wissensgebieten mussten die Richter daher gründlich ausgebildet sein. Wie man den Erzählungen al-Khushanis (10. Jahrhundert) über die Cordobeser Richter entnehmen kann, leiteten die meisten von ihnen als Verwalter göttlichen Rechts denn auch das Freitagsgebet.34 Oberster Hüter des Islam war aber der islamische Herrscher.35 Der berühmte Gelehrte Ibn Khaldūn sah in dieser theokratischen Verfassung einen klaren Machtvorteil gegenüber den christlichen Reichen.36 Die frühen christlichen Reiche in Nordspanien kennen im Gegensatz zum islamischen al-Andalus in der Tat kein göttliches Recht. Hier sind daher religiös indifferente Rechtsetzungen möglich, so lange allerdings, wie das die politische Opportunität verlangte. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Fuero de Cuenca37 aus dem Jahr 1190 billigte den Angehörigen aller Religionen zumindest auf dem Papier ausdrücklich die gleichen Rechte zu.38 Von solcher Toleranz ist das malikitische Recht weit entfernt. Das zeigt schon die von ihm verfügte Pflicht zum militärischen Dschihad. Es verlangt unzweideu-

32 | María Isabel Fierro, El derecho maliki en al-Andalus: siglos II/VIII–V/XI, in: Al-Qantara 12 (1991) 2, S. 119–132. 33 | Jesús Riosalido Gambotti (Hg.), Ibn Abi Zayd al-Qayrawani, Compendio de derecho islámico, Madrid: Trotta, 1993, S. 57–58. 34 | Al-Khushani, Historia de los jueces de Córdoba por Alhoxaní, übersetzt von Julían Ribera, Madrid: Imprenta Ibérica, 1914, passim. 35 | Patricia Crone/Martin Hints, God’s Caliph. Religious Authority in the First Centuries of Islam, Cambridge: Cambride University Press, 1986, passim. 36 | Ibn Khaldun, The Muqaddima: An Introduction to History, übersetzt von Franz Rosen­ thal, Princeton: Princeton University Press, 1967, 3 Bde., Bd. 1, S. 473. 37 | Die Fueros sollten das Zusammenleben der Angehörigen unterschiedlicher Religionen und ethnischer Herkunft regeln. Der Fuero de Cuenca war Vorbild für viele weitere Fueros in den christlichen Reichen. 38 | Emilio Mitre Fernández, Judaísmo y cristianismo: raíces de un gran conflicto histórico, Madrid: Akal, 1980, S. 179.

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tig Krieg gegen die Ungläubigen, sofern sie sich nicht unterworfen haben, und verspricht denen, die diesen Krieg führen, das Paradies.39 Keine Toleranz sollte es auch für Apostasie und Blasphemie geben. Ein Muslim, der den Islam nur nach außen hin praktizierte, aber in Wirklichkeit einer anderen Religion anhing, verdiente nach al-Tafri im Gefolge von Mālik ibn Anas den Tod. Die Möglichkeit, seine Abkehr vom Islam zu bereuen, sollte ihm nicht gegeben werden. 40 Wenn er aber bereute, sollte man nach al-Qayrawānī seine Reue verwerfen. 41 Wer sich jedoch ausdrücklich zu einer anderen Religion bekannte, dem stand der Weg zurück zum Islam offen. Beschritt er den nicht, musste er allerdings getötet werden. Sein Erbe fiel an den Staat. 42 Auch nach Ibn Rushd/ Averroes, der heute vor allem als Aristoteles-Kommentator und Wegbereiter des westlichen Rationalismus gefeiert wird, verdienten alle Apostaten den Tod. 43 Ebenfalls musste mit dem Tod bestraft werden, wer sich blasphemisch über Gott und den Propheten äußerte, ganz gleich, ob er ein Muslim war oder nicht. Eine Möglichkeit, sein Handeln zu bereuen, sollte ihm nicht eingeräumt werden, heißt es in der Abhandlung al-Tafris. 44 Die Muslime beschützten aber immerhin, wie es heißt, die Angehörigen der anderen Buchreligionen. Sie mussten dazu lediglich die Kopfsteuer entrichten. Eine solche Steuer war bei den Römern und Byzantinern religiös neutral gewesen. Im Islam betraf sie jedoch allein die »beschützten« Ungläubigen, oder »ḏimmī-s«. Mālik Ibn Anas’ Muwaṭṭa erläuterte den Unterschied zwischen Abgaben, die ein Muslim zu zahlen hatte und denen, die den »ḏimmī« auferlegt wurden, damit, dass der »zakāt« zur Reinigung der Muslime nötig sei und ihnen zur Ehre gereiche, während die »ğizya« dazu diene, die »ḏimmī« zu demütigen. 45 Der Schutzvertrag (»ḏimma«) mit ihnen galt natürlich nur, wenn die »Beschützten« auch pünktlich bezahlten und auch sonst alle Vertragspflichten peinlich genau 39 | Soha Abboud-Haggar, Al-Ǧihād segùn el manuscrito aljamiado de al-Tafrī de Ibn Ǧallab, in: Sharq al-Andalus 12 (1995), S. 2. 40 | Soha Abboud Haggar, El tratado jurídico de al-Tafrī de Ibn Al-Ǧallab. Manuscrito aljamiado de Almonacid de la Sierra (Zaragoza), Zaragoza: Institución Fernando el Católico, 1999, 2 Bde., Bd. 2, S. 571–572. 41 | Riosalido Gambotti 1993, S. 19, 37. 42 | Al-Khushani 1914, S. 161. 43 | Ibn Rushd, The Distinguished Jurist’s Primer Volume II. Bidāyat al-Mujtahid wa Nihāyat al-Muqtaṣid. Translated by Professor Imran Ahsan Khan Nyazee. Reviewed by Professor Mohammad Abdul Rauf, Doha: Centre for Muslim Contribution to Civilization, 1996, Kap. 56.10, S. 552. http://ia802703.us.archive.org/24/items/BidayatAl-mujtahidTheDistinguishedJuristsPrimerVol2/ TheDistinguishedJuristsPrimerVol2.pdf (abgerufen am 30.04.2018). 44 | Abboud Haggar 1999, Bd. 2, S. 571. 45 | Vgl. Hadith Nr. 46: »[Z]akat is imposed on the muslims to purify them and to be given back to their poor, whereas jizya is imposed on the people of the Book to humble them« http://ahadith.co.uk/permalink-hadith-669 (abgerufen am 30.04.2018).

Spanien/al-Andalus: Alte und junge Mythen

erfüllten. Sonst waren sie mit einem Schlag rechtlos und konnten umstandslos umgebracht werden. Der in der convivencia-Propaganda stets positiv hervorgehobene Schutzgedanke verrät so eine gewisse Nähe zu der Art von Schutz, den auch die organisierte Kriminalität gewährt. Von den vielen weiteren die »ḏimmī« diskriminierenden Vorschriften will ich an dieser Stelle wenigstens einige erwähnen: Ein Muslim, der eine freie Christin vergewaltigte, wurde ausgepeitscht; ein Christ, der eine freie Muslimin vergewaltigte, wurde getötet. 46 Wer einen Muslim verleumdete, wurde ausgepeitscht; wer einen Christen verleumdete, wurde nicht ausgepeitscht. 47 Ein Muslim, der einen Christen tötete, wurde nicht hingerichtet; ein Christ hingegen war hinzurichten, auch wenn sein Mord an einem Muslim nicht heimtückisch war. 48 Wenn ein Schuldner zum Islam konvertierte, bevor er seine Schuld gegenüber einem Nicht-Muslim beglichen hatte, war er sogleich schuldenfrei. 49 Ein Muslim konnte einen christlichen Sklaven haben, aber ein Christ keinen muslimischen. Ein Muslim durfte Sex mit einer christlichen Sklavin haben, ein Christ aber nicht mit einer muslimischen Sklavin.50 Ein Muslim durfte eine freie Christin heiraten, ein Christ aber durfte keine Muslimin heiraten und auch keinen Geschlechtsverkehr mit ihr haben. Darauf stand die Todesstrafe. Gegen das idyllisierende Bild von al-Andalus sprechen auch weitere Vorschriften und Rechtsgutachten. So sollten Christen und Juden, damit die Muslime Berührungen mit ihnen vermeiden könnten, ein bestimmtes Stück farbigen Stoffs bzw. einen bestimmten Gürtel tragen usw.51 Überhaupt sollten die Muslime grundsätzlich Distanz gegenüber allen Nicht-Muslimen wahren. So verlangt es eine »fatwa« eines angesehenen Juristen des 10. Jahrhunderts, der sich dafür direkt auf den Koran berufen konnte: »Es ist besser für dich, wenn du keinerlei Verbindung mit jemandem eingehst, der einer anderen Religion als deiner anhängt.«52 (Suren 60: 13; 3: 118–119) Bezogen auf die anderen Buchreligionen galt das Verbot, in Gegenden, in denen Muslime wohnten, Kirchen und Synagogen zu errichten. Ausnahmen durf46 | Abboud-Haggar 1999, Bd. 2, S. 564–565. 47 | Ebd., S. 566. 48 | Ebd., S. 557. 49 | Cyrille Aillet, La construction de frontières interconfessionnelles: le cas des chrétiens d’al-Andalus dans les sources juridiques (IIe/VIIIe–VIe/XIIe siècle), in: Maribel Fierro/John Tolan, The legal status of ḏ immī-s in the Islamic West (second/eighth–ninth/fifteenth centuries), Turnhout: Brepols, S. 189. 50 | Bernard Lewis, Race and Slavery in the Middle East: An Historical Enquiry, Oxford: Oxford University Press, 1992, 1. Kapitel. 51 | Janina Safran, Identity and Differentiation in Ninth-Century al-Andalus, in: Speculum 76 (2001) 3, S. 573–598. 52 | Hanna E. Kassis, Arabic speaking christians in al-Andalus in age of turmoil (fifth/ eleventh century until A. H. 478/A. D. 1085), in: Al-Qantara 15 (1994) 2, S. 405–406.

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ten allerdings dann gemacht werden, wenn sie im wirtschaftlichen und machtpolitischen Interesse muslimischer Herrschaft lagen.53

3.2. Frauendiskriminierung Und nicht nur Andersgläubige wurden im vermeintlichen ›Musterland der Toleranz‹ unterdrückt und diskriminiert, sondern auch muslimische Frauen.54 Frauen durften sich generell nicht allein in der Öffentlichkeit bewegen, sondern nur in Begleitung ihres Mannes oder eines männlichen Verwandten, mit dem wegen des Verwandtschaftsverhältnisses keine Beziehung möglich war. Sonst war ihnen nur erlaubt, in Gesellschaft von Frauen auf die Straße zu treten, und auch das nur aus wichtigem Grund.55 Und natürlich verschleiert. Der Besuch von Badeeinrichtungen war Frauen in der Regel ebenso untersagt wie Konzertbesuche.56 Hinzu kam die erbrechtliche Diskriminierung von Frauen. Weibliche Erben hatten nur das Recht auf einen halb so großen Erbanteil wie männliche Erben.57 Schließlich sei noch erwähnt, dass nach malikitischem Recht die Klitorisbeschneidung (»khifādʾ«)58 von Frauen als empfehlenswerte Praxis gilt. Unter bestimmten politischen Bedingungen konnte es freilich für Damen der obersten Gesellschaftsschicht auch Ausnahmen von den Scharia-Regeln geben, so für die berühmte Wallāda bint Mustafki (1001–1091),59 die Tochter des Kalifen Muḥammad III. Nach dessen Ermordung konnte sie ihr in den Augen der Frommen skandalöses Dichterinnen-Leben fortführen, weil sie unter dem Schutz des Wesirs Ibn Adús stand. Ihr als freizügig beschriebenes Auftreten wurde ebenso wie ihr Aussehen – sie war rotblond, hellhäutig und hatte blaue Augen – mit ihrer christlichen Mutter erklärt. Ihre Situation war also in mehrfacher Hinsicht nicht mit der von verheirateten muslimischen Frauen vergleichbar.

53 | Vincent Lagardère, Histoire et société en occident musulman au Moyen Âge. Analyse du Mʽyārdʾal-Wanšarīsī, Madrid: Casa de Velázquez, 1995, S. 24, Nr. 31; S. 39, Nr. 141; S. 44, Nr. 162; S. 52, Nr. 188. 54 | Manuela Marín, Mujeres veladas: religión y sociedad en al-Andalus, in: Arenal: Revista de historia de las mujeres 4 (1997), S. 36. 55 | Riosalido Gambotti 1993, S. 155; Abboud-Hoggar 1999, Bd. 2, S. 588. 56 | Ebd. 57 | Riosalido Gambotti 1993, S. 142–144; Abboud Haggar 1999, S. 575–580. 58 | Riosalido Gambotti 1993, S. 105, 154. 59 | Teresa Garulo, Sobre las poetisas de al-Andalus, in: María J. Viguera (Hg.), La mujer en al-Andalus. Reflejos históricos de su actividad y categorías sociales, Madrid: Universidad autónoma de Madrid, 1989, 191–192.

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3.3. Wissenschaftsfeindliche Religions- und Gesetzeslehrer 60 Die Anhänger und Schüler des ersten eigenständigen Philosophen, Ibn Masarra, wurden durch den ersten Omaiyadenkalifen, der sich als wahrer Hüter des Islam zu profilieren suchte, wegen Heterodoxie mit dem Tode bedroht. Al-Mansur zerstörte die ›nicht-islamischen‹ Werke der berühmten Bibliothek von Córdoba, um so die Unterstützung der islamischen Religionsgelehrten (Ulema) für seine Usurpation des Omaiyaden-Throns zu gewinnen, und die besonders gerne mit dem Glanz von al-Andalus verknüpften großen Gelehrten Ibn Rushd/Averroes und Moses Maimonides wurden von eben diesen Ulema verfolgt und mussten nach Nordafrika bzw. Ägypten fliehen, als der Almohadenkalif aus politischen Gründen die Unterstützung der Gesetzeslehrer suchte.61 Maimonides schrieb von Ägypten aus an die Juden im Jemen, nie habe »eine Nation die Juden so sehr bedrängt, gedemütigt, herabgesetzt und gehasst wie die Muslime«.62 Offensichtlich wurden neben Andersgläubigen alle Denker verfolgt, die den islamischen Mythenverwaltern, den Ulema, verdächtig erschienen, jedenfalls dann, wenn diese Ulema politische Unterstützung fanden. Geduldet wurden lediglich die mit der Scharia nicht konfligierenden Materien wie Mathematik, Astronomie und (die im Wesentlichen von Christen und Juden praktizierte) Medizin.63 Der Schwerpunkt der nach damaligem Verständnis wissenschaftlichen Produktion lag im Übrigen auf dem religiösen Schrifttum, einschließlich des göttlichen Rechts (ca. 90 Prozent).64 Die Philosophie aber konnte im islamischen Spanien, wie schon mittelalterliche Gelehrte beklagten,65 nur im Verborgenen erblühen bzw. dann, wenn ihre Unterdrückung politisch gerade nicht gewünscht war. Ausnahmen von dieser Regel waren, wie schon Ignaz Goldziher feststellte, äußerst dünn gesät: »Der erste spanische Kalif, der die Wissenschaften gefördert und gepflegt hat, war al-Ḥakam II im 4./10. Jahrhundert; er war selbst auch ein Gelehrter ersten Ranges […]. Als dann im 6./12. Jahrhundert in Gestalt von Ibn Rushd (Averroës), Ibn Baddscha (Avempace), Ibn Tufail (Abubacer) und Ibn Zuhr (Avenzoar) einige we60 | Darin sah bereits der berühmte Ibn Khaldun im 14. Jahrhundert den Hauptgrund für den Niedergang der islamischen Welt: Gustav E. von Grunebaum, Islam im Mittelalter, Zürich/Stuttgart: Artemis, 1963, S. 420–421. 61 | Ibn Ṣāʽid al-Andalusī, ṭaba ḳ āt al-umam, hg. und übersetzt von Régis Blachère, Paris: Larose, 1935, S. 124–127. 62 | Epistles of Moses Maimonides: Crisis and leadership, hg. von David Hartman, übersetzt von Abraham S. Halkin, Philadelphia: Jewish Publication Society, 1985, S. 126. 63 | Ibn Ŷul ŷ ul al-Andalusī (geb. 943), Kitāb ṭabaqāt al-a ṭibbāʾ wa-l- ḥukammāʾ, zitiert nach Julio Samsó, Las ciencias de los antiguos en Al-Andalus, Madrid: Mapfre, 1992, S. 27–40. 64 | Amina González Costa, Exégesis y exégetas en Al-Andalus, in: María Mercedes Delgado Pérez/Gracia López Anguita (Hg.), Actas del Congreso Conocer Al-Andalus. Perspectiva desde el siglo XXI, Sevilla: Alfar, 2010, S. 77–96. 65 | Ibn Ṣāʽid al-Andalusī 1935, S.124–127.

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nige Philosophen unter den spanischen Arabern auftauchten, konnte für eine kurze Zeit wenigstens ihre persönliche Sicherheit durch den Almoraviden-Kalifen Yusuf ibn Tashfin, der selbst ein Freund der Gelehrsamkeit war, gewährleistet werden […]. Ihre Verfolgung setzte der gesamten philosophischen Bewegung im islamischen Spanien ein Ende.«66

4. C onclusio Vor der Intoleranz des »göttlichen islamischen Rechts« und seinen diskriminierenden Vorschriften war man offenbar nur dort geschützt, wo man sich dem Zugriff der orthodoxen Rechtsgelehrten entziehen konnte. Gleichwohl wird allenthalben die vorbildliche Toleranz islamischer Herrschaft in al-Andalus gepriesen. Im Westen hängt der Lobpreis dieser Toleranz, wie gezeigt, mit bestimmten politischen Interessen zusammen. Diesen Interessen hat der Mythos ›allgemeine Menschenrechte‹ keine vergleichbare politische Unterstützung entgegenzusetzen.67 Man darf daher besonders dankbar sein für Wortmeldungen gläubiger Muslime, die selbst den Mythos göttlicher Garantie ihrer (Rechts-)Tradition in Frage stellen. So hat der Generalsekretär der größten muslimischen Vereinigung Indonesiens kürzlich ausgeführt: »Wir müssen dahin kommen, dass ein Verständnis, das die traditionellen Normen des islamischen Rechts absolut setzt, falsch ist.«68 Und er begründet das u.a. damit, dass »in der klassischen Tradition […] das Verhältnis von Muslimen zu Nichtmuslimen eines von Segregation und Feindschaft« ist.

66 | Ignaz Goldziher, The Spanish Arabs and the East. The Place of the Spanish Arabs in the Evolution of Islam as Compared with the Eastern Arabs, in: Ignaz Goldziher, Gesammelte Schriften, hg. von Joseph Desomogyi, Hildesheim: Olms, 1967–1973, 6 Bde. (Reprint der Ausgabe Budapest 1877), Bd. 1, S. 414–418. 67 | Damit ist natürlich nicht gemeint, die UN-Charta sei selbst ein Mythos im Sinne einer Fiktion. Ich spiele an dieser Stelle mit dem Terminus »Mythos« nur darauf an, dass die Charta universelle Rechte für alle Individuen und eben auch absolute Religionsfreiheit inklusive des Rechts auf Apostasie festschreibt. Die universelle Geltung solcher Rechte werden in mehrheitlich islamischen Ländern in der Regel als westliche Erfindung, also als Mythos im Sinne der eingangs zitierten Definition von Eliade abgelehnt. 68 | Kyai Haji Yahya Choli Staquf, Terrorismus und Islam hängen zusammen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. August 2017.

Paradies

De México al Paraíso Cuadros de costumbres y milagros del Cielo en los villancicos de Sor Juana Inés de la Cruz Bernardo Teuber

«De Madrid al Cielo» reza un famoso dicho popular que significa que la capital de España es el non plus ultra de la vida humana, un paraíso terrestre que solamente puede ser superado cuando al morir, el individuo logra trascender lo terrenal y subir a la eterna esfera del Paraíso Celeste. Sin embargo, como todos sabemos hay más de un solo acceso para llegar al Paraíso Celeste. En nuestro artículo nos importará, entonces, señalar cómo en tiempos del Virreinato Novohispano uno o una podían subir de México al Cielo, pues por metonomia o por sinécdoque México también puede ser considerado como uno de los lugares del Nuevo Mundo que desde los albores de la Conquista fueron equiparados al paraíso terrestre e, incluso, confundidos con él para primero crear y después perpetuar un mito que iría a persistir hasta nuestros días.1 Con el fin de realizar nuestro proyecto, tendremos que dedicarnos, en un primer paso, a un estudio de las costumbres y la vida cotidiana tales que se practicaban en la sociedad virreinal y se nos presentan aún hoy en día en lo que solemos llamar los cuadros de costumbres o, utilizando un concepto más preciso, el costumbrismo. Y en un segundo paso, intentaremos explicar de qué modo Sor Juana Inés de la Cruz retrataba la vida cotidiana y las costumbres de su época en algunos de sus villancicos.

1 | Véase Michael Rössner, Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Zum mythischen Bewusstsein in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Athenäum, 1988.

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1. C ostumbrismo y pr ácticas de l a vida cotidiana : ¿ homogeneiz ación o elogio de l a diversidad y l a subversión ? ¿Qué puede significar estudiar el costumbrismo a través de distintas épocas de la historia y distintos espacios de la geografía del globo terrestre? Normalmente el costumbrismo se define como una escuela de dibujo y pintura pero también de literatura que surge alrededor del 1800, que llega a su apogeo a mediados del siglo XIX y que intenta presentar con los medios visuales o lingüísticos que están a su alcance los famosos cuadros de costumbre. Tales cuadros describen los rasgos típicos de una comunidad, de una población y –muchas veces– de una nación. La mayoría de las veces se trata de una mirada satírica o, por lo menos, humorística e irónica que enfoca los hechos cotidianos de la vida en sociedad. Podríamos afirmar, entonces, que el costumbrismo propiamente dicho está íntimamente ligado a una visión romántica del mundo y además a una configuración del saber que Michel Foucault titulaba la episteme de la Historia característica del siglo XIX. En base de una historia común y compartida entre todos se forman los caracteres de los individuos y sus mentalidades, sus gestos, usos y tradiciones y, también, los modos de vivir y actuar en la vida de todos los días. No es extraño que un impor­ tante género de textos descriptivos que atribuimos a la corriente costumbrista haya sido denominado fisiología. Allí las costumbres son metafóricamente concebidas como actitudes colectivas que brotan de la corporeidad de los hombres, que están vinculadas a los territorios que ellos habitan y a las estructuras sociales que actualmente los dominan. Más tarde, el historiador francés Hipólito Taine acuñaría el término de race, milieu, moment (Histoire de la littérature anglaise, 1863). En este sentido, el arte costumbrista aspira a una homogeneización de individuos, espacios y tiempos así como a una supresión o, tal vez, a una superación de las diversidades y diferencias que existen en las sociedades y culturas. Parece como si el arte costumbrista fuera una potente herramienta mental para construir las naciones que se consolidan o nacen de nuevo durante el largo siglo XIX (nation building) y para imaginar aquellas comunidades a las que vale la pena pertenecer en el futuro (imagined communities).2 El costumbrismo sería, entonces, una especie de ideología que permite a un colectivo o una comunidad integrar un sistema homogéneo de sociedad e incluso un orden de dominación nacional. Con todo ello, recientes estudios, llevados a cabo por los hispanistas de las universidades de Berkeley y de Múnich, nos han enseñado que elementos costumbristas no existen solamente en el siglo XIX ni tampoco solamente en los confines de la Península Ibérica o del Viejo Mundo en general sino también en otros períodos de la historia y en otros continentes, como lo demuestran, por ejemplo, la innegable proximidad de Cervantes a un costumbrismo avant la lettre, o la patente 2 | Véase Homi K. Bhabha (ed.), Nation and Narration, London/New York: Routledge, 1990; Benedict Anderson, Imagined Communities, Revised Edition, London/New York: Verso, 1991 [1983].

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refundición décimonónica de la sátira colonial en el libro de Esteban de Terralla y Landa titulado Lima por dentro y fuera (1797).3 ¿Cómo explicar estas aparentes irregularidades? Si abarcamos un panorama más amplio, el concepto de costumbrismo podría relacionarse ante todo con dos otros conceptos que manejan dos clásicos de la crítica literaria, a saber, Erich Auerbach y Mijaíl Bajtín. En su bien conocida obra Mimesis, Auerbach desarrolla una visión de la literatura occidental que hubiera quedado marcada, desde sus principios en la Odisea de Homero, por una tendencia realista. 4 El realismo, según Auerbach, implica el empleo de un estilo humilde y la representación de personajes que pertenecen a las capas inferiores de la sociedad. Allí actúan personajes tales como Eumea, nodriza de Ulises, los comensales de Trimalquión en el Satiricón de Petronio, los burgueses, comerciantes y artesanos que integran las novelas del Decamerón del Bocacio y, por supuesto, Dulcinea del Toboso, labradora y dama fantasiada de don Quijote. El stilus humilis que también adoptan la Biblia y la predicación de los padres de la Iglesia, permite representar y conocer un mundo de todos los días y dignificar poco a poco aquel mundo considerado como únicamente ridículo con el fin de transformarlo finalmente en materia grave y sumamente seria como aparece en el realismo y naturalismo literarios del siglo XIX e incluso XX. Como la materia grave había pertenecido tradicionalmente al genus sublime, el relato «realista» que combina las ocurrencias de un mundo humilde con los elementos de un destino serio está obligado a mezclar el estilo humilde y el estilo grave: nace, por lo tanto, un estilo híbrido, la famosa mezcla de los estilos («Stilmischung») preconizada por Auerbach. Notamos, entonces, que bajo este aspecto, el costumbrismo no alcanza la homogeneidad ni mucho menos sino que es más bien síntoma de hibridez y variedad. Una aproximación complementaria al fenómeno del costumbrismo la permite Bajtín cuando habla de la cultura popular que se manifiesta en el carnaval y en la literatura carnavalesca.5 Obviamente, la cultura popular (народная култура) es una cultura del «pueblo» que posee raíces románticas y que está probablemente endeudada a la ideología de los llamados eslavófilos. Con todo ello, según Bajtín, la cultura popular siempre es una cultura que favorece la risa, la comicidad y la corporeidad y que se opone firmemente a la seriedad de la vida y a la cultura de las élites dominantes. También la cultura popular en la acepción de Bajtín parece

3 | Nos referimos a dos conferencias, una de Ignacio Navarrete sobre Cervantes, otra de Dexter Zavalza Hough-Snee sobre Lima como capital colonial, ambas leídas en el en­ cuentro de los hispanistas de las Universidades de Berkeley y de Múnich, que se celebró en junio de 2015 en el Instituto Cervantes de Múnich. El tema que nos reunía era «Ethnographies of the Everyday. New Perspectives on Costumbrismo». 4 | Véase Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern/München: Francke, 1946/1949. 5 | Véase Mijaíl Bajtín, La cultura popular en la Edad Media y el Renacimiento: el contexto de François Rabelais, Madrid: Alianza, 2003 [versión original rusa 1965].

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estar profundamente arraigada en la vida de todos los días como si lo cotidiano y lo popular se contrapusiesen a lo serio y lo sublime. Ahora bien, ¿qué se entiende por la vida de todos los días? Uno de los estudios famosos que junto a la Interpretación de los sueños («Traumdeutung») de Sigmund Freud inaugura el pensamiento piscoanalítico del siglo XX ha sido indudablemente su Psicopatología de la vida cotidiana, publicada por primera vez en 1901.6 Allí se analizan ocurrencias de la vida normal y ante todo los olvidos, los fallos y los lapsos de los enfermos que buscan curación con el terapeuta y quienes con su ayuda llegan a explorar y conocer sus más insignificantes actuaciones. El interés por la vida de todos los días también se había notado anteriormente en el concepto de la intrahistoria, concepto opuesto al de Historia con H mayúscula e introducido por Miguel de Unamuno en su célebre ensayo En torno al casticismo (1895). Debajo de las «olas de la Historia, con su rumor y su espuma» hay otra realidad escondida y que se describe «como su sedimento, como la revelación de lo intra-histórico, de lo inconsciente en la historia».7 Sorprendentemente, la observación de que la vida del pueblo, la vida de todos los días está fundada en una parte oculta e incluso incon­­­ s­ciente reúne las concepciones de Unamuno y de Freud. No sabemos si estas ideas influyeron en los historiadores, pero claro está que la «Nueva Historia» que surge a partir de los años 1920 y 1930, primero en Francia en el entorno de la revista Annales, y más adelante también en otros países y que de repente exige que se estudie una historia de las mentalidades, una historia de la vida cotidiana o una historia de la vida privada tiene mucho que ver con la ruptura epistemológica que acabamos de observar en pensadores tan opuestos como Unamuno y Freud y que desplaza el interés desde los acontecimientos públicos y excepcionales de las élites hacia las vivencias particulares y cotidianas de un pueblo sencillo. Una de las ramas de la historia de las mentalidades es sin duda la llamada «historia de la espiritualidad», fundada por el padre Henri Bremond con su monumental Histoire du sentiment religieux en France, cuyas pautas seguiría, en sus principios, el jesuita francés Michel de Certeau. Sin dejar la historia de la espiri­ tualidad, Certeau –inspirado por sus largas estancias en el Brasil y su intermitente docencia en las universidades de California– iba a inclinarse hacia un innovador análisis de la vida cotidiana cuyo fruto es el libro sobre la Invención de lo cotidiano.8 Refiriéndose y profundizando en el concepto de las prácticas sociales, desarrollado, 6 | Véase Sigmund Freud, Psychopathologie des Alltagslebens, Frankfurt am Main: Fischer, 1954 [1901]. 7 | Miguel de Unamuno, En torno al casticismo, ed. Enrique Rull, Madrid: Alianza, 1986, cap. III: La tradición eterna, p. 33. 8 | Michel de Certau, L’Invention du quotidien. 1. Arts de faire, Paris: Union Générale d’Éditions, 1980. También existe una versión en español, traducida por Alejandro Pescador: La invención de lo cotidiano. 1. Artes de hacer, México: Universidad Iberoamericana, 1996; y otra en inglés, traducida por Steven Rendall, The Practice of Everyday Life, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, 1984. Aquí seguimos la versión francesa.

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entre otros, por el sociólogo Pierre Bourdieu, Certeau ofrece un análisis de la vida cotidiana situándola en el marco de la modernidad. Las categorías que Certeau utiliza y en las que, según él, están fundadas las prácticas cotidianas son el lenguaje ordinario, la performance (o performancia), el usuario, la táctica, la astucia (mētis en griego) y la apropiación de recursos y saberes por medio de la caza o cacería furtiva (braconnage, poaching). Por eso, su libro va dedicado a nadie más ni menos que al «hombre común». Cet essai est dédié à l’homme ordinaire. Héros commun. Personnage disséminé. Marcheur innommable. En invoquant, au seuil de mes récits, l’absent qui leur donne commencement et nécessité, je m’interroge sur le désir dont il figure l’impossible objet. […] Ce héros anonyme vient de très loin. C’est le murmure des sociétés. De tout temps, il prévient les textes. Il ne les attend même pas. Il s’en moque. 9

Ya en la parte introductoria, Certeau hace referencia explícita a la conquista del Nuevo Mundo que él toma como modelo de lo que pueden ser las prácticas de la vida de todos los días. Por una parte, sorprende el hecho de que los indígenas amerindios hayan sido subyugados con tanta rapidez por parte de los españoles, pero, por otra parte, Certeau considera que el fenómeno de tal subyugación es profundamente ambiguo porque debajo de la manifiesta sumisión de la población se esconde un ímpetu de latente subversión que sin embargo no es sublevación sino apropiación y reapropiación de los moldes importados por los recién llegados pero manejados y acomodados por los naturales. Il y a longtemps qu’on a étudié, par exemple, quelle équivoque lézardait de l’intérieur la «réussite» des colonisateurs espagnols auprès des ethnies indiennes: soumis et même consentants, souvent ces Indiens faisaient des actions rituelles, des représentations ou des lois qui leur étaient imposées autre chose que ce que le conquérant croyait obtenir par elles; ils les subvertissaient non en les rejetant ou en les changeant, mais par leur manière de les utiliser à des fins et en fonction de références étrangères au système qu’ils ne pouvaient fuir. Ils étaient autres, à l’intérieur même de la colonisation qui les «assimilait» extérieurement; leur usage de l’ordre dominant jouait son pouvoir, qu’ils n’avaient pas les moyens de récuser; ils lui échappaient sans le quitter. La force de leur différence tenait dans des procédures de «consommation». À un moindre degré, une équivoque semblable s’insinue dans nos sociétés avec l’usage que des milieux «populaires» font des cultures diffusées et imposée par les «élites» productrices de langage.10

Después, en el segundo capítulo, Certeau alude a su propia experiencia brasileña cuando en el 1974 trabajaba con un equipo interdisciplinar de investigadores entre los campesinos del Estado de Pernambuco. Observa que en la percepción de su 9 | Certeau 1980, p. 33. 10 | Ibíd. p. 12.

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vida de todos los días existen dos niveles estrictamente separados pero al mismo tiempo complementarios: por un lado la opresión social que parece ser ineludible, por otra parte un mundo imaginario de lo milagroso, quizá quepa decir con Irlemar Chiampi: un mundo «maravilloso» el cual se opone al mundo social y con­ trasta con él, llegando a crear así otra realidad alternativa.11 En el caso estudiado por Certeau, el héroe mítico de aquel mundo imaginario es Frei Damião, un poderoso santo a quien la gente invoca y recuerda en sus relatos. El mundo del milagro que se manifiesta en la vida cotidiana de los humildes y que se sobrepone al mundo social no es, entonces, ni evasión (como diría Marx) ni ilusión (como diría Freud) sino más bien el resultado de un determinado acto de palabra (en el sentido de la «parole» saussuriana o de la «performance»), es decir, de un novedoso juego de lenguaje irreducible a los mecanismos opresores de la vida social. D’une part, un espace socio-économique, organisé par une lutte immémoriale entre «puissants» et «pauvres», se présentait comme le champ des constantes victoires des riches et des gendarmes, mais aussi comme le règne du mensonge (aucune vérité ne se dit là, sinon à voix basse et entre paysans: «Agora a gente sabe, mas não pode dizer alto»). Là, toujours, les forts gagnent et les mots trompent ‒ expérience qui rejoindrait le constat d’un Maghrébin syndicaliste à Billancourt: «Nous sommes toujours niqués.» D’autre part, distinct de cet espace polémologique présentant à la perspicacité des ruraux un réseau innombrable de conflits caché sous la couverture du langage, il y avait un espace utopique où s’affirmait, en récits religieux, un possible par définition miraculeux: Frei Damião en était le centre presque immobile que ne cessaient de qualifier les histoires successives des châtiments célestes qui frappaient ses ennemis.12

Como ya lo da a entender el término «milagro», aquella otra realidad alternativa que emerge en la cultura popular de todos los días se ajusta a la imaginería religiosa. En el caso del Brasil y de América Latina en general la imaginería religiosa está pro­ fundamente marcada por el catolicismo que los misioneros importaron en tiempos de la Conquista pero que en el nuevo continente sufrió considerables reajustes y transformaciones por parte de los indígenas. Ellos asumen el papel de actuar como usuarios que adoptan los relatos y ritos importados adaptándolos a sus propias necesidades y comodidades. De ahí resulta la importancia que ocupan en tales situaciones de injusticia los relatos hagiográficos sobre el heroísmo, las hazañas y los milagros obrados por los santos: Mais pour affirmer la non-coïncidence des faits et du sens, il fallait une autre scène religieuse, qui réintroduise, sur le mode d’événements surnaturels, la contingence historique de cette «nature» et, avec des repères célestes, une place pour cette protestation. Une inacceptabilité de l’ordre pourtant établi se disait, à juste titre, sous la forme du miracle.

11 | Comp. Irlemar Chiampi, O Realismo Maravilhoso, São Paulo: Perspectiva, 1980. 12 | Certeau 1980, pp. 56‒57.

De México al Paraíso Là, dans un langage nécessairement étranger à l’analyse des rapports socio-économiques, pouvait être soutenu l’espoir que le vaincu de l’histoire ‒ corps sur lequel s’écrivent continuellement les victoires des riches ou de leurs alliés ‒ puisse, en la «personne» du «saint» humilié, Damião, se relever grâce aux coups portés par le ciel contre ses adversaires. […] A la manière des Loas vaudous, «esprits» et voix d’une autre référence, les récits de miracles sont aussi des chants, mais graves, relatifs non à des soulèvements mais au constat de leur permanente répression. Malgré tout, ils offrent au possible un lieu imprenable, car c’est un non-lieu, une utopie. Ils créent un espace autre, qui coexiste avec celui d’une expérience sans illusion. Ils disent une vérité (le miraculeux), non réductible aux croyances particulières qui lui servent de métaphores ou de symboles. Ils seraient à côté de l’analyse des faits l’équivalent de ce qu’une idéologie politique introduit dans cette analyse. Les «croyants» ruraux déjouent ainsi la fatalité de l’ordre établi. Et ils le font en utilisant un cadre de référence qui, lui aussi, vient d’un pouvoir externe (la religion imposée par les missions). Ils réemploient un système qui, bien loin de leur être propre, a été construit et répandu par d’autres, et ils marquent ce réemploi par des «super-stitions», excroissances de ce miraculeux que les autorités civiles et religieuses ont toujours soupçonné, à juste titre, de contester aux hiérarchies du pouvoir et du savoir leur «raison». Un usage («populaire») de la religion en modifie le fonctionnement. Une manière de parler ce langage reçu le mue en un chant de résistance, sans que cette métamorphose interne compromette la sincérité avec laquelle il peut être cru, ni la lucidité avec laquelle, par ailleurs, sont vues les luttes et les inégalités cachées sous l’ordre établi.13

Existe obviamente un innegable paralelismo entre el «Vodú» difundido en Haití, la «Santería» practicada en Cuba o ritos semejantes, observados en otros países del Caribe, y la situación que Certeau y los compañeros de su equipo pudieron observar en Pernambuco. Vemos, además, que la referencia a «la otra escena», es decir, la esfera sobrenatural de los milagros (la idea recuerda obviamente la ex­ presión de Freud: «ein anderer Schauplatz») corresponde perfectamente a lo que Certeau llamaba, en otros contextos y sobre todo respecto del famoso ensayo de Michel de Montaigne sobre los caníbales, la heterología, un discurso que se asemeja al otro, que ocupa el lugar del otro e intenta hablar con la voz del otro.14

13 | Ibíd., pp. 57‒58. 14 | Véase Michel de Certeau, Lʼabsent de lʼhistoire [1973], en íd.: Histoire et psychanalyse entre science et fiction. Nouvelle édition augmentée, ed. Luce Giard, Paris: Gallimard, 2002 [1987], pp. 208–218, ibíd. 210–215; íd.: Montaigne: Des cannibales [1981], en íd.: Le Lieu de lʼautre, ed. Luce Giard, Paris: Gallimard/Seuil, 2005, pp. 249–263, ibíd. pp. 249‒250.

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2. E l caso de S or Juana en el marco de la diversidad colonial La hipótesis que quisiera presentar se refiere a la cuestión de saber si los cuadros de costumbre en un sentido amplio –literatura y arte figurativo a la vez– son más bien enunciados de un discurso homogeneizador e identitario o si al contrario deben ser considerados como actos de una enunciación heterológica en el sentido de Certeau, heterología que afirma alegremente la diversidad y el carácter irreductible y posiblemente rebelde de la cultura cotidiana. Para ello vale la pena revisitar algunas bien conocidas obrillas de Sor Juana Inés de la Cruz, a saber, sus villancicos. Estas representaciones medio sacras y medio profanas consistían en breves monólogos y diálogos dramáticos en verso, amenizados con canto, música y baile, se representaban al margen de los oficios en las solemnidades y grandes fiestas de santos y tuvieron mucho éxito en la sociedad virreinal de su tiempo. Por una parte, en las fiestas y funciones teatrales, en las que solían cantarse estos villancicos, la sociedad virreinal se representaba a sí misma, así que notamos una innegable voluntad de cohesión social y cultural. Por otra parte, tales puestas en escena traducen igualmente la complejidad y la diversidad del orden colonial. No solamente ofrecen moldes discursivos a las capas marginadas para que se incorporen a la comunidad y se identifiquen con el orden establecido, sino que también brindan la oportunidad de apropiarse discursos e imágenes oficiales para subvertirlos y acomodarlos a fines alternativos. De esta manera el tablado en el que se representan los inofensivos villancicos de Sor Juana puede transformarse en un polémico escenario donde se exhibe la irreductible diversidad colonial y donde los espectadores aplauden las burlas y las astucias que cometen los actores y aprueban los gestos de los «usuarios insumisos» que se dedican a un divertido juego de «caza furtiva» (braconnage). Ya en su discurso sobre La Décima Musa de México, pronunciado en enero de 1934 ante la Academia Bávara de las Ciencias, apenas un año después de la toma de poder por los nacionalsocialistas alemanes, Karl Vossler destinaba un muy curioso capítulo de su conferencia a los villancicos de Sor Juana ubicándolos en el contexto histórico y destacando la diversidad lingüística, cultural e incluso étnica de la Nueva España. Primero describe las características de los villancicos que reflejan la cultura popular y cotidiana de la época y después discute la posible interpretación de estos fenómenos. Sus lúcidas observaciones merecen ser citadas en detalle: Bei den kirchlichen Feiern geht es volkstümlicher zu. Besonders in den humorvollen Villancicos, in diesen kleinen, halbdramatischen Singspielen zu Weihnachten, Himmelfahrt, Empfängnis und zu den Gedenktagen der Heiligen, stellen sich allerhand kleine Leute, Biskayer, Portugiesen, Neger und Indios in ihren Mundarten und Sprachen oder in radebrechendem Spanisch ein, oder Latein redende Studenten und Sakristane, wobei es allerlei Missverständnisse gibt. Je babylonischer die Verwirrung und Mischung der Sprachen, desto zugkräftiger und sieghafter die seelische Vereinigung der Gelehrten und Idioten, Engel und

De México al Paraíso Menschen, Herren und Sklaven, Weißen und Schwarzen in der Anbetung und im jubelnden Aufschwung. […] Es ist bekannt, wie die spanische Frömmigkeit im Barock des spiritualen Volkstones und des Conceptismo vor keiner Geschmacklosigkeit haltmachte und wie im Spiel der erbaulichen Ensaladillas Kraut und Rüben zusammengeschnitten und in seelischer Einstimmigkeit hingenommen wurden. Ich glaube darum nicht, dass man in der Erfahrung von aztekischen und negerhaften Bitt- und Lobgesängen, in dem »tumba la la la« der Schwarzen und in dem »tocotín« der Indios eine soziale oder revolutionäre Neigung oder Kundgebung bei Schwester Juana suchen darf […]. Es handelt sich lediglich um ein humorvolles Formelement, das zwar mexikanisch gefärbt ist, aber an und für sich in der Tradition dieser Stilgattung schon seit Jahrhunderten üblich war. Wie menschlich klug, theologisch klar und politisch zurückhaltend unsere Dichterin über das Verhältnis der unterworfenen, teils heidnischen, teils mangelhaft christianisierten Indios zu der Kirche dachte, ersieht man aus ihrem schönen Vorspiel zum Cetro de Joseph (von dem ich eine Übersetzung im Anhang gebe). Die Tatsache freilich muss erwogen werden, dass Juana beinahe täglich die verschiedensten Menschen: Eingewanderte und Eingeborene, Indianer, Neger und Mischlinge unterschiedslos in die Kirchen von Mexiko zusammenströmen sah und dass sie mitfühlend eine fortschreitende seelische Vereinigung der Rassen an Ort und Stelle beobachten konnte, während das alte Spanien, das noch in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts seine Moros, Moriscos und Judíos des Landes verwiesen hatte, nichts Ähnliches mehr erleben konnte. In Mexiko eine gärende, ergreifende, allumfassende Vereinigung der Gemüter, eine bunte Nation im Werden; in Spanien eine versteinerte, spröde und greisenhaft ausschließliche Einförmigkeit. Wie die Antriebe zur Verwunderung und Forschung, so waren auch die Neigungen zu liebevoller Umfassung des vielfarbigen Menschengeschlechtes draußen an der Peripherie des spanischen Weltreichs noch jugendfrisch, als sie im Mutterlande verdorrten und abstarben. Kein Wunder, dass auch diese zweite Reihe von Motiven in Juanas Dichtung wieder heller und herzlicher klingt.15 [Las solemnidades litúrgicas se realizaban de un modo más popular, especialmente con respecto a los villancicos humorísticos. En aquellos pequeños melodramas, semi-dramáticos, a la Navidad, a la Asunción, a la Concepción y a los Santos, actúa mucha gente humilde; vizcaínos, portugueses, negros e indios, en sus dialectos y lenguas o en español chapurreado; estudiantes y sacristanes hablan latín, lo que da lugar a malas inteligencias. Cuanto más babilónica resulta la confusión y mezcla de lenguas, tanto más efectiva y victoriosa la unión espiritual de los sabios e idiotas, de los ángeles y hombres, de los señores y esclavos, de los blancos y negros, en la adoración y gloria jubilosa. […] Es conocido que la religiosidad española del barroco, cuando utilizaba el tono popular, no retrocedía ante ninguna falta de gusto y cómo en el juego de las ensaladillas edificantes, todo se mezclaba y se aceptaba generalmente. Por lo tanto, no creo que, en la introducción de letanías y

15 | Karl Vossler, Die ›zehnte Muse von Mexico‹: Sor Juana Inés de la Cruz (conferencia dictada el 13 de enero de 1934), München: Bayerische Akademie der Wissenschaften, 1934, pp. 24‒25.

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Bernardo Teuber alabanzas aztecas o africanas, en el «Tumba la la» de los negros y en el «Tocotín» de los indios, se pueda buscar una tendencia o manifestación social o revolucionaria en Sor Juana […]. Se trata únicamente de un juego formal humorístico, de color mexicano, pero usual en la tradición de este género desde hace siglos. En el hermoso prólogo del «Cetro de Joseph» se nota perfectamente con cuánta inteligencia humana, cuánta claridad teológica y cuánta moderación política nuestra poetisa expresaba su pensamiento cuando ilustraba la actitud de los indios frente a la Iglesia ya que ellos seguían siendo en parte paganos, en parte deficientemente cristianizados. Sin embargo, hay que tomar en consideración que Juana veía reunidas sin ninguna diferencia, en las iglesias de México, casi diariamente, las más diversas categorías de hombres; españoles, criollos e indígenas, negros y mestizos, y podía observar ella misma, una unión psíquica de las razas, siempre más fuerte, mientras la vieja España, que en los primeros decenios del siglo XVII expulsaba a los moros, moriscos y judíos, ya no podía presenciar ningún fenómeno parecido. En México: un emocionante enlazamiento de ánimos fermentaba y abarcaba toda una nación llena de color, en el proceso de formación; en España: una uniformidad petrificada, reservada y senilmente exclusivista. Como los impulsos de curiosidad y exploración, también las tendencias hacia una comprensión cariñosa de la humanidad multicolor, allá en la periferia del imperio español, estaban todavía rebosantes de juventud cuando en la Madre Patria ya se secaban y fenecían. No es milagro que también esta segunda serie de motivos, resuenen más clara y más afectuosamente en la poesía de Juana.]16

Aunque Vossler niegue que Sor Juana haya llamado a la sedición o la rebeldía, sí opina que ella estaba influenciada por las experiencias de la vida cotidiana que presenciaba en la sociedad colonial. Y aunque el contraste entre una moribunda España racista que expulsa a judíos, moros y moriscos y una fecunda Nueva España, liberal y tolerante, en la que conviven indígenas y recién llegados de diversas etnias y buscan la sintonía puede parecer superficial, por lo menos hoy en día, hay que considerar que esta comparación iba dirigida en contra del racismo nazi que Vossler presenciaba en su país y que él posiblemente simpatizaba con ideas como las que expresaba José Vasconcelos, reconociendo al mestizaje y a la mezcla de distintas razas un valor sumamente positivo.17 Si nos parece plausible la afirmación de Vossler que Sor Juana no era verdaderamente revolucionaria, eso no quiere decir, sin embargo, que ella fuera la portavoz de las élites dominantes. Será más acertado ver en sus villancicos una elogiosa puesta en escena de la diversidad colonial. Y si miramos los hechos con 16 | Versión española del pasaje: La Décima Musa de México, traducción por Mariana Frenck y Arqueles Vela, Universidad de México (octubre de 1936), pp. 15–24. Véase también el sitio web de The Sor Juana de la Cruz Project: http://www.dartmouth.edu/~sorjuana/ Commentaries/Vossler/Vossler.html. Ofrecemos el texto español con algunas pequeñas modificaciones. 17 | Comp. José Vasconcelos, La raza cósmica, Madrid: Agencia Mundial de Librería, 1925.

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atención, evidenciamos que los discursos de los cronistas e historiadores de Indias presentan el nuevo continente desde el principio no sólo como un espacio de las maravillas o de la utopía realizable sino también como un terreno de increíble diversidad de seres.18 Ya en 1535 afirma, por ejemplo, Gonzalo Fernández de Oviedo, dirigiéndose a Carlos V: Sé que hay en este imperio de las Indias (que Vuestra Cesárea Majestad y su corona real de Castilla poseen), tan grandes reinos e provincias, y de tan extrañas gentes e diversidades e costumbres y ceremonias e idolatrías apartadas de cuanto estaba escripto, desde ab initio hasta nuestro tiempo, que es muy corta la vida del hombre para lo poder ver ni acabar de entender o conjecturar. ¿Cuál ingenio mortal sabrá comprehender tanta diversidad de lenguas, de hábitos, de costumbres en los hombres destas Indias? Tanta diversidad de animales, así domésticos como salvajes y fieros? ¿Tanta multitud inenarrable de árboles, copiosos de diversos géneros de frutas, y otros estériles, así de aquellos que los indios cultivan, como de los que la Natura, de su propio oficio, produce sin ayuda de manos mortales? ¿Cuántas plantas y hierbas útiles y provechosas al hombre? ¿Cuántas otras innumerables que a él no son conocidas, y con tantas diferencias de rosas e flores e olorosa fragancia?19

El mismo tópico de la diversidad aparece, como en muchos otros lugares, también en la Historia moral y natural de las Indias del padre José de Acosta que Sor Juana conocía bien, pues hay alusiones al padre Acosta en la Loa del Divino Narciso. Encontramos allí una referencia significativa a la multitud de plantas, árboles y frutales: Es bien considerar la providencia y riqueza del Criador, que repartió a tan diversas partes del mundo tanta variedad de árboles y frutales, todo para servicio de los hombres que habitan la tierra; y es cosa admirable ver tantas diferencias de hechuras, gustos y ope­ raciones no conocidas ni oídas en el mundo antes que se descubriesen las Indias, de que Plinio y Dioscórides y Theofrasto y los más curiosos ninguna noticia alcanzaron con toda su diligencia y curiosidad. 20

18 | En cuanto a los conceptos de maravilla y utopía, véase Irlemar Chiampi, O Realismo Maravilhoso; Beatriz Pastor, El jardín y el peregrino: ensayos sobre el pensamiento utópico latinoamericano: 1942-1700, edición revisada y aumentada, México: Universidad Nacional Autónoma de México, 1999. 19 | Gonzalo Fernández de Oviedo, Historia general y natural de las Indias (1535), ed. Juan Pérez de Tudela, vols. I–VI (Biblioteca de Autores Españoles), Madrid: Atlas, 1992, Libro I, Epístola dedicatoria, vol. I, p. 8, col. A. 20 | José de Acosta, Historia moral y natural de las Indias (1591), ed. Fermín del Pino-Díaz, Madrid: CSIC, 2008, Libro IV, cap. XXVI, p. 128, col. A.

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En una reciente comunicación, Elmar Schmidt acaba de resaltar la sorprendente correspondencia entre el discurso de la diversidad en los cronistas y el actual discurso sobre la biodiversidad.21 Una rama de aquel discurso de la diversidad que merece especial interés es sin duda el discurso sobre la diversidad étnica que constituía un rasgo tan patente en la sociedad virreinal y que se plasma, por ejemplo, en las famosas pinturas de castas. Aunque estas obras pictóricas pertenecen al arte colonial del siglo XVIII, el interés por la estructura pluriétnica de la sociedad novohispana es seguramente anterior y también se nota en los villancicos de Sor Juana cuando ella alude a las distintas capas de la población. Como, además, las pinturas de castas representan, en muchos casos, situaciones de la vida de todos los días, pueden ser fácilmente atribuidas a la tradición del costumbrismo en el sentido amplio que hemos señalado más arriba.

2.1. En este artículo quisiéramos limitarnos y concentrarnos en tres escenas que dibuja Sor Juana en el gran número de sus villancicos.22 El primer ejemplo corresponde al segundo villancico de una pieza dedicada a San Pedro Apóstol en 1677.23 Estribillo ¡Ea, Niños cristianos, venid a la Escuela, y aprended la Doctrina con muchas veras! ¡Ved, que espera el Maestro! ¡Apriesa, apriesa, apriesa! ¡Corred, llegad, mirad que os ganan la palmeta! Coplas Escribid, Pedro, en las aguas todas las hazañas vuestras, que aunque las letras se borren, a bien que les quedan lenguas.

21 | Véase Elmar Schmidt, «Biodiversidad y diversidad colonial en las crónicas», conferencia leída el 28 de enero de 2016 en el coloquio La invención de la naturaleza, celebrado en la Universidad de Tubinga y organizado por Wolfgang Matzat y Sebastian Thies. En su contribución, Elmar Schmidt remite a Fernández de Oviedo, Acosta y varios otros. El artí­c ulo saldrá impreso dentro de poco en las actas del coloquio. Le agradezco al autor haberme facilitado las citas exactas. 22 | Un estudio importante lo debemos a Georgina Sabat de Rivers, Blanco, negro, rojo: semiosis racial en los villancicos de Sor Juana Inés de la Cruz, en: Miguel Ángel Garrido Gallardo (ed.), Crítica semiológica de textos literarios hispánicos (Actas del Congreso Internacional sobre semiótica e hispanismo, II), Madrid: CSIC, 1986, pp. 247–255). 23 | Utilizamos la edición siguiente: Sor Juana Inés de la Cruz, Obras completas (1969), ed. Francisco Monterde, México, D. F.: Porrúa, 81992.

De México al Paraíso De plana os sirvan los mares, y el remo la pluma sea, que al corte de vuestros puntos aun no basta su grandeza. Pautad primero la plana y dibujadnos la letra, que en faltando vuestro lapis ninguno a escribir acierta. A fe que en el A B C tenéis la mayor rudeza pues en conocer el Christus os mostrasteis una Piedra. No escribáis letra bastarda que si a vuestra mano llega, perderá el nombre bastardo por ser hija de la Iglesia. La letra antigua dejadla que la escriban los profetas, pues vos podéis en un Credo escribir letra moderna. La grifa y la italiana, por gala podéis saberlas: mas la romanilla os toca, pues sois de Roma cabeza. Escribid de liberal, soltad al pulso la rienda, pues el cielo da por libre lo que vuestra mano suelta. Eternos vuestros escritos conservarán su pureza, sin que ni aun contra una coma el hereje prevalezca.

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Bernardo Teuber Y no menos que la vida os costará su defensa: mas ánimo y escribid, que la letra con sangre entra. 24

El texto que acabamos de citar no alude al tema de la etnicidad sino más bien al vocabulario y a las prácticas de los maestros de escuela como a los varios tipos de escritura y letras, es decir, a los oficios de escribano y, sobre todo, de tipógrafo. Todo ello está relacionado con el destino de San Pedro. El príncipe de los apóstoles parece haber sido buen pescador, pero mal alumno; llega a Roma donde es reconocido como papa y también como uno de los hagiógrafos del Nuevo Testamento así que sus epístolas y escritos deben imprimirse en letra moderna. Sigue un entero catálogo de los tipos de letra que se usaban en las oficinas de los impresores, como son la bastardilla, la antigua, la moderna, la romanilla etc. Indudablemente, tales referencias a la vida escolar y, además, al arte tipográfico poseen tintes costumbristas.

2.2. Lo mismo vale decir de la interesantísima pieza dedicada, también en 1677, a San Pedro Nolasco, fundador de la Orden de los Mercedarios que rescataban a los esclavos en tierras de moros y veneraban a la Virgen María como a su Divina Protectora. Por ello, en el primer villancico se alude a que Pedro Nolasco igual que Jesucristo es «hijo de María» y que la Virgen ordena a Cristo que redima las almas de los hombres mientras Pedro Nolasco tendrá la vocación de redimir los cuerpos de los cautivos. Casi con igual estima a los dos Hijos mandó: si Uno las almas sanó, otro los cuerpos redima porque al cristiano no oprima del moro la tiranía; por ser hijo de María. 25

Con el tema de la redención de los cautivos, la cuestión de la esclavitud y del racismo entra en la pieza. Si San Pedro Nolasco y los padres mercedarios redimen a los cautivos en tierra de moros, ¿por qué no redimen también a los negros que están esclavizados en la Nueva España? El poema que vamos a ver juega con dos oposiciones semánticas – los blancos contra los negros y el alma contra el cuerpo y las 24 | Ibíd., p. 227. 25 | Ibíd., p. 218.

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pone en boca de «un Negro que entró en la Iglesia, / de su grandeza admirado, por regocijar la fiesta / cantó al son de un calabazo».26 Ese esclavo supuestamente congolés utiliza una jerigonza mezclada de español y portugués con numerosas faltas de pronunciación debidas a su acento supuestamente africano y le da a San Pedro Nolasco el apodo de «Pilico», lo que quiere decir, «Pedrico»: Puerto Rico. – Estribillo ¡Tumba, la-lá-la; tumba, la-lé-le; que donde ya Pilico, escrava no quede! ¡Tumba, tumba, la-lé-le; tumba, la-lá-la que donde ya Pilico, no quede escrava! Hoy dici que en las Melcede estos Parre Mercenaria hace una fiesa a su Palre, ¿qué fiesa? Como su cala. Eya dici que redimi: cosa palece encantala, porque yo la Oblaje vivo y las Parre no mi saca. La otra noche con mi conga turo sin durmí pensaba, que no quiele gente plieta, como eya so gente branca. Sola saca la Pañola; ¡pues, Dioso, mila la trampa, que aunque neglo, gente somo aunque nos dici cabaya! Mas ¿qué digo, Dioso mío? ¡Los demoño, que me engaña, pala que esé mulmulando a esa Redentola Santa!

26 | Ibíd., p. 223.

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Bernardo Teuber El Santo me lo perrone, que só una malo hablala, que aunque padesca la cuepo, en ese libla las alma. 27

Mientras en el villancico anterior se había afirmado que la tarea de San Pedro Nolasco consistía en la redención de los cuerpos de los cautivos, el esclavo del obraje descubre que los padres mercedarios solo redimen a los cautivos blancos y no a los esclavos negros. Entonces supone primero que los mercedarios lo hacen por antipatía contra la «gente prieta». Pero después se desdice y revoca esta sospecha echando la culpa al demonio y a su mala lengua. En vez de ello se pone a invertir y redistribuir los atributos de negros y blancos, de cuerpo y alma y subvierte la doctrina que había impartido el villancico anterior. Es solamente en el mundo de los blancos, que San Pedro Nolasco y los mercedarios redimen los cuerpos, pero no las almas; al contrario, en el mundo de los negros, San Pedro Nolasco redime las almas, pero no los cuerpos esclavizados que padecen en el obraje de los esclavos. He aquí que entra en juego la interpretación de Certeau: El texto remite a dos esferas distintas, la esfera social del obraje en el que no habrá redención para los esclavos y la esfera imaginaria de los milagros: En el día de San Pedro Nolasco, se celebra el hecho de que el santo haya subido al Cielo para proteger a sus devotos. Gracias a la intercesión del santo, el sufrimiento de los cuerpos explotados en el obraje no impedirá que sus almas se rediman. La pieza exhibe un antagonismo posiblemente insuperable: la doctrina de la «gente blanca» no corresponde a la experiencia de la «gente prieta» y por ello la «gente prieta» se apropia de un discurso que no estaba destinado a ella.

2.3. En la pieza dedicada en 1676 a la fiesta de la Asunción, el milagro asume rasgos aún más espectaculares, pues en el caso de San Pedro Nolasco la función del santo cambia en el ambiente de los negros, pero la primacía de la salvación del alma frente a la salvación del cuerpo no sorprende tanto en el contexto cristiano. Al contrario, en el octavo villancico de la Asunción de 1676, se preconiza una primacía del cuerpo sobre un alma considerada como incorporal. Dos «negrillos» llamados Pilico (Pedrico) y Flacico (Blasico) dialogan. El uno es un Heráclito y llora la subida de la Virgen al Cielo, el otro es un Demócrito y se regocija de la Asunción. Pilico se queja y Flacico contesta consolándole:

27 | Ibíd., pp. 223‒224.

De México al Paraíso [Pilico] Déjame yolá, Flacico, pol Eya, que se va, y nosotlo la Oblaje nos deja. [Flacico] Caya, que sa siempre milando la Iglesia; mila las Pañola que se quela plieta. [Pilico] Bien dici, Flacico: tura sa suspensa: Si tú quiele, demos unas cantaleta. 28

La segunda copla debe entenderse, según nuestra opinión, de la manera siguiente: «Calla que (la Virgen) está siempre / mirando a la Iglesia; / (pero en contrapartida ahora) miran (es decir, observan) los españoles / que (la Virgen) se queda prieta (negra).» El esclavo se refiere al tópico de una Virgen negra y ésta corresponde por supuesto a la Virgen extremeña de Guadalupe y –¿cómo no? – también a la Tonantzin, la Virgen de Guadalupe mexicana ya que ambas Vírgenes son consideradas como «morenas». Y a este rasgo también alude el estribillo que sigue: Estribillo –¡Ah, ah, ah, que la Reina se nos va! – Uh, uh, uh que non blanca como tú nin Pañó que no sa buena que Eya dici: So molena con las Sole que mirá! –¡Ah, ah, ah, que la Reina se nos va!29

28 | Ibíd., p. 211. 29 | Ibíd.

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Nuestra lectura de los tres villancicos, que hemos estudiado con más detalle, demuestra que Sor Juana nos describe el mundo sencillo de todos los días, habitado por gente humilde y marcado por las prácticas y costumbres de la vida cotidiana; pero, al mismo tiempo, es un mundo abigarrado, impregnado por la diversidad colonial y caracterizado por la mezcla de razas, etnias y lenguas. Aunque como monja bachillera y autora del teatro sacro Sor Juana hable en nombre de la Iglesia y forme parte de las jerarquías establecidas, ella no parece asumir por lo tanto la perspectiva de los poderosos y las élites dominantes sino más bien el punto de vista de los marginados y oprimidos, los cuales – como afirmaba Certeau – an­he­ lan milagros y añoran el Paraíso. Por ello es significativo que, en las coplas que se refieren a la Asunción y que acabamos de citar, se nos presente una verdadera metamorfosis de la Virgen. En la perspectiva de los negros que están hablando, la Virgen parece haber sido antes española, es decir, de piel blanca. Pero al abandonar la tierra y subir al Cielo, acercándose de los rayos del sol que la iluminan, su piel adquiere de repente color moreno y ella dice, citando el famoso versículo del Cantar de los Cantares: «Soy morena» («nigra sum sed formosa»).30 En el día de la Asunción, la Virgen se distancia de la casta de los blancos que permanecen en la tierra y en el Paraíso Celeste, ella se hace socia y solidaria de la casta de los negros y negrillos: ¡Vaya milagro!

30 | Comp. Canticum canticorum 1,5.

La ricerca dell’immagine del paradiso La difficile impresa di Paolo Segneri nelle prediche del Quaresimale Claudio Vicentini

È nella decima predica del Quaresimale, la predica della seconda domenica di quaresima, che Paolo Segneri affronta il difficile problema di costruire di fronte al pubblico dei fedeli, attraverso le parole pronunciate dal pulpito, un’efficace immagine del paradiso. Il Quaresimale, pubblicato a Firenze nel 1679 raccoglie, com’è noto, le prediche pronunciate da Segneri con enorme successo tra il 1665 e il 1677 in diverse parti d’Italia. La stesura consegnata ai lettori in nulla differiva da ciò che il pubblico dei fedeli aveva potuto udire dalla sua viva voce. Ogni predica, avvertiva Segneri, era stata infatti riportata «senza veruna alterazione di più fattavi, almeno considerabile, per la stampa».1 In realtà, in quegli anni Segneri si era impegnato in due forme assai diverse di predicazione. La prima, delle «prediche cittadine», rivolte lungo i cicli di avvento e di quaresima dal pulpito delle chiese a un pubblico composto almeno in parte da persone non prive di cultura e di status sociale, era inevitabilmente portata a esibire prodotti dotati di sicura qualità oratoria, capaci di suscitare un’immediata ammirazione per la bravura del predicatore assicurandogli una fama e un prestigio tali da attirare un numero sempre maggiore, a volte imponente, di ascoltatori. La seconda, la predicazione delle «missioni», era invece dedicata alle popolazioni rurali. Qui, in un contesto differente, la parola del predicatore si inseriva in un processo altamente drammatico dove una rete di irresistibili tensioni – al tempo stesso mentali, fisiche ed emotive – veniva prodotta da invocazioni, suppliche, canti, lamenti, azioni rituali, nonché dai tormenti corporali, in particolare l’auto­ flagellazione che il predicatore e poi la collettività dei presenti si infliggevano nel corso del raduno.2 1 | Paolo Segneri, L’autore a chi legge, in: Quaresimale, Opere, 4 volumi, Torino: Marietti, 1854–1856, vol. I, pp. 5–6. 2 | Efficacissime descrizioni di questa forma di predicazione si trovano nella prima biografia di Segneri, di Giuseppe Massei, Breve ragguaglio della vita del venerabile servo di

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Ovviamente le prediche di questo secondo genere – che implicava il ricorso all’improvvisazione e al montaggio di argomenti e formule risistemate nelle situazi­ oni che si venivano via via a creare anche mediante agenti di natura assai diversa dalla parola – non avrebbero potuto essere rese in testi compiuti da consegnare alla stampa. Diverso il caso delle prediche cittadine, il cui testo veniva accuratamente preparato dall’oratore che lo componeva seguendo le regole della retorica e poi lo imparava a memoria – parola per parola – per consegnarlo senza alcuna variazione al pubblico attraverso le tonalità e i gesti fissati dalle norme dell’actio. Di questo attento e sapiente lavoro di composizione Segni informava i suoi lettori: «ho bensì procurato», scriveva evocando i modelli più illustri, «nella elocuzione di mettere ogni mio studio, come ritrovo che ve lo posero un Leone, un Girolamo, un Grisostomo, un Cipriano». Nulla doveva essere lasciato all’approssi­ mazione o al caso. «Ho io sempre amato, con modo straordinario», spiegava sottolineando la necessità della coerenza compositiva, che nella stessa predica «tra loro ambo le parti si concordassero e nella materia, e nel metodo, e nello stile.»3 Per quanto concerneva la memorizzazione, l’imperativo era altrettanto severo. Incertezze, scarti dal testo prefissato, inserimenti di sezioni «a braccio» dovevano essere accuratamente evitati. Quando nel 1692, dopo lunghi anni esclusivamente impegnati nella predicazione nelle «missioni», papa Innocenzo XII chiama Segneri a Roma come predicatore al palazzo apostolico, Segneri cerca di resistere, spiegando tra l’altro di non aver più l’indispensabile «facilità di memoria» che aveva un tempo posseduta. 4 Le prediche raccolte nel Quaresimale, nella loro qualità di composizioni verbali attentamente preparate,5 riproducono quindi sermoni la cui efficacia – al contrario delle prediche delle «missioni» – è essenzialmente affidata alla capacità della parola. Tant’è che funzionano benissimo anche alla semplice lettura: «basta che chi legge figurisi non di leggere, ma di udire».6 E per dotare la predicazione di parola della sua massima efficacia Segneri delinea una precisa strategia. Se l’intento è esercitare un’effettiva azione sul pubblico, è necessario ricorrere a spiegazioni Dio il p. Paolo Segneri della Compagnia di Gesù, Venezia: Gio. Domenico Nanti, 1701, pp. 29–66. Sull’argomento vedi Bernardette Majorana, L’arte della disciplina corporale nella predicazione dei gesuiti, in: Teatro e storia 13–14 (1998–1999), pp. 209–230. 3 | Segneri 1854, pp. 4–5. 4 | Vedi in particolare la lettera di Segneri a Cosimo III, citata nell’articolo di Bernadette Majorana, Predicare per obbedienza. Note sull’ultima attività di Paolo Segneri (1692– 1694), in: Avventure dell’obbedienza nella Compagnia di Gesù. Teorie e prassi fra XVI e XX secolo, a cura di Fernanda Altieri e Claudio Ferlan, Bologna: Il Mulino, 2012, p. 151. 5 | Sempre nel corso delle resistenze ad assumere la funzione di predicatore al palazzo apostolico Segneri chiariva, ad esempio, come la preparazione di ogni predica non potesse richiedere meno di un mese di lavoro preliminare. Cfr. lettera a Cosimo III, in: Majorana 2012, p. 151. 6 | Segneri 1854, p. 6.

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chiare e a immagini immediate evitando ogni pericolo di distrazione o di abbassamento della tensione emotiva che troppo facilmente può essere prodotto dai più abusati compiacimenti retorici e dottrinari dell’oratore. Soprattutto dalle dotte disquisizioni, che certo, nota Segneri, sollecitano nei presenti meraviglia e ammirazione per la sapienza del predicatore, ma finiscono poi con il rallentare e indebolire l’efficacia della parola. Per questo intende abbandonare «ogni ostentazione di sapere», tanto di sapere teologico quanto di sapere profano, ed evitare il massiccio ricorso alle citazioni dei padri della chiesa così come alle nozioni della filosofia, della fisica, dell’astrologia, o del diritto. Le «folte» citazioni dei padri della chiesa, scrive, «mal s’adattano alla capacità popolare», così come sono di ostacolo le «descrizioni perpetue» e le «dicerie prolisse». Perciò, per quanto lo riguarda, non intende mostrarsi «un eminente teologo» che, dichiara, «né sono, né m’arrogo d’essere», e tanto meno filosofo, o fisico, legista, astrologo, o «notomista». Sarà invece necessario utilizzare temi semplici, immagini chiare, argomenti serrati e di immediata comprensione, «affinché in ultimo, con un perpetuo guadagno, i Discorsi riescano come il torcolo che quanto più cammina, tanto più strigne.» 7 Tre delle prediche raccolte nel Quaresimale sono dedicate ai luoghi che le anime sono destinate ad abitare dopo la morte: l’inferno, il purgatorio e il paradiso. Qui la forza della predica, affinché nel suo procedere riesca a ‹stringere› sempre di più l’attenzione, la mente, le emozioni e complessivamente l’animo degli ascoltatori, riposa ovviamente sulla capacità di rendere il luogo, a seconda dei casi, assolutamente terribile e ripugnante, o quanto più è possibile attraente e desiderabile. Ragionamenti e argomentazioni certo servono, ma ciò che soprattutto occorre sono immagini, vive e immediate, che mentre nutrono la loro efficacia con riferimenti diretti a esperienze particolari – estremamente dolorose o attraenti – che tutti potremmo intensamente provare nella vita temporale, si proiettino nella descrizione di un mondo altro, che dalla vita temporale e dai modi delle sue esperien­ze appaia essenzialmente diverso: infinitamente più terribile, o desiderabile. Il repertorio delle esperienze temporali a cui il predicatore può ricorrere per evocare i tormenti o le delizie che ci attendono nelle dimore ultraterrene è assai ampio. Ma particolarmente utili per coinvolgere il pubblico, legare la sua attenzione, sollecitarne l’immaginazione e rimodellarne le reazioni emotive sono le esperienze legate ai cinque sensi del nostro corpo materiale. In proposito, Segneri non sembra aver dubbi: «Mercè la gran dipendenza, ch’abbiam da’ sensi», scrive, «più ci sentiamo noi muovere dagli oggetti sensibili e materiali, che dagli spirituali ed astratti». E insiste: «esaminate pur voi la maggior parte degli uomini, ancor non popolari; vedrete ch’essi per lo più non intendono, come possa uno ritrovare nello studio piacere sì grande, che a fin di chiudersi a conversare co’ morti in un gabinetto rinunzi a’ giuochi, sdegni le cacce, si dimentichi di mangiare, non pensi a bere.»8 Qualsiasi «oggetto spirituale» – e quanto più spirituale e astratto è, peggio è – 7 | Ivi, pp. 4–5. 8 | Predica XXXVI. Nel dì solenne di Pasqua, in: Segneri 1854, p. 395.

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rischia dunque di allentare e dissolvere la presa che le parole della predica devono operare sulle menti e gli animi degli spettatori, affogandoli nella confusione e nella noia. «So ben io», esclama Segneri rivolgendosi retoricamente al Signore nel corso della predica del giorno di Pasqua, «che la vera beatitudine, la quale in cielo renderà paghi gli eletti, sarà la vista svelata del vostro volto, la notizia distinta de’ vostri arcani». Ma dopo aver tentato di descrivere tali beatitudini e delizie, si riprende: «Ma qual concetto voi ne formate, Uditori? Là uno sta dormendo, là un altro sta per dormire: e tra queste buone donne non mancano ancora alcune, che censurandomi stanno quasi quasi per mettersi a dire tra loro ch’io vo troppo in alto». Non le biasima, queste buone donne, perché, ammette, «io medesimo, che di tal bene vi parlo, non lo capisco.»9 Il che apre un non piccolo problema. Le esperienze più efficaci, quelle in cui ci troviamo «mossi» da oggetti e sensazioni materiali, non sono certo, almeno in linea di diritto, le più proprie ai mondi ultraterreni. E di qui la necessità di ricorrere a precisi espedienti retorici che Segneri impiega con sperimentata abilità. Quando si tratta dell’inferno, per spalancare al pubblico «quell’orrenda prigione de’ condannati,»10 Segneri inizia con un’efficace galleria dei supplizi che sono alla nostra portata, un tessuto di immagini ed esperienze direttamente tratte dalla tradizione e dalla pratica delle ‹nostre› atrocità, ma solo per avvertirci che questi supplizi ‹non sono› quelli che ci attendono nell’aldilà. Non mi state a descriver dunque nell’inferno caverne oscure, schifezze stomacose, visaggi orribili, spade, pugnali, ruote, saette, rasoi; torrenti di zolfo ardente, bevande di piombo liquido, stagni d’acque gelate, caldaie, e graticole; seghe, mazze, lesine a cavar gli occhi, tanaglie a strappare i denti, pettini ad isquarciare i fianchi, catene a pestare le ossa, fiaccole a bruciare le viscere; bestie che rodino, eculei che stirino, lacci che affoghino, tossici che avvelenino, cataste, cavalletti, croci, uncini, mannaie.11

Questi sono tutti tormenti inventati dal limitato sapere umano. Invece quelli dell’inferno devono essere tormenti tali da manifestare l’infinita disuguaglianza che corre, anche nell’escogitare le pene, tra la debolezza degli uomini e l’onnipotenza di Dio. Si tratterà dunque di sofferenze «nel dar le quali non ci è mai rischio di eccedere in crudeltà».12 Così l’operazione retorica è brillantemente compiuta. Le orrende e inimmaginabili pene del mondo infernale vengono evocate dalle orrende e immaginabilissime pene terrene – dalle «lesine a cavar gli occhi» alle «tenaglie a strappare i denti» – che nel momento stesso in cui vengono dichiarate inadeguate a descrivere la realtà dell’inferno moltiplicano il terrore che già di per sé suscitano nel pubblico con il terrore di un ancor più atroce inconoscibile. E, proseguendo 9 | Ivi, p. 396. 10 | Predica XIV. Nel giovedì dopo la seconda domenica, in: Segneri 1854, p. 145. 11 | Ivi. 12 | Ivi, p. 146.

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nella predica, saranno sempre immagini, vive e reali, ambientate in condizioni e figure riferibili al nostro mondo terreno, a chiarire il senso delle dimensioni più inafferrabili dei tormenti ultraterreni. Come il senso dell’eternità della pena – nozione di per sé astratta e quindi inadatta a suscitare l’immediata reazione emotiva nel pubblico – che Segneri traduce in potenti immagini di dannati che per porre fine ai loro tormenti invocano inutilmente la morte «sotto tutte anche le sue forme medesime più spietate». Sono disperate invocazioni, meticolosamente riprodotte dalle parole dell’oratore: Che fate, vermi, che ancor voi non finite di divorarci? che fate, fiamme, che non finite di struggerci? Indi veggendo in un lato una lacuna o di bitume, o di zolfo più bollente delle altre, correan avidi ad attuffarvisi dentro per isperanza di potervi nel fondo pescar la morte; ma non vi troveran tanto bene: non invenient. Usciranno allora più rabbiosi a cercarla altrove, e sperando forse ch’ella abbiasi a ritrovare dov’è più fetido il lezzo, o dove più affilati i rasoi, o dove più pesanti le macine, ivi n’andranno a seppellirsi, a rivolgersi, a stritolarsi, ma senza pro’.13

In modo analogo una pena ancora più difficile da far avvertire al pubblico nel suo concreto e immediato orrore – la sofferenza estrema riservata ai dannati, la visione del volto di Dio che ride davanti ai tormenti a cui sono sottoposti – viene risolta nella descrizione dei gesti con cui gli sciagurati rivolgono la loro rabbia contro se stessi, «mordersi le carni, strapparsi i capelli, graffiarsi il viso, e forse ancor cac­ ciarsi rabbiosamente le dita negli occhi a fin di cavarseli, quasi che ciò bastasse per non vedere chi tanto vale ad affliggerli con un ghigno».14 Più limitato, come da tradizione, è il repertorio delle pene del purgatorio, che soprattutto non possiedono la qualità assoluta propria dei tormenti infernali. I paragoni proposti da Segneri riguardano perciò le infermità più ovvie della nostra vita materiale, riprese, si potrebbe dire, dalla diagnostica di una corsia d’ospedale: dolori «renali, artritici, micranici, colici, nefritici, asmatici», febbri «così maligne, le quali avvampan a tanti poverini le viscere», ulcere «sì mordaci, le quali abbrucia­ no a tanti poverini le carni». Ma siamo naturalmente in purgatorio, e dunque tutti questi dolori, benché di livello inferiore alla pene infernali, sono assai più acuti di quelli che possiamo provare sulla terra. Per quanto riguarda il fuoco, ad esempio, «non istimate», avverte Segneri, «che nulla più sia per verità tormentoso del nostro». Perché è un fuoco «il quale ha forza incredibilmente maggiore, più attività, più acrimonia, perché esso è un estratto di tutti i fuochi.»15 E la differenza tra le sofferenze ultraterrene del purgatorio e quelle terrene, su cui sono per altro esemplate, viene resa con la perspicua immagine di un’operazione di laboratorio

13 | Ivi, p. 147. 14 | Ivi, p. 152. 15 | Predica IX. Nel venerdì dopo la domenica, in: Segneri 1854, p. 92.

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di chimica in cui viene estratta una sorta di «essenza» di tutti i dolori possibili, resa in un unico e più potente condensato. Le pene del purgatorio sono, per dir così, un lambiccato di quante pene tra noi si soffrono al mondo. Voi ben sapete che da tutte quasi le cose giungono i Chimici giornalmente a cavare con la loro arte una tal sostanza, la quale è come un piccol sunto del tutto; ma è ancor di natura così efficace, può tanto, penetra tanto, che viene perciò comunemente chiamata spirito. Or posto ciò, ho io più volte considerato tra me stesso per proprio profitto: Se si potessero unire insieme da un Angelo tutti quei dolori, che noi proviamo [...] e poi fermar di essi tutti, per via di qualche miracoloso lambicco, quasi un estratto, e averne uno spirito di dolore, o Dio che dolore vivissimo saria quello?16

I tormenti fisici, materiali, che possono straziarci nella nostro vita temporale, opportunamente ingigantiti costituiscono così il più efficace repertorio di immagini pregnanti e immediate, utilizzate per schiudere la visione dei mondi ultraterreni dell’inferno e del purgatorio. Un’operazione analoga potrebbe, a prima vista, essere condotta anche per il paradiso, dove si dovrebbero ritrovare adeguatamene trasfigurate tutte le delizie che sulla terra ci procurano le nostre esperienze sensibili. Segneri, per altro, si preoccupa di rassicurare in proposito i suoi uditori, sempre nel corso della predica del giorno di Pasqua. Il corpo, sottolinea, è strettamente congiunto all’anima che durante la vita temporale si serve necessariamente del corpo per sentire, esprimersi, comunicare, agire: qual è quell’operazione, quantunque minima, che possa fare ora l’anima senza il corpo? Non può dire parola, non può dar passo, non può formare pensiero. Se afflitta vuol’ella esprimere i suoi dolori, conviene che prenda dal corpo in prestito le sue lagrime, ed i sospiri; se lieta gode di palesare i suoi giubili, conviene che il corpo ancor’egli le somministri i risi, e i tripudi. In vano per lei risplendono tante stelle nel Firmamento, se il corpo niegale occhi da vagheggiarle.17

Per questo è giusto che anche il corpo venga chiamato a partecipare al premio che spetta all’anima nel mondo dei beati.18 Il che è tanto più opportuno anche per una seconda e più singolare ragione. La delizia suprema, la «vera beatitudine» che il paradiso riserva nel suo carattere ultimo di mondo ultraterreno, a pieno appagamento degli eletti è, come si è già visto, la rivelazione del volto di Dio, e la co­ noscenza dei suoi «arcani». Delizia così suprema che è difficile da spiegare, sicché il predicatore si riduce a balbettare «come un fanciullo», accozzando termini che lui stesso non riesce a intendere, e che nella loro oscurità finirebbero con il rendere 16 | Ivi. 17 | Predica XXXVI, in: Segneri 1854, p. 394. 18 | Ivi, p. 395.

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il paradiso, con tutto quello che costa di pene e sacrifici da patire in vita, assai poco appetibile. «Figuratevi dunque», ammette Segneri, «ch’altra felicità non avesse Dio promessa nel cielo ai suoi servi, di questa ch’è la maggiore», c’è da temere che «i più gli avrebbono detto non la curiamo». Per cui Dio «pietosissimo per tollerare i difetti umani», si è «accomodato» alla nostra debolezza, apprestando in cielo beni che siano non solo equivalenti, ma «simili in qualità» ai beni corporali, in modo che le nostre mani, orecchie, narici, i nostri occhi e il nostro palato, insomma gli organi di tutti i nostri cinque sensi, abbiano «realmente» il loro diletto, «con cui sfogare i loro innati appetiti.»19 Ma c’è una difficoltà che quando si tratta di affrontare la descrizione vera e propria del paradiso non è semplice aggirare. Questi innati appetiti del corpo sono ciò che noi, seguaci di una religione «che facilmente potrebbe credersi nata a perseguitarlo», dobbiamo soprattutto reprimere e castigare rifiutando ogni diletto che «abbia del sensuale», attraverso una «volontaria mendicità», la diminuzione del cibo, l’astinenza, le veglie rigorose che ostacolino il sonno, fino alle «sanguigne flagellazioni.»20 Il che conduce il predicatore in un vicolo cieco. Per rendere il paradiso nel modo più efficace dovrebbe immergere gli uditori in irresistibili evocazioni di diletti e piaceri dei sensi, che, per altro, in tutti gli altri momenti della sua predicazione, deve insegnare ad aborrire come turpi tentazioni che spalancano la via al peccato e alla dannazione. Proprio il «sollazzo» che il buon cristiano deve vietare alle sue orecchie, procurato dalle «femminili armonie» di cui risuonano teatri e festini, lo delizierà, garantisce Segneri, in paradiso, «in maniera ancora più perfetta e più lusinghevole». Certo il predicatore può avvertire che i «gusti corporei» che qui ci attirano sono «sozzi», e in cielo saranno «puri», ma diventa un’impresa impossibile renderli ancora più attraenti in nome di questa conclamata purezza. Ai ghiottoni, in fin dei conti, deve essere assicurato che avranno lassù il diletto che ora potrebbero provare «tra tane varie e saporose vivande», ai giovani il godimento che ora cavano «dal vagheggiare una lusinghevol bellezza».21 Così a Segneri non resta che una via di uscita. Quando si tratta di rendere di fronte al pubblico l’immagine del paradiso, nell’apposita predica preparata per la seconda domenica di quaresima, evita di insistere sulla proiezione dei piaceri materiali, che ritroveremo trasformati e «purificati» nella dimora celeste, e attacca invece con l’elenco delle angosce, imperfezioni, ansie, insoddisfazioni che ci tormentano sulla terra, per esaltare il desiderio di abbandonarla, salendo in un luogo diverso, in cui tutto ciò abbia a cessare. «Al Cielo, al Cielo!», inizia. È l’irresistibile invocazione che non può non sgorgare da nostri cuori non appena avvertiamo che cosa è la terra: «Che più curarci di questa valle di pianto? Qui dovunque ci rivol­ giamo, non udiam altro che singhiozzi, che strida, che malvagità, che miserie». Per cui dobbiamo desiderare il cielo in quanto è ‹diverso› dalla terra. «E noi», 19 | Ivi, p. 396. 20 | Ivi, pp. 393. 21 | Ivi, pp. 396–397.

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chiede retoricamente Segneri al suo pubblico dopo essersi dilungato in dotte citazioni dei mali che ci affliggono, «abbiamo conosciuto già questo mondo, già l’ab­ biamo sperimentato, ed ancora tolleriam di rimanervi?»22 Si tratta dunque di fuggire il mondo per recarsi al cielo. Sicché agli occhi del suo pubblico Segneri può schiudere non tanto le delizie del luogo che potranno abitare, quanto le meraviglie del viaggio da compiere per arrivarvi: «Se non pos­ siamo per ora andarvi con il corpo», esorta, «andiamovi con lo spirito». E si appre­ sta, sollevando «sulle nuvole» i suo uditori, a rappresentare «il primo ingresso di un’anima nella gloria». La descrizione del paradiso si svolge così come l’affascinante narrazione di una stupenda avventura in cui su una sorta di carro di fuoco, simile a quello di Elia, attraversiamo i cieli dell’universo tolemaico avvicinandoci a poco a poco alla meta finale. E qui la predica si può agevolmente distendere, senz’altri problemi, in un profluvio di immagini, intrecciate a dotte argomenta­ zioni, questioni, problemi di fisica e nozioni di astronomia, sapientemente com­ binate per suscitare l’immediata percezione della nostra attuale insufficienza a capire e godere dell’infinita ricchezza della creazione, e dell’enorme potenza che acquisteranno le nostre facoltà quando ascenderemo nella dimora dei beati. Nella prima zona, dell’aria, avverte Segneri, «mirerete quello steccato vastissimo aperto a’ venti per le loro guerre campali», e «vedrete com’ivi vengono a generarsi da principi tutti diversi, e le iridi, le qual pingon le nuvole; e le rugiade, le quali allattan i fiori; e le piogge, le quali allagano i campi; le nevi, le quali imbiancano i gioghi; e le grandini, le quali saccheggiano i seminati.»23 La nostra comprensione si spalancherà in una conoscenza immediata, in cui si scioglieranno tutti i problemi affrontati nella lunga storia dell’umano sapere. Allora intenderete che volean dire quelle esalazioni focose, che sotto nome di comete atterrivan tanti principi, quei fuochi pazzi, que’ dragoni volatici, quelle stelle precipitanti, e quegli eserciti come d’uomini armati talora apparsi a guerreggiare nell’aria: e penetrando entro a quelle vastissime fonderie, in cui tutto dì si lavorano nuove folgori, nuovi fulmini, nuovi tuoni, non avrete più bisogno di studiar o s’altro sieno i folgori, fuori che un fuoco largamente spiegato; o s’altro i fulmini che un fuoco densamente ristretto. 24

Si procede poi di meraviglia in meraviglia, in un progresso di incanti e di stupori, nella descrizione del mondo della luna, raggiunto dopo un percorso di «miglia cento ventiseimila seicentotrenta», precisa Segneri ad accrescere l’incanto dell’impresa, quindi di Mercurio e di Venere, per soffermarsi sul «palagio solare», anch’esso al centro di una rete di cifre iperboliche destinate a sopraffare l’immaginario dell’uditore: quattro milioni di miglia di viaggio, e un corpo «cento sessantasei volte maggior» della terra che nel tratto di un’ora compie un percorso di un 22 | Predica X. Nella domenica seconda, in Segneri 1854, pp. 101–102. 23 | Ivi, p. 103. 24 | Ivi.

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milione e centosessantamila migliaia di miglia. Poi Marte, Giove, Saturno, fino alla zona delle stelle, dove godremo rimirando «quegli ori, ma non terreni; que’ cristalli, ma non caduchi; quelle lumiere, ma non manchevoli!» Da dove, soprattutto, potremo volgere lo sguardo alla terra, lontanissima, ridotta a un punto, ricoperta da una «folta notte», che sparisce nel profondo manifestando la sua incommensurabile pochezza rispetto non già alla magnificenza del paradiso, ma solo di una tappa intermedia del viaggio che l’anima ha ancora da terminare per giungervi.25 Così, di sfera in sfera fino all’empireo. E qui le cose si complicano perché nel progredire dell’ascesa al paradiso ci aspettano meraviglie sempre più meravigliose, e alla fin fine programmaticamente inimmaginabili per la mente del predicatore e dei suoi ascoltatori, ancora legata alla materialità della vita temporale. Non resta che ricorrere al paragone con le meraviglie già descritte, per dire che le ulteriori sono molto ‹più belle› delle prime: «Vi basti di risapere che quanto avrete negli altri Cieli osservato di vago, di ammirabile, di lucente, tutto all’apparir dell’Empireo vi sparirà come una lucciola al comparire del Sole.»26 Ma dovendo comunque proseguire in un territorio sempre più sfuggente, dovendo comunque, prima della fine della predica, arrivare in paradiso, Segneri imprime al racconto del viaggio un’abile svolta stilistica. La narrazione assume il tono, e il fascino fiabesco, del racconto popolare con immagini ricorrenti nelle agiografie dei santi e nella più semplice iconografia delle loro visioni. Alle meraviglie astronomico-scientifiche dell’attraversamento dei cieli segue infatti l’arrivo alle sede dei beati, che è una «maestosa città» di forma quadrata, dotata di dodici porte. Non ha particolari caratteristiche, oltre a essere «di totale bellezza.»27 Semmai, possiede le virtù tipiche dei castelli incantati: le porte si aprono da sole per far entrare Segneri e tutti i fedeli che ha accompagnato nel magnifico viaggio, accolti da una schiera di angeli con una festosa sinfonia di musica e cori. Poi un sapiente arresto del flusso narrativo, una sorta di presa di respiro da parte del predicatore, con la prevedibile ammissione dell’impossibilità a proseguire: ciò che bisogna descrivere è ormai «troppo remoto dai nostri sensi». Segneri può tuttalpiù delineare una visione come «di sogno»,28 in cui i caratteri del racconto popolare di fatto si accentuano. Incontro alle anime accompagnate dagli angeli, per una strada lastricata d’oro giungono tutti i beati, tra cui i nuovi arrivati riconoscono festosamente gli amici e i parenti che li hanno preceduti in paradiso, e poi i santi che hanno riverito con un culto particolare: possono finalmente conoscerli di persona ed essere da loro cordialmente accolti come concittadini e compagni.29

25 | Ivi, p. 105. 26 | Ivi, p. 106. 27 | Ivi. 28 | Ivi, p. 107. 29 | Ivi, pp. 107–108.

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Tutti insieme arrivano alla fine «al soglio della suprema Divinità,» che si mani­ festa nella forma della più popolare delle immagini, alla destra siede Gesù e alla sinistra Maria. Dopodiché, «confortata la mente d’un potentissimo lume» si schiude la visione diretta di Dio su cui Segneri si sofferma con il ricorso a un fraseggio irrimediabilmente astratto; ma solo brevemente poiché, come ben sa, la visione del vero volto di Dio, pur essendo il bene supremo che ci attende, di per sé non renderebbe troppo appetibile l’ascesa al mondo dei beati ai suoi ascoltatori avvolti nei desideri materiali della vita temporale. In effetti, la gioia che li investirebbe resta misteriosa: «Credo che solo voi vorreste per fine saper da me, in quali sentimenti, in quali atti, in quali parole sarete voi per prorompere ad una tal vista; ma non me lo domandate, che io non lo so.»30 Sicché per concludere a Segneri non resta che ritornare allo scarno argomento iniziale. Le gioie del paradiso saranno infinitamente superiori ai sicuri dolori e alle dubbie delizie che ci procura la vita terrena: «Tengasi per sé la terra chi vuole. Se v’è tra voi chi sospiri d’esser beato, al Cielo, al Cielo, là si risolva a giungere, al Cielo, al Cielo!» E per quanto riguarda la descrizione che è riuscito a fornirne, ha una sola certezza. Ha fornito una «copia» assai poco somigliante all’originale, compiendo «un lavoro rozzo» mediante, ammette, una predica dai modi «pur troppo sconci».31

30 | Ivi, pp. 108–109. 31 | Ivi, p. 110.

Metafore bestiali e metamorfosi moderniste in Pirandello e Kafka Fausto De Michele

In un paio di articoli relativamente recenti, ho già avuto modo di presentare i risultati di una lettura comparata tra il premio Nobel agrigentino e lo scrittore praghese. In Tragicità del comico in Pirandello e Kaf ka,1 ho spiegato come lo scrittore di Praga e quello di Girgenti siano legati da un punto di riferimento e predecessore comune, lo scrittore e saggista romantico Jean Paul Richter, autore della Propedeutica all’estetica.2 La dimostrazione che i due scrittori abbiano simili rapporti intertestuali, sia di fonte che di modello,3 non solo ha mostrato quali siano i punti in comune tra i due autori, solo apparentemente distanti, ma ha anche aperto la strada a una nuova serie di domande e di associazioni possibili. Seguendo un acuto suggerimento dato da Leonardo Sciascia in Pirandello e la Sicilia, 4 nel mio articolo Il paradigma inquieto del Novecento. Pirandello, Kaf ka e Borges ho fatto di questo interessante duo un ancor più interessante trio, aggiungendo Jorge Luis Borges.5 In questi miei articoli sono concentrati i risultati di una serie di studi che hanno confermato quello che più illustri ricercatori e storici della letteratura avevano già da qualche tempo intuito, vale a dire la presenza di una certa comicità anche in 1 | Fausto De Michele, Tragicità del comico in Pirandello e Kafka, in: Pirandelliana 7 (2013), pp. 105–113. 2 | Jean Paul, Il comico, l’umorismo e l’arguzia, a cura di Eugenio Spedicato, Padova: Il poligrafo, 1994. 3 | Mi riferisco qui a due concetti, quello di rapporti intertestuali di fonte e di modello, relativi allo studio della ricezione, introdotti da Giovanni Cappello. Cfr. Giovanni Cappello, Modelli classici nel teatro contemporaneo, in: Didattica del classico, a cura di V. Cicerone, Foggia: Atlantica, 1990, pp. 106–155. 4 | Leonardo Sciascia, Pirandello e la Sicilia, Milano: Adelphi 2010, p. 241. 5 | Fausto De Michele, Il paradigma inquieto del Novecento. Pirandello, Kafka e Borges, in: Pirandello oggi. Intertestualità, riscrittura, ricezione, a cura di Anna Frabetti e Stefania Cubeddu-Proux, Fano: Metauro, 2017, pp. 239–251.

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Franz Kafka. Questa comicità era già stata segnalata, per altro, da intellettuali del calibro di André Breton nel 1966, che nella sua celeberrima Anthologie de l’humour noir,6 aveva incluso non a caso La metamorfosi e altri racconti brevi di Kafka, da Renato Barilli nel libro Comicità di Kaf ka, pubblicato nel 1982,7 e quindi da Gilles Deleuze, nel primo capitolo de L’île déserte et autres textes, che raccoglie testi risalenti agli anni tra il 1953 e il 1974.8 Anche per quanto riguarda l’aspetto importante delle immagini, delle metafore o delle allegorie bestiali, Luigi Pirandello e Franz Kafka hanno, a mio avviso, dei punti in comune. E ancora una volta, questi punti in comune partono da quelle che amo definire ‹dinamiche umoristiche›. Io uso consapevolmente la parola ‹di­ namica›, che preferisco alla parola ‹struttura›, proprio perché vedo sia nell’umoris­ mo pirandelliano che in quello kafkiano una caratteristica peculiare di fluidità. L’umorismo dei due scrittori europei non è, infatti, costruito su una struttura diegetica rigida e fissa, ma su dinamiche sempre mutevoli. Queste dinamiche seguono comunque una serie di sequenze che hanno dei momenti fondamentali che sono regolarmente presenti in qualsiasi testo umoristico, e che non rispettando una successione cronologica rigida, possono essere assemblabili in vario modo. Le sequenze o momenti imprescindibili dell’umorismo dei due scrittori, anche con riferimento alle teorie di Jean Paul, prevedono sempre tre momenti: lo scherzo e quindi il riso, un’epifania, che potremmo anche definire il momento dell’Erkenntnis, e una riflessione che interrompe definitivamente il riso. Altrettanto importante è, a questo proposito, precisare che Pirandello e Kafka di rado usano l’ironia, mentre sono due ineguagliabili artisti dell’umorismo. E questo perché l’ironia espone seriamente quello che intende per scherzo, mentre nell’umorismo si fa l’esatto opposto, cioè si parte sempre dal ridicolo, dallo scherzo o dal grottesco, ma il tema introdotto dal riso è, o diventa, sempre e irrimediabilmente drammatico.9 Il momento più importante nella dinamica umoristica è sempre quello del «sentimento del contrario» che Pirandello così bene ha descritto nel suo famoso saggio L’umorismo, contrapponendolo all’«avvertimento del contrario» che ha come risultato una mera comicità.10 L’avvertire o sentire il contrario non equivale ad altro che a notare un’improvvisa incongruenza da cui scaturisce 6 | André Breton, Anthologie de l’humour noir, Paris: Jean-Jacques Pauvert éditeur, 1966. 7 | Renato Barilli, Comicità di Kafka. Un’interpretazione sulle tracce del pensiero freudiano, Milano: Bompiani, 1982. 8 | Gilles Deleuze, L’île déserte et autres textes (1953–1974), Paris: Les Éditions de Minuit, 2002. Si veda anche Gilles Deleuze, Félix Guattari, Kafka: pour une littérature mineure, Paris: Les Éditions de Minuit, 1975. 9 | Bergson, non a caso, attribuisce all’ironia una «natura oratoria» e all’umorismo una «natura descrittiva», natura quest’ultima che più si confà alle modalità narrative di entrambi gli scrittori. Cfr. Henri Bergson, Il riso. Saggio sul significato del comico, Roma-Bari: Universale Laterza, 1982, p. 82. 10 | Luigi Pirandello, L’umorismo, Milano: Oscar Mondadori, 1986, pp. 134–140.

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il riso, di cui parlano anche altri autori che si sono occupati di comico, mi riferisco a Kant 11, Freud 12 e, in modo particolare, a Schopenhauer che sostiene: Il riso proviene sempre da una incongruenza subitamente constatata fra un concetto e l’oggetto reale, cui quel concetto, in un modo o nell’altro, ci fa pensare, e non è appunto se non l’espressione di questa incongruenza, la quale si verifica spesso quando due o più oggetti reali sono pensati sotto un solo concetto e sussunti nella sua identità; mentre poi la loro divergenza radicale, evidente per tutto il resto, ci fa capire che il concetto non conveniva che sotto un solo punto di vista. Ma si ride spesso anche quando si scopre d’improvviso una discordanza fra un oggetto reale singolo e il concetto sotto cui è sussunto.13

L’incongruenza, di cui parlano molti studiosi del comico, può essere solo ‹avvertita› e questo avvertimento può creare una risata che è spesso denigratoria nel senso datole da Bergson,14 ma l’improvvisa incongruenza può anche essere ‹sentita› in maniera epifanica. Il sentire un’incongruenza, invece che avvertirla, ha come risultato una comicità tragica che scaturisce da un profondo pessimismo e, a volte, da un vero e proprio nichilismo degli autori che ne fanno uso. La comicità, e il riso che da questa comicità tragica scaturisce, non parte solo dal semplice scherzo, da un’immagine o da un fatto ridicolo. Questo tipo di comicità può partire anche dal grottesco 15 oppure semplicemente da una metafora grottesca. E in questo modo siamo arrivati al tema che ho intenzione di trattare in questo mio saggio, vale a dire l’uso di immagini, metafore o allegorie bestiali in Pirandello e Kafka. A ben vedere, anche questo aspetto è contemplato nella Propedeutica all’estetica di Jean Paul. Secondo lo scrittore tedesco, l’artista ha, tramite il comico, il compito 11 | Immanuel Kant, Critica della capacità di giudizio, a cura di L. Amoroso, Milano: Rizzoli, 1995, pp. 493–494. 12 | Sigmund Freud, Il motto di spirito e la sua relazione con l’inconscio, Milano: Biblioteca Universale Rizzoli, 1983, pp. 61–137. 13 | Arthur Schopenhauer, Il mondo come volontà e rappresentazione, a cura di A. Vigliani, Milano: Mondadori, 1989, p. 108. 14 | Bergson 1982, pp. 14–15. 15 | A questo proposito Bachtin parla di «grottesco romantico»: «A differenza del grottesco medievale e rinascimentale, direttamente legato alla cultura popolare e che aveva un carattere universale e pubblico, il grottesco romantico è un grottesco da camera: è come un carnevale vissuto in solitudine, con la coscienza acuta del proprio isolamento. È come se la percezione carnevalesca del mondo si fosse trasposta nel linguaggio del pensiero filosofico soggettivamente idealistico, e avesse cessato di essere una sensazione vissuta concretamente (si potrebbe dire corporalmente) dell’unità e dell’inesauribilità dell’esistenza come accadeva nel grottesco del Medioevo e del Rinascimento.» Michail Bachtin, L’opera di Rabelais e la cultura popolare. Riso, carnevale e festa nella tradizione medievale e rinascimentale, Torino: Einaudi, 1979, pp. 44–45.

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di rendere l’antitesi produttiva, anche se questa può sembrare un problema o peggio un nodo irrisolvibile. Egli lo deve fare attraverso l’esercizio dell’immaginazione, creando nuovi mondi. Jean Paul ha bisogno, per il suo costrutto teorico, di una definizione di ridicolo e per fare questo segue un ragionamento sillogistico esemplare. L’autore di Siebenkäs e del Titan parte dall’assunto che il miglior modo per analizzare una sensazione è lavorare sul suo opposto. Si chiede quindi cosa sia l’opposto del ridicolo. La risposta è che l’opposto del ridicolo non è né il tragico né il sentimentale, bensì il sublime. Il sublime è il sentimento dell’infinitamente grande, ciò che risveglia l’ammirazione in ognuno di noi. Il ridicolo è invece il sentimento dell’infinitamente piccolo, che ovviamente suscita la sensazione opposta all’ammirazione, cioè la derisione.16 E, si badi bene, questa sensazione non riguarda la sfera morale, ma quella intellettuale. Il ridicolo, dice Jean Paul, è troppo debole per poter attrarre il disprezzo e troppo innocuo per generare l’odio. L’intelletto ne è però colpito, sostanzialmente per la sua mancanza di senso. Dall’insensatezza scaturisce quindi la comicità e il ridicolo, due termini che in Jean Paul sono sovrapponibili. Al comico romantico appartengono allo stesso modo, anche se con sfumature diverse, la satira, l’umorismo, l’ironia, il capriccio. Il comico è pervaso da una simpatia immediata di natura intellettuale, che nell’umorismo si tramuta invece in empatia sofferta e segnata dalla ragione, poiché nell’umorismo stesso, l’immediatezza, che caratterizza il comico, lascia spazio a una profonda e spesso dolorosa meditazione. Jean Paul definisce più chiaramente il concetto, che lui chiama di «simpatia», dichiarando di ricavarlo dalla Teoria dei sentimenti (opera del 1793) di Adam Smith. Smith intende la simpatia come quella particolare facoltà che ci permette, senza abbandonare noi stessi, di immedesimarci negli altri. Quindi, Jean Paul dice che il comico, come il sublime, non dimora nell’oggetto, ma nel soggetto. Ecco perché, per ridere di se stessi, bisogna prendere distanza da sé e guardarsi come oggetto, in altre parole come un altro soggetto diverso da sé, la cui azione può essere intuita o giudicata ridicola. Questo procedimento è spiegato da Pirandello anche teoricamente nel suo celeberrimo saggio sull’umorismo, oltre che più volte tematizzato nelle opere con il motivo del vedersi vivere. In Kafka, invece, è sempre presente nella scelta del tipo di narratore e nel gioco dell’onomastica di alcuni personaggi che si dichiarano subito come Doppelgänger dell’autore. Si pensi a Eduard Raban di Preparativi di nozze in campagna, a Gregor Samsa de La metamorfosi, dove il cognome del protagonista, nel primo caso, propone il significato del cognome Kafka in ceco (trascrizione tedesca di kavka) vale a dire corvo/cornacchia, che in tedesco è Rabe, e, nel secondo caso, gioca con una intuibile somiglianza strutturale del nome Kaf ka/Samsa. In questa sorta di conditio sine qua non affinché si possa realizzare il comico che deve portare all’umorismo, troviamo, per esempio, aspetti fondamentali della costruzione dei personaggi di Mattia Pascal e di Gregor Samsa, che rispettano la 16 | Paul 1994, p. 115.

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costruzione tipica del personaggio con Doppelgänger. E se l’analogia tra Mattia e Gregor può forse far nascere un dubbio, pensando al doppio sotto forma di scara­ faggio del racconto di Kafka, si tenga presente che in questo caso Jean Paul aveva dato un’altra indicazione molto utile qui per capire l’uso che fanno Kafka e Pirandello dei loro bestiari. Jean Paul, infatti, sostiene: Ciò spiega l’erroneità delle definizioni correnti di ridicolo, che si limitano a considerare solo il contrasto reale e non anche quello apparente; ecco perché l’essere ridicolo, con le sue deficienze deve almeno avere la parvenza della libertà, ecco perché ridiamo solo degli animali più intelligenti i quali ci consentono, con un credito di antropomorfismo, di prestare loro una personalità; e perché il ridicolo cresca con l’intelletto della persona ridicola; e perché l’uomo che si eleva al di sopra della vita e dei suoi motivi allestisca per sé la più lunga delle commedie […].17

Franz Kafka sembra proprio tenere conto di questa indicazione nella costruzione del suo personaggio trasformato sì in insetto, ma in un insetto antropomorfo, perché pensante. Gregor/scarafaggio, infatti, anche se è cambiato esteriormente, resta sempre lo stesso nel suo modo di pensare e, almeno all’inizio, anche nei suoi modi di fare. Ed è esattamente questa la più grande incongruenza ridicola che si palesa al lettore de La metamorfosi di Kafka già dall’incipit del racconto. Stupisce, infatti, che un giovane commesso viaggiatore, che si sia appena svegliato trasformato in un immondo insetto, invece di spaventarsi, chiedere aiuto o semplicemente porsi delle domande su questa singolare e orribile trasformazione, si perda nelle tipiche e banali preoccupazioni di un impiegatuccio piccolo-borghese: Dio del Cielo! Pensò. Erano le sei e mezzo e le lancette proseguivano tranquillamente il loro cammino, anzi la mezza era quasi passata e si avvicinavano già i tre quarti. La sveglia non aveva dunque funzionato? […] Ed ora che cosa doveva fare? Il prossimo treno partiva alle sette; per riuscire ad acchiapparlo, bisognava che egli si affrettasse in maniera invero­ simile; il campionario inoltre non era ancora pronto e del resto egli stesso non si sentiva molto fresco e svelto. Ma anche se fosse riuscito a prendere quel treno, un rimprovero del principale non c’era da evitarlo, perché il fattorino della ditta lo aveva atteso al treno delle cinque, e certamente aveva riferito la sua trascuratezza. Era una creatura del principale, senza volontà né comprendonio.18

Gregor sembra essere più preoccupato delle reazioni del suo principale per il ritardo difficilmente spiegabile, e indugia addirittura su considerazioni personali sul collega fattorino che vede come un delatore privo di volontà. E del resto, è proprio questo il compito dell’umorismo, vale a dire quello di dedicarsi all’irrazionale, al 17 | Ivi, p. 123. 18 | Franz Kafka, La metamorfosi, in: Tutti i racconti, a cura di Ervinio Pocar, Milano: Oscar Mondadori, 1070, pp. 158–159.

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brutto e al grottesco, al fine di elaborarne un senso positivo in grado di mostrare come anche questi aspetti della realtà appartengano al nostro mondo di uomini razionali. Se l’uomo, come solevano fare gli antichi teologi, osserva il mondo terreno dal mondo ultraterreno, lo vedrà, minuscolo e vano, passare e allontanarsi: se egli, con il piccolo mondo, unisce il mondo infinito, e misura la sua estensione come suole fare l’umorismo, allora nascerà quel riso in cui ancora alberga un dolore e una grandezza.19

Dall’alto della totalità e dell’idea dell’infinito, il mondo terreno appare come puro nulla, dice Jean Paul nella sua Propedeutica. E nel racconto Giornale di bordo dell’aero­ nauta Giannozzo20 spiega questo concetto filosofico con la bella allegoria di un personaggio che vede il mondo rimpicciolito dall’alto della sua mongolfiera.21 Allo stesso modo farà anche Pirandello con la filosofia del lontano22 del suo dottor Fileno nella novella La tragedia di un personaggio, che invece di una mongolfiera, per capire la realtà, propone il metodo del cannocchiale rivoltato. Il puro nulla è un vuoto che solo l’umorismo, per mezzo dell’idea annientante, sa fare emergere. Questa funzione dell’umorismo viene rafforzata tramite immagini, metafore e allegorie animali in diversi modi. Comincerò qui prendendo alcuni degli esempi più eloquenti dal bestiario di Kafka che è certamente più facile da ritagliare e mettere a fuoco. E ovviamente non si può che continuare con La metamorfosi, probabilmente il racconto più famoso di Kafka, che sembra seguire il consiglio di Jean Paul alla lettera. Lo scarafaggio in cui si è trasformato Gregor Samsa è certamente fornito di un gran credito di antropomorfismo, poiché anche se è un uomo ‹trasformato›, per gran parte del tempo, pensa e si comporta ancora come uomo. Questo lo rende ridicolo, almeno all’inizio, ma poi, anche nell’umorismo kafkiano, abbiamo quello che io chiamo il risus interruptus, vale a dire un momento in cui la comicità viene interrotta e smette improvvisamente di suscitare ilarità nel lettore, per trasformarsi in tragedia. Nel caso dell’incredibile storia di Gregor Samsa, si trasforma in una doppia tragedia, perché non solo assistiamo ad una morte, ma anche alla mancanza assoluta di compassione da parte della famiglia nei confronti di un suo importante componente, un figlio e un fratello. Il credito di antropomorfismo e un’altra trasformazione, anche se nella dire­ zione opposta, la troviamo in modo simile nel racconto Una relazione per un’Acca19 | Paul 1994, p. 136. 20 | Jean Paul, Giornale di bordo dell’aeronauta Giannozzo, Milano: Adelphi, 1981. Il racconto comparve nel 1801 in appendice a Il Titano (1800–1803). 21 | Fausto De Michele, Il significato dell’insignificante e il romanzo umoristico europeo, in: Il punto su Pirandello, Caltanissetta: Edizioni Lussografica, 2017, p. 86. 22 | Luigi Pirandello, La tragedia di un personaggio, in: Id., Novelle per un anno, vol. I, tomo 1, Milano: Mondadori, 1990, pp. 818–819.

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demia.23 In questo racconto una scimmia, che ha imparato a comportarsi come un uomo, parla davanti all’Accademia e dice che da cinque anni ha lasciato la vita da animale per diventare uomo. Qui l’antropomorfismo si realizza in una metamorfosi da animale a uomo. Il passaggio dalla vita animale a quella umana avviene durante un viaggio in mare su una nave affollata da umani troppo umani che si comportano in modo deprecabile: sono rumorosi, sputano per terra, sono pigri, fumano, tossiscono perché affetti da malattie, si ubriacano. Il viaggio è un periodo che divide le due fasi della vita della scimmia e fa da ponte tra la vita da animale e quella da «animale che si comporta da uomo». La scimmia, l’animale che imita per antonomasia, porterà questa sua caratteristica all’esasperazione, e alla fine si comporterà in tutto e per tutto come un uomo. La scimmia abbandonerà completamente la sua esistenza animalesca per diventare un uomo di buona cultura, perché – come sostiene – la sua «natura scimmiesca» metteva in pericolo la sua stessa esistenza. La scimmia è all’inizio un animale comico e grottesco, che scimmiotta gli uomini in modo ridicolo ma, man mano che si antropomorfizza, perderà queste caratteristiche comiche. È interessante che si rida della scimmia finché sembra un omuncolo grottesco,24 deforme e goffo, ma si smetta di ridere non appena nell’animale fa ingresso l’anima razionale umana, che sembra essere di per sé drammatica. Il racconto concentra una serie di metafore e imbastisce una complessa allegoria sulla trasformazione, che richiede un’attenta interpretazione, anche perché ha chiari riferimenti autobiografici che ci invitano ad interpretare la nave come un ospedale e la trasformazione con una sorta di guarigione anche se si tratta di una guarigione grottesca. Oltre ciò, la scimmia trova nella trasformazione una via d’uscita, grazie anche all’arte, infatti una volta arrivata ad Amburgo inizia a la­ vorare nel varietà, cosa che le darà ricchezza e notorietà. Interessante è anche il racconto Giuseppina la cantante ossia il popolo dei topi che si trova in Un digiunatore, una raccolta di racconti scritti e pubblicati per la prima volta a Berlino nel 1922. Qui Kafka costruisce una struttura allegorica di un umorismo ancora una volta grottesco, dove spiega la sua visione dell’arte. Tra tutti i topi, Josephine è l’unica a cantare e, quando lo fa, ogni topo si ferma ad ascoltarla. Josephine è convinta di cantare bene, ma in realtà semplicemente fischia come tutti gli altri topi, anzi, forse peggio degli altri. Solo lei, però, forse perché altezzosa o geniale, o probabilmente semplicemente perché è artista, si distacca dalla condizione di miseria, consacrando tutta se stessa al canto. Il suo allora diventa un fis­ chio che interrompe la monotonia quotidiana e consente agli altri topi di liberarsi, 23 | Il racconto fu pubblicato per la prima volta sulla rivista Der Jude nel 1917 insieme a un altro dei suoi racconti, Sciacalli e arabi, e poi nel 1919 in volume, nella raccolta intitolata Un medico di campagna. 24 | Anche Bergson in proposito sostiene che si ride di un animale solo se assomiglia a un uomo: «Si riderà di un animale, perché si avrà sorpresa in esso una attitudine d’uomo od un’espressione umana.» Bergson 1982, p. 4.

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per un attimo, dalla stanchezza del lavoro e dalla quotidiana lotta per la sopravvivenza. Non importa che sia una topolina arrogante, Josephine finisce per rappresentare l’arte e l’artista. Essa sarà anche destinata a diventare un’eroina del popolo dei topi. E in questa maniera, come capita a molti artisti, verrà prima onorata e poi irrimediabilmente dimenticata. In Pirandello il bestiario è immenso ed è anche frantumato in diverse figure retoriche o tropi. Gli animali compaiono di volta in volta come: metafora, metonimia, catacresi, sineddoche, antonomasia, eufemismo e in allegorie, oltre che come veri e propri personaggi. Nella novella La patente troviamo un uso di similitudini ed eufemismi grotteschi nella descrizione delle reazioni dei colleghi del giudice D’Andrea. Pirandello qui indugia sui loro atteggiamenti che sono poi anche gli atteggiamenti della società che ha emarginato il povero Chiàrchiaro. Ci sono, in particolare, i due avvocati difensori dei denunciati per calunnia che sembrano aver somatizzato la ferocia di cui si parla nell’incipit della novella. Essi sono descritti come due personaggi risibili, due macchiette da farsa: uno magro e pallido dall’aspetto rapace e l’altro grasso dalla pelle chiara da maiale. […] l’esile e patitissimo avvocato Gigli, dal profilo di vecchio uccello di rapina, e il grasso Manin Baracca, il quale, portando in trionfo su la pancia un enorme corno comperato per l’occasione e ridendo con tutta la pallida carnaccia di biondo majale eloquente, prometteva ai concittadini che presto in tribunale sarebbe stata per tutti una magnifica festa. 25

Si potrebbe dire che il grottesco, introdotto qui con il D’Andrea, continui ancora a sottolineare un giudizio negativo del narratore nei confronti di una società ferina. Il Giudice è presentato come persona storta fuori e dritta dentro, un uomo dal corpo «scontorto» e sbilenco, il risultato di «mostruosi intrecci di razze»,26 con un viso smunto da bianco e i capelli da negro, «nessuno però, moralmente, sapeva rigar più dritto di lui».27 In quest’uso di immagini bestiali, per mezzo di tropi e traslati, resta comunque il credito di antropomorfismo di cui parla Jean Paul, ma, per così dire, al contrario, poiché si tratta di personaggi che vengono animalizzati dal narratore. Un credito forte di antropomorfismo è presente anche nelle dinamiche umoristiche della novella Il corvo di Mízzaro, dove l’uccello sembra vendicarsi, come forse farebbe solo un uomo, di Ciché: un personaggio che è un «agelasta», per usare un’espressione di Rabelais,28 perché non sa ridere, non sa apprezzare lo scherzo e per questo viene irrimediabilmente punito:

25 | Luigi Pirandello, La patente, in: Id., Novelle per un anno 1990, p. 571. 26 | Ivi, p. 567. 27 | Ivi. 28 | François Rabelais, Quart Livre, Paris: Gallimard, 1998, pp. 33–35.

Metafore bestiali e metamor fosi moderniste in Pirandello e Kafka Cichè ebbe il torto di non saperne ridere come tutti gli altri contadini, che se n’erano messi in apprensione. 29

Il suo essere drammatico consiste proprio nel suo non capire lo scherzo, per quanto stupido e infantile, e potremmo anche dire nella sua assoluta mancanza di auto­ ironia. Nella novella Il Pipistrello, invece, un impertinente chirottero è protagonista tanto quanto il corvo di Mízzaro, ma si tratta di una chiara metonimia, infatti, il pipistrello, e tutto quello che causa la sua apparizione, simboleggia la vita reale che entra di prepotenza nella finzione, rendendola vera e unica, avvicinandola così alla realtà. Un caso interessante è rappresentato anche dalla tigre dei Quaderni di Serafino Gubbio operatore. Qui la bestia è presente come animale e come obbligata similitudine con la femme fatale. L’attrice Nestoroff raggiunge, infatti, il massimo della caratterizzazione negativa quando viene paragonata alla tigre, la mangiatrice di uomini per antonomasia. Una similitudine tanto più pregnante e viva, visto che tra i personaggi del romanzo figura anche una tigre reale. Personaggio, quest’ultimo, di non poca importanza sia per la superficie del romanzo, data dalla storia, che per il nucleo profondo che sfrutta i giochi di specchi creati dall’anamorfosi. La storia d’appendice – escamotage tipico nella storia della narrazione umoristica – è, in realtà, molto importante perché funzionale al gioco ironico fatto di grottesche immagini riflesse. Sul tema dell’antropofagia, Pirandello propone una vera e propria ridda di sillogismi che si sviluppano su due direttrici, una metaforica e una metonimica. A cominciare dalla metafora della macchina che, creata dall’uomo, finisce per mangiare il suo creatore, per continuare con l’antropofagia reale della tigre che fa da controcanto a quella metonimica della femme fatale mangiatrice di uomini, ma che, a sua volta, s’incrocia con quella metaforica e artificiale della macchina. La cinepresa è la macchina che diventa un orribile ragno nero, e questa, più delle altre macchine, è vicina alla similitudine del meccanismo antropofago, proprio grazie alla sua funzione che consiste nel riprendere la vita, «ingoiandola» per poi imprigionarla per sempre in immagini sulla pellicola. Immagini frammentate in tanti momenti immobili senza vita, che possono essere animate dopo a piacimento e all’infinito da un semplice effetto stroboscopico. Il prodotto finale di quest’operazione, o dovremmo dire di questo efferato banchetto, è la decostruzione del movimento e il confezionamento della vita in «scatole, scatolette, scatolone, scatoline.»30 Quanto di vita le macchine han mangiato con la voracità delle bestie afflitte da un verme solitario, si rovescia qua, nelle ampie stanze sotterranee, stenebrate appena da cupe lan-

29 | Luigi Pirandello, Il corvo di Mízzaro, in: Id., Novelle per un anno, vol. II, tomo 1, 1990, p. 145. 30 | Luigi Pirandello, Quaderni di Serafino Gubbio, in: Id., Tutti i romanzi, vol. I, Milano: Mondadori, 1973, p. 523.

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Fausto De Michele terne rosse, che alluciano sinistramente d’una lieve tinta sanguigna le enormi bacinelle preparate per il bagno. 31 La vita ingojata dalle macchine è lì, in quei vermi solitarii, dico nelle pellicole già avvolte nei telaj. Bisogna fissare questa vita, che non è più vita, perché un’altra macchina possa ridarle il movimento qui in tanti attimi sospeso. Siamo come in un ventre, nel quale si stia sviluppando e formando una mostruosa gestazione meccanica. 32

Qui, di animali, grazie alla prospettiva sfalsata dall’anamorfosi e ai giochi di simili­ tudine e antonomasia, ce ne sono improvvisamente almeno tre: la Nestoroff, donna mangia-uomini come una tigre; la macchina che divora la vita come un ragno dall’insaziabile fame ferina; e, infine, la tigre vera, che non è né metafora né simili­ tudine ma, in quanto unica bestia reale, personaggio non meno importante degli altri nell’economia del romanzo. In ogni caso, resta ancora la presenza, anche in questo frangente, del credito di antropomorfismo, di cui parla Jean Paul, e che qui è dato proprio dall’anamorfosi e dai giochi di prospettiva fatti da rimbalzi di doppi bestiali reali o solo metaforici. I numerosi giochi grotteschi e ridicoli che Pirandello e Kafka fanno con metafore, similitudini e trasformazioni bestiali, di cui qui ho potuto dare, per motivi di spazio, solo pochi, indicativi esempi, sembrano seguire ancora una volta un eloquente aforisma di Jean Paul: Lo scherzo è inesauribile, la serietà no. 33

E questo, a pensarci bene, è l’incommensurabile vantaggio dell’umorista.

31 | Ivi, p. 571. 32 | Ivi. 33 | Paul 1981, p. 123.

»Porque el agua es Proteo« Wasser und sich wandelnder Mythos in der Lyrik von Jorge Luis Borges und José Lezama Lima Nora Zapf

Abbildung 1: Der höllische Proteus von Erasmus Francisci (1695)

Quelle: Bayerische Staatsbibliothek München, 963986 Phys.m. 66, S. 6, urn:nbn:de:bvb:12-bsb10132606-2.

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1. G estalt wandler »Denn der Zauberer wird sich in alle Dinge verwandeln, was auf der Erde lebt, in Wasser und loderndes Feuer.«1 Πρωτεύς, der Meeresgott, der für seine Vielgestaltigkeit bekannt ist, windet sich im Griff von Menelaos. Dieser hat sich wie seine Gefährten als Robbe verkleidet, um so den Gott zu überlisten: »[D]och dieser vergaß der betrüglichen Kunst nicht«.2 Erst verwandelt sich Proteus mit seiner Kunst der Verwandlung in einen Löwen »mit fürchterlich wallender Mähne«,3 dann in einen Leoparden, einen bläulichen Drachen und einen Eber, um kurz darauf als Wasser selbst zu erscheinen und schließlich als rauschender Baum in den Wolken. 4 Proteus scheint in der Telemachie zunächst kaum greif bar, doch unter dem festen Griff von Menelaos verwandelt er sich schließlich zurück in seine eigene Gestalt, wie es ihm die Tochter Proteus’, Eidothea, vorhergesagt hatte. Bereits im Text Homers wird Proteus sowohl mit einem Verwandlungs- und Übersetzungsprozess in Zusammenhang gebracht als auch mit den Elementen des Betrugs, der Verkleidung und der Tarnung. In Lukians Version des Zusammentreffens von Proteus und Menelaos glaubt Letzterer nicht an die Zauberkünste des Meeresgottes, obwohl er sie mit eigenen Augen gesehen hatte. Vor allem zweifelt Menelaos, diese frühe Figur eines ungläubigen Thomas, daran, dass Proteus, der als Meeresgott leicht zu Wasser werden kann, tatsächlich auch als Feuer brennen kann. »Aber wie es möglich sein soll, daß einer, der mitten im Meer lebt, zu Feuer werden könne, das wundert mich sehr, und, aufrichtig zu reden, das glaub ich nicht.«5 Seinen Zweifel an der Kunst des Proteus drückt Menelaos auch durch andere Zuschreibungen aus, so nennt er sie etwa einen »Zaubertrick«, ein »zu täuschen [V]ersteh[en]«, eine »unbegreifliche[] Verwandlungsgabe« oder auch eine »wunderseltsame Sache«.6 Doch obwohl Menelaos an der Wahrheit der Verwandlungskunst Proteus’ zweifelt, will er doch nicht seine Hand ins proteische Feuer strecken – diese Art der Beweisführung scheint ihm dann doch zu riskant. Am Vergleich, der daraufhin zwischen proteischer Verwandlungskraft und der chamäleonartigen Fähigkeit des Tintenfischs gezogen wird (wobei die Tinte auch an das Schreiben erinnert), ist ersichtlich, dass bereits in der Antike eine Verbindung besteht zwischen der Zauberkunst des Verwandelns, für die Proteus symbolisch steht, und dem Schreiben selbst. 1 | Homer, Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß, Frankfurt am Main: Insel, 1990, S. 417–418. 2 | Ebd., S. 455. 3 | Ebd., S. 456. 4 | Ebd., S. 456–458. 5 | Lukian, Gespräche der Götter und Meergötter, der Toten und der Hetären. In Anlehnung an Christoph Martin Wieland, übersetzt und herausgegeben von Otto Seel, Stuttgart: Reclam, 2007 (1967), S. 68–70. 6 | Lukian 2007, S. 68–69.

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Seit Pindar wird der Mythos als ›unwahre Erzählung‹ dem Logos als rationalem Wort antithetisch gegenübergestellt und deutet in seiner Ungreif barkeit und Wan­del­barkeit auch das Lügen und das Abschweifen von der Wahrheit an.7 Michael Rössner bemerkt in Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Zum mythischen Bewußtsein in der Literatur des 20. Jahrhunderts: »[D]as Mythische [hat es] in der üblichen Assoziation […] mit dem Nicht- oder sogar Wider-Vernünftigen zu tun: Von alters her steht der Mythos unter ›Irrationalismusverdacht‹.« 8 Rössner spricht in der Folge daher auch von einer Parallelsetzung von »mythisch/unwahr« oder »mythisch/unvernünftig«,9 was die Verbindung von Mythos und Erfundenem, Erlogenem hervorhebt und sich durch die Geschichte des Verständnisses von Mythen zieht. Die Episode aus der Odyssee, in der Menelaos von der Schwierigkeit berichtet, Proteus zu überlisten und festzumachen, wird in der Geschichte der Literatur selbst ebenso wandelbar wie ihr Gegenstand, ihr Personal. Von Lukian, von Ovid, aber auch von modernen Autoren wie Joyce oder Walcott: Immer wieder wird sie neu abgewandelt erzählt und steht damit stellvertretend für das wandelbare poetische Material der antiken Mythen, der lang überlieferten Erzählungen allgemein. Blumenberg, der die Mythen mit dem musikalischen Terminus eines »Themas mit Variationen«10 fasst, schreibt: Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit. Diese beiden Eigenschaften machen Mythen traditionsgängig: ihre Beständigkeit ergibt den Reiz, sie […] wiederzuerkennen, ihre Veränderbarkeit den Reiz der Erprobung neuer und eigener Mittel der Darbietung.11

Dass es sich bei Proteus, dem Zauberer vom Meer, um einen Gestaltwandler handelt, ist insofern naheliegend, als die verschiedenen Aggregatszustände des Wassers wohlbekannt sind: Eis, Wolke oder Wasser. Damit, vor allem in Zusammenhang mit dem Vorwurf der Lüge, kann Proteus aber auch allegorisch als eine Art Proto-Mythos gelesen werden. Er steht somit für das Wandelbare der antiken Mythen selbst, die in Literatur- und Geistesgeschichte einer konstanten »rielaborazione interpretativa«12 unterzogen sind, wie Attilio Scuderi in Il paradosso di Proteo schreibt. Die Ambiguität des Neuanverwandelns der immer gleichen Mythen be7 | Vgl. Wilfried Barner/Anke Detken/Jörg Wesche, Einleitung. Mythos und Mythentheorie, in: Dies. (Hg.), Texte zur modernen Mythentheorie, Stuttgart: Reclam, 2003, S. 12. 8 | Michael Rössner, Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Zum mythischen Bewußtsein in der Literatur des 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Athenäum, 1988, S. 23. 9 | Ebd. 10 | Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, in: Wilfried Barner/Anke Detken/Jörg Wesche (Hg.), Texte zur modernen Mythentheorie, Stuttgart: Reclam, 2003, S. 194. 11 | Ebd. 12 | Attilio Scuderi, Il paradosso di Proteo. Storia di una rappresentazione culturale da Omero al postumano, Rom: Carocci, 2012, S. 11.

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stehe darin, dass sowohl die Mythos-Narration, als auch der Mythos-Kommentar instabil seien und immer wieder neu übersetzt würden, so Scuderi. Der Mythos-Kern werde so stets in unterschiedliche kulturelle Kontexte und sprachliche Umfelder, die Vergangenheit in die Gegenwart versetzt.13 In den sonst sehr unterschiedlichen Poetiken der modernen Autoren und Zeitgenossen Jorge Luis Borges und José Lezama Lima spielt das Wasser als Element steter Transformation eine herausragende Rolle in Bezug auf die Wandelbarkeit des Wortes und des Mythos, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Borges verfasst eher knappe, sich wiederholende und ihre Einzelteile variierende Gedichte, während Lezama Lima eine neue Form des lateinamerikanischen Neobarock verwirklicht. Wenn auf Griechisch der Mythos als ›gesprochene Rede‹ oder ›Wort‹ verwendet wurde,14 treffen die lateinamerikanischen Dichter mit der gleichzeitigen Verhandlung von Wasser und Mythos auch eine literaturtheoretische Aussage: Die wie Wasser wandelbare (tropfende) Literatur stellt die Literaturgeschichte als ständige Übersetzungsgeschichte dar. Nicht umsonst verweist das Wasser als Ausdehnung auf den Prozess des Über-Setzens selbst,15 den Übertritt an einen anderen Ort und in eine andere Zeit. Das Wasser als Element hingegen weist auf den chemischen Verwandlungsprozess hin, der ebenfalls für eine Übersetzungsbewegung stehen kann. Die Literatur der Antike erstarrt in der Moderne zu Eis, taut wieder auf, lodert wie Feuer und fließt weiter.

2. W asser als G leiches und A nderes bei B orges In der Lyrik von Jorge Luis Borges, deren Entstehungs- und Publikationsgeschichte sich von den ersten avantgardistischen Bänden der 1920er-Jahre über die Großstadt Buenos Aires bis hin zu der letzten, eher philosophisch-historischen Sammlung Los conjurados (1985) über mehr als sechzig Jahre hinzieht, spielt das Wasser immer dann eine bedeutsame Rolle, wenn es um die Wandelbarkeit (der Zeit, des 13 | Ebd., S. 12. »Ogni mitologia è, infatti, al tempo stesso racconto del fatto mitico, originario e ancestrale, e commento, esegesi, progetto di verità; quella di ›mitologia‹ è dunque una nozione quanto mai ambigua e instabile che contiene tanto la mitologia-racconto quanto la mitologia-commento, spesso compresenti e talora difficilmente districabili.« 14 | Wobei sich dieser Beitrag der Schwierigkeit einer Definition von ›Mythos‹ bewusst ist und sich daher auf die engere Definition von Walter Burkert beschränken möchte: »Mythen sind traditionelle Erzählungen.« Walter Burkert, Mythos – Begriff, Struktur, Funktionen, in: Fritz Graf (Hg.), Mythos in mythenloser Gesellschaft: Das Paradigma Roms, Stuttgart/Leipzig: De Gruyter, 1993, S. 16 bzw. als »literarische Mythen« nach Blumenberg 2003, S. 194, also Proteus, Narziss, Arachne u.a. 15 | Vgl. Heidegger, der Übersetzen als Über-Setzen über ein Gewässer versteht. Vgl. Martin Heidegger, Der Anfang des anfänglich Zu-denkenden, Gesamtausgabe, II. Abteilung, Bd. 55: Heraklit, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1979, S. 45.

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Lebens, der Literatur) geht. Zugleich wird dabei das Thema der ewigen Wiederkehr im Sinne Nietzsches bzw. im Sinne Heraklits verhandelt. Das ungenau überlieferte Argument pánta rhei16 des Vorsokratikers Heraklit baut die Vorstellung des Wassers bei Borges auf, das für die Zeit – und somit für das Wandelbare und Bleibende zugleich, für das widersprüchlich Vereinende steht.17 Der Komplex des Wassers kann so bei Borges auch ähnlich wie Deleuzes Konzept der Differenz im Prozess der Wiederkehr verstanden werden: In jeder Wiederholung kehrt das Wiederholte anders, neu, verwandelt wieder.18 Borges entwickelt auch seine Texte selbst nach diesem Prinzip der Wiederholung und Variation, in einer Art ›fluiden Konzeption von Texten‹, das Waisman als Übersetzungsvorgang im Schreiben fasst.19 Das Wasser als Metapher des Übersetzens und Transformierens kehrt in Borges’ Texten stets wieder, und damit verbunden auch die mythische Figur des Proteus als Personifizierung des Wassers. In Zusammenhang gebracht mit Vergänglichkeit und stetem Wandel, imaginiert Borges das Wasser mit immer neuen Gesichtern: »[S]aber que nos perdemos como el río/ y que los rostros pasan como el agua.«20 Dass das Wasser mit unterschiedlichen Gesichtern angefüllt ist, erinnert an die Traumsequenz von De Quinceys English Opium-Eater,21 ebenso wie es bereits an den tausendgesichtigen Proteus denken lässt. Im Gedicht Poema del cuarto elemento aus der Sammlung El otro, el mismo (1964) stellt Borges die Wandelbarkeit des Wassers durch die Figur von Proteus 16 | Vgl. Wilhelm Capelle, Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Capelle, mit einem Geleitwort und Nachbemerkungen von Christoph Rapp, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 92008, S. 94. 17 | Vgl. Fragment 12 von Heraklit: »Wer in denselben Fluß steigt, dem fließt anderes und wieder anderes Wasser zu.« Fragment 16: »Wir steigen in denselben Fluß und doch nicht in denselben; wir sind es, und wir sind es nicht.« Fragment 18: »Ein und dasselbe offenbart sich in den Dingen als Lebendes und Totes, Wachendes und Schlafendes, Junges und Altes. Denn dieses ist nach seiner Umwandlung jenes, und jenes, wieder verwandelt, dieses.« (zit. nach Capelle 2008, S. 98–99). 18 | Vgl. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München: Fink, 1997. 19 | Sergio Gabriel Waisman, Borges and Translation. The Irreverence of the Periphery, Lewisburg: Bucknell University Press, 2005, S. 46: »By focusing on shifts in meaning that occur as a text is displaced through time (diachronically) and space (synchronically, geographically), Borges is beginning to develop a fluid conception of texts with relation to their contexts and readers.« 20 | Jorge Luis Borges, Poesía completa, Barcelona: Lumen, 2011, S. 150, V. 3–4. 21 | Thomas De Quincey, Confessions of an English Opium-Eater. To which is added The Daughter of Lebanon, forming part of »Suspiria de Profundis«, in: De Quincey’s Works, Bd. 5, London: James Hogg & Sons, 1856, S. 266. »But now that affection, which I have called the tyranny of the human face, began to unfold itself. [...] [N]ow it was that upon the rocking waters of the ocean the human face began to reveal itself; the sea appeared paved with innumerable faces, upturned to the heavens; […].«

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dar. In den neun Strophen zu je vier Versen werden verschiedene Gewässer, Flüsse, Meere sowie unterschiedliche geografische Räume miteinander verbunden. Typisch für die Mystik scheint jener Katalog so verschiedener Orte (wie auch bei Whitman) zu sein, die nach ihrer Artikulation wie sofort wieder verschwunden wirken.22 Von Borges als benanntem lyrischen Ich aus konstruiert sich eine assoziative Reise durch das Wasser, die Subjektives (seine Träne, die Erinnerung an die argentinischen Arrabales, seinen Vater, sein Totenbett) und Welt (verschiedene Geografien, wie etwa Mittelmeer, Nordsee oder Ganges) zusammenbringt. Die Figur des Proteus steht zu Beginn des Gedichts und ist Programm für die Verwandlung von Orten und Zeiten. In der Gleichung agua = Proteo teilen sich Wasser und griechischer Gott das gleiche Zauberelement der Wandelbarkeit. El dios a quien un hombre de la estirpe de Atreo apresó en una playa que el bochorno lacera, se convirtió en león, en dragón, en pantera, en un árbol y en agua. Porque el agua es Proteo. 23

Borges erzählt in diesem ersten Teil des Gedichts die Episode der Odyssee wieder, allerdings passt er die Reihenfolge der Verwandlungen dem Rhythmus und Reimschema des Gedichtes an. Dass am Ende der asyndetischen Transformationskette hier das Wasser steht, ist kein Zufall, da sich die Gleichung von Element und Personifizierung direkt anschließt. In einem spontan wirkenden Wechsel von Zeiten in den Verben, die zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unvermittelt hin und her springen, zeigt sich die Verwandlung. So auch im Wechsel von direkter Ansprache an das Wasser (es könnte auch als Ode oder Hymne gelesen werden) und einer Beschreibung in dritter Person Singular. Das Wasser ist (immer wieder) die Wolke,24 der sich rot verdunkelnde Sonnenuntergang,25 der Maelström und die unnötige Träne.26 Das Meer war zugleich der heimliche Anfang der Erde,27 war (schon immer) das verderbliche Labyrinth ohne Mauern, dessen graue Wege einst Odysseus vom Weg abbrachten: »Fuiste, bajo ruinosos vientos, el laberinto/ sin muros ni ventana, cuyos caminos grises/ largamente desviaron al anhelado Ulises.«28 Das Wasser, das den Planeten porös macht und das eigentlich eine einzige zusammenhängende Wassermasse bildet, dieses Wasser mit den vielen Gesichtern De Quinceys (wie oben) bittet der Dichter zum Schluss des Ge22 | Vgl. Michael Rössner, La traducción de lo indecible. Borges y la mística, in: Alfonso de Toro (Hg.), Borges poeta, Hildesheim: Olms, 2010, S. 72. 23 | Borges 2011, S. 177, V. 1–4. 24 | Ebd., S. 177, V. 5: »la irrecordable nube«. 25 | Ebd., S. 177, V. 6: »del ocaso que ahonda«. 26 | Ebd., S. 177, V. 7–8: »es el Maeström […] / y la lágrima inútil«. 27 | Ebd., S. 177, V. 9: »Fue, en las cosmogonías, el origen secreto«. 28 | Ebd., S. 177, V. 17–19.

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dichts, es möge seine Lippen tränken im letzten Augenblick. »Agua, te lo suplico. […]/ [A]cuérdate de Borges, tu nadador, tu amigo./ No faltes a mis labios en el postrer momento.«29 Der Kern dieser intertextuell angereicherten Verwandlungsreihe des Wassers, das mal Wolke, mal Glanz der Säbel, mal Labyrinth von Odysseus oder Spiegel von De Quincey sein kann, ist eigentlich ein sprachlicher: El mar y la moviente montaña que destruye a la nave de hierro sólo son tus anáforas, y el tiempo irreversible que nos hiere y que huye, agua, no es otra cosa que una de tus metáforas. 30

Hier verbindet Borges das Meer, seine Wandelbarkeit und Wiederholungsstruktur mit der Struktur der Sprache. Dabei vergleicht er in einer Art »aquatischen Sprachlehre« Meer und Welle mit der Anapher als wiederkehrendem rhetorischem Element, während er in der gleichen Strophe auf eine strukturelle Ähnlichkeit von Wasser als Metapher und Zeit aufmerksam macht. Die Anapher als Rückführung31 auf vorher Gesagtes durch Wiederholung steht hier also für die Wiederkehr des Wassers in der Welle, wobei die Anapher, die sich stets am Vers­ anfang wiederholt, auch auf die Phylogenese und die Ursprünge des Menschen aus dem Wasser hinweist. Die Metapher als Übertragung32 von einem Bedeutungsbereich auf den anderen hingegen deutet auf eine Übersetzungsbewegung hin, auf den Gestaltwandel in der Zeit. Während das Meer oder die Welle die äußere Form ist, die das vierte Element annimmt, sind das Wasser und die Zeit selbst das, für was dieses Element steht. Nimmt das Wasser äußerlich die Form von Meer oder Welle an, worauf Schiffe tanzen, dann steht das Wort »Wasser« – im übertragenen Sinn – für Konzepte wie Zeit. Damit deutet Borges auch Wandelbarkeit und Kreativität von Sprache ebenso wie ihre Wiederholungsstruktur an. Aus Wiederkehr (Anapher) und Übertragung bzw. Gestaltwandel (Metapher) setzt sich das Wasser ebenso wie die Sprache zusammen. Die beiden Gedichte Proteo und Otra versión de Proteo aus dem Gedichtband La rosa profunda (1975) stellt Borges ähnlich gegenüber wie die beiden Meer-Gedichte von 1964 und 1972, nämlich in einer Art von Spiegelung bzw. Übersetzung. Diese Spiegelung veranschaulicht einmal mehr das Prinzip von Wiederholung und Neukontextualisierung, das typisch ist für das Schreiben Borges’. So handelt es sich bei beiden Texten um Sonette, die in endecasílabos und in ähn­ licher Reimfolge abgefasst sind (abba cddc). Kern der beiden Gedichte ist die Formel

29 | Ebd., S. 178, V. 33–35. 30 | Ebd., S. 177, V. 13–16. 31 | Griech. ἀναφορά heißt in etwa ›Zurückführen‹, ›Rückbezug‹. 32 | Griech. mεταφορά heißt in etwa ›Übertragung‹, ›Übersetzung‹.

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der Eigenschaft von Proteus als »inasible forma«,33 als ›nicht greif bare Gestalt‹. Hier die beiden Versionen der Verwandlungsreihen von Proteus hintereinander: Urgido por las gentes asumía la forma de un león o de una hoguera o de árbol que da sombra a la ribera o de agua que en el agua se perdía. (Version 1) Atrapado, asumía la inasible forma del huracán o de la hoguera o del tigre de oro o la pantera o de agua que en el agua es invisible. (Version 2)

Verwandelt sich Proteus in der ersten Version des Gedichts in Löwe, Feuer, Baum und Wasser, nimmt er in der zweiten Version erst die Gestalt des Orkans an, um dann in Feuer, Tiger und Leopard zu wechseln und sich schließlich auch in Wasser zu verwandeln. Die Übersetzungsreihe in die erst vier, dann fünf Gestalten steigert sich in beiden Versionen bis in die Gestaltlosigkeit: Das Wasser, das sich im Wasser verliert, steht je am Ende der Verwandlung. Beide Versionen befassen sich mit der Gabe der Prophetie von Proteus, der in die Zukunft blicken kann: »[…] saber lo que ya encierra/ el porvenir […].«34 Während die erste Version eher auf den einfachen idyllischen Robbenhirt Proteus mit seinen Wasser-Wiesen schaut, bezeichnet die zweite ihn als »mitad dios y mitad bestia marina«,35 als Mischwesen also. Beide jedoch fokussieren auf den Wandel von Proteus, also Meer, also Zeit: »Nuestra historia/ cambia como las formas de Proteo.«36

3. »[…] una M isma A gua D iscursiva« bei L ez ama L ima Anders als Borges beschäftigt sich José Lezama Lima nicht ausdrücklich mit dem Mythos des Proteus. Nichtsdestotrotz besteht seine Vorstellung des Mythischen, gekoppelt an die Imagination von Wasser, in dem hier behandelten Gedicht ebenfalls in einem sich stets wandelnden Fließen. Die vielen Gesichter des Wassers kehren bei Lezama Lima wieder, allerdings hier verbunden mit dem Mythos von Narziss. Die von Lezama Lima als »eras imaginarias«37 bezeichneten Epochen der Geschichte einer Kultur (hier: der kubanischen bzw. panamerikanischen) sind dem 33 | Borges 2011, S. 406, V. 3 und S. 407, V. 9–10. 34 | Ebd., S. 407, V. 6–7. 35 | Ebd., S. 407, V. 2. 36 | Ebd., S. 224, V. 7–8. 37 | José Lezama Lima, Mitos y cansancio clásico, in: La expresión americana, Madrid: Alianza, 1969. S. 11.

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linearen, fortschrittsgläubigen Geschichtsbild entgegengesetzt und können unterschiedliche Epochen und Orte miteinander verbinden durch eine Art »proyección retrospectiva«,38 etwa durch motivische oder mythologische Parallelen. So wird Geschichte zur immer wieder neu änderbaren Imagination, zum neu erlebbaren Ereignis: Räume und Zeiten werden verknüpft, die weit auseinanderliegen. Die historische Perspektive, die Lezama Lima vertritt, ist eine, die sich fundamental auf Mythen und kulturellen Bildern auf baut, die immer wieder kontrapunktisch verbunden werden: »[…] la visión histórica, que es ese contrapunto o tejido entregado por la imago, por la imagen participando en la historia.«39 Für Lezama Lima ist eine historische Auffassung stets eine Technik des neuen Erzählens alter Bilder und Geschichten, die dann mit neuem Gesicht erscheinen:40 »Todo tendrá que ser reconstruido, invencionado de nuevo, y los viejos mitos, al reaparecer de nuevo, nos ofrecerán sus conjuros y sus enigmas con un rostro desconocido.« 41 In Lezama Limas frühestem, poetologischen Langgedicht Muerte de Narciso (1937), in dem Mythen aus dem Nildelta des alten Ägyptens gemischt werden mit griechischen und römischen sowie indigenen kubanischen Mythen, wird das Wasser zu »una misma agua discursiva«. 42 Das Wasser, das im Text beschrieben wird, ist ähnlich wie bei Borges eines und ein anderes: Es werden Flüsse erwähnt, Seen, Meere, Tränen und Tau. Das Wasser wird zum verbindenden Element, das sich immer wieder in neue Assoziationen verwandeln und somit Orte und Zeiten über die Imagination kontrapunktisch verbinden kann. Lezama Lima weist damit auf eine überkulturelle Kontinuität des Denkens, auf übergeografische Ähnlichkeiten mythologischen Erzählens hin. In dem Gedicht über Narziss findet ein barocker Bilderregen statt, der dem Goldregen des Zeus im Zimmer der Danaë ähnlich ist, mit der das Gedicht beginnt. Danaë , die in der Literatur des Mittelalters auch ein anderer Name für Echo war, webt die vergoldete Zeit in den Nil, wobei Lezama Lima wie Borges in seinen Gedichten den Fluss und die Zeit verknüpft: »Dánae teje el tiempo dorado por el Nilo.« 43 Die Tätigkeit des Webens bezieht sich hierbei ebenso auf das Zusammenfügen der Zeit selbst, die die Prinzessin (wie die Moiren den Schicksalsfaden) verwebt, wie auch auf den Nil. Danaë flickt den Nil zusammen, den Nil eines goldenen Zeitalters (z.B. der Ägypter). Dieser erste Vers des Gedichtes über Narziss enthält viele verschiedene semantische Schichten über die Moiren, Arachne, über Proserpina und Perseus (als Sohn von Danaë, der 38 | Ebd., S. 11. 39 | Ebd., S. 10. 40 | Vgl. Natascha Ueckmann, Ästhetik des Chaos in der Karibik. ›Créolisation‹ und ›Neobarroco‹ in franko- und hispanophonen Literaturen, Bielefeld: transcript, 2014, S. 177. 41 | Lezama Lima 1969, S. 18–20. 42 | José Lezama Lima, Poesía completa, Barcelona: Barral editores, 1975, S. 21. Hier aus dem Gedicht Ah, que tú escapes. Alle folgenden Zitate stammen aus dem Gedicht Muerte de Narciso. 43 | Ebd., S. 11, V. 1.

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mit ihr zusammen in einem Korb im Wasser ausgesetzt wird wie später Moses). Der Gleichklang von »Nilo« und »hilo« lässt auch an den Faden denken, der zum Zusammenfügen der Mythen bestimmt ist. Bereits in dieser ersten Zeile evoziert Lezama Lima also eine Fülle von Metaphern und Mythen, die alle im Element des Wassers zusammenkommen und die in den Bildern verknüpft werden. Dánae teje el tiempo dorado por el Nilo, envolviendo los labios que pasaban entre labios y vuelos desligados. La mano o el labio o el pájaro nevaban. 44

Hier werden Lippen und Wasser wie bei Borges zusammengebracht, wobei Lezama Lima mit dem »vuelo desligado« von Zeus auch die Sinnlichkeit andeutet. Die Verben »envolver« (›einhüllen‹, ›einwickeln‹) und »desligar« (›losbinden‹, ›entwirren‹) deuten auf das Stoffliche des Flecht- wie des Schreibvorganges hin. Die Lippen werden ineinander eingewickelt, ebenso wie die Mythen. In den nächsten Strophen scheinen immer wieder glatte Oberflächen oder die Feuchtigkeit des Wassers auf und verweisen damit auf den Spiegel des Narziss sowie auf dessen Untergang im Wasser. So wird des Öfteren das Material Marmor erwähnt, das wiederholt mit den semantischen Feldern von Kühlheit und Grab verwoben wird. Narziss als Sohn einer Wassernymphe und eines Flusses verliebt sich im antiken Mythos nach Ovid in sich selbst statt in die »wiederhallende Nymphe Echo«, 45 die in ihn verliebt ist. Von Echo bleibt nach der Zurückweisung durch Narziss nur ihre stets wiederholende Stimme. Narziss jedoch ist nur mit sich selbst beschäftigt und erblickt sein Spiegelbild am »lauteren Quell, mit silber­ hellem Gewässer«, 46 müde vom Jagen der Hirsche: Während den Durst zu löschen er strebt, wächst ein anderer Durst nach./ Während er trinkt, von dem Bilde gesehener Reize bezaubert,/ Liebet er nichtigen Trug; und Leib erscheint ihm der Schemen./ Selber staunt er sich an; unbewegt in einerlei Stellung/ Haftet er, wie ein Gebild aus parischem Marmor gemeißelt. 47

Bereits in Ovids Text wird der Marmor angesprochen. Auffällig ist, dass Lezama Lima das Gedicht über den selbstverliebten Narziss mit einer weiblichen Mythenfigur beginnen lässt, die das Wasser zusammenwebt, verknüpft und damit auf den »nichtigen Trug« im Wasser hinweist, das sich immer wandeln kann. So wird 44 | Ebd., S. 11, V. 1–4. 45 | Publius Ovidius Naso, Metamorphosen. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. Mit den Radierungen von Pablo Picasso und einem Nachwort von Bernhard Kytzler, Frankfurt am Main: Insel, 1990. S. 77. 46 | Ebd., S. 79. 47 | Ebd.

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Danaë von vornherein zu einer anderen Art von Narziss, zu einer produktiven, weiblichen Version seiner selbst und evoziert gleich zu Beginn eine Vielzahl anderer Gesichter aus Mythen im Spiegelbild des Wassers (Zeus, Perseus, Andromeda, Arachne, die Moiren, Moses, etc.). Die Befruchtung durch den Goldregen kommt einer Befruchtung durch Mythen gleich, die sich stets ineinander verwandeln und sich so auch immer gegenseitig enthalten. Das Gedicht ist zwar durchzogen von Andeutungen auf die Situation der Gefangenschaft von Danaë, doch oftmals befindet sich das Gedicht auch im freien Flug, über Spiegeln und Gewässern, was auch zu Lezama Limas Inseltheorie passt. Immer häufiger tauchen im Gedicht auch Inseln auf, Inseln, die sich im Herbst wiederholen wie von den Bäumen heruntergefallene Blätter. 48 Mit der häufigen Wiederholung der Inseln im Gedicht überführt Lezama Lima schließlich den antiken Mythos in die karibische Inselwelt. Die Figur der Schnecke, »caracol«, 49 die innerhalb der vierten Strophe drei Mal genannt wird (Lezama Lima arbeitet im Gedicht überhaupt mit vielen Wortwiederholungen), wird ebenso zum verbindenden Element wie das Flechten vom Beginn des Textes. Eingewoben oder eingedreht sind die Schichten des Textes und der Mythen, die darin Erwähnung finden. Das proteische Wasser, in dem sich Narziss betrachtet, wandelt sich immer wieder: Es wird zu Eis oder Schnee und deutet den Winter an, dann regnet es golden herunter wie im Herbst, kurz darauf scheint das beschriebene Wasser sommerlich zu sein, von grünen Pflanzen durchzogen, und auch der Frühling wird an einer Stelle evoziert durch das Auf blühen der Lotusblüten. Der Gestaltwandel des Wassers zeigt sich auch an den sich wandelnden Jahreszeiten, wobei sich im Sommer die für das Narziss-Motiv typische Wasser-Feuer-Thematik erkennen lässt: Narziss’ Liebe wird entbrannt vom Wasser, in dem er später ausgelöscht wird.50 Dagegen weist der Winter, das Eis und der Schnee auf das Grabhafte und Starre des Spiegelbilds von Narziss hin. Die Verwandlung wird angehalten; wie der Marmor widerspricht er der weiteren Transformation. Doch nicht nur die Jahreszeit, auch das Geschlecht und das Gesicht von Narziss wandeln sich, denn Danaë-Narziss scheint eine hermaphroditische Figur aus Kuba zu sein. »El río en la suma de sus ojos anunciaba/ lo que pesa la luna en sus espaldas y el aliento que en halo convertía.«51 Am Rande der Gewässer verwandeln sich die Gesichter und das Wasser selbst, wie der von Borges zitierte Quincey: Der Fluss schaut mit tausend mythischen Augen zurück; er ist mal Fluss, mal Teich, mal Meer oder Träne,

48 | »Ya el otoño recorre las islas no cuidadas, guarnecidas,/ islas y aislada paloma muda entre dos hojas enterradas«. Lezama Lima 1975, S. 12, V. 37–38. Siehe auch »La isla que se repite« von Benítez Roja (1931). 49 | Lezama Lima 1975, S. 11, V. 28 und S. 12, V. 31–32. 50 | Vgl. Lutz Walther (Hg.), Antike Mythen und ihre Rezeption. Ein Lexikon, Stuttgart: Reclam, 22009, S. 145. 51 | Lezama Lima 1975, S. 12, V. 39–40.

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und ist angefüllt mit vielen verschiedenen Inseln und Tieren.52 Im Zentrum dieser Verwandlungsreihen steht hierbei das Verb »convertir«. Die endgültige Verwandlung der Narziss-Figur vollzieht sich jedoch erst zum Schluss des Gedichts: Dort erstarrt Narziss, wie schon im antiken Mythos angelegt, zu einer Marmorstele. Si se aleja, recta abeja, el espejo destroza el río mudo. Si se hunde, media sirena al fuego, las hilachas que surcan el invierno tejen blanco cuerpo en preguntas de estatua polvorienta. […] Narciso, Narciso. Las astas del ciervo asesinado son peces, son llamas, son flautas, son dedos mordisqueados. Narciso, Narciso. Los cabellos guiando florentinos reptan perfiles, labios sus rutas, llamas tristes las olas mordiendo sus caderas. 53

Der Körper von Danaë-Narziss erstarrt zu einer kalten »estatua polvorienta«. Die wiederholte Anrufung von »Narciso« klingt bereits wie ein Totengesang und erinnert an die Anapher bei Borges, an die Wiederholungsstruktur des Wassers. Außerdem schließt sich eine Reihung an, die an Borges’ Version von Proteus erinnert: Das Horn des erjagten Hirsches verwandelt sich im Spiegel des Wassers in Fische, Flammen, Flöten oder Finger. Auch das Gesicht wird zur Aneinanderreihung von »cabellos«, »perfiles«, »labios«, »caderas«. Teile des Gesichts kommen im ganzen Gedicht immer wieder vor, wie die Lippen, die Stirn, das Profil, das feuchte oder lockige Haar, auch das Schauen bzw. sein Gegenteil, die Blindheit. Schließlich geht Narziss wie im antiken Mythos unter, und das Wasser wird zu seinem Grab: »Estirado mármol como un río«.54 Narziss versinkt in seinem eigenen Mythos, sein Bild wird zur Stele, zur Kunst. Hier verwandelt sich Narziss nicht in eine Narzisse, die im Wort »narciso« ohnehin mit enthalten ist, sondern das Wort »espejo«, das im Gedicht insgesamt 13 Mal Verwendung findet, wird zum Schluss hin verwandelt in »estela«.55 Die Körperteile von Narziss, die sich immer wieder im Wasser spiegeln, versteinern zunehmend und werden schließlich zu Marmor, zum Spiegelbild selbst. Das, was eigentlich flüchtig war, verfestigt sich und wird so zu einer Kunst des Gedächtnisses. Die Materie des Steins widerspricht dem fluiden Element des Wassers und lässt sich doch von letzterem aushöhlen. »Así el espejo averiguó callado, así Narciso en pleamar fugó sin alas.«56 So schweigt Narziss’ Spiegel zum Schluss, so flieht er in der Flut ohne Flügel. Narziss, der seit dem späten 18. Jahr52 | Vgl. ebd., S. 12, V. 41–48. Es kommen Fische, Schlangen, Windhunde, Fasane vor, die sich spiegeln, verdoppeln, die alle mit ihrem Echo oder Spiegelbild ausgestattet sind. 53 | Ebd., S. 14–15, V. 94–96; V. 113–116. 54 | Ebd., S. 13, V. 77. 55 | Ebd., S. 16, V. 135. 56 | Ebd., S. 16, V. 136.

»Porque el agua es Proteo«

hundert auch als Dichter- bzw. Künstlerfigur verstanden wird, stürzt sich also erst in Gewässer der mythischen Fäden und vielen Gesichter, und dann erstarrt er einen Moment, aber nur, um selbst als Kunst verewigt zu werden, um als verfestigter Mythos in neuer Gestalt zu erscheinen, dazustehen, zu wirken. Dass die »alas«, auch wenn sie negiert scheinen, am Ende des Gedichtes stehen, steht dafür, dass der Mythos des Narziss mit diesem Text eine konkrete Form gefunden hat (wie die Statue im Wasser), dass er aber weiter flieht bzw. fliegen wird. So wie sich der eine Mythos verfestigt, so fließt er als ganzer Mythos doch weiter und verdeutlicht so das Paradoxe der Mythengestalten.

4. D as W asser als my thische Ü berse t zungsfigur Der von Erasmus Francisci im 17. Jahrhundert als teuflischer Proteus bezeichnete Meeresgott, den er auch den »Tausendkünstige[n] Versteller«, »verdammte[n] Schauspieler oder auch »Betrieger« [sic] nannte, kann allegorisch gelesen werden für die Wandlungsfähigkeit der Einzelmythen allgemein. Er steht also als Protomythos. Und dies nicht zuletzt durch seine Verbindung mit dem wandelbaren Element des Wassers, an dessen Rand er die Robben hütet. In Borges’ und Lezama Limas Gedichten werden im Wasser verschiedene Gesichter, Geschichten und Mythen sichtbar, um dann wieder abzutauchen und sich in andere zu verwandeln. So deutet das Wasser auf die Wandelbarkeit der Zeit und der Mythen hin. Was Borges in unterschiedlichen Versionen des Proteus in seinen Gedichten zeigt, macht Lezama Lima erfahrbar an der synkretistischen Umwandlung bzw. dem Zusammenfließen verschiedener Mythen um die Figur des Narziss, der sich im Wasser spiegelt, sich in sein Spiegelbild verliebt und darin schließlich einfriert. Doch er erstarrt nicht nur, er wird so auch verewigt im Kunstwerk über ihn selbst, das in jedem Konkretisieren ein Abstraktes birgt, das »weiterfliegt«, sich weiter verwandelt. Beide lateinamerikanischen Dichter arbeiten in diesem Zusammenhang mit der Metamorphose von Körpern, die sich entweder im Wasser, am Wasser oder im Spiegelbild des Wassers verwandeln. Wie Narziss zu Stein wird und als solcher trotzdem fliegt, wird Proteus zu Wasser oder Feuer, zum Baum oder zum Löwen. Damit verweisen die beiden Dichter nicht nur auf die Wandlungsfähigkeit der antiken Mythen und deren Übersetzung in moderne Subjektkonstruktionen (Borges, der als lyrisches Ich durch den Ganges, den Euphrat, den Malström schwimmt, dessen Träne Erinnerung enthält bzw. Narziss, der als Künstlerfigur auch für Lezama Lima stehen kann), sondern sie deuten auch auf die Geschichte der Mythen, dieser nie auserzählten Lügengeschichten, hin, die wie Proteus nicht festzuhalten, sondern nur immer wieder neu erzählbar sind – in unterschiedli-

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chen Zeiten und Räumen. Denn, wie es Balzac schreibt: »Wer vermöchte einen solchen Proteus zu erfassen?«57

57 | Honoré de Balzac, Ferragus, das Haupt der Verschworenen, in: Geschichte der Dreizehn. Aus dem Französischen von Ernst Hardt. Neu durchgesehen von Erika Wesemann, Frankfurt am Main/Leipzig: Insel, 1996, S. 94.

Auf der Suche nach dem verlorenen Einhorn Überlegungen zur Fantastik von Adolfo Bioy Casares und Jorge Luis Borges Laura Kohlrausch

Die lateinamerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts ist in besonderem Ausmaß geprägt von einem Rückbezug auf die präkoloniale Vergangenheit des Kontinents. In zahlreichen Texten der sogenannten Boom-Zeit Mitte des Jahrhunderts findet man diesen Konnex nicht nur motivisch aufgegriffen, sondern auch durch das, was Michael Rössner mit dem Begriff der »mythisch-magische[n] Denkstrukturen«1 gefasst hat: eine (Re)Integration von a-rationalen Elementen in das rationale Denken, inspiriert einerseits durch die lateinamerikanischen Selbstfindungsbewegungen, die die eigene kulturelle Vergangenheit zu integrieren suchen, andererseits durch das wachsende Unbehagen am rein vernunftgesteuerten Denken, das sich in Europa ab dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt. Die gemeinsame »Ablehnung der Alleinherrschaft der Ratio« führt zur Suche nach einer »harmonische[n] Koexistenz mit anderen Formen der menschlichen Welt­ erfassung«,2 die in der lateinamerikanischen Literatur unter anderem durch die ästhetische Verarbeitung von Mythen und Ritualen vermittelt werden. Obwohl Jorge Luis Borges eine zentrale Rolle in der Entwicklung der lateinamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts zugeschrieben wird, finden sich bei ihm und Adolfo Bioy Casares kaum mythisch-magische Denkstrukturen oder Motive aus den Indio-Kulturen,3 während etwa Julio Cortázar, der sich wie Borges und Bioy des Genres der Fantastik bedient, in Texten wie La noche boca arriba, El ídolo de las cicladas oder Axolotl einen deutlichen Bezug zu Mythos und Ritus 1 | Michael Rössner, Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Zum mythischen Bewußtsein in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Athenäum Verlag, 1988, S. 249. 2 | Ebd., S. 284. 3 | Vgl. ebd., S. 250.

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herstellt. Dennoch sind auch ihre Texte, in mancher Hinsicht sogar noch stärker als jene von Cortázar, geprägt von einer suchenden Bewegung. Diese inszenierte Suche stößt den Rezipienten – so die Vermutung, die dieser Untersuchung zugrunde liegt – ebenfalls auf eine alternative Weise, die Realität zu betrachten, gleichermaßen geboren aus einem Misstrauen gegen die reine Ratio. Die Analyse einiger Erzählungen von Borges und Bioy soll die dort anklingende Denkweise veranschaulichen.

I nszenierung der S uche Die Protagonisten von Borges und Bioy befinden sich ständig auf der Suche. Oft ist der gesuchte Gegenstand ein Buch oder ein Abschnitt aus einem Buch, wie in Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. Oder die gesuchte Antwort auf ein unerklärbares Rätsel findet sich in einem Buch – so der Fall in La trama celeste, dessen Protagonist unerklärliche Ereignisse mithilfe von Louis-Auguste Blanquis L’Éternité par les astres erklärt. Gesucht wird jedoch auch nach dem ewigen Leben (El inmortal), nach einer Person mit dem Nachnamen Albert (El jardín de senderos que se bifurcan), nach der Lösung eines selbst konzipierten Rätsels (La muerte y la brújula), nach der Bedeutung zweier Begriffe bei Aristoteles (La busca de Averroes) oder einer Nachricht Gottes (La escritura de dios). Auch die Parodien auf den klassischen Detektivroman, welche die Autoren gemeinsam unter dem Pseudonym Honorio Bustos Domecq veröffentlichen, inszenieren Suchbewegungen. 4 Borges’ Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, die den Erzählband Ficciones einleitet, ist ein Paradebeispiel für die textuelle Inszenierung einer Suche. Sie beginnt mit einem Gespräch des Erzählers mit seinem Freund »Bioy Casares«.5 Ein Zitat eines Häresiarchen der Region »Uqbar«6, das ›Bioy‹ in die Unterhaltung einbringt, weckt das Interesse des Erzählers, woraufhin die beiden die von ›Bioy‹ erinnerte Quelle des Zitats, The Anglo-American Cyclopedia,7 konsultieren. In der ihnen vorliegenden Ausgabe findet sich jedoch keine Spur eines Artikels über eine Region namens Uqbar, weshalb der Erzähler Zweifel an der Existenz der Region und des Lexikonartikels äußert. Einen Tag später meldet ›Bioy‹, er hätte den Artikel im Band XXVI seiner eigenen Ausgabe der Anglo-American Cyclopedia gefunden, obwohl die alphabetische Angabe auf dem Buchrücken den Eintrag

4 | Vgl. Marta Susana Domínguez, Las parodias satíricas de Jorge Luis Borges y Adolfo Bioy Casares, Bahía Blanca, Argentina: Ed. de la Univ. Nacional del Sur, 2010. 5 | Jorge Luis Borges, Ficciones, Madrid: Alianza, 1997, S. 13. Im Folgenden wird auf Figuren, die an reale Personen angelehnt sind, in einfachen Anführungszeichen verwiesen, um Unklarheiten zu vermeiden. 6 | Borges, Ficciones, 1997, S. 14. 7 | Ebd.

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eigentlich ausschließt. Statt es nun aber bei diesem Befund zu belassen, steigen die beiden in eine literarische Spurensuche ein: Leímos con algún cuidado el artículo. El pasaje recordado por Bioy era tal vez el único sorprendente. El resto parecía muy verosímil, muy ajustado al tono general de la obra y (como es natural) un poco aburrido. Releyéndolo, descubrimos bajo su rigurosa escritura una fundamental vaguedad. De los catorce nombres que figuraban en la parte geográfica, sólo reconocimos tres –Jorasán, Armenia, Erzerum–, interpolados en el texto de un modo ambiguo. De los nombres históricos, uno solo: el impostor Esmerdis el mago, invocado más bien como una metáfora. La nota parecía precisar las fronteras de Uqbar, pero sus nebulosos puntos de referencia eran ríos y cráteres y cadenas de esa misma región. 8

Neben der genauen Lektüre des Artikels ziehen die Figuren noch weitere Bücher hinzu, um Uqbar habhaft zu werden: »Esta noche visitamos la Biblioteca Nacional. En vano fatigamos atlas, catálogos, anuarios de sociedades geográficas, memorias de viajeros e historiadores: nadie había estado nunca en Uqbar.«9 Die einzige Spur in der ansonsten erfolglosen Suche ist die Bibliographie des Enzyklopädieartikels, die vier Bücher beinhaltet, von denen eines, »Silas Haslam: History of the Land Called Uqbar«10 in einem den Figuren bekannten Bibliothekskatalog auftaucht und ein anderes, »Lesbare und lesenswerte Bemerkungen über das Land Ukkbar in Kleinasien«11, einem ihnen bekannten Autor zugeschrieben wird: Johannes Valentinus Andreä. In dem Artikel erfahren sie außerdem, dass die Literatur des Landes Uqbar sich ausschließlich mit den fiktiven Regionen Tlön und Mlejnas beschäftigt. Nachdem die Figuren einen weiteren Bekannten – ›Carlos Mastronardi‹ – ebenfalls in die Suche einspannen und dieser in einer weiteren Ausgabe der Anglo-­ American Cyclopedia den Artikel nicht entdeckt, endet der erste Teil der Erzählung mit der Notiz, der Artikel über Uqbar sei in keiner anderen Ausgabe der Anglo-American Cyclopedia vorhanden und vermutlich gefälscht. Im zweiten Teil, der zwei Jahre danach spielt, wird dem Erzähler ein seltsames Buch hinterlassen: Der elfte Band einer Enzyklopädie über Tlön, eben jene meta-­ meta-fiktive Region, über die im meta-fiktiven Uqbar geschrieben wird. Das Buch erläutert, dass das Universum von Tlön sich von dem des Erzählers radikal unterscheidet: Das Konzept eines räumlichen Kontinuums wird in dieser rein idealistischen Welt völlig negiert, wodurch naturwissenschaftliche Erkenntnisse dort lediglich als Gedankenspiele gelten. Erneut beginnt eine Suche, die den Erzähler und zahlreiche Schriftsteller beschäftigt, diesmal nach den restlichen Bänden der Enzyklopädie von Tlön, die einem obskuren Geheimbund zugeschrieben werden. Aber auch dieses Mal verläuft die Suche erfolglos: »En vano hemos desorde8 | Ebd., S. 16. 9 | Ebd., S. 17–18. 10 | Ebd, S. 17. 11 | Ebd.

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nado las bibliotecas de las dos Américas y de Europa. Alfonso Reyes, harto de esas fatigas subalternas de índole policial, propone que entre todos acometamos la obra de reconstruir los muchos y macizos tomos que faltan: ex ungue leonem.«12 Im letzten Teil – einem Nachtrag, der sieben Jahre nach Erscheinen der Erzählung datiert ist, tatsächlich aber zeitgleich mit dem vorhergehenden Text 1940 erschien – berichtet der Erzähler, dass inzwischen die komplette Tlön-Enzyklopädie gefunden wurde und der Geheimbund der Verfasser der Enzyklopädie, zu dem unter anderem George Berkeley und Andreä gezählt werden, bekannt geworden ist. Neben dieser Auflösung der Suche beinhaltet die posdata aber auch eine Weiterführung der Geschichte: Nach und nach seien in der Fiktionsrealität des Erzählers immer mehr Objekte aus Tlön aufgetaucht. Die metafiktive Welt begann damit, in die Fiktionsrealität einzubrechen: »Casi inmediadamente, la realidad cedió en más de un punto.«13 Die Erzählung endet mit der Vermutung, dass die Fiktions­ realität sich in wenigen Jahren komplett in Tlön verwandelt haben wird. Dadurch, dass die Spuren, denen die Figuren in der Erzählung nachgehen, fast ausschließlich textueller Natur sind, scheinen die Texte dem Leser die Möglichkeit zu geben, durch Recherche gleichberechtigt an der Suche teilnehmen zu können – und sich damit derselben Gefahr auszusetzen wie der Erzähler: dem potentiellen Einbruch Tlöns in seine eigene Lebenswelt. Fingierte Nachworte wie das in Tlön spielen in der Darstellung der Suche bei Borges und Bioy Casares oft eine zentrale Rolle. Sie übernehmen dabei scheinbar jenen Moment, der in klassischen Detektivromanen dem genialen Detektiv überlassen ist: Mit einem distanzierten Blick schätzen sie die vorher geschilderte, mysteriöse Situation ein und lösen das Rätsel überraschend auf.14 Der nötige Abstand wird dabei teils durch zeitliche Distanz inszeniert, wie in Tlön, dessen letzter Teil mit einem Verweis auf die verstrichenen sieben Jahre beginnt: »Posdata de 1947. Reproduzco el artículo anterior tal como apareció en la Antologia de la literatura fantástica, 1940 […].«15 Teils wird die Distanz auch personell erzeugt, indem das Nachwort nicht demselben Verfasser zugeschrieben wird wie der Haupttext, oft verbunden mit einem fiktiven Manuskriptfund, den der Finder nach dessen Wiedergabe kommentiert. 12 | Ebd., S. 21. 13 | Ebd., S. 39. 14 | Dass die in den Nachworten präsentierten Erklärungen oft weitere Fragen aufwerfen und nicht selten erst das wunderbare Element in den Text einbringen, das die Todorovsche fantastische Unschlüssigkeit beim Leser auslöst, ist in der literatura fantástica nicht unüblich. Vgl. Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, Frankfurt am Main/ Berlin/Wien: Ullstein, 1975. 15 | Borges, Ficciones, 1997, S. 34. Dass das nachdatierte Postskriptum bereits 1940 Teil der Erzählung war, kann der detektivische Leser nachschlagen in: Jorge Luis Borges/Adolfo Bioy Casares/Silvina Ocampo (Hg.), Antología de la literatura fantástica, Buenos Aires: Editorial Sudamericana, 1940, S. 125.

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Als so ein Manuskriptfund präsentiert sich Adolfo Bioy Casares’ La trama celeste. Der dem Rahmenerzähler hinterlassene Text, verfasst von Carlos Alberto Servian, berichtet von der Geschichte eines Piloten, der bei einem Testflug abstürzt und nach seinem Erwachen plötzlich als Deserteur bezeichnet und von seinen Freunden nicht mehr erkannt wird. Nach einem nächtlichen Ausbruch, bei dem er feststellt, dass manche der Straßen, die er kannte, nicht zu existieren scheinen, und einem Fluchtversuch, bei dem er den Testablauf mit dem Flugzeug wiederholt und abermals abstürzt, stellt sein Bekannter, Servian, intensive Nachforschungen an. In einer detektivischen Suche überprüft er die Orte, an denen der Testpilot war, wobei manche der Orte nun wieder zu existieren scheinen, andere nicht. Eine Lektüreempfehlung aus einem Brief, von dem der Pilot behauptet, Servian selbst hätte ihn geschrieben, bringt ihn schließlich zur Formulierung einer Lösung der rätselhaften Ereignisse. In dem gemäß der Lektüreempfehlung konsultierten Buch, Louis-Auguste Blanquis L’Éternité par les astres, wird die Hypothese der Existenz unendlich vieler Parallelwelten erläutert. Dieser Theorie entsprechend folgert Servian, der Pilot müsse bei seinem gescheiterten Testflug aus einer Parallelwelt in die seine gekommen sein. Seine Erzählung endet mit dem Plan, gemeinsam mit dem Testpiloten in dessen Parallelwelt zu flüchten. An dieser Stelle schaltet sich der Rahmenerzähler mit einer sofortigen Distanznahme ein: »El relato de Carlos Alberto Servian me pareció inverosímil.«16 Nach dem Verweis auf eine mittelalterliche Legende, die zweifelsohne die Belesenheit des Rahmenerzählers belegen soll, deutet er seine Theorie an: »Admitamos que, por casualidad, el capitán Ireneo Morris haya caído en otro mundo; que vuelva a caer en éste sería un exceso de casualidad.«17 Anders als der Verfasser der Binnenerzählung geht er von mehr als zwei Parallelwelten aus. Selbstverständlich, so heißt es im Postskriptum weiter, sei er längst, bevor einige Ereignisse auf die Theorie mehrerer Parallelwelten hingewiesen hätten, von allein auf diese Lösung gekommen: »Desde el principio tuve esa opinión. Los hechos la confir­ maron.«18 Genau wie der Nachwort-Verfasser in Tlön ist auch dieser Erzähler Teil der Fiktionsrealität, die in der Binnenerzählung entworfen wird. Das macht es möglich, dass er in Brasilien eine andere Version des Testpiloten Ireneo Morris (die Version ›seiner‹ Welt, die nie irgendwelche Parallelwelten besucht hat) persönlich antrifft, obwohl der Morris aus dem Manuskript längst wie geplant mit Servian verschwunden ist. Nach der Schilderung dieser Begegnung präsentiert uns der Rahmenerzähler, ganz im Stile des überlegenen Detektivs, die Lösung des Rätsels:

16 | Adolfo Bioy Casares, Historias fantásticas, Madrid: Alianza, 1999, S. 53. 17 | Ebd., S. 54.  18 | Ebd.

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Laura Kohlrausch La explicación es evidente: En varios mundos casi iguales varios capitanes Morris salieron un día (aquí el 23 de junio) a probar aeroplanos. Nuestro Morris se fugó al Uruguay o a Brasil. Otro, que salió de otro Buenos Aires, hizo unos ›pases‹ con su aeroplano y se encontró en el Buenos Aires de otro mundo […]. Ese Ireneo Morris subió después en el Dewotine, volvió a hacer los ›pases‹, y cayó en este Buenos Aires. Como era idéntico al otro Morris, hasta sus compañeros lo confundieron. Pero no era el mismo. El nuestro (el que está en el Brasil) remontó vuelo, el 23 de junio, con el Breguet 304: el otro sabía perfectamente que había probado el Breguet 309. Después, con el doctor Servian de acompañante, intenta los pases de nuevo, y desaparece. Quizá lleguen a otro mundo […].19

Dieser Erklärung lässt er den Hinweis folgen, dass er selbst, wäre er der Verfasser des Manuskripts gewesen, zur literarischen Unterstützung der These nicht auf Blanqui, sondern auf Cicero verwiesen hätte, und fügt die passenden Zitate ein. Die ausgespielte Überlegenheit des Rahmenerzählers über Servian – des Detektivs über die ahnungslosen Betroffenen – löst durch die unsympathische Darstellung den Impuls aus, dem überheblichen Rahmenerzähler einen Irrtum nachzuweisen. Das Nachwort stößt damit eine Relektüre des Manuskripts an, bei der der Rezipient selbst zum Detektiv wird.

D e tek tivische R ezep tion Die Möglichkeit einer Überlegenheit des Lesers über den Detektiv durch Relektüre wird auch in Borges’ Erzählung Examen de la obra de Herbert Quain aufgegriffen, wenn der Erzähler über den fiktiven Detektivroman The God of the Labyrinth von Herbert Quain berichtet: Hay un indescifrable asesinato en las páginas iniciales, una lenta discusión en las intermedias, una solución en las últimas. Ya aclarado el enigma, hay un párrafo largo y retrospectivo que contiene esta frase: Todos creyeron que el encuentro de los dos jugadores de ajedrez había sido casual. Esa frase deja entender que la solución es errónea. El lector, inquieto, revisa los capítulos pertinentes y descubre otra solución, que es la verdadera. El lector de ese libro singular es más perspicaz que el detective. 20

Die zur Relektüre herausfordernden Nachworte bei Borges und Bioy verknüpfen dabei die vorangehende Handlung mit der Alltagsrealität des Lesers, wobei meist reale Bücher als Brücke zwischen Fiktion und Realität genutzt werden. Ein weiteres Beispiel dafür ist das Nachwort in Borges Erzählung El inmortal, dessen Verfasser darauf hinweist, die Binnenerzählung, vermittelt durch das Manuskript 19 | Ebd., S. 55. 20 | Borges, Ficciones, 1997, S. 79.

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eines gewissen Joseph Cartaphilus, sei ein Flickenteppich aus bereits existierenden Werken: Posdata de 1950. Entre los comentarios que ha despertado la publicación anterior, el más curioso, ya que no el más urbano, bíblicamente se titula A coat of many colours (Manchester, 1948) y es obra de la tenacísima pluma del doctor Nahum Cordovero. Abarca unas cien páginas. Habla […] de »la narración atribuida al anticuario Joseph Cartaphilus«. Denuncia, en el primer capítulo, breves interpolaciones de Plinio (Historia naturalis, V, 8); en el segundo, de Thomas de Quincey (Writings, III, 439); en el tercero, de una epístola de Descartes al embajador Pierre Chanut; en el cuarto, de Bernard Shaw (Back to Methuselah, V). Infiere de esas intrusiones, o hurtos, que todo el documento es apócrifo. 21

Die bibliografische Genauigkeit der angegebenen Quellen wirkt dabei wie eine Aufforderung, die Behauptung des Nachwortes zu überprüfen. Ähnliche Anreize zum genauen Lesen finden sich auch in den Geschichten selbst. Zu Beginn von Tlön etwa diskutieren der Erzähler und ›Bioy‹ über »la ejecución de una novela en primera persona, cuyo narrador omitiera o desfigurara los hechos e incurriera en diversas contradicciones, que permitieran a unos pocos lectores –a muy pocos lectores– la adivinación de una realidad atroz o banal.«22 Durch die Positionierung dieses Hinweises zu Beginn einer Erzählung in der ersten Person legt der Text nahe, es handle sich hier um eine mise-en-abyme-artige Vorausschau auf das nun Folgende. Die Herausforderung an den Rezipienten, genau zu lesen und damit in die illustre Reihe der »muy pocos lectores« aufgenommen zu werden, ist immanent. Eine weitere Methode, um den Leser zu einer aktiv suchenden Rezeption statt einer passiven Aufnahme der Handlung zu animieren, ist seine Desorientierung durch eine »systematische Transgression der von der Tradition bereitgehaltenen Muster«.23 Jeder Text – sei es ein literarischer Text oder eine Gebrauchsanleitung – schließt mit dem Leser einen Pakt, einen virtuellen Rahmen für die Kommunikation. Dieser Kontrakt ist als inszenierter Diskurs zu verstehen, der im Vorhinein durch bestimmte Regelungen und Konventionen definiert ist. Grob unterscheiden kann man die verschiedenen Pakte, die Texte begleiten, unter den Überbegriffen ›Fiktionspakt‹ und ›Referenzpakt‹. Durch den Sprung zwischen Textsorten, die sich verschiedener Regelsets bedienen, wird die Erwartungshaltung des Lesers dem Text und seinen Referenzen gegenüber ständig gebrochen. So evozieren etwa nachdatierte Nachworte, die eine Distanz zum vorher Erzählten herstellen, genauso 21 | Jorge Luis Borges, El Aleph, Madrid: Alianza, 1997, S. 30–31. Auch dieses Postskriptum ist nachdatiert und war in der ersten Ausgabe des Textes von 1947 bereits enthalten. 22 | Borges, Ficciones, 1997, S. 13–14. 23 | Michael Rössner, Textsortenlabyrinthe. Zu den Textsortenstrategien bei Macedonio Fernández, Jorge Luis Borges und Julio Cortázar, in: Iberoromania (1994), S. 79–92, hier S. 81.

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einen referentiellen Pakt wie Fußnoten mit korrigierenden Anmerkungen eines scheinbaren Herausgebers, genaue bibliografische Angaben von Textquellen oder der extensive Verweis auf real existierende Standorte und Personen. Auf diese Weise nimmt der erste Teil von Tlön durch die vielen Referenzen auf real existierende Personen und Orte die Form einer »Zeugenaussage«24 an, und der Rahmen­ erzähler in La trama celeste vermittelt den Eindruck, mit seinen Orts- und Quellenabgaben auf die Alltagsrealität des Lesers zu referieren. Gleichzeitig werden aber neben den realen auch fiktive Werke mit bibliografischer Genauigkeit zitiert, Ereignisse geschildert, die naturwissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen, und Orte wie Uqbar vom Text selbst wieder als »falso«25 eingestuft. Um der so erzeugten Desorientierung zu entkommen, muss der Rezipient auf die Suche nach Spuren gehen, die ihm einen Hinweis darauf geben, wie er das Gelesene einzuordnen hat. Diese Spuren bestehen, wie bereits angedeutet, meist wiederum aus weiteren Büchern, die es nachzuschlagen gilt. Der Text zieht sich damit einen Leser heran, der sich der Tätigkeit eines Literaturwissenschaftlers annähert. Den Impuls zum exzessiven Nachschlagen der angedeuteten Textstellen und detektivischen Überprüfung der Verweise belegen nicht zuletzt auch die zahlreichen Publikationen, die penibel vor allem die Borges’schen Figuren, Orte und Referenzen überprüfen, bis hin zur Erstellung ganzer Borges-Enzyklopädien.26 Auch die Literaturkritik imitiert also in ihrer Arbeit über die Borges’schen Texte die Vorgehensweise, die ihnen dort vorgegeben wird, wie Ronald Christ entlarvend anmerkt: »he searches sources, and so do they […].«27 Durch die Inszenierung einer Suche auf Handlungsebene, direkte oder indirekte Aufforderungen an den Leser oder Desorientierung durch den ständigen Wechsel von Regeln bezüglich der Einordnung des Gelesenen wird der Leser von diesen Texten also auf eine Suche geschickt. Was aber findet er, wenn er der mehr oder weniger forcierten Einladung folgt und die Rolle des Detektivs einnimmt?

24 | Ebd., S. 86. 25 | Borges, Ficciones, 1997, S. 20. 26 | Unfassende Nachschlagewerke sind Daniel Balderston, The literary universe of Jorge Luis Borges. An index to references and allusions to persons, titles, and places in his writings, New York: Greenwood Pr, 1986 und Evelyn Fishburn/Psiche Huges (Hg.), A dictionary of Borges, London: Duckworth, 1990. – Die unterhaltsame Geschichte einer fast obsessiven »bibliographical detective story« schildert Robert L. Chibka, The Library of Forking Paths, in: Representations 56 (1996), S. 106–122. 27 | Ronald Christ, A Modest Proposal for the Criticism of Borges, in: Books Abroad 45 (1971), S. 388–398, hier S. 388.

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D urchl ässige F ik tionen Folgt der Leser den Hinweisen und Brüchen, findet er vor allem eines – noch mehr Brüche. Brüche in der Abgeschlossenheit der Fiktion, eine permeable Wand zwischen der eigenen Welt und der des Textes. Diese Brüche sind oft ganz klein und kaum merklich, eher Risse, manchmal aber auch groß und unübersehbar. Sie äußern sich in einer Metalepse, einem gefälschten Zitat oder einer scheinbar falschen Seitenangabe. Auffällig ist dieser Riss am Ende von Examen de la obra de Herbert Quain, einem Text, der als Nachwort auf den fiktiven Autor Quain gestaltet ist. Nachdem der namenlose Erzähler des Textes Zusammenfassungen und Kritiken einiger der Texte Quains gegeben hat, wendet er sich dessen letzter Publikation zu, einem Erzählband, der den Lesern das Gefühl geben soll, die Handlung selbst erdacht zu haben. Die Beschreibung endet mit einem Eingeständnis: »Del tercero, The Rose of Yesterday, yo cometí la ingenuidad de extraer Las ruinas circulares, que es una de las narraciones del libro El jardín de senderos que se bifurcan.«28 Der Erzähler ›Borges‹ behauptet also, als Autor Jorges Luis Borges aus der fiktiven Erzählung The Rose of Yesterday des fiktiven Autors Quain seine reale Erzählung Las ruinas circulares entwickelt zu haben. Dieser letzte Satz dreht durch die Metalepse und die Angleichung des Erzählers an den Autor Borges die Hierarchie von Fiktion und Realität um.29 Oft sind die Elemente, die Fiktion und Realität verwischen, subtiler in die Texte eingebaut. Lisa Block de Behar etwa merkt in ihrer Lektüre von La trama celeste über die Referenz auf Blanquis L’Éternité par les astres an: »Los datos editori­ ales y bibliográficos son falsos, corren por cuenta de la ficción de Bioy.«30 Ein genauer Blick in das Manuskript von Servian gibt dafür jedoch eine andere Erklärung als die Imagination des Autors. Auch Servian bemerkt bei seiner Blanqui-Recherche, dass die bibliographischen Angaben, die die Lektüreempfehlung aus dem Paralleluniversum gibt, ›falsch‹ sind: »En la página 281 de mi edición no hay ninguna 28 | Borges, Ficciones, 1997, S. 85. 29 | Einen ähnlichen Effekt erzeugt Cortázar mit dem Ende von Continuidad de los parques, allerdings durch die Metalepse zwischen Rahmen- und Binnenerzählung gekoppelt an ein Angstgefühl. Vgl. Julio Cortázar, Final del juego, Mexico: Punto de Lectura, 2008, S. 11. Auch mise en abyme erzeugt einen ähnlichen Effekt, wie Borges in einem Essay über Don Quijote schreibt: »Por qué nos inquieta que el mapa esté incluido en el mapa y las mil y una noches en el libro de Las mil y una noches? Por qué nos inquieta que Don Quijote sea lector del Quijote y Hamlet espectador de Hamlet? Creo haber dado con la causa: tales inversio­ nes sugieren que si los caracteres de una ficción pueden ser lectores o espectadores, nosotros, sus lectores o espectadores, podemos ser ficticios.« Jorge Luis Borges, Otras inquisiciones, Madrid: Alianza, 1997, S. 79. 30 | Lisa Block de Behar, Borges. La pasión de una cita sin fin, Mexico: Siglo XXI, 1999, S. 79.

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poesía. Aunque no he leído íntegramente la obra, creo que el escrito aludido es L’Éternité par les astres, un poema en prosa; en mi edición comienza en la página 307, del segundo tomo.«31 Die Differenz zwischen den Ausgaben der beiden Servians lässt sich, wie von Servian und dem Rahmenerzähler auch für Personennamen, Straßenzüge und ganze Kulturen vorgeführt, auf die kleinen Abweichungen zwischen den verschiedenen Parallelwelten zurückführen. Der Text legt also eine andere Schlussfolgerung aus den inkongruenten Seitenzahlen nahe: Könnte der Grund nicht vielmehr sein, dass die bibliografischen Angaben gar nicht »falso« sind, sondern dem Umstand geschuldet, dass auch die Realität des Lesers ein solches Paralleluniversum ist, in dem die meisten der Orte, Namen und Bücher übereinstimmen, aber gewisse Details abweichen? Der unauffällige Hinweis lässt die Hierarchie von Realität und Fiktion anzweifeln und verschiebt die Alltags­ realität des Lesers auf dieselbe Ebene wie die präsentierten Fiktionsrealitäten. In Tlön ziehen ebenfalls die textuellen Referenzen die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich. Durch den Suchbericht des Erzählers besonders hervorgehoben wird die Bibliografie, die dem Artikel über Uqbar in der Anglo-American Cyclopedia angehängt ist: La bibliografía enumeraba cuatro volúmenes que no hemos encontrado hasta ahora, aunque el tercero – Silas Haslam: History of the Land Called Uqbar, 1874 – figura en los catálogos de librería de Bernard Quaritch*. El primero, Lesbare und lesenswerthe Bemerkungen über das Land Ukkbar in Klein-Asien, data de 1641 y es obra de Johannes Valentinus Andreä. El hecho es significativo; un par de años después, di con ese nombre en las inesperadas páginas de De Quincey (Writings, decimotercer volumen) y supe que era el de un teólogo alemán que a principios del siglo XVII describió la imaginaria comunidad de la Rosa-Cruz –que otros luego fundaron, a imitación de lo prefigurado por él. * Haslam ha publicado también A General History of Labyrinths. 32

Die Referenzen sind Konglomerate aus realen und fiktiven Elementen, die umso verschlungener werden, je intensiver sich der Rezipient auf die Suche einlässt. So haben Silas Haslam und beide seiner Bücher sowie der Andreä zugeschriebene Text in der außertextuellen Realität keine Entsprechung – Andreä, die Bücherkataloge von Bernard Quaritch und Werke von De Quincey jedoch schon. Indem die fiktiven Quellen realen Autoren zugeschrieben werden oder ein reales Werk scheinbar auch auf sie referiert, verschwimmt ihre Lokalisierung. Insbesondere der Fußnotenverweis auf Silas Haslams A General History of Labyrinths strapaziert die Permeabilität der Fiktions-Realitäts-Grenze, da der Autorname und der Buchtitel, obwohl fiktiv, in der Realität bei einer Recherche einige Entsprechungen hervorbringen, da Borges unter dem Pseudonym Daniel Haslam in dem Magazin

31 | Bioy Casares 1999, S. 48. 32 | Borges, Ficciones, 1997, S. 17.

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Obra33 1935 einen Aufsatz über ein Buch namens A General History of Labyrinths verfasst hat. Das Buch über Labyrinthe wird hier Thomas Ingrim zugeschrieben, einem Autor der Encyclopedia Britannica. Das Buch nimmt damit eine Art Eigenleben an: Es wurde unter anderen in zwei wissenschaftlichen Aufsätzen aus der Physik zitiert und auf Internetplattformen rezensiert, inklusive Coverabbildung.34 Verfolgt der Leser diese eigentlich unrelevanten Referenzen – unrelevant für die Handlung der Erzählung, da der Erzähler seine Suche durch die Entdeckung des Geheimbundes selbst auflöst –, dann doppelt sich die Metalepse zwischen Meta­ ebene und Fiktionsrealität, die im Nachwort geschildert wird, auf die Grenze zwischen Fiktionsrealität und Realität des Lesers, bis auch für diese gilt: »Casi inmediadamente, la realidad cedió en más de un punto.«35

»H agamos lo que ningún ide alista ha hecho …« Dass Bücher in diesen Texten nicht nur die Garanten und Belege von Wirklichkeit sind, sondern diese auch scheinbar nach Belieben verändern können, wirkt in gleichem Maße als Tremendum und Faszinosum. Und sie erinnert an die Ablehnung einer rein rationalen Weltsicht, die Borges immer wieder auch in seinem umfangreichen essayistischen Werk durchspielt – zwar nicht in Form einer widerspruchsfreien persönlichen Überzeugung, aber doch als favorisiertes Gedankenspiel. Denn obwohl sich in seinen Essays kaum Überlegungen zu Mythos und Magie finden, sind sie voll von Auseinandersetzung mit Ansichten, die die Ratio anzweifeln, etwa die Ausführungen zur zirkulären Zeit oder zur idealistischen Weltsicht, spezifischer dem Werk von Schopenhauer. Das vielleicht prominenteste Beispiel dieser Hinwendung zum ›Irrationalen‹ stellt Avatares de la tortuga dar. Ausgehend von der Beschäftigung mit dem Konzept der Unendlichkeit – laut dem Text »un concepto que es el corruptor y el desationador de los otros«36 – beschäftigt sich der 1939 erschienene Essay mit einigen Umformungen des zweiten Paradoxons von Zenon. Der Überblick über mehr als zehn Varianten des bei Zenon anhand eines Rennens von Achilles und einer Schildkröte erörterten regressus in infinitum führt vor, dass das Paradoxon der un33 | Jorge Luis Borges, Laberintos, in: Obra 1 (1935) 3; wieder aufgelegt in: Jorge Luis Borges, Textos recobrados 2. 1931–1955, Barcelona: Debolsillo, 2011, S. 154–156. 34 | Vgl. Kristian Lindgren u.a., Complexity of two-dimensional patterns, in: Journal of Statistical Physics 91 (1998), S. 909–951 sowie Aric Hagberg/Ehud Meron, Order parameter equations for front transitions: Nonuniformly curved fronts, in: Physica D. Nonlinear Phenomena 123 (1998), S. 460–473. Rezensionen und Cover finden sich auf goodreads. com: https://www.goodreads.com/book/show/13481515-a-general-history-of-labyrinths (abgerufen am 22.09.2017). 35 | Borges, Ficciones, 1997, S. 39. 36 | Jorge Luis Borges, Discusión, Madrid: Alianza, 1997, S. 161.

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endlichen Reihung auf alle erdenklichen Themen angewendet werden kann, von Entfernung über zeitliche Ausdehnung und Archetypen bis hin zur Frage nach dem Ursprung von Ursache und Wirkung. Auf bauend auf diese unheimliche Universalität des Paradoxen schwenkt der Essay auf die schopenhauersche Philosophie. Dessen Ausführungen zur Welt als Vorstellung bringt ihn zu der Annahme, dass die Menschen in ihre Weltvorstellung versteckte Hinweise eingebaut haben, die deren idealistische Natur belegen: »Nosotros (la indivisa divinidad que opera en nosotros) hemos soñado el mundo. Lo hemos soñado resistente, misterioso, visible, ubicuo en el espacio y firme en el tiempo; pero hemos consentido en su arquitectura tenues y eternos intersticios de sinrazón para saber que es falso.«37 Irrationale Elemente fungieren also als Erinnerung an die selbstgemachte Erschaffung einer rationalen Welt in der Vergangenheit. Der Essay verbindet mit dieser Feststellung die doppelte Forderung, den illusorischen Charakter der Welt anzuerkennen und zudem aktiv nach Hinweisen in Form von Irrealitäten zu suchen, die auf diese Eigenschaft hindeuten: »Admitamos lo que todos los idealistas admiten: el carácter alucinatorio del mundo. Hagamos lo que ningún idealista ha hecho: busquemos irrealidades que confirmen ese carácter. Las hallamos, creo, en las antinomias de Kant y en la dialéctica de Zenón.«38 Die zuvor geschilderten Paradoxa stellen also solche Zwischenräume der Vernunftlosigkeit dar, und diese gilt es zu suchen, um zu einer Weltvorstellung zu gelangen, die über die selbsterschaffene Illusion eines rein rationalen Universums hinausgeht. Die Vorstellung einer selbstverschuldeten Schieflage der Weltvorstellung durch die Fixierung auf die Ratio statt einer Integration von logischen und a-logischen Elementen und die Forderung nach einer Überwindung dieses Problems durch Wiederentdeckung des Irrationalen39 eint Borges mit jenen Autoren, die auf der Suche nach mythisch-magischen Denkformen sind. 40 Ziel ist auch hier eine »vertiefende Sicht der Wirklichkeit«, die die Vorherrschaft der Ratio anzweifelt. Und wie jene Autoren setzt Borges – und, wie die Analysen gezeigt haben, auf vergleichbare Weise auch Bioy – seine Idee einer Integration von Logischem und A-Logischem in den Erzählungen um. Ganz im Sinne der Aufforderung – »busquemos irrealidades«, 41 nicht etwa ›buscaré irrealidades‹ – kann man beobachten, wie die Texte von Borges und Bioy Casares auf subtile Weise den Rezipienten dazu bewegen, sich in die Rolle des Suchenden zu begeben und die versteckten Irreali37 | Ebd., S. 171. 38 | Ebd. 39 | Zum Zusammenhang des Irrationalen mit dem Mythischen vgl. Rössner 1988, S. 23. 40 | Dennoch ist die Rückbesinnung auf eine ›vorlogische Wahrheit‹ bei ihm klar europäisch geprägt. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen bringt er seine Überlegungen nicht mit der von Ethnologen wie Levy-Bruhl beschriebenen »primitiven Mentalität« (Lucien Lévy-Bruhl, Die geistige Welt der Primitiven, München: Bruckmann, 1927, S. 1) der lateinamerikanischen Indianer zusammen – wohl auch, weil er zeitlebens den Indigenismus ablehnt. 41 | Borges, Discusión, 1997, S. 171.

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täten selbst ausfindig zu machen. Denn die Hinweise, die die Texte nur genauen Lesern hinterlassen, sind eben jene »tenues y eternos intersticiones« 42 , zu deren Suche Avatares de la tortuga auffordert, und die, Stück für Stück, den idealistischen Charakter der Realität erkennen lassen. Bedient man sich des Bildes der metaphorischen Ohrfeige, das Luis Harss einmal für die Texte von Cortázar geprägt hat 43, so könnte man sagen, die Texte von Cortázar ohrfeigen den Leser, während die Erzählungen von Bioy Casares und Borges ihm, wenn er genau hinhört, einen kleinen Zweifel ins Ohr flüstern. 44

42 | Ebd. 43 | Vgl. Luis Harss, Los nuestros, Tres Cantos: Alfaguara, 2012, S. 219. 44 | Borges selbst weist in seinem Aufsatz zu Don Quijote darauf hin, dass das Subtile oft eine größere Kraft habe: »Cervantes no podía recurrir a talismanes o a sortilegios, pero insinuó lo sobrenatural de un modo sutil, y por ello mismo, más eficaz.« Borges, Otras inquisiciones, 1997, S. 75.

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[…] cosa significano quelle ridicole mostruosità, quelle deformi formosità e formose difformità? Quelle sordide scimmie? Quelle tigri maculate, quei guerrieri in lotta, quei cacciatori che soffiano nel corno, e quei molti corpi in una sola testa e molte teste in un solo corpo? Quadrupedi con la coda di serpente, e pesci con la testa di quadrupede, e qui un animale che davanti pare un cavallo e dietro un caprone, e là un equino con le corna e via via, […].1

In Zeugnissen der Geschichts- und Reiseliteratur, in Epen und in naturkundlichen Werken der Antike und des Mittelalters werden – in Varianten – vielfach dieselben monströsen Wesen und Völker erwähnt, beschrieben und gegebenenfalls abgebildet, so beispielsweise ein Volk der Hundsköpfigen (kynokephaloi), eine Rasse von Wesen mit Riesenfüßen, die ihnen Schatten spenden, wenn sie sie in die Luft halten (Skiapoden, »Schattenfüßler« genannt, dargestellt mit je einem Fuß), Wesen mit Riesenköpfen (makrokephaloi), Einäugige und Zwerge (Pyg­ mäen). Umberto Eco verschafft diesen und anderen Wesen mehrfach einpräg­ same Auftritte. Einzeln und katalogweise auftretend, als Gegenstände bildlicher und textueller Darstellung, ja selbst als Romanfiguren tauchen sie in seinen Texten auf und verknüpfen verschiedene theoretische, kulturhistorische und fiktionale Texte zu einem Netzwerk. Schon mit Blick auf die Zeichenqualitäten, die ihnen seit der Antike zugeschrieben worden sind, stellen Monster für einen Semiotiker wie Umberto Eco ein ergiebiges Thema dar.2 Unter dem Titel Wunderzeichen und Fabelwesen widmet er den antiken Monstern einen Abschnitt in seinem Bildband zur Storia della

1 | Umberto Eco, Il nome della rosa, Mailand: Bompiani, 201987, S. 88. 2 | Das Wort ›Monster‹ ist etymologisch mit den lateinischen Verben monere bzw. monstra­r e verwandt, die unter anderem zeigen und warnen bedeuten – vor allem im Sinn der Übermittlung unheilvoller Vorzeichen.

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bruttezza.3 Deutlich wird hier bereits, dass es letztlich eine mindestens doppelte Codierung der Monster zu berücksichtigen gilt: erstens die Bedeutungen, welche sie innerhalb der Vorstellungs- und Denkhorizonte der verschiedenen Zeiten besaßen (als Zeichen, die auf etwas Bestimmtes verwiesen) und die sich aus Schriften und anderen Zeugnissen erschließen lassen; sowie zweitens die Zeichenhaftigkeit, die sie für den heutigen Semiotiker in ihrer Eigenschaft als (oft typische) Vorstellungsbilder dieser historischen Kulturen besitzen, profiliert im Zeichen von Leitdifferenzierungen wie etwa der zwischen Wirklichem und Erfundenem. 4 Die Grenzen zwischen Fabelwesen und Realien sind gerade anlässlich von Monster­ bildern und -diskursen immer wieder neu zum Gegenstand der Aushandlung geworden. Ecos Beispiele stammen oft aus mittelalterlichen Darstellungen ferner Länder, die sich zu ihrer Entstehungszeit als faktual verstanden und entsprechend rezipiert wurden. In antiken Berichten über exotische Völker und fremdartige Tiere sowie in Berichten über Missgeburten überformen phantasievolle Vorstellungsbilder die vielfach nur über viele Vermittlungsschritte beschriebenen und tradierten Beobachtungen. Analoges gilt für sagenhafte Wesen, von denen antike und mittelalterliche Schriften zur Naturkunde berichten, etwa die Naturalis historia des älteren Plinius. Ergiebige Quellen älterer Vorstellungen über Mons­ tren sind auch antike Reisebeschreibungen. Sie alle leisten ihre Beiträge zu einer Semiotik der Naturerscheinungen – ein erster wichtiger Grund für Ecos Faszination durch diesen Motivkomplex. Für antike Autoren wie Plinius ist die Vielzahl von unterschiedlichen Wesen Indikator für die Erfindungskraft der Natur (vgl. Plinius: Naturalis historia, Kap. 7, S. 32). Das Abweichende, Monströse ist keineswegs an sich schrecklich und bedrohlich – nur fremd und insofern erstaunlich. Hier zeichnet sich ein zweites Motiv für Ecos Interesse am Themenkomplex ›Monster‹ ab: Sie sind Anlass, über die Beziehung zwischen Imagination und Erfahrung unter kultur- und wissenshistorischen, perzeptions-, mentalitäts- und ästhetikgeschichtlichen Aspekten zu reflektieren. Schon die christliche Spätantike dämonisiert viele Wesen aus der vorchristlichen Vorstellungswelt, auch und gerade der alten Fabelwesen. Teufel und Monster, als Widersacher der göttlichen Ordnung begriffen, werden analo­ gisiert, ja identifiziert, Dämonen und höllische Versucher gern als fabelhafte Un-

3 | Umberto Eco (Hg.), Die Geschichte der Hässlichkeit, München: Carl Hanser, 2007. Im Original: Storia della bruttezza. A cura di Umberto Eco, Mailand 2007. Vgl. u.a. Kap. IV: Monster und Wunder, Abschn. 1: Wunderzeichen und Fabelwesen. 4 | Zwei Typen von Monstren sind vor allem seit der Aufklärung oft kategorial unterschieden worden: Da sind zum einen seltsam gestaltete Fabelwesen, hässliche Dämonen und skurril gestaltete Geisterwesen, und zum anderen missgebildete Individuen, wie sie im Menschen-, Tier- und Pflanzenreich vorkommen. Erstere gelten aus einer aufklärerischen Perspektive als Produkte der Imagination, letztere als reale Produkte der Natur bzw. der von Naturgesetzen bestimmten Welt.

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geheuer dargestellt5 – vor allem als Entstellungen der Menschengestalt ins Tierische hinein. Ecos Publikationen – seine reich bebilderten Bücher zur Geschichte der Hässlichkeit, zur Geschichte der legendären Länder und Städte und zu Formen der Liste, aber auch seine Romane und Essays – knüpfen an diesen phantastischen Bilderkosmos an. Für die genannten drei Bildbände ist das Interesse am Monströsen sogar konstitutiv: für den Band über die Geschichte der Hässlichkeit unter ästhetischer Akzentuierung, für den Band über imaginäre Länder deshalb, weil diese Eco u.a. als von monströsen Wesen besiedelte Regionen interessieren, und für die Listen-Sammlung, weil es mit Listen laut Eco um eine Form geht, auf die Grenzen des Vorstellbaren und Darstellbaren zu reagieren. Listen von Ungeheuern, bildliche und schriftliche, sind evidente Auseinandersetzungen mit Fragen der Darstellbarkeit, wie sie im Listen-Buch erörtert werden. Wenn das Mittelalter im Zeichen der Leitidee von der göttlichen Schöpfung als Inbegriff eines sinnvoll geordneten Kosmos über die Ordnungswidrigkeit der Monster diskutiert, so werden durchaus kontroverse Positionen bezogen. Sind Monster Störungen in der göttlichen Schöpfung und darum verurteilenswert – oder sind sie Bestandteile der Schöpfung und Ausdrucksformen seines Reichtums und seiner Vielfalt? Bemerkenswerterweise wird den Monstern gelegentlich zugestanden, Teile der Schöpfung zu sein, deren Reichtum (mit ihrer Hilfe!) die Schöpfermacht Gottes sinnfällig macht. Die Theologie des Augustinus bietet zumindest Ansatzpunkte dafür. Unter dem Titel Auch die Ungeheuer sind Kinder Gottes erinnert Eco in einem Abschnitt seines Buchs über die Hässlichkeit an Augustinus, der monströs erscheinende Völkerschaften im Gottesstaat rechtfertigt.6 Dieses augustinische Verständnis der Monster als Teil der Schöpfung findet in Il nome della rosa (1980) ein direktes Echo. Im Gespräch Guglielmos mit dem Abt erklärt Abbo, warum manche Bücher in der Bibliothek unter Verschluss gehalten werden müssen: Sie seien lügenhaft und könnten die Leser zur Sünde verführen. Aber sie werden doch nicht vernichtet. Denn »I mostri esistono perché fanno parte del disegno divino e nelle stesse orribili fattezze dei mostri si rivela la potenza del Creatore [...]« – so Abbo.7 Die Geschichte der Hässlichkeit gilt zu erheblichen Teilen Monstern unter dem Aspekt einer ästhetischen Beurteilung im Zeichen wechselnder Vorstellungen über Norm und Abweichung. Hier manifestiert sich ein drittes Motiv für Ecos Interesse an Monstern: Vorstellungen über Schönheit und Hässlichkeit, also ästhetische Normvorstellungen, sind mit Monstervorstellungen insofern oft eng verknüpft, als Monströses ästhetischen Beurteilungen 5 | Vgl. Andres Hammer, Ordnung durch Unordnung. Der Zusammenschluss von Teufel und Monster in der mittelalterlichen Literatur, in: Achim Geisenhanslüke/Georg Mein (Hg.): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen, Bielefeld: transcript, 2009, S. 209–256. 6 | Vgl. Eco 2007, S. 114; verwendet werden hier Auszüge aus Augustinus’ Schrift Vom Gottesstaat. 7 | Eco 1987, S. 46.

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unterliegt und zum Paradigma des Hässlichen werden kann. Dies gilt für Fabelwesen wie für missgestaltete Individuen. Ästhetiken des Hässlichen ziehen aus dem Monströsen ihre eigenen Reize. Eco erinnert unter anderem an Theologen des Mittelalters, die das Hässliche unter dem Aspekt seines latenten Zeichencharakters innerhalb menschlicher Zeichensprachen erörtern. Hier geht man so weit, das Hässliche zu legitimieren, und zwar mit dem Argument, es eigne sich besonders zur Darstellung des Göttlichen (gemeint ist: durch den Menschen). Denn da sich das Göttliche nicht angemessen durch die notgedrungen endlichen Zeichen der Menschen ausdrücken lasse, seien solche Zeichen vorzuziehen, die ihren defizitären Charakter als solchen erkennen lassen, statt sich fälschlicherweise als adäquate Darstellungen des Göttlichen auszugeben. 8 In der Frühen Neuzeit greift man übrigens die These vom spezifischen Bezeichnungswert des Hässlich-Monströsen auf und bezieht sie auf die diesseitige Welt. Einflussreich wird die wirkungspsychologisch-pragmatische These, man könne sich ungewöhnliche Erscheinungen besser einprägen als gewöhnliche.9 Abweichungen von der Norm – wie Monster sie gleichsam prototypisch darstellen – haben neben ihren vordergründigen Irritationspotenzialen das Potenzial, diese Norm selbst in Frage zu stellen; Ordnungsstörungen signalisieren oft die Relativität von Ordnungsvorstellungen. Die ›Ordnung der Dinge‹ aber ist – ein vor allem unter Bezug auf Foucault in den vergangenen Jahrzehnten vieldiskutiertes, auch für Eco zentrales Thema – etwas Relatives; sie wird immer wieder diskursiv verhandelt und unterliegt wechselnden Bedingungen und Ausprägungen.10 Und damit wäre ein viertes, wissens- und erkenntniskritisches Motiv der Beschäftigung mit Monstren benannt: Sie verweisen auf sich wandelnde Diskurse über die Ordnung der Dinge, auf historisch variable Taxonomien und Klassifizierungsverfahren natürlicher Wesen, auf die Geschichtlichkeit aller Vorstellungen über Natur, Norm und Regelhaftigkeit. In Il nome della rosa (1980) spielen, wie schon angedeutet, Monsterbilder und Monsterkonzepte eine tragende Rolle. Dabei rekurriert Eco aber nicht nur auf die an sich schon facettenreichen mittelalterlichen Monstervorstellungen und -darstellungen, die zur Welt seines historischen Romans passen, sondern diesen überlagert sich eine moderne ästhetische Konzeption des Monströsen: die des russischen Literaturhistorikers und Kulturtheoretikers Michail Bachtin, der Monströses und Groteskes im Kontext seiner Ästhetik karnevalistischer Subversion erörtert.11 Als Wesen mit einer Gestalt, die von vertrauten Bildern abweicht, haben Monster zumindest komische Potenziale. Dass sie neben anthropomorphen Tieren dazu 8 | Vgl. Eco 2007, S. 126–127. 9 | Vgl. ebd., S. 125. 10 | Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 31980. 11 | Vgl. dazu Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Grübel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979.

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dienen, Kinder (und Erwachsene) zu unterhalten, ist insofern keine Überraschung.12 Bachtin hat in seinen theoretischen Schriften den Zusammenhang zwischen Literatur und Karneval, Literatur und Lachkultur betont. Literatur erscheint aus seiner Sicht als eine Relativierung von Autoritäten, als Destabilisierung von Hierarchisierungen, von Machtverhältnissen. Das Groteske, Karnevalistische ist eine komische und zugleich irritierende, verunsichernde Abweichung von der Norm. Es sticht ab vom ›Ordentlichen‹ und Ver-Ordneten. Es reizt dazu, gerade über die Ordnungsmächte und über geltende Ordnungsvorstellungen zu lachen. Dies hat bekanntlich ein deutliches Echo in den Diskussionen über das Lachen gefunden, welche in Il nome della rosa der autoritätsgläubige Jorge von Burgos – als Verfechter der bestehenden Ordnung – so vehement verurteilt. In seinen Tiraden über das Lachen versäumt Jorge es nicht, dieses mit dem Teufel und mit dem Monströsen in Verbindung zu bringen. Zwischen William (dem ›Aufklärer‹) und Jorge (dem ›Orthodoxen‹, dem ›Dogmatiker‹) entbrennt ein Streit über die Legitimität des Grotesken und seiner Effekte.13 William ergreift die Partei des Lachens, weil er dessen subversive Effekte schätzt und es als befreiend empfindet; Jorge hält das Lachen für frevlerisch (im besten Fall für läppisch), weil es Autoritäten und damit Machtstrukturen in Frage stellt.14 Dieser die Thematik des ganzen Romans prägnant spiegelnde Dissens entzündet sich an einem Diskurs über Monster, ihre Abbilder und deren Wirkungen. Eco verwendet dabei Versatzstücke des in sich kontroversen mittelalterlichen Monsterdiskurses. Jorge tadelt das Verzerrte, Groteske als lügenhaft. William vertritt gegenüber den Monsterbildern, denen Jorges Kritik gilt, eine andere (ebenfalls mittelalterliche) Position, die das Monströse wegen seiner Einprägsamkeit didaktisch legitimiert. Jorges Gegenargument zufolge verderben monströse Gebilde den Sinn für das Normale und Schöne.15 Für ihn ist die Bespiegelung des Menschen in Tieren 12 | Theorien des Komischen sind wiederholt als Theorien von ›Abweichendem‹ formuliert worden, sei es als Abweichung von einer Erwartung, die der Rezipient dem komischen Objekt entgegenbringt, sei es als Abweichung vom Vernünftigen, Rationalen. Zu den Spiel­ formen solcher Abweichung vgl. u.a. Michael Toggweiler, Kleine Phänomenologie der Monster (Arbeitsblatt Nr. 42, Institut für Sozialanthropologie), Bern: Universität Bern, 2008. . 13 | Jorge wirft William vor, er komme aus einem Orden, »dove mi dicono è vista con indulgenza anche la giocondità più inopportuna.« (Eco 1987, S. 87). 14 | Vgl. ebd., S. 86–89, S. 138–140. 15 | Jorge zeigt kritisch auf monströse Figuren an den Säulen im Kreuzgang (vgl. ebd., S. 88). William hingegen betrachtet die skurrilen Figuren auf den im Skriptorium illuminierten Manuskripten mit Sympathie, ja mit Nostalgie, erinnern sie ihn doch an die britischen Inseln, wo eine besonders reiche Menge solcher Darstellungen entstanden ist – eine ganze Welt fabelhafter Wesen, in denen sich die eigenartige Schönheit des Monströsen dokumentiert. Und Venantius von Salvemec erinnert Jorge – dessen harter Verurteilung der

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ebenso wie die groteske Darstellung von Menschen in verzerrten Zusammenhängen nebst anderen Bildern einer ›verkehrten Welt‹ eine Entwürdigung des Menschen und der ganzen Schöpfung. Ironisch propagiert er die Abstrusität einer verkehrten Welt und bezeichnet die Vorstellungen, die sich damit verbinden, als ›Possen‹. Wieder bringt William als Jorges Gegenspieler ein im Mittelalter ausformuliertes Gegenargument zugunsten von Bildern einer verkehrten Welt ins Spiel: Große philosophische Autoritäten hätten die These vertreten, »che Dio può essere nominato solo attraverso le cose più difformi«, und Hugo von Sankt Viktor sei für verzerrte Bilder eingetreten, weil sie dazu stimulierten, hinter ihre Oberfläche zu dringen, statt dem Schein des Sichtbaren zu verfallen – »cogliere i misteri che si celano sotto la turpitudine delle immagini«.16 Alle wichtigen Themen, die im Kreis der Mönche erörtert werden, verbinden sich direkt oder indirekt mit dem Thema Monster: Fragen der Ethik und der Ästhetik, Diskurse über Wahrheit und Lüge. Zum Themenkreis gehören neben bildlichen Monsterdarstellungen auch Formen sprachlicher Verfremdung wie etwa der Einsatz bestimmter rhetorischer Mittel. Diskutiert wird die Frage, ob künstlerische Erfindungen, Überbietungen und Verfremdungen des Vertrauten (der ›Natur‹) auf künstlerischem Weg Einsichten befördern, Wahrheiten übermitteln, positive Effekte erzielen lassen. Es geht, plakativ gesagt, um die Frage nach der Rechtfertigung künstlerischer Imaginationen und literarischer Fiktionen. Denn eng mit der Diskussion über Monsterbilder verbunden ist bei Eco gerade die Idee von der zumindest potentiellen Subversivität der Kunst – und das heißt zum einen: ihrer Gefährlichkeit für bestehende Autoritäten, zum anderen aber auch ihrer Beziehung zur Freiheit, gegen Normen und Regeln zu verstoßen, Ordnungen in Frage zu stellen. Der Miniaturenmaler Adelmus ist in Ecos erstem Roman eine Schlüsselfigur – und dies nicht nur, weil sein Tod das erste Rätsel für den Detektiv William darstellt, sondern wegen der Haltung zur Welt, die er vertritt. Was Adelmus gemalt hat, ist mehreren Mönchen wegen seiner Phantastik und Exzentrizität verdächtig. Hat er doch Fabel- und Hybridwesen geschaffen, die es in der bekannten Welt nicht gibt, in der göttlichen Schöpfung also offenbar nicht integriert sind. Mit den kuriosen Ausgeburten seiner Phantasie stellte er Grenzwertiges dar und bewegte sich auch in anderer Hinsicht am Rand, insofern er die Ränder der Textseiten bemalte – in mehr als einer Hinsicht Repräsentant einer Kunst des Marginalen. Eine besondere Provokation liegt darin, dass sich das phantastische Reich der seltsamen Wesen in unmittelbarer Nachbarschaft der heiligen Texte selbst entfaltet, die Adelmus auszuschmücken hatte. Die Fiktion – im Sprachgebrauch der Orthodoxie: die ›Lüge‹ – rückt damit verdächtig nahe an das heran, was sich als Phantasie­figuren entgegentretend – an ein Streitgespräch, das kurz vor Adelmus’ Tod im Skriptorium stattfand und sich ebenfalls um die Ästhetik und die theologische Legitimation der Monster drehte: ein Gespräch über die Kunst und ihre Funktionen, bei dem u.a. Thomas von Aquin als Referenz ins Spiel kam (vgl. ebd., S. 109). 16 | Ebd., S. 88.

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unverbrüchliche Wahrheit versteht, ja sie kriecht, krabbelt und windet sich buchstäblich aus dem Text heraus. Aber was ist das für eine Wahrheit, die von Fiktionen umspielt und in Frage gestellt wird? Die Schilderung der Arbeiten des Adelmus17 ist eine Kernpassage des Romans; insofern fängt auch in thematischer Hinsicht alles bei diesem Miniaturenmaler an. Das Gespräch über die kleinen Malereien führt zuerst zu einem gelehrten Austausch von Zitaten, darunter auch von scherzhaften, damit zur Entspannung der Anwesenden, dann zum Gelächter – und dieses ruft schließlich Jorge von Burgos auf den Plan, der damit seinen ersten Auftritt im Roman hat und ihn auch gleich zum Anlass nimmt, kategorisch das Lachen und seine Anlässe zu verurteilen – im Namen einer Wahrheit, die aus seiner Sicht keine Ornamente braucht, die keine Ergänzung, keine relativierende Vermittlung, keine Modifikation zulässt und natürlich schon gar keinen Widerspruch duldet. Die potentielle Subversivität von Bildern wird anlässlich der Adelmus-Miniaturen exemplifiziert: Seine Buchmalereien wollen den ›frommen‹ Texten, die sie begleiten, offenbar nicht dienen, sich ihnen nicht unterwerfen. Besonders spannungsvoll gestaltet sich das Verhältnis von Bild und Text angesichts von lebendigen und provokanten Buchstaben, die ein dreifaches ›Sanctus‹ beschließen: Zu Figuren gewandelt, küssen sich zwei der Lettern – und zwar auf eine so unheilige Weise, dass von einer Auflehnung der Buchstaben gegen die Wortbedeutung die Rede sein kann – wie zur Illustration des Theorems von der latenten Häresie der Kunst und zugleich als Anspielung auf die im Kloster praktizierte Homosexualität.18 Durch die Geschichte des Adelmus wird Il nome della rosa (auch) zum Künstler­ roman. Eine Leitidee ist dabei, dass das Monströse etwas Befreiendes und Horizonterweiterndes sein kann; es steht im Bündnis mit dem Komischen, Grotesken, Obszönen und Widersetzlichen und verdient Bewunderung.19 Die Monster-Malereien des toten Mönchs lassen sich als Binnenspiegelungen des Romans lesen, insofern es in diesem auch darum geht, die Freiheit der Imagination und der Innovation gegen den Dogmatismus zu verteidigen. Beide, Adelmus und Eco, bedienen sich der Reservoirs kollektiven Wissens und kollektiver Imaginationen; beide schaffen ›an den Rändern‹ bereits existierender Texte, diese fortsetzend, aber auch konterkarierend, etwas Neues. Der Roman insgesamt optiert (nicht zuletzt in eigener Sache) für die Wahrheit der Fiktionen. Ein Gespräch zwischen William und Adson über das Einhorn läuft auf die These hinaus, die Adson dann auch

17 | Vgl. ebd., S. 84–85. 18 | Vgl. ebd., S. 85. 19 | La storia della bruttezza, Kap. Monster und Wunder, berichtet unter anderem von der Entstehung des Kells-Evangeliars im 8. Jahrhundert in Irland (Eco 2007, S. 112). Die Ähnlichkeit seiner hier erfolgenden Beschreibung dieses Buchs mit den Malereien des Adelmus ist evident und lässt darauf schließen, dass das Book of Kells inspirierend auf die Schilderungen letzterer gewirkt hat.

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zusammenfassend ausspricht: »Allora si possono dire verità superiori mentendo quanto alla lettera.«20 Die vielfältige Welt mittelalterlicher Monstererscheinungen wird im Zeichen dieser Leitidee im Roman wie in einer Enzyklopädie zitiert, etwa als Adson das Tympanon des Kirchenportals betrachtet. Hier entdeckt er, als Teil des Figurenarsenals der mittelalterlichen Vorstellungswelt, zusammen mit Christus im Kreis von Aposteln und den Vertretern aller Völker der Welt, auch Fabelwesen allerlei Art. Der naturkundlich gebildete Nicolas zeigt Adson die Reliquien- und Wunderdinge-Sammlung des Klosters.21 Der Teufel erscheint als das Monster aller Monster.22 Zu den Monstern gehört tradierten Vorstellungen gemäß auch der Kannibale. Hier ergibt sich eine Verbindung zum Bericht, den Salvatore über kannibalistisches Verhalten in einer Hungersnot gibt: Nachdem es gar nichts mehr zu essen gab, hätten die Menschen begonnen, die Toten zu verzehren. Straßenräuber und Kindermörder hätten die Fleischvorräte feilgeboten, die sie durch ihre Untaten erbeuteten. Ein Händler mit Menschenfleisch sei von der wütenden Menge getötet worden, dann aber habe ihn einer der Dorf bewohner ausgescharrt und gegessen, was diesem Dorf bewohner die Verurteilung zum Tode eintrug.23 Monster bilden als Leitmotiv des Romans Scharnierstellen zwischen solchen Referenzen auf die Realgeschichte und phantasmagorischen Ereignissen wie der im Roman mehrfach beschworenen Apokalypse und dem Jüngsten Gericht. Bei der Untersuchung der Bibliothek stoßen William und Adson auf aufwendig bemalte Handschriften, die die Apokalypse darstellen und kommentieren. Die Illustrationen zeigen die Ungeheuer, welche apokalyptischen Prophezeiungen zufolge am Ende der Welt auftreten werden. Adson erlebt sie, betäubt durch Narkotika, als lebendige Erscheinungen. Ecos Schilderung der Szene ist eine Variation auf das Motiv vom lebendig werdenden Bildnis, wobei es, wie in romantischen und nachromantischen Texten, die Phantasie des Betrachters ist, welche die Bilder ›belebt‹.24 Eingehend betrachtet Adson auch das Kirchenportal mit seinen plas­ tischen Darstellungen und hat dabei eine weitere Vision. Er beschreibt detailliert das dichte Gefüge aus Steinplastiken. Der Weltenrichter ist zu sehen, Menschen, Tiere, allegorische Figuren, Propheten und Apostel, vieles an erhabenen Figuren – aber auch Scheußliches: durch Gebrechen entstellte Körper, monströse Wesen, halb menschlich, halb tierisch oder dämonisch – oder aber Ensembles von Tieren, Dämonen und sündigen Menschen.25 Das dargestellte Portal ist ein steinernes ›Buch der Natur‹, eine typisch mittelalterliche Kollektion von Fabelwesen und Ungeheuern, gemischt mit Darstellungen wirklicher Tiere. Nach der Betrachtung 20 | Eco 1987, S. 319. 21 | Vgl. ebd., S. 425–426. 22 | Vgl. ebd., S. 405–406. 23 | Vgl. ebd., S. 190–191. 24 | Vgl. ebd., S. 178–179 (Adsons Bericht). 25 | Vgl. ebd., S. 51–52.

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der Gerichtsszene hat Adson eine von der Apokalypse inspirierte Vision. Diese Vision wird unterbrochen durch den Auftritt einer realen Erscheinung, die wie ein fleischgewordenes Steinmonster aussieht: eben Salvatore.26 Dieser ist ein Grenzgänger, eine menschliche ›Marginalie‹ – analog zu den Randfiguren, die Adelmus gemalt hat. Grenzgängerisch ist unter anderem Salvatores babylonischer Redestil, der an Bachtins Konzept der Polyphonie im neuzeitlichen Roman erinnert. Gerade als eine ›reale‹ Romanfigur ist er im Übrigen ein intertextuelles Zitat – eine Neuauflage von Victor Hugos Quasimodo in Notre-Dame de Paris. Quasimodo seinerseits erscheint bei Hugo als Gefährte der steinernen Monsterdarstellungen an der Kathedrale, also als Verkörperung mittelalterlicher Imaginationen. Eco nimmt also neben Adsons Kunsterlebnissen auch die Figur des Salvatore zum Anlass, Übergänge zwischen der realen, empirisch erfahrbaren, historischen Welt und der Welt kollektiver Imaginationen zu arrangieren. Il nome della rosa ist nicht der einzige Roman Ecos, der stark durch historische Monsterdiskurse geprägt erscheint und an deren Leitfäden seine Themen entfaltet. L’isola del giorno prima (1994) spielt im Barock – dem Barock als Epoche vielfältiger neuer (und d.h. auch neu zu interpretierender) Erfahrungen und als Epoche der reichen Metaphorik. Die Darstellungsformen, mit deren Hilfe die neue und die alte Welt neu interpretiert werden sollen, sind im Roman insbesondere metaphorische Texte bzw. Metaphern. Im Barock erfolgte unter anderem eine Deutung von Monstren als Produkte einer spielfreudigen, mit neuen Formen experimentierenden Natur. Monster stehen insofern für mögliche Innovation, möglichen Fortschritt, Ausbruch aus der Stagnation. Sie werden (tendenziell) positiv semantisiert. Die Natur erscheint als ›Künstlerin‹ – und der Künstler, der Antiklassisches darstellt, mit neuen Darstellungsformen experimentiert, sich über das strikte Mimesispostulat hinwegsetzt, erscheint eben damit als Kollege einer ihrerseits schöpferischen, spielfreudigen Natur. – Auch aus der Perspektive dieser Ästhetik werden Monster als Abweichungen wahrgenommen, als Überbietungen des ›Normalen‹ in der Natur und in der Kunst.27 Die Welt des Romans um den Protagonisten Roberto dalla Grive ist eine Welt der manieristischen Imaginationen. Es geht unter anderem um eine Metaphernmaschine, die bei der Erfindung möglichst ausgefallener und immer neuer Metaphern hilft, welche dann die metaphorisch bezeichneten Dinge mit ihren metaphorischen Vergleichsobjekten verschmelzen und in ständig neuem Licht sehen lassen. Es geht aber auch um die abenteuerlichen Einfälle barocker Gelehrter zu praktisch nutzbaren Erfindun26 | Vgl. ebd., S. 53. 27 | Damit verbinden sich Ausblicke auf eine Welt ohne verbindliche oder zunächst ohne erkennbare Ordnung der Dinge. Der Haupterzähler berichtet zuletzt über Roberto: »Udiva di macchine che potevano alterare l’ordine dei fenomeni naturali, in modo che il grave tendesse in alto e il leggero piombasse al basso […].« (Umberto Eco, L’isola del giorno prima, Mailand: Bompiani, 1994, S. 507–508). Hier erfolgt eine Wiederaufnahme des Motivs der ›verkehrten Welt‹ aus Il nome della rosa und zugleich ein Ausblick ins 20. Jahrhundert.

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gen. So konstruiert Robertos Freund und Mentor, der alte Pater Caspar Wanderdrossel, eine Taucherglocke, mit deren Hilfe er über den Meeresboden wandern will. Er ertrinkt dabei; Roberto malt sich aus, wie der Pater auf dem Meeresgrund aussieht, und in seiner Phantasie entsteht das Bild einer Arcimboldo-Figur und damit ein Beispiel für die kombinatorischen Phantasien, um die es im Roman geht.28 Baudolino (2000) spielt wieder im Mittelalter, allerdings deutlich früher als Il nome della rosa. Der Titelheld Baudolino, ein Bauernjunge, wird zum Pflegesohn, später zum Berater des Kaisers Friedrich Barbarossa. Dieser lässt ihm eine gelehrte Ausbildung zukommen. Baudolino lernt die Welt aus Büchern und aus eigenen Erfahrungen gründlich kennen; er bleibt bei all dem, was er schon als Junge war: einer, der gern Geschichten erfindet und sie den anderen als wahre Geschichten erzählt. Der Romankonstruktion zufolge erzählt der Schwindler Baudolino einem Zuhörer seine Geschichte. Diese besondere Konstruktion macht es möglich, den Helden Baudolino, der sein Leben erzählt, diesem Bericht gemäß allerlei wundersame Dinge berichten zu lassen, ohne dabei gegen die Konventionen des realistischen Romans zu verstoßen (denen Eco stets verbunden bleibt). Baudolino ist – anders als Adson von Melk – ein unzuverlässiger Erzähler. Einen solchen Erzähler kann man durchaus von Begegnungen mit mittelalterlichen Fabelwesen berichten lassen; der Roman behauptet ja nicht, diese Wesen gebe es, er behauptet nur, Baudolino erzähle davon. Eco schickt seinen Helden unter anderem in die Sphäre der mittelalterlichen Monsterdarstellungen in Büchern, bevor er ihn unter dem Eindruck dieser Bücher das fabelhafte Reich des Priesterkönigs Johannes erfinden, also einen (historischen) ›Fake‹ produzieren lässt, in dem es ebenfalls um vielfältige seltsame und monströse Erscheinungen geht.29 Ging es in Il nome della rosa anlässlich von Adsons Visionen vor allem darum, wie gerade die Betrachtung von Monsterdarstellungen Imaginationen auslöst und reale Erscheinungen neben die abgebildeten Monster treten lässt, so wirkt sich in Baudolinos Fall die Faszinationskraft dargestellter Monster sogar auf die große Politik aus. Die Suche nach dem Reich des Priesters Johannes ist auch die Suche nach dem Land der Fabelwesen. 28 | Vgl. ebd., S. 381, Ende von Kap. 32. Dazu Eco gesprächsweise: »Ein Verweis auf Arcim­b oldo war nahezu unumgänglich, umso mehr, als sich auch in den Texten vieler Barockdichter ähnliche Phantasien finden. Die manieristische Zusammensetzung eines Bildes aus einer Vielzahl heterogener Elemente verfolgt das Ziel der Verblüffung des Betrachters, gemäß dem ›meraviglia‹-Konzept der Barock-Ästhetik.« (Thomas Stauder: Gespräche mit Umberto Eco, Münster: Lit Verlag, 2004, Kap. 3: Die Insel des vorigen Tages, S. 64.) 29  | Während seiner Studienzeit in Paris besucht Baudolino die Bibliothek von Sankt Viktor, wo er wichtige Texte konsultiert, die antike und mittelalterliche Monstervorstellungen übermitteln: phantastische Texte, »le storie di Plinio, il romanzo di Alessandro, la geografia di Solino e le etimologie di Isidoro…« (Umberto Eco, Baudolino, Mailand: Bompiani, 2000, S. 77).

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Zur politischen Stärkung seines Ziehvaters Barbarossa verfasst Baudolino wenig später einen Brief des fingierten Priesterkönigs Johannes, der an Barbarossa adressiert ist und diesem zu politisch-ideologischen Legitimationen verhelfen soll. Barbarossa ahnt, dass der Brief falsch ist, aber wie auch Baudolino und andere differenziert er nicht messerscharf zwischen Fiktionen und Fakten. Baudolino motiviert Barbarossa dazu, dass dieser sich auf die Suche nach dem legendären Königreich macht. Barbarossa kommt dabei zwar zu Tode, aber Baudolino und seine Gefährten reisen weiter ostwärts. Dabei tauchen sie – wie Baudolino selbst berichtet – in die Welt der monströsen Fabelwesen ein, wie sie Baudolino aus den Manuskripten der Pariser Bibliothek schon im Ansatz kannte. Eco nimmt die Romanfabel zum Anlass, selbst ein narratives Pendant zu den üppigen Buchmalereien von Monstern zu schaffen, die er Baudolino betrachten lässt.30 Die mittelalterlichen Vorstellungsbilder um das Reich und den Brief des Priesters Johannes bilden in Ecos Werk insbesondere einen wichtigen Anlass der Reflexion über die Macht fingierter Orte und Gegenstände.31 Die Schilderungen des Johannes-Reichs in dem fingierten Brief bieten »einen Fall von imaginärer Geographie, der reale Geschichte hervorgebracht hat«, allerdings nicht den einzigen, wie Eco dann anhand weiterer Beispiele illustriert.32 La misteriosa fiamma della Regina Loana (2004) spielt im 20. Jahrhundert. Yambo Bodoni, der Ich-Erzähler, hat infolge einer Traumatisierung sein Erinnerungsvermögen an alles verloren, was mit seinem Leben zu tun hat. Hingegen funktioniert sein allgemeines kulturelles Gedächtnis sehr gut. Inmitten einer 30 | Nach vielen Strapazen gelangen die Freunde in die Stadt Pndapetzim, die eine Art Vorregion des Johannesreichs zu sein scheint und dies auch von sich behauptet. Diverse seltsame Wundervölker leben hier mit den Menschen zusammen, jedes einem eigenen Glauben anhängend, jedes überzeugt, das wahre Christentum zu vertreten. Mit Baudo­ lino freundet sich ein Skiapode (Schattenfüßler) namens Gavagai an, der ihn fortan loyal unterstützt. Baudolino macht in der ländlichen Umgebung der Stadt Pndapetzim die Bekanntschaft einer wunderschönen Frau, Hypatia, die einer gnostischen Sekte angehört, welche nur aus weisen Frauen besteht und sich nur zu Fortpflanzungszwecken kurzfristig mit Männern zusammentut. Baudolino zeugt ein Kind mit Hypatia und merkt dabei, dass seine Geliebte den Unterleib einer Ziege hat, weil die von den weisen Gnostikerinnen als Samenspender eingesetzten Männer wohl Faune waren. 31 | Vgl. Umberto Eco, Imaginäre Astronomien, in: Ders., Die Fabrikation des Feindes, München: Carl Hanser, 2014, S. 170–206, Kap.: Imaginäre Geographien und reale Geschichte (S. 203–206): Hier werden katalogartig die auch in Baudolino genannten Monster in Erinnerung gerufen. Eco zitiert dabei den Brief des Priesters Johannes nach Gioia Zaganelli, La lettera del Prete Gianni, Parma: Pratiche, 1990, S. 55; vgl. dazu auch folgende dt. Ausgaben: Ulrich Knefelkamp, Die Suche nach dem Reich des Priesterkönigs Johannes, Gelsenkirchen: Müller, 1986; Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Johannes ist sein Name: Priesterkönig, Gralshüter, Traumgestalt, Zug/CH: Graue Edition, 1993). 32 | Eco 2014, S. 205–206.

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Sammlung aus Texten und Comics, die er als Junge gelesen hat, kehren verschüttete, auch verdrängte Erinnerungen zurück. Um Monster geht es zum einen anlässlich von Comicfiguren; zum anderen werden dabei auch Beziehungen zur monströsen Welt der Diktatur hergestellt. Als Gegenentwürfe zur ›offiziellen Kultur‹, aber auch wegen ihres teils seltsamen Aussehens, das zwischen Schrecklichkeit und Komik changiert, sind die Comic-Figuren, die Yambo in der Königin Loana schildert, Nachfolger der Monster, die Mönch Adelmus im Namen der Rose an den Rand der Manuskripte malte. Gordon […], si batteva per la libertà contro un despota, forse all’epoca potevo pensare che Ming fosse come il terribile Stalino, l’orco rosso del Cremlino, ma non potevo non riconoscere nei suoi tratti anche quelli del Dittatore di casa, dotato di indiscutibile potere di vita e di morte sui suoi fedeli. E dunque con Flash Gordon dovrei avere avuto la prima immagine di un eroe […]. 33 Così che dopo, o contemporaneamente a vignette o canzoni che m’insegnavano come sottomettere gli Abissini barbari e feroci, avevo incontrato un eroe [Uomo Mascherato / Das Phantom] che fraternamente viveva coi pigmei Bandar e con loro combatteva colonialisti cattivi – e Guran, lo stregone Bandar, era molto più colto e saggio dei loschi figuri dalla pelle pallida che contribuiva a sconfiggere […]. 34

Der Diktator als Monster: hier erfolgt eine deutlich politische Akzentuierung des Monstermotivs. Und damit wären wir bei einem bisher noch nicht berücksichtigten Monstertypus: dem sozialen oder Sitten-Monster, das in Ecos späteren Romanen seine deutlichen Spuren hinterlässt.35 In seiner Vorlesung über Die Anormalen36 erörtert Michel Foucault Formen des Monströsen, die nicht über physische 33 | Umberto Eco, La misteriosa fiamma della regina Loana, Mailand: Bompiani, 2004, S. 234–235. 34 | Ebd., S. 238. 35 | Zum Thema ›soziale Monster‹ vgl. Umberto Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Übers. v. Max Looser, Frankfur t am Main: Fischer, 1984 (= Auswahl aus Apocalittici e integrati, Mailand: Bompiani, 1964.) Eco über die Pea­n uts von Charles M. Schulz: »Diese Kinder gehen uns nahe; sie sind die unheimlichen miniaturi­ sierten Repräsentanten der Neurosen eines Bürgers der Industriekultur. Sie gehen uns nahe, weil sie, wie wir gewahren, Monstren sind, zu denen wir Erwachsene sie gemacht haben. Sie vergegenwärtigen die Diagnosen Freuds, die Erfahrung der ›Vermassung‹, die durch ›Digests‹ verdaute Kultur, den vergeblichen Kampf um Erfolg, das Streben nach Mitgefühl, die Einsamkeit, die abrupte Aggressivität, die Fügsamkeit und den neurotischen Protest.« (Ebd., S. 227). 36 | Michel Foucault, Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974–1975), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007. Foucault setzt sich mit dem Thema ›Monster‹ – als einer Form der Anormalität – aus der Sicht des Sozialphilosophen und Diskursanalytikers

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Missbildungen oder hybride Körperlichkeit bestimmt sind. Das »monstre moral« entstehe in der Moderne und löse das Körpermonster als dominanten Monster­ typus tendenziell ab.37 ›Sittenmonster‹ sind der Straftäter, der Tabuverletzer, aber auch der skrupellose Egoist, der Kannibale, und der Inzestuöse. Das Monster ist Widerspruch zum Gesetz; es fällt aus der gesetzlichen Ordnung heraus. Zugleich ist der Anormale (z.B. der Verbrecher) »ein alltägliches Monster, ein banalisiertes Monster, [...] ein blasses Monster […]«.38 In Ecos späteren Romanen tritt das soziale Monster verstärkt in Erscheinung: als ein später, anderer Monstertypus. In Gestalt von Verschwörern, Betrügern und Mördern bestimmen die sozialen Monster die Fabel von Il pendolo di Foucault (1988). Dieser kritisch-aufgeklärte Roman über Esoterik und Okkultismus warnt vor dem Irrationalismus in seinen diversen Spielformen. Verbrechen und Gewalttaten sowie Formen des politischen Radikalismus, Terrorismus und Faschismus prägen die Handlung nachhaltig. – In Il cimitero di Praga (2010) ist die Zentral­ figur Simon Simonini, ein Fälscher, Betrüger – und der Verfasser der »Protokolle der Weisen von Zion«. Die im Roman entfalteten Themen sind Fremdenhass, Rassismus, Diffamierung, Antisemitismus und Terrorismus; die damit inszenierte Leitthese ist die einer für die Moderne charakteristischen (sekundären) Identitätsbildung auf der Basis von Feindbildern.39 Die verwendeten Monster-Diskurse sind auf das Themenfeld abgestimmt: Rekurse auf die ›Monstrifizierung‹ der Juden durch die antisemitische Propaganda und durch Rassisten wie Simonini, aber auch die Profilierung von Simonini als soziales Monster im Sinne Foucaults. – Numero Zero (2015) widmet sich, in manchem an den Cimitero-Roman anknüpfend, weiteren gesellschaftlichen Monstrositäten. Seine Kernthemen sind Korruption, Erpressung, Verleumdung und die unkontrolliert wuchernde Macht eines Medienimperiums à la Berlusconi. In manchem liegt eine ähnliche Kon­ struktion wie im Foucaultschen Pendel vor, vor allem, wenn sich Fiktionen verselbständigen und ihr destruktives Potential entfalten; Ähnlichkeiten bestehen auch zum Cimitero di Praga: Skandale, Diffamierungen, erpresserisch genutzte Fiktionen prägen Ecos Romane über die eigene Zeit. Gerade das Projekt »Aufklärung« wird in Numero Zero durch Pseudo-Enthüllungen pervertiert – und hier hört der karnevalistische Spaß am Monströsen endgültig auf.

auseinander. ›Anomalie‹ ist aus der Perspektive Foucaults ein diskursives Produkt, ein Produkt der Diskurse über Anomalie: Anormal ist das, worüber als über etwas Anormales gesprochen und geschrieben wird. 37 | Vgl. ebd., S. 108–142. 38 | Ebd., S. 78. 39  | Umber to Eco, Die Fabrikation eines Feindes und andere Gelegenheitsschriften, München: Hanser, 2014, S. 9–36 (Costruire il nemico e altri scritti occasionali, Mailand: Bompiani, 2011). Angeführt und erörtert in: Thomas Stauder, Gespräche mit Umberto Eco aus drei Jahrzehnten, Berlin: Lit Verlag, 2012, S. 254.

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Eco hat mit seinen Romanen – trotz gelegentlicher Affinitäten in Thematik und Erzählweise in La misteriosa fiamma della regina Loana – kein Nachahmer Prousts sein wollen. 40 In einer wichtigen Hinsicht aber bestehen Analogien zu Prousts komplex konstruiertem Recherche-Roman, der der Leitidee seines Verfassers zufolge aufgebaut werden sollte wie eine Kathedrale:41 Auch Umberto Ecos Romanwerk lässt sich, wenn auch aus anderen Gründen, mit einer Kathedrale vergleichen. Erstens wird an einen bestimmten, mit Il nome della rosa erstmals vorgelegten Bauplan immer wieder angeknüpft. Thematisch mit diesem Erstling verbunden, stellen die Folgeromane Ausbauten der Basisthemen dar – so, wie mittelalterliche Sakralgebäude, teils über lange Phasen hinweg, immer wieder ausgebaut und dabei auch umgebaut wurden. Zweitens verwendet Eco bei den Roman-Bauten ostentativ Baumaterialien, die nicht neu sind, sondern ›recycelt‹ werden: Viele intertextuelle Anspielungen und Zitate erscheinen wie Spolien, die zur Dekoration und zur Demonstration eines Aneignungsprozesses in ein Bauwerk hineinkomponiert wurden, ihren Fundstück-Charakter dabei zwar noch demonstrieren, zugleich aber tragende Funktionen für die Gesamtkonstruktion übernehmen. Drittens bedient er sich eines Bilderfundus, den gerade mittelalterliche Kathedralengestalter mitgeprägt und (ihrerseits zitierend) immer wieder genutzt haben – des Bildarsenals der Monster.

40 | Vgl. dazu Eco in: Stauder 2012, S. 221. 41 | Vgl. dazu: Stephanie A. Moore, »Bâtir un livre«. The Architectural Poetics of »À la recherche du temps perdu«, in: Manfred Schmeling/Monika Schmitz-Emans (Hg.), Das visuelle Gedächtnis der Literatur, Würzburg: Königshausen und Neumann, 1999, S. 188–203.

«La fable du Mexique» Esotismo e rivoluzione nel western italiano (1964–1976) Dominique Budor

Se l’analisi del testo, verbale o iconografico che sia, deve allo strutturalismo gli strumenti più rigorosi per indagare le forme del linguaggio e le strutture narrative, sono state poi le diverse inter- o trans-discipline a ricollegare le teorie testuali e le teorie sociali nella pratica esegetica. Di fronte a un nuovo spazio di ricerca, la critica cinematografica è ormai costretta a porsi al di là della mera decostruzione immanente della rappresentazione per integrare all’analisi il paradigma della complessità: il prodotto artistico si situa in seno alla cultura, definita come una totalità espressiva plurima in cui, senza gerarchia di ‹valore›, si aggregano dati istituzionali, pratiche individuali, riti sociali, ideologie e credenze diverse, miti, metafore... Mentre il paradigma della mobilità invita a esaminare come un medesimo oggetto culturale possa – secondo le differenze spazio-temporali della produzione e della fruizione, e in relazione con la scala di circolazione – variare nell’interpretazione e nell’uso fino a integrarsi in un particolare sistema di valori. Uno stimolante articolo di Michael Rössner del 1987 intitolato La fable du Mexique1 si situa in questo contesto di cultural turn dell’umanistica. L’autore esamina come la Rivoluzione messicana abbia costituito per certi scrittori del primo Novecento, specie per i Surrealisti, un mito rigeneratore: un ritorno alla forza magica delle potenze naturali (quelle della civiltà indiana prima della Conquista di Cortés) che sia atto a contraddire la cultura razionalista vigente in Europa. E Rössner cita Artaud, già consapevole però dell’equivoco interpretativo:

1 | Michael Rössner, «La fable du Mexique» oder vom Zusammenbruch der Utopien, Über die Konfrontation europäischer Paradiesprojektionen mit dem Selbstverständnis des ‹indigenen› Mexiko in den 20er und 30er Jahren, in: Literarische Vermittlungen: Geschichte und Identität in der mexikanischen Literatur. (Akten des Kolloquiums Trier 5. bis 7. Juni 1987), a cura di Karl Hölz, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1988, pp. 47–60.

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Dominique Budor II n’y a plus depuis longtemps en Europe de mythes auxquels les collectivités puissent croire. Nous en sommes tous à épier la naissance d’un mythe valable et collectif. Et je pense que le Mexique tel qu’il renaît pourra nous réapprendre à vivifier ces Mythes. 2

Su questo approccio analitico e con il titolo mutuato da Rössner, s’innesta il mio proposito di rivisitare l’immagine messicana con la quale la vecchia Europa credette di rinnovare l’aspirazione al rovesciamento dell’ordine stabilito: importa difatti definire a quale intento politico corrisposero i peones che popolarono i western italiani dopo l’inaugurale Per un pugno di dollari di Sergio Leone (1964) e fino al testamentario Keoma di Enzo G. Castellari (1976), in cui il solitario cowboy è un mezzosangue indiano adottato da un padre bianco che, poiché evoca la figura di Cristo o quella di un hippy, distrugge in un simbolismo sincretico la specificità del modello. Si sa quanto il western abbia sempre avuto, tramite l’iconografia che veicola, ricadute culturali e cognitive forti, dato che il genere originale come pure i sottogeneri derivati legano storia e leggenda con costante efficacia. Rispetto al Messico, il «mito»,3 nel senso barthesiano del termine (cioè in quanto linguaggio, sistema semiologico di comunicazione e messaggio secondo che nasconde un ideologema dietro le immagini familiari della doxa), venne difatti progressivamente costruito da film che, poiché conobbero una diffusione di massa, caricarono di attualità storica le forme della ‹messicanità› rappresentata. Uniti nel giocare con i codici narrativi e visivi in un’intenzionalità tutt’insieme volontaristica e inconscia, i fabbri­canti delle immagini filmiche e gli spettatori offrirono alla società occidentale cardini ideologici nuovi per pensare e affrontare la realtà sociopolitica. *** Il primo messaggio del western italiano evoca però gli Stati Uniti anziché il Messico. Per riallacciarsi alla fama del pur decadente western statunitense – decadente dopo i film di Anthony Mann e i western testamentari di John Ford (The Man Who Shot Liberty Valance nel 1962 e Cheyenne Autumn nel 1964) –, ma anche per agevolare il riconoscimento dei codici del genere nel momento stesso in cui vengono contestati, i produttori, i registi, i tecnici e gli attori ricorrono spesso a pseudonimi anglofoni (se ne possono contare circa 350). Conviene però notare la particolare scelta di Sergio Leone in proposito: firmandosi «Bob Robertson» (ovvero Bob, figlio di Robert), si riallaccia alla dimensione privata del suo amore per il cinema e alla memoria del muto italiano, giacché suo padre Vincenzo Leone, dal nome d’arte Roberto Roberti, era stato direttore artistico e poi realizzatore in diverse case cinematografiche sin dal 1911. Seppure sembri aneddotico, il dettaglio afferma 2 | Antonin Artaud, Œuvres complètes, Paris: Gallimard, 1970, vol. VIII, p. 162. 3  | Cfr. Roland Bar thes, Le mythe, aujourd’hui, in: Id., Mythologies, Paris: Seuil, 1957, pp. 181–233.

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l’italianizzazione dello schema narrativo americano, della caratterizzazione dei personaggi e delle forme visive ‹classiche› e di stampo fordiano per istituire quel sottogenere che, con un abusato e sprezzante termine ombrello, viene spesso chiama­to western spaghetti. Va subito precisato dunque che il nascente sottogenere non è per niente uniforme né si oppone drasticamente al western americano – il quale, del resto, non è mai stato univoco bensì sfaccettato –; anzi, sviluppa le tendenze critiche, ironiche e addirittura sovversive, che si erano innescate nel western classico. Per un pugno di dollari, che trionfa nel 1964, dà inizio al filone. È quel film, benché sia il ventiseiesimo western italiano, a fungere da archetipo per il sotto­ genere cinematografico: fissa la grammatica dell’azione, instaura la nuova tipo­ logia e propone uno schema aperto alla variazione. L’azione si situa in un paese chiamato San Miguel, al confine tra gli Stati Uniti e il Messico. Il film è stato girato nella provincia di Almería, zona della Spagna meridionale bruciata dal sole, arida e montuosa. La scelta del luogo non mira alla verosimiglianza visiva, dato che il referente dell’immagine nel film di Leone non è per niente la geografia reale del Messico bensì un referente immaginario che, nella lunga storia del genere, è stato fabbricato dal western statunitense: il cliché viene ripreso perché, appunto, deve incentivare «la logica di implicazione» definita da Jean Mitry, cioè il progressivo arricchi­ mento semantico durante la visione del film. Questa è la ragione per cui il western italiano si fa sistematicamente intertestuale e corrosivo dei codici per via di citazioni manipolate o addirittura rovesciate: attiva risolutamente – mediante l’enfasi, l’ironia auto-parodistica e il pastiche –, il bagaglio di immagini impresse nella memoria dello spettatore. Ora, il luogo comune paesaggistico del western americano è ovviamente l’ambientazione monumentale dell’Arizona o dell’Utah, con la tendenza a confondere in una percezione globale elementi diversi della costruzione del mito americano: lo spazio, l’eroe, l’identità nazionale. Lo spazio è quello del Wild West: emblematica è la Monument Valley di John Ford, diversamente significativa da Stagecoach (1939) a Cheyenne Autumn (1964) ma che serve da sfondo essenziale alla progressione verso l’Ovest e alla difesa della Frontier. L’eroe agisce in uno spazio in cui l’ampliamento territoriale è promessa di libertà, di modernità, e di creazione di una comunità fondata sulla pace, sulla legge e sull’equilibrio dentro la famiglia anche quando essa è dilaniata dal confronto con l’Altro: che si tratti del ‹good badman› redento dall’amore di una donna (l’emblematico Ringo Kid di Stage­ coach) oppure del pioniere Yankee che diventa rancher o costruttore di una città e che difende la sua comunità contro il nemico in una lotta estrema (Fort Apache nel 1948 o Rio Grande nel 1950). Di modo che i paesaggi filmati nei film di Ford, i personaggi esemplari impersonati da John Wayne4 e l’epopea violenta che si iscrive 4 | Si legga, nella prospettiva dell’angolazione che oggi viene chiamata Queer Studies, l’utile analisi filmica del paesaggio fordiano in Russell Meeuf, John Wayne’s World: transnational masculinity in the Fifties, Austin, TX: University of Texas Press, 2013.

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nella trama si confondono nell’immaginario spettatoriale per creare, a seconda della preparazione ideologica del fruitore e dei paesi di ricezione, una figurazione positiva dell’America libera e moderna oppure un’illustrazione critica dell’imperia­ lismo statunitense. In questa prospettiva, la scelta topografica in Per un pugno di dollari si rivela significativa. Se Leone, ereditando da Ford, assume la funzione del paesaggio – lo spazio modella l’atmosfera epica, lo svolgimento della trama e il comportamento dei personaggi –, il contesto ideologico, a livello della produzione e della ricezione, è cambiato rispetto agli anni 50. Seppur destinata ad essere filmicamente distorta, la verità storica degli anni 60–70 è tale da non permettere più ad una comunità di spettatori di riconoscersi nel sistema di valori e nel mito delle gesta originarie del western; e non consente nemmeno di muovere la propria immaginazione verso di essa. Mediante il traslato cronologico dal tempo diegetico (la Guerra di Secessione finì nel 1865 e la costruzione della Union Pacific Railway fu terminata nel 1869) fino all’epoca di produzione-ricezione dei film un secolo dopo, si manifesta ormai il disagio morale e spirituale di una civilizzazione nordamericana – e più generalmente occidentale – dominata dalla violenza e disorientata da una crisi di valori. La violenza è politica e militare malgrado gli accordi del 1963 sulla cessazione dei test nucleari e la Guerra Fredda si acuisce con il maggiore impegno americano in Vietnam. La violenza è sociale ed economica: inizia negli anni sessanta il movimento migratorio di contadini o minatori latinoamericani in cerca di lavoro; i messicani popolano ormai le ciudades perdidas nel Messico o gli stati meridionali degli Stati Uniti dove vivono in dure condizioni di disintegrazione etica e socioculturale. La scelta dell’ambientazione messicana nel western italiano corrisponde allora a un punto di vista disincantato e ‹sudista› sulla costruzione di una nazione e sulla civiltà occidentale: i film rappresentano ‹the Border› (un pericoloso limite geografico) e non più ‹the Frontier› (un progetto civile materializzato dalla conquista territoriale). Ricordando che Ford stesso aveva esitato sul titolo da dare al suo film del 1950, ovvero Rio Grande (nome sulla sponda statunitense del fiume tra USA e Messico), prendendo anche in considerazione Rio Bravo (nome del fiume sulla sponda messicana), ma decidendosi alla fine per il primo (e optando, inoltre, per un paesaggio vicino a Moab-Utah, che assomiglia a Monument Valley), la messicanità del western italiano appare come il punto di arrivo di una riflessione critica sulla Storia. La forma parodica è allora l’unica possibilità di emozione collettiva atta a recuperare, per sovvertirne il valore etico, la forza epica del western classico e fordiano ormai perduta. E si deve appunto notare che, nel 1967, il film di Enzo G. Castellari inizialmente intitolato Johnny Hamlet, per significare il tragico delle pulsioni umane, venne invece intitolato su ordine dei produttori Quella sporca storia nel West, per specificare il contesto culturale pur integrando l’universale malvagità. Il deserto di Tabernas, in cui sono costruiti i set di Per un pugno di dollari, evoca facilmente le terre aride del Messico. Al di là dei dati tecnici e finanziari che determinano le riprese in Europa, l’abbandono dello scenario paesistico grandioso corrisponde simbolicamente alla dissoluzione del legame che univa l’eroe alla na-

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tura, alla sparizione di ogni progetto civile:5 il Messico diventa così la terra d’azione di un anti-eroe solitario e ambiguo. Il protagonista del western italiano, che sia un’ulteriore incarnazione del pistolero al servizio del Male contro il Bene, un avatar aggiornato del pícaro spagnolo o dell’Arlecchino goldoniano, oppure (nel caso di Per un pugno di dollari) la figura ricontestualizzata nel West del samurai mani­ polatore di Akira Kurosawa (in Yojimbo, 1961), è ormai all’esclusivo servizio di se stesso. Egli utilizza la sua furbizia per imporsi e vincere con l’inganno (la lastra di metallo che protegge lo «Straniero» in Per un pugno di dollari, il travestimento da prete dello «Straniero»6 per entrare nella cella del capo dei banditi in Vado… l’ammazzo e torno, un film di Castellari del 1967, ecc.); usa tutti i mezzi anche quelli più immorali e violenti per raggiungere il suo scopo, preoccupandosi dei soli effetti che ne derivano a titolo individuale: ne Il buono, il brutto, il cattivo, il film di Leone del 1966, Biondo e Tuco distruggono il ponte di Langstone non tanto per porre fine agli inutili eccidi tra Nordisti e Sudisti durante la Guerra di secessione quanto per raggiungere il cimitero dove è seppellito il tesoro che stanno cercando sin dall’inizio. L’efficacia dell’azione prevale sempre su qualsiasi preoccupazione mora­le: in Per un pugno di dollari, lo «Straniero» si vende alle due famiglie rivali e le tradisce entrambe. Per cui, in molti western italiani, specie quelli di scarsa qualità artistica che proliferano nella metà degli anni sessanta (serie B, serie C o addirittura Z movie),7 il Messico serve solo da sfondo a un epos degradato: ad esempio, in due film di Ferdinando Baldi, per una violenta storia di vendetta (Texas, Addio, 1966), e per un erotismo brutale e maschilista (Blind Man, 1971). La situazione socio-politica del Messico si riassume allora in pochi dati schematizzati: il crollo del peso rispetto al dollaro durante la Rivoluzione, gli eccidi commessi dall’esercito contro i peónes, la vigliaccheria di un alcalde, la crudeltà del ricco proprietario terriero che riduce i contadini in schiavitù grazie alla violenza dei suoi gunfighters… In questi film, dall’esotismo folcloristico, è stata perduta la capacità mitica del western a dire e a modellare la Storia. ***

5 | Cfr. la caratterizzazione del western statunitense, classico e fordiano in Bernard Dort, La nostalgie de l’épopée, in: Le western, Paris: Gallimard, 1993, p. 57: «Ce dont il s’agit toujours, c’est de faire coïncider le règne de l’homme, l’ordre social, et l’harmonie naturelle. D’établir ou de rétablir cet accord fondamental.» 6 | Si noterà come i nomi o soprannomi nel western italiano si carichino di una valenza indiziaria e simbolica forte, aperta quindi a una costante decodificazione da parte dello spettatore. Cfr. Nomi, in: L’antiwestern e il caso Leone, a cura di F. Ferrini, in: Bianco e Nero XXXII (1971) 9–10, pp. 11–14. 7 | Nel filone del western all’italiana, furono girati circa 500 film (con la massima produzione, 75 film, nel 1968 e un riflusso a partire dal 1973), il cui livello di qualità è, come in tutti i registri della cinematografia, assai diverso.

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Tuttavia, specie nei registi di spicco, che sono per lo più di sinistra (spesso neo­ comunisti) – vale a dire essenzialmente Damiano Damiani e ‹i tre Sergio›, come li chiama la critica: Sergio Leone, Sergio Corbucci, Sergio Sollima –, l’attenzione ai diritti delle minoranze e l’interesse per il miglioramento della sorte dei diseredi­tati provoca il mutamento della rappresentazione del messicano, in una mossa etico­ politica che, per l’Italia e verso la fine degli anni sessanta, corrisponde anche crono­ logicamente a quella riguardante l’indiano che avvenne negli Stati Uniti. Nel western italiano, va difatti constatata una sorta di ‹Return of the Mexican Man›.8 Sono significative, al riguardo, le modifiche non solo geografiche che Sergio Sollima reca al soggetto iniziale per La resa dei conti (1966). Il film esplicita, con lo svolgersi della trama e mediante i procedimenti filmici (inquadrature, montaggio), come il giovane messicano Cuchillo, accusato di aver stuprato e ucciso una ragazzina, sia in realtà un innocente peón costretto a violare la legge per opporsi ai potenti; e il finale illustra pure la contestazione dell’ordine vigente: il gunfighter yankee e il povero messicano si alleano contro il corrotto latifondista e il prepotente barone per ristabilire la giustizia.9 Non si tratta solo, per consolare lo spettatore delle proprie incertezze, di mostrare che il Bene e il Male sono indissociabili in un essere umano, né di rammentare che l’anti-eroe non è sanguinario per natura bensì trauma­tizzato da un passato torturante. Di fronte alla dissoluzione delle vecchie strutture politiche e delle ideologie, la riabilitazione del messicano costituisce una dichiarazione politica forte che dischiude nuovi orizzonti. Quando l’America non si definisce più secondo lo storico mito della guerra giusta bensì come un paese imperialista che bombarda il Vietnam, quando il socialismo dal volto umano si rivela irrealizzabile dopo la repressione sovietica in Ungheria nel 1956, quando la dottrina comunista è dilaniata tra Unione Sovietica e Cina, l’Occidente ha bisogno di nuove speranze e credenze. È in quel contesto che si profila una rinnovata attualità del giudizio di Artaud sull’uso europeo della messicanità. Certo, non si tratta di paragonare l’anti-razionalismo di Artaud (e neppure la rivelazione legata al rito del peyote) con la positività messicana promossa dal western italiano. Importa però notare come la speranza italiana di ritrovare la vitalità dell’indigeno possa diventare la molla per conferire un senso nuovo alla cultura e alla civilizzazione ‹bianca›. Si rilegga Artaud, ancora citato da Rössner:

8 | Si ricordi la copertina illustrata del Life Magazine del 1 dicembre 1967 (n. 350) con la scritta «Return of the Red Man». 9 | Di fronte alla forza denunciatrice del western italiano, occorre nondimeno non dimenti­ care che essa si situa nella scia di quei western americani che smascherarono la corruzione etica dei pionieri: basti pensare ai protagonisti di Backlash (John Sturges, 1955) o di Tribute to a Bad Man (Robert Wise, 1956).

«La fable du Mexique» [...] il n’y a pas de révolution sans une révolution contre la culture de l’Europe, contre toutes les formes de l’esprit blanc, et je ne sépare pas l’esprit blanc des formes de la civilisation blanche.10

Da questo punto di vista, Cuchillo, che armato di un semplice coltello trionfa dello yankee dotato di una moderna rivoltella prima di riaffermare la propria libertà scomparendo all’orizzonte, restituisce alla ribellione, nella mappa mentale europea, la sua istintività. Nasce allora una stirpe di personaggi messicani in cui i registi di sinistra incarnano questa rinnovata forza. E, per una maggiore efficacia dell’illustrazione, essi scelgono di renderla operante in uno specifico periodo della Storia: la rivo­ luzione messicana degli anni 1913–1914, vale a dire nel periodo cerniera della lotta di classe contro i potenti, quand’è diventato ovvio che, dopo il ‹decennio tragico›, la dittatura di Victoriano Huerta non può essere vinta che con la generalizzazione dell’insurrezione popolare armata. I film rilevanti in questa direzione sono stati girati in un arco di tempo di circa cinque anni alla fine degli anni sessanta, hanno goduto di varia fortuna presso la critica e il pubblico: ma, tutti insieme, compongono una rete ideologica coerente e una costellazione mitica euristica. La portata uni­ taria del significato è del resto contrassegnata a livello della produzione da una comune parentela attoriale (Tomas Milián, messicano esemplare nella trilogia di Sollima), da collaborazioni incrociate (Leone soggettista di Valerii per Il mio nome è Nessuno nel 1973) o condivise (le colonne sonore di Ennio Morricone), da evidenti rimandi e citazioni da film a film (che si tratti dei vestiti dei tre protagonisti di Il buono, il brutto, il cattivo o della fortuna dell’ultima battuta di quel film in film ulteriori), da espliciti omaggi (il più preciso è ovviamente Il mio nome è Nessuno). Non è qui il caso di ripercorrere, in una prospettiva di storia del cinema, tutto lo sfondo culturale sul quale questi film si innescano, per opposizione, per ripresa o variazione, e comunque sulla base di un effettivo sapere da parte di registi colti e preparati tecnicamente. Non conviene nemmeno indagare la memoria filmica alla quale questi film fanno diversamente eco quando vengono recepiti dai cinefili: i film messicani che hanno ritratto la miseria del pueblo e la crudeltà del cacicco11 o invece i film statunitensi nei quali proliferano gli stereotipi folkloristici (la fiesta, la sensualità delle donne, l’amore del denaro negli uomini).12 D’altra parte, anche se la rappresentazione nei western italiani del rivoluzionario messicano va ricondotta alla costruzione da parte di Pancho Villa stesso della sua immagine eroica ne La

10 | Artaud citato in Rössner 1988, p. 57. 11 | Basti citare nel 1947 Rio Escondido di Emilio Fernández, o La rebelión de los colgados (Alfredo B. Crevenna, 1954) o ancora Raices diretto da Benito Alazraki nel 1955. 12 | Si pensi per esempio, che si tratti di western o no, a film come Duel in the Sun (King Vidor, 1946), The Naked Dawn (Edgar G. Ulmer,1954), Cowboy (Charles Lawton, 1958), The Last Sunset (Robert Aldrich, 1961), ecc.

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vida del general Villa girato nel 1914 da William Christy Cabanne 13 – il che genera poi nel cinema americano figure della lotta contro l’oppressione del popolo messicano tese tra storia e leggenda 14 –, va ribadito che la nascita del cosiddetto ‹western zapata› in Italia non è dovuta a uno sguardo diretto sul Messico bensì alla ‹pro­ iezione› (nel senso psicanalitico della parola) sul passato messicano di un’aspirazione al rovesciamento dell’ordine vigente in Italia, ossia la società bloccata dell’ambi­ guo centro-sinistra. Tepepa di Giulio Petroni (1969), che mette a nudo le diverse motivazioni psicologiche dei rivoluzionari messicani (echeggia nel film il tradimento degli ideali da parte di Madero dopo la presa di potere) è, simultaneamente, una chiara allegoria della vita politica italiana (la frantumazione della sinistra italiana, gli scontri tra studenti e polizia). Ora, al di là della necessità di reinventare il cinema italiano creando, contro lo strapotere di Hollywood, forme di spettacolo atte a stimolare una doppia ricezione (il consumo del pubblico medio e lo sguardo cinefilo), i registi italiani tentano di instaurare nuove mitologie. Ridare significato ai vecchi miti westerniani permette che il cinema si faccia portatore dello slancio rivoluzionario in atto in America latina e che, in Europa, la creazione artistica racconti (o sostituisca?) l’azione politica quando essa appare impossibile. Il tema del doppio, tradizionale nel western specie negli anni cinquanta, è rivisitato sotto gli aspetti della coppia, antitetica ed evolutiva, del gringo o dello straniero, rivoluzionario per interesse personale o per fragile idealismo, accanto al peón ingenuo che, per la forza delle circostanze e suo malgrado, scopre la necessità di liberare la sua nazione soggetta ai potenti: l’americano e il guerrigliero-bandito in El Chuncho (Damiani, 1966), il mercenario polacco e il minatore messicano in Il Mercenario (Corbucci, 1968), il mercante svedese di armi e il lustrascarpe chiamato El Vasco (porta un berretto alla Che Guevara) in Vamos a matar, compañeros di Corbucci (1970), il russo che cerca solo un tesoro e il bandito messicano in Viva la morte…. tua di Duccio Tessari (1971), per citarne solo alcuni. Inoltre, il confronto di classe viene approfondito con la rappresentazione della problematica reazione dell’intellettuale di fronte all’azione e alla tortura, e con l’analisi di situazioni rivolu­zionarie diverse (John, il rivoluzionario irlandese, in Giù la testa di Leone nel 1971). Infine, la riflessione politica si fa più globale e quasi teorica in una chiara 13 | Cfr. Dominique Budor, ¡Que viva le western italien! (De quelques avatars filmiques du révolutionnaire mexicain), in: La Construction du personnage historique (Aires hispanique et hispano-américaine), a cura di J. Covo, Lille: PUL, 1991, pp. 225–231. Devo, per onestà scientifica, indicare come la rivisitazione, a distanza di venticinque anni, di un corpus che avevo già esaminato in un’altra prospettiva critica produca effetti interpretativi diversi. Nello specifico caso, va anche indicato come il modificato accesso ai film (DVD e stream­ ing sul web, YouTube, ecc.) permetta un ampliamento del corpus e quindi una valutazione diversa dell’importanza di tale o talaltro regista o film. 14 | Si vedano il rivoluzionario Pancho Villa in Viva Villa (Jack Conway e Howard Hawks, 1934) nonché i personaggi di The Lawless (Joseph Losey, 1950), Border Incident (Anthony Mann, 1950), Salt of the Earth (Herbert J. Biberman e Michael Wilson, 1954).

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opposizione del proletariato contro il capitalismo, con un richiamo dei doveri della chiesa nel necessario sostegno agli oppressi: si consideri la particolare caratterizza­ zione dei personaggi nel film di Carlo Lizzani al quale partecipò Pier Paolo Pasolini, Requiescant (1968). In diversi film, un uso accentuato del primo piano nel ritratto degli oppressori serve ad aggiungere alla verosimiglianza (o all’esattezza) della rappresentazione del passato connotazioni storicamente più recenti, per provocare nello spettatore un allargamento della riflessione sul potere: si guardi come l’espressione brutale di Orson Welles che fa la parte del colonnello in Tepepa evochi altri dittatori dell’America latina; o come, in Giù la testa, l’ufficiale tedesco nel carro armato fornito ai controrivoluzionari da Guglielmo II assomigli agli ufficiali del Terzo Reich. E si noti soprattutto, in quel film, i precisi riferimenti alla violenza fisica dei totalitarismi europei: il massacro, storicamente esatto, degli insorti messicani alla stazione di Mesa Verde, nelle fosse in cui i treni venivano a versare il loro carico di granoturco, rimanda agli eccidi commessi dai franchisti in condizioni omologhe in Navarra o Biscaglia, e all’uccisione di 335 ostaggi da parte dei nazisti nelle Fosse Ardeatine. La storia viene letta globalmente in una logica che lega passato e presente. Altri topoi del western vengono rivisitati, spesso con ironia, e simultaneamente reinvestiti di un significato politico. Lo stupro che, nel western americano, era un atto di guerra commesso dagli indiani (The Searchers) o che illustrava la cieca violenza dei fuorilegge (Posse from Hell, Herbert Coleman, 1960) diventa la manifestazione della forza vitale del proletario. In Giù la testa, Leone riprende da Stagecoach, e sovverte mediante le inquadrature, il tema della diligenza come illustrazione dell’ipocrisia della ‹civiltà›: mentre campi medi o totali sulle natiche nude dei viaggiatori benestanti ne distruggono l’essenza virile e sociale, concitati primi piani su Juan che violenta la borghese, facendola svenire di paura e/o di piacere, mostrano che la vera forza di cui nessun padrone potrà mai privare il popolo è la forza vitale e feconda della sessualità. Altro perno della trama westerniana tradizionale, l’attacco della banca o del treno produce, in un’ironica peripezia, un effetto contrario alla motivazione iniziale del guadagno d’oro; come nel caso di Sabata, che, pensando di rubare l’oro destinato all’esercito per aiutare la rivoluzione, scopre che la cassaforte contiene sabbia (Adiós Sabata, 1970, di Gianfranco Parolini); o in Giù la testa, dove Juan fa saltare la banca di Mesa Verde per trovare l’oro e invece libera prigionieri che lo osannano come eroe della rivoluzione. E il duello finale del western – dopo quello crepuscolare e smitizzante tra Ransom e Liberty Valance, in cui era stato Tom a sparare (The Man Who Shot Liberty Valance, Ford, 1962) – cede il posto all’ironico ‹triello›, inaugurato da Dio perdona… io no! (Giuseppe Colizzi, 1967) che viene appunto chiamato ‹Mexican Standoff› e diventa un cliché cinematografico: nella nuova realtà morale e sociale, scaduto il rassicurante manicheismo del vecchio ordine, vige l’incertezza totale. In termini socioculturali inoltre, le date in cui vengono girati i film più impor­ tanti sono significative. Tra l’esaltata vitalità di Chuncho (1966) che ritrova nella fedeltà alla sua terra la volontà di usare l’oro per finanziare la lotta contro i Federales

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e Juan in Giù la testa (1971) che capisce come i borghesi e gli intellettuali riescano sempre a sfruttare a loro esclusivo vantaggio il sacrificio della povera gente per la libertà, è intervenuta la perdita di speranza di una liberazione del Terzo Mondo e delle minoranze oppresse (l’assassinio di Che Guevara e poi quelli di Martin Luther King e di Robert Kennedy); è stata repressa la Primavera di Praga; l’effervescenza studentesca del sessantotto francese e la contestazione di massa del maggio rampante italiano sono state assorbite nel sistema dei partiti. Nel 1972, Corbucci stesso registra l’obsolescenza della proiezione dell’idea di rivoluzione sul Messico: in Che c’entriamo noi con la rivoluzione?, l’intento politico e la lotta zapatista servono solo da sfondo picaresco e burlesco alle avventure di un capocomico e di un prete. Verso la metà degli anni settanta, la mitologia del western italiano si riduce a un malinconico catalogo di frammentarie rappresentazioni della speranza rivoluzionaria: essa funge da surrogato illusorio per lo spettatore, il quale non è più un essere sociale impegnato nell’universalità della lotta bensì un individuo deluso teso a ricomporre i frammenti della propria esistenza. Così, la variante messicana del western italiano si spegne: perché «ogni speranza di totalità, futura come passata» è stata perduta nella «modernità fluida».15

15 | Zygmunt Baumann, Modernità liquida, trad. di Sergio Minucci, Bari: Laterza, 2011, p. 10.

Theater als Medium der Utopie Lieto fine und Wiener Schluss Elisabeth Großegger

Als Vorstellung von einem besseren Leben haben Utopien seit frühesten Zeiten die Menschen beschäftigt. Den Gesellschaftskonstruktionen der Zeit wurde die Vorstellung von einem anderen, leichteren Zusammenleben gegenübergestellt. Platons Politeia (4. Jh. v. Chr.), Thomas Morus’ Utopia (1516), Andreaes Christianopolis (1619), Campanellas Sonnenstaat (1623), Francis Bacons Nova Atlantis (1627) und zahlreiche mehr entwarfen Raum-Utopien auf fernen unbekannten Inseln oder sogar außerirdischen Orten als Maßstab für die Wirklichkeit. Erst der Wechsel der utopischen Dimension, vom Raum in die Zeit, ermöglichte den Umsturz im Denken. Den ersten utopischen Zeit-Roman Das Jahr 2440 veröffentlichte der Aufklärer Louis-Sébastien Mercier (1740–1814). Mit dem vorangestellten Leibniz-Motto »Die Gegenwart geht schwanger mit der Zukunft« unterstrich er die Stoßrichtung des neuen »verzeitlichten« Denkens: Lag das verlorene Paradies (oder das Goldene Zeitalter) auch weit in der Vergangenheit, so sollte eine Wiederherstellung doch möglich sein und eine ferne Zukunft eine ideale Ordnung bereithalten. Damit begründete er einen Fortschrittsglauben, der bis ins 20. Jahrhundert anhielt, und eine »in sich selbst ruhende Welt wurde zum Ziel der Geschichte« erklärt.1 War die Utopie entworfen, stellte sich die Frage, wie den Weg dorthin gestalten? Allen Aufklärern schien klar, dass es galt, die Menschen zu ändern, wollte man die Verhältnisse ändern. Kant hatte den Verstand als wesentlich verhaltens­ ändernde Kategorie ausgemacht: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, 1 | Joachim Fest, Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin: Siedler, 1991, 21. – Vgl. auch Peter Iden, Theater ist Utopie, in: Ders. (Hg.), Warum wir das Theater brauchen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995; Miriam Drewes, Theater als Ort der Utopie. Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz, Bielefeld: Transcript, 2010.

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sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«2 Johann Friedrich von Herder setzte auf Erkennen und Empfinden (1778) und Friedrich Schiller auf die ästhetische Erziehung der Menschen, auf Empfindsamkeit und Empathie: »Nicht genug also, daß alle Aufklärung des Verstandes nur insoferne Achtung verdient, als sie auf den Charakter zurückfließt; sie geht auch gewissermaßen von dem Charakter aus, weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden. Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfnis der Zeit, nicht bloß weil sie ein Mittel wird, die verbesserte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst darum, weil sie zu Verbesserung der Einsicht erweckt.«3 Und auch Michel de Montaigne riet, Verstand und Empfindungen zu nützen zur Selbsterkenntnis des Menschen: »Denn nach meiner Meinung müssen die ersten Weisheitslehren, womit man seinen Verstand erquickt, darin bestehn, daß sie seine Sitten lenken und seine Empfindungen; daß sie ihn lehren, sich selbst erkennen, gut leben und gut sterben. Unter den freien Künsten laß uns mit der Kunst anfangen, die uns frei macht. Sie dienen freilich alle, ohne Widerrede, auf gewisse Weise zum Unterricht für unser Leben und dessen Anwendung; wie alle anderen Dinge gewissermaßen dazu ebenfalls dienen. Aber laß uns diejenigen wählen, welche uns geradewegs und vermöge ihrer Natur dienen. Wenn wir die Bedürfnisse unseres Lebens in ihre richtigen und natürlichen Grenzen einzuschränken wüßten, so würden wir finden, daß der größte Teil der Wissenschaften, welche im Gebrauch sind, für uns von keinem Gebrauch sind. Und daß selbst bei denen, welche es sind, es solche unnütze Ausdehnungen und Vertiefungen gibt, über die wir besser täten, hinwegzusehn; und daß wir nach dem Rat des Sokrates uns mit unserem Studieren bloß an die halten sollen, welche nützen: sapere aude.« 4 Zu Montaignes Kanon der freien Künste5 zählte zwar die Musik, keineswegs allerdings das Theater. Dennoch sahen die Aufklärer im Theater eine Möglichkeit, Empfindsamkeit zu lehren.

2 | Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), http://guten berg.spiegel.de/buch/-3505/1/ (abgerufen am 14.03.2018). 3 | Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Kapitel 9, 8. Brief http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3341/9 (abgerufen am 14.03.2018). 4 | Michel de Montaigne, Essays. Kapitel 4: Über die Kinderzucht: an Madame Diane de Foix, Gräfin de Gurson (1793), Leipzig: Reclam, http://gutenberg.spiegel.de/buch/es says-6733/4 (abgerufen am 14.03.2018). 5 | Zu den sieben freien Künsten der Antike zählten die Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie.

Theater als Medium der Utopie

The ater als M edium der U topie Theater hatte seit seiner Entstehung immer einen sozialen Zweck zu erfüllen und als fait social (Adorno) etwas im gesellschaftlichen Leben zu bewirken. Diente das Theater der griechischen Antike der Aufrechterhaltung der Demokratie, so erfüllte das höfische Theater seinen Zweck als Medium der repräsentativen absolutistischen Selbstdarstellung. Die bürgerliche Gesellschaft schließlich übertrug die überkommene Aufgabe dem Maßstab der eigenen Ideologie. Die Verände­ rungen in der Gesellschaft drückten dem Theater als Institution einen neuen Stempel auf: Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts dachten Theater als utopisch inklusives Instrument der ethischen Gestaltung der Gesellschaft. Wegen der Unmittelbarkeit und direkt erkennbaren Wirkung auf ein Publikum galt es den Programmatikern der deutschen Aufklärung als das bevorzugte Medium zur »Erziehung des Menschengeschlechtes« (Lessing). War das Theater in der langen Spieltradition auch nicht unumstritten,6 so beriefen sich die Aufklärer unmittelbar auf die Befürworter der positiven Wirkung dieses Mediums. Schon Aristoteles sah in der Katharsis ein wirkmächtiges Stilmittel, und auch Horaz stellte in De arte poetica den Nutzen (prodesse) neben das Vergnügen (delectare). Für die sittlich-bildende Wirkung, das didaktische Potential des Theaters galt Aristoteles als Zeuge; von der Tragödie ließ sich die Wirkungsästhetik herleiten. Auch Gottscheds »Erziehungsprogramm« beruhte auf einer Lesart des Aristoteles. Er schätzte die Tragödie, denn sie »erbauet in dem sie vergnüget, und schicket ihre Zuschauer allezeit klüger, vorsichtiger und standhafter nach Hause.«7 In seinen Grundsätze[n] der Polizey, der Handels- und Finanzwissenschaft (1765) reihte auch Joseph Sonnenfels »die Ausbildung des Verstandes, der Neigungen, und überhaupt der sittliche Zustand der Bürger« unter die »erste Aufmerksamkeit der Polizei« (§ 37). Das Theater, die fruchtbringende Wirkung der Schauspiele auf die »Sitten, die Höflichkeit und die Sprache« war das probate Mittel dafür. Allerdings warnte auch Sonnenfels vor den tragischen Empfindungen, dass die »Tugend immer erliegt«; denn »gemeine Seelen« würden daraus die Lehre folgern: »Die Tugend bringt Nachtheil, das Laster ist glücklich: ich will glücklich seyn.« Und so forderte Sonnenfels, dass »kein Trauerspiel geendigt werden, wo

6 | Platon hatte Theater in der Politeia als Brutstätte der Affekte und Leidenschaften, die zu Sittenverderbnis führen, ausgemacht. Auf ihn beriefen sich nicht nur Tertullian und Augustinus, sondern vor allem auch die Vertreter des englischen Puritanismus. Daneben nützte im Mittelalter und in der Renaissance die Kirche das Theater jedoch auch als Lehrinstrument. 7 | Johann Christoph Gottsched, Ausführliche Redekunst (1729), zit. nach Klaus Lazarowicz/ Christopher Balme (Hg.), Texte zur Theorie des Theaters, Stuttgart: Reclam, o.J., S. 542– 547, hier S. 544.

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nicht der Tugend Vorzug erkennet, und das Laster auf das schärfste bestraft wird«.8 Besonders wichtig war dem Publikum der Aufklärung deshalb stets ein lieto fine, »ein zu positiver Lebenspraxis aufrufendes, interaktives Ende«, wie Alexander Kluge es definierte.9 »Weil man die kostbare Zeit, in der die Jahrzehnte der Aufklärung verrinnen, nicht dadurch vertrödeln darf, daß Konflikte in der Schwebe gehalten, daß Zweifel gesät, Defätismus und tragisches Mißlingen verbreitet werden. [...] Die Kritik an «instrumenteller Vernunft» und «Egozentrik des Verstandes» war um 1740 noch nicht ausgereift. Es war nicht der Lehrsatz oder die Verstandesleistung, [...], die den Erfolg eines Theaterabends entschieden, in positive Rage versetzten. Erfolgreich war der Witz, der mit einem glücklich endenden Finale überraschte. Diesem Schlußakkord mußte im Saal eine Welle der Traurigkeit vorangehen, eine VERDICHTUNG DES GEFÜHLS, eine SCHÜRZUNG DES TÖDLICHEN LIEBESKNOTENS, weil nur dann die Erleichterung, die Rippenfreude eintritt, die den Übergang vom Traum in die Wirklichkeit (nach Ende des Stücks) vorbereitet.«10

D er S chubk arren des E ssighändlers Der Verfasser der Zukunftsutopie Das Jahr 2440, Louis-Sébastien Mercier, ebenso wie sein deutscher Übersetzer Christian Felix Weiße (1726–1804) schrieben auch Dramen für das Theater. Merciers utopisches Credo, dass alle Künste, die den Verstand erweitern und schärfer machen, seine Seele vervollkommnen, ließ er in seine Arbeit einfließen. Als Dramatiker war er einer der frühen Autoren des zum Nationaltheater ernannten Theaters nächst der Burg. Dort wurde 1775 als Uraufführung Der Schubkarren des Essighändlers gegeben. Bis 1851 fanden regelmäßig, oft nur ein bis zwei Mal im Jahr, insgesamt 71 Vorstellungen statt. Auch auf anderen bedeutenden Bühnen des deutschsprachigen Raumes stand bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts der Essighändler auf dem Repertoire. Der Erfolg dieses Dramas spiegelt sich auch in elf deutschen Ausgaben des Textes in den Jahren 1775/7611 und in zahlreichen Bühnen-Bearbeitungen der folgenden Jahrzehnte. Was fesselte das Publikum jahrzehntelang am Schubkarren des Essighändlers? 8 | Joseph von Sonnenfels, Grundsätze der Polizey, der Handels- und Finanzwissenschaft. 1. Theil, Wien: Kurzböck, 31777, § 107–108. 9 | Alexander Kluge, Kongs große Stunde. Chronik des Zusammenhangs, Berlin: Suhrkamp, 2015 (ohne Seitenangaben). 10 | Ebd. – Hervorhebungen im Original. 11 | Thomas E. Keck, Der Essigmann auf der Hofbühne. Ein Beitrag zur Rezeption der französischen Dramatik am Gothaer Hoftheater 1775–1779, in: Anke Detken/Thorsten Unger/ Brigitte Schultze/Horst Turk (Hg.), Theaterinstitution und Kulturtransfer II (= Forum modernes Theater 22), Tübingen: Gunter Narr, 1998, S. 21–42, hier S. 28.

Theater als Medium der Utopie

Der Inhalt des Schauspiels ist schnell erzählt: Just in dem Moment, als ein reicher Kaufmann seine Tochter verehelichen will, ereilt ihn das Schicksal und er verliert sein Vermögen. Der nicht uneigennützige Schwiegersohn in spe sucht angesichts der finanziellen Misere das Weite. Der Sohn des Essighändlers, Angestellter des Kaufmanns, liebt die sitzengelassene Tochter aber trotzdem. Sein Vater erscheint in Arbeitskleidung samt Schubkarre (auf dem er sein Essigfass mitführt), um für seinen Sohn um die Hand der Kaufmannstochter anzuhalten. Die scheinbare ›Verletzung des äußeren Anstandes‹ irritiert den Sohn. Und der verarmte Kaufmann sieht seine Hoffnung schwinden, seine finanzielle Situation durch diese Heirat zu verbessern. Aber beide ändern ihre Meinung, als der Essighändler den reichen, durch jahrzehntelange Sparsamkeit erworbenen Inhalt seines Fasses sehen lässt. Alle Schwierigkeiten verschwinden, und die Hochzeit wird verabredet. Es war eben jener von Kluge beschworene »Witz, der mit einem glücklich endenden Finale überraschte«, und die »vorgeführte moralische Integrität des Pro­ tagonisten«, die das Publikum allabendlich rührte. »Der Auftritt des Essighändlers in seiner Alltagskluft und mit seinem banalen Gerät bildet[e] den dramatischen Höhepunkt des Stücks.«12 Auch wenn kritisiert wurde, der Essighändler wäre ein theatralischer, unnatürlicher Charakter, denn ein Mensch, dessen einziges Streben jahrzehntelang da­ rauf gerichtet gewesen sei, »sein Fässchen mit Geld zu füllen, kann nicht so gefühlvoll, so heiter, so großmüthig, so uneigennützig, ein so guter Vater sein, als uns der Essighändler gezeigt wird.«13 So trug gerade diese Unwahrscheinlichkeit dazu bei, die Rolle so anziehend und zur Paraderolle von Schauspielern wie Friedrich Ludwig Schröder und August Wilhelm Iffland zu machen. Denn obwohl man vom Lustspiel verlangte, dass es »gewöhnliche Sitten male«, so ließ sich das Publikum doch nur »durch Außergewöhnliches, Ungemeines ergreifen.«14

D ie U topie des guten A usgangs In der zeitgleich omnipräsenten italienischen Oper war das lieto fine fester Bestandteil bis ins späte 18. Jahrhundert, denn der Tod stellte ein bühnenästhetisches Tabu dar und »die Darstellung des ‹Hässlichen› – als Gegensatz zum

12 | Ebd., S. 30. Seine späteren Stücke wurden ebenfalls am Burgtheater aufgeführt, waren allerdings weniger erfolgreich: Die Gefahren der Verführung (21.4. – 30.6.1781, 4x); Die dürftige Familie (21.7.–16.8.1781, 4x); Der Richter (27.5.–1.6.1782, 2x); Olinth und Sophronia (13.2.–26.4.1788, 3x). 13 | Julien Louis Geoffroy, Journal de débats vom 24. Juni 1807, zit. nach Iris. Unterhaltungsblatt für Freunde des Schönen und Nützlichen 140, 13. Juli 1828, S. 558. 14 | Ebd.

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›Schönen› – galt als weithin verpönt«.15 Reinhard Strohm wies darauf hin, dass das dramma per musica bereits seit Monteverdi »nicht nur ein Drama der Affekte, sondern auch der humanistisch-gesellschaftlichen Normen« gewesen sei und »im Sinne der klassischen Poetik Pathos und Ethos [umfasste]«.16 Das lieto fine konditionierte das Publikum.17 Das melancholische Pathos der barocken opera seria wies auf eine »resignative Selbstbeschränkung« und vermittelte die »Aufopferung für eine prädestinierte Ordnung« als Tugend.18 Gleichzeitig enthielt das lieto fine, wie es später die Aufklärer bevorzugt einsetzten, ein utopisches Pathos, das dem Publikum die Möglichkeit zur Veränderung nahebrachte. Bis ins frühe 19. Jahrhundert herrschte die Vorstellung vor, dass der unglückliche Ausgang, die Gewaltbereitschaft nicht unumgänglicher Teil der Tragödie zu sein habe. August Wilhelm Schlegel betonte in seiner in Wien im Frühjahr 1808 gehaltenen fünften Vorlesung über dramatische Kunst und Litteratur, dass »keineswegs ein trauriger Ausgang unumgänglich nötig ist, und mehrere alte Tragödien [...] fröhlich und aufheiternd endigen.«19 Aristoteles hatte unter den vier Möglichkeiten der tragischen Gestaltung des Handlungsverlaufs jenen als den besten bezeichnet, in dem die Gewalt letzten Endes abgewendet wird. In diesem Fall würde der spezifische Zweck der Tragödie, die Katharsis, am besten erreicht werden – wenn die drohende Katastrophe eben dann nicht eintritt.20 Auf den Wiener Bühnen erfolgte die Übernahme des gewaltbereiten unglücklichen Ausgangs als Vorstellung dessen, was Tragödie zu sein habe, erst spät. Die Transformation der (griechischen) Tragödie in ihre bis heute gültige populäre Vorstellung als europäische Tragödie, die trotz vielfältiger Erscheinungsformen eine gemeinsame Besonderheit eint, erfolgte auf dem Wiener Theater erst nach 15 | Ursula Kramer, «Wozu muß das Stück einen froehlichen Ausgang haben?» Zum Finalproblem im deutschen Musiktheater des 18. Jahrhunder ts, in: Dies. (Hg.): Lieto fine? Musik-theatralische Schlussgestaltung um 1800. (= Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 40), Mainz: Francke Verlag, 2009, S. 35–70, hier S. 37. 16 | Reinhard Strohm, Dramma per musica in: Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil 2, Kassel: Bärenreiter, 21995, Sp. 1487. 17 | Ein Beispiel dafür sind die fünfzehn verschiedenen Barockopern, deren Komponisten den Orpheus-Mythos entgegen der Überlieferung bei Vergil und Ovid mit einem positiven Ende versahen; vgl. Jeffrey Buller, Looking backwards. Baroque opera and the ending of the Orpheus myth, in: International Journal of the Classical Tradition 1 (1995), S. 57–79. 18 | Vgl. dazu auch Thomas W70, Verbotene Träume. Zu Händels Oratorium »Semele« (Zeit online, Leserartikel-Blog, 9.01.2011) http://community.zeit.de/user/thomasw70/beitrag/2011/01/09/verbotene-tr%C3%A4ume-zu-h%C3%A4ndels-oratorium-quotsemelequot (abgerufen am 8.09.2017). 19 | August Wilhelm Schlegel, Kritische Schriften und Briefe, sechs Bände hg. von Edgar Lohner, 5. Bd., Stuttgart: Kohlhammer, 1966, S. 14. 20 | Vgl. Aristoteles, Poetik, übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam, 1994, S. 45, 47.

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der Revolution von 1848 in den Neuinszenierungen unter der Hoftheaterdirektion von Heinrich Laube. Das lieto fine, der Wiener Schluss, wurde erst dann ersetzt durch einen »so gut wie ausnahmslos unglückliche[n] Ausgang, der wiederum in aller Regel mit Blutvergießen einhergeht. Die Gewalt figuriert gleichsam als notwendiger Faktor. Was in der griechischen Antike eine Gestaltungsmöglichkeit war, ist in der europäischen Neuzeit zum absoluten Standard und veritablen Erfolgsmodell geworden.«21 Diese jahrzehntelang dominierende gewaltfreie Haltung auf der Wiener Bühne wurde nach den Umsturzjahren in Frankreich festgeschrieben durch eine Zensur, die aus einer Vielzahl von Interessen jede pejorative Darstellung von Religion und Kirche, Staat, Sitten und Moral untersagte und auch den Tod von Königen auf der Bühne nicht vorgestellt sehen wollte.22 Die Regeln, wie eine auf der Bühne verhandelte Geschichte zu zeigen wäre und zu enden hätte, wurden bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts befolgt: Shakespeares Lear, der am 13. April 1780 erstmals mit Heinrich Brockmann in der Titelrolle am Hoftheater gezeigt worden war, starb »ein Jahrhundert lang« nicht. Was im 18. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit war und gegebenenfalls als »unnatürlich und Fehler des Dichters« korrigiert wurde, wurde im 19. Jahrhundert auf Befehl der Obrigkeit befolgt: In Wien ist Lear besonders »spät gestorben«.23

21 | Arata Takeda, Die Erfindung der europäischen Tragödie. Zu einer gattungstheoretischen Unterscheidung der Neuzeit, in: Anne Bourgoignon/Konrad Harrer/Franz Hinter­ eder-Emmde (Hg.), Zwischen Kanon und Unterhaltung. Interkulturelle und intermediale Aspekte von hoher und niederer Literatur, Berlin: Frank & Timme, 2016, S. 269–286, hier S. 275. Takeda leitet diese Transformation aus der unterschiedlichen Rezeption der Kapitel 13 und 14 der Aristotelischen Poetik ab. 22 | Leitfaden für Theaterzensoren von Franz Karl Hägelin (1795), in: Karl Glossy, Geschichte der Wiener Theaterzensur (= Jahrbuch der Grillparzer Gesellschaft 7), Wien: Konegen, 1897, S. 291–328. Vgl. dazu auch M.R. Jones, Censorship as an obstacle to the production of Shakespeare on the stage of the Burgtheater in the nineteenth century, in: German life and letters 27 (1974) 3, S. 187–194; Matthias Mansky, Die frühe Shakespeare-Rezeption im josefinischen Wien. Überlegungen zur kritischen Haltung der Aufklärer Joseph von Sonnenfels und Cornelius von Ayrenhoff, in: Modern Austrian Literature 44 (2011) 1–2, S. 1–18. 23 | Wilhelm Oechelhaeuser, Shakespeare auf dem Wiener Burgtheater, in: Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft 4 (1896), S. 349–367, hier S. 354–355. – Im 18. Jahrhundert starben auch Romeo und Julia nicht: In Christian Felix Weißes Fassung (1768), die man im Hoftheater ab 1776 (3.10.–24.3.1789, 10x) gab, erwachte Julia, als Romeo noch lebte. Vgl. auch Roy Pascal, Shakespeare in Germany 1740–1815, Cambridge: Cambridge University Press, 1937, S. 71–72; Shakespeare und das Deutsche Theater. Eine Dokumentation, Köln: Theaterwissenschaftliches Institut der Universität, 1964, S. 16.

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K önig L ear Nach Brockmann prägte vor allem Heinrich Anschütz als Lear die Darstellung der Gestalt für Generationen von Besuchern, von der Neuinszenierung Josef Schreyvogels am 28. März 1822 bis ins Jahr 1860. Erst in Heinrich Laubes Inszenierung von 1851, in der ebenfalls Anschütz die Titelrolle verkörperte, starb Lear erstmals auf der Bühne. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt der geänderte, nach Shakespeares Original wiederhergestellte Schluss dem Rezensenten keine Erwähnung mehr wert.24 Denn ein Teil des Publikums mag bereits seit einigen Jahren jene Strategie der performativen Umdeutung des Ausgangs der Tragödie entwickelt haben, wie sie Adolf Bäuerle anlässlich der Wiederaufnahme im Jahre 1837 beschrieben hatte: »und wie auch der Ausgang blutig sey (ich halte mich an das Original, und umgehe die Umänderung des Schlusses für die Bühne, wo Lear und Cordelia am Leben bleiben, nur mit Stillschweigen), so bleibt doch nur sein Tod, das endliche Ausruhen nach so vielen Mühen, der versöhnendste Schlußstein des Ganzen.«25 1822 hatte der 36-jährige Heinrich Anschütz die Rolle erstmals übertragen bekommen und versucht, sich den Charakter des Lear »dem Originale getreu« anzueignen und nicht, wie vor ihm Iffland und andere berühmte Darsteller, den Lear »gleich bei seinem Erscheinen« als gänzlich erschöpften Greis darzustellen: »Ich denke mir den Lear als einen munteren rüstigen und jovialen Greis, der seine letzten Jahre noch sorglos und heiter verleben will und deshalb alle Regierungslasten von sich entfernt und auf kräftigere Schultern überträgt; nur hundert Ritter, die ihn als muntere Gesellschafter auf seinen Fahrten umgeben sollen, wählt er sich aus.«26 Mit der Aufteilung seines Reiches, der Aufgabe seiner Macht, verlor Lear unvermittelt Achtung und Gehorsam gleichermaßen. Diese Abstiegserfahrung, die zuerst seinen Geist und erst danach auch seinen Körper schwächte, machte Anschütz, gestützt auf Shakespeares Text, stufenweise sichtbar: »Als ihm sein ganzes Unglück klar wird, [...] die Erfahrung des herzlostesten Undanks, [...] verbunden mit dem zu spät erwachenden Bewußtsein eigener Thorheit und Ungerechtigkeit gegen bessere Wesen, [...] fleht er den Himmel an, ihm andere Waffen als Thränen [...] zu verleihen; [...] zwei Gedanken [blitzen dem König unaufhörlich hervor]: Königsstolz und Rache [...]. Es ist wohl das erschütterndste Schauspiel, eine solche Kraft vor unseren Augen vernichtet zu sehen.«27

24 | Wiener Zeitung, 12. Mai 1851, S. 436. 25 | Adolf Bäuerle, Allgemeine Theaterzeitung und Originalblatt für Kunst, Literatur, Musik, Mode und geselliges Leben 101, 22. Mai 1837, S. 406. 26 | Heinrich Anschütz, Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken, Wien: Sommer, 1866, S. 245–258, S. 249–250. 27 | Ebd., S. 252–253.

Theater als Medium der Utopie

Bei der Durchdringung des Charakters von Lear ärgerte Anschütz das von der Zensur geforderte Ende des Schauspiels, der glückliche Ausgang, »das kindische Verlangen, daß der vielgeplagte Greis schließlich am Leben bliebe, wieder zu Verstande komme und der Vater über seine entarteten Kinder, der König über seine Feinde triumphiere.«28 Und auf der Probe drei Tage vor der Premiere ging Anschütz »wüthend auf der Bühne umher, weil die Censur den Britenkönig nicht sterben lassen will.«29 Der Dramaturg des Burgtheaters, Josef Schreyvogel, wusste um die »Widersinnigkeit« dieser Zensur-Forderung in Hinblick auf den Shakespeare’schen Text und Anschütz’ Rollenaneignung. Er wusste jedoch auch, was man den Zuschauern zumuten konnte, und dass sie die Utopie des guten Ausgangs für den Heimweg und die Nachtruhe brauchten: »Er [Schreyvogel] wußte, daß sein Publicum noch nicht ganz geeignet war, so furchtbar erschütternde Eindrücke in sich selbst auszugleichen, daß ein sentimentaler Zug aus der Iffland-Kotzebue’schen Reper­ toirezeit einen friedlicheren Ausgang vorziehen und daß das Stück durch diese Concession populärer werden würde. Die ästhetische Sünde abgerechnet, kann man über die delicate Art und Weise, womit Schreyvogl [sic!] die Forderung seiner Zeit befriedigte, nicht genug würdigen. Er rettete nicht nur das Leben Lears und Cordelias, sondern fast alle dichterischen Schönheiten des letzten Actes und der Jubel des Publikums beim Erwachen Cordeliens war wirklich rührend.«30 Das Publikum wurde emotional von der Darstellung dermaßen mitgerissen, dass es den Schauspieler schon während der Vorstellung mehrmals bei offener Szene rief.31 »Die Grundlage des Charakters sympathisierte mit den Empfindungen und dem Urtheile des Publikums, das Vertrauen war geweckt und mit diesem wuchs von Scene zu Scene, von Act zu Act die überschwänglich freudige Anerkennung. Die Scene auf der Haide wurde von den Zuschauern mit einer Art stummen Entsetzens begleitet, das im vierten Acte mit der Wahnsinnsszene mit Gloster und Edgar und bei der Zeitscene mit Cordelia wieder in brausende Acclamation umschlug.«32 – »Die Wiener nahmen die ganze Rolle für gediegenes Gold und honorierten ihren Lear auf unerhörte, stürmische Weise.«33 Anschütz wurde durch seine Lear-Darstellung nicht nur in ganz Deutschland, sondern auch in England bekannt. Man ehrte ihn als »Shakespeare-Spieler«, und 28 | Ebd., S. 256. 29 | Carl Ludwig Costenoble, Aus dem Burgtheater 1818–1837, Wien: Carl Konegen, 1889, 1. Bd., S. 173–174. 30 | Anschütz 1866, S. 257. 31 | Und da ein sogenannter Hervorruf, der öffentliche Dank eines Schauspielers von der Bühne herab, verboten war, musste sogar in die Inszenierung eingegriffen werden, eine »kurze Szene (zwischen Goneril und Albanien) weggelassen werden«, um Anschütz »gleich die nächste Szene beginnen zu lassen« (Anschütz 1866, S. 256). 32 | Ebd. 33 | Costenoble 1889, S. 174.

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Schreyvogel gründete auf dem Lear die Vervollständigung des Shakespeare-Repertoires des Burgtheaters. Adalbert Stifter beschrieb die Wirkung dieser Darstellung des Lear durch Anschütz im Nachsommer (1857) ausführlich und bezog sich dabei auf eine Schilderung Ludwig Tiecks, der seine Eindrücke von einem Theaterbesuch am 20. Mai 1825 festgehalten hatte. Die faszinierende Wirkung der Darstellung erklärte Tieck durch eine geistige Verwandtschaft von Darsteller und Dichter, die Stifter wörtlich übernahm.34 Stifter galt der darstellende Künstler als Bildungsinstanz, er verortete die wahre Natur großer Kunst und den moralischen Anspruch im schaffenden wie interpretierenden Künstler gleichermaßen. An zentraler Stelle seines Entwicklungsromans Nachsommer projiziert Stifter die Anschütz-Lear-Erfahrung mehrerer Generationen von Theaterbesuchern auf seinen Protagonisten.35 Ohne den Namen des Schauspielers oder des Theaters zu nennen, zitierte Stifter für sein Leserpublikum »das europäische Theaterereignis der Zeit« und weckte damit die Erinnerung an die schauspielerische Wirkung und die daran schließenden Diskussionen.36 Es lebte damals auf der Hofbühne ein Künstler, von dem der Ruf sagte, daß er in der Darstellung des Königs Lear von Shakespeare, das Höchste leiste, was ein Mensch in diesem Kunstzweige zu leisten im Stande sei. Die Hofbühne stand auch in dem Ruf der Musteranstalt für ganz Deutschland. Es wurde daher behauptet, daß es in deutscher Sprache auf keiner deutschen Bühne etwas gäbe, was jener Darstellung gleich käme, und ein großer Kenner von Schauspieldarstellungen sagte in seinem Buche über diese Dinge von dem Darsteller des Königs Lear auf der Hofbühne, daß es unmöglich wäre, daß er diese Handlung so darstellen könnte, wie er sie darstellte, wenn nicht ein Strahl jenes wunderbaren Lichtes in ihm lebte, wodurch dieses Meisterwerk erschaffen und mit unübertrefflicher Weisheit ausgestattet worden ist. – Ich beschloss daher, da ich diese Umstände erfahren hatte, der nächsten Vorstellung des Königs Lear auf unserer Hofbühne beizuwohnen. 37

34 | »Wenn nicht ein Strahl jenes wunderbaren Lichtes in ihm lebte, wodurch dieses Meisterwerk erschaffen und mit unübertrefflicher Weise ausgestattet worden ist.« Ludwig Tieck, Kritische Schriften IV, Leipzig: F.A. Brockhaus, 1852, S, 33–37. Vgl. Eric A. Blackall, Adalbert Stifter. A critical study, Cambridge: Cambridge University Press, 1948, 22011, S. 67. 35 | Ebd., S. 68. 36  | Vgl. Ulrich Dittmann, Stifters Physiognomik, in: Alfred Doppler/Johannes John/Johann Lachinger/Hartmut Laufhütte, Stifter und Stifterforschung im 21. Jahrhundert. Biographie – Wissenschaft – Poetik, Tübingen: Niemeyer, 2007, S. 127–136, hier S. 132. 37 | Adalbert Stifter, Der Nachsommer. Eine Erzählung, hg. von Wolfgang Frühwald und Walter Hettche, in: Adalbert Stifter, Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe, hg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald, Bd. 4.1, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1997, S. 197.

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Bei seinem Theaterbesuch erschütterte die Undankbarkeit der beiden schmeichlerischen Töchter, die Treue der verstoßenen Cordelia und Lears Wandlung vom Mann, der »jeder Zoll ein König« war, zu einem um Vergebung bittenden Greis nachhaltig auch Stifters Protagonisten im Nachsommer: Mein Herz war in dem Augenblicke gleichsam zermalmt, ich wußte mich vor Schmerz kaum mehr zu fassen. Das hatte ich nicht geahnt, von einem Schauspiele war schon längst keine Rede mehr, das war die wirklichste Wirklichkeit vor mir. Der günstige Ausgang, welchen man den Aufführungen dieses Stücks in jener Zeit gab, um die fürchterlichen Gefühle, die diese Begebenheit erregt, zu mildern, that auf mich keine Wirkung mehr, mein Herz sagte, dass das nicht möglich sei, und ich wußte beinahe nicht mehr, was vor mir und um mich vorging. Als ich mich ein wenig erholt hatte, that ich fast scheu einen Blick auf meine Umgebung, gleichsam, um mich zu überzeugen, ob man mich beobachtet habe. Ich sah, daß alle Angesichter auf die Bühne blickten, und daß sie in starker Erregung gleichsam auf den Schauplatz hingeheftet seien. 38

Stifters Held, Heinrich Drendorf, suchte die Theatererfahrung der Besucher des vergangenen 18. Jahrhunderts noch einmal zu durchleben und Stifter ließ seine Leser retrospektiv daran teilhaben. Das lieto fine, »der günstige Ausgang«, der aufgeklärte philanthropisch heitere Schluss, wird in der Sicht der Spätgeborenen allerdings bereits als auf den Protagonisten wirkungsloser Trick entlarvt, »die fürchterlichen Gefühle, die diese Begebenheit erregt, zu mildern«. Theater als utopisches Instrument wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend wirkungsschwächer. Zu sehr hatte der durch Erfahrungen gespeiste Wirklichkeitssinn den aus Utopien geborenen Möglichkeitssinn überlagert. Im von der Aufklärung geprägten 18. Jahrhundert erfüllte der glückliche Ausgang, das lieto fine als utopischer Anhang, das pädagogische Interesse einer Sensibilisierung des Publikums. Als Basis der ethischen Neugestaltung der Gesellschaft lehrte Traurigkeit Empfindsamkeit und Empathie, und die danach eintretende Erleichterung (das gute Ende) bereitete den Übergang vom Traum (auf der Bühne) in die Wirklichkeit (vor dem Theater) vor und entließ das Publikum voll Hoffnung.

38 | Ebd.

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Die »Brückenbauer« Mathias Enard – Abdelkebir Khatibi – Fouad Laroui – Abdelwahab Meddeb – Lizzie Doron – Boualem Sansal Alfonso de Toro Michael Rössner: Einem teuren und bewunderten Freund zugeeignet

E inleitung : D ie »B rückenbauer « Wir leben in turbulenten und besorgniserregenden Zeiten, die einerseits vom Terrorismus, andererseits durch populistische, rechtsradikale Parteien erschüttert werden. Beides verbreitet einen erschreckenden Nationalismus, Intoleranz, Xenophobie, Antisemitismus, Isolation und Gewalt als Lebensprinzip. Darüber hinaus haben wir als Ergebnis eine Antiterror- und Sicherheitspolitik zum Schutz des Staates und der Bevölkerung, die immer mehr zu einem erzwungenen, kaum kontrollierbaren repressiven Überwachungssystem wird, das immer mehr Bürgerrechte einschränkt und dessen Konsequenzen für den Bestand der europäischen Demokratien unabsehbar sind. In einer solchen erdrückenden Situation sind aufgeklärte und tolerante Stimmen, die für einen Dialog zwischen den Kulturen eintreten, die uns an die gemeinsame Geschichte zwischen dem sogenannten ›Orient‹ und dem sogenannten ›Okzident‹ erinnern und uns diese in der Gegenwart bewusst machen, so notwendig wie die Luft zum Atmen. Es ist doch dieses fast vergessene historische, kulturelle und intellektuelle Gedächtnis, über das wir nicht mehr wagen laut zu reden, das uns aber fehlt und dessen Darlegung auf der Grundlage ausgewählter Autoren den Gegenstand unserer Überlegungen bilden wird. In der Tat, es sind diese ›kulturell-brückenschlagenden Stimmen‹, die unzählige kulturelle Passagen und Dialoge, zivilisierte und konstruktive Debatten sichtbar und möglich machen und fördern. Diese AutorInnen setzen sich mit einem Diskurs ein, der die Mehrheit der okzidentalen und orientalischen Kulturen charakterisiert. Sie vertreten gastfreundliche und tolerante Kulturen und Menschen

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gegenüber der kulturellen Differenz, und das trotz aller Probleme, die die europäischen Regierungen angesichts der Flüchtlingskrise erleben, und trotz der vielen erlassenen Restriktionen bei der Aufnahme von Schutzsuchenden. Diese tolerante und weltoffene Mehrheit ist oft unsichtbar oder schwer wahrnehmbar, sie ist aber da und das trotz der skandalträchtigen medialen Lautstärke populistischer Diskurse und Aktionen, die die tatsächliche Situation verzerren. Mathias Enard, Abdelkebir Khatibi (†), Fouad Laroui, Abdelwahab Meddeb (†), Lizzie Doron und Boualem Sansal haben sich neben vielen anderen engagiert und tun das heute noch. Sie nahmen und nehmen am politischen Diskurs einerseits durch öffentliches Auftreten und durch Aktionen teil und andererseits durch ihre Schriften, in denen sie ihre Erfahrungen, Positionen und Ideen niederlegen, die eine sensible, aufgeklärte und offene Haltung gegenüber den ›differenten Anderen‹ offenlegen. Ausgehend vom eben Erörterten und aus Gründen des gewährten Umfangs kann ich nur einige Fragmente aus den Werken der ausgewählten AutorInnen behandeln, um meine Überlegungen darzulegen. Sie werden die Beschreibung unterschiedlicher Positionen und Alternativen zum Gegenstand haben, die nicht nur die Möglichkeit zu einem friedlichen gemeinsamen Leben und zur gegenseitigen Bereicherung beider großer Kulturen mit all ihren Konflikten und Reibungspunkten aufzeigen soll, sondern auch das lange gemeinsame Erbe kundtun: Zwei große Zivilisationen mit unterschiedlichen Traditionen und Religionen, genannt ›Okzident‹ und ›Orient‹, werden durch Literatur, Kunst, Sozialwissenschaften und Philologien so behandelt, dass klare Alternativen zum Terrorismus und zur Intoleranz kraft eines offenen Denkens und mächtiger Diskurse in Aussicht gestellt werden.

M athias E nard Ich beginne mit einem Roman von Mathias Enard, Boussole, der 2015 den Prix Goncourt und 2017 den Leipziger Buchpreis für die Europäische Verständigung erhalten hat.1 Dieser Roman deckt auf, legt frei und beschreibt kritisch, virtuos und gelehrsam den tiefen und vielfältigen kulturellen Austausch zwischen ›Okzident‹ und ›Orient‹ als ein grandioses Netzwerk von Beziehungen im Rahmen eines Meeres von unzähligen und vielfältigen, schwindelerregenden und atemberaubenden, ja rasenden autobiographischen, historischen, künstlerischen und literari­ schen Referenzen. Diese sind mit unterschiedlichen, erlebten oder imaginierten Erfahrungen vermengt, die von einem großartigen Dialog, einer Faszination und einer Leidenschaft für ›Okzident‹ und ›Orient‹ zeugen, aber gleichzeitig über eine aufgrund des globalen Terrorismus und unterschiedlicher Konflikte in der muslimi­ schen Welt fast vergessene, geleugnete und vergrabene Geschichte Auskunft geben. 1 | Mathias Enard, Boussole, Paris: Actes Sud, 2005.

Die »Brückenbauer«

Franz Ritter, Erzähler und Hauptfigur, ein österreichischer Kosmopolit, ein postmoderner Reisender des Orients und Musikwissenschaftler, beginnt seine traumähnliche Erzählung als Resultat des zufälligen Zusammenkommens einer negativen Gesundheitsdiagnose und des Eintreffens eines wissenschaftlichen Beitrags seiner alten und hochgeschätzten Freundin Sarah, was eine Kette von Erinnerungen an seine Vergangenheit und an diese Orientalistin auslösen und ihm den Schlaf rauben wird.2 In diesem traumwandlerischen Erinnerungs-Parcours spielt die Doktorarbeit seiner Freundin eine fundamentale Rolle insoweit, als sie einen konstitutiven Teil des Romans ausmacht.3 Wir haben hier eine von Cervantes in Don Quijote eingeführte Technik, sehr beliebt bei Borges und Bolaño, jene der ›mise en abyme‹, des ›Buches im Buche‹. Darüber hinaus wird eine große Zahl von Texten (wie etwa Panorama d’Istanbul depuis la tour de Galata oder das Journal de Constantinople – Echo de l’Orient), Archiven und Zeitschriften der Epoche herangezogen, die auch einen Teil seiner Erinnerungen und seine Erzählung tragen. Die Struktur der Erzählung ist so rhizomatisch wie sein eigenes Leben und wie die beschriebenen historischen Prozesse. Wir haben ein unendliches Spinnennetz, das uns zum Reisen einlädt – wie Boualem Sansal in seiner großartigen und meisterhaften Petit éloge de la mémoire4 darlegt –, nicht nur durch unterschiedliche Jahrhunderte, vor allem das 19. und 20., sondern durch unterschiedliche Kulturen, Geschichten und Disziplinen sowie durch verschiedene Schicksale und durch eine unendliche Eruditio bzw. ein entmutigendes Wissen, das uns verleitet, uns während dieser referenzträchtigen Lektüre zu verlieren, uns aber auch zum Träumen inspiriert. Zugleich droht dieses Erzählverfahren dem Leser mit dem Kontrollverlust über die Lektüre und stellt ihn vor den Abgrund bzw. vor die Beinahe-Kapitulation, die Lektüre fortsetzen zu können. Das Buch fordert uns als Leser heraus und zwingt uns dazu, Bibliotheken und Enzyklopädien und unzählige Male Google sowie zahlreiche Textsorten bis zur Erschöpfung zu bemühen, wie wir es auch bei der Lektüre der Werke von Borges oder Bolaño erfahren. Enard – ein Bewunderer und Kenner der Literatur in spanischer Sprache, ein neuer Borges, ein neuer Bolaño, auch kosmopolitisch und gelehrsam wie diese – rettet uns durch das Einsetzen iterativer Strukturen, die wie ein Ariadnefaden fungieren. Die Deskriptionen des Erzählers stellen nicht nur eine Suche, eine Entdeckung und eine Offenbarung einer unbekannten Welt für den Leser des Romans dar, sondern sie sind auch für den Erzähler ein Mittel, den Sinn seines Lebens und seine Identität, seinen Ort in dieser hybriden und kosmopolitischen Welt zu finden: »Sa quête du sens de l’Orient, interminable, infinie – j’avoue avoir douté de

2 | Vgl. ebd., S. 7–8, 21. 3 | Vgl. ebd., S. 9–10. 4 | Boualem Sansal, Petit éloge de la mémoire. Quatre mille et une années de nostalgie, Paris: Gallimard, 2007.

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mes certitudes, réfléchi à mon tour […].«5 Diese Fremdheitserfahrung führt manchmal zur Selbstzerstörung des Individuums, das das Erdrückende der Alteri­ tät oft nicht ertragen kann: Si nous entrons dans ce travail par Hedayat et sa Chouette aveugle, c’est que nous nous proposons d’explorer cette fêlure, d’aller voir dans la lézarde, de nous introduire dans l’ivresse de celles et ceux qui ont trop vacillé dans l’altérité; nous allons prendre la main du petit homme pour descendre observer les blessures qui rongent les drogues, les ailleurs, et explorer cet entre-deux, ce barzakh, le monde entre les mondes où tombent les artistes et les voyageurs. 6

Oder: Il y a quelque chose de fascinant, que ce soit précisément un Levantin [August Ritter Freiherr, originellement Abramović] qui fasse le chantre du nationalisme hongrois par l’intermédiaire de son héros Mildos Zrinyi, grand pourfendeur des Turcs; c’est sans doute cette contradiction intime et profonde qui le poussera vers la folie, folie si grave qu’elle conduira à son internement et à sa mort, à l’âge de quarante-trois ans. Adelburg, premier musicien européen d’importance né dans l’Empire ottoman, termine sa vie dans la démence, dans la faille de l’altérité; comme si malgré tous les ponts, tous les liens tendus par le temps, la mixité s’avérait impossible face à la pathologie nationaliste qui envahit petit à petit le XIX e siècle et détruit, doucement, les passerelles fragiles construites auparavant pour ne laisser la place qu’aux rapports de domination.7

Franz Ritter stellt Österreich, und darin Wien, als »Porta Orientis«8 sowie Istanbul in einem Zeitraum, der sich vom 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg erstreckt, ins Zentrum seiner Erinnerungen. Beide Orte sind jeweils Symbol und Darstellung der Verflechtung und Verschränkung beider Kulturen und auch der Transkulturalität, wo sich Fragen der Alterität stellen und stets verhandelt werden müssen. Wien und Istanbul bilden – so Ritter – das multikulturellste Zentrum der Welt. Überall waren Spuren davon zu finden, die auch noch heute zu finden sind, wie z.B. in den zahlreichen Museen, in einer Flut von Reiseberichten, in den Werken der Orientalisten, in der Musik, in zahlreichen Inschriften, in der massiven Rezeption orientalischer Schriftsteller, Intellektueller, Philosophen und Musiker wie Sadeq Hedayat oder Omar Khayyam, Dichter, deren Werke Breton ursprünglich veröffentlichen wollte,9 oder Friedrich Rückert, Dichter und Orientalist, dessen Dichtung von der Dichtung von Ḫāǧe Šams ad-Dīn Moḥammad Ḥāfeẓ-e 5 | Enard 2005, S. 17. 6 | Ebd., S. 11. 7 | Ebd., S. 76. 8 | Ebd., S. 17. 9 | Vgl. ebd., S. 9ff.

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Šīrāzī, auch bekannt durch den Divan, inspiriert und von Gustav Mahler in seinen fünf Kindertotenliedern10 verwendet wurde. Wir erfahren, dass Rückert ein Schüler des großen Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall war, dieser seinerseits Freund von Silvestre Sacy, dem Philologen und Gründer des modernen französischen Orientalismus. Das Problem, das der Erzähler als Österreicher und Wiener zunächst hat, vor allem mit der Formel »Wien – Porta Orientis«, ist, dass er Wien primär mit Schubert, Richard Strauss, Mahler oder Schönberg in Verbindung bringt, obwohl dort auch der »ćevapćići« oder die Paprika zu finden wären, wie er anmerkt.11 Daher hat er Probleme »à entrevoir quoi que ce soit qui évoque un tant soit peu l’orient«.12 Aus diesem Grund missbilligt er in einem ersten Moment die Hoffmansthalsche Formel »Vienne porte de l’Orient«13 und tut sie als Klischee ab. Aber die Kraft der historischen Fakten zwingt ihn, sich unaufhörlich die Frage zu stellen: […] de comprendre pourquoi et comment tant de voyageurs ont vu en Vienne et en Budapest les premières villes «orientales» et ce que cela peut nous apprendre sur le sens qu’ils donnent à ce mot. Et si Vienne est la porte de l’Orient, vers quel orient ouvre-telle?14

um festzustellen, dass es in dem »cosmopolitisme de la Vienne impériale quelque chose d’Istanbul, quelque chose de l’Oster-Reich, de l’empire de l’Est […]« gab, 15 das aber heute inexistent sei. Im Verlauf seiner Suche entdeckt Ritter das Pendant zu Wien: Istanbul/Konstantinopel, wo Grillparzer zufolge »le monde entier n’offre peut-être rien de comparable«.16 Ritter beschreibt die »puissance« der Stadt mit ihren Palästen und Monumenten, die ihn zutiefst bewegen und ihn mit Energie erfüllen: »la ville la plus à l’est de l’Europe ou la plus à l’ouest de l’Asie, comme un fin ou un commencement, comme une passerelle ou une lisière«.17 In dem bereits erwähnten Journal de Constantinople – Écho de l’Orient entdeckt Ritter im Verlauf des 19. Jahrhunderts einmal eine massive Präsenz der von der Faszination der Region angezogenen europäischen Eliten und ein anderes Mal eine unbändige Neugier und Großzügigkeit eines Sultans für die europäische Musik und Kultur; ganz Europa scheint sich in Istanbul zu finden.18

10 | Vgl. ebd., S. 24–26. 11 | Ebd., S. 17. 12 | Ebd. 13 | Ebd. 14 | Ebd. 15 | Ebd. 16 | Ebd., S. 57. 17 | Ebd. 18 | Vgl. ebd.

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Diese Beobachtung eines Orients in Wien und eines Okzidents in Istanbul hebt Grenzen auf und gibt diesen zwei kulturellen und historischen Topographien eine Durchlässigkeit, die auf einer permanenten Oszillation beruht, die von Neugier, Leidenschaft und Faszination für den ›differenten Anderen‹ getragen wird. Nach der iberischen Halbinsel im Zeitraum vom 7. bis zum 15. Jahrhundert erstreckte sich die transkulturelle Welt im 19. Jahrhundert von Österreich über Ungarn und den Balkan bis zum Bosporus. Diese Welt war der letzte große Raum der Diversität – so Ritter –, die heute teilweise aufgrund autoritärer und diktatorischer Regime und durch den globalen Terrorismus eine konfliktträchtige Region des Ausschlusses geworden ist. Im Folgenden möchte ich einige Beispiele von diesem kulturellen Treiben, von diesem Austausch und von diesem Dialog an den Schnittstellen von Kulturen, Bereichen und Disziplinen geben. Die Musik und die Literatur können als zwei wunderbare Beispiele fungieren, weil Ritter nicht nur ein Experte für orientalische Musik ist, sondern auch in Sachen Literatur sehr bewandert ist. Ich habe bereits den Fall ›Mahler–Rückert–von Hammer-Purgstall–Ḥāfeẓ-e‹ erwähnt. Diese sehr gut bekannte und dokumentierte Beziehung wird von Ritter als ein Abenteuer und als eine tiefgreifende emotionelle Beziehung detailliert beschrieben, die ich hier allerdings stark verkürzt wiedergebe, um das Funktionieren dieses rhizomatischen Spinnennetzes zu illustrieren: Rückert übersetzt zusammen mit Hammer-Purgstall Le divan von Hafis,19 dessen Lyrik ihn zu seiner Lyriksammlung Oestliche Rosen (1822) als Antwort auf Goethes West-östlichen Divan inspiriert hat – eine weitere Interaktion zwischen ›Okzident‹ und ›Orient‹. Diese Texte sind, wie oben erwähnt, von Gustav Mahler 1859 als Kindertotenlieder bzw. als die fünf Rückert-Lieder vertont worden.20 Auf diese Weise, mit dieser Art des kulturellen Spurennetzes findet eine unbeabsichtigte Hybridisierung zwischen ›Orient‹ und ›Okzident‹ statt, derer sich die Akteure selbst vielleicht nicht einmal bewusst waren. Ich möchte diese Hybridisierung ›Okzirient‹ nennen. Dies geschieht im Anschluss an Khatibis Formulierung »Tolédance«, die dieser, auf der Basis des Don Quijote, zur Beschreibung des Zusammenlebens zwischen den Muslimen, den Christen und den Juden im Spanien von Cervantes verwendet. Zu diesem musikalischen Kontext muss man Mozart, Beethoven und Liszt hinzufügen. Laut Ritter sei Mozart »le génie de la synthèse et reprend magnifi­ quement toutes les caractéristiques du style ›turque‹ […]«.21 Mozart gelinge es nach Meinung von Ritter vorbildlich, den »son turc« zu treffen, einen Stil, der von Beet­ hoven in seinen »Türkischen Marsch« in der Sammlung Die Ruinen von Athen op. 113 aufgenommen wird. All das – so Ritter – zeuge vom Verhältnis »du soi dans l’autre«.22 19 | Ḫāǧe Šams ad-Dīn Moḥammad Ḥāfeẓ-e Šīrāzī, auch Muḥammad Šams ad-Dīn genannt. 20 | Vgl. Enard 2005, S. 25ff. 21 | Ebd., S. 40. 22 | Ebd., S. 47.

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Liszt, ein weiteres prominentestes Beispiel,23 gibt 1847 auf Einladung des Sultans Abdülmecit Konzerte in Istanbul. Dieser ist ein Musikbegeisterter wie sein Bruder Abdülazi, »le premier wagnérien d’Orient«,24 der »le premier ensemble ottoman, l’orchestre privé d’Abdülaziz« gründet.25 Das zweite und letzte Beispiel aus dem Roman Boussole, das ich gerne kurz besprechen möchte und das wunderbar diesen hybriden und nomadischen kulturellen Raum beschreibt, ist Ritters Hinweis auf Balzac, einen Autor, mit dessen Werk ich mich als Student an der Universität München (1973–1977) und dann von 1978 an als Dozent an den Universitäten Kiel, Hamburg und Leipzig befasste, allerdings aus der Perspektive einer ›reinen‹ französischen Literatur des sogenannten ›Realismus‹. Diese Perspektive ist das Resultat – und damit bewerte ich meine damalige Lesehaltung mit der heutigen historischen Distanz und Erfahrung – eines hegemonischen und eurozentrischen, puristischen, ja aristokratischen Blicks auf das, was die französische Literatur ›sein sollte‹. Wir lernen von Ritter aber, dass es Balzac war »[…] le premier romancier français à inclure un texte en arabe dans un de ses romans!«, und dass er eine so enge Freundschaft mit Hammer-Purgstall pflegte, dass er ihm seinen Roman Le Cabinet des Antiques26 widmete. Der von Ritter thematisierte Roman ist aber La peau de chagrin. Ich war zu jener Zeit derart ›blind‹ (aber nicht nur ich, denn in der ersten Originalausgabe von 1831 »il manquait le texte arabe, inclus seulement dans la réédition de 1837«, wie Ritter berichtet).27 Alles, was mir an dieser Stelle damals in den Sinn kam, war am Rande des arabischen Textes »Faust« zu notieren, in Bezug auf die entsprechende Stelle in Goethes Faust. Aber dieses arabische Zitat veranlasste mich damals nicht, mich mit den orientalischen Hintergründen desselben zu befassen:

23 | Vgl. ebd., S. 65ff. 24 | Ebd., S. 66. 25 | Ebd., S.73. 26 | Ebd., S.77. 27 | Ebd.

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Es brauchte den Roman Boussole, mehrere Jahrzehnte später, um zu begreifen, bis zu welchem Ausmaß die französische, sogar die ›französischste‹ Literatur (und man könnte hinzufügen, ›die deutscheste‹, die ›italienischste‹, die ›englischste‹ oder ›spanischste‹ Literatur) mit der orientalischen Kultur verschränkt war: »On assiste ici à la formation d’un réseau artistique qui irrigue depuis Hammer­ Purgstall l’orientaliste toute l’Europe de l’Ouest, de Goethe à Hofmannsthal, en passant pour Hugo, Rückert et Balzac lui-même«28 – so Ritter –, und ich möchte ergänzen: und auch viele andere Künstler, Musiker, Schriftsteller und Intellektuelle aus Europa und auch aus anderen Teilen der Welt. Diese monumentale Verschränkung zeigt sich z.B. bei Abdelwahab Meddeb, der drei Jahre zuvor beim Festival Amazigh von Fès, als er über »Averroes‘ Suche« sprach, von Borges sagte, dass der argentinische Autor »der beste Kenner der orientalischen Kultur« wäre. Wir alle, die sich mit der maghrebinischen Kultur befassen, wissen, dass auch diese Kultur von der spanischen bzw. lateinamerikanischen Literatur durchdrungen ist, wie Khatibi in verschiedenen Essays, etwa in Causerie sur Borges et les Arabes29 oder in Cervantès et la Modernité30 belegt. Aber auch Cervantes’ Don Quijote kennt viele Anleihen aus dem Arabischen (etwa das Kapitel »Der Gefangene«). Man kann des Weiteren auf die Beziehung zwischen Khatibi und Jacques Hassoun hinweisen, die in ein gemeinsames Buch, Le même livre,31 mündete und seinen kosmopolitischen, großzügigen und toleranten Geist zeigt. Aber auch andere beredte Beispiele lassen sich anführen, etwa den Roman L’enfant de sable von Ben Jelloun,32 der eine große Hommage an Borges darstellt, oder La vieille dame du riad von Fouad Laroui,33 der hier einen Dialog mit García Márquez unterhält; und ich könnte die Liste mit Beispielen auf beiden Seiten ad libitum fortsetzen.

A bdelkebir K hatibi Im Kontext des Maghreb möchte ich unbedingt Khatibi kurz erwähnen und unterstreichen, dass für mich der Maghreb und vor allem Marokko »une nécessité vitale et une fascination particulière pour ce territoire-laboratoire« darstellt, wie ich im Vorwort meines Buches Epistémologies: Le Maghreb schrieb.34 28 | Ebd., S.79. 29 | Abdelkebir Khatibi, Causerie sur Borges et les Arabes (De la littérature internationale), in: Abdelkebir Khatibi, Penser le Maghreb, Rabat: SEMR, 1993, S. 84ff. 30 | Abdelkebir Khatibi, Cervantès et la Modernité, in: Œuvre de Abdelkébir Khatibi. III Essais, 2005, 22008, S. 233–241. 31 | Abdelkebir Khatibi/Jacques Hassoun, Le même livre, Paris: Editions de l’éclat, 1985. 32 | Tahar Ben Jelloun, L’enfant de sable, Paris: Seuil, 1985. 33 | Fouad Laroui, La vieille dame du riad, Paris: Julliard, 2011. 34 | Alfonso de Toro, Epistémologies: Le Maghreb, Paris: L’Harmattan, 2009, 22011, S. 8.

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Enards Schaffen und das Schaffen vieler anderer SchriftstellerInnen, KünstlerInnen, AkademikerInnen sowie unterschiedlicher Institutionen im Maghreb selbst (etwa das jährlich im Juli wiederkehrende größte Amazigh Festival des Maghreb), stellt Prozesse dessen dar, was ich seit 2004 ›translatio‹/›translación‹ nenne, diese transformierende, rekodifizierende, erneuernde Maschine, die alle möglichen kulturellen, sozialen oder wissenschaftlichen Bereiche erfasst.35 Der Maghreb und speziell Marokko stehen heute stellvertretend für das, was Istanbul und Wien transkulturell bedeuteten, eine Kartographie von Passagen, geprägt von Offenheit und Toleranz, die immer wieder bedroht wird, die sich aber gleichwohl durch das Engagement und die Solidarität all jener, die in dieser Region arbeiten, immer weiter entwickelt. Für Khatibi, wissen wir, ist die ›bi-‹ oder ›pluri-langue‹, d.h. die kulturelle und epistemologische translatio, existenziell für das menschliche Miteinander, für die soziale und kulturelle Entwicklung und nicht zuletzt für jede Gesellschaft und jeden Staat, um einen eigenen Heimatort zu finden und somit einen Beitrag zum Dialog unter den Kulturen und zum Frieden zu leisten,36 so etwa wenn er schreibt: Permutation permanente [...]. Passage multiple selon un chassé-croisé: ici, deux langues et une diglossie, scène de ses transcriptions. Il avait appris que toute langue est bilingue, oscillant entre le passage oral et un autre, qui s’affirme et se détruit dans l’incommunicable. 37

Nietzsche, Heidegger, Blanchot und Derrida folgend entfaltet Khatibi in Maghreb Pluriel38 ein neues Denken auf der Basis eines dialogisch-translatologischen Konzeptes der »pensée-autre« und der »double critique«:

35 | Vgl. Alfonso de Toro, Carlos Fuentes, El naranjo 1994, Hybriditäts- und Translationsstrategien für einen neuen (transversalen) historischen Roman, in: Barbara Dröscher/Carlos Rincón (Hg.), Carlos Fuentes’ Welten. Kritische Relektüren, Berlin: Walter Freym, 2004, S. 73–95; Ders., Historiografía como construcción translatológica y transversal en la novela latinoamericana y española contemporánea (A. Roa Bastos, C. Fuentes, M. Vargas Llosa y A. Gala), in: Alfonso de Toro et alii (Hg.), Expresiones liminales en la narrativa latinoamericana del Siglo XX. Estrategias postmodernas y postcoloniales, Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms, 2007, S. 75–134; Ders., Translatio e Historia, in: Rafael Olea Franco (Hg.), In Memoriam. Jorge Luis Borges. México, D.F.: El Colegio de México, 2008, S. 191–236; Ders. (Hg.), Translatio. Transmedialité et transculturalité en littérature, peinture, photographie et au cinema. Amériques – Europe – Maghreb, Paris: L’Harmattan, 2013. 36 | Vgl. de Toro 2009, 22011. 37 | Abdelkebir Khatibi, Amour Bilingue, Casablanca: Ediff, 1983, 21992, S. 26–27. 38 | Ders., Maghreb Pluriel, Paris: Denoël, 1983.

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Alfonso de Toro […] la pensée-autre se situe aux limites de ses possibilités. Car, nous voulons décentrer en nous le savoir occidental, nous décentrer par rapport à ce centre, à cette origine que se donne l’Occident. 39 […] la philosophie arabe […] est grecque par essence [...]. [...] le Dieu d’Aristote est entré dans l’islam avant l’arrivée de celui-ci […] La théologie de l’islam et son épistémè globale étaient précédées par Aristote qui leur préexiste. Cette théologie de l’islam serait-elle d’abord une traduction? La traduction en arabe du monothéisme abrahamique par l’intermédiaire du syriaque et du grec? [...] l’islam qui est la métaphysique d’un dieu invisible a perdu le regard dans ce face-à-face avec les Grecs. […] dédoublement de Dieu dans la philosophie arabe […] les Arabes, en considérant la question de l’être selon leur langue, ont opéré une double traduction par l’intermédiaire du syriaque et du grec. Par cette double traduction, s’est renforcée une métaphysique du Texte. 40

Khatibi war einer der ersten Intellektuellen – gefolgt von Meddeb, Sansal oder Laroui –, der öffentlich nicht nur die interne und oft selbst gewählte Isolation des Islams ablehnte, sondern auch den Islamismus (»intégrisme«) mit seiner irrigen Vorstellung des »le dehors (le mal)«, weil diese »les détériore en les dévastant de l’intérieur«. 41 Er tritt deshalb entschieden für eine Konstruktion sowohl des Individuums als auch der Geschichte als plurivalenter Akt ein. Und hier spielt die Vielfalt der Sprachen als Geschichte eines permanenten translatologischen Dialogs eine zentrale Rolle, da nur dieser die Vielfalt sichtbar machen und mobilisieren kann, um den Logozentrismus qua Essentialismus zu verwinden: Ce qu’il faut (devoir d’une pensée-autre), c’est élargir notre liberté de penser, introduire dans tout dialogue plusieurs leviers stratégiques: évacuer par exemple du discours les absolus de la théologie et du théocentrisme qu’enchaînent le temps, l’espace et l’édifice des sociétés maghrébines. Je ne vois pas, quelle histoire peut pratiquer un historien sinon celle des langages qui traduisent les faits, les événements et toutes les traces à déchiffrer. 42

Khatibi legitimiert seine Position, die er mit Sansal, Meddeb, Laroui und vielen anderen teilt, damit, dass er den Maghreb als eine kulturelle, ethnische, linguistische und historische Kartographie der Vielheit betrachtet, die keineswegs auf eine 39 | Ebd., S. 54. 40 | Ebd., S. 22–23. 41 | Ebd., S. 30. 42 | Ebd., S. 33–35.

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Kultur reduziert werden kann. Ganz im Gegenteil, der Maghreb resultiert aus einer permanenten Rekodifikation, die sich in der »pensée-autre« und der »double critique« niederschlägt und einen kritischen dialogisierenden Blick auf den ›Okzident‹ und auf den ›Orient‹ wirft: C’est pourquoi lorsque nous dialoguons avec des pensées occidentales de la différence (celle de Nietzsche, de Heidegger, et parmi nos contemporains proches, celle de Maurice Blanchot et de Jacques Derrida), nous prenons en compte non seulement leur style de pensée, mais aussi leur stratégie et leur machinerie de guerre, afin de les mettre au service de notre combat qui est, forcément, une autre conjuration de l’esprit, exigeant une décoloni­s ation effective, une pensée concrète de la différence. 43 D’une part, il faut écouter le Maghreb résonner dans sa pluralité (linguistique, culturelle, politique), et d’autre part, seul le dehors repensé, décentré, subverti, détourné de ses déterminations dominantes, peut nous éloigner des identités et des différences informulées […] le dehors repensé. 44

F ouad L aroui Fouad Laroui bildet Brücken und beteiligt sich an einer aufklärerischen Tätigkeit sowohl in seinen Romanen wie De quel amour blessé45 oder La vielle dame du riad46 als auch in seinen Essays wie De l’islamisme. Une réfutation personnelle du totalitarisme religieux47 oder Un pays sans frontières. Essais sur la littérature de l’exil48 Dabei scheut er – wie Khatibi, Sansal oder Meddeb – keine Mühe, den Islam in ein anderes Licht zu stellen, ihn aus dem herauszuführen, was Khatibi »isolement interne de l’islam« nennt, indem er z.B. den Koran in einer modernen und aufgeklärten Form neu interpretiert und die Positionen der Fundamentalisten als falsche Ideologien entlarvt. In acht Kapiteln, denen eine Einleitung vorangeht, zeigt Laroui in De l’islamisme die Modernität und die Dialogfähigkeit des Korans mit der Welt. Ansporn und Motivation seines Unterfangens bildet das Entlarven der falschen, destruktiven und radikalen Auslegungen des Islams, die jeglichen Dialog und jegliche Brücken mit Andersdenkenden zunichtemachen, wie das tragische Schicksal von Moham-

43 | Ebd., S. 20. 44 | Ebd., S. 39. 45 | Fouad Laroui, De quel amour blessé, Paris: Julliard, 1998. 46 | Ders., La vieille dame du riad, Paris: Julliard, 2011. 47 | Ders., De l’islamisme. Une réfutation personnelle du totalitarisme religieux, Paris: Robert Laffont, 2006. 48 | Ders., Un pays sans frontières. Essais sur la littérature de l’exil, Paris: Zellige, 2015.

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med Bouyeri zeigt, der Theo Van Gogh am 2. November 2004 in Amsterdam ermordete: […] la ville de Descartes, Montesquieu et Voltaire […] un jeune homme qui aurait pu vivre sa foi dans une liberté totale et dans le respect de tous […] rejetant ainsi le monde – ce monde dont les mystiques musulmans aussi appellent à se détacher, amis sans tue personne?49

Das Problem des Islams liegt Laroui zufolge in seiner politischen Instrumentalisierung als Waffe gegen andere Religionen und Kulturen, als Ausschlussinstrument: »Nous et eux. Nous contre eux. Et c’est là que les problèmes commencent, la méfiance, la haine, la guerre«.50 Dabei führt er eine Unterscheidung ein zwischen dem Islam als Religion, als institutionalisiertes Machtinstrument, das missbraucht wird, und als Glaube, der in den privaten Bereich fällt. Um eine andere Vision des Islams als eine tolerante Glaubensrichtung zu geben, versucht Laroui […] déconstruire le discours islamiste qui présente l’islam non comme une foi, mais comme une religion […] totalitaire, agressive, hostile à tout ce qui est le sel de l’existence […] le confrontant à la science; la raison; l’Histoire; l’amour; le sexe; la politique; la géographie; l’individu; les droits de l’homme; le totalitarisme […] [d’une façon] très personnelle. 51

Das Resultat dieses Vorgehens ist bemerkenswert, insoweit Laroui zeigt, wie der im Koran verankerte Glaube kompatibel mit den ethischen Praktiken okzidentaler Gesellschaften ist. Laroui entwirft eine offene Welt, eine »passerelle« in der Sprache von Ritter,52 eine Vorstellung, die ihn dazu führt, an Länder ohne Grenzen zu denken (und gemeint ist hier nicht die Europäische Union mit dem dazugehörigen Schengenraum), was uns wiederum an Memmis Position erinnert: »Nous sommes tous des migrants qui nous tendons les uns les autres un miroir: le long d’un chemin, le longue d’un chemin […].«53

A bdelwahab M eddeb Abdelwahab Meddeb widmet sich in L’exil occidental54 den kulturellen Spuren und dem kulturellen Gedächtnis und unterstreicht dabei den prinzipiell nomadi49 | Laroui 2006, S. 10. 50 | Ebd., S. 11. 51 | Ebd., S. 11–12. 52 | Enard 2005, S. 76. 53 | Albert Memmi, Le nomade immobile, Paris: arléa, 2000, S. 8. 54 | Abdelwahab Meddeb, L’exil occidental, Paris: Albin Michel, 2005.

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schen und dialogisierenden Status von Kulturen im Verlauf der Jahrhunderte und in unterschiedlichen Regionen unserer Welt: C’est dans la traversée et la migration, c’est dans l’entre-deux qu’elles instaurent que peuvent être actualisées les énergies qui avaient accordé, au nomadisme et au soufisme la conjoncture de l’Esprit. Comme dans tout déplacement, ici aussi, la forme et le sens se transforment, se métamorphosent. La mémoire textuelle qui enregistre la notion de trace dédouble ce qu’elle porte; sous-mise à un nouveau vécu et à une nouvelle vérité de l’espace-temps, elle se consume comme trace de la trace. 55

In La maladie de l’islam56 setzt er sich unbeirrt für die Meinungsfreiheit, für die Freiheit und das Recht, unterschiedliche Positionen zu vertreten und zu leben, für die Glaubensdiversität sowie für die »pluralité«, die »polyphonie« und die »différence« ein, was eine »critique interne« und »externe«, d.h. einen kritischen Dialog zwischen ›Orient‹ und ›Okzident‹, voraussetzt. Es ist genau diese doppelte, aufgeklärte und ausgewogen geübte Kritik von Meddeb, die wir heute am nötigsten haben: Au lieu de distinguer le bon islam du mauvais, il vaut mieux que l’islam retrouve le débat et la discussion, qu’il redécouvre la pluralité des opinions, qu’il ménage une place au désaccord et à la différence, qu’il accepte que le voisinait la liberté de penser autrement: que le débat intellectuel retrouve ses droits et qu’il s’adapte aux conditions qu’offre la polyphonie; que les brèches se multiplient; que l’unanimisme cesse; que la substance stable de l’Un s’éparpille en une gerbe d’insaisissables atomes. 57

Aber gleichzeitig wendet er sich kritisch gegen die vielen Vorurteile westlicher Prägung gegenüber dem Islam: Quelles sont ces causes externes? C’est, en chaine, la non-reconnaissance de l’islam par l’Occident comme représentation d’une altérité intérieure; c’est la façon de le cantonner dans le statut de l’exclu: c’est la manière avec laquelle l’Occident renie ses propres principes dès que l’intérêt le réclame; c’est enfin la façon qu’a l’Occident (et, de nos jours, sous la forme de l’américain) d’exercer dans l’impunité son hégémonie selon la politique dite des deux poids deux mesure. 58

55 | Ebd., S. 11. 56 | Abdelwahab Meddeb, La maladie de l’Islam, Paris: Éd. du Seuil, 2005. 57 | Ebd., S. 13. 58 | Ebd.

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L iz zie D oron Der Roman Who The Fuck Is Kaf ka59 der israelischen Schriftstellerin Lizzie Doron ist eine gelungene Mischung zwischen Fiktion und Zeugnisbekundung, entsprungen aus einer erlebten Erfahrung zwischen Doron als Menschenrechts- und Friedensaktivistin und einem gleichgesinnten Palästinenser. Sie beschreibt auf der einen Seite die Beziehung zwischen einer israelischen, im Roman namenlosen Erzählerin und einem aus Ostjerusalem stammenden Palästinenser namens Nadim. Sie berichtet über ihr erstes Treffen in Rom bei einem der vielen Kongresse für den Frieden, dieses Mal inmitten des ersten Gaza­ Krieges. Sie entscheiden sich zusammenzuarbeiten – sie, ein Buch zu verfassen, und er, einen Film zu drehen über die Situation in dieser konfliktträchtigen Region. Doron beschreibt minuziös die schreckliche und prekäre Lebenssituation der Palästinenser, nicht nur in Gaza, sondern auch im Westjordanland und in Ostjerusalem, die stets durch die Angst vor Willkür, Kontrollen, Festnahmen und Repressalien seitens der israelischen Soldaten in einer unter Besatzung stehenden Zone bestimmt ist. Sie zeigt, wie die Bewegungsfreiheit der Palästinenser innerhalb ihrer eigenen Viertel massiv eingeschränkt ist, etwa zwischen Gaza, Ostjerusalem und dem Westjordanland, wie dazwischen eine Kontrollgrenze voller Schikanen und Drangsalierungen verläuft, die Familien voneinander trennt, wie mühsam es für die Palästinenser ist, das Land zu verlassen und ein Visum zu erhalten. Als eines der bewegenden Beispiele beschreibt die Erzählerin den Fall von Nadims Frau, die aus Gaza stammt und deshalb auch über keinen Pass verfügt. Sie ist staatenlos und wird im eigenen Land nur toleriert, sie kann jederzeit aus Jerusalem nach Gaza deportiert werden. Um ihren kranken Vater in Gaza zu besuchen, kann sie nur mühsam und dank internationaler Hilfe ein Visum erhalten, mit dem Risiko, dass die israelischen Behörden sie nicht wieder nach Ost­ jerusalem hineinlassen. Die Angst ist ihr ständiger Begleiter. Nadim darf z.B. Israel nicht länger als für sieben Monate verlassen; nach diesem Zeitraum darf er nicht wieder in Israel einreisen. Auf der anderen Seite beschreibt die Erzählerin den psychologischen Stress, dem Aktivisten in Israel, in ihrem Bekannten-, Freundes- und Familienkreis und in der Wahrnehmung der Palästinenser, ausgesetzt sind. Für die einen ist sie Teil einer Besatzungsmacht, was vor allem bei internationalen Konferenzen deutlich wird. Sie zeigt auf, welche Schwierigkeiten israelische AktivistInnen pro Palästina auf beiden Seiten vorfinden. Palästinenser werden besonders in Israel pauschal als Terroristen und Betrüger angesehen. Die Erzählerin versucht, Argumente zugunsten Israels für solche Vorurteile zu finden aufgrund der ebenfalls schwierigen psychologischen Lage der Israelis gegenüber einem latenten Terrorismus, der in jeder Minute losschlagen kann. Aber sie selbst glaubt immer weni59 | Lizzie Doron, Who the Fuck Is Kafka. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, München: DTV, 2015.

Die »Brückenbauer«

ger an ihre Argumente wegen der sehr ungleichen Situation von Israelis und Palästinensern. Diese so deutlich zum Ausdruck gebrachten Ambivalenzen bilden einerseits einen essentiellen Beitrag zur Aufklärung und damit zum Frieden durch die Analyse, Beschreibung und Bewertung höchst komplexer und widersprüchlicher Situationen. Andererseits zeigen sie, dass jenseits aller Konflikte eine Zusammenarbeit und das Überwinden von Vorurteilen zwischen aufgeklärten und toleranten Israelis und Palästinensern möglich ist; das ist der Beitrag, den Doron in ihrem eigenen Land leistet und der zeigt, dass es jenseits der Regierungen auch ein anderes Israel gibt.

B oaulem S ansal Am Ende meiner Überlegungen möchte ich Boualem Sansal nicht unerwähnt lassen, denn bei ihm handelt es sich um einen der größten und konsequentesten Aufklärer unserer Zeit, trotz seiner grundlegenden Ablehnung des Islams als Religion, dessen Grundübel er teilweise im Koran selbst findet, was ihn zur Gleichsetzung des Islams mit dem Islamismus führt. Auch dann, wenn wir diese Position, die bei Sansal durch einen französischen und europäischen aufgeklärten Republikanismus geleitet ist, nicht teilen, müssen wir gegenüber manchen Polemiken, die vor allem Applaus erheischen wollen, festhalten, dass Sansals Position aus einer enormen Gelehrsamkeit, aus seriös recherchierten historischen Quellen, aus sowohl persönlichen wie auch historisch-kollektiven Erfahrungen speziell in Algerien und nicht aus simplen Vereinfachungen hervorgeht. Boualem Sansal bietet in Petit éloge de la mémoire 60 einen eindrucksvollen Überblick über die Geschichte der Kulturen des Mittelmeers. Er beschreibt, wie diese Weltregion, die auf eine über zweitausendjährige kulturelle Kreuzung zurückblicken kann, wie das Mittelmeer, also ›die‹ Kultur der »passerelles«, des Nomadentums, des Hybriden par excellence, eine gemeinsame Geschichte mit dem ›Okzident‹ bildet: Nous étions jeunes et ignorants mais nous comprenions bien que quelque chose d’énorme s’était produit sous nos yeux. Après dix siècles tourné vers l’Orient, arabe, turc et musulman, notre vie se tournait à présent vers l’Occident européen et chrétien, cet Occident qui jadis, dix siècle d’affilée, fût notre vis-à-vis, tour à tour ami, complice, ennemi, et qui nous avait fait oublier l’Egypte, la mère du monde, ce lointain berceau où était née notre humanité. 61

60 | Sansal 2007. 61 | Ebd., S. 118.

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Sansal beruft sich immer wieder auf die historische, irreduzible Vielheit dieser Region, wenn er z.B. in Poste restante 62 schreibt: Alors répétons-le jusqu’à être entendus: nous somme des Algériens, c’est tout, des êtres multicolores et polyglottes, et nos racines plongent partout dans le monde. Toute la Méditerranée coule dans nos veines et, partout, sur ses rivages ensoleillés, nous avons semés nos graines. 63 […] Tiens, nous avons toutes ces langues, le berbère, le dialectal, le classique, le français, et bientôt l’anglais et le chinois, c’est formidable, utilisons-les à bon escient et allons de l’avant!64

Und ich kann in diesem Zusammenhang Sansals Reise nach Israel zum Literaturfestival 2012 auf Einladung von David Grossmann nicht unerwähnt lassen. Grossman, der seinen Sohn im israelischen Libanon-Krieg verloren hat, und Sansal sind zwei dieser exponierten Brückenbauer. Es ist wohl kein Zufall, dass beide den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für »ihr Engagement für die Begegnung der Kulturen im gegenseitigen Respekt und Verständnis« erhalten haben. In seiner Dankesrede in der Paulskirche in Frankfurt am Main am 16. Oktober 201165 setzte sich Sansal unerbittlich für die Freiheit jedes Einzelnen ein, und kein Staat und keine Regierung wurden dabei verschont: L’homme libre n’a au fond d’autre choix que d’agir comme un dieu, un créateur audacieux qui va de l’avant, sinon il tombe dans le non-être du fatalisme, de l’esclavage, de la perdition. […] Cela prend un relief particulier pour moi en ce moment où, dans nos pays arabes, souffle un vent salutaire, porteur de ces valeurs humanistes, toutes nées de la liberté, et donc universelles, qui fondent mon engagement. Un mérite littéraire aussi grand soit-il ne vaut guère, selon moi, que s’il soutient une grande cause, la promotion d’une langue, d’une culture, un projet politique, philosophique. J’ai envie de croire que ce que nous faisons les uns et les autres, écrivains, cinéastes, poètes, philosophes, politiques, a pu contribuer d’une manière sans doute infinitésimale à l’avènement de ce printemps arabe qui nous donne tant à rêver, et à nous impatienter, animé qu’il est par l’esprit de liberté, de fierté retrouvée, et de courage aussi, comme nous le voyons se dérouler, surmontant toutes les menaces et déjouant jusqu’à présent toutes les tentatives de récupération, et si j’ai pu y

62 | Boualem Sansal, Poste restante: Alger. Lettre de colère et d’espoir à mes compatriotes, Paris: Gallimard, 2006. 63 | Ebd., S. 34. 64 | Ebd., S. 42. 65 | Boualem Sansal, Discours de remerciement de Boualem Sansal. Eglise Saint-Paul – Francfort-sur-le-Main, 2011 (Manuskript).

Die »Brückenbauer« contribuer un tant soit peu c’est parmi d’autres intellectuels et artistes arabes que je sais infiniment plus méritants que moi. Dans ce mouvement insurrectionnel, nous sommes de plus en plus nombreux à refuser que le plus vieux conflit du monde, le conflit israélo-palestinien dure plus longtemps et accable demain nos enfants et nos petits-enfants. Nous sommes même impatients, nous refusons que ces deux grands peuples, si profondément ancrés dans l’Histoire de l’humanité, restent un jour de plus otages de leurs petits dictateurs, d’extrémistes bornés, de nostalgiques mal sevrés, de rançonneurs et de provocateurs de quartiers. Nous les voulons libres, heureux et fraternels. Notre conviction est que le printemps parti de Tunis va arriver à Tel-Aviv, à Gaza, à Ramallah, il arrivera jusqu’en Chine et au-delà. Ce vent souffle dans toutes les directions. Bientôt il rassemblera Palestiniens et Israéliens dans la même colère, ce sera le «Die Wende» du Moyen-Orient, les murs tomberont alors dans un joli et sympathique fracas. 66

Er bleibt aber nicht bei der Kritik, sondern entwickelt gleichzeitig eine Vision für das Zusammenleben von Völkern und Menschen: A mon avis, il nous faut tous sortir de l’idée que la paix se négocie, on négocie des modalités, des formes, des étapes, la paix est un principe, il s’énonce en public, de manière solennelle. On dit: Paix, Shalom, Salam et on se serre la main. C’est ce qu’a fait Abbas en allant à l’ONU, c’est ce qu’a fait Sadate quand il est allé à Tel-Aviv. 67

Von Bedeutung ist auch sein »Appel de Strasbourg pour la paix du 6–7 octobre 2012«,68 bei dem er Hunderte von SchriftstellerInnen und Intellektuellen versammelte: La paix est un bien commun irremplaçable et sa défense est une obligation commune, qui ne peut se déléguer. En en faisant l’affaire de tous, nous éviterons que la paix globale recherchée ne soit à la fin la paix pour l’un au détriment de l’autre. Les écrivains ont leur part dans ce combat et nous exprimons ici notre détermination à l’assumer avec fermeté et objectivité. Nous exhortons tous les écrivains dans le monde à nous rejoindre dans cette démarche. Ensemble, nous pouvons peser sur le cours des choses et faire que les valeurs de la paix soient renforcées partout dans le monde. Nos moyens dans ce combat sont la littérature, le débat, et la vigilance. 69

Und seinen Besuch in Israel, der ihm viele Anfeindungen eingebracht hatte, beschrieb er mit folgenden Worten:

66 | Ebd. 67 | Ebd. 68 | Boualem Sansal, Appel de Strasbourg remanié, 2012 (Manuskript). 69 | Ebd.

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Alfonso de Toro I would like to make special mention of David Grossman, that monument of Israeli and world literature. I found it remarkable that two writers like us, two men awarded the same prize, the Peace Prize of the German Book Trade, one year apart (he in 2010, myself in 2011), could meet in 2012 to talk about peace in al-Quds, the city of Jerusalem, where Jews and Arabs live together, where the three Religions of the Book mingle in human hearts. Might our meeting mark the beginning of a vast assembly of writers for peace? Will such a miracle see the light of day in 2013? Chance often tricks us into believing things that owe nothing to chance.70

Boualem Sansal und Lizzie Doron trafen einander zum ersten Mal auf meine Einladung im Frankophonen Forschungsseminar der Universität Leipzig am 16. September 2015, wo wir über »Die Strategien für den Frieden. Die Macht der Diskurse und der Literatur« diskutierten. Da haben sie wieder Brücken geschlagen.

Z usammenfassung Die hier nur fragmentarisch behandelten Texte zeigen die Komplexität von Kultur und Geschichte und beweisen, dass eine schwarz-weiße Einteilung dessen, was ›Okzident‹ und ›Orient‹ ausmacht, ohne Simplifizierungen und Auslassungen nicht ohne weiteres zu treffen ist, und dass uns mehr Gemeinsamkeiten und Erfahrungen verbinden als Differenzen uns trennen. Was diese Texte aber auch zeigen, ist, dass jeder von uns in seinem Arbeitsbereich einen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben und zur Toleranz leisten kann und dass vor allem diejenigen dazu verpflichtet sind, die die Möglichkeit haben, in Freiheit zu leben und ihrer Stimme im öffentlichen Raum ohne Gefahr Kraft zu verleihen. Wir müssen aus dem Elfenbeinturm ausbrechen und unserem Diskurs eine politische Kraft im Sinne von Derridas ›le politique‹ verleihen.

70 | Boualem Sansal, I Went to Jerusalem, and I Returned Delighted and Enriched, 2012 (Manuskript).

Translation

Erzählen und Übersetzen Hanna Dyâb trifft Antoine Galland, oder: Tausend und eine Nacht in Paris Birgit Wagner

Erzählen und Übersetzen sind Kulturtechniken, die häufig in einem engen Verhältnis zueinander stehen. Erstens pflegen wir viele Narrative der Literatur in Übersetzung zu lesen, schon weil man nicht alle Sprachen der Welt beherrschen kann, zweitens sind Übersetzer und Übersetzerinnen in Geschichte und Gegenwart häufig mit eigenen Erzählungen an die Öffentlichkeit getreten, wie zum Beispiel Michael Rössner.1 Neben zwischensprachlichen Übersetzungen von Erzählungen lassen sich auch metaphorische feststellen, wenn etwa mündliche Erzähltraditionen in die Schriftlichkeit überführt werden: Mündlichkeit wird (in der Neuzeit) vielfach in gedruckten Text verwandelt und unterliegt dabei Veränderungen, die es erlauben, von Übersetzung im übertragenen Sinn zu sprechen. Wird nun eine mündliche Erzählung auch noch in einer anderen als der Ausgangssprache verschriftet, so ist der so entstandene Text das Resultat einer doppelten Translationsleistung. Davon wird in der Folge die Rede sein, wenn wir uns der Rolle des Syrers Hanna Dyâb für die Neukonfiguration von Tausend und eine Nacht durch Antoine Galland zuwenden. Aladin und die Wunderlampe und Ali Baba und die vierzig Räuber gehören zu den international bekanntesten Märchen der Sammlung, nicht zuletzt durch vielfältige mediale Transpositionen in Film und Fernsehen. Dass sie Aufnahme in das historisch sehr wandelbare Corpus von Tausend und eine Nacht gefunden haben, ist nicht nur einer solchen zweifachen Übersetzung zu verdanken, sondern

1 | Michael Rössner, Übersetzer aus dem Spanischen und vor allem aus dem Italienischen (s. seine Beiträge zur deutschen Werkausgabe Pirandellos), hat auch einen Roman veröffentlicht: Gefangenschaft. Freiheit der Negation der Freiheit, Wien: Österreichische Staatsdruckerei, 1981.

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auch der recht zufälligen Begegnung eines jungen Syrers mit dem französischen Orientalisten Antoine Galland (1646 – 1715) im frühen 18. Jahrhundert. Gallands Übersetzung, in vieler Hinsicht eher eine freie Nach- und Neuerzählung, wurde in zwölf kleinformatigen Bänden zwischen 1704 und 1717 publiziert: Les mille et une nuits, contes arabes. Der Untertitel verschweigt die Tatsache, dass viele der Märchen hellenistischer, chinesischer, indischer und persischer Herkunft bzw. Vermittlung sind, bereits mehrfache Übersetzungsprozesse hinter sich haben und keineswegs eine ausschließlich arabische Erzähltradition widerspiegeln.2 Gallands Text kann man als klassisches Beispiel einer kulturellen Übersetzung, oder, mit dem Terminus, den Federico Italiano und Michael Rössner vorgeschlagen haben, einer Translatio/n3 bezeichnen. Der gelehrte Orientalist folgt dem im frühen 18. Jahrhundert (neben anderen) noch präsenten Übersetzungs­ ideal der »belles infidèles«, erzählt in Anpassung an französische stilistische Standards und vertraute Erzählkonventionen, nimmt umfangreiche Streichungen und Kürzungen vor, zuvorderst solche, die die soziokulturelle Norm der bienséance seiner Zeit erforderte. Als Resultat dieser Übersetzungsentscheidungen werden aber nicht nur erotische oder skatologische Textstellen ausgespart, sondern auch die zahlreichen Gedichteinlagen, die man in Claudia Otts wunderbarer Übersetzung des manuscrit Galland ins Deutsche lesen kann. 4 Besonders letztere Auslassung, über die Galland in seinem Avertissement an die Leser kein Wort verliert, während er andere Eingriffe sehr wohl kommentiert, verändert die französische Version gegenüber dem Ausgangstext ganz erheblich. Gallands Quellen sind bekanntlich zahlreich, eine der wichtigsten ist gewiss das so genannte manuscrit Galland, heute im Besitz der Bibliothèque Nationale de France, vermutlich um 14505 niedergeschrieben; das Manuskript bricht allerdings 2 | Dieser Sachverhalt gibt den Auftakt zu dem Prozess der »Reethnisierung«, den Andreas Gipper auch für jüngere Editionspraxen der Märchen feststellt: vgl. Andreas Gipper, Orientalismus als Translationseffekt. Antoine Galland und seine Übersetzung der Geschichten aus Tausend und einer Nacht, in: Véronique Porra/Gregor Wedekind (Hg.), Orient – zur Dekonstruktion eines Phantasmas, Bielefeld: transcript, 2017, S. 191–208, hier S. 205. 3 | Michael Rössner/Federico Italiano, Translatio/n. An introduction, in: Dies. (Hg.), Translatio/n. Narration, Media and the Staging of Differences, Bielefeld: transcript, 2012, S. 9–16, hier S. 10–12. 4 | Zu Gallands Übersetzungsstrategien vgl. Birgit Wagner, Ein Muttermal so schön wie ein Amberstückchen. Das Verhältnis von sprachlicher und kultureller Übersetzung, diskutiert am Beispiel von Antoine Gallands Mille et une nuits, in: Lavinia Heller (Hg.), Kultur und Übersetzung. Studien zu einem begrifflichen Verhältnis, Bielefeld: transcript, 2017, S. 261–274; für einen direkten Sprachvergleich Arabisch-Französisch vgl. Sylvette Larzul, Les traductions françaises des Mille et une nuits. Études des versions Galland, Trébution et Mardrus, Paris: L’Harmattan, 1996. 5 | Datierung nach Claudia Otts Nachwort in: Claudia Ott, Nachwort der Übersetzerin, in: Tausendundeine Nacht. Nach der ältesten arabischen Handschrift in der Ausgabe von

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mitten in einem Märchen ab. Es gilt als die älteste umfangreiche Sammlung, die jedoch nicht ›vollständig‹ ist (bei dieser Erzähltradition ohne ›Autor‹, dafür aber aus mehrfachen Herkunftskulturen, ist die Suche nach Vollständigkeit ohnehin zum Scheitern verurteilt). Einen nicht unwesentlichen Beitrag zu Gallands Version der Märchen lieferte tatsächlich der aus Aleppo stammende Hanna Dyâb, der in der Forschung gerne als ›maronitischer Mönch‹6 bezeichnet wird, obwohl er das zu dem Zeitpunkt, als er den französischen Orientalisten in Paris traf, schon lange nicht mehr war: seine Biographie besitzt vielmehr abenteuerliche, ja gelegentlich pikareske Züge. Hanna Dyâb Lebensdaten sind durch einige Zeugnisse unvollständig über­ liefert: Die Reise, die er als junger Mann als Diener und Dolmetscher des von Ludwig XIV. beauftragten Forschungsreisenden Paul Lucas in den Maghreb, den Vorderen Orient und die Länder der Christenheit unternimmt und die ihn 1708/09 nach Paris führt, seine Rückkehr nach Aleppo 1710, wo er 1717 heiratet und Tuchhändler wird, und schließlich das Datum, mit dem er seinen handschriftlichen Reisebericht beschließt: 1763.7 »J’ai en effet rédigé ce récit de voyage et cette chronique en l’année 1763, alors que j’avais été dans la ville de Paris en l’année 1709. Tout ce que j’ai vu et entendu me revient-il en mémoire exactement? Certainement non!«8 Hanna ist also durch zwei Generationen von Galland getrennt und schreibt seinen Reisebericht mit großem zeitlichem Abstand zur erlebten Realität. Als jüngerer Sohn einer bekannten maronitischen9 Familie aus Aleppo beginnt er seine Laufbahn als Novize in einem maronitischen Kloster auf dem Berg Libanon, das er aber bald wieder verlässt, weil die Klosterregel und der Abt ihm zu streng sind – so viel zu seinem immer wieder behaupteten Mönchsdasein. Nach dem Verlassen des Klosters sollte er – auf Befehl des ältesten Bruders – in den Schoß der Familie zurückkehren, doch er beschließt, in den Dienst des französischen Reisenden

Muhsin Mahdi erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott, München: Beck, 2004, S. 641–674, hier S. 649–650. 6 | Z.B. in der »Introduction« Jean Gaulmiers zur modernen Edition der Galland-Version bei Garnier Flammarion: »le moine alépin Hanna«, in: Antoine Galland, Les Mille et une nuits. Contes arabes, 3 Bde., Paris: Garnier Flammarion 2002–2003, Bd. 1, 2003, S. 9. 7 | Alle biographischen Informationen zu Hanna aus Bernard Heybergers »Introduction«, in: Hanna Dyâb, D’Alep à Paris. Les pérégrinations d’un jeune Syrien au temps de Louis XIV, récit traduit de l’arabe (Syrie) et annoté par Fahmé-Thiéry, Bernard Heyberger et Jérôme Lentin, Arles: Actes Sud, 2015, S. 7–47. 8 | Hanna Dyâb 2015, S. 263. Diese Erinnerungslücken erklären auch Hannas gelegentlich nicht exakte Chronologie, die die Herausgeber in ihrem Anmerkungsapparat im Vergleich mit Lucas’ Reisebericht und anderen Quellen sorgfältig richtigstellen. 9 | Die Maroniten sind eine der ältesten christlichen Ostkirchen, heute v.a. im Libanon vertreten.

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Paul Lucas zu treten: »C’est ainsi que Dieu a disposé des choses.«10 In der Realität scheint es wohl eher der Wunsch des jungen Mannes gewesen zu sein, sich von der Autorität der Familie zu befreien und ein Abenteuer einzugehen. Er spricht und schreibt Arabisch und Französisch, hat Kenntnisse des Türkischen und des Italienischen, konnte also seinem Herrn vielfache Dienste erweisen. Die einzige handschriftliche, auf Arabisch (mit syrischem Einschlag) geschriebene Version des Reiseberichts Hannas ist heute im Besitz der Vatikanischen Bibliothek und wurde von Paule Fahmé-Thiery, Bernard Heyberger und Jérôme Lentin ins Französische übersetzt und ediert 11 . Also auch hier sind Übersetzer eines erzählenden Textes am Werk, in mancher Hinsicht direkte Nachfolger Gallands, obwohl sie gewiss anderen, heutigen, Übersetzungsstrategien folgen. Hannas Bericht über seinen Aufenthalt in Paris umfasst in der französischen Version über hundert Druckseiten. Hanna und sein »maître« reisen von Marseille aus über Lyon an und kommen 1708 nach Paris. Paul Lucas gibt alsbald, wie sein Diener schreibt, seinen zweiten Reisebericht in Druck,12 und die beiden werden kurz nach ihrer Ankunft in Versailles am Hof Ludwigs XIV. empfangen. Als Kuriosum führen sie zwei die weite Reise überlebt habende Exemplare der Wüstenspringmaus (»gerboise«) mit sich, einer Spezies, die die Aufmerksamkeit von Paul Lucas geweckt hatte. Hanna erläutert über viele Seiten hinweg, wie dieses in Europa bis dato unbekannte Tier die Verwunderung und das Staunen des Königs, mehrerer Prinzen und Prinzessinnen am Hof zur Folge hat. Doch nicht nur diese Mäuse erregen Aufsehen, sondern auch Hanna selbst. Paul Lucas hatte dafür Sorge getragen, dass sein Diener eindeutig als »Orientale«, mithin als Zeuge der Authentizität seines Berichts, identifizierbar war: »[…] mon maître m’ordonna de m’habiller avec la tenue que j’avais fait venir d’Alep: un habit long mais sans traîne, rouge-brun, en alâja damascène, un pantalon bouffant rouge en drap londrin et une ceinture précieuse, un poignard argenté, un chèche et un qâwûq, ainsi que d’autres pièces d’habillement des pays d’Orient.«13 Hanna sollte also den »Orient« buchstäblich verkörpern, und an mehreren Stellen 10 | Hanna Dyâb 2015, S. 69. 11 | Deutsche (bibliophile) Ausgabe: Hanna Diyâb [sic]. Von Aleppo nach Paris. Die Reise eines jungen Syrers bis an den Hof Ludwigs XIV. Aus dem Arabischen von Gennaro Ghiradelli, Berlin: Die Andere Bibliothek, 2016. Wie man sieht, praktiziert diese Version, wenngleich der französischen Ausgabe folgend (»mit einem Nachwort des französischen Arabisten Bernard Heyberger«), die direkte Übersetzung aus dem Arabischen, mit der Rezeption der Gallandschen Version der Märchen brechend, die der Ausgangstext für viele Übersetzungen aus dem Französischen, nicht aus dem Arabischen, war. 12 | In Wahrheit wurde dieser nach den Notizen des französischen Reisenden von Étienne Fourmont l’aîné verfasst: vgl. Heyberger in: Hanna Dyâb 2015, S. 257–258, Anm. 3. 13 | Hanna Dyâb 2015, S. 258. Die Herausgeber erläutern die arabischen Bezeichnungen der Kleidungsstücke, für die es kein Äquivalent im Französischen gibt.

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seines Reiseberichts gibt er zu erkennen, dass er auf diese Weise – vielleicht auch durch seinen Akzent – zum Gegenstand des Spotts seiner französischen Gesprächspartner wurde. Erwartungsgemäß begeht er bei seinem Aufenthalt in Versailles mehrere Übertretungen der rigiden Etikette des Sonnenkönigs14 , für die er von seinem Herrn harsch getadelt wird, obwohl er diese Verhaltensregeln ja gar nicht kennen konnte. Er ist – im Gegensatz zu Montesquieus fiktiven Reisenden Usbek und Rica, die in Paris ihre persische Kleidung ablegen, um ›unerkannt‹ zu bleiben15 – tatsächlich ein Orientale, der Paris besucht, und als solcher erkennbar; umso wertvoller sind seine Aufzeichnungen. Was beeindruckt Hanna, als er nach dem kurzen Aufenthalt in Versailles mit seinem Herrn über mehrere Monate in Paris residiert? Kurz zusammengefasst: Ordnungssysteme und jene Institutionen, die der »großen Einsperrung« (Foucault) dienen, vermutlich im Gegensatz zu sozialen Praktiken und Einrichtungen seiner Heimatstadt Aleppo. Noch vor seinem siebentägigen Besuch in Versailles schildert er ausführlich das zu diesem historischen Zeitpunkt existierende System der Straßenreinigung und Müllentsorgung, das von der städtischen Polizei überwacht und bei Zuwiderhandeln mit Sanktionen belegt wurde. Des Weiteren besucht oder schildert er folgende Institutionen und Maßnahmen: das »bureau des pauvres«, ein städtisches Almosensystem, das Hospiz für kriegsverletzte Soldaten (»l’hôpital militaire des Invalides«), das Armenspital L’Hôtel-Dieu, sowie eine Institution, in der »les enfants insoumis« 16 auf Anordnung der Eltern äußerst harten, heute unvorstellbaren Maßnahmen der ›Besserung‹ unterworfen wurden. Alle diese Institutionen und Einrichtungen erscheinen Hanna als der Ausdruck einer guten gesellschaftlichen Ordnung, womit er sich als Vertreter des common sense der Frühen Neuzeit erweist. Auch lässt er es sich nicht nehmen, Exekutionen beizuwohnen: Hinrichtungen durch den Galgen oder das »Rä-

14 | Zum Beispiel trägt er offen sichtbar, selbst im Schlafgemach des Königs, seinen Dolch (»un poignard argenté«), ein absolutes no-go am Hof des um seine Sicherheit besorgten Monarchen. 15 | Sprachliche Erkennungsmerkmale – zum Beispiel ein Akzent im Französischen – lässt Montesquieu völlig unberücksichtigt: die beiden ›Perser‹ sind von vornherein perfekte francophones, warum, erfahren die Leser nicht: eine Darstellungskonvention. – 2006 habe ich versucht zu argumentieren, wie in Montes­q uieus Konstruktion des Orients gerade die Rezeption der Galland’schen Übersetzung erstaunlicherweise fehlt: sein Orient ist ein durch und durch despotischer, im Gegensatz zum ungleich differenzierteren Bild ›orientalischen‹ Lebens in Mille et une nuits; vgl. Birgit Wagner, Haremskonstellationen, oder die Leerstelle der ›orientalischen Liebe‹ in der französischen Liebeskonzeption, in: Kirsten Dickhaut/ Dietmar Rieger (Hg.), Liebe und Emergenz. Neue Modelle des Affektbegreifens im französischen Kulturgedächtnis um 1700. Tübingen: Niemeyer, 2006, S. 117–131. 16 | Nach Angabe der Herausgeber entweder die Salpêtrière oder Bicêtre, vgl. Hanna Dyâb 2015, S. 292, Anm. 1.

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dern«17. Sein Besuch in der Oper zeigt ihn als den typischen ›naiven‹ Beobachter, der das mythologischen Vorlagen folgende Geschehen der Aufführung nicht zu deuten weiß und wieder einmal zu Spott Anlass gibt. Er erzählt auch eindrücklich von dem bitterkalten Winter, der Paris und Frankreich 1708/09 in Atem hielt und zahlreiche Todesopfer durch Erfrieren und die auf die Missernte folgende Hungersnot forderte, sowie von dem, wie er behauptet, ersten Café, das ein Orientale in Paris eröffnete und damit großen Erfolg bei der Bevölkerung erzielte. Mehrfach werden Hannas Dienste als Dolmetscher von verschiedenen Personen in Anspruch genommen. Insgesamt zeichnet Hanna ein faszinierendes Bild auch des Alltagslebens im Paris des frühen 18. Jahrhunderts, vor allem, wenn man seine Sichtweise mit der fiktiven, aber von Gelehrsamkeit geprägten Perspektive der persischen Reisenden Montesquieus vergleicht: Hanna ist keineswegs ungebildet, aber nicht gelehrt – das gibt seiner Erzählung große Frische.18 Hanna ist aber auch ein hervorragender Erzähler von Anekdoten, Kurzerzählungen, die mutatis mutandis auch Aufnahme in das Corpus von Tausend und eine Nacht finden könnten: so zum Beispiel die peripetienreiche Geschichte einer außerordentlich raffinierten Betrügerin, die die Justiz zum Zeitpunkt seiner Anwesenheit in Paris längere Zeit in Atem halten konnte.19 Am Ende seines Aufenthalts wird er selbst der unfreiwillige Mitspieler eines solchen facettenreichen Ereignisses, aber davon später. Erst gegen Ende seiner Pariser Zeit begegnet Hanna Antoine Galland, den er in seinen Aufzeichnungen nie anders als den »vieillard« nennt. Interessanterweise erfolgt dieses Treffen zu einem Zeitpunkt, als Hanna bereits an Heimkehr denkt: »Dans ce temps-là, mon âme étouffa: je ne pouvais plus supporter d’habiter dans ces pays.«20 Über die Gründe seines Unbehagens schweigt er sich aus, abgesehen von der mehrfach erwähnten Tatsache, dass er gelegentlich als Nicht-Europäer Spott ausgesetzt war. Unmittelbar nach dem zitierten Satz liest man Folgendes:

17 | Zu dieser Hinrichtungspraxis liefert er eine detaillierte, für Leser grauenerregende Schilderung (vgl. ebd., S. 321ff.). – Voltaire z.B. erlaubt sich bei seinem Bericht über die Räderung des Hugenotten Jean Calas einen solchen kreatürlichen Realismus nicht: vgl. Voltaire, L’Affaire Calas et autres affaires, Paris: Gallimard, 1975, S. 95. 18 | Interessant ist die Tatsache, dass Hanna, der Montesquieus Roman aller Wahrscheinlichkeit nach auch 1763, dem Zeitpunkt der Abfassung seines Reiseberichts, nicht kannte, die Bezeichnungen »sultan« für den französischen König und »scharia« für Gesetz verwendet, ganz so, wie Montesquieu in seiner fiktiven Fremdversion Rica und Usbek auch dergleichen Ausdrücke verwenden lässt, um einen Exotismuseffekt zu erzielen. 19 | Vgl. Hanna Dyâb 2015, S. 316ff. 20 | Ebd., S. 334.

Er zählen und Überset zen Un vieil homme nous rendait souvent visite. Il était chargé de la bibliothèque des livres arabes. Il lisait bien l’arabe et traduisait des livres de cette langue en français. En ce temps-là, il traduisait entre autres le livre de contes des Mille et Une Nuits. Cet homme recourait à mon aide sur certains points qu’il ne comprenait pas, et que je lui expliquai. Il manquait au livre qu’il traduisait quelques nuits, et je lui racontais donc les histoires que je connaissais. Il put compléter son livre avec ces contes, et fut fort content de moi. 21

Unschwer erkennt man im Arabisten der königlichen Bibliothek Antoine Galland. Welche Sprache haben die beiden bei ihren Treffen gesprochen? Hanna verrät es nicht, aber wohl das Arabische. Das war der Zeitpunkt, als Aladin und die Wunderlampe, Ali Baba und die vierzig Räuber und vierzehn (!) andere Geschichten Aufnahme in das Corpus von Tausend und eine Nacht fanden. Hanna gibt auch nicht an, woher er diese Geschichten kannte; (ältere) schriftliche Zeugnisse sind für diese nie gefunden worden. Höchstwahrscheinlich handelt es sich um mündlich im damaligen Syrien zirkulierende Erzählungen, ein weiterer Zuwachs des ohnehin seit Jahrhunderten aus verschiedenen geographischen und kulturellen Bereichen wuchernden Baums der orientalischen Märchen. Galland hat also die Erzählungen des Syrers übersetzt und in seinem Stil schriftlich wiedergegeben, in seinem Avertissement nennt er Hanna jedoch nicht: »Cette attitude à l’égard des informateurs ›indigènes‹« bezeichnet Bernard Heyberger als durchaus epochentypisch.22 Im Gegenzug kommt Galland in seinem Journal mehrfach auf Hanna zu sprechen, wobei »le récit du Conte de la Lampe« (Aladin) und »Les finesses de Morgiane ou les quarante Voleurs« (Ali Baba) besondere Erwähnung finden.23 Hanna hat später, zum Zeitpunkt der Abfassung seines Reiseberichts, keine Vorstellung davon besessen, dass die von ihm vermittelten Märchen mittlerweile zu Bestsellern der europäischen Erzählliteratur in mehreren Sprachen avanciert waren.24 Doch der junge Syrer war nicht nur ein passeur, der eine der vielen Brücken zwischen orientalischen und europäischen Erzähltraditionen errichtete, sondern er war auch selbst ein begabter Erzähler im Stil von Tausend und eine Nacht. Der Bericht, den er über die letzten Wochen seines Pariser Aufenthalts liefert, steht an komplizierten Verschachtelungen verschiedener Erzählebenen in nichts dem Märchen vom Fischer, der eine Flasche fand (Der Fischer und der Dschinni, in Claudia Otts Version) und seinen vielen Binnenerzählungen nach. Dies sei nun abschließend geschildert. Folgende Erzählstränge werden auf diesen Seiten des Reise­ berichts kunstvoll verflochten:

21 | Ebd., S. 334. 22  | Heyberger in: Hanna Dyâb 2015, S. 10. 23 | Zit. nach Heyberger, S. 11. Die Treffen fanden im Haus von Paul Lucas im Zeitraum vom 25. März bis zum 27. Mai 1709 statt. 24 | Vgl. Heyberger in: Hanna Dyâb 2015, S. 27.

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– Gallands Versuch, Hanna Paul Lucas abzuwerben und ihn in den Dienst eines vermögenden Prinzen zu überstellen, der einen erfahrenen Reisebegleiter und Dolmetscher suchte. – Die Geschichte von Youssef dem Juwelenhändler und seiner doppelten Heiratsabsicht, obwohl er schon in Aleppo eine Ehe eingegangen war – eine weitere Betrugserzählung, die für Hanna beinahe böse geendet hätte. – Die Geschichte von Estephan le Damascain, dem Besitzer des oben erwähnten Cafés, der Hanna mit seiner Tochter verheiraten will. – Das Resultat all dieser Verwicklungen: Hannas Bruch mit Paul Lucas und seine einigermaßen überstürzte Abreise aus Paris. Paul Lucas hatte in Hanna die Hoffnung erweckt, einen lukrativen Posten in der königlichen Bibliothek zu erhalten. Galland, einigermaßen illoyal gegenüber Paul Lucas, bot ihm jedoch einen anderen Karrieresprung an: als Diener und Dolmetsch eines Prinzen, der vorhatte, zu einer Orientreise aufzubrechen. Die Angebote dieses hochmögenden Herrn waren von einer Art, die abzulehnen für einen Fremden wie Hanna kaum möglich gewesen wäre. In der Zwischenzeit jedoch hatten Paul Lucas und er den Juwelenhändler Youssef, ebenfalls aus Aleppo stammend, kennengelernt. Dieser wünschte Rat, um ein Heiratsversprechen aufzulösen und eine lukrativere Verbindung mit einer anderen jungen Frau einzugehen. Als jedoch offenbar wurde, dass Youssef bereits in Aleppo geheiratet hatte, wurde er polizeilich gesucht und musste sich verstecken. Mögliche Mitwisser wurden von den Ordnungskräften festgehalten und mit Folter bedroht, darunter auch Hanna: »On a rapporté aux autorités que cet homme faisait lui aussi partie des fréquentations de Youssef le joaillier. Il connaît peut-être l’endroit où il se cache et pourrait l’avouer. S’il ne le fait pas spontanément, on le torturera durement.«25 In dieser misslichen Lage, als Hanna halb ohnmächtig vor Angst durch die Straßen von Paris abgeführt wird, will ihm der Cafetier Estephan le Damascain zu Hilfe eilen. An diesem hochdramatischen Punkt setzt eine weitere Binnenerzählung ein: Hanna berichtet, dass Estephan ihm seine schöne, aber körperlich etwas behinderte Tochter zur Eheschließung angeboten hatte – ein Plan, den Hanna, wenig begeistert, einfach schleifen lässt. Daraufhin kehrt der Text zur Ebene der Youssef-Anekdote zurück, allerdings kann ihm Estephan in dieser Angelegenheit nicht helfen; Paul Lucas springt in die Bresche und errettet seinen Diener vor der drohenden Folter. Mittlerweile werden die ›Angebote‹ des reisewilligen Prinzen immer dringlicher, die Lage für Hanna wird unhaltbar: »[…] mais Dieu, béni soitIl, en avait décidé ainsi«:26 eine Formel, die an die seines Entschlusses, Paul Lucas‘ Reisebegleiter zu werden, erinnert und erneut die Verantwortung für wichtige Entscheidungen in Gottes Ratschluss auslagert. Dieser legt nun nahe, dass der Zeitpunkt der Abreise aus Paris überfällig sei. Hanna verabschiedet sich 25 | Hanna Dyâb 2015, S. 344. 26 | Ebd., S. 346.

Er zählen und Überset zen

von seinem Herrn, der seinen Entschluss mit folgendem epochenübergreifenden orientalistischen Topos quittiert: »Vous autres fils d’Orient, vous êtes gens de peu de reconnaissance. Va où bon te semble!«27 Das wird Hanna machen, nicht ohne sich vorher bei einflussreichen Bekannten aus der höfischen Welt Geleit- und Empfehlungsbriefe zu verschaffen – als der ressourcenreiche Lebenskünstler, der er ist. Vier Erzählstränge, abwechslungsreich ineinander verschachtelt, mit zahl­ reichen Peripetien: ›Tausend und eine Nacht in Paris‹, ist man versucht zu sagen. Es ist das Verdienst der Herausgeber des arabischen Reiseberichts, dieses Dokument europäischen Lesern und Leserinnen zugänglich gemacht zu haben, auch wenn man bedauern kann, dass wenig Konkretes über die Vermittlung der Märchen erzählt wird: nicht von Hanna, nicht von Galland. Trotzdem: Hanna Dyâb, Erzähler und Dolmetscher, und Antoine Galland, Übersetzer und Erzähler – die beiden sind ein Musterbeispiel eines folgenreichen und erfolgreichen Zusammenwirkens orientalischer und französischer Erzählkunst und mehrfacher Über­ setzungsprozesse.

27 | Ebd.

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Tausendundeine Nacht, Joseph von Hammer-Purgstall und die République des lettres Johanna Borek

Je ne fais donc que l’office de traducteur: toute ma peine a été de mettre l’ouvrage à nos mœurs. J’ai soulagé le lecteur du langage asiatique, autant que je l’ai pu, et l’ai sauvé d’une infinité d’expressions sublimes, qui l’auraient ennuyé jusque dans les nues.1

»Nur die Arbeit, nur das Geschäft eines Übersetzers« – für heutige Übersetzer und Übersetzerinnen eine herbe Einschätzung ihres Metiers – das es allerdings als eigenständigen Beruf im Frankreich des 18. Jahrhunderts noch gar nicht gab. Übersetzen war vielmehr eine der vielen möglichen Tätigkeiten eines Autors, eines homme de lettres; Historiker und Kulturwissenschaftler aus dem Umkreis der Nouvelle Histoire wie Robert Darnton und Roger Chartier haben dessen Tätigkeitsbereich eingehend untersucht. Chartier leitet seinen Beitrag zu Michel Vovelles L’homme des Lumières unter dem Titel L’homme de lettres2 mit einem Zitat aus dem Encyclopédie-Artikel Gens de lettres von Voltaire ein. Ein ›homme de lettres‹, schreibt dieser, sei kein Universalgelehrter, er beschäftige sich vielmehr mit den verschiedensten Wissensgebieten: »la science universelle n’est plus à la portée de l’homme: mais les véritables gens de lettres se mettent en état de porter leurs pas dans différents terrains, s’ils ne peuvent les cultiver tous.«3 Kein Universalgelehrter aber, wie Chartier erläuternd hinzufügt, auch kein (Fach)gelehrter, kein Experte: »La définition de l’homme de lettres donnée dans l’Encyclopédie est donc celle d’un encyclopédiste: il n’est pas un érudit qui a acquis un savoir approfondi 1 | Montesquieu, Lettres persanes, in: Œuvres complètes I. Texte présenté et annoté par Roger Caillois, Paris: Gallimard, 1949, S. 134. 2 | Roger Chartier, L’homme de lettres, in: Michel Vovelle (Hg.), L’homme des Lumières, Paris: Éditions du Seuil, 1996, S. 159–209. 3 | Ebd., S. 159.

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dans une matière particulière, mais un homme d’étude qui a des connaissances dans tous les champs de savoir.«4 Gehört nun das Übersetzen zu einem dieser »différents terrains«, auf denen sich der homme de lettres betätigen kann, so gilt dies, wie Darnton zeigt, in besonderem Maß, wenn auch keineswegs ausschließlich, für die Anfänge von Schriftstellerkarrieren, die fehlgeschlagenen wie die erfolgreichen.5 Eine erfolgreiche machte Denis Diderot, der Mit- und bald schon Alleinherausgeber der Encyclopédie, die selbst aus einem Übersetzungsprojekt hervorging. Diderot hatte für die Buchhändler-Verleger der Encyclopédie schon davor als Übersetzer aus dem Englischen gearbeitet; eine wichtige Station in der Lauf bahn dieses homme de lettres, den wir heute umstandslos als Intellektuellen bezeichnen würden, war seine Übersetzung von Shaftesburys Essay An Inquiry Concerning Virtue or Merit,6 dessen deistische Position er in seinem Vorwort und in zahlreichen Anmerkungen in seine eigene, wesentlich skeptischere umdeutet. Nun handelt es sich allerdings bei den eingangs zitierten Zeilen gar nicht um die Aussage eines Übersetzers. Der Autor Montesquieu verkleidet sich in seinem Vorwort zu den Lettres persanes, die er nicht ›nur‹ übersetzt, sondern selbst geschrieben hat, in ein Kostüm, das textstrategisch eine im frühen 18. Jahrhundert bereits lange Tradition hat, die sich auf den Autor des Don Quijote berufen kann, der ebenfalls vorgibt, eine Übersetzung, nämlich die eines arabischen Manuskripts, zu veröffentlichen. Ein Spiel ohne weitere textexterne Konsequenzen im Fall des Quijote. Im Frankreich des 18. Jahrhunderts verhält es sich anders. Hier lässt sich mit einer solchen Strategie (bis zu einem gewissen Grad) auch die Zensur in die Irre führen: Nur der Übersetzer zu sein, entlastet von der Verantwortung für den Inhalt des Übersetzten. Montesquieu nennt aber auch − im Zeichen unüberhörbarer Ironiesignale − die Kriterien für seine angebliche Übersetzerarbeit: Es sind diejenigen einer genuin französischen Übersetzungstradition, für die im 17. Jahrhundert die Bezeichnung der »belles infidèles«7 geprägt worden war: ein impliziter, jedoch für jedermann offenkundiger Vergleich von Übersetzungen mit Frauen, die beide 4 | Ebd. 5 | Vgl. Robert Darnton, Literaten im Untergrund. Lesen, schreiben und publizieren im vorrevolutionären Frankreich. Aus dem Amerikanischen von Henning Ritter, München/Wien: Hanser, 1985. 6 | Vgl. Gerhard Stenger, Diderot traducteur de Shaftesbury: éléments pour une lecture critique de l’Essai sur le mérite et la vertu, in: Fabienne Brugère/Michel Malherbe (Hg.), Shaftesbury. Philosophie et politesse, Paris: Champion, 2000, S. 213–226. 7 | Der Ausdruck geht auf ein Bonmot des Philologen Gilles Ménage anlässlich der Lukian­ Übersetzung von Nicolas Perrot d’Ablancourt zurück. Vgl. das Standardwerk von Roger Zuber, Les »belles infidèles« et la formation du goût classique. Perrot d’Ablancourt et Guez de Balzac, Paris: Albin Michel, 1995 [1968].

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entweder schön und untreu oder eben ... treu und nichts als das sein konnten. Montesquieu sagt, worin die Schönheit der treulosen Übersetzung besteht: im Geschmack, in den Lesegewohnheiten des Publikums der Zeit, in der Anpassung an das herrschende literarische System. Es sind die im 17. Jahrhundert geltenden Vorstellungen von gesellschaftlichen (»mœurs«) und literarischen Normen (»bienséance«). 1721 kann sich Montesquieu darüber schon mokieren und dahinter die Arroganz und Trägheit eines Lesepublikums sehen, das nur serviert bekommen möchte, was es bereits kennt und für gut, nämlich für französisch (und nicht ›asiatisch‹), hält. Anders zwanzig Jahre zuvor der gelehrte, weitgereiste, orientbegeisterte Münzen- und Handschriftensammler Antoine Galland. Er übersetzt tatsächlich, und zwar einen in seinem Verstand wie der gängigen Zeitauffassung zufolge ›asiatischen‹, nämlich orientalischen Text − in ein Französisch, das ganz ausdrücklich und ironielos dem Publikumsgeschmack entsprechen will. Dieser Text trägt den Titel Les Mille et une Nuits. Contes arabes. Bisweilen schaltet der Übersetzer sich recht ungeniert in die Erzählung ein und begründet einige seiner Übersetzungsentscheidungen: La cent et unième et la cent deuxième Nuit sont employées dans l’original à la description de sept robes et de sept parures différentes [...]. Comme cette description ne m’a point paru agréable, et que d’ailleurs elle est accompagnée de vers qui ont, à la vérité, leur beauté en arabe, mais que les Français ne pourraient goûter, je n’ai pas jugé à propos de traduire ces deux Nuits. 8

Galland wusste wohl kaum, was er mit der Wahl, vielmehr der Übernahme des Titels einer arabischen Handschrift, der Tausendundeinen Nächte, sich selbst und der Nachwelt antat. Zunächst hatte er eine arabische Handschrift entdeckt und übersetzt, die heute zu den berühmtesten Erzählungen von Tausendundeiner Nacht gehört: die Geschichte von Sindbad, dem Seefahrer, als er von einer arabischen Märchensammlung mit dem unwiderstehlichen Titel Alf leila wa-leila – Tausend Nächte und eine − erfuhr. Die Publikation des Seefahrermärchens wurde gestoppt, über einen syrischen Mittelsmann gelangte er tatsächlich in den Besitz eines arabischen Manuskripts samt dem Beginn einer Rahmenerzählung, übersetzte es und veröffentlichte 1704 den ersten der zwölf Bände9 mit dem so 8 | Antoine Galland, Les Mille et une Nuits. Contes arabes. Traduction d’Antoine Galland, présentation par Jean-Paul Sermain/Aboubakr Chraïbi, Paris: Flammarion, 2004, Bd. I, S. 320. Birgit Wagner hat Gallands Fassung unter verschiedenen Aspekten untersucht, zuletzt unter dem des kulturellen Übersetzens: Ein Muttermal, so schön wie ein Amber­ stückchen. Das Verhältnis von sprachlicher und kultureller Übersetzung, diskutier t am Beispiel von Antoine Gallands Mille et une nuits, in: Lavinia Heller (Hg.), Kultur und Übersetzung. Studien zu einem begrifflichen Verhältnis, Bielefeld: transcript, 2017, S. 261–274. 9 | Der 12. Band erschien 1717, zwei Jahre nach Gallands Tod.

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berühmten wie fatalen Titel. Denn dieser hatte, unter anderen, zwei Konsequenzen: Mit ihm war in Gang gesetzt, was Tzvetan Todorov als »machine à raconter«10 bezeichnet, andererseits sorgte der Titel, wörtlich genommen und nicht als schlichte Umschreibung für ›unvorstellbar viele‹ Nächte auch für den Zwang zu einer Vollständigkeit, die seine arabische Vorlage nicht bieten konnte – sie beschränkte sich nämlich auf magere 282 Nächte.11 Ein Torso. Der fehlende Rest war nicht aufzufinden, also behalf er sich mit anderen Handschriften, die ihm unter anderen ein aus Aleppo stammender Freund, ein Maronit namens Hanna, besorgte. Waren keine mehr aufzutreiben, erzählte dieser Galland Geschichten, an die er sich erinnern konnte, die Galland sich notierte und anschließend – offenbar sehr phantasievoll − ausgestaltete.12 Eine Kompilation also, die suggerierte, dass seiner Übersetzung tatsächlich eine vollständige, eine authentische arabische Märchensammlung samt dazugehöriger Rahmenhandlung mit diesem Titel zugrunde lag. Gallands Mille et une Nuits wurden binnen kurzer Zeit ein europaweiter Erfolg, regten zu Übersetzungen an – und zur besessenen Suche nach dem ›eigentlichen‹, dem vollständigen Text, dem tatsächlichen arabischen ›Original‹. Es fand sich nie und hat aller Wahrscheinlichkeit nach auch nie existiert. Und doch wurden Vollständigkeit, Authentizität in den folgenden 300 (und ein paar) Jahren zu Topoi, mit denen die jeweils ›ersten‹ Übersetzungen des ›endlich aufgefundenen‹ ›Originals‹ arbeiteten. Und das angesichts von Erzählungen, die über Jahrhunderte mündlich tradiert, fallweise verschriftlicht, erzählt, weitererzählt, gelesen, übersetzt und verändert wurden, die vermutlich von Indien über Persien in den arabischen Raum gelangten, einzeln oder als Sammlungen kopiert und weitergegeben wurden und die zum Teil aus Gallands Übersetzungen rückübersetzt in den arabischen Raum zurückwanderten, gefunden und als authentische arabische Manuskripte ins Deutsche, Englische, Französische übersetzt wurden.

10 | Tzvetan Todorov, Les hommes-récit: les Mille et une nuits, in: Ders., Poétique de la prose (choix), suivi de Nouvelles recherches sur le récit, Paris: Éditions du Seuil, 1980 [1971, 1978], S. 45. 11 | Gallands arabisches Manuskript gelangte nach seinem Tod in den Besitz der Biblio­ thèque du Roi, der heutigen Bibliothèque Nationale de France. 1984 erschien die von Mushin Mahdi besorgte erste kritische Ausgabe des »Manuscrit Galland«, die auch der englischen Übersetzung von Husain Haddawy, The Arabian Nights, London/New York: Nor ton&Company, 1990 zugrunde liegt sowie der Übersetzung ins Deutsche von Claudia Ott, Tausendundeine Nacht. Nach der ältesten arabischen Handschrift in der Ausgabe von Mushin Mahdi erstmals ins Deutsche übertragen und mit einem Anhang versehen von Claudia Ott, München: Beck, 2004. 12 | Vgl. Robert Irwin, The Arabian Nights. A Companion, London/New York: Tauris, 2010 [1994], S. 16–17.

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Da konnte nicht nur, da musste, und zwar nicht nur gefunden, vielmehr er-funden: gelogen werden. Hat es aber einen Sinn, von ›Fälschung‹ zu sprechen, wie es einem der allerdings dreistesten Finder, Erfinder und Übersetzer der Nächte vorgeworfen wurde: Maximilian Habicht, der 1825 seine Übersetzung so betitelt: »Tausend und Eine Nacht. Arabische Erzählungen, zum erstenmal aus einer tunesischen Handschrift ergänzt und vollständig übersetzt von...«. Diese »tunesische Handschrift« hatte Habicht aus in europäischen Bibliotheken und Sammlungen vorhandenen arabischen Manuskripten selbst kompiliert 13 und in Breslau, wo er als Professor tätig war, zwischen 1825 und 1843 drucken lassen. Der ›Breslauer Druck‹ galt tatsächlich bis zur Aufdeckung des Schwindels im Jahr 1909 als authentisch und hat, wie Heinz Grotzfeld schreibt, gut achtzig Jahre »die Rezeption von 1001 Nacht nachhaltig beeinflusst, vor allem durch die Übersetzungen, die von diesem Text ausgegangen sind.«14 Habichts eigene Übersetzung hingegen fußt, abgesehen von seiner »tunesischen Handschrift«, auf der 1822 erschienenen Neuausgabe der Galland’schen Mille et une nuits von Édouard Gauttier.15 Leider muss mit Robert Irwin resümiert werden: »Habicht’s Tunesian manuscript is only one of a number of ›ghost manuscripts‹, whose alleged existence has bedevilled the study of what is in any case the complex story of the transmission of the Nights.«16 Finden, nicht erfinden sollte der Österreicher Joseph von Hammer und wurde auf die Suche nach der vollständigen und authentischen Handschrift von Tausend und einer Nacht geschickt, die ja nun einmal unbedingt zu existieren hatte. Geboren 1774 in der Nähe von Graz, seit 1835 durch Erbschaft Hammer­ Purgstall,17 ist er einem größeren Publikum heute vor allem als der Mann bekannt, der durch seine Übersetzung von Ghaselen des persischen Dichters Hafiz aus Schiraz Goethe zu dessen West-östlichem Divan inspiriert hat; in Österreich ist er als Wegbereiter, Mitbegründer und erster Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Jahr 1847 in Erinnerung;18 unter Historikern und 13 | Darunter solche aus der »Galland-Handschrift«... Vgl. Heinz Grotzfeld, Dreihundert Jahre 1001 Nacht in geteiltem Besitz von Orient und Okzident, in: Anke Osigius (Hg.) in Zusammenarbeit mit Heinz Grotzfeld, Dreihundert Jahre 1001 Nacht in Europa. Ein Begleitheft zur Ausstellung in Münster, Tübingen und Gotha, Münster: LIT, 2005, S. 17–18. 14 | Ebd., S. 19. 15 | Vgl. ebd. 16 | Irwin 2010, S. 22. 17 | Gräfin Johanna Anna von Purgstall vermachte Hammer, den sie adoptiert hatte, sowohl Gut Hainfeld in der Steiermark als auch ihren Namen. Vgl. Sibylle Wentker, Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall. Ein Leben zwischen Orient und Okzident, in: Hannes D. Galter/Siegfried Haas (Hg.), Joseph von Hammer-Purgstall. Grenzgänger zwischen Orient und Okzident, Graz: Leykam, 2008, S. 1–12, hier S. 11. 18 | Ein späterer Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der im Februar 2018 verstorbene Werner Welzig, verfasste auch den Eintrag »Hammer-Purgstall,

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Osmanisten unter anderem als Autor einer zehnbändigen Geschichte des osmanischen Reichs (1827–33); in Frankreich unter Orientalisten als Bekannter und langjähriger Briefpartner des berühmten (und durch Edward Saids Orientalism auch berüchtigten) Arabisten Antoine Isaac Silvestre de Sacy, der ab 1795 die kurz zuvor gegründete »École spéciale des langues orientales vivantes« leitete. Im Übersetzen und Dolmetschen wurde Hammer gleichsam hauptberuflich ausgebildet, und zwar an der 1754 von Maria Theresia gegründeten »Orientalischen Akademie«. Hier lernten zukünftige Dolmetscher und Diplomaten das als Handels- und Diplomatensprache besonders wichtige Türkisch, daneben Persisch, Arabisch – aber auch Latein, Französisch, Italienisch und Spanisch, Mathematik, Philosophie, Geographie, Tanz, Zeichnen und etliches mehr.19 1799 trat Hammer, der in der Zwischenzeit ein leidenschaftliches Interesse für den Orient, dessen Geschichte, Sprachen und Literaturen entwickelt hatte, einen endlich frei gewordenen Posten als »Sprachknabe«, also als Dolmetsch­ gehilfe an der Hohen Pforte an. Viel Verwendung für ihn hatte man nicht, er selber zog es ebenfalls vor, seine Arabisch- und vor allem Persisch-Kenntnisse zu vertiefen.20 Eine wichtige Mission hatte er allerdings doch: Sein »Gönner« (Hammer hatte zeitlebens recht viele Gönner), tatsächlich sein Wiener Vorgesetzter, der Freiherr Franz Maria von Thugut, hatte ihn beauftragt, das arabische Manuskript aufzutreiben, das es einfach geben musste. Also begab sich auch Hammer auf die Suche nach der authentischen, der vollständigen Handschrift, dem Original von Alf layla wa-layla, den vielen Nächten, die bis zur tausendundersten noch fehlten. In Konstantinopel war sie nicht aufzutreiben, obwohl Hammer sich intensiv auf den dortigen Buchbasaren umsah und zahlreiche andere Manuskripte für sich selbst erwarb, die »Grundlagen«, wie er schreibt, »auf welchen sich später meine bis zu einem halben Tausend vermehrte Sammlung orientalischer Handschriften in enzyklopädischer, historischer und philologischer Richtung aufgebaut hat«.21 Erst als er sich in Kairo zum Zweck der Inspektion der dort tätigen österreichischen Konsuln aufhielt, gelang das Unterfangen. Und scheiterte dennoch spektakulär. Im Vorbericht zur deutschen Ausgabe ›seiner‹ Nächte schildert Hammer die Joseph Freiherr von« in der Neuen Deutschen Biographie 7 (1966), S. 593–594 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118545426.html (aufgerufen am 03.03.2018). 19 | In seinen Erinnerungen beschreibt Hammer den Studienplan von sieben Uhr morgens (nach der Messe bei den Dominikanern) bis acht Uhr abends. Die spärlichen »Erholungsstunden« wurden zum Lernen genutzt; vgl. Joseph von Hammer-Purgstall, Erinnerungen aus meinem Leben: 1774–1852, Berlin: Holzinger, 2014, S. 19–24. Grundlage dieser Ausgabe ist die (umstrittene, da stark gekürzte und bearbeitete) Edition von Reinhart Bachofen von Echt, Wien/Leipzig: Hölder-Pichler-Tempsky, 1940. 20 | Vgl. ebd., S. 29–39. 21 | Ebd., S. 37.

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ganz und gar abenteuerliche Geschichte von Auffindung, Verlust und Wiederauffindung der Handschrift. Hammer berichtet über seine zunächst erfolglose Suche auch in Kairo und fährt fort: Glücklicher war damals der englische Reisende, Hr. Clarke, der ohne die geringste Kenntniß des Arabischen, und nur den ihm von mir mitgetheilten arabischen Titel (Elf lejal we leilet) auf der Straße laut ausrufend, durch den günstigsten Zufall auf einen Mann stieß, der ihm das Werk zum Kaufe anbot. […] Leider gieng dieser auf so glückliche Weise erworbene Schatz auf eine eben so unglückliche zu Grunde, indem derselbe mit einer Ladung von Lord Elgins Tempelraub Schiffbruch litt, und, wiewohl noch gerettet, doch durch die Fluth ganz verwüstet und unleserlich geworden war. 22

Zwei Jahre später, nämlich 1804, hat Hammer, der sich mittlerweile wieder in Konstantinopel aufhält, nochmals Glück und gelangt durch einen Bekannten aufs neue in den Besitz des Schatzes, eines Exemplars, das mit dem ertrunkenen wunderbarerweise identisch ist, also nur eine weitere Abschrift eines zugrundeliegenden Manuskripts (oder einer beiden zugrundeliegenden Kopie) sein kann. Die mögliche Problematik dieser Tatsache stört Hammer offensichtlich nicht. Er hatte nun, schreibt er, »zum erstenmale das Vergnügen, die Tausend und Eine Nacht ganz und bis an ihr vorher in Europa gar nicht bekannt gewesenes Ende, zu lesen.»23 Sonderbar! In Europa hatte man doch sehr wohl den Eindruck, das Ende zu kennen! Doch Hammer weiß es nun besser: dank seiner Entdeckung des äußerst originellen Endes der Tausend und Einen Nacht, welches Galland unmöglich errathen konnte, weil er keine vollständige Handschrift besaß, und daher seine Leser mit seiner eigenen Muthmaßung irre führte, daß nach verlaufenen Tausend und Einer Nacht der König der Erzählerinn ihres Talents wegen das Leben schenkte, während ganz umgekehrt er dieselbe, weil sie ihn zuletzt gar sehr gelangeweilt, hinzurichten befahl, und sie nur aus Rücksicht der Kinder begnadigte, mit denen sie in dieser Tausend und Einer Nacht von ihm in die Wochen gekommen war, ohne daß der König hievon etwas gewahret hatte. 24

Nun verfügt Hammer zwar tatsächlich über ein bisher unbekanntes Manuskript, das allerdings auch einer anderen, einer ägyptischen Überlieferung angehört, 22 | Märchen aus Hundert und Einer Nacht. Zum ersten Male aus dem Arabischen ins Französische übersetzt von Joseph von Hammer-Purgstall, und aus dem Französischen ins Deutsche von Professor August E. Zinserling, Nördlingen: Greno, 1986, S. 7–8. Bei dieser Ausgabe handelt es sich um eine Auswahl aus der dreibändigen Ausgabe von: Der Tausend und einen Nacht noch nicht übersetzte Mährchen, Erzählungen und Anekdoten, Stuttgart/ Tübingen: Cotta, 1823–1824. 23 | Ebd., S. 8. 24 | Ebd., S. 12.

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während Gallands Handschrift einer syrischen zuzurechnen25 und ja wirklich unvollständig ist. Jedenfalls macht Hammer sich gleich an die Übersetzung – nicht ins Deutsche, sondern ins Französische! − und übergibt sie bei einem Paris-Aufenthalt im Jahr 1810 »seinem Freunde« Silvestre de Sacy mit der Bitte um Veröffentlichung. Dazu kommt es nicht, denn dessen Mitarbeiter Jean Jacques Antoine Caussin de Perceval hat die üble Absicht, Hammers Arbeit mit »willkührliche[n] Veränderungen, ohne Nennung des Übersetzers«26, vielmehr unter seinem eigenen Namen herauszugeben! Hammer ist entrüstet und verlangt sein Manuskript zurück, das zieht sich jedoch mit vielen Verwicklungen bis ins Jahr 1820 hin, und da zeigt sich ein englischer Verleger an dem französischen Text interessiert, Hammer veranlasst den Transport sicherheitshalber mit einem Kurier, und – es stand zu befürchten – sein Manuskript geht zwischen Paris und London auf unerklärliche Weise verloren, ob nun zu Lande oder im Ärmelkanal. Damit nicht genug, denn Hammer gibt nicht auf: Die französische Handschrift möge nun von dem Kurier verloren oder demselben gestohlen worden, sie möge als Packpapier verbraucht, oder von einem Spekulanten vielleicht für einen andern Verleger aufbewahrt worden seyn, so kann ich diesen Verlust nicht länger schweigend ertragen, und halte es für’s Beste, in Ermanglung meiner französischen Übersetzung, die aus derselben von Hrn. Professor ZINSERLING ins Deutsche verfaßte, hiemit an das Licht zu fördern […]. 27

So erscheint Hammers französische Übersetzung aus dem Arabischen (»zum ersten Male«, wie sich versteht) in der deutschen Übersetzung des Prof. Zinserling denn 1823 bis 1824 bei Cotta in Stuttgart. Zinserling freilich ereilt das Schicksal, das Hammer für sich vermeiden wollte. Seine deutsche Fassung wird von dem Orientalisten Guillaume-Stanislas Trébutien ins Französische rückübersetzt und erscheint 1828 unter dessen Namen.28 25 | Zu diesen beiden Zweigen der Textüberlieferung vgl. Grotzfeld 2005, S. 12. 26 | Ebd., S. 10. 27 | Ebd., S. 11–12. 28 | Unter dem Titel Contes inédits des Mille et une Nuits, extraits de l’origine arabe [sic!] par M. J. de Hammer, traduits en français par M. G.-S. Trébutien. Unbegreiflicherweise widmet Sylvette Larzul (Les traductions françaises des Mille et une nuits. Étude des versions Galland, Trébutien et Mardrus, Paris: L’Harmattan, 1996) dieser zu Recht völlig vergessenen Übersetzung ein eigenes Kapitel, in dem sie sie nicht etwa mit dem zugrundeliegenden deutschen Ausgangstext vergleicht, sondern vielmehr mit der ersten arabischen Druckausgabe einer dem ägyptischen Zweig angehörenden Handschrift, der sogenannten Ausgabe von Būlāq (1835). Von dieser nimmt Larzul an, dass sie Hammers verlorengegange­­nem Manuskript ähnlich ist und deshalb immerhin »une appréciation globale de la traduction« (S. 124) gestatte. Ihr auf so unorthodoxe Weise gewonnenes Urteil über Trébutiens Übersetzung fällt gar nicht gut aus: Sie sei »frileuse« (S. 123), »fade« (S. 125), »terne« (S. 131),

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Doch weshalb eigentlich übersetzt Hammer sein Fundstück nicht gleich und selbst ins Deutsche, sondern ins Französische? Sein Entschluss kann durchaus als Versuch gewertet werden, sich als Arabist zu profilieren. Und was hindert den »lieben Freund« Silvestre de Sacy daran, diese Version in Frankreich zu publizieren? Er ist eben kein Freund, so wenig wie Caussin de Perceval, und kann, so wie dieser, keinen Konkurrenten gebrauchen. Als Arabist hatte er ohnehin die bei weitem besseren Karten. Während sich in Wien mit der Orientalischen Akademie das diplomatisch-kommerziell-koloniale Interesse auf das Osmanische Reich konzentrierte und Arabisten hier die Ausnahme waren, 29 konnte man sich in Paris auf die schon im 17. Jahrhundert einsetzende und von Ludwig XIV. geförderte Sammlertätigkeit orientalischer Handschriften durch Diplomaten und Reisende wie den Orientalisten Barthélemy d’Herbelot stützen; in der (heutigen) Bibliothèque Nationale befanden sich – unter vielen anderen arabischen Handschriften – seit Napoleons Ägypten-Feldzug von 1798–1801 außerdem die Bestände des von diesem gegründeten »Institut d’Égypte« in Kairo, die seine Unterhändler den siegreichen Briten letzten Endes doch noch abtrotzen konnten. Und vor allem war Silvestre de Sacy als Leiter der »École spéciale des langues orientales vivantes« in eine wissenschaftliche Institution eingebunden. Er machte Paris im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zum Zentrum der aufstrebenden, historisch-philologisch orientierten, damit erst wirklich »wissenschaftlich« arbeitenden Orientalistik; er hatte Schüler aus ganz Europa, vor allem aus Deutschland; zu Silvestre de Sacy, nach Paris, pilgerte man, um nach dem Studium beim maître Professor in Breslau, Göttingen oder Halle zu werden.30

»extrêmement sèche« (133). Überhaupt: »Comme à l’accoutumée, le traducteur réduit considérablement le texte original.« (S. 132). Da ist es ja wieder, das Original! Es hat, seit Hammer es als Handschrift gefunden, verloren, wiedergefunden, ins Französische übersetzt und ins Deutsche hat übersetzen und publizieren lassen, einige Transformationen hinter sich, um in der arabischen Druckausgabe Būlāq 1835 wiederaufzuerstehen; und es muss, damit Larzul es mit der 1828 erschienenen Übersetzung von Trébutien vergleichen kann, von der von der Autorin dieses Beitrags in den 1990er-Jahren erst noch ins Französische gebracht werden. 29 | Wie Franz von Dombay, ein Mitschüler von Hammer an der Orientalischen Akademie. Vgl. Leopold Hellmuth, Franz von Dombay als Arabist, in: Dieter Hornig/Johanna Borek/ Johannes Feichtinger (Hg.), Vienne, porta Orientis (= Austriaca. Cahiers universitaires d’information sur l’Autriche 74), Rouen/du Havre: Presses universitaires de Rouen et du Havre 2013, S. 80–99. 30 | Zur Institutionalisierung der deutschen Orientalistik, ihrer Auffächerung in einzelne Spezial-Disziplinen und der Ausgrenzung von Privatgelehrten wie Hammer aus dem universitären Wissenschaftsbetrieb vgl. die glänzende Untersuchung von Sabine Mangold, Eine »weltbürgerliche Wissenschaft« – Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner, 2004.

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Hammer dagegen? Nach seiner Rückkehr nach Wien im Jahr 1807 (die sich als endgültig herausstellen sollte): ein Beamter, wenn auch gewiss kein kleiner, in der Hof- und Staatskanzlei und, nach dem Tod von Franz von Dombay, ab 1811 Hofdolmetsch. Seine orientalistischen Studien betrieb er in seiner Freizeit. Davon hatte er reichlich: Metternich, an dem alle seine Bemühungen um einen Botschafterposten in Konstantinopel gescheitert waren, förderte ihn darin mit Nachdruck.31 Daneben beteiligte er sich ausgiebig am Wiener Gesellschaftsleben; er verkehrte in den Salons von Karoline Pichler und Germaine de Staël, beim Prince de Ligne, machte die Bekanntschaft von Ludwig Tieck und der Brüder Schlegel. Und 1808 im Haus des Fürsten Lobkowitz die des polnischen Grafen Wenzeslaus Rzewuski, der sich sehr für arabische Literatur interessierte, so sehr, dass er sich Hammers arabisches Tausendundeine Nacht-Manuskript ausborgt – und selbstverständlich nie wieder zurückgibt. Aber der Graf war auch reich, und das ermöglichte Hammer die Verwirklichung eines schon länger gehegten Traums: die Gründung einer Zeitschrift. Fundgruben des Orients sollte sie heißen, »bearbeitet durch eine Gesellschaft von Liebhabern«. Ein kollektives Unternehmen also. Zu den Liebhabern, zu den Amateuren, zu den Dilettanten zählten beim Gründungstreffen am Dreikönigstag des Jahres 1809 in der ›Österreichischen Kaiserin‹, einem Wiener Nobelgasthof, zwölf Herren, neben dem Gastgeber Graf Rzewuski und Hammer selbst, unter anderen Friedrich Schlegel, Karl Borromäus Graf Harrach, Franz von Dombay.32 Die Mitarbeiter (unter ihnen: Freund Antoine Isaac Silvestre de Sacy...) kamen aus ganz Europa und dem Vorderen Orient; Publikationssprachen waren, neben Deutsch und Latein, auch Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Neugriechisch; veröffentlicht wurden Texte der und Beiträge zur arabischen, türkischen, persischen, kurdischen Literatur; Übersetzungen und Nachdichtungen; Reiseberichte und Aufsätze zur Geschichte, Architektur, Musik des Orients.Hammer selbst lieferte, unter vielen anderen, Artikel zu den Kreuzzügen, den Assassinen, den Türkenkriegen, außerdem einen auf Lateinisch verfassten Katalog sämtlicher orientalischer Handschriften und Druckwerke aus dem Besitz der Kaiserlichen Bibliothek – und selbstverständlich tausendundeine, also mehr als viele Übersetzungen.33 Ex oriente lux: Das Morgenland soll, wie schon im Mittelalter, Licht im Abendland verbreiten. In der Vorrede zum ersten Band schreibt Hammer:

31 | Vgl. Wentker 2008, S. 6–7. 32 | Vgl. Hammer 2014, S. 137–138. 33 | Vgl . Hannes D. Galter, Fundgruben des Orients. Die Anfänge der Orientwissenschaften in Österreich, in: Galter/Haas 2008, S. 87–102. Die Fundgruben erschienen in sechs Foliobänden zwischen 1809 und 1818 (vgl. ebd., S. 89).

Tausendundeine Nacht Im Mittelalter, wo Asien in Europa einbrach durch die Eroberung der Araber in Spanien [...], erhellte der Genius des Orients zuerst mit seiner Fackel die Finsternisse gothischer Barbarey, und milderte durch seines Odems Wehen den rauen Anhauch nordischer Sitte. 34

Mit dem Interesse an den und der Begeisterung für die Kulturen des Morgenlandes verbindet sich hier auch eine der Lieblingsmetaphern der Aufklärung, der Lumières. Das orientalische Projekt ist nicht national, sondern kosmopolitisch, das Mitarbeiter-Konzept, die Organisationsform dem Ideal einer République des Lettres verpflichtet; sie orientiert sich an der vergangenen Realität der »société de gens de lettres« der Mitarbeiter an der Encyclopédie, nicht an der sich etablierenden scientific community von Lehrstuhlinhabern.35

N achtr ag Jorge Luis Borges, Leser und Übersetzer, hat sich immer wieder aufs Neue mit Fragen des Übersetzens beschäftigt36; er war auch seit seiner Kindheit ein passionierter Leser von Tausendundeiner Nacht, die er in der englischen Version von Sir Richard F. Burton im Labyrinth der väterlichen Bibliothek entdeckte. Hammer­ Purgstall war ihm ein Begriff, da sowohl Burton wie dessen ›Rivale‹ als Übersetzer der Nächte, Edward Lane, ihn wiederholt lobend erwähnen. Ein Jammer, dass er die Abenteuerliche Suche des Freiherrn Joseph von Hammer-Purgstall nach einer vollständigen und authentischen arabischen Handschrift nicht kannte. Oder auch nicht – Borges hätte sie ja ebenso gut selbst erfinden können.

34 | Zit. in ebd., S. 88; nach dem direkten Hammer-Zitat fährt Galter fort: »Der Einfluss des Orients habe aber auch nach dem Fall Granadas und Konstantinopels im 15. Jahrhundert nie ganz aufgehört und müsse nun neu belebt werden. ›Aus noch unbearbeiteten Fundgruben‹ sollten ›Schätze der Erkenntnis und des Wissens‹ zutage gefördert werden. Nach Überwindung alter religiöser Vorurteile werde eine neue ›Morgenröthe‹ abendländischer Kultur spürbar durch das Entstehen eines neuen Orientbildes.« 35 | Es ist daher ganz folgerichtig, wenn Jürgen Osterhammel unter seine »Helden« neben anderen auch Diderot und Hammer-Purgstall reiht (in: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München: Beck, 2010 [1998], S. 13). 36 | Immer wieder aufs Neue mit Borges beschäftigt hat sich Michael Rössner – im Hinblick auf Translation, Neuschrift und den Verlust, das Verschwinden des ›Originals‹ etwa in: Traducción, translación, translatio, transscriptio... Reflexiones sobre un concepto actual de la discusión en las ciencias culturales, in: René Ceballos/Claudia Gatzemeier/Claudia Gronemann/Cornelia Sieber/Juliane Tauchnitz (Hg.), Passagen: Hybridity, Transmédialité, Transculturalidad, Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms Verlag, 2010, S. 33–44.

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John Donnes »Floh« auf deutschen Versfüßen, oder Fessel und Freiheit der Reime Ein ›komparatistischer‹ Selbstversuch Werner von Koppenfels

Wäre ich noch jung und verwegen genug …, ich würde Alliterationen, Assonanzen und falsche Reime, alles gebrauchen, wie es mir käme und bequem wäre; aber ich würde auf die Hauptsache losgehen. Goethe zu Eckermann am 9. Februar 1831 O qui dira les torts de la rime? Verlaine, Art poétique

Drei Fragen stellen sich eingangs, die eine gewisse Vorentscheidung verlangen: Ob Dichtung übersetzbar ist, ob, und wenn ja, nach welchen Kriterien poetische Übertragungen kritisierbar sind, und schließlich, ob ein Betroffener in eigener Sache zu einer philologisch verantwortlichen Argumentation fähig ist. Nach einem viel zitierten Bonmot von Robert Frost, das sich auf die Meinung zahlreicher Theoretiker und Praktiker der Kunst von Dante und Du Bellay bis hin zu Diderot, Croce und Nabokov stützen kann, definiert sich Dichtung als das, was in der Übersetzung verloren geht: »Poetry is what is lost in translation.«1 Was von den Anhängern dieser Glaubensrichtung gern übersehen wird: Gedichtübertragung bedeutet nur eine relative, keineswegs absolute Steigerung derjenigen Schwierigkeit, mit der jede Übertragung literarischer Texte zu kämpfen hat, also von Texten, 1 | In einem Gespräch, das Frost 85-jährig 1959 mit C. Brooks and R. P. Warren führte; im genauen Wortlaut: »I could define poetry in this way: It is that which is lost out of both prose and verse in translation.« Edward C. Lathem (Hg.), Interviews with Robert Frost, New York: Holt, 1966, S. 203. Vgl. zum Kontext: George Steiner, After Babel, London: Oxford University Press, 1975, S. 239–244.

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Werner von Koppenfels

in denen Wortwahl, Syntax und Klang selbst zu ästhetischen Bedeutungsträgern werden; und Grundbedingung des literarischen Übersetzens ist die generelle Unmöglichkeit völliger Bedeutungsäquivalenz zwischen den verschiedenen Sprach­systemen – eine Erkenntnis, die spätestens seit Wilhelm von Humboldt und Schleiermacher ein linguistischer Gemeinplatz sein dürfte. Jeder sprachliche und kulturelle Systemwechsel eines Textes erweist sich, im Hinblick auf die Utopie totaler semantischer Reproduktion, bereits als Ursache tief greifender Wandlungen. Mit dieser Einsicht ist die Doktrin von der Unübersetzbarkeit der Dichtung – ohnehin von einer glanzvollen Praxis seit ewigen Zeiten de facto widerlegt – zum Sonderfall eines allgemeinen Sachverhalts entmythologisiert. Eine literarische Übersetzung, die diesen Namen verdient, wird dem Bedeutungsverlust, der angesichts der Systemdifferenz der Sprachen und des kulturellen Abstands von der Vorlage unvermeidlich ist, durch Kompensation aus eigensprachlicher Energie begegnen und so die Spannung zum Original ästhetisch fruchtbar machen. Die rationale Kritisierbarkeit literarischer und damit auch dichterischer Übersetzung ergibt sich aus ihrem janushaften Status. Übersetzung ist »Reproduktion und Produktion zugleich, kritische Analyse und poetische Synthese, orientiert sich am fremden wie am eigenen Sprachsystem, an fremder und eigener Zeit und Gesellschaft, am übersetzten und übersetzenden Autor.«2 Sie ist letztlich ein Stück angewandter Literaturkritik, deren Erkenntnisprozess sich am Resultat im Rekurs auf das Original ablesen lässt. Worauf es ankommt, ist die Bereitschaft des Übersetzers, sich auf die Expressivität seiner Vorlage hermeneutisch und poetisch einzulassen, sie in all ihrer kulturellen und stilistischen Eigenheit zu respektieren und sein eigenes Textverständnis, so demütig wie mutig, in der Zielsprache abzubilden. Das – zugegeben hohe – Ideal heißt: Ein übersetztes Gedicht will wieder Gedicht werden. Wenn es befremdet, dann nur, weil es verbale Besonderheiten der Vorlage nachbildet und nicht, weil es eigene Mangelhaftigkeit sichtbar macht. Die dritte der vorab gestellten Fragen kann – im Vertrauen darauf, dass auch in diesem heiklen Fall nachprüf bare Objektivität möglich ist – nur durch die folgenden Textvergleiche beantwortet werden. Dazu darf der Verfasser bei seinem Pronominalgebrauch von der dritten zur ersten Person wechseln. Gegenstand der Untersuchung ist John Donnes The Flea, eines der berühmtesten, witzigsten und erotisch frechsten Gedichte der Shakespeare-Zeit, in drei verschiedenen deutschen Fassungen. Auf meine schon etwas ältere Version von

2 | Werner von Koppenfels, Intertextualität und Sprachwechsel: Die literarische Übersetzung, in: Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hg.), Intertextualität, Tübingen: Niemeyer, 1985, S. 137–157, hier S. 139.

John Donnes »Floh« auf deutschen Versfüßen

19863 antworteten kürzlich Hans Krieger und Michael Mertes4 mit je einer kritischen riposte,5 gefolgt von einer eigenen Übertragung. Die anschaulichste Übersetzungskritik besteht bekanntlich in dem Versuch, es selbst anders und besser zu machen. Beide greifen gelegentlich auf eine meiner Formulierungen zurück, ein legitimes Prinzip der übersetzerischen Zusammenarbeit und ein Kompliment an den Vorgänger, dem damit bescheinigt wird, dass es zumindest an dieser Stelle nichts zu verbessern gibt. Auf den Text des Originals6 folgt hier strophenweise der Vergleich der drei deutschen Versionen. The Flea Mark but this flea, and mark in this, How little that which thou deny’st me is; Me it sucked first, and now sucks thee, And in this flea our two bloods mingled be; Thou know’st that this cannot be said A sin, or shame, or loss of maidenhead, Yet this enjoys before it woo, And pampered swells with one blood made of two, And this, alas, is more than we would do. Oh stay, three lives in one flea spare, Where we almost, nay more than married are. This flea is you and I, and this Our marriage bed, and marriage temple is; Though parents grudge, and you, we’re met, And cloistered in these living walls of jet. Though use make you apt to kill me, Let not to this, self murder added be, And sacrilege, three sins in killing three.

3 | John Donne, Alchimie der Liebe, ursprünglich Berlin: Henssel, 1986; hier zitiert nach der Ausgabe Zürich: Diogenes, 2004, S. 86–87; im Folgenden abgekürzt mit vK. 4 | Hans Krieger, Die Wiederkehr des Reims. Form als Sinn – zu einem Gedicht von John Donne, in: Sinn und Form 68 (2016), S. 273–275, im Folgenden abgekürzt mit Kr. – Michael Mertes, Noch einmal: Donnes Floh, in: ebd., S. 844–846, abgekürzt mit Me. Soeben ist von Mertes ein John-Donne-Lesebuch mit dem Titel Schweig endlich still und lass mich lieben (Bonn: Franz Schön, 2017) erschienen; darin S. 77 seine Fassung des Floh. 5 | Ursprünglich ein Begriff der Fechtersprache; vom Oxford English Dictionary definiert als »A counterstroke; an effective reply by word or act.« 6 | Hier zitiert nach der Ausgabe von A. J. Smith, The Complete English Poems, Harmondsworth: Penguin, 1971, S. 58–59.

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Werner von Koppenfels Cruel and sudden, hast thou since Purpled thy nail in blood of innocence? In what could this flea guilty be, Except in that drop which it sucked from thee? Yet thou triumph’st, and say’st that thou Find’st not thyself, nor me, the weaker now; ‘Tis true, then learn how false fears be; Just so much honour, when thou yield’st to me, Will waste, as this flea’s death took life from thee.

Dieser dramatische Mono-Dialog, der zu Beginn der 90er-Jahre des 16. Jahrhunderts entstanden sein dürfte, ist Donnes origineller Beitrag zur damals grassierenden Mode erotischer Flohgedichte. In der Nachfolge von (Pseudo-)Ovids Carmen de pulice beneidet in solchen Texten der Dichter/Liebhaber den Floh um die Freiheiten, die er sich mit der Dame seines Herzens nimmt, auch und erst recht um den Tod von ihrer Hand, und wünscht sich selbst an dessen Stelle. Donne verwandelt das schon reichlich abgenutzte Motiv, indem er zuerst sich selbst und danach die Umworbene zu Opfern des Flohbisses macht. Da die zeitgenössische Medizin annahm, dass sich im Liebesakt das Blut beider Partner vermischt, kann der Sprecher den Flohbiss zur Vorwegnahme der verweigerten Vereinigung metaphorisieren. Der sexuelle Drang wird zum argumentativen Drängen, wobei eine schwindelnde Dialektik den Blutsauger vom trivialen zum sakralen Objekt aufbläht, um ihn mit der zynischen Schlusspointe wieder ins angemessene Nichts zu befördern. Wenigstens als Dialektiker darf der abgewiesene Liebhaber triumphieren. Es ist eine dramatische Szene, mit klarer Zeitstruktur. Just in dem Augenblick, als der Mann zu reden beginnt, wird die Frau vom Floh gebissen, und während seiner großen Suada in der zweiten Strophe zerquetscht sie das Tierchen zwischen ihren Fingern. Jede Stanze beginnt mit einer abrupten Anrede; danach scharfe Zäsur und ein Enjambement-reiches Ausgreifen der Syntax, bis der Tripel­ reim am Strophenende den männlichen Standpunkt nachdrücklich zusammenfasst. Der Wechsel zwischen acht- und zehnsilbigen Versen suggeriert ein männlich-weibliches Hin und Her in diesem ungemein gesprächsnahen Gedicht (mit seiner einsilbigen Lexik und seinen wenig markanten Reimwörtern), obgleich die Partnerin ja nominell stumm bleibt und nur an entscheidender Stelle zum Gegen­ schlag ausholt. Einmal (V. 16) spielt der Text auf die Metapher des petrarkistischen Liebestodes durch Abweisung an, doch ist er weit entfernt von der Devotions­ haltung, Wortmusik und symmetrischen Ausgewogenheit Petrarcas und seiner Nachfolger. Was könnte misstönender und ungalanter sein als die Zeile »Me it sucked first, and now sucks thee«? Was härter komprimiert als das Verspaar der Schlusspointe? Hier ist der Übersetzer vielfach gefordert.

John Donnes »Floh« auf deutschen Versfüßen Sieh diesen Floh! Und sieh zugleich, Wie wenig das, was du mir weigerst, heißt. Mich biß er erst, nun beißt er dich, In ihm wird unser beider Blut vermischt. Gesteh, daß solchen Akt kein Mensch Sündig, schandbar, und Raub der Unschuld nennt. Der da genießt, eh er lang freit, Labt sich und schwillt vom einen Blut der zwei; Und uns wär dies mißgönnt aus Schicklichkeit? (vK) Sieh diesen Floh! Und sieh, was er uns lehrt: Ist, was du mir verweigerst, so viel wert? Gebissen hat er mich und dann dich auch, Vermischt ist unser Blut in seinem Bauch. Daß dies nicht Sünde ist, mußt du bekennen, Man kanns nicht Schmach, nicht Raub der Unschuld nennen. Was er genießt, so mühelos und frei, Mit Lust gebläht vom einen Blut der zwei – Wer sagt, daß dies für uns nicht schicklich sei? (Kr) Sieh hier den Floh, da siehst Du erst, wie winzig klein ist, was Du mir verwehrst. Er sog an mir, an Dir nun auch; vermengt ist unser Blut in seinem Bauch. Kann das denn Sünde, Schande sein? Verlust der Unschuld? Sag’s doch selber: Nein! Er schwelgt, läßt Skrupel einfach ruhn, vom Blutgemisch verhätschelt schwillt er nun: Ja, das ist mehr, als wir uns traun zu tun! (Me)

Die drei Fassungen folgen ihrem Original mehr oder weniger auf dem Fuß, lesen sich gut und bewahren viel vom Witz und der dramatischen Lebhaftigkeit der Szene.7 Bekanntlich war Donne ein Zeitgenosse der großen elisabethanischen Dramatiker und, in den Worten des Chronisten Sir Richard Baker, nach seinem Studium in Oxford »a great visiter of Ladies, a great frequenter of Playes, a great writer of conceited Verses«.8 Beim Vergleich der Übersetzungen, sowohl mit der Vorlage als auch untereinander, lassen sich verschiedene Prioritäten erkennen, am deutlichsten im Unterschied der ersten beiden Wiedergaben. 7 | Im Sinne dieser Bewegtheit weichen zwei der Versionen vom Druckbild der Erstausgabe 1633 ab, indem sie den Wechsel zwischen vier- und fünfhebigen Versen durch Einzüge sichtbar machen. 8 | Zit. nach J. B. Leishman, The Monarch of Wit, London: Hutchinson, 1951, S. 28–29.

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Mir ging es vor allem darum, trotz der Vielsilbigkeit des Deutschen möglichst keinen Bedeutungsträger zu eliminieren, den inneren Rhythmus des fingierten Dialogs zu erhalten, ebenso wie die Emphasen (»Mich biß er erst [...]«), die verkeilte Syntax (»Wie wenig das, was du mir weigerst, heißt«), die Zeilensprünge, Zäsuren und Wortwiederholungen, die zugleich Chiffren der sexuellen Vereinigung sind (»biß […] beißt«; »unser beider Blut9 […] vom einen Blut der zwei«). Auch die kolloquiale Sprecherhaltung war mir wichtig: »Der da genießt, eh er lang freit«. Um Donnes expressive Energie zu bewahren und verbalen Verrenkungen vorzubeugen, musste ich mich weitgehend mit Assonanz-Reimen begnügen, die freilich das Reimmuster deutlich genug hervortreten lassen. (Donnes eigene Reime sind, wie gesagt, denkbar unauffällig.) Zugegeben, meine Halbreime gehorchen der Not eingeschränkter Wahlmöglichkeit, aber sie drücken auch etwas von der Freiheit des Übersetzers aus, dessen Weigerung, einem anachronistischen Reimpuris­ mus die gesamte Ausdruckskraft seines Textes unterzuordnen. Nicht nur die moderne Dichtung, die dem Reim grundsätzlich misstraut, sondern auch die neuere poetische Übersetzungspraxis ist diesen Weg oft genug gegangen; ältere Epochen waren hier weniger dogmatisch, wie ja auch Donne ohne weiteres since mit innocence reimt.10 Bei meinen ›Ungereimtheiten‹ setzt Hans Kriegers Gegenvorschlag an. Er beobachtet derzeit eine gewisse Rückkehr des Reims in die poetische Praxis: »Nun aber, noch etwas schüchtern und manchmal mit Anzeichen von Muskelschwäche nach zu langem Stillliegen, betritt der Reim erneut die Bühne.«11 Durch die Dissonanzen am Versende sieht er die Wirkung meiner Version ruiniert und nennt ihre Halbreime »im Grunde enttäuschender als völlige[n] Reimverzicht, weil sie wie mißglückte Reimversuche wirken«.12 Ein an deutscher Klassik und Romantik geschultes Ohr mag das so empfinden. Aber wurde nicht Donne gerade von der angelsächsischen Moderne als Vorläufer entdeckt, als sie gegen die gefällige Glätte der viktorianischen Lyrik rebellierte? Hat er nicht selbst über seine Dichtung gesagt: »I sing not siren like, to tempt; for I / Am harsh«?13 Dieser rauen Härte, die Ausdruck seines aggressiven Witzes ist, bleibt Kriegers perfekt gereimte Fassung einiges schuldig – der Text wirkt geglättet und entspannt, vor allem durch die Angleichung der Verslänge. Für ihn als Übersetzer ist diese »metrische Feinheit« von weitaus geringerem Gewicht »als die Wahrung der Reim9 | Die kühne Formulierung »our two bloods« zeigt, wie sehr es Donne auf den Prozess der Einswerdung ankommt; sie war, für mich jedenfalls, im Deutschen nicht nachzubilden. 10 | Krieger 2016, nicht ganz zutreffend, S. 273: »Das Original ist selbstverständlich perfekt gereimt.« – Zum Problem der Reim-Priorität in poetischen Übertragungen vgl. Werner von Koppenfels, Von den Ungereimtheiten metrischer Übersetzung, in: Martin Meyer (Hg.), Vom Übersetzen, München: Hanser, 1990, S. 77–103. 11 | Krieger 2016, S. 273. 12 | Ebd., S. 274. 13 | Smith 1971, S. 202: »To Mr. S[amuel] B[rooke], V. 9–10.

John Donnes »Floh« auf deutschen Versfüßen

form, mit der die Schlagkraft des Witzes […] steht oder fällt«.14 Die Schlagkraft des Witzes wird aber durch die metrische Regularisierung im Verein mit dem Wegfall der Enjambements, der Emphase und Wortwiederholung, dazu durch die Tendenz zur aufweichenden Paraphrase (»was er uns lehrt«, »in seinem Bauch«, »so mühe­los und frei«) und nicht zuletzt durch den weiblichen Reim vermutlich weit mehr beein­ trächtigt. Dass der Floh genießt, ehe er freit, ist kein entbehrliches Detail; »mit Lust gebläht« trifft den Sinn der Vorlage nicht: Der Floh hat sich den Bauch vollgeschlagen (das heißt hier pampered) und schwillt zu einer Art von Schwangerschaft auf. Michael Mertes setzt diesen Dialog der Übersetzer mit einem Kompromissvorschlag fort. Er kritisiert Kriegers Entscheidung für Isometrie und weibliche Versschlüsse. Doch beide Hürden seien kein unüberwindbares Hindernis auf dem Weg zu reinen Reimen; sein eigener deutscher Floh soll es demonstrieren – und er tut es auf angemessen lebhafte Art. Hier sind die stilistischen Reim-Opfer unauffälliger: das fehlende Enjambement in V. 5 sowie eine Tendenz zur Wattierung am Versende (»in seinem Bauch«; »Sag’s doch selber: Nein!«; »läßt Skrupel einfach ruhn«). Auch »vom Blutgemisch verhätschelt« ist metaphorisch nicht allzu überzeugend. Und mit der Strophenpointe »Ja, das ist mehr als wir uns traun zu tun« stellt sich beim Lesen ein gewisses grammatisches Unbehagen ein. Donnes Neigung zu epigrammatischer Verdichtung zeigt sich ja gerade in den Abschlüssen seiner Strophen und Gedichte. Hier ist die einsilbige Wortballung zwar erhalten, aber das Versende wirkt in der Wortfolge unnatürlich und damit antiklimaktisch. Doch sacht! Halt ein! Drei Leben laß Dem Floh, der uns vermählt, und mehr als das: Der Floh bist du, dann ich, zuletzt Ist er uns Hochzeitstempel, Hochzeitsbett; Den Eltern, dir, zum Trotz, gepaart In der Klausur aus lebendem Gagat. Zwar bist du meinen Mord gewohnt, Doch Selbstmord laß, und Sakrileg – vor Gott Drei Todsünden für dreifach grausen Tod. (vK) Halt ein! Der Hochzeitssegen uns gegeben, Wenn du ihn totschlägst, mordest du drei Leben; Du tötest mich und dich mit einem Streich Und triffst, worin vereint wir sind, zugleich, Den Hochzeitstempel aus lebendgem Holz, Der uns gepaart hat, trotzend deinem Stolz. Mich umzubringen schreckt dich ja nicht sehr, Doch Sakrileg und Selbstmord wiegen mehr, Todsünde dreifach, daran trägst du schwer. (Kr)

14 | Krieger 2016, S. 275.

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Werner von Koppenfels Halt, laß ihn! Es ist Dreifach-Mord, zerdrückst du unsrer Beinah-Ehe Hort! Der Floh ist Du, ist ich, ist mehr: Ein Hochzeitsbett und -heiligtum ist er. Wir sind gepaart im Kloster hier, ob’s auch mißfällt den Eltern oder Dir. Wie Du mich umbringst, weißt du gut – doch schone wenigstens Dein eignes Blut, erschlag die Dreiheit nicht in sündiger Wut! (Me)

Die Hand der Dame ist drohend gegen den Floh erhoben – nun schwingt sich die Rhetorik des Liebhabers in burleske Höhen auf, um das koitale Symbol zu retten. Mir ging es um die atemlose, kumulative Steigerung mit ihren Zeilensprüngen und Wortwiederholungen (»Floh«; »Hochzeit«; »drei … dreifach«) und um die exquisite Formulierung »cloistered in these living walls of jet«, die den Floh in gewagter Blasphemie zum Tempel sakralisiert, seine Zerstörung mit trinitarischem Pathos zur Tempelschändung erklärt. Meine Zusätze (»vor Gott«, »graus«) unterstreichen die Intensität der humoristischen Anklage. Die Krieger’sche Fassung bestätigt den Eindruck der ersten Strophe. Auch hier sind reine Reime und rhythmische Glättung vorrangig, und der hyperbolische Übermut der Vorlage erscheint merklich gedämpft; nicht zuletzt durch Streichung der Zeilensprünge und Wiederholungen – das Hochzeitsbett, ein wesentliches Requisit, ist verschwunden – und durch reimbedingte, teilweise ungrammatische Einschübe wie »Der Hochzeitssegen uns gegeben« (eine Art ›ablativus absolutus‹), »trotzend deinem Stolz« oder »daran trägst du schwer«. Dass die beiden im Floh mehr als verehelicht, nämlich bereits sexuell vereinigt sind, ist kein Thema. Wenn der Tempel nun aus »lebendgem Holz« und nicht mehr aus schwarzer Pechkohle besteht, sind rhyme and reason endgültig geschiedene Leute. Michael Mertes bringt, trotz der beseitigten Enjambements, etwas von dem lebhaften Staccato des Originals in seiner Version zurück. Dafür entfernt sie sich stärker vom Wortlaut Donnes. Das ›Mehr‹ der Heirat verschwindet ebenso wie der Selbstmord; dasselbe gilt leider auch für das Zentralbild der »living walls of jet« und für das dreifache Sakrileg am Ende. Die verbale Ballung »unsrer Beinah-Ehe Hort« erkauft die semantische Kompression mit Schwerverständlichkeit. O rasche Willkür! Hast du jetzt Den Nagel mit der Unschuld Blut benetzt? Worin denn fehlte dieser Floh, Als in dem Tröpfchen, das er aus dir sog? Du sagst (und brüstest dich erst recht), Du fändest weder dich noch mich geschwächt. Schon wahr – wie eitel Ängste sind!

John Donnes »Floh« auf deutschen Versfüßen Nur soviel Ehre, gibst du dich mir hin, Verfällt, wie dir der Flohtod Leben nimmt. (vK) O übereilte Willkür! Hast du jetzt Den Finger mit der Unschuld Blut benetzt? Was tat es denn, das arme kleine Tier, Als dass es trank ein Tröpfchen Blut von dir, Von dem du selber sagst – und hast ja recht – , Es habe weder dich noch mich geschwächt? Ach, eitle Ängste! Dich mir hinzugeben Nimmt deiner Ehre mehr nicht, als was eben Der Tod des Flohs dir nahm von deinem Leben. (Kr) Wie jäh und grausam! Hast Du jetzt den Nagel Dir im Unschuldsblut benetzt? Was war denn dieses Flohs Vergehn, vom Tröpflein aus Dir selbst mal abgesehn? Doch du frohlockst nun selbstgerecht: »Wir beide sind doch keineswegs geschwächt!« Das stimmt. Drum laß die Ängste sein, ist doch dein Fehltritt, gehst du auf mich ein, nur wie im Floh dein Tröpflein war: ganz klein! (Me)

In der Schlussstrophe stilisiert der Sprecher den inzwischen erfolgten Flohtod noch rasch in einer weiteren aufwendigen Metapher zum Massacre of the Innocents, ehe er den Spieß umdreht und das bisschen Blut (samt der Jungfernschaft, die es symbolisiert) zur quantité négligeable erklärt. Wie bisher hatten auch hier Enjambe­ ments und Zäsuren für mich hohe Priorität. Besonders wichtig schien mir der apodiktische Ton der drei Schlussverse, im Original fast nur Einsilber, und die syntaktische Ballung der letzten Zeile. Dass sich die Geliebte bei dieser Gelegenheit ›brüstet‹, also sich triumphierend in die Brust wirft, ehe sie argumentativ beschämt wird, ist eine kleine semantische Zugabe für die Schlussrunde des Wortgefechts. Ein weiteres Zusatzangebot, diesmal an den sprachhistorisch gewitzten Leser, liegt in dem Wort »geschwächt«, das im älteren Deutsch ja auch so viel heißen kann wie ›geschwängert‹. Kriegers Abweichungen vom Original dem Reim zuliebe betreffen diesmal vor allem die Syntax. Statt des drängenden Zeilensprungs von jeweils einem Vers zum nächsten sind hier die Verse 3–6 zu einem flüssigen Satzverband verknüpft, mit eingeschaltetem Relativsatz und konjunktivischer Rede. Das »arme kleine Tier« wirkt ebenso verharmlosend wie der verständnisvolle Einschub »und hast ja recht«. Mit der rhythmischen Entspannung ist auch das verbale Drama entschärft.

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Auch bei Mertes erzeugt die Insistenz auf dem korrekten Reim eine ungute Neigung zum Zeilenstil, die der gesprächsnahen Munterkeit seiner Wiedergabe klanglich entgegenwirkt. Mit der rhythmischen geht, wie immer, auch eine seman­ tische Schwächung einher: »vom Tröpflein […] abgesehn« redet die aufgesetzte Empörung des Sprechers klein, ebenso wie danach der Begriff »Fehltritt« den Ehrverlust und das beschönigende »gehst du auf mich ein« die sexuelle Kapitulation. Und in der Schlusszeile stehen nicht mehr Leben und Tod zur Debatte – sie hat ihren Biss verloren und macht sich klein. Der ›Biss‹, die misstönende, harte Fügung, die klischeefreie, rebellische Metaphorik war es gerade, was die Generation von T.S. Eliot an der Metaphysical Poetry als wahlverwandt empfand und für ihre eigene Poetik fruchtbar machte. Der moderne Übersetzer solcher Texte steht unweigerlich im Einflussbereich dieser Perspektive und muss sich fragen, wie weit sie literargeschichtlich und poetologisch reversibel ist. Jede Glättung, wie schonend auch immer, birgt die Gefahr der Konventionalisierung und geht tendenziell der Vorlage gegen den Strich. Mein Übersetzungsvergleich versucht, trotz des heiklen tua res agitur, ohne Selbstgefälligkeit und Schulmeisterei eine nachvollziehbare Gewinn- und Verlustrechnung dafür aufzustellen, was die Priorisierung des ›reinen‹ Reims gegenüber anderen Bedeutungsträgern für eine formbetonte Übersetzung von Dichtung bedeuten kann. Natürlich sind Vorlage und Nachdichtungen besondere, aber im Blick auf eine verbreitete Praxis keineswegs untypische Fälle. Mir bot sich dabei die willkommene Chance, vor Jahrzenten getroffene übersetzerische Entscheidungen nachträglich zu rationalisieren und an dem vergnüglichen und erkenntnisreichen Wettbewerb der Übertragungen teilzunehmen, zu dem große Dichtung immer einlädt.

Werwolf in Beugehaft Oder Deklination und Translation Martin von Koppenfels

Alte Grammatikregel: Was man nicht deklinieren kann, das sehe man – als Übertragung an. Sigmund Freud an Lou Andreas-Salomé, 23. März 1923

1. U nbeugsames »The elementary act of thinking is translation«, schreibt Juri Lotman 1 und propagiert damit einen Begriff vom Denken, der dieses nicht im Syntagma lokalisiert, wie uns die Logik lehrt, für die der elementare Akt des Denkens in der Bildung eines Satzes besteht. Lotman dagegen spricht von einem Denken im Paradigma, einem Denken, das gleichsam quer zum Satz operiert – wie es derjenige tut, der nach Synonymen, Antonymen, Entsprechungen, Gegenteilen, Reimen, rhythmischen Äquivalenten, etc. sucht; nach Worten (aber auch nach anderen Dingen: Lauten, Gesten, Wirkungen), von denen er annimmt, dass sie in einer Sprache analog zu bestimmten Worten, Lauten, Gesten, Wirkungen einer anderen Sprache stehen. Wer solches tut, hangelt sich zunächst und zumeist an einem gedanklichen Konstrukt entlang, das er in einem intuitiven Sinn als ›Sinn‹ bezeichnet. Damit hat es allerdings seine Tücken: Ohne den Sinn zu treffen, können Übersetzer nichts richtig machen. Wer aber nur den Sinn trifft, macht alles verkehrt. Es genügt nicht, nicht falsch zu übersetzen. Mit ›Sinn‹ sei hier ein verkümmerter Begriff von Semantik gemeint, reduziert nämlich auf bloße Denotationen – was in etwa dem Wunschtraum eines Logikers entspricht, die Wörter ›natürlicher‹ Sprachen auf Bündel semantischer Merkmale reduzieren zu können. Der Wunsch­

1 | Juri Lotman, Universe of the Mind. A Semiotic Theory of Culture, London/New York: Tauris, 1990, S. 143.

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traum des Logikers ist natürlich der Albtraum des Übersetzers, nämlich die ›reine Sprache‹, die alle anderen überflüssig macht. Nun gibt es eine Art von Texten, die den Übersetzern jene semantische Handhabe von sich aus verweigern oder es ihnen zumindest sehr schwer machen, sie in die Hand zu bekommen. Das ist die Nonsens-Literatur, die mit den Grundoperationen der Sprache spielt, die also ihren Sinn daraus bezieht, Semantik im Krisenmodus vorzuführen. Diese Art Literatur wird übrigens nicht selten von Logikern und Mathematikern produziert – ein kleiner Hinweis darauf, dass diese Leute vielleicht doch nicht von der reinen Sprache träumen, sondern eher von der anarchischen Verwirrung der unreinen. Der bedeutendste Vertreter dieser Spezies war vielleicht Rev. C. L. Dodgson, jener stotternde Mathematikdozent in Oxford mit einer Vorliebe für sehr junge Mädchen, der sich Lewis Carroll nannte. Je nach Perspektive kann die Nonsens-Dichtung (der englische Ausdruck bleibt, wenn auch in latinisierter Form, im Deutschen meist stehen, damit wir nicht zwischen ›Unsinn‹ und ›Widersinn‹ entscheiden müssen) als Verhängnis oder Chance für Übersetzer angesehen werden: als Verhängnis, weil ihre Spiele meist im höchsten Grade sprachspezifisch sind – und daher unter die Kategorie der ›Unübersetzbarkeit‹ fallen, die bei Übersetzungstheoretikern (aber nicht bei den Praktikern) hoch im Kurs steht; als Chance, weil sie eine bloß bedeutungs­ orientierte Übersetzung per definitionem unmöglich macht und darüber hinaus vorführt, wie Bedeutung und Sinn mit anderen Aspekten der Sprache verwachsen sind. Wo die Semantik in die Krise gerät, treten diese anderen Aspekte umso deutlicher hervor. Die Spiele des Nonsens zielen darauf, im Gewebe der Sprache harte Kerne zu identifizieren, widerständiges Material, an dem sich dann die Übersetzer die Zähne ausbeißen, wobei hoffentlich der eine oder andere Funken Witz herausspringt. Einen solchen harten Kern hätte man in der Sprache der frühen Psychoanalyse als ›Symptomrest‹ bezeichnet, d.h. als insistierendes Körperzeichen, das sich gegen die Deutungsarbeit des Analytikers sperrt, die darin besteht, ein sprachlos stummes Körpergeschehen in ein Sprechen zu verwandeln, das wiederum nicht selten die Struktur eines Witzes aufweist. Wegen eines solchen Symptomrests bei einem ihrer Analysanden hatte im März 1923 Lou Andreas-Salomé Sigmund Freud zu Rate gezogen. Der antwortete ihr am 23. des Monats mit jener Lateinlehrerweisheit, die den vorliegenden Überlegungen als Motto dient: »Alte Grammatikregel: Was man nicht deklinieren kann, das sehe man – als Übertragung an.«2 Es sollte zu denken geben, dass hier die Geheimnisse der Libido in grammatische Begriffe gekleidet werden – genauer gesagt, in Begriffe dessen, was sich gegen die Wortgymnastik des Beugens hexenschussartig sperrt: jenes Indeklinable, d.h. Unbeugsame, das sich manchmal als Fremdwort entpuppt, das von einer Sprache in die andere übertragen wurde. 2 | Sigmund Freud/Lou Andreas-Salomé, Briefwechsel, Frankfurt am Main: Fischer, 1980, S. 133.

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Was Freud seiner Freundin signalisieren will, ist, dass sie dieses Symptom nicht ›beugen‹ kann, weil es sich der regulären Grammatik der Analyse entzieht. Seine Unübersetzbarkeit rührt daher, dass es selbst ein »Schon-Übersetztes« ist,3 nämlich von einer anderen Szene stammt als die anderen Symptome des Patienten und darum den Gesetzen einer anderen Sprache gehorcht. Und diese andere Szene heißt psychoanalytisch »Übertragung«. Freud hat seine Schulweisheit übrigens leicht manipuliert. Sie lautet im Pauker-Original: »Was man nicht deklinieren kann, das sieht man als ein Neutrum an.«4 Es wird nicht überraschen, zu erfahren, dass Fragen des Geschlechts – und zwar nicht des grammatischen – in Andreas-Salomés Deutung dieses Symptomrests eine entscheidende Rolle spielten. Dies mag uns zur Warnung gereichen, wenn wir glauben, wir könnten die Rechnung ohne die libidinösen Energien machen, die selbst in der Grammatik stecken.

2. W erwölfe und Ü berse t zer Als leidlich unbeugsam hat sich auch jener Text erwiesen, dessen Übersetzbarkeit im Folgenden zur Debatte steht. Es handelt sich um einen Klassiker der wilhelminischen Fantasy-Literatur, den wir Nachfahren der Wilhelminer in- und auswendig kennen. Er hat allerdings seinen leidgeprüften Übersetzern, von denen hier in erster Linie die englischsprachigen zu Wort kommen sollen, den einen oder anderen peinvollen Symptomrest beschert. Der Text handelt vom uralten, in jeder Generation neu ausgefochtenen Kampf zwischen Werwölfen und Studienräten, und er handelt vom epischen Konflikt zwischen Schülern und Deklinationen. Und dieser Konflikt erzeugt hier etwas, das man nicht einfach mit Roman Jakobson als »Poesie der Grammatik« bezeichnen kann, sondern, viel schlimmer, als ›Poesie der Schulgrammatik‹: Christian Morgenstern, Der Werwolf 5 Ein Werwolf eines Nachts entwich von Weib und Kind, und sich begab an eines Dorfschullehrers Grab und bat ihn: Bitte, beuge mich! Der Dorfschulmeister stieg hinauf auf seines Blechschilds Messingknauf

3 | Vgl. Robert Stockhammer, Das Schon-Übersetzte. Auch eine Theorie der Weltliteratur, in: Poetica 41 (2009), S. 257–291. 4 | Freud/Andreas-Salomé 1980, S. 275. 5 | Christian Morgenstern, Der Werwolf [1907], in: Ders., Werke und Briefe, hg. von Reinhard Habel, Bd. 3, Stuttgart: Urachhaus, 1987, S. 87–88.

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Mar tin von Koppenfels und sprach zum Wolf, der seine Pfoten geduldig kreuzte vor dem Toten: »Der Werwolf«, – sprach der gute Mann, »des Weswolfs, Genitiv sodann, dem Wemwolf, Dativ, wie man’s nennt. den Wenwolf, – damit hat’s ein End’.« Dem Werwolf schmeichelten die Fälle, er rollte seine Augenbälle. Indessen, bat er, füge doch zur Einzahl auch die Mehrzahl noch! Der Dorfschulmeister aber mußte gestehn, daß er von ihr nichts wußte. Zwar Wölfe gäb’s in großer Schar, doch ›Wer‹ gäb’s nur im Singular. Der Wolf erhob sich tränenblind – er hatte ja doch Weib und Kind! Doch da er kein Gelehrter eben, so schied er dankend und ergeben.

Dieses bildungsbeflissene Untier ist bekanntlich schon lange wieder in die Schulbücher eingegangen, aus denen es einmal hervorgekrochen war. Es verdankt seine unheimliche Existenz der kulturbildenden Kraft des Schülerulks, der von den mittelalterlichen Goliarden über Alfred Jarry bis zu DADA und eben Morgensterns Galgenbrüdern zu den Produktivkräften des Abendlands gehört. Schüler­ ulk zeichnet sich von jeher durch ein halb rebellisches, halb unterwürfiges Verhältnis zur Grammatik aus. Er will das Haus der Sprache anzünden und trotzdem darin wohnen bleiben. Wobei man sich fragen kann, ob nicht auch vieles, was Literaturwissenschaftler tun, diesem Prinzip gehorcht. »Terror is not of Germany, but of the soul«, schrieb Edgar Allan Poe.6 »Terror is not of Germany, but of the German grammar«, korrigiert Morgenstern und bringt damit – als Zeitgenosse der Psychoanalyse – die grammatische Struktur der Seele ans Licht. Morgensterns Monster will nicht als Subjekt, sondern als Substantiv behandelt werden. Aus analytischem Blickwinkel ist unschwer erkennbar, was es mit der Aufforderung »Bitte beuge mich!« auf sich hat: Es ist der masochistische Unterwerfungswunsch des wilhelminischen Untertanen. Wie deutsch er ist, hört man sofort, wenn man beispielsweise die spanische Version danebenhält: »¡Declí6 | Edgar Allan Poe, Preface, in: Ders., Tales of the Grotesque and the Arabesque, Philadelphia: Lea and Blanchard, 1840, S. 5.

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neme, maestro, por favor!«7 Dieser Unterwerfungswunsch ist freilich untrennbar von dem Wunsch, in die symbolische Ordnung eingegliedert zu werden. Er richtet sich an die Autorität der Sprache selbst, das »sujet supposé savoir« in Gestalt des Dorfschullehrers, der allein den Wolf in dieser düsteren Variante einer analytischen Sitzung durch die Engpässe des Signifikanten geleiten kann. Entsprechend groß ist deshalb zunächst die dabei entstehende Beugungslust. Die aber beruht darauf, dass etwas fehlt – etwas, das mit Weib und Kind zu tun hat. Diese schmerzliche Einsicht können wir als den Punkt des Übergangs vom freudianisch träumenden Wolfsmann zum lacanianisch fragenden Jedermann deuten, der um den Namen des Vaters bettelt und nur das Nein des Vaters zu hören bekommt. Aus übersetzerischem Blickwinkel hingegen wird hier am Kreuzungspunkt von Grammatologie und Animal Studies eine ganz andere Geschichte ausgetragen: Morgensterns Ungetüm ist ein Stellvertreter des Übersetzers. Wie dieser erscheint es als ein janusköpfiges Wesen, das zwischen zwei Reichen der Natur steht, in dem einen sprachmächtig und beredt, im anderen nur über ein unartikuliertes Heulen verfügend; dabei der Sprache immer auf servile Weise untertan; ein Einzelgänger (es gibt ihn nur im Singular), ein Nachtarbeiter (nur bei Vollmond unterwegs). Und wehe ihm, wenn er außerdem noch Weib und Kind hat. Der Konflikt zwischen freier Intellektualität und familiärer Bindung – wer kennt ihn besser als Werwölfe und Übersetzer? Dabei ist es leider für letztere kein Trost, dass ihnen unaufgefordert eine Disziplin namens ›Übersetzungswissenschaft‹ zur Seite springt. Für unseren Werwolf verlautbart diese Wissenschaft beispielsweise, seine Kaum-Übersetzbarkeit beruhe auf einer spezifischen Verwechslung von Primärsprache und Metasprache (»beuge mich« statt »beuge meinen Namen«).8 Damit erinnert diese Disziplin ein wenig an Morgensterns großen Erfinder Korf, namentlich an die von ihm ersonnene »Tagnachtlampe«: Korf erfindet eine Tagnachtlampe, die, sobald sie angedreht, selbst den hellsten Tag in Nacht verwandelt. 9

Denn Morgensterns Gedicht leugnet ja eben die Möglichkeit der Unterscheidung von Primär- und Metasprache. Der Werwolf sagt mit Lacan: »Il n’y a pas de méta­ langage«10 und redet damit (wie Lacan) souverän am linguistischen Gebrauch des 7 | José Maria Valverde, Canciones de la horca, Madrid: Corazón, 1976, hier zit. nach Niels Hansen (Hg.), Christian Morgenstern sechssprachig, Stuttgart: Urachhaus, 2004, S. 67. 8 | Miorita Ulrich, Die Sprache als Sache. Primärsprache, Metasprache, Übersetzung, Tübingen: Narr, 1997, S. 170. 9 | Hier zit. nach Hansen 2004, S. 42. 10 | Jacques Lacan, Écrits, Paris: Éditions du Seuil, 1966, S. 867.

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Begriffs vorbei. Und ebendies muss der Übersetzer tun, der sich eine Menge Arbeit sparen könnte, wenn es eine Metasprache im starken Sinn des Wortes gäbe. Vor diesem Hintergrund ist, bevor einzelne englische Übersetzungen des Werwolfs ins Auge gefasst werden, die Frage zu stellen, was denn die englische Sprache zu Morgensterns Monster sagt. Zunächst einmal, sie fühlt sich angesprochen. Denn sie merkt natürlich, dass Morgenstern aus Edward Lears und Lewis Carrolls Hüten gekrochen ist: kein Mondschaf ohne Quangle Wangle, kein Werwolf ohne Jabberwocky. Und zugleich fühlt sie, die englische Sprache, sich bei diesem nächtlichen Rendezvous auf unhöflich deutsche Weise ausgeladen. Denn wer ist die eigentliche Heldin des Gedichts? Die Deklination. An dieser Stelle ist eine kurze ›Disambiguierung’ (wie die Online-Enzyklopädisten sagen) am Platz: Gemeint ist nicht Deklination (Astronomie) – »Abweichung eines Gestirns vom Himmelsäquator«. Gemeint ist auch nicht Deklination (Geographie) – »Abweichung der Richtungsangabe der Magnetnadel [...] von der wahren (geographischen) Nord­ richtung«, auch »Missweisung« genannt (obwohl es hier natürlich auch erhebliche Missweisungen gibt, die die Fahrt vom Wolf zum Wer zum Abenteuer machen). Gemeint ist vielmehr Deklination (Grammatik) – »Formenabwandlung (Beugung) des Substantivs, Adjektivs, Pronomens und Numerales«.11 Es geht also um die Metamorphose der Wörter, die deren Position im Satz bestimmt. Und dieses Problem trifft die englische Sprache ins Mark: Denn sie hat leider – darauf beruht ihre enorme Popularität – das Deklinieren weitgehend verlernt. Daneben gibt es noch ein paar andere Probleme, wie etwa die Verwechslung des Fragepronomens »Wer?« mit althochdeutsch Wer (von gotisch *wera, verwandt mit lat. vir), d.h. »Mann«. Das Erstaunliche ist freilich, dass das bloße Fragepro­ nomen bei Morgenstern das Gleiche leistet wie die germanische Sage vom Mannwolf. Denn allein durch dieses magische »Wer«, das nur nach Personen fragen kann, wird der Wolf zur Person. Er ist ja schließlich kein Was-Wolf. Das Pronomen ist hier sozusagen der Vollmond, der die gruselige Überschreitung der Tier-Mensch-­ Schranke auslöst. »Wer aber hereinkam, das war der Wolf!«, heißt es im Märchen von den Sieben Geißlein12 – und ein Wolf, nach dem so gefragt wird, kann ja nur ein sprechendes Raubtier sein, das mit den Menschen auf Du und Du steht. In anderen Sprachen unnachahmlich sind ferner die sagenhaften phonetischen Beziehungen, über die der Werwolf verfügt: vom militaristischen Wehrwolf, der so prächtig zur englischen Deutschlandfolklore passt, über den querulatorischen Querwolf bis hin zu der schönen Ablautreihe, die über den imperfektivischen Warwolf zum konjunktivischen Wärwolf reicht. Wir werden gleich auf einen Übersetzer stoßen, der zumindest diese letzte Reihe im Englischen abgeschritten ist.

11 | Duden Fremdwörterbuch, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Dudenverlag, 2005, S. 209. 12 | Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Erster Teil, Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1974, S. 62 (meine Hervorhebung).

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3. M ehrspr achige M onster Die Verwechslung von Wer und »Wer?« wird nur verzagte Übersetzer einschüchtern. Ein solcher ist z.B. Walter Arndt – übrigens im markanten Gegensatz zu seinem unverzagten, vielmehr höchst abenteuerlichen Lebenslauf: Walter Werner Arndt ist nicht der einzige deutschstämmige Emigrant unter den englischsprachigen Morgenstern-Übersetzern. Wir befinden uns hier in einer Domäne der Emigranten, die, wenn nicht alles täuscht, im Morgenstern’schen Witz das Beste einer verlorenen Sprachheimat in eine neue hinein zu retten suchen. Deshalb stellt die hier zu beschreibende Lykologie auch ein überwiegend amerikanisches Phänomen dar. Walter Arndt also gab seiner erst 1993 erschienenen Übersetzung folgende Fußnote bei: »Strictly speaking, stanza 3 should read ›The whowolf, of whosewolf, to whomwolf, (archaic) whonwolf.‹ But since the wer syllable has nothing to do with the pronoun ›who‹ but means ›Man‹, cognate to Latin vir, we shall down arms.«13 – »We shall down arms«: Das ist die Geste des Beugens, durch die der Übersetzer unfreiwillig seine Identifizierung mit dem beugsamen, aber unübersetzbaren Werwolf preisgibt. Im Gegensatz zu dieser Einstellung steht der radikale Sprung in die Freiheit, wie ihn der nächste Wolfsbändiger vollzogen hat: Howard Sterns unveröffentlichte Version heißt Hollywood Minute und stammt, wie unschwer zu erkennen, ebenfalls aus den frühen 1990er-Jahren:14 A giant lizard famed of yore once knocked on Steven Spielberg’s door. The great director flashed a grin: »T. Rex, my man, I’ll squeeze you in.« He squeezed, but just the toothy enda Rex would fit in his agenda. »Sweetheart, I can give you five – this business eats me up alive. What’s on your tiny brain?« The king of reptiles spoke the following: »I’d like your draftsmen to design a consort for me: T. Regina.« »Done!« »But I foresee the queen will nurse ambition; so, to please her,

13 | Walter Arndt, Songs from the Gallows, New Haven: Yale University Press, 1993, S. 137. 14 | Copyright H. Stern 2017. Ich danke Howard Stern, der mich vor vielen Jahren auf dieses Thema brachte, für die Erlaubnis, das Gedicht hier zu zitieren.

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Mar tin von Koppenfels please have me proclaimed on screen Tyrannosaurus Julius Caesar.« »Why stop there?« cried Steve. »Dictator! Fancy Pants and Pontifex! ›Regina (T) seeks Pantocrator; object: world dominion, sex.‹ Get lost, you fossil. I’ve a hunch you’re all washed up – let’s not do lunch.« T. Rex was totally deflated, slithered out and abdicated.

So schnell wird ein melancholisch-bildungsbeflissener Wolf zum aufgeblasenen Reptil. Statt auf der Verwechslung eines Fragepronomens mit einem vergessenen Nomen beruht diese Version auf der Äquivokation einer biologischen Spezies-Bezeichnung mit einem Herrschertitel; statt des deklinatorischen Paradigmas bekommen wir eine steigernde Reihe solcher Titel; und als Dreingabe die Travestie der biedermeierlichen Gruselszene ins Monsterfilmmilieu, kombiniert mit gewissen Anleihen an Der Fischer und syn Fru. Freilich verschwindet dabei auch die Poesie der Beugung aus dem Gedicht – bis auf einen schmalen Rest: Kasus und Numerus spielen keine Rolle mehr, allein dem Genus kann noch die Schwundstufe eines deklinatorischen Paradigmas abgewonnen werden: die binäre Differenz. Freilich nicht auf Englisch, sondern auf Latein. Die folgenden Übersetzer haben hingegen den Kampf mit der Deklination angenommen. Da ist zunächst Jerome Lettvin, Neurowissenschaftler und MIT-Legende, bekannt durch seine bahnbrechenden Forschungen zum Gesichtssinn der Frösche. Sein »Werwolf« von 1962 ist ein »Werewolf« und insofern grammatisch firm. Auf seine bange Frage – »How am I declined?« – erhält er die Antwort: »The Iswolf, so we may commence, The Waswolf, simple past in tense, The Beenwolf, perfect, so construed, The Werewolf is subjunctive mood.«15

Diese Äquivokation zwischen dem germanischen Mann-Wort und dem konjunktivischen Hilfsverb were ist im Englischen nur hör-, nicht aber sichtbar. Aus der Deklination wird dabei eine Konjugation und aus dem Existenzialismus des einsamen Wolfs eine scholastische Ontologie der Modi, die denn auch unter dem Titel Ontology recapitulates philology daherkommt. 15 | Jerome Lettvin, Gallows-Songs, erschienen in der studentischen Literaturzeitschrift The Fat Abbot 4 (1962), S. 11.

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Mit den folgenden Übersetzungen betreten wir die Abteilung ›Beugen und Zeugen‹, denn mit ihnen geht aus dem Wer-Wesen, das ohnehin ein Gestaltwandler ist, eine bemerkenswerte Fauna hervor. Ich beginne mit einem Seitenblick auf zwei misslungene Übersetzungen. Dass sie es sind, deutet auf eine geringere Werwolf-­ Affinität der von ihnen repräsentierten Kulturen. Dies darf man (trotz des wunderbaren Bisclavret der Marie de France) für das Französische behaupten, das immerhin das Wort loup-garou kennt, in dem allerdings der Wolf gleich zweimal sein Maul aufreißt, denn der Bestandteil garou stammt über altfranzösisch garwalf vom altfränkischen wariwulf ab. Loup-garou ist also ein typischer Aneignungs-Pleonasmus. Der französische Sprachpurist André Thérive versucht es 1943, mitten unter der deutschen Besatzung, mit undefinierbaren, aber bunten Kreaturen: »Les lougas roux, – adjectif épithète; quand ils sont noirs, – adjectif attribut; un louga blanc, – la syntaxe est parfaite; des lougas bleux, – l’accord est absolu.«16

Noch schwerer hat es José María Valverde, denn der sehr bildungssprachliche licántropo bleibt im Spanischen (trotz einschlägiger Episoden in Cervantes’ Persiles) leider ein Exot. Kein Wunder, dass Valverde auf ein spanischeres Tier verfallen ist, das Pferd – caballo oder in leicht andalusischer Aussprache, cabayo. Dieses muss er allerdings bis zur Unkenntlichkeit umakzentuieren zum caba-yó: »Nominativo«, dijo, »caba-yó«; caba-mío, en lugar de genitivo; caba-a-o-para-mí, será el dativo; caba-mé, acusativo, y se acabó«.17

Angesichts solcher Verbiegungen sehnt man sich zur englischen Sprache zurück, die hier, um noch einmal Freud zu bemühen, eine besondere Übertragungsliebe zum Deutschen empfindet. Der Dichter W. D. Snodgrass etwa kooperierte bei seiner Morgenstern-Übertragung mit der in Wien geborenen Literaturwissenschaftlerin Lore Segal, die auf einem der Kindertransporte nach Großbritannien dem Holocaust entkam. Bei Snodgrass und Segal entfleucht dem Brutkasten der Deklination ein anderes Nachtwesen, die sehr nordamerikanische Hoot-owl (strix varia bzw. Streifenkauz):

16 | A. Thérive: Christian Morgenstern, Pierrot pendu. Trente »Galgenlieder« transposés en français, Paris: Haumont, 1943, hier zit. nach Hansen 2004, S. 67. 17 | Valverde 1976, hier zit. nach Hansen 2004, S. 67.

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Mar tin von Koppenfels »The Hootowl,« said the good schoolmaster; »Of Whosetowl’s, genitive, thereafter; To Whomtowl, which is in our native Tongue, accusative and dative.«18

Abbildung 1: Jason Love: »Who. Who. Who. Or is it Whom?«

Quelle: Stock Cartoon

Diese Variante wird allerdings nur in einer Fußnote erwogen, im Haupttext titulieren die Übersetzer – wie später Walter Arndt – den Werwolf auf Deutsch (The Werwolf statt The Werewolf ) und deklinieren ihn dann auch so. Der neurotische Lykanthrop, ohnehin ein grammatikalischer freak, wird so auch noch mit einem Sprachzaun umzogen. Jene strix varia, die bei Snodgrass und Segal in der Fußnote herumflattert, gilt übrigens dank ihres unheimlichen Rufs als Todesvorbotin. Das hat sie mit dem Wesen gemein, das nun die Bühne betritt. Hereingelassen hat es der bewundernswerte Max Knight (alias Max Kühnel, auch er ein jüdischer Emigrant aus Österreich, der sich schon in der Anglisierung seines Namens als kühner Übersetzer erweist). Seine Version ist von 1963. Kenner der irischen Mythologie wissen, was es bedeutet, wenn nachts der Ruf der Todesfee, der banshee wail, ertönt:

18 | W. D. Snodgrass/Lore Segal, Gallows Songs, Ann Arbor: University of Michigan Press, 1967, S. 83–84.

Wer wolf in Beugehaf t One night, a banshee slunk away from mate and child, and in the gloom went to a village teacher’s tomb, requesting him: »Inflect me, pray.« The village teacher climbed up straight upon his grave stone with its plate and to the apparition said who meekly knelt before the dead: »The banSHEE, in the subject’s place; the banHERS, the possesive case. The banHER, next, is what they call objective case – and that is all.« The banshee marveled at the cases and writhed with pleasure, making faces, but said: »You did not add, so far, the plural to the singular!« The teacher, though, admitted then that this was not within his ken. »While ›bans‹ are frequent,« he advised, »a ›she‹ cannot be pluralized.« The banshee, rising clammily, wailed: »What about my family?« Then, being not a learned creature, said humbly »Thanks« and left the teacher.19

»Nur die dritte der Schicksalsfrauen, die schweigsame Todesgöttin, wird ihn in ihre Arme nehmen«, schreibt Freud in seinem Aufsatz über das »Motiv der Kästchenwahl«, wo es genau wie beim Übersetzen darum geht, sich für eine Übertragung zu entscheiden.20 Und so ist es: Nur die banshee vermag den Übersetzer zu befriedigen. Sie ist die wahre Partnerin des Werwolfs. Nicht nur entstammt sie einem ähnlich unheimlichen Winkel der Mythologie, sie verfügt auch über ein ähnliches deklinatorisches Potential. Und wir verzeihen ihr gerne, dass sie dabei ein wenig schummelt: Während sich im Deutschen das Begehren des Werwolfs an einer grammatischen Unmöglichkeit bricht (das Fragepronomen hat keinen 19 | Max Knight, Gallows Songs, deutsch und englisch, München: Piper, 1972, S. 61ff. 20 | Sigmund Freud, Das Motiv der Kästchenwahl, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 10, London: Imago, 1946, S. 24–39, hier S. 37.

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Plural; der deutschen Frage-Grammatik ist es egal, ob der Unbekannte, der vor der Tür steht, ein Wolf oder ein ganzes Rudel ist); während wir also niemals »die Were« haben werden, kennt das englische Personalpronomen natürlich durchaus den Plural; dass die einsame banshee in einem fröhlichen Schwarm bantheys über die irischen Moore tollte, wäre kein Ding der Unmöglichkeit – nur geht dabei eben die Genus-Differenzierung verloren: banhee und banshee werden sich im Geist der gender equality die banthey teilen müssen.

Abbildung 2: Werwolf mit Keule, Pontifikale, Frankreich, 13. Jh.

Quelle: IRHT CNRS – Bibliothèque municipale de Besançon, Ms 138 f 50

»Das Eisen mit Ton vermischt« Translatio imperii als Kreolisierung der Tropen Daniel Graziadei

A usgangspunk t : D as S tandbild der V ermischung Der Titel meiner nun folgenden Überlegungen zitiert Daniel 2,41 und Daniel 2,43 im Wortlaut der Einheitsübersetzung.1 Die benannte Vermischung ist Teil einer eindrucksvollen Vision des neubabylonischen Königs Nebukadnezar II., die ihn »so beunruhigt, dass er nicht mehr schlafen konnte« (Daniel 2,1), ihn aber ohne konkrete Erinnerungen zurücklässt. Da es ihm nicht gelingt, das Vergessene von seinen Sehern gedeutet zu bekommen, droht er, alle Weisen Babels töten zu lassen. Dies betrifft nun auch den Vegetarier aus dem verschleppten Hause Juda (Daniel 1,8–16), der am Hofe ausgebildet wird und sich »auch auf Visionen und Träume aller Art« versteht (Daniel 1,17). Daniel, vom Oberkämmerer Aschpenas auf Beltschazzar umbenannt (Daniel 1,7–Daniel 2,26), wird »das Geheimnis in einer nächtlichen Vision enthüllt« (Daniel 2,19). Seine eigene Vision versetzt ihn in die Lage, dem Herrscher den vergessenen Traum von einem gewaltigen Standbild nachzuerzählen. An diesem Standbild war das Haupt aus reinem Gold; Brust und Arme waren aus Silber, der Körper und die Hüften aus Bronze. Die Beine waren aus Eisen, die Füße aber zum Teil aus Eisen, zum Teil aus Ton. Du sahst, wie ohne Zutun von Menschenhand sich ein Stein von einem Berg löste, gegen die eisernen und tönernen Füße des Standbildes schlug und sie zermalmte. Da wurden Eisen und Ton, Bronze, Silber und Gold mit einem Mal zu Staub. Sie wurden wie Spreu auf dem Dreschplatz im Sommer. Der Wind trug sie fort und keine Spur war mehr von ihnen zu finden. Der Stein aber, der das Standbild getroffen hatte, wurde zu einem großen Berg und erfüllte die ganze Erde. Das war der Traum. (Daniel 2,32–36)

1 | BibleServer, Einheitsübersetzung 2016, https://www.bibleserver.com/text/EU/Daniel2 (abgerufen am 24.06.2018).

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Daniels Deutung seiner Vision des königlichen Traums als Reichsabfolge mit Verfallserscheinungen und abschließender totaler Zerstörung gehört als »eschatologisch-›apokalyptisch‹ akzentuierte Abfolge der ›Weltreiche‹ […] zum aramä­ ischen, vormakkabäischen Textbestand«, weist aber »eine Modifizierung der üblichen Abfolge« auf, die es ermöglicht, dass »Daniel den Königen der ersten drei Reiche als Seher und Ratgeber zur Seite stand«2 und die Zeitrechnung erst mit der jüdischen Gefangenschaft und Nebukadnezar beginnt: »Du bist das goldene Haupt« (Daniel 2,38). In der »Tradition des Hippolytus von Rom [...], der die eisernen Füße des Standbildes als Chiffre für das Reich der Römer wertete«,3 setzt der Asket und Kirchenvater Hieronymus (347–420 AD) in seinem ersten Buch der Commentariorum in Danielem Prophetam die Interpretation des Standbilds fort, und diese nimmt bald »eine zentrale Stelle in der Geschichte der abendländischen Danielkommentare« ein. 4 In seinem Kommentar vermeint er im silbernen Bereich des Körpers das persische Reich zu erkennen, schreibt das dritte Reich – Alexandrum significat – Alexander dem Großen und den ihm nachfolgenden Makedonen zu, um schließlich festzustellen, dass Roma aeterna klarerweise das vierte Reich sein muss und in Konsequenz auch Bestandteil des fünften. Hieronymus’ Identifikation des geteilten römischen Reichs seiner Zeit mit dem vermischten, schwächsten und letzten Reich der gottgegebenen Abfolge zeigt, laut Courtray, »wie der Mönch aus Bethlehem diskret, aber verbindlich die sozio-politische Wirklichkeit seines Zeitalters im Kommentar zur Sprache bringt«.5 (Vers. 40.) Et regnum quartum erit veluti ferrum: quomodo ferrum comminuit et domat omnia, sic comminuet et conteret omnia haec, etc. Regnum autem quartum, quod perspicue pertinet ad Romanos, ferrum est, quod comminuit et domat omnia. Sed pedes ejus et digiti ex parte ferrei, ex parte sunt fictiles, quod hoc tempore manifestissime comprobatur. Sicut enim in principio nihil Romano imperio fortius et durius fuit, ita in fine rerum nihil imbecillius: quando et in bellis civilibus et adversum diversas nationes, aliarum gentium barbararum indigemus auxilio. 6

2 | Leonhard Schumacher, Die Herrschaft der Makedonen im Kanon der ›Weltreich‹-Abfolge des Pompoius Trogus (Iustin), in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 131 (2000), S. 281. 3 | Ebd., S. 285. 4 | Régis Courtray, Der Danielkommentar des Hieronymus, in: Katharina Bracht/David S. du Toit (Hg.), Die Geschichte der Daniel-Auslegung in Judentum, Christentum und Islam, Berlin: de Gruyter, 2007, S. 123. 5 | Ebd., S. 147. 6 | Hieronymus, Commentariorum in Danielem Prophetam Liber Unus, in: Documenta Catholica Omnia, 2006 [408], S. 504; Kursivierung im Original, Hervorhebungen und Übersetzung vom Autor). Der Kommentar ist online verfügbar unter http://www.documentacatholicaomnia.

»Das Eisen mit Ton vermischt« (Vers. 40) Und das vierte Reich wird so hart wie Eisen sein; Eisen zerschlägt und zermalmt ja alles; und wie Eisen alles zerschmettert, so wird dieses Reich alle anderen zerschlagen und zerschmettern. etc. Das vierte Reich, das deutlich auf die Römer verweist, ist das eiserne Reich, das alles zerbricht und zertrümmert. Seine Füße und Zehen aber sind teilweise aus Eisen und teilweise aus Ton, wie es die heutigen Zeiten eindeutig beweisen. So wie es in seinen Anfängen nichts Stärkeres oder Härteres als das Römische Reich gab, so gibt es heute kaum etwas Schwächeres, schließlich benötigen wir heute, sowohl im Bürgerkrieg wie gegen fremde Nationen, die Hilfe der Barbaren.7

Angesichts der fortgesetzten Abwesenheit des Steins, der die dynastische Abfolge beendet und das Standbild pulverisiert, endet die Reichsabfolge weder mit dem Untergang des (Ost-)Römischen Reichs noch mit dem Ende des Römischen Reichs deutscher Nation oder einem jener anderen Reiche und Nationalstaaten, die von ihren Dichtern, Historikern und Politikern in diese Traditionslinie erhoben wurden. Dabei erfordert die Einordnung der Jetztzeit in die Reichsabfolge eine Überbrückung von zeitlicher Distanz und medialer Differenz und ermöglicht immer neue und konkurrierende Formen von translatio imperii.8 Als Übersetzungsvorlage gelten dabei eher die kriegerischen Beine, jenes vierte Reich, das »alle anderen zerschlagen und zerschmettern« wird, als das »zerteilet Königreich« der »Füsse / vnd Zee eins teils thon / vnd eins teils eisen«, wie Daniel 2,41 im Wortlaut der Luther-Übersetzung von 1545 lautet. Für die nun folgenden Überlegungen sind alle Komponenten des Standbilds wichtig. Dabei möchte ich diesen Prozess der Vermischung, der in den Füßen angelegt zu sein scheint, über das Fundament hinaus ernst nehmen, um die gesamte Statue – entgegen Hieronymus’ Reinheitsfantasien – als vermischte und vermischende zu verstehen. Sowohl in der fixierten Totale – die Statue besteht aus zwei Edelmetallen, einer Metalllegierung, einem Metall und einer Mischung aus diesem Metall mit Tonmineralen – als auch in der prozessualen, topologischen und hierarchisch-zeitlichen Abfolge von einem Teil zum anderen – von oben nach unten, von stark und teuer zu schwach und billig, von früher zu später, von Edelmetall zu Legierung zu unmöglicher Legierung – wird dies ersichtlich.

eu/04z/z _0347-0420_ _Hieronymus _ _Commentariorum_In_Danielem_Prophetam_ Liber_Unus_ _MLT.pdf.html (abgerufen am 26.09.2017). 7 | Übersetzung und Hervorhebungen vom Verfasser dieses Beitrags, D.G. 8 | Vgl. Dilek Dizdar, Translation. Um- und Irrwege. Berlin: Frank & Timme 2006, S. 28–29: »Der historische Translationsgedanke wird meist auf das mittelalterliche Geschichtsverständnis bezogen, das sich auf die Vier-Monarchienlehre aus der biblischen Prophezeiung Daniels stützt. […] Die Vision wurde als unmissverständlich auf das Verhältnis zwischen Gott und irdischer Macht bezogen gedeutet, als eine Hegemonialgewalt auf Erden, die vor Gott machtlos ist.«

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H eute : D er P rozess der K reolisierung Um das Ausmaß der zeitgenössisch möglichen Vermischungen der Imperien, der Übersetzungs- und Translationsprozesse zu umreißen und zu vergegenwärtigen, bietet es sich an, die literarische (Re)Kreation eines Bereichs unseres Planeten zu betrachten, der bei seiner sogenannten Entdeckung oder Erfindung9 als neu und kulturleer verstanden wurde, nur, um von den unterschiedlichsten Imperien umso gewaltsamer geleert, neu befüllt und für die eigene ökonomische Entwicklung ausgebeutet zu werden. Es handelt sich um die Karibik als Trope und in den Tropen; um die Karibik als literarische oder sogar allgemein semantische Wendung, die sich innerhalb der solaren Wendekreise bewegt.10 Es handelt sich um die Topoi und Topologien mehrfach gewaltsamer Akte, bestehend aus der geistig-materiellen Vermischung der eindringenden Europäer mit dem sogenannten Indigenen – welches zu dem Zeitpunkt in der dritten Besiedelungsphase war11 und zumindest in der Karibik beinahe ausgerottet wurde –, erweitert durch

9 | Edmundo O’Gorman hat die kulturell und intertextuell vorgefertigte Perspektive des Kolumbus als Hindernis für eine Entdeckung des Unbekannten benannt und als Grundlage für eine Erfindung des Beschreibbaren problematisiert; vgl. Edmundo O’Gorman, La invención de América. Investigación acerca de la estructura histórica del nuevo mundo y del sentido de su devenir, México: Fondo de Cultura Económica, 1993 [1985]. Zusätzlich kann eine global perspektivierte Menschheitsgeschichte die Möglichkeit einer Entdeckung von bereits von Menschen besiedelten Gebieten ausschließen. Ohne Zentrismus können höchstens (Schifffahrts-)Routen zwischen diesen seit einigen tausend Jahren getrennten Gebieten ›entdeckt‹ werden; vgl. David M. Hopkins, Introduction, in: Ders. (Hg.), The Bering Land Bridge, Stanford: Standford University Press, 1967, S. 3. 10  |  Vgl. Bettina Kremberg, Logik der Tropen. Tiefensprachliche Redemodi im Denkweg Martin Heideggers, Freiburg/München: Verlag Karl Alber, 2016, S. 113–114, S. 116: »Bekannt ist vor allem aber der Tropen-Begiff als geographisch-klimatische Kategorie. Dort sind Tropen (gr. τρόπος έλιου (tropai heliou) Sonnenwendegebiete und gehören zu den Klimazonen der Erde. Dieser Tropenbegriff hat mit dem sprachlich-philosophischen nur das Wort >Wende< gemein. […] Der Tropus ist eine semantische Figur und bezeichnet die Ersetzung eines Ausdrucks durch einen anderen, der allerdings nicht synonym ist, also einem anderen Bedeutungsfeld zugehörig ist.« 11 | Vgl. hierzu den ersten Band der History of the Caribbean der UNESCO. Die ersten ›prä-keramischen Siedlungen‹ entstanden wohl spätestens vor 6000 Jahren an unterschiedlichen Punkten des Inselbogens; vgl. Agamemnon Gus Pantel, The first peoples of the Caribbean. Where and when, in: Jalil Sued Badillo (Hg.), Autochthonous societies, Paris: UNESCO, 2003, S. 119–121. ›Paläoindianer‹ nutzten die Inseln aber wahrscheinlich bereits zuvor als Jagdgründe und rotteten dabei möglicherweise einige Tierarten aus; vgl.

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die erzwungene afrikanische und überlistete asiatische Arbeitsmigration.12 Diese physischen und kulturellen Prozesse der Vermischung werden in dieser produktiven Überlappungs- und Übersetzungszone zumeist mit Kreolisierung benannt, wobei man das im Sinne des créolité-Manifests als Zustand, oder, im Sinne von Édouard Glissant, als créolisation, als relationalen Prozess lesen kann. Ich werde mich in der Folge und in Übereinstimmung mit den Überlegungen zur transla­ tio/n von Michael Rössner und Federico Italiano an die zweite, prozesshafte Lesart halten, die eine verändernde Rekontextualisierung von Ziel- und Ausgangstext als konstitutives Element der kulturellen Übersetzung hervorhebt und auch mit Ortiz’ Konzept einer transculturación vereinbar ist.13 Mit Blick auf das vermischte Standbild kann translatio (imperii) also sowohl visuell, theoretisch, als auch praktisch als Kreolisierungsprozess aufgefasst werden, aus dem kein Element unverändert hervorgeht. Doch was sind die Grundlagen für eine kulturelle und literarische Übersetzung des mediterranen Meeres, der antiken Imperien und Epen in die Karibik?

A usfahrt : D ie Tr ansl ation des N ostrum Die Übersetzung des Mittelmeers in die Tropen ist im Grunde eine Übertragung der Referenz eines Possessivpronomens. Schließlich kommt mare mediterraneum erst nach Ende des relevanten römischen Imperiums auf, oder, um es mit der dritten Auflage des Antibarbarus der Lateinischen Sprache von Johann Philipp Krebs aus dem Jahr 184314 zu sagen:

Francisco Watlington, The physical environment. Biogeographical teleconnections in Caribbean prehistory, in: Jalil Sued Badillo (Hg.), Autochthonous societies, Paris: UNESCO, 2003, S. 45. 12 | Vgl. Michael Zeuske, Handbuch Geschichte der Sklaverei. Eine Globalgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin/Boston: de Gruyter, 2013, S. 187. 13 | Vgl. Federico Italiano/Michael Rössner, Translatio/n: An Introduction, in: Dies. (Hg.), Translatio/n. Narration, media and the staging of differences, Bielefeld: transcript, 2012, S. 11–12; Fernando Ortiz, Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar, hg. von Enrico Mario Santí, Madrid: Cátedra, 2002, S. 254–260. 14 | Das Wörterbuch, das zur richtigen Verwendung »reine[r] Latinität« des »klassischen« und »goldenen« »Ciceronischen Zeit[alters]« anregen und »den Solöcismen und Barbarismen einen Damm setzen« soll (Johann Philipp Krebs, Antibarbarus der Lateinischen Sprache. In zwei Abteilungen nebst Vorbemerkungen über reine Latinität. Dritte umgearbeitete und vermehrte Auflage, Frankfurt am Main: Heinrich Ludwig Brönner, 1843, S. iv), ist in seiner Reinheitsideologie jeglichem Kreolisierungsprozess diametral entgegengesetzt und gerade deshalb eine interessante Quelle hierfür.

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Daniel Graziadei Mediterraneus bedeutet was mitten im Lande liegt und wohnt, von Erde und Land umgeben ist; es steht dem maritimus entgegen […]. Wir sprechen von einem mittelländischen Meer und nennen es mare mediterraneum; aber diese Bedeutung kommt nirgends, ausser bei Isidor im sechsten Jahrhundert vor, als die latein. Sprache schon fast todt war. Die Lateiner, als Anwohner dieses Meeres, nennen das Ganze mare nostrum, oder erwähnen nur die zwei Theile desselben: mare superum et inferum. Die Benennung nostrum können Bewohner anderer Länder (ausser Italien) nicht anwenden, und so gebrauche man entweder die neue Benennung mit der Umschreibung: mare, quod nunc oder hodie Mediterraneum dicitur, als eine neue geographische, oder sage, was auch wohl nicht unrichtig ist, mare medium oder internum.15

Die Kerbung dieses Binnenmeers bringt ein unser hervor.16 Neben einem (instabilen) organisatorischen und militärischen Raum benennt das Possessiv dabei laut Rodolfo Ragionieri vor allem einen mentalen Raum: The sea was nostrum for the Romans not only because Rome had full control of the areas around it, but also, I argue, because they had developed the space as a unitary space, by means of conquest and organisation.17

Ob dieses unser tatsächlich eine römische oder bereits eine griechische Erfindung war, bleibt unklar, aber Römer wie Griechen nannten das Mittelmeer sowohl ›inneres Meer‹ als auch ›unser Meer‹.18 Aus literarischer Sicht scheint dieses unser zum ersten Mal in der Odyssee schriftlich fassbar. Durch das Besingen der Umschiffung und Sichtung der Inseln wird das Binnenmeer in das Eigene einge15 | Krebs 1843, S. 486. 16 | Im Sinne der Überlegungen zu »Das Glatte und das Gekerbte« von Deleuze und Guat­ tari kann das Meer, als »Archetyp des [nicht-gerichteten,] glatten Raumes« verstanden werden. Gilles Deleuze/Félix Guattari, 1440 – Das Glatte und das Gekerbte. Übersetzung von Gabriele Ricke u. Ronald Vouillié mit Korrekturen des Herausgebers, in: Jörg Dünne/ Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 439: »[A]uf dem Meer hat man ein Modell für die Raumaufteilung, für das Aufzwingen der Einkerbung gefunden, die überall zum Vorbild genommen werden konnte«, aber, »am Ende seiner Einkerbung gibt das Meer eine Art von glatten Raum zurück [...].« 17 | Rodolfo Ragionieri, Mediterranean Geopolitics, in: Marta Petricioli (Hg.), L’ Europe méditerranéenne, Bruxelles: Peter Lang, S. 43. 18 | William Smith, A New Classical Dictionary of Greek and Roman Biography, Mythology and Geography. Revised, with numerous Corrections and Additions by Charles Anthon, New York: Harper & Brothers, 1871, S. 395: »INTERNUM MARE, the Mediterranean Sea […] was also called both by Greeks and Romans Our Sea […].« Vgl. auch Bernd Rill, Das Mittelmeer als europäisches ›Mare Nostrum‹. Der historische Befund, in: Heiner Timmermann (Hg.), Europa und seine Dimensionen im Wandel, Münster: LIT Verlag, S. 98–110.

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schrieben. Dabei muss der Kriegsheimkehrer Odysseus keineswegs jeden Qua­ dratkilometer Meer durchqueren, es gilt hier ein metonymisches pars pro toto. Die rhetorischen Wendungen dieser sprachlichen und literarischen Vereinnahmung des Meeres bilden ein leicht übersetzbares Grundmuster und sind zugleich der Bewegungsort wiederkehrender physischer und kultureller Vereinigung per maritimer Übersetzung. Paradebeispiel wären Gründungsmythen des römischen Imperiums, die an die epische Tradition Griechenlands anknüpfen. Man denke allein an die wirkmächtige Phönix-Metapher, die uns Vergil bietet: die Erklärung der römischen Stadtgründung aus der Asche Trojas19 durch ein Geschlecht, das der von der afrikanischen Küste per Schiff immigrierende Aeneas mit der latinischen Königstochter Lavinia beginnt. Hier zeigt sich translatio imperii bereits als Vermischung der Kulturen, die ein Über-setzen, eine erkämpfte Einbürgerung und ein strategisches bis fürsorgliches Zusammenleben zur Grundlage für das römische Reich machen.20 Mare nostrum könnte also mehrfach als griechisch­ römisches Meer gelesen werden und jenes Eisen, das Hieronymus als altrömische Beine der Statue sehen will, wäre demnach zumindest kulturell, aber wohl auch materiell, bereits ein mediterran vermischtes. In ihrer sprachlichen Ausformung kann diese mediterrane Vermischung auch in der Schriftsprache des Cristoforo Colombo – und damit in den Gründungstexten der europäischen Vision von den Ländern jenseits des Atlantiks – gefunden werden. Seine Berichte über die vermeintliche Ankunft auf den Vorinseln Indiens, womit Kolumbus frei nach Marco Polo Japan als Vorinseln Chinas meint, stellen eine Verbindung zwischen den beiden Nebenmeeren des Atlantiks her, bei der das Unbekannte durch Vergleiche und Ähnlichkeitsbeziehungen verdeutlicht wird. Die Kolonialisierung der Americas21 führt in den Wettstreit mehrerer Mächte mit imperialen Ambitionen, die zum großen Teil selbst literarische 19 | In den Übersetzungen Roms kann die Asche Trojas wiedergefunden werden: So z.B. bei den Briten, die sich seit dem zwölften Jahrhundert »als die Nachkommen eines legendären Brutus und dessen Urahn Aeneas in die Weltgeschichte eingeordnet und entsprechend ihre Hauptstadt […] als ›Troynovant‹, als ›Neues Troja‹ gesehen« haben; vgl. Manfred Pfister, ›Merry Greeks‹: Die Spiele der Elisabethaner mit den antiken Mythen, in: Martin Vöhler/ Bernd Seidensticker (Hg.), Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythen­ rezeption, Berlin: de Gruyter, 2005, S. 130–131. 20 | Vergil konnte sich »für seine Darstellung des Aeneas und der Translatio imperii von Troja nach Latium und Rom« an den Werken des »Altertumsforscher[s] und Polyhistor[s] Marcus Terentius Varro« bedienen; vgl. Wolfgang Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld. Kleine Schriften III, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, S. 194. 21 | Die Schreibweise mit c und im Plural soll der deutschsprachigen Verkürzung der Benennung eines Kontinents auf einen seiner Staaten deutlich entgegenwirken und stattdessen, im Sinne von las Américas, auf Nord-, Mittel- und Südamerika zugleich verweisen; vgl. Daniel Graziadei, McOndo, Crack und Avant-Pop. Neueste Entwicklungen der spanischsprachigen und englischsprachigen Literatur der Americas, Saarbrücken: VDM, 2008.

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und politische Anstrengungen unternommen haben, sich in die biblische Reichs­ abfolge einzuschreiben. Doch nicht nur die Konfrontation der unterschiedlichen Hoheitsansprüche kompliziert die Zuschreibung der Füße des Standbilds: Die Konfrontation mit dem Anderen erzeugt auch Missverständnisse und Fehlinterpretationen, die wiederum berichtigende kulturelle Übersetzungen und eventuell sogar eine vollkommen andere Interpretation des Tons mit sich bringen können. Wenn beispielsweise Garcilaso de la Vega el Inca von der Hauptstadt der Inkas als »la ciudad del Cozco, que fue otra Roma en aquel imperio«22 schreibt und damit, laut Michael Rössner, den Einflusskreis des Zentrums qua Doppelung in ein elliptisches Spannungsfeld verformt,23 dann könnten auch das Eindringen der spanischen Klingen aus geschmiedetem Eisen in das Inkareich im Töpferzeitalter und die damit einhergehende Transkulturation auf diese Füße bezogen werden.

O meros : D ie K reolisierung der I mperien nnd K ulturen Ein Werk der karibischen belles lettres, das die translatio/n des mare nostrum deutlich als Kreolisierung beider Meere inszeniert, ist Derek Walcotts postkoloniales Versepos Omeros, welches ihm im Jahr 1992 den Nobelpreis für Literatur einbrachte. Es war dies der zweite Nobelpreis für einen karibisch-stämmigen Autor nach Saint-John Perse (1960) und vor Sir Vidiadhar Surajprasad Naipaul (2001).24 Interessanterweise erhielt er den Preis für eben jenes poetische Großprojekt, welches die strategische kulturelle und geographische Übersetzung eines literarischen Gründungsraumes, der des Mittelmeers, in einen ähnlich kontaktfreudig vermischenden, den der Karibik, darstellt. Omeros, zuerst erschienen 1990 bei Strauss, Farrar and Giroux in New York, dichtet in sechs Büchern aus insgesamt 64 Kapiteln die verwobenen Leben von mindestens acht Protagonisten, die entweder durch ihre Namen, ihre Attribute, ihre Tätigkeiten oder Gedankengänge mit der griechischen und römischen Anti22 | El Inca Garcilaso de La Vega, Primera parte de los Comentarios Reales: Que tratan del orígen de los Incas, reyes que fueron del Perú, de su idolatría, leyes y gobierno, en paz y en guerra, de sus vidas y conquistas, y de todo lo que fué aquel imperio y su república antes que los españoles pasaran a el, Madrid: Los hijos de Doña Catalina Piñuela, 1829. 23 | Vgl. Michael Rössner, Orden mundial y entremundos: Historias universales paralelas en los Comentarios Reales, in: José Morals Saravia/Gerhard Penzkofer (Hg.), El Inca Garcilaso de la Vega. Entre varios mundos, Lima: Universidad Nacional Mayor de San Marcos, 2011, S. 323–339; Ders., Translating Translation. On Mimesis, Translatio/n and Metaphor. Some Reflexions on the Boundaries of Cultural Translation and the ›Translational Turn‹, in: Federico Italiano/Michael Rössner (Hg.), Translatio/n. Narration, media and the staging of differences, Bielefeld: transcript, 2012, S. 46. 24 | Vgl. Nobel Media, All Nobel Prizes in Literature, https://www.nobelprize.org/nobel_ prizes/literature/laureates (abgerufen am 26.09.2017).

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ke in Beziehung stehen. Augenscheinlich gilt dies für Hektor, Achilles, Helena und Philoktet, die auf den ersten Blick der Ilias entsprungen zu sein scheinen. Wäre da nicht ihre niedere Herkunft und die geopolitische Bedeutungslosigkeit ihrer Schlachten und Heldentaten, so könnte man meinen, Walcotts Omeros basiere schlicht und einfach auf einer expliziten Intertextualität, einer engen Anlehnung an den Ausgangstext. Es handelt sich bei den heroischen Namen einiger Protagonisten aber um die Übersetzung eines bereits mehrfach Übersetzten, das mit Sklaverei weit mehr zu tun hat als mit einem Epos über den Trojanischen Krieg. Walcotts Werk deutet allerdings bereits im Titel an, dass zusammen mit der Ilias auch die Odyssee Teil des Bezugsrahmens ist – schließlich werden beide Werke von den Altphilologen einem Autor oder einer Autorengemeinschaft namens Homer zugeschrieben, der in Neugriechisch Όμηρος, d.h. »Omiros«, heißen würde, anglisiert Omeros. Und in der Tat findet sich in Omeros ein armer Mann namens Seven Seas, der den halben Tag dem Rhythmus der Wellen lauscht und als globalisierte Seher- und Homerfigur lesbar ist. Aus der Odyssee übersetzt scheint die Praxis des niemals endenden Kilt-Nähens, welche Maud, die irische Frau des alternden britischen Majors Plunkett, zu einer Penelope werden lässt. Zugleich ist Ulysses in Omeros als Gründervater präsent; im Sinne eines bekannten Gründungsmythos wird der literarischen Figur eine griechische Kolonialisierung zugeschrieben, die über das Mittelmeer hinaus an die Atlantikküste führt: »of this mud-caked settlement founded by Ulysses – / swifts, launched from the nesting sills of Ulissibona, / their cries modulated to ›Lisbon‹ as the Mediterranean / aged into the white Atlantic […].«25 Der maritime Chronotopos eines Mittelmeers, das in einen weißen Atlantik altert, verweist auf weitere Translationen, die Portugal und die anderen transatlantisch operierenden Kolonialmächte der Frühen Neuzeit in westliche Richtung ausführten. Vorbereitet werden diese Andeutungen aber durch den Sprachwandel, der das Toponym aus dem unausgesprochen Griechischen ins Lateinische und schließlich ins Portugiesische in englischer Übersetzung führt und dabei die Abfolge von Imperien deutlich und beschleunigt ausstellt. Dass hierbei die griechische und römische Antike beinahe verschmilzt, tritt in einem ersten metafiktionalen und postmodernen Moment, in dem das lyrische Ich in wenigen Versen die Genese der Idee zu diesem Werk schildert, deutlich zutage: Der griechische Epiker Homer wird von Vergil flan­ kiert, der als Führer durch die Unterwelt und über den Läuterungsberg in Dantes Divina commedia eine herausragende literarische Rolle erhielt. Diese griechisch­ römisch-romanische Translation in Kreolisierung ist auch auf formaler und rhythmischer Ebene präsent, da Walcott an Dantes terza rima anknüpft, die ihrerseits wiederum als italienische Verarbeitung des griechischen Hexameters verstanden werden kann.26 25 | Derek Walcott, Omeros, London: Faber and Faber, 1990, S. 189. 26 | So schreibt z.B. ein Übersetzer Vergils: »il più adatto a rispondere alla varietà del ritmo, alla pieghevolezza, al vigore, alla nobile gravità dell’esametro virgiliano, mi à quindi

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Daniel Graziadei »O-meros,« she [Antigone] laughed. »That’s what we call him in Greek,« [...] I said: »Homer and Virg are New England farmers, and the winged horse guards their gas-station, you’re right.« [...] I said, »Omeros,« and O was the conch-shell’s invocation, mer was both mother and sea in our Antillean patois, os, a grey bone, and the white surf as it crashes and spreads its sibilant collar on a lace shore. Omeros was the crunch of dry leaves, and the washes that echoed from a cave-mouth when the tide has ebbed. 27

An dieser Textstelle lassen sich mehrere Strategien einer kulturellen Übersetzung erkennen: Zum einen wird auf die Präsenz der griechischen Mythologie in der Jetztzeit hingewiesen, am deutlichsten in der Tankstelle, die von Pegasos als Markenzeichen beschützt wird. Zum anderen erfahren die beiden Dichterfiguren eine Veränderung in Bezug auf ihre Tätigkeit, ihr kulturelles Kapital und ihre soziale Stellung. Hinzu kommt die sprachliche Vielfältigkeit, die zurückverweist auf die griechisch-römische Doppelung, aber zugleich typisch für die als Vorlage dienende Insel St. Lucia ist, auf der eine frankophone Kreolsprache mit einer an­ glophonen Verwaltungs- und Dachsprache zusammenlebt.28 Diese sprachliche und kulturelle Vermischung wird in der auditiven Verarbeitung des Namens und Titels durch das lyrische Ich maritim verortet und erzeugt dabei eine Archipelagik,29 die über die fiktionale Welt hinaus bis in den Paratext wirkt. Diese Poetik

sembrato l’endecasillabo in terza rima« (Tito Vicenzo di Montelatici, La Pastorizia dalla terza Georgica di Virgilio. Traduzione italiana in terza rima, Florenz: Tipografia Delle Murate, 1869, S. 4). 27 | Walcott 1990, S. 14. 28 | Paul B. Garrett, ›High‹ Kwéyòl. The Emergence of a Formal Creole Register in St. Lucia, in: John McWhorter (Hg.), Language Change and Language Contact in Pidgins and Creoles, Amsterdam: John Benjamins Publishing Company, 2000, S. 63: »In St. Lucia, a French-lexified creole known as Kwéyòl co-exists with the country’s official language, English.« 29 | Daniel Graziadei, Insel(n) im Archipel. Zur Verwendung einer Raumfigur in den zeitgenössischen anglo-, franko- und hispanophonen Literaturen der Karibik, Paderborn: Fink, 2017, S. 40: »[D]ie poetologisch signifikanten Hervorhebungen und Funktionalisierungen relationaler Verbindungs- und Austauschprozesse im Rahmen einer Insel- oder Archipelerschreibung [werden] mit Archipelagik benannt und nur klar nachweisbare archipelagische Kartizität als archipelagraphy [nach Deloughrey] bezeichnet. Wird die explizite Entstehung

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der archipelagischen Relation ist nun keineswegs rein karibisch, sondern im Sinne des Oszillierens zwischen den beiden Nebenmeeren des Atlantiks, das bei Walcott in seinem Spätwerk noch stärker zum Einsatz kommt,30 eben transatlantisch und potentiell global zu verstehen. Eine Träumerei des britischen Major Plunkett, der als obsessiver Hobbyhistoriker und Zufallsarchäologe aus libidinösen Gründen die koloniale Nostalgie nach dem Zerfall des Imperiums personifiziert, zeigt diese archipelagische Oszillation als aufhellende Halluzination am Übergang zwischen Land und Meer. Es ist der Name der begehrten ehemaligen Haushaltsgehilfin, Helen, der er eine eigene Geschichte oder Historiographie aufdrängen will, und er benutzt hierzu die intertextuelle und historisierende Qualität ihres Namens, ihren Körper und die Körper der sonnenbadenden Touristen. […] Helen needed a history, that was the pity that Plunkett felt towards her. Not his, but her story. Not theirs, but Helen’s war. The name, with its historic hallucination, brightened the beach; the butterfly, to Plunkett’s joy, twinkling from myrmidon to myrmidon, from one spawled tourist to another. Her village was Troy, its smoke obscuring soldiers fallen in battle. Then her unclouding face, her breasts were its Pitons, […] His mind drifted with the smoke of his reverie out to the channel. Lawrence arrived. He said: »I changing shift, Major. Major?« Maud tapped his knee. »Dennis. The bill.« But the bill had never been paid. Not to that housemaid swinging a plastic sandal by the noon sea, in a dress that she had to steal. Wars. Wars thin like sea-smoke, but their dead were real. 31

Wird der libidinöse stream of consciousness des Major Plunkett vom Schichtwechsel des Kellners Lawrence unterbrochen, so wird die vorgelegte Rechnung ganz ganzer Inselgruppen über die Entstehung der einzelnen Insel gestellt, soll konsequenterweise von Archipelagopoiesis die Rede sein.« 30 | Ebd., S. 315–338. 31 | Walcott 1990, S. 30–31.

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im Sinne der kolonialhistorischen Breite von Plunketts Überlegungen auf die unbezahlten Reparationen für die Genozide, die Sklaverei und Ausbeutungen beziehbar. Da seine Gedanken aber zur begehrten Haushaltshilfe zurückführen, wird die unbezahlte Rechnung sofort wieder trivial, verweist dabei aber auf die Fortführung der Unrechts- und Abhängigkeitsverhältnisse nach Beendigung der Sklaverei und Emanzipation der postkolonialen Staaten. In der zitierten Reverie ist die Forderung der postcolonial studies, eine lokal fundierte Gegengeschichtsschreibung aus der Sicht der Unterdrückten zu betreiben, interessanterweise gerade im letzten Vertreter des britischen Imperiums zu finden; als auf Begehren basierte Fremdzuschreibung wiederholt sie aber den kolonialen Gestus. Als Scharnier dieser Bedeutung qua Übersetzung ist Helen dabei die von Major Plunkett gesichtete Schönheit, die umkämpfte Frau in der Ilias, der Aeneis und in Omeros sowie der historiographische Spitzname der umkämpften Insel St. Lucia. Wie zuvor angedeutet, sind neben den zeitlichen, räumlichen, kulturellen und ästhetischen Übersetzungen der Ilias in Omeros vor allem die einhergehenden Übersetzungen der sozialen Situierung, der phänotypischen Einordnung und der Dimension des Konflikts für eine Untersuchung der translatio imperii als Kreolisierung der Tropen von Interesse. Schließlich zeigt sich in den Namen einiger Helden – Philoctetes, Hector, Achilles und Helen – eine paradoxe Doppelung durch die Übersetzung eines bereits Übersetzten, das sich in der Karibik besonders komplex und kreolisierend gestaltet: Die Namen verweisen auf die koloniale Praxis des Brandmarkens und Umbenennens von versklavten Menschen, die nach Verschleppung und erzwungener Migration nun ihre Identität, ihre Sprachen und ihre Namen vergessen und an einen anderen kulturellen Kontext gebunden werden sollten. Bei diesen erzwungenen Taufen wurde häufig auf antike Namen zurückgegriffen und diese Namen blieben auch nach Ende der Sklaverei zur Vergabe verfügbar.32 Emily Greenwood versteht eben jenes »warped naming of slaves with classical names on the Caribbean’s slave plantations«33 als einen eminenten Bestandteil des afro-griechischen Dialogs zwischen zeitgenössischer anglo-karibischer Literatur und den (antiken) Klassikern. Auf diese Weise machen die Namen der Protagonisten in konstanter Übersetzung auf Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen dem Mittelmeer der Antike und der Kanonisierung der Epen dieser Antike auf der einen Seite und der Karibik des späten zwan-

32 | Während die französische Konstituante 1792 die Gleichheit aller Bürger aushandelte, fanden sich unter den 159 als dunkelhäutig registrierten Bewohnern von Paris »many of the classical Greek names that were popular for naming slaves in the colonies, such as Cupidon [sic!] Narcisse, Pyrame, Polidor, Olympien, Scipion [sic!], and Télémaque«; vgl. Sue Peabody, ›There Are No Slaves in France‹. The Political Culture of Race and Slavery in the Ancien Régime, Oxford: Oxford University Press, 1996, S. 164. 33 | Emily Greenwood, Afro-Greeks. Dialogues Between Anglophone Caribbean Literature and Classics in the Twentieth Century, Oxford: Oxford University Press, 2009, S. 232.

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zigsten Jahrhunderts sowie ihrer Literarisierung auf der anderen Seite aufmerksam. Eine Textstelle ist bezüglich des Bedeutungsüberschusses dieser Namen in Kreolisierung und Übersetzung besonders interessant. In ihr werden die Greeks und die Romans durch einen reinen Reim bzw. vokalischen Halbreim evoziert, also durch die homophonen bzw. assonanten Namen der Creeks und ihre ehemaligen Feinde, der Choctaws. Ihre Nennung weist auf die Auslöschung der präkolonialen Kulturen in der erweiterten Karibik hin; schließlich waren sie vor den erzwungenen Umsiedlungen ins heutige Oklahoma (1831–1859) im Südosten der USA beheimatet.34 «Creeks,» «Choctaws,» and I thought of the Greek revival carried past the names of towns with columned porches, and how Greek it was, the necessary evil of slavery, in the catalogue of Georgia’s marble past, the Jeffersonian ideal in plantations with its Hectors and Achilleses, its foam in the dogwood’s spray, past towns named Helen, Athens, Sparta, Troy […]. 35

Die Wiedergeburt des antiken Griechenlands auf den Plantagen von Georgia ist nicht nur architektonisch bedingt, vielmehr wird auch ein scheinbar notwendiges Übel in leicht ironischem Tonfall als typisch Griechisch benannt. Werden hierbei die Namen der beiden Protagonisten Hector und Achilles von Versklavten getragen und der Name einer Protagonistin zum kolonialen Toponym eines Örtchens auf dem Festland der erweiterten Karibik, so verkomplizieren diese wiederholenden Elemente die scheinbar direkte Übersetzung der Protagonisten aus der Ilias und der Aeneis. Zusammen mit den US-amerikanischen Kleinstädten Athens und Sparta in Georgia sowie Troy in Alabama oder South Carolina weisen die Helens, Hectors und Achilleses der Sklavenhalterzeit auf fortgesetzte Kreolisierungseffekte alter Translationen hin: Die mehrfache Verweisstruktur dieser Kulturbezeichnungen, Toponyme und Personennamen sowie ihr Status als immer bereits übersetzte koloniale Re-Kreation auf der Basis von Verschleppung, Versklavung und Extermination wirken im Heute weiter. Die Übersetzung der mediterranen Antike in die Karibik lässt also die Sklaverei als Gemeinsamkeit hervortreten, und diese wird an späterer Stelle auch als 34 | Vgl. Lisa Roberts Seppi, Trail of Tears, in: Carlos E. Cortés (Hg.), Multicultural America. A Multimedia Encyclopedia, Los Angeles: Sage 2013, S. 2084. 35 | Walcott 1990, S. 177.

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fundamentaler Aspekt der erzwungenen griechisch-römischen translatio imperii et studii hervorgehoben, wenngleich der Erfolg dieser Translation auf privater Ebene als wenig erfolgversprechend karikiert wird: »The Romans [/] acquired Greek slaves as aesthetics instructors [/] of their spoilt children, many from obscure islands [//] of their freshly acquired archipelago.«36 Aber die versklavten griechischen Tutoren – »curly-haired« – können die verzogenen Kinder der römischen Eroberer nicht erziehen; die Ideale der griechischen Demokratie können nicht übersetzt werden, sie erkalten in der Hitze des Hasses der vorurteilsbehafteten reichen Römer: […] all those ideals went cold in the heat of its hate. And not only in tense Southern towns and plantations, where it often killed the slaves it gave Roman names for dumb insolence, small squares with Athenian principles and pillars. 37

Die Übersetzung der attischen Demokratie und die Bevorzugung eines klassizistischen Baustils kann also in Rom wie in den US-amerikanischen Südstaaten Sklaverei, Hass und Rassismus erfolgreicher übertragen als Ideale; die Sklaven tragen im zweiten Fall nun aber römische Namen, denn die translatio imperii und der Kreolisierungsprozess sind inzwischen um Einiges weiter fortgeschritten.

R ückkehr : D ie F olgen der Ü berse t zung des N ostrum Die Übersetzung des mare nostrum in die erweiterte Karibik wird in Omeros also auf implizite und explizite Weise ausgestellt und vorangetrieben. Mit der Trans­ lation des unterworfenen, ja familialen Meeres geht die Übertragung mehrerer kolonialer Expansionsbewegungen mit imperialen Hoheitsansprüchen einher, die als Fortschreibung der griechisch-römischen Seeherrschaft bereits expansiv gegeben wäre, bei Walcott aber einen relationalen Archipel-Charakter bekommt, der die grundlegende Funktion einer humanistischen und anti-imperialen Geschichtskritik sowie eines postkolonialen Um- aber auch Zurückschreibens beinhaltet. Dabei akzentuiert er alte Übersetzungen und Translationen verschiedener sich überlagernder Schichten, die sich noch heute ständig gegenseitig beeinflussen und keineswegs klar auseinanderdividierbar sind. Indem er diese in terza rima und mit deutlichen intertextuellen sowie metafiktionalen Verweisen zur Literarisierung St. Lucias, seiner Heimatinsel, verwendet, zeigt er Kreolisierung als Prozess, der alte Imperien auf kleinen Inseln der Gegenwart durchscheinen lässt, 36 | Ebd., S. 206. 37 | Ebd.

»Das Eisen mit Ton vermischt«

ohne dass diese vor ihnen auf die Knie fallen würden. Im Gegenteil, die Veränderung des Ausgangskontextes im Rahmen einer Translation kann in Omeros als Form des Zurückschreibens an den europäischen Kanon gewertet werden. Eine Konsequenz der scheinbaren Verkleinerung der Kriege, Orte und sozialen Rollen sind Fragen an die Dimensionen der Ausgangssituation. Eine weitere betrifft die schwarze Hautfarbe der literarischen Figuren (mit Ausnahme des britisch-irischen Pärchens). Es handelt sich dabei keineswegs um ein tatsächliches Schwarz als lichtabsorbierende Nicht-Farbe, sondern um eine kulturell bedingte Färbung, die bereits mit der leichtesten Abweichung vom als Weiß begriffenen ›Schweinchen-Rosa‹ beginnen kann, aber vor allem auf soziale, mentale und politische Kategorien angewandt wird und in der Karibik auf Verschleppung und Versklavung verweist. Als Einwirkungen auf den Ausgangskontext im Rahmen einer Translation stellt dieses Schwärzen oder Färben von antiken Hochkulturen, die über Jahrhunderte gewissenhaft gebleicht und von der Brandmarke der Sklaverei bereinigt wurden, die eigentliche Provokation dieser translatio eines Binnenmeeres und seiner Epen dar.

P ostskrip tum : N ichts als Ton Apokalyptisch gedacht ist es schlicht und ergreifend egal, wie stark das Standbild vermischt imaginiert wird und wie viel Kreolisierung in jeder Translation steckt: Das edelste, sonnennahe Metall wird vom Stein Gottes genauso mühelos zermalmt wie das Wunder der Vermischung aus eigentlich unvermischbarem Eisen und Ton. Diese apokalyptische Vision der Zerstörung menschlicher Kulturen und Zivilisationen, die, wir erinnern uns, dem neubabylonischen König Nebukadnezar II. den Schlaf raubte, scheint von allen, die ihre Macht in diese Reihe einschreiben wollen oder dagegen anschreiben, als Abfolge verstanden worden zu sein, wobei ihre generell absteigende und auf das Ende ausgerichtete Tendenz zugunsten kurzfristiger Vorreiterpositionen ausgeblendet wird. Doch es gibt zumindest eine, wenngleich hochironische Ausnahme: Michael Rössner hat mich 2011 am Istituto Storico Austriaco in Rom dankenswerterweise auf das »Manifiesto Postumista« des Andrés Avelino hingewiesen, das in alphabetischer Reihenfolge die Punkte A bis S proklamiert. Im Manifest, das 1921 in der Dominikanischen Republik unter US-amerikanischer Okkupation im Gedichtband Fantaseosos erschien, wird die Jugend zur Überwindung Europas durch América aufgerufen und unter Punkt B die bereits stattgefundene Modellierung und Errichtung einer Statue erklärt. Diese bestünde nur aus Ton, und selbst eine Beschädigung durch Platz­ regen stelle kein Problem dar, denn Ton, so das Manifest, sei genug vorhanden. B — Los marmoles de Paros y de Corinto no se han hecho para nuestras estatuas. [...] Homero y Virgilio, Goethe y Shakespeare no serán más que divinidades que respetaremos, soles

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Daniel Graziadei apagados que no nos iluminarán. Hemos levantado la estatua con el barro grotesco de nuestra América. Si acaso caen chaparrones que nos la deformen, nos queda mucho barro, mucho barro que es nuestro ideal universalizado. Continuaremos modelando la estatua aunque ésta no tenga más espejos donde mirarse que el del cristal de las charcas. 38

Die in Omeros zentralen Autoren der Antike sind hier intellektuell und intertextuell unbedeutend, der europäische Marmor nicht für die Statuen der Americas gemacht, Spiegel nicht unbedingt notwendig, weil Pfützen auch spiegeln, und das verallgemeinerte Ideal des Postumismo eben jenes allerschwächste Element der Füße und Zehen des biblischen Standbildes ist, das allerdings, im Gegensatz zu den Edelmetallen, in Hülle und Fülle vorhanden ist. Zugleich weicht die erdverheerende Gewalt des zerstörerischen Steins, ganz im Sinne des neuen, einzigen und ›subpantheistischen‹ Gottes aus Punkt E – »que a cada quien permita buscar su religión en si mismo«39 –, einem Platzregen. Doch egal ob Stein, steter Tropfen, oder Platzregen: der Schlamm erlaubt es, die Formung der Statue immer weiterzuführen und potentiell zu keinem Ende zu kommen. Der unendliche Statuenbau aus dem »barro grotesco de nuestra América« scheint im Rahmen einer Begünstigung der interiorisierten Paradiessuche40 einen künstlerischen Demokratisierungs- und Entmachtungsprozess zu erfordern (Punkt A und G), der (in Punkt F) allen das gleiche Recht zuspricht, ihren »momento artís­tico« auszuleben. 41 Diese positive Umwertung der hier ungebrannten Lehmerde im Rahmen eines ›dreckigen‹ Realismus42 der post-zivilisatorischen Pfützen kann als herausfordernde Geste verstanden werden, die translatio imperii et studii nur noch qua Untertreibung oder ex negativo zu betreiben gedenkt, dies aber deutlich und hochironisch kundtut.

38 | Andrés Avelino, Manifiesto Postumista [1921], in: Nelson Osorio Torres (Hg.), Mani­ fiestos, proclamas y polémicas de la vanguardia literaria hispanoamericana, Caracas: Biblio­ teca Ayacucho, 1988, S. 109. 39 | Ebd. 40 | Vgl. Michael Rössner, Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Zum mythischen Bewußtsein in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Athenäum, 1988. 41 | Avelino 1988, S. 109. 42 | Vgl. Isabel Exner, Schmutz. Ästhetik und Epistemologie eines Motivs in Literaturen und Kulturtheorien der Karibik, Paderborn: Wilhelm Fink, 2017, S. 15–25.

Translationen des Popularen Zur Darstellung popularer Musik in afrokaribischer und afrobrasilianischer »ernster« Lyrik Christopher F. Laferl

F r agestellung und K onte x t Das dritte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts brachte nicht nur für Europa, sondern auch für Lateinamerika radikale Umbrüche der literarischen Welt. Auf beiden Seiten des Atlantiks setzten sich die Vertreter der Avantgarde – meist in dezidierter und programmatischer Weise – für eine neue Auffassung von Literatur, von neuen Schreibweisen und -techniken und neuen Inhalten ein. Die Rückkehr zum vermeintlich Ursprünglichen, ein neuer Zugang zum Ich und zum eigenen Körper, schließlich eine neue Einstellung zur Nation oder zu nationaler bzw. regionaler Identität bewegten europäische wie auch lateinamerikanische künst­ lerische und intellektuelle Strömungen verschiedenster Prägung. Die klischeehafte Beschäftigung mit den Kulturen Afrikas und der afrikanischen Diaspora ist im Kontext des Suchens der Avantgarde nach dem Ursprünglichen und dem von europäischer Zivilisation ›Unkontaminierten‹ zu sehen. Lateinamerika blieb von diesem Interesse für Afrika und der exotistischen Suche nach dem vermeintlich Ursprünglichen nicht unbeeinflusst. Das demografische Umfeld in Lateinamerika, zumindest das der Karibik und Brasiliens, sah aber ganz anders aus als jenes Europas. Die Präsenz von mit Afrika assoziierten Kulturen war hier nicht die seltene Ausnahme und auch nicht nur als Projektion präsent, sondern stellte seit der frühen Kolonialzeit eine Realität dar. Der brasilianische Literaturhistoriker und -kritiker Antonio Candido hat in diesem Zusammenhang schon in den 1960er-Jahren festgestellt, dass die gewagte Kunst Picassos, Max Jacobs oder Tristan Tzaras eigentlich mehr mit dem kulturellen Erbe Brasiliens zu tun habe als ihrem

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eigenen.1 Diese demografisch-kulturellen Voraussetzungen, wohl aber auch die nach wie vor gegebene kulturelle Verbundenheit mit Europa, führten zu einer verstärkten Sensibilität bezüglich des Themas mit Afrika assoziierter Kultur in Lateinamerika – mit gleicher Intensität sowohl bei ›schwarzen‹ als auch bei ›weißen‹ Autoren, wenngleich nicht mit denselben Wertungen. Zur selben Zeit, als afro-amerikanische Kulturen und die soziale Situation der afro-amerikanischen Bevölkerung zum Thema karibischer wie brasilianischer Avantgarde-Literatur wurden, erfolgte auch auf einem ganz anderen Gebiet ein Umbruch, der ebenfalls mit dem Eintritt schwarzer Kultur in eine bis dahin weiße Domäne zu tun hatte: nämlich in der popularen Musik. Mit popularer Kultur soll hier jene Kultur bezeichnet werden, die in der Folge der Urbanisierung und Industrialisierung entstanden ist und für die vielfach eine Opposition zu einer vorindustriellen Volkskultur oder Folklore und zu einer Hoch- oder Elitenkultur angenommen wird.2 Bei dieser neuen popularen Musik, die in Lateinamerika in der Folge der Industrialisierung in den 1920er- und 1930er-Jahren entstanden ist, handelt es sich zu einem guten Teil um eine Strömung, die bis dahin bei der weißen Mittel- und Oberschicht als ›schwarze‹ Musik galt und nicht zuletzt deshalb verpönt war: Blues und Jazz in Nordamerika, der Son in Kuba, der im Ausland meist als Rumba vermarktet wurde, die Biguine auf den französischen Antillen, der Calypso auf Trinidad und schließlich der Samba in Brasilien, um nur die wichtigsten zu nennen. Ob diese neuen Rhythmen zuerst mit Erfolg in Nordamerika und Europa gespielt und erst anschließend von der weißen Mittel- und Oberschicht des jeweiligen Ursprungslandes akzeptiert wurden, oder ob es eher umgekehrt war, lässt sich heute kaum mehr mit Sicherheit feststellen – zu sehr überlappen hier einander zeitgleiche Phänomene; gewiss ist aber, dass der Erfolg im Ausland zur Popularität im eigenen Land nicht unerheblich beitrug. Die genannten Genres sind natürlich in keiner Weise ausschließlich afrikanischen Ursprungs und auch immer stark von europäischen Entwicklungen beeinflusst worden; nichtsdestoweniger wurden sie aber bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts von der weißen Ober- und Mittelschicht abgelehnt, weil sie hauptsächlich von afrodeszendenten Musikern gespielt wurden. Zeitgleich mit den neuen Massenmedien Radio und Schallplatte – und beeinflusst durch diese – wurden die ursprünglich ›schwarzen‹ Rhythmen zu popularer und zu nationaler Musik, wie Robin Moore für Kuba anschaulich

1  | Antonio Candido, Literatura e cultura de 1900 a 1945 (1965), in: Ders.: Literatura e sociedade, São Paulo: Companhia Editora Nacional, 1973, S. 121; zit. nach Jorge Schwartz, Las vanguardias latinoamericanas. Textos programáticos y críticos, México: Fondo de Cultura Económica, 2002, S. 661–662. 2 | Vgl. dazu Charles Hamm, Modernist Narratives and Popular Music, in: Ders., Putting Popular Music in Its Place, Cambridge/New York/Oakleigh: Cambridge University Press, 1995, S. 1–40.

Translationen des Popularen

und überzeugend in seinem Buch Nationalizing Blackness3 zeigen konnte. Ein ganz ähnlicher Prozess lässt sich auch für Brasilien nachweisen. 4 Die Nationalisierung der ursprünglich als ›schwarz‹ angesehenen Musik führte auch – und das war von der weißen Oberschicht sicherlich nur teilweise beabsichtigt – zu einer Identifikation der Kulturen der Karibik und Brasiliens mit der Kultur der schwarzen Bevölkerung dieser Länder und Inseln. Vor allem in Europa und in den USA wurden Brasilien, Kuba und der Großteil der britischen wie der französischen Antillen ab nun mit der Musik und den Tänzen der afro-brasilianischen und afro-karibischen Bevölkerung identifiziert. Interessanterweise treffen sich genau in dieser Hinsicht die Repräsentanten der neuen Popularkultur mit den Dichtern der Avantgarde. Beide schrieben gemeinsam in den 1920er-, 1930er- und 1940er-Jahren jenes Bild fest, das für Jahrzehnte, wenn nicht bis heute, gängige Vorstellungen von diesen Ländern prägen sollte, nämlich das des Bongo trommelnden Afro-Kubaners und der Samba tanzenden Afro-Brasilianerin. Wenn nun die ehemals als ›schwarz‹ konnotierte Musik so bedeutend wurde, und zwar für die populare Musik, die bildenden Künste, die Avantgarde-Musik und -Literatur gleichermaßen, dann drängt sich eine Frage geradezu auf, nämlich jene, wie diese Musik in den Texten der Avantgarde-Dichter dargestellt und Populares in Elitäres kulturell übersetzt wird.5 Vier Autoren sollen nun näher betrachtet werden, genauer vier Kanonautoren, die mit Ausnahme von Jorge de Lima hauptsächlich für ihre ›schwarze‹ bzw. negristische Dichtung bekannt sind: zwei spanischsprachige, Luis Palés Matos (1898–1959) aus Puerto Rico und Nicolás Guillén (1902–1989) aus Kuba, der Französisch schreibende Aimé Césaire (1913–2008) aus Martinique und der aus dem Nordosten Brasiliens stammende Jorge de Lima (1893–1953), dessen negristische Lyrik nur einen kleinen Teil seines Gesamtwerkes ausmacht. Wie wird in den bekanntesten Werken dieser vier Dichter, in Werken, die in den 1930er- und 1940er-­ Jahren entstanden sind, nämlich in Guilléns Motivos de son (1930), Sóngoro Cosongo (1931), West Indies Ltd. (1934) und El son entero (1947), Palés Matos’ Tuntún de pasa y grifería (1937), in Césaires Cahier d’un retour au pays natal (1939) und schließlich in Jorge de Limas Poemas negros (1947) schwarze Musik präsentiert? – Diese Frage soll der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sein. 3 | Robin Moore, Nationalizing Blackness: Afrocubanismo and Artistic Revolution in Havana 1920–1940, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 1997. 4 | Vgl. Christopher F. Laferl, »Record it, and let it be known«. Song Lyrics, Gender, and Ethnicity in Brazil, Cuba, Martinique, and Trinidad and Tobago from 1920 to 1960, Wien/ Berlin: LIT Verlag, 2005, S. 34–46. 5 | Zur Problematik des Übersetzungsbegriffs vgl. u.a. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2 2007, S. 238–283 und Federico Italiano/Michael Rössner: Translatio/n: An Introduction, in: Dies. (Hg.), Translatio/n. Narration, Media and the Staging of Differences, Bielefeld: transcript, 2012, S. 9–16.

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L uis Palés M atos Bei Luis Palés Matos stehen – wie auch bei den anderen Autoren mit der Ausnahme Césaires – Religion, Essen, Musik und Tanz der afrokaribischen Bevölkerung im Vordergrund. Wie bei Guillén und Jorge de Lima sind die Darstellung von Musik und Tanz schwer von dem Themenkomplex Religion zu trennen. Aber nicht nur durch die Verbindung mit Religion kommt Musik ein bedeutender Stellenwert in seiner Gedichtsammlung zu, allein schon der Titel Tuntún de pasa y grifería (auf Deutsch im gleichen Register übersetzt: ›Neger- und Mulatten-Tam­ tam‹ oder wörtlich wiedergegeben ›Rosinen- und Greif-Tamtam‹)6 weist auf den Rhythmus der Trommeln hin. Gleich im ersten Gedicht wird schon in der Überschrift auf Musik angespielt: Preludio en Boricua (›Vorspiel auf Puerto-Ricanisch‹);7 diesem Vorspiel folgen später Intermedios del hombre blanco (›Zwischenspiele des weißen Mannes‹)8 und schließlich Aires bucaneros (›Seeräuberweisen‹).9 Diesen auf europäische Musik verweisenden Titeln stehen eine Danza negra, zwei cancio­ nes, die Canción festiva para ser llorada (›Festliches Lied des Weinens‹)10 und die Falsa canción de Baquiné (›Falsches Baquiné-Lied‹), 11 gegenüber. Der Zyklus endet schließlich mit der erst in der zweiten Ausgabe hinzugefügten Plena de menéalo (›Plena des Hüftschwungs‹)12 und nimmt so auf den Beginn der Sammlung und auf Puerto Rico Bezug, denn die plena ist neben der bomba die wichtigste puerto­ ricanische Liedgattung.13 Die Aufzählung dieser Titel macht schon deutlich, dass Palés Matos seine Anleihen aus dem Bereich der klassischen, der religiösen und der Volksmusik oder Folklore nimmt. Dieser Befund erhärtet sich – nicht was klassische Musik betrifft, sehr wohl aber was religiöse und Volksmusik anlangt – in den Gedichten 6 | Sowohl grifería (von grifo, auf Deutsch Greif, als Vogel mit Kraushaar bzw. gekrausten Federn) als auch pasa (für getrocknete Weinbeere bzw. Rosine) werden in Puerto Rico für das eng gekräuselte Haar der afrodeszendenten Bevölkerung bzw. für diese selbst verwendet; vgl. Diccionario de uso del español de América y España, Barcelona: Vox, 2002, S. 942 (s. v. grifo), S. 1419 (s. v. pasa); Augusto Malaret, Vocabulario de Puerto Rico. Introducción y edición crítica de Humberto López Morales, Madrid: Arco Libros 1999, S. 205 (s. v. grifo); Real Academia Española, Diccionario de la lengua española (http://dle.rae.es), s. v. paso, sa: »4. Cada uno de los mechones de cabellos cortos, crespos y ensortijados de las personas de raza negra.« Luis Palés Matos, Tuntún de pasa y grifería y otros poemas, hg. von Trinidad Barrera, Madrid: Anaya & Mario Muchnik, 1995, S. 193, Anmerkung 48. 7 | Ebd., S. 115–116. 8 | Ebd., S. 144. 9 | Ebd., S. 149–154. 10 | Ebd., S. 130–134. 11 | Ebd., S. 137–139. 12 | Ebd., S. 156–159. 13 | Vgl. Helio Orovio, Música por el Caribe, Santiago de Cuba: Oriente, 1994, S. 13–23.

Translationen des Popularen

selbst. Musik wird neben Religion benutzt, um ein Bild afro-karibischer Kultur zu entwerfen, für die Authentizität, Erd- und Körpernähe kennzeichnend sein sollen. Auch wenn Palés Matos’ Verse stets von einer leisen Ironie getragen sind, so kann kein Zweifel daran bestehen, dass er es bei der Gleichsetzung von schwarzer Kultur mit Folklore oder Volkskunst ernst meint.

J orge de L ima Ähnliche Tendenzen zeigen sich in den Poemas negros von Jorge de Lima. Auch er spart nicht mit Darstellungen von Liedern und Tänzen, die wie bei Palés Matos die Kultur der Schwarzen als körpernah und erotisch ausweisen. Jorge de Lima geht aber über Palés Matos hinaus. Während dieser Anspielungen an andere als volkstümliche Musik gerade in den Titeln duldet, so gibt Jorge de Lima neben der afro-brasilianischen Folklore auch anderer Musik Raum, so einer portugiesischen ciranda14 im Rahmen eines Platzkonzertes in dem Gedicht Retreta do Vinte (›Straßenkonzert des 20. Bataillons‹)15 und noch mehr dem Jazz. In Pra onde que você me leva (›Wohin du mich führst‹),16 einem der Prosatexte, die in die Poemas negros eingeschoben sind, findet sich eine ausführliche Darstellung eines Jazzsaxophonisten namens Julião, der mit seiner Musik mandinga, also afrikanischen Zauber, vollführt, schöne mucamas (Haussklavinnen) hervorzaubert und Janaína (besser bekannt als Iemanjá, die Mutter des Wassers, eine der wichtigsten Göttinnen des Candomblé-Pantheons) in seiner Musik zu wiegen weiß. Brasilianische Popularmusik wird hier nicht gespielt. Es ist der Jazz, nordamerikanische populare Musik, dem hier geheimnisvolle ›afrikanische‹ Qualitäten zugeschrieben werden. Auch im letzten Gedicht der Sammlung wird wieder von ›schwarzer‹ Musik gesprochen. In Olá! Negro 17 werden die an den Sklaven verübten Gräuel der Weißen, die Ausbeutung auf den Baumwollfeldern der Vereinigten Staaten und den Zuckerrohrplantagen Brasiliens, beschrieben. Trotz all dieser Grausamkeiten, für welche die dunkle Haut als ein passives Zeichen steht, ein Zeichen, das die Nachfahren der Sklaven auslöschen werden wollen, machen sie Musik, Musik für die Weißen: Blues, Jazz, Songs und lundus. Wieder stehen hier nordamerikanische Musikströmungen im Vordergrund: Der lundu, ein aus Afrika stammender Tanz, der bereits im 18. Jahrhundert von Brasilien nach Portugal gebracht worden war

14 | Marcos A. Marcondes (Hg.), Enciclopédia da música brasileira popular, erudita e folclórica, São Paulo: Art Editora/PubliFolha, 21998, S. 202 (s. v. ciranda). 15 | Jorge de Lima, Poesia completa, hg. von Alexei Bueno, Rio de Janeiro: Editora Nova Aguilar, 1997, S. 299–300. 16 | Ebd., S. 314–315. 17 | Ebd., S. 315–317.

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und dort zahlreiche Wandlungen erfuhr,18 wird fast nur nebenbei erwähnt. Die brasilianische Musikgattung, die in den Jahrzehnten, in denen Jorge de Lima seine Werke zu Papier brachte, am bedeutendsten war, der Samba19, kommt in den Poemas negros nicht vor. Wie erklärt sich Jorge de Limas Präferenz für den Jazz? Eine mögliche pro-amerikanische Haltung kann dafür sicher nicht verantwortlich gemacht werden, denn Jorge de Lima teilt mit den anderen hier genannten Autoren einen gewissen Antiamerikanismus, zumindest in seinen Poemas negros. Bei Palés Matos stehen die Vereinigten Staaten für ökonomische und materielle Ausbeutung, bei Aimé Césaire für Europa noch übertreffende Unmenschlichkeit, wie im Discours sur le colonialisme deutlich zu lesen ist,20 und auch Nicolás Guillén ist nicht gerade als Amerika-Freund zu betrachten. Bei Jorge de Lima ist der antiamerikanische Gestus gemildert, aber in dem Gedicht Bangüê (›Zuckermühle‹)21 kommt er doch klar und deutlich zum Ausdruck. In diesem stehen in den Zuckerfabriken die neuen Maschinen, die aus den Vereinigten Staaten importiert wurden, für industrielle Ausbeutung im Gegensatz zur Zuckerverarbeitung in den – auf ambivalente Weise – idyllisch porträtierten bangüês oder engenhos, wie die älteren Zuckermühlen genannt wurden, was angesichts des historischen Leids der Sklaven, zumindest auf den ersten Blick, befremden muss.22 Wenn nun eine allgemeine pro-amerikanische Einstellung bei Jorge de Lima nicht ausgemacht werden kann, warum also die positive Hervorhebung des Jazz? Erstens, weil in Olá! Negro der Jazz nicht für ganz Amerika steht, sondern nur für die afro-amerikanische Bevölkerung, und zweitens, weil in den Texten des Jazz und des Blues Leid und Ausbeutung der schwarzen Bevölkerung angesprochen werden, was für den kommerzialisierten Samba zum Beispiel weniger gesagt werden kann.23 Leid ist einer der Schlüsselbegriffe in Olá! Negro, Leid und Erlösung, denn am Ende des Gedichts und am Ende der langen Nacht der Ausbeutung und der Qualen wird ein neuer Tag für Afro-Brasilianer angekündigt. Wie viele andere Gedichte Jorge de Limas, vor allem aus seiner späteren Schaffensphase, hat auch dieses Gedicht einen betont religiösen Charakter. In Olá! Negro singen die schwarzen 18 | Vgl. Marcondes 1998, S. 459 (s. v. lundu). 19 | Vgl. ebd., S. 704–705 (s. v. samba); Laferl 2005, S. 102–109. 20 | Aimé Césaire, Discours sur le colonialisme, Paris: Présence Africaine, 1955, S. 57–59. 21 | Lima 1997, S. 296–298. 22 | Ein ganz ähnliches Bild findet sich überdies auch in Carpentiers erstem Roman Ecué-Yamba-Ó aus dem Jahr 1927; auch in diesem Roman werden neue Formen der Zuckerproduktion und, damit verbunden, neue Formen der Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung sowie haitianischer Arbeitsmigranten beschrieben. Und auch bei Carpentier liegt die Hauptursache dieser neuen Art der Ausbeutung in der Ankunft nordamerikanischen Kapitals und nordamerikanischer Produktionsmittel. 23 | Vgl. Laferl 2005, S. 102–109.

Translationen des Popularen

Sklaven auf den Baumwoll- und Zuckerrohrfeldern von ihren Leiden; sie singen ihre Lieder aber auch für die Weißen, um deren Nächte zu erhellen und um sie, die Weißen, zu befreien. Es ist das Leiden, das die Schwarzen adelt, sie über die Weißen erhebt, und schließlich selbst diese loskauft: »E o teu riso, e a tua virginidade e os teus medos e a tua bondade / mudariam a alma branca cansada de todas as ferocidades!«24 (›Und dein Lachen und deine Unschuld und deine Ängste und deine Güte würden die weiße Seele, die all ihrer Grausamkeit müde geworden ist, ändern.‹). Die Darstellung des Leids, die in gewissem Maße auch eine Rechtfertigung ist, macht nur vor einem religiösen Hintergrund Sinn, genauer vor einem christlichen, denn sonst könnte das Gedicht nur als Ausdruck eines extremen Zynismus gelesen werden – der bei Jorge de Lima aber nicht zu finden ist. Ein dritter Grund für die Vorliebe des brasilianischen Autors für den Jazz kann in der Wertschätzung gesehen werden, die ihm von einer ganzen Reihe von lateinamerikanischen und europäischen Intellektuellen entgegengebracht wurde bzw. wird und die darin beruht, dass Jazz im Unterschied zu anspruchsloser Massenkultur als ›gute‹, i. e. qualitätsvolle, Popularkultur angesehen wird.25

A imé C ésaire Auch Aimé Césaire erwähnt in seinem Cahier d’un retour au pays natal den Jazz, aber unter anderen Vorzeichen als Jorge de Lima. Für den Dichter aus Martinique steht der Jazz für den Ausverkauf schwarzer Kultur an den weißen Konsumenten, wenngleich nicht in so extremer Weise, wie dies für ihn bei der französisch-kreolischen Musik der Fall ist. Über die Art und Weise, wie sich die Bevölkerung der Antillen verkauft, kann das artikulierte Ich des Textes nur sagen: »on voit encore des madras aux reins des femmes des anneaux à leurs oreilles des sourires à leur bouches des enfants à leur mamelles et j’en passe : / ASSEZ DE CE SCANDALE!«26 (›man sieht immer noch den Madras um die Hüften der Frauen die Ringe an ihren Ohren das Lächeln auf ihren Mündern Kinder an ihren Brüsten und das ist noch nicht alles: SCHLUSS MIT DIESEM SKANDAL!‹). Der ›Skandal‹, um den es hier in Majuskeln geht, wird durch den doudouisme provoziert, der Prostitution französisch-karibischer Kultur, versinnbildlicht durch die immer lächelnde Kreolin, die sich mit ihrem Madras, dem traditionellen bunten Hals- oder Kopftuch, und ihrem Schmuck (und wohl auch ihrem Körper) den Touristen und Kolonialherren anbietet. Zu Hunderten bevölkern doudous – das Wort ist eine Reduplikation des Adjektivs doux (›süß‹), also süße Lieblinge – die Texte der 24 | Lima 1997, S. 316. 25 | Vgl. John Storey, Cultural Theory and Popular Culture. An Introduction, London/New York: Routledge, 72015, S. 52–57. 26 | Aimé Césaire, Anthologie poétique. Présentation et notes Roger Toumson, Paris: Imprimerie Nationale, 1996, S. 58.

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Biguine. Aber auch in älteren Liedern, so zum Beispiel in dem bekannten »Adieux foulard! Adieu madras!« – das auch in Carpentiers El siglo de las luces, in Jean Rhys’ Wide Sargasso Sea oder in der Lyrik Derek Walcotts, so in Tales of the Islands,27 vorkommt –, stellt die friedliche, ewig lächelnde doudou den Inbegriff karibischer Kultur dar. Césaire hat diese Anbiederung schwarzer Kreolen nicht nur auf Martinique selbst kennengelernt, er ist ihr sicher auch in Paris begegnet, wo nicht wenige kreolische Tanzcafés und Bars genau dieses Bild der Karibik evozierten.28 Im Gegensatz zu Jorge de Lima scheint Césaire – zumindest im Cahier – auch den Jazz auf einer ähnlichen Linie wie die Biguine und den doudouisme zu sehen. Kurz nach der eben zitierten Stelle und nachdem er die negativen Allgemein­ plätze und Beschimpfungen, die Weiße für Schwarze gebrauchen, aufgezählt hat, spricht er von positiven Stereotypen, von den Eigenschaften, die Weiße an Schwarzen schätzen, und wie sie diese haben wollen: »Ou bien tout simplement comme on nous aime ! / Obscènes gaiement, très doudous de jazz sur leur excès d’ennui.«29 (›Oder wie man uns einfach liebt! Anstößig froh, ganz doudou im Jazz über ihrer exzessiven Langeweile.‹). Césaire gebraucht hier den Ausdruck doudou im Zusammenhang mit dem Jazz. Mit ihrer popularen Kultur, ihrem doudouisme und auch mit dem Jazz, der von anderen schwarzen Dichtern, so eben von Jorge de Lima, aber auch von Langston Hughes, gepriesen wurde, verkaufen sich in Césaires Augen Schwarze an Weiße – das ist für ihn der Skandal. Wenn nun Césaire diesen Aspekt schwarzer Kultur verurteilt, dann geht es ihm nicht nur um einen Antagonismus zwischen weißer und schwarzer Kultur, sondern auch um die Dichotomie Hochkultur versus Popularkultur. Unter der Annahme, dass schwarze Musiker aus der Karibik sowohl für ihr Publikum in Martinique und Guadeloupe also auch für die Besucher der kreolischen Tanzbars in Paris spielten, also für ein weißes wie ein schwarzes Publikum Musik machten, und unter der weiteren Annahme, dass Césaire nicht nur für ein intellektuelles Publikum auf Martinique schrieb, sondern auch für französische Intellektuelle, wie die Rezeption durch Breton und Sartre zeigt,30 wird deutlich, dass es eben nicht nur um den Gegensatz ›weiß‹ und ›schwarz‹, sondern auch um jenen zwischen ›hoch‹ und ›popular‹ geht. Was Césaire in jedem Fall anwidert, ist die kulturelle Ausbeutung der Schwarzen durch Weiße im Bereich des Popularen und die anbiedernde Reaktion mancher Schwarzer auf diese Ausbeutung. 27 | Derek Walcott, Collected Poems. 1948–1984, New York: Farrar, Straus and Giroux, 1986, S. 27. 28 | Vgl. Laferl 2005, S. 163–168. 29 | Césaire 1996, S. 61. 30 | Jean-Paul Sartre, Orphée noir, in: Léopold Sédar Senghor (Hg.), Anthologie de la nouvelle poésie nègre et malgache de langue française. Paris: Presses Universitaires de France 1948, S. XXII–XXIX; vgl. Daniel M. Scott, Dreaming the Other. Breton, Césaire, and the Problematics of Influence, in: Romance Quarterly 42 (1995) 1, S. 28–38.

Translationen des Popularen

N icol ás G uillén Wie bei Palés Matos und Jorge de Lima finden sich auch in den Motivos de Son und den folgenden Gedichtsammlungen des kubanischen Nationalautors eine ganze Reihe von Themen, die mit Religion, Essen und Musik der schwarzen Bevölkerung zu tun haben. Seine Beziehung zur Musik ist allerdings weit intensiver als die der bisher genannten Autoren, wie selbst den Lesern Guilléns, die sich nur oberflächlich mit ihm beschäftigen, sofort auffällt. Mehr noch als bei Palés Matos verweisen auch bei Guillén schon die Titel einzelner Gedichte wie die ganzer Sammlungen auf Musik: das Wort Son steckt in Motivos de son (›Son-Motive‹), in El son entero (›Der ganze Son‹) und in verschlüsselter Form in Songoro Cosongo. In mehreren Fällen ahmt der kubanische Dichter die Struktur des Son nach, der in der Regel in zwei Teile, den largo und den montuno, zerfällt. In anderen nimmt er in einzelnen Versen, wenn nicht im gesamten Gedicht, direkt Bezug auf vorhandene Sones, so in Secuestro de la mujer de Antonio (›Die Entführung von Antonios Frau‹)31, das eine Antwort auf ein bekanntes Lied des Trío Matamoros, nämlich auf La mujer de Antonio (›Antonios Frau‹)32 , darstellt. Guilléns Liebe zur afro-kubanischen Musik sollte von Seiten der kubanischen Musiker nicht unerwidert bleiben, wurden doch etliche seiner Gedichte vertont. Auffallend ist hier, dass sich sowohl Vertreter der E- wie der U-Musik um Guilléns Lyrik bemüht haben. Für die musikalische Avantgarde, die Komponisten des grupo minorista, seien hier Alejandro García Caturla und Amadeo Roldán genannt, und für die Unterhaltungsmusik die Brüder Eliseo und Emilio Grenet.33 Betrachtet man Guilléns Verhältnis zur Musik, so fallen zwei Dinge auf: Erstens, dass Guillén in seinen Gedichten dem Son weit mehr Raum gibt als der Rumba, die bei den meisten anderen negristischen Dichtern Kubas die Haupt­ rolle spielt, so bei Emilio Ballagas oder José Zacarías Tallet.34 Zweitens, dass Guilléns Lyrik, im Gegensatz zu Palés Matos, Jorge de Lima und Aimé Césaire, relativ leicht verständlich ist. Seine Dichtung konnte dadurch von einem viel größeren Leserkreis rezipiert werden, und durch die relative Einfachheit und Kürze der Verse konnten seine Gedichte auch leichter durch Vertreter der Popularmusik vertont werden. Die Nähe zu Komponisten wie den Brüdern Grenet, Musikern und Sängern wie Rita Montaner und Bola de Nieve – alle internationale Stars der 31 | Nicolás Guillén, Summa poética, hg. von Luis Íñigo Madrigal, Madrid: Cátedra, 71990, S. 85–87. 32 | Ezequiel Rodríguez Domínguez, Trío Matamoros. Treinta y cinco años de música popular cubana, La Habana: Arte y Literatura, 1978, S. 136. 33 | Vgl. Christopher F. Laferl, Écue-Yamba-Ó – ›afrocubanismo‹ in E und U?, in: Elena Ost­leitner/Christian Glanz (Hg.), Alejo Carpentier (1904–1980). Jahrhundertgestalt der Moderne in Literatur, Kunst, Musik und Politik, Wien: Vier-Viertel-Verlag, 2004, S. 34–37. 34 | Vgl. Miguel Arnedo, The Portrayal of the Afro-Cuban Female Dancer in Cuban Negrista Poetry, in: Afro-Hispanic Review 16 (1997) 2, S. 26–33.

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kubanischen Popularmusik jener Epoche – sowie die Vorliebe für den Son, der ebenfalls eher in den Bereich des Popularen als des Volkstümlichen gehört, statt der Rumba, machen deutlich, dass Nicolás Guillén im Gegensatz zu den anderen genannten Autoren den Kontakt mit popularer Kultur nicht scheute, folgerichtig gibt er dieser auch in seiner Lyrik breiten Raum. Nun soll der Frage nachgegangen werden, ob Guilléns positive Einstellung gegenüber dem Popularen auch in seinen metaliterarischen Aussagen und in seinen zahlreichen Artikeln über kubanische Musik ein Echo findet. Guillén mag in seinen Gedichten Popularmusik darstellen und durch die ›populären‹ Vertonungen der Brüder Grenet selbst zum Produzenten von popularer Kultur werden, in seinen journalistischen Texten spricht er nicht von popularer Kultur, sondern in der Regel von Folklore und fasst diesen Begriff positiv. Anlässlich des Todes von Eliseo Grenet im Jahr 1950 bezeichnet er dessen Werk als »la sustancia del folklore nacional« (›Essenz der nationalen Volkskultur‹) und schreibt: »Con él se nos ha ido un pedazo del folklore musical de Cuba« (›Mit ihm ist ein Teil der musikalischen Volkskultur Kubas von uns gegangen.‹), und das, nachdem er zwei Absätze vorher festgestellt hatte, dass der Komponist in Spanien viel Geld mit seiner Musik verdient habe.35 In einem anderen Artikel über Manuel Corona, einem der Hauptvertreter der vieja trova, dessen Werk nicht so eindeutig wie jenes Grenets der popularen Musik zugeordnet werden kann, da es eher am Übergang von Volks- zu Popularmusik steht,36 bringt Guillén seine Definition von sogenannter wahrer Volkskunst auf den Punkt, wenn er Corona mit den folgenden Worten Unsterblichkeit zuspricht: »Porque su obra de ingenuo creador está ligada por abajo, por la raíz, por la tierra húmeda y fecunda, al pueblo de cuya sangre, de cuyo espíritu se nutrió.«37 (›Denn sein auf naive Weise kreatives Werk ist in seiner Einfachheit im Innersten, an der Wurzel, mit der feuchten und fruchtbaren Erde mit dem Volk verbunden, von dessen Blut und von dessen Geist es sich nährt.‹) Hier finden wir den gängigsten Gemeinplatz für Volkskunst, die ja in der Regel als authentischer Ausdruck des Geistes eines Landes und eines Volkes gesehen wird.38 Jahre später, anlässlich des Begräbnisses von Bola de Nieve 1971, wird Guillén in einem Nebensatz Aufschluss darüber geben, warum ihm diese vermeintliche kulturelle Authentizität so wichtig ist: »[…] nuestra autenticidad nacional, prístina, la cual nos pone a salvo del sometimiento a formas extranjeras, con olvido o desdén de la propias, e imbuye al creador en su responsabilidad políti35 | Nicolás Guillén, Eliseo Grenet (1950), in: Ders., Nicolás Guillén en la música cubana. Selección, prólogo y notas de Radamés Giro, La Habana: Editorial Letras Cubanas, 1992, S. 24–27, hier S. 27. 36 | Vgl. Helio Orovio, Diccionario de la música cubana biográfico y técnico, La Habana: Letras Cubanas, 1992, S. 225–226. 37  | Nicolás Guillén, Un año que llega y un trovador que se va (1950), in: Guillén 1992, S. 20–23, hier S. 23. 38 | Vgl. Hamm 1995, S. 11–17.

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ca […].«39 (›[…] unsere nationale, ursprüngliche Authentizität, die uns vor der Unterwerfung unter fremde Formen und vor dem Vergessen oder der Verachtung der eigenen bewahrt und den Schaffenden in seiner politischen Verantwortung trägt […].‹) Diese Worte sind sowohl ein Bekenntnis zur Volkskunst oder Folklore als auch eine Absage an eine angenommene oder tatsächliche Überfremdung durch das Ausland, konkreter wohl durch die USA, und schließlich wohl auch eine Absage an angloamerikanische Popularmusik. Im Gegensatz zu Palés Matos, Jorge de Lima und Aimé Césaire bietet die Lyrik Guilléns Raum für Populares, nur will ihr Autor dieses Populare in seinem Werk nicht als popular verstanden wissen, sondern nennt es Folklore – Folklore findet sich aber auch bei Jorge de Lima und Palés Matos zur Genüge. Guilléns Lyrik ist etwas anderes, ohne es sein zu wollen.

P roblematische Tr ansl ation Die fehlende Neukategorisierung bei Guillén ist sicher nicht nur dem Autor anzulasten, sondern spiegelt auch eine allgemeine Unsicherheit gegenüber popularer Kultur nicht-europäischer Prägung wider. Die Kultur, vor allem die Musik der Karibik und Brasiliens, befand sich, wie eingangs erwähnt, in der Zeit, in der die besprochenen Werke verfasst wurden, an einem Übergang von nicht-industrieller Volksmusik einer bestimmten sozialen Gruppe zu popularer Musik. Dieser Übergang war an die USA und die europäischen Kolonialmächte gebunden, die einen technologischen Vorsprung hatten, was Produktion und Diffusion durch die neuen Massenmedien betrifft. 40 Hinzu kommt, dass Nordamerika und Europa auch als Absatzmarkt für die neue Popularmusik aus Lateinamerika fungierten. Vor dem Dilemma, das darin bestand, dass die Ursprünge der neuen Popularmusik der Karibik und Brasiliens als eigenständig und ›schwarz‹ gesehen wurden, während ihre Vermarktung über US-amerikanische und europäische Firmen für ein internationales Publikum erfolgte, d.h., dass im kulturellen Bereich eine relative Autonomie herrschte, während der ökonomische Bereich großteils von Abhängigkeit und Ausbeutung geprägt war – vor diesem Dilemma standen die Autoren, die über schwarze Kultur in den 1920er-, 1930er- und 1940er-Jahren schrieben. Die genannten Dichter stellen vier verschiedene Reaktionen auf dieses Dilemma dar. Luis Palés Matos löste es, indem er erst gar nicht auf die Transformation der schwarzen Kultur von einer Volks- zu einer popularen Kultur einging. Die internationale wirtschaftliche Ausbeutung der Karibik durch Europa und die Vereinigten Staaten wird bei ihm angesprochen, die kulturelle Ausbeutung hingegen ausgeblendet. 39 | Nicolás Guillén, Bola de Nieve (1971), in: Guillén 1992, S. 39–42, hier S. 40. 40 | Vgl. Laferl 2005, S. 40–46.

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Im Gegensatz zu Palés Matos porträtiert Guillén weit mehr schwarze populare denn schwarze Volkskultur, ja er beteiligt sich sogar an der Produktion von Popularem, ohne es aber popular zu nennen. Hinter dieser Strategie steht sicher nicht nur die oben angesprochene Unsicherheit bezüglich der Beurteilung des Prozesses ›von Folklore zu Popularkultur‹, sondern sicherlich auch eine Haltung, die auf Distanz zu den USA gehen will. Die Vorstellung von ›Popularkultur‹ war ihm wohl zu sehr mit dem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem des nördlichen Nachbarn verbunden, als dass er das neue Populare als solches bezeichnen wollte. Er zieht den Begriff ›Folklore‹ vor, einen Begriff, der immer, und so auch bei Guillén, wie wir gesehen haben, an Vorstellungen gebunden ist, die um die Begriffe Volkscharakter und nationale bzw. regionale Identität kreisen. Guilléns Identifizierung von Popularkultur mit Nordamerika stellt in der Bewertung des Popularen keine Ausnahme dar, fand sie doch über Jahrzehnte statt – bei der europäischen Rechten bis zur Etablierung des sogenannten Neoliberalismus in der staatlichen Politik vieler Länder genauso wie bei der intellektuellen Linken vor den 1960er-Jahren, wie z.B. bei Adorno und Horkheimer. 41 Der junge Césaire des Cahier war konsequenter und radikaler als Guillén. Er kritisierte nicht nur die Ausbeutung im ökonomischen Feld, sondern sah und verurteilte auch jene auf dem kulturellen Feld. Er rettete sich auch nicht in eine nationale Rechtfertigung afro-karibischer Kultur, sondern hatte eine weiter reichende Vision im Kontext der Kontinente überspannenden négritude. Auch in seiner écriture kam eine klare Verortung in der Sphäre der hohen Literatur unmissverständlich zum Ausdruck. Differenzierter sah das Problem Jorge de Lima, für den zumindest der Jazz positive populare Kultur darstellt. Implizit war für ihn, im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen, die Trennung zwischen ›schlechter‹ und ›guter‹ Kultur nicht identisch mit jener zwischen ›popularer‹ und ›hoher‹ oder Elitenkultur. Für ihn lag die Trennung eher innerhalb des Bereiches des Popularen. In dieser Hinsicht nahm er die Haltung des Großteils der brasilianischen Bevölkerung im Allgemeinen und vieler Intellektueller (im ›Westen‹) seit den 1960er-Jahren vorweg, die dem Jazz, oft im Gegensatz zu Rock und Pop, hohe Qualität zuschrieben. Die Übersetzung von popularer Kultur oder Volkskultur in ernste oder hohe Kultur stellt eine der Möglichkeiten dar, die Ansätze der Cultural Studies mit genuin literaturwissenschaftlichen Anliegen und Methoden zu verbinden. Die Frage nach der Darstellung und Bewertung von popularer Kultur in Texten der Elitenkultur ist von zentralem Interesse für die Cultural Studies, stellte die Dichotomie zwischen Eliten- und Popularkultur doch für viele Jahrzehnte ein Grundaxiom

41 | Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug, in: Dies., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main: Fischer, 1994, S. 128–176.

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für die soziale und ästhetische Bewertung von kulturellen Praxen dar. 42 Diese Frage fordert zugleich die Kompetenzen der Literaturwissenschaft und des close reading. Im Zusammenhang mit der literatura negra oder negrista der 1930er- und 1940er-Jahre ist es zweifelsohne deshalb so interessant, das Verhältnis zwischen popularer und Elitenkultur auszuloten, weil dadurch nicht nur kulturelle Hierarchien sichtbar gemacht werden können, sondern auch, weil sich zeigen lässt, wie sehr diese an bestimmte Ethnizitätskonzepte geknüpft waren (und wahrscheinlich auch heute vielfach noch sind). Deutlich wird daran schließlich, wie wichtig im Umgang mit popularer Kultur und Folklore das ästhetische Axiom des Authentischen und des Unkontaminierten ist, das sich aber gerade in der Auseinandersetzung mit dem Popularen als höchst ambivalent erweist. 43 Wie prekär die Rolle der Intellektuellen in diesem Zusammenhang ist, zeigt sich an der Tatsache, dass sie in vielen Fällen die Gefahren der Popularisierung von Minderheiten- oder unterdrückten Kulturen sehen, zugleich aber die Kenntnis und den Genuss eben dieser Kulturen als exklusives Recht für sich beanspruchen – auch wenn das selten ausgesprochen werden mag.

42 | Vgl. Storey 2015, S. 5–14, und Thomas Hecken, Bestimmungsgrößen von high und low, in: Thomas Wegmann/Norbert Christian Wolf (Hg.), High und low. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur, Berlin: De Gruyter, 2012, S. 11–25. 43 | Vgl. dazu Michael Rössner, Europäische Avantgarde und Ethnologie im Kontext der Suche nach nationaler Identität: Gedanken zum frühen Asturias und zum frühen Carpentier, in: Iberoamericana 11 (1987) 2/3, S. 23–38.

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1. K olumbus ’ K aniden : D ie G eschichte L ateinamerik as aus der H undeperspek tive Die Erzählung einer Geschichte der Hunde in Amerika könnte mit einer Übersetzungsszene 1 beginnen: Auf seiner ersten Reise in die Karibik rätselt Kolumbus über den Ursprung des Worts caribe/caniba, mit dem seinem Verständnis nach ein offensichtlich feindlich gesinntes Volk auf den Kleinen Antillen bezeichnet wird und aus dem sowohl die Bezeichnung ›Karibik‹ als auch ›Kannibale‹ hervorgehen werden.2 Eine der möglichen Etymologien, die Kolumbus aus den Aussagen eines indigenen Stammes erschließen zu können glaubt,3 knüpft an den aus der Antike stammenden (und etwa in mittelalterlichen mappae mundi perpetuierten) Mythos vom hundsköpfigen Ungeheuer an (kynokephalos, von griech. kyon: Hund; lat. canis) an. Kolumbus selbst verwirft diese Vermutung jedoch zugunsten einer viel pragmatischeren (aber ebenso wenig zutreffenden) Annahme, der zufolge das Wort caniba ein Hinweis auf die Gefolgschaft des ›Großkhan‹ (Gran Can) sei, was ihn in seiner Annahme bestätigt, auf Inseln gelandet zu sein, die dem äußersten Rand Asiens vorgelagert sind. 4 Dennoch ist seine etymologische Spekulation über hundeköpfige Menschenfresser wirkmächtig genug, um die visuelle Vorstel1 | Vgl. dazu grundlegend Michael Rössner, Translating Translation. On Mimesis, Translatio/n and Metaphor. Some Reflexions on the Boundaries of Cultural Translation and the ›Translational Turn‹, in: Ders./Federico Italiano, Translatio/n. Narration, Media and the Staging of Differences, Bielefeld: transcript, 2012, S. 35–50. 2 | Vgl. zum Folgenden im Überblick Frank Lestringant, Le Cannibale. Grandeur et décadence, Paris: Perrin, 1994, S. 43–55. 3 | Vgl. Cristobal Colón, Textos y documentos completos, hg. v. Consuelo Varela, Madrid: Alianza, 1995, S. 131 bzw. 145 (Diario del primer viaje, 4 de Noviembre/26 de Noviembre). 4 | Vgl. ebd., S. 145.

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lung des Kariben/Kannibalen in der Frühen Neuzeit nachhaltig zu prägen, zumal im Bericht von der ersten Reise Kolumbus’ später doch noch Hinweise auf anthro­ pophage Praktiken auftauchen. Ohne es mit der komplexen Hermeneutik Kolumbus’ allzu genau zu nehmen, nistet sich, ausgehend von seiner ersten Reise, das Bild eines monströsen, hundsköpfigen Anderen in zahlreichen populären Darstellungen von der ›Neuen Welt‹ ein und sorgt für ein langlebiges Imaginäres der ›Verwerfung‹ Amerikas im Zeichen forcierter, monströs-animalischer Alterität.5 Während die Geschichte des hundsköpfigen Kannibalen als Alteritätsfigur des Menschen wesentlich mit der Frage sprachlicher Übersetzung zu tun hat, beruht die biologische Geschichte der Hunde in der Neuen Welt zunächst auf anderen Formen der geographischen Translation6 sowie der Ko-Evolution von Hunden und Menschen, die aber, wie sich zeigen soll, ebenfalls mit diskursiven Praktiken in Verbindung stehen. Eine alternative Geschichte der Hunde auf dem amerikanischen Kontinent beginnt dabei ebenfalls mit Kolumbus: Wie aus dem historiographischen Schrifttum rund um dessen Fahrten in die Karibik hervorgeht,7 etabliert sich mit seiner zweiten Reise eine Praxis, die sich unter den Konquistadoren zu einer militärischen Strategie im Umgang mit der indigenen Bevölkerung entwickeln wird, nämlich das Mitführen von Kampf- und Jagdhunden aus Spanien: So wird die Flotte für die zweite Fahrt Kolumbus’ mit 20 mastines bzw. galgos ausgestattet, die dieser ebenso zur Eroberung von La Española einsetzt wie dies später beispielsweise Juan Ponce de León bei der Eroberung von Boriquén (Puerto Rico) tut. Bartolomé de Las Casas und andere Historiker wie Gonzalo Fernández de Oviedo beschreiben dabei insbesondere die grausame Praxis des sogenannten »aperreamiento«8, d.h. wie ausgehungerte Kampfhunde auf indios gehetzt wurden, bis diese getötet und von den Hunden teilweise aufgefressen wurden. Berühmt geworden sind diese Hunde-Darstellungen als Teil der von protestantischer Seite aus nach Kräften unterstützten leyenda negra in den Stichen des Frankfurter Verlegers und Kupferstechers Theodor De Bry.9 Die spanischen 5 | Vgl. z.B. den Titelholzschnitt in Lorenz Fries, Uslegung der Mercarthen oder Cartha Marina (1527); Abbildung in: America. Das frühe Bild der Neuen Welt (Ausstellungskatalog), München: Prestel, 1992, S. 31, wo hundsköpfige Kannibalen mit Fleischerbeilen menschliche Gliedmaßen zerteilen. 6 | Vgl. zum komplexen Verhältnis von sprachlicher Übersetzung und geographischer Translation allgemein Federico Italiano, Translation and Geography, London: Routledge, 2016. 7 | Vgl. dazu im Überblick Alfredo Bueno Jiménez, Los perros en la conquista de América: historia e iconografía, in: Chronica Nova 37 (2011), S. 177–204. Vgl. außerdem die bereits ältere Studie von John Grier Varner/Jeannette Johnson Varner, Dogs of the Conquest, Norman: University of Oklahoma Press, 1983. 8 | Vgl. Ricardo Piqueras Céspedes, Los perros de la guerra o el ›canibalismo canino‹ en la conquista, in: Boletín americanista 56 (2006), S. 186–202. 9 | Vgl. z.B. einen Stich im vierten Buch der America-Serie (1594), in dem Girolamo Benzonis Historia del Mondo Nuovo mit Stichen von den Gräueltaten der Konquistadoren illus-

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Historiographen gehen demgegenüber in ihrer Darstellung so weit, einzelne Hunde gleich menschlichen Soldaten zu Helden der Conquista zu erklären, wie z.B. der Juan Ponce de León gehörende Hund namens »Becerrillo«, der angeblich in der Lage gewesen sein soll, feindlich gesinnte caribes von anderen, friedlichen Indigenen zu unterscheiden.10 Es ist aber nicht so, dass Hunde erst mit den Europäern nach Amerika gekommen wären; aktuelle evolutionsbiologische Studien gehen vielmehr davon aus, dass sich Hunde über Asien und Nordamerika vor mehr als 10.000 Jahren bis nach Südamerika ausgebreitet haben. Davon legt wiederum Kolumbus Zeugnis ab, wenn er im Bordbuch seiner ersten Reise schreibt, er sei als einzigen vierbeinigen Tieren Hunden begegnet, die sich dadurch von den europäischen Hunden unterschieden, dass sie nicht bellen würden.11 Die Zuweisung dieses Attributs trägt signifikanterweise zu einer ähnlichen Identifikation der ›autochthonen‹ Hunde mit der indigenen Bevölkerung bei wie im bereits erwähnten Fall der Identifikation ›heldenhafter‹ spanischer Kampfhunde mit den Konquistadoren. So hebt etwa Gonzalo Fernández de Oviedo die stumme Leidensfähigkeit dieser Hunde hervor: »[E]ran todos estos perros, aquí en esta e las otras islas, mudos, e aunque los apaleasen ni los matasen, no sabían ladrar; algunos gañen o gimen bajo cuando le[s] hacen mal«.12 Neben der textuellen Überlieferung haben auch die Archäologie sowie die Untersuchungen zur altamerikanischen Kunst 13 dazu beigetragen, die große Bandbreite der mehr oder weniger domestizierten Formen des Zusammenlebens von Menschen und Hunden vor der spanischen Conquista zu rekonstruieren: Diese reicht von der Haltung von Hunden als eine Art von Nutztieren mit Verwertung von Haaren und Fleisch bis hin zu Hundeopfern in religiösen Handlungen.14 Das Schrifttum zur Conquista zeigt also nicht nur verschiedenste Formen der Koexistenz von Menschen und Hunden auf; es ist in ihm auch eine latente Tendenz festzustellen, die Beschreibung von Hunden auf diejenige von Menschen zu beziehen, und zwar im Sinne einer Analogisierung von Merkmalen oder Eigentriert wird; Abbildung in: America de Bry 1590–1634. Amerika oder die Neue Welt, hg. v. Gereon Sievernich, Berlin/New York: Casablanca, 1990, S. 177. 10 | Vgl. Bueno Jiménez 2011, S. 195–199, der sich dabei u.a. auf die Historia general y natural de las Indias von Gonzalo Fernández de Oviedo bezieht. 11 | Colón 1995, S. 133 (Diario del primer viaje, 6 de Noviembre). 12 | Zitiert nach Bueno Jiménez 2011, S. 180 (Historia general y natural de las Indias, Bd. 2, Buch XII, Kap. 5). 13 | Vgl. Marion Schwartz, A History of Dogs in the Early Americas, New Haven: Yale University Press, 1997. 14 | Vgl. etwa die Ausführungen zu den Opfer- und Ernährungspraktiken der vom Inca Pachacutec eroberten »nación Huanca« beim Inca Garcilaso de la Vega, Comentarios reales de los Incas, hg. v. Aurelio Miró Quesada, Caracas: Biblioteca Ayacucho, 1976, Bd. 2, S. 29 (Buch VI, Kap. 10).

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schaften, die zwischen Mensch und Hund angeblich austauschbar sind. Solche Merkmale sind die ›Heldenhaftigkeit‹ bzw. ›Grausamkeit‹ der Hunde der Conquistadoren auf der einen sowie die Unterwürfigkeit bzw. stumme Dulderrolle der ›indigenen‹ Hunde auf der anderen Seite. Die literarische Relationierung von Hunden und Menschen schwankt also, so könnte man sagen, zwischen der me­ tonymischen Beschreibung einer mehr oder weniger domestizierten Koexistenz und metaphorischen Ausführungen zur Ähnlichkeit von hündischem und menschlichem Verhalten. Diese Zirkulation von metonymischen und metaphorischen Relationen ist es, welche die Beschreibung von Hunden in der Geschichte Lateinamerikas aus literaturwissenschaftlicher Sicht interessant macht, auch ohne auf den Bereich der fiktionalen Literatur im engeren Sinn einzugehen.15 Im Folgenden soll den bereits erwähnten Geschichten von Hunden aus der frühen Kolonialzeit noch eine weitere hinzugefügt werden, die für die Beschreibung einer bis in die Gegenwart reichenden Koexistenzweise von Hunden und Menschen in Lateinamerika von besonderer Bedeutung ist, nämlich die Geschichte streunender Hunde. Erzählt werden soll diese Geschichte dabei im Dialog mit dem Buch eines französischen Gegenwartsautors, das von Hunden nicht nur in Amerika, sondern in globalen Kontexten handelt, dabei aber von einer Fragestellung ausgeht, die auch und gerade in Lateinamerika von besonderer Bedeutung ist. In Un chien mort après lui16 beschäftigt sich der französische Schriftsteller und Journalist Jean Rolin mit streunenden bzw. wild lebenden Hunden – ein Thema, das in Lateinamerika und anderswo bisher vergleichsweise selten zum Gegenstand der kulturhistorischen, aber auch der evolutionsbiologischen Forschung geworden ist.17 Rolin widmet sich in seiner 2009 erschienenen eigenwilligen Mischung aus wissenschaftlichem Essay, anekdotischem Globalisierungsreport und autobiographischem Reisebericht, auf die ich noch eingehender zurückkommen werde, auch der Frage, ob frei lebende Hunde überall auf der Welt notwendigerweise ›verwilderte‹, ursprünglich domestizierte Hunde sind oder ob die gemeinsame Geschichte von Menschen und Hunden möglicherweise von Anfang an anders erzählt werden muss. Damit komme ich zu einem kurzen evolutionsbiologischen Zwischenspiel, das aber sogleich wieder zu literarischen Hundedarstellungen zurückführen wird.

15 | Vgl. zu Hunden in der fiktionalen Literatur Spaniens und Lateinamerikas die umfangreiche Studie von Bernardo Subercaseaux (zus. mit Cristián Montés und Megumi Andrade), El mundo de los perros y la literatura (condición humana y condición animal), Santiago de Chile: Ediciones Universidad Diego Portales, 2014. 16 | Jean Rolin, Un chien mort après lui, Paris: Gallimard folio, 2010. 17 | Für Nordamerika verweist Rolin auf eine Studie aus den 1970er-Jahren von Alan M. Beck, The Ecology of Stray Dogs: A Study of Free-Ranging Urban Animals, Baltimore: York Press, 1973.

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2. D omestizierung oder K ommensalismus : E xkurs zum Z usammenleben von M ensch und H und Handelt es sich bei den streunenden Hunden in Lateinamerika um die Nachkommen ursprünglich domestiziert lebender Tiere, die aus einer nicht im Einzelnen rekonstruierbaren mestizaje europäischer und ›indigener‹ Hunde hervorgegangen sind?18 Aus den obigen Ausführungen zur Geschichte der Hunde in Lateinamerika ist bereits deutlich geworden, dass es sehr unterschiedliche, von einer heute verbreiteten Vorstellung von Hunden als ›Haustieren‹ teilweise weit entfernte Arten der Hundehaltung in Amerika gab. Daraus ergibt sich die Frage, wie überhaupt die Domestizierung von Hunden historisch vonstattengegangen sein könnte. Üblicherweise nimmt man an, dass einzelne Wölfe von Menschen gezähmt worden und so allmählich zu Hunden geworden seien. Eine (durchaus umstrittene) Alternative zu dieser Annahme schlagen die US-amerikanischen Hundeforscher Raymond und Lorna Coppinger19 vor, wenn sie davon ausgehen, dass am Anfang des Zusammenlebens von Menschen und Hunden nicht eine individuelle Zähmung einzelner Wölfe stand, sondern die Tatsache, dass Wölfe als Gruppe eine neue ökologische Nische in der Nähe menschlichen Lebens entdeckt hätten. Dies geschah angeblich zu dem Zeitpunkt, als die Menschen sesshaft wurden und begannen, ihre Essensreste und Fäkalien an bestimmten Orten zu deponieren. So seien Wölfe angelockt worden, die sich durch das Leben in der Nachbarschaft von Menschen zu einer eigenen, domestizierbaren Spezies entwickelten. Am Anfang der Koexistenz stünde demnach das, was die Biologie unter dem Ausdruck »Kommensalismus« versteht,20 also das Bestehen einer Ernährungsgemeinschaft von Mensch und Tier, von der zunächst die Wölfe und später durch die Domestizierung der in ihrer Nachbarschaft lebenden Wölfe auch Menschen profitiert hätten – die daraus hervorgehenden Hunde nennen die Coppingers »village dogs«.21 Diese Theorie, die den Übergang vom Wolf zum Hund als eine Art von Selbst-Evolution in der Nachbarschaft von Menschen aufgrund des von diesen zurückgelassenen Mülls betrachtet, ist für die Beschreibung frei lebender Hunde in lateinamerikanischen Städten insofern interessant, als sie deren Existenz nicht 18 | Vgl. zu dieser Form von ›mestizaje‹ Mark Derr, A Dog’s History of America: How Our Best Friend Explored, Conquered, and Settled a Continent, New York: North Point Press, 2004, S. 20–22. 19 | Raymond Coppinger/Lorna Coppinger, Dogs: A Startling New Understanding of Canine Origin, Behavior & Evolution, New York: Scribner, 2001. Jean Rolin diskutiert die These der Coppingers ausführlich (vgl. erstmals Rolin 2010, S. 92) und besucht sogar (jedoch ohne daraus neue Erkenntnisse zu gewinnen) selbst Dörfer und urbane Randgebiete, die von den Autoren erforscht wurden. 20 | Vgl. z.B. Georg Töpfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011, Bd. 3, S. 435 (s. v. »Symbiose«). 21 | Coppinger/Coppinger 2001, S. 89, passim.

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nur als eine Verfallsform des domestizierten Zusammenlebens von Mensch und Hund ansieht, sondern die Existenz auf Müllplätzen als ›Urszene‹ der Entwicklung von Hunden überhaupt versteht. Für die Coppingers geht damit eine Neubewertung frei lebender Hunde einher, was sie dazu veranlasst hat, ihre Feldforschungen zur Evolution von Hunden unter anderem auf den Mülldeponien von Mexiko-Stadt durchzuführen. Man könnte in Anlehnung an Dona Haraway sogar so weit gehen zu behaupten, dass frei lebende Hunde einen Blick auf die ›Ko-Evolution‹ von Menschen und Hunden ermöglichen.22 Während Haraway und andere Vertreter der human-animal studies bei ihrer Beschreibung koevolutionärer Prozesse zwischen Mensch und Hund dabei aber zumeist domestizierte Szenarien im Blick haben, wo Hunde als Haustiere von Menschen gehalten werden,23 interessiert sich der hier vorgestellte Ansatz vor allem für die historischen Möglichkeitsbedingungen der Domestizierung – und damit für ein ursprünglicheres Verständnis von Mensch und Hund als companion species, die nicht auf der (letztlich doch in einem gewissen Anthropozentrismus verhaftet bleibenden) Abhängigkeit der tierischen Spezies vom Menschen aufgrund der Haustierhaltung beruht. Nach diesem evolutionsbiologisch-kulturtheoretischen Zwischenspiel nun aber wieder zurück zu Jean Rolin, der solchen Hypothesen nicht nachgeht, um sich an einer wissenschaftlichen Diskussion zu beteiligen, sondern um dem Kommensalismus von Mensch und Hund in seinen als Anlass für seinen Bericht von Begegnungen mit streunenden oder frei lebenden Hunden an verschiedensten Orten der Erde zu nehmen.

3. V alpar aíso , S tadt der quiltros : L iter arischer K ommensalismus bei J e an R olin Die Texte von Jean Rolin gehören zu der im französischsprachigen Kontext so bezeichneten »littérature de terrain«,24 also zu einer Form von nichtfiktionaler Literatur, die soziale Räume auf ungewöhnliche Art und Weise erschließt. Raumkonstitution erfolgt dabei nicht nur in Form imaginierter literarischer Räume, sondern zunächst einmal durch den materiellen Kontakt mit einem ›Feld‹ in Form von Begehungen, Reisen und Beobachtungen vor Ort, die manchmal experi­ 22 | Donna J. Haraway, When Species Meet, Minneapolis/London: University of Minnesota Press, 2008. 23 | Haraway verweist gleich zu Beginn ihrer Studie auf eine für sie wegweisende Untersuchung von Beatriz Preciado zur Geschichte der französischen Bulldogge als Begleiterin französischer Prostituierter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vgl. ebd., S. 3, Fn 1). 24 | Vgl. dazu die laufenden Forschungen des Spezialisten für französische Gegenwartsliteratur Dominique Viart, https://www.youtube.com/watch?v=t4HNL-lG_SU (abgerufen am 24.09.2017).

Der Kommensalismus der quiltros

mentellen Charakter besitzen; die daraus entstehende Literatur versteht sich zumeist als Bericht von einer zunächst im ›Feld‹ durchgeführten Suche oder Observa­ tion. Häufig stehen im Zentrum solcher Raum-Experimente urbane oder andere Räume, die im Alltag wenig Beachtung erfahren, wie z.B. städtische Brachen (frz. terrains vagues).25 Auch Jean Rolin, der als politisch engagierter Journalist verschiedenste Krisengebiete der Welt bereist hat, beschäftigt sich in Un chien mort après lui eingehend mit marginalen Zonen zumeist urbaner Räume: Bei den erdumspannenden terrains vagues, die er dabei in den Blick nimmt, folgt er den Raumpraktiken von streunenden bzw. frei lebenden Hunden, die im Spanischen auch den Namen perros vagos26 tragen. Er stößt dabei auf Formen des Zusammenlebens von Mensch und Hund, die die ganze denkbare Skala von friedlicher Koexistenz bis hin zur Auseinandersetzung mit Hunden umfasst, die sich in den Krisengebieten der Welt, aus denen Rolin berichtet, möglicherweise von Menschenleichen ernähren. Rolin begibt sich im Zuge seiner Recherchen an so unterschiedliche, von Unruhen, Krieg oder sogar Genozid heimgesuchte Orte wie Haiti, Palästina und Ruanda, bei denen er seine eigene Präsenz ›vor Ort‹ als Probe auf die Plausibilität wissenschaftlicher Hypothesen, als Aufgreifen von Hinweisen aus Korrespondenzen mit Freunden und Bekannten, ja teilweise sogar als Übertragung literarischer Texte von der Ilias bis hin zu Gustave Flauberts Ägyptenreise auf das von ihm beobachtete Feld versteht. Es geht ihm dabei aber nicht einfach um eine positivistische Verifikation textueller Weltbeschreibungen,27 sondern die diversen Recherche-Anlässe eröffnen vielmehr eine autobiographisch geprägte Form von teilnehmender Beobachtung, die die Geschlossenheit und Verifizierbarkeit allgemeiner wissenschaftlicher Thesen zugunsten von singulären Fallgeschichten auf bricht, die anekdotisch bleiben und gerade in ihrer Produktion von Singularitäten für eine höchst produktive Form von literarischem Umgang mit Phänomenen der Globalisierung stehen. Vor allem aber handelt es sich um eine Perspektive auf globale Phänomene, bei denen eben nicht Menschen, sondern Hunde im Mittelpunkt stehen, über die Jean Rolin einen teils durchaus beklemmenden Zugang zur Darstellung von Szenen der Globalisierung findet. Seine Beschreibungen üben sich durchwegs in großer und bewusst gewählter Zurückhaltung, was die Individualisierung von Hunden und die damit einher­ gehende Neigung zur Analogisierung mit menschlichen Schicksalen betrifft. 25 | Vgl. dazu das Forschungsprojekt Terrain vague. Ästhetik und Poetik urbaner Zwischenräume in der französischen Moderne unter Leitung von Wolfram Nitsch, http://www.terrainvague.de/ (abgerufen am 24.09.2017). Meiner Teilnahme an der Abschlusstagung dieses Projekts verdanke ich den ersten Hinweis auf Jean Rolins Buch. 26 | Vgl. explizit zum Ausdruck »perro vago« bei Rolin 2010, S. 185. 27 | Selbst wenn eine solche Gegenüberstellung in den von Rolin in einem Kapitel eingeführten Kategorien »chien rhétorique« vs. »chien réel« anzuklingen scheint (vgl. Rolin 2010, S. 89–90).

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Allerdings berichtet Rolin von Begegnungen mit Hunden, die die evolutionsbio­ logische These des Kommensalismus bisweilen in eine Art von situativer Kom­ plizenschaft überführt, wahrt dabei aber genügend Distanz, um nicht einfach Menschen als Hunde oder umgekehrt Hunde als Menschen zu beschreiben. Verdeutlichen möchte ich dies anhand einer Szene, die in der chilenischen Hafenstadt Valparaíso spielt. Seine Annäherung an die chilenischen Hunde bereitet Rolin dabei durch Überlegungen zur Bezeichnung streunender Hunde in spanischer Sprache vor: Sie werden dort in der Regel perros callejeros oder perros vagos genannt, was zumeist eine negative, an menschliche Verhaltensweisen erinnernde Konnotation der Obdachlosigkeit sowie der möglichen Delinquenz impliziert,28 doch diese Form der Analogiebildung ist gerade nicht das, was Rolin interessiert. Er beruft sich vielmehr auf einen Ausdruck des chilenischen Spanisch für frei lebende Hunde, die dort als quiltros bezeichnet werden. Dabei handelt es sich ein Wort aus der Sprache der Mapuche-Indianer und somit implizit um einen Verweis auf die präkolumbische Geschichte der Hunde in Amerika – es bedeutet so viel wie Hunde­ mischling29 und wird in Chile, so behauptet Rolin,30 mit deutlich mehr Sympathie für die streunenden Hunde verwendet als die anderen genannten Ausdrücke.31 Die Stadt der quiltros par excellence ist in Chile die Hafenstadt Valparaíso, wo die frei lebenden Hunde zum beliebten Fotomotiv für Touristen geworden sind, und wo sie, wie ein kürzlich erschienenes Buch über quiltros in Valparaíso es formuliert, zum »patrimonio callejero« der Stadt gehören.32 Einzelne Hunde aus Valparaíso erhalten nicht nur in diesem Buch, sondern teilweise auch über Online-Medien und soziale Netzwerke eine eigene Biographie, wobei dieser populären Erzählpraxis die anthropomorphisierende Analogiebildung zwischen dem Schicksal von Hunden und Menschen nicht immer fremd ist.33 Ich kann hier 28 | In diesem Zusammenhang kann literaturgeschichtlich auf die seit dem Lazarillo de Tormes bestehende Verbindung von Hunden zu pícaros verwiesen werden; vgl. dazu – mit Schwerpunkt auf Cervantes’ Hunden – Subercaseaux 2014, S. 99–132. 29 | Vgl. Diccionario de uso del español de Chile, Santiago de Chile: Academia chilena de lengua, 2010, s. v. »quiltro«. 30 | Vgl. Rolin 2010, S. 57. 31 | In der Tat scheint sich quiltro als Adjektiv aktuell im Chilenischen von einer abwertenden Vokabel zu einer positiven Charakterisierung urbaner sowie literarischer ›Gegenkulturen‹ zu wandeln; vgl. dazu z.B. die Einleitung zu Magda Sepúlveda Eriz, Ciudad Quiltra. Poesía chilena (1973–2013), Santiago: Cuarto Propio, 2013, S. 13–20. 32 | So der Untertitel der jüngst erschienenen Studie von Cristián Mora Valenzuela, Quiltros: Radiografía al patrimonio callejero de Valparaíso, Valparaíso: PESH ediciones, 2017. 33  | Ein Beispiel ist die sich 2013 in der Presse und in sozialen Medien verbreitende Geschichte des »chili dog«, der den »American dream« eines Aufstiegs vom Straßenhund in Valparaíso zum Haushund in Seattle erlebt, als er von Touristen, die ihn ins Herz ge-

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nicht im Einzelnen darauf eingehen, wie die ›Hundegeschichten‹ über chilenische quiltros sich an literarischen Traditionen und Konventionen orientieren34 bzw. wie sie mit biopolitischen Diskursen der (fehlenden) Hygiene im urbanen Raum einerseits sowie dem Aktivismus von Tierschutzorganisationen andererseits verflochten sind, die gegen das Aussetzen von Hunden und für ihre Sterilisierung kämpfen. Häufig zielen die öffentlichen Diskurse über Hunde im urbanen Raum der Stadt jedenfalls darauf ab, das Leben der frei lebenden Hunde in Valparaíso als einen Zustand der Unordnung anzusehen, den es zu bekämpfen gilt. Im Gegensatz dazu bemüht sich nun Jean Rolins Annäherung an die Hunde von Valparaíso um eine komplizenhafte Halbdistanz, die weder auf Domestizierung als anzustrebenden ›Normalzustand‹ abzielt noch das Leben der quiltros zu einer pittoresken Touristenkulisse verklärt. In einem zwölfseitigen Kapitel, das der Hafenstadt gewidmet ist, setzt er sich in der für ihn typischen Mischung aus Recherchebericht und Reiseerzählung mit dem Ruf auseinander, den die quiltros in Valparaíso genießen. Zu Besuch bei einem befreundeten englischstämmigen Historiker, der in der Nähe eines Platzes lebt, den in großer Zahl ambulante Verkäufer, Obdachlose und eben frei lebende Hunde bevölkern, lässt er sich über den Umgang der Stadt mit ihren quiltros berichten. Dabei referiert der Historiker namens Smith von den ›Modernisierern‹ der Stadt, denen diese Hunde ein Dorn im Auge seien, aber auch von den ›Modernitätsverweigerern‹, welche die perros vagos mit ihrer Nutzung von funktionslosen terrains vagues als Verbündete gegen den mit Profitinteressen verbundenen Umbau der Stadt sehen. Der Historiker erzählt Rolin dabei auch eine Geschichte von einem im Viertel unter dem Namen »Popular« bekannten Hund, der sich Tag für Tag in einer Bar gleichen Namens einfinde; nach anfänglich regelmäßigem Kontakt zwischen ihm und dem Hund habe er dessen Achtung verloren, als eines Abends ein Bekannter den Hund in betrunkenem Zustand grundlos angebellt habe: Popular m’a vu ce soir-là, et depuis il m’ignore, il ne me regarde même plus, et j’en suis très affecté, car ma relation avec le voisinage passait par lui. Le chien a toutes sortes de règles; on ne doit jamais imiter un chien quand on ne sait pas ce qu’on dit. 35

Kurze Zeit später erfährt man, wie die zunächst nicht näher spezifizierte positive Beziehung zu einem frei lebenden Hund in Valparaíso aussehen kann und welche unausgesprochenen Regeln des Zusammenlebens zwischen Mensch und Hund in der Stadt existieren: schlossen haben, gesucht und adoptier t wird; vgl. z.B. http://www.digitaljournal.com/ ar ticle/352830 (abgerufen am 24.09.2017). 34 | Vgl. zur Hundeliteratur in Chile am Beispiel des Romans Patas de Perro von Carlos Droguett (1965) den Beitrag von Cristián Montés in Subercaseaux 2014, S. 219–246. 35 | Rolin 2010, S. 197.

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Jörg Dünne La nuit, enchaîne Smith, les chiens ont une tâche spécifique (a special job) qui consiste à prendre soin des gens seuls, et surtout des ivrognes, pour les raccompagner chez eux sans rien attendre en retour. Ils sont comme des anges gardiens. Dans la journée, les chiens redeviennent des animaux et nous les envisageons de nouveau comme un problème. 36

Es geht hier also bei der speziellen Beziehung zu Hunden, von der hier (möglicherweise mit ironischem Unterton) berichtet wird, nicht um eine unmittelbar auf gegenseitigen Nutzen abzielende Ernährungs- oder Schutzgemeinschaft, sondern um eine Art höheren Kommensalismus, bei der sich der Hund betrunkenen Männern gegenüber in eine Art altruistischen Schutzengel verwandelt. Die Pointe dieser quasi-magischen Relation des Schutzes scheint letztlich darin zu bestehen, dass hier nicht die Menschen, sondern die Hunde als die ›höheren‹ Wesen erscheinen, die sich nachts ohne Erwartung einer Gegenleistung der armen Menschen erbarmen, obwohl sie es eigentlich gar nicht nötig hätten. Diese spezielle Beziehung zerbricht jedoch, sobald die Differenzen zwischen Tier und Mensch nivelliert werden, hier von einem Menschen, der sich mit einem Hund gemein machen will, ohne sich an die spezifischen Regeln einer Kontaktaufnahme zwischen den beiden Spezies zu halten. An diese Geschichte, von der Rolin nicht so recht weiß, wie ernst er sie nehmen soll, erinnert er sich kurze Zeit darauf, als er in einem Café mitten auf dem touristischen Cerro Alegre sitzt und ordentlich dem Rum zuspricht. Beim Aufbruch in sein Quartier fragt er sich dann, s’il est vrai, comme Ronald Smith le prétendait, que les chiens errants, habituellement si hargneux à mon endroit, témoignaient à l’égard des ivrognes d’une bienveillance angélique, et les raccompagnaient chez eux sans rien attendre en retour. 37

In diesem sicherlich mit einiger Selbstironie gesetzten Schlusspunkt seines Valparaíso-Kapitels macht Jean Rolin dennoch deutlich, dass die Annäherung an Hunde nur eine bestimmte Art von companionship zulässt, die zu einer freundschaftlichen Beziehung werden kann, ohne dass jedoch unmittelbare Analogien oder Ähnlichkeiten zwischen Hunden und Menschen sowie ihrem jeweiligen Verhalten den Grund dieser Beziehung bilden – das Imitationsverbot, das ihm sein britischer Bekannter einschärft, ist insofern durchaus auch als eine Aussage darüber zu verstehen, wie sich Jean Rolin die Relation zwischen Hund und Mensch vorstellt, d.h. als distanzierte Komplizenschaft ohne Animalisierung, aber auch ohne Anthropomorphisierung. ***

36 | Ebd., S. 198. 37 | Ebd., S. 202.

Der Kommensalismus der quiltros

Die in diesem Beitrag vorgestellten Überlegungen waren von Anfang an eng mit Jean Rolins Essay Un chien mort après lui verbunden. Im Anschluss an Rolin, jedoch mit stärkerer Fokussierung auf Lateinamerika ging es darum, eine von verschiedenen möglichen Geschichten von Hunden in Lateinamerika nicht nur als Geschichte einer linguistischen, sondern auch als einer geographischen Translationsbewegung zu rekonstruieren. Durch die Verschiebung der Fragestellung von Hunden als domestizierten, von Menschen in ihrem Lebensraum eingehegten Tieren zu frei lebenden Hunden, den perros vagos bzw. quiltros im chilenischen Spanisch, sollten dabei neue Perspektiven auf marginale soziale Räume eröffnet werden, die möglicherweise auch Anregungen für weitere Untersuchungen zu Hunden in der lateinamerikanischen Literatur und Kultur liefern können. Wie ich schließlich am Beispiel von meiner Auseinandersetzung mit dem Valparaíso-Kapitel in Jean Rolins Text zu zeigen versucht habe, steht bei einer solchen Fragestellung nicht nur die Schaffung von Aufmerksamkeit auf bestimmte soziale Räume auf dem Spiel, sondern auch die Art und Weise, wie diese Aufmerksamkeit literarisch gestaltet wird. Es geht um eine Art der Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten für eine interspezifische Relation, bei der die Frage, wie man als Mensch überhaupt über Hunde schreiben kann, nicht von vornherein klar ist. Jenseits der ›Selbstbespiegelung‹ von Menschen in ihren Haustieren38 lädt die Auseinandersetzung mit Tieren, die weder als komplett domestizierte Mitglieder eines oikos noch als das ›natürliche‹ oder ›wilde‹ Gegenstück zur menschlichen Kultur verstanden werden können, auch zu der Frage nach möglichen sprachlichen Darstellungstechniken der ›Relationierung‹ von Mensch und Hund ein: Welche Alternativen – so eine Frage, die im Rahmen des Beitrags zumindest aufgeworfen werden sollte, ohne vollständig beantwortet werden zu können – bestehen in sprachlicher Hinsicht zu einer In-Bezug-Setzung von Mensch und Hund über Analogiebildungen, die entweder Menschen animalisieren (die ›wilden‹ Kannibalen als hundsköpfige Menschenfresser) oder aber Hunde anthro­ pomorphisieren (die ›heldenhaften‹ Hunde der Conquista bzw. die ›unterwürfigen‹ indigenen Hunde im historiographischen Schrifttum der Kolonialzeit)? Gemeinsam ist schließlich all den hier skizzierten ›Hundegeschichten‹, dass sie sich nicht in den sprachlichen Vorstellungsraum einer literarischen Fiktion im engeren Sinn einpassen lassen: Literaten wie Jean Rolin, die ihre eigene Form der Feldforschung betreiben, suchen neue Formen der Engführung von materiellen und diskursiven Praktiken. Sie verstehen Literatur als Recherche und Reportage und grenzen sich dabei nicht nur gegenüber fiktionaler Literatur im engeren Sinn ab, sondern schaffen auch eine unerwartete Nähe zu wissenschaftlichen Recherchepraktiken, die im vorliegenden Beitrag ausgelotet werden sollte.

38 | Vgl. dazu grundlegend Jacques Derrida, L’animal donc que je suis, Paris: Galilée, 2006.

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Una trentina d’anni or sono, la redazione di un giornale budapestino era occupata, alla notte, da tre giovanotti di belle speranze. Tre scrivanie, tre nuvole di fumo, tre articoli-notiziari in gestione, un desiderio che era uguale per tutti e tre i giovanotti: viaggiare e conoscere il mondo. Il desiderio è stato poi esaudito, con una ‹piccola› differenza che riguarda due della triade: i quali, in più, si sono conquistati una fama universale. Quei due giovanotti erano Francesco Molnár ed Emerico Kálmán.1 L’ospitalità di Comoedia ha concesso al terzo ch’egli potesse scrivere ora di uno ora dell’altro dei suoi amici. Tocca adesso ad Emerico Kálmán, il compositore del quale si festeggiano dappertutto i dieci lustri di età. Dappertutto, compresa cioè la sua patria, per quanto si dica che in patria nessuno è profeta. 2

L’intervista, o semi-intervista che Ignazio Balla3 pubblicò su Kálmán, prende spunto da una visita del giornalista al compositore nella sua abitazione a Bad Ischl. 4

1 | Si tratta del quotidiano Pesti Napló. 2 | Così inizia Ignazio Balla l’articolo scritto su Imre Kálmán in occasione del cinquantesimo compleanno del compositore. Cfr. Bozze nel fondo Balla al Museo Teatrale di Budapest, Országos Színháztörténeti Múzeum és Intézet (d’ora in poi: OSZMI). L’articolo, uscito probabilmente su Comoedia nel 1932, modifica in parte la biografia di Kálmán, che contrariamente a quanto afferma Balla, era già da giovanissimo molto legato alla musica, anche se spinto dai genitori aveva concluso (senza dare gli esami finali) gli studi in legge, come del resto lo stesso Ferenc Molnár. 3 | Ho ancora avuto modo di incontrare a Nervi dove viveva, il figlio, Gabriele Balla, che ha conservato la corrispondenza del padre. Gabriele l’ha donata alla collezione del OSZMI. 4 | Imre Kálmán dopo il 1909, anno del suo primo grande successo a Vienna con l’operetta Manovre d’autunno (Ein Herbstmanöver), si trasferì a Vienna. Ignazio Balla, nel suo articolo assai romantico, attribuisce il trasferimento da Budapest al desiderio di non giocare

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Si conoscono bene i due primi fra i «giovanotti» ai quali l’articolo accenna, molto di meno il terzo, Ignazio Balla (Balla Ignác), l’autore dell’articolo.5 Balla intro­ duce, come spesso gli accade, il personaggio di cui scrive in modo molto personale, collocando anche se stesso in primo piano. Il giornalista che al momento della pubblicazione dell’articolo risiede ormai in Italia, e che ha trasformato il nome, come si usava all’epoca, in Ignazio Balla, era forse il più importante intermediario fra la cultura italiana e quella ungherese nel periodo fra le due guerre ed ebbe una carriera intrecciata con la cultura e con la politica dei paesi nei quali operava, sicuramente degna di interesse. Il presente articolo intende far luce sui canali attraverso i quali si trasmettevano la cultura italiana e quella ungherese e sui punti di intreccio fra le due culture. Mi avvalerò principalmente dell’attività di giornalista e di traduttore di Balla e in misura minore degli autori e compositori ungheresi in Austria, facendo inoltre particolare attenzione alle intersezioni tra politica e cultura.

L a carrier a di B all a – dall’A ustria -U ngheria all’I talia del V entennio fascista Balla nacque nel 1885 a Pécska, in Transilvania, allora appartenente all’Ungheria, divenuta rumena dopo il Trattato di Trianon alla conclusione della Prima guerra mondiale (oggi Pecica, Romania). Conobbe da giovane Ferenc Herczeg, scrittore e redattore di grandissimo prestigio della letteratura ufficiale ungherese, che fu deputato al parlamento di quella regione.6 Herczeg, nato nella cittadina di Versec (Vršac) della contea Bácska (oggi Bač, in Vojvodina, Serbia), era di origine sveva e di lingua tedesca (tant’è vero che parlò con sua madre per tutta la vita in tedesco). «A Versec si incontravano per strada svevi, serbi, rumeni: svevi di Torontal straricchi, grassi fino all’esplosione e balcanici stravaganti venuti dall’Antica Serbia. Tutto l’ambiente era cosmopolita, mondano e frivolo, ma aveva delle fondamenta sicure

troppo a carte, spiegazione divertente, che non è certo la vera ragione del suo trasloco da Budapest a Vienna. 5 | Cfr. Ilona Fried, Cultura e politica fra le due guerre: un tramite fra l’Italia e l’Ungheria. Ignazio Balla, in http://italogramma.elte.hu/ (ultima consultazione: 21.04.2018) e cfr. anche Id., Ferenc Molnár e i drammaturghi ungheresi in Italia. Spunti per la ricezione del dramma ungherese, in: Id., Il Convegno Volta sul teatro drammatico. Roma 1934. Un evento culturale nell’età dei totalitarismi, Corazzano: Titivillus, 2014, pp. 295–309. Sul teatro ungherese in Italia fra le due guerre cfr. Antonella Ottai, Eastern. La commedia ungherese sulle scene italiane fra le due guerre, Roma: Bulzoni, 2010. 6 | Herczeg venne eletto ben due volte secondo presidente dell’Accademia delle Scienze Ungherese.

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[…]».7 La Vojvodina, in cui era presente una numerosa comunità tedesca, era un’altra delle regioni che, oltre alla Transilvania, dopo il Trattato di Trianon (1920), vennero staccate dall’Ungheria. All’inizio della carriera Balla tradusse moltissime opere letterarie dal tedesco, dal francese e dall’italiano, fra le altre: il Decameron di Boccaccio, Cuore di De Amicis, opere di Grazia Deledda, di D’Annunzio, di Ada Negri, di Neera, di Matilde Serao, di Borgese, nonché Il piacere dell’onestà, il primo dramma di Pirandello ad essere messo in scena in Ungheria. Tradusse inoltre Heine, Balzac e Marcel Prévost. Come scrittore pubblicò, tra gli altri, romanzi biografici: Edison e Rotschild.8 I suoi romanzi biografici trattavano, forse non a caso, di self-made men di grande talento. Sarà in un certo senso un self-made man nella visione di Balla, più tardi, anche Mussolini, che però verrà presentato come genio che esercita il suo talento per il bene del suo paese.9 Il primo dopoguerra, con i grossi problemi economici presenti anche in Ungheria, trovò Balla impegnato come giornalista in viaggi e soggiorni più o meno lunghi in Italia. In uno di questi, Balla incontrò Mussolini caporedattore del Popolo d’Italia nel 1921, intervistandolo per il giornale Nap (Sole).10 Mussolini già allora si schierò a favore delle rivendicazioni revisioniste dell’Ungheria e in quell’occasione fece anche una dedica di incoraggiamento «al popolo ungherese». Balla successivamente fu molto fiero del fiuto politico che aveva avuto, e, a quanto pare, anche Mussolini conservò nei suoi ricordi il giornalista ungherese, come dimostrano le ulteriori interviste concessegli e le benemerenze che Balla ottenne.11 Balla nel 1925 si trasferì insieme alla famiglia definitivamente in Italia: nella sua biografia si vantò non solo di aver ricevuto tre decorazioni importanti (Cavaliere 1924, Croce di Cavaliere della Corona d’Italia 1927, Benemerenza di secondo grado 1929) ma anche di essere riuscito a iscriversi al partito fascista nonostante fosse uno straniero. La diplomazia culturale, come sempre, faceva anche parte della politica, i rapporti politici, come è ben noto, erano molto vivaci tra l’Italia e l’Ungheria in quel periodo. Balla pubblicò recensioni teatrali su Comoedia, e su Il Dramma e pubblicò molti articoli di divulgazione politico-culturale su quotidiani e riviste sia in Italia 7 | Hevesi, András, Herczeg Ferenc emlékezései, in Nyugat, 1933. 20. Figyelő, http://epa. oszk.hu/00000/00022/00564/17647.htm (ultima consultazione 21.08.2012). (Traduzione mia. Se non indicato diversamente, tutte le traduzioni dall’ungherese sono mie.) 8  | A Rothschildok, Budapest: Singer és Wolfner, 1912; Edison, Budapest: Singer és Wolfner, 1913, collana Karrierek (Carriere). Questi romanzi vennero tradotti anche in lingue straniere. 9 | A Duce és a dolgozó új Itália (Il Duce e la nuova Italia lavoratrice), Budapest: Singer és Wolfner, 1932. 10 | L’intervista uscì il 28 aprile 1921. 11 | Cfr. Ignazio Balla, Il Duce per l’Ungheria: interviste e memorie di un giornalista ungherese, Milano: Associazione «Amici dell’Ungheria», 1933.

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sia in Ungheria. Balla in questi anni ormai pubblicava molto di più in Italia che non in Ungheria. I suoi articoli uscivano su tantissimi giornali e riviste: sul Popolo d’Italia, sul Secolo XX, sull’Illustrazione Italiana, sul Corriere della Sera e sul Corriere della Domenica. Le sue recensioni di libri e articoli sul folklore o sulla cultura ungherese uscivano su Letteratura, Italia Letteraria, Arcilibro, Vie dell’Italia e del Mondo, Almanacco Letterario, o sul Corriere dei Piccoli, e altre testate.12 Oltre a un’eccezionale prolificità, una vasta cultura e molteplici interessi, Balla dimostrava grande disponibilità verso le persone cui si rivolgeva, con la convinzione professionale di rappresentare una cultura in cui credeva veramente, al di là dei vantaggi personali. È un’epoca d’oro sia per l’operetta, genere di grande successo che l’Ungheria condivideva con l’Austria, sia per la commedia e la narrativa ungherese (soprattutto, quella che a torto o a ragione è definita ‹d’intrattenimento›). I compositori, i drammaturghi, i giornalisti si erano formati all’inizio del secolo, nel clima di grande apertura culturale dell’Impero Austro-Ungarico. L’atmosfera particolare di Budapest, con la sua borghesia in parte di origine tedesca e in parte ebraica (nel 1920 più del 20% della popolazione era di origine ebraica), farà da sfondo alla commedia, all’operetta, al cabaret, che fioriscono proprio negli anni del primo Novecento. Proviene da questo ambiente il drammaturgo ungherese più noto, Ferenc Molnár. Se Balla trattava argomenti politici e letterari che seguivano i gusti della politica culturale ufficiale, d’altra parte si interessava anche a quelle opere che incontravano i gusti del pubblico italiano traducendo molti drammi di Molnár e degli altri drammaturghi e commediografi ungheresi. Quel modo di vivere almeno in apparenza spensierato ed elegante, eminentemente borghese, che faceva sognare il pub­blico italiano sotto il regime chiuso e antiborghese, era la vita multiforme, cosmopolita di Budapest, che del resto faceva da sfondo a molti film dell’epoca, comprese produzioni hollywoodiane. Era il periodo della grande popolarità delle commedie e della letteratura ungherese nel mondo, in Italia come anche in Austria, prima di tutto con le opere di Ferenc Molnár, di Ferenc Herczeg,13 di Ferenc Körmendi, di László Bús-Fekete, di Mihály Földi, di László Fodor e di altri. Molnár era notissimo a livello internazio­ nale e sarebbe troppo lungo elencare qui le sue opere tradotte in tedesco e messe in scena anche in Austria. Oltre a Liliom (1909), la sua opera più famosa, basti citare Der Gardeoffizier (Der Leibgardist) (1913), Der Schwan (1921), Theater (1922), Spiel im Schloss (1926), Olympia (1930), Eins, Zwei, Drei (1929). In quel periodo, uscirono due romanzi di Sándor Márai – recentemente di nuovo di grande successo. C’erano editori come Baldini & Castoldi o Bompiani, specializzati nella pubblicazione di autori ungheresi. Ma non soltanto Molnár: fra gli altri autori teatrali più

12 | Cfr. curriculum vitae, e corrispondenze, OSZMI, Balla. 13 | Basti qui citare fra gli altri romanzi tradotti in tedesco Auf Schloss Dolova (1912), Das Goldene Kalb (1937), Der Oberst (1914), Tilla (1921).

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conosciuti pure in Austria c’era László Bús-Fekete (1896–1971),14 che poi fece carriera, come altri suoi colleghi, a Hollywood. Erano autori che di solito non aderivano a formazioni politiche ma che rappresentavano una certa modernità borghese, cui si riferiva anche una nuova classe media (spesso ebraica). Di conseguenza, con le leggi razziali questa drammaturgia, questa letteratura, questa musica (l’operetta di Kálmán per esempio) erano destinate a scomparire dai palcoscenici e dalle librerie, e lo spirito che rappresentavano non era più tollerato dai regimi totalitari. Molti fra i rappresentanti di spicco di quella cultura emigrarono – la maggior parte negli Stati Uniti. Come è il caso di Kálmán o di Molnár. C’erano stretti contatti tra i teatri di Vienna (ma anche Berlino) e Budapest, basti pensare al teatro di Max Reinhardt, che esercitava una grande influenza su quello di Budapest, e nella cui compagnia c’erano anche attori ungheresi come Lili Darvas, terza moglie di Ferenc Molnár, o Oszkár Beregi. Anche il teatro di Pirandello arrivò in Ungheria per la prima volta tramite Reinhardt nel 1924.15 I teatri di Vienna, invece, rappresentavano soprattutto i drammi di Molnár fra i drammaturghi ungheresi, ma erano ivi noti anche altri autori, in particolare Ferenc Herczeg, mentre le traduzioni in tedesco venivano pubblicate in primo luogo in Germania. Nell’attività di Balla traduttore e divulgatore coesistevano l’esigenza di adeguar­ si alla politica culturale ufficiale e il desiderio di diffondere, attraverso la cultura, la conoscenza della propria nazione e l’immagine di una borghesia aperta alle correnti artistiche e sociali. Spesso, quando il traduttore non era lui, faceva premesse ai romanzi, come nel caso del romanzo di Ferenc Körmendi, Un’avventura a Budapest, che divenne un successo a livello mondiale e che ebbe almeno 16 edizioni in Italia e uscì con la prefazione di Balla.16 L’amicizia di Herczeg aiutò Balla nei suoi contatti politici in Ungheria, ma anche Balla aiutò Herczeg a diffondere il suo teatro, e le sue opere in Italia, facendone traduzioni, redigendo prefazioni, trattandone con editori e pubblicandone recensioni. Herczeg nelle sue opere, romanzi e drammi di buon livello letterario, cercava di dare una visione dell’Ungheria aristocratica e nobile facendone una rivisitazione storica in chiave patriottica. Contemporaneamente scrisse anche com-

14 | Tra i drammi di Bús-Fekete in tedesco ricordiamo, Franzi gastiert, Gold ist nicht alles, Jean, Juliska nonché Susy oder Suzanne? 15 | Michael Rössner, Auf der Suche nach Pirandello – Zur deutschen Pirandello-Rezeption der ersten Stunde anhand unveröffentlichter Regiebücher von Karlheinz Marti/Rudolf Beer und Max Reinhardt, in: Italienisch 16 (1986), pp. 22–38; Michael Rössner, La fortuna di Pirandello in Germania e le messinscene di Max Reinhardt in: Quaderni del teatro IX (1986) 43, pp. 40–53. 16 | Ferenc Körmendi (1900–1972), fuggendo le leggi razziali, si trasferì nel 1939 in Inghilterra, dove svolse attività antifascista collaborando alla BBC. Visse poi in Brasile e infine negli Stati Uniti. Cfr. Ilona Fried, Quel piccolo mondo parigino-ungherese. La commedia ungherese in Italia fra la due guerre, in: Nuova Corvina 5 (1999), pp. 59–68.

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medie alla maniera francese (forse non indifferente al grande successo di Ferenc Molnár), che sono ancora presenti sui palcoscenici ungheresi. Ferenc Herczeg, amico di Balla, era presente nell’alta società ungherese, ebbe ottimi contatti con il primo ministro Conte István Bethlen, con il ministro dell’istruzione e degli affari di culto Kuno Klebelsberg e aveva contatti personali anche con il Governatore Horthy. Nel primo dopoguerra Herczeg divenne promotore dell’irredentismo ungherese, presidente della società irredenta Magyar Revíziós Liga (Lega Ungherese per la Revisione) fondata grazie all’appoggio di Lord Rothermere, uno dei ‹baroni› della stampa, che nel giugno del 1927 pubblicò sul Daily Mail un articolo che sosteneva le rivendicazioni territoriali dell’Ungheria (Balla, dopo il 1925 era ormai residente in Italia ed era uno dei cinque rappresentanti esteri di quella società).17 Su raccomandazione di Herczeg, nel 1927 Balla poté accompagnare durante le visite il ministro Kuno Klebelsberg e István Bethlen, primo ministro. Quest’ultimo firmò l’accordo di amicizia fra l’Italia e l’Ungheria, in un periodo di particolare intensità nei rapporti tra i due paesi. Ed è quello il momento in cui László Bárdossy, allora consigliere ministeriale, capo sezione per la stampa e per la propaganda del Ministero degli Esteri ungherese, riuscì a fornire a Balla notizie da divulgare in Italia e a raccomandare al Ministero i giornalisti che avrebbero visitato l’Ungheria.18 Nella sua autobiografia, Balla parla di più di 30 romanzi, della traduzione di più di 100 drammi (sempre insieme a un traduttore di madre lingua) e di più di 1000 articoli su giornali italiani e di altrettanti su giornali ungheresi.19 Forse esagera un po’, ma la quantità delle opere da lui prodotte è impressionante. Doveva essere un lavoratore instancabile, con una grande facilità nello scrivere. Gli argomenti da lui trattati sono assai vari. Come autore ebbe grande successo con il testo della canzone pseudo-popolare nello stile del folklore ungherese-zigano (un genere di gran moda allora) Sul viottolo degli zingari di Pécska, cioè della sua cittadina natale.20

17 | Zeidler, Miklós, A Magyar Revíziós Liga, http://www.rubicon.hu/magyar/oldalak/a_ magyar_revizios_liga/1997/8. Államformák | 1997/5-6. Európa | 1997/3-4. Titokzatos ókor | 1997/2. Békerendszerek | 1997/1. Horthy-rendszer | (ultima consultazione 19.07.2016). 18 | In seguito, Bárdossy fu ministro degli esteri e, tra il 1941 e il 1942, primo ministro. Fu lui a presentare al parlamento ungherese la terza legge razziale, a dichiarare guerra all’Unione Sovietica e a entrare in guerra. Finì poi condannato a morte nel 1946. 19 | OSZMI, Fondo Balla, 92.998. 20 | La canzone figura ancora fra quelle seguite ancora oggi, dal titolo A pécskai cigánysoron.

Contatti culturali tra l’Italia, l’Ungheria e l’Austria durante il Ventennio

L a corrispondenz a La ricca corrispondenza di Balla fa intravedere i tantissimi contatti che il traduttore­ giornalista-scrittore-redattore aveva nei vari periodi della sua attività e mostra come funzionasse la trasmissione culturale dell’epoca e gli eventuali legami tra cultura e politica. Oltre ai due corrispondenti più importanti di Balla, Ferenc Herczeg e Ferenc Molnár, egli ebbe scambi di lettere con scrittori, poeti di spicco e anche con esponenti della cultura ufficiale ungherese e della politica, come Bárdossy, citato sopra. Balla aveva rapporti anche con Arnaldo Mussolini e per suo tramite con l’editoria ufficiale del Duce. Molti erano i suoi contatti con case editrici e non solo con Alpes, Eroica, Corbaccio, ma anche con quelle non legate strettamente al regime, come Treves, Bemporad, Cappelli. Vari personaggi di spicco della vita politica ungherese mandavano a Balla i loro suggerimenti perché fossero pubblicati nei suoi articoli: così Miklós Horthy, Gyula Gömbös,21 l’Arciduca Ferenc József, e altri.

B all a e l a politica Nelle sue pubblicazioni sull’Ungheria Balla trasmetteva un’immagine dell’Ungheria che potesse soddisfare i gusti del ceto medio italiano: l’Ungheria compariva come terra ricca di tradizioni e di folklore, dai bei caffè, in cui i ceti medi trascorrevano una vita agiata e confortevole, rallegrati dalla buona cucina e dai bravi musicisti zigani, dove il turista si trovava a suo agio. Balla non ha mai ottenuto impieghi o decorazioni in Ungheria. Nel 1932 ne scrive in una lettera: Per quel che riguarda quella mia cosa – si tratta di un affare molto confidenziale e ti prego di non prenderne atto perché potrei avere inconvenienze in proposito – sono stato informato, che per il titolo di consigliere del governo ci vogliono soldi. Ma purtroppo da me possono desiderarli in vano, perché non ho neanche la minima cifra che mi hanno chiesto. È vero che si tratta veramente di una cifra minima – altri sono disposti a pagare anche quattro–cinque volte di più e ben volentieri: ma io non ce l’ho... In questo modo si conclude in negativo. Ti prego di non scomodarti di più in proposito. 22

Balla chiede a Herczeg di tenere segreto il contributo che prende dal Ministero degli Esteri Ungherese e dalla Lega Irredenta e confessa a Herczeg un altro grande segreto:

21 | Gyula Gömbös (1886–1936) fu fondatore del Partito della Difesa della Razza nel 1928 che poi si sciolse, il governatore Horthy lo nominò primo ministro nel 1932. 22 | Lettera a Gyula Pekár.

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Ilona Fried […] finalmente dopo molte grandi liti a Roma, al Ministero della Propaganda, ovvero al Ministero della Cultura, sotto la spinta del dittatore teatrale De Pirro abbiamo concluso il contratto: sono stato nominato esperto di teatro ungherese, ma io, da parte mia, ho l’obbligo di cedere il 20 % dei miei proventi teatrali... D’altra parte ho la promessa che non ci saranno difficoltà per rappresentare drammi ungheresi: ci sarà a sostenerci lo stesso stato, con la propria influenza presso le varie compagnie. E del 20 % (e degli altri redditi) vogliono fare propaganda all’estero perché siano rappresentati drammi italiani. (Mentre invece non è la propaganda che ci vuole! Ci vorrebbero drammi italiani buoni.) 23

Quest’incarico teatrale doveva rimanere segreto perché ufficialmente era incon­ ciliabile con l’incarico ungherese che ricopriva, ma in realtà non sembrava disturbare l’attività di Balla.

L o spe t tacolo ungherese (austriaco) in I talia «Ambasciatore della cultura ungherese in Italia», lo definì il noto scrittore-poeta Dezső Kosztolányi quando gli scrisse chiedendogli aiuto per pubblicare in Italia il suo libro, Nerone poeta insanguinato (le lodi possono essere anche interessate); d’altra parte, però, non era casuale che il noto autore si rivolgesse proprio a Balla.24 Nelle raccolte di novelle ungheresi da lui pubblicate Balla cercava di combinare le esigenze politiche con i valori letterari: così scrittori di alto livello stavano insieme ad altri autori con forti appoggi politici. A Milano, Balla per diffondere idee irredenti poteva disporre dell’associazione «Amici dell’Ungheria» – che aveva allora tante filiali,25 e come presidente Dino Alfieri, la cui personalità rivela l’importanza assunta dall’associazione. Balla consigliava anche ospiti italiani per le autorità ungheresi, così intorno al 1929–30 compaiono nell’elenco Giuseppe Antonio Borgese, in quanto inviato del Corriere della Sera, Margherita Sarfatti, in quanto biografa di Mussolini e altri.26 Scrive 23 | OSZK Kézirattári Növedéknapló 1954 év 97. sz., Milano, 25 settembre 1937. 24  | Il romanzo alla fine è uscito in Italia molto probabilmente senza l’aiuto di Balla, dovuto a probabili conflitti di interessi tra Antonio Widmar, traduttore del libro, un altro intermediario importante della cultura ungherese in Italia, che invece visse in quegli anni a Budapest. Sulla storia della pubblicazione, cfr. Ilona Fried, Fiume, Budapest: Enciklopédia Kiadó, 2004, pp. 279–281. 25 | L’associazione faceva parte della rete irredentista fondata con l’appoggio di Lord Rothermere. Ignazio Balla figurava anche come uno dei cinque, cfr. Miklós Zeidler, A Magyar Revíziós Liga, Rubiconline 1(1997), http://www.rubicon.hu/magyar/oldalak/a_magyar_ revizios_liga/ (ultima consultazione 21.04.2018). 26 | Országos Széchényi Könyvtár, d’ora in avanti OSZK, Kézirattár 1942/7, 26 febbraio 1926, torna alla questione dell’invito di Borgese ormai molto concretamente anche qualche settimana più tardi, il 27 maggio.

Contatti culturali tra l’Italia, l’Ungheria e l’Austria durante il Ventennio

prima del congresso internazionale del Pen Club del 1932: «Durante il recente viaggio che ho fatto ho incontrato Marinetti che come dice parteciperà al convegno del Pen Club a Budapest. Tenetelo sotto controllo che non torni con delle informazioni sbagliate.»27 La corrispondenza con Ferenc Molnár è molto cordiale e di stima reciproca. Di Molnár furono rappresentati circa 35 drammi durante il Ventennio, messi in scena dalle compagnie e dagli attori migliori con molto successo. (Oltre a Ferenc Molnár, Ferenc Herczeg e László Bús-Fekete già citati sopra, erano molto popolari commediografi come László Fodor, László Aladár, Jenő Heltai, o il drammaturgo Dezső Szomory e altri.) Molnár del resto era noto anche per il suo romanzo, I ragazzi della via Pál, uscito in tante edizioni e in varie traduzioni. I critici teatrali più noti recensivano Molnár con grande stima – personaggi per esempio come Silvio D’Amico, Guido Lopez o Renato Simoni. Marta Abba fece di tutto per ottenere i diritti d’autore per presentare un’opera di Molnár.28 Il suo teatro era molto seguito anche in Austria, in modo particolare negli anni ’20 e ’30, sino all’avvento delle leggi razziali. Teatri come l’Akademietheater (Burgtheater) e il Theater in der Josefstadt mettevano in scena regolarmente drammi di Molnár: la sua commedia Der Schwan (Il cigno) fu rappresentata ben tre volte (1921, 1923, 1931). Erano note, fra le altre, commedie come Der Garde­ offizier, Liliom, Olympia, Spiel im Schloß, Theater, Eins, zwei, drei ecc. Ma il genere che ha legato davvero l’Austria e l’Ungheria fu l’operetta con Kálmán e Lehár che vissero in Austria. Balla contribuiva a diffondere le loro opere in Italia. Nella corrispondenza conservata all’Archivio e Museo Teatrale di Budapest si trovano sette lettere di Imre Kálmán scritte tra il 22 gennaio 1927 e il 10 Novembre 1932 indirizzate a Ignazio Balla. Kálmán scrive in tedesco, iniziando le lettere spesso con »Lieber Freund» e Balla probabilmente (le sue lettere mancano) gli scriveva, come nel caso di Lehár, in ungherese (quanto a Lehár, la situazione è contraria: restano solo due note del compositore e sono state conservate invece sette lettere e un telegramma di Balla – il primo scrive in tedesco, il secondo in ungherese). La sempre maggiore chiusura della cultura italiana rendeva più difficile la presentazione di drammi ungheresi. Balla si lamenta nel 1941: «La stagione teatrale non sembra proprio alla grande... hanno (di nuovo!) iniziato un movimento forte contro l’invasione straniera nel campo della letteratura e del teatro. Lo scrivono apertamente: si tratta di cose americane, inglesi, francesi e ungheresi e il quotidiano romano del Vaticano, l’Osservatore Romano è pure di quel parere [...].»29 Balla accenna ad argomenti vietati per gli autori stranieri: «uno scrittore straniero non deve presentare un suicida (ma Pirandello sí)» mentre si lamenta anche della len27 | A Gyula Pekár, OSZK Kézirattár 1942/7, 5 maggio 1932. 28 | Ilona Fried, Le «favole gaje» di Molnár – Pirandello sul drammaturgo ungherese, in: Nuova Corvina 22 (2010), pp. 106–112. 29 | OSZK Levelestár 83, 21 aprile 1942.

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tezza della censura. (Gli argomenti vietati secondo il suo parere per gli stranieri erano ormai certamente vietati anche per gli italiani. Pirandello allora era già morto da cinque anni.)

Q uando l a politica entrò nell a vita privata Ignazio Balla e la famiglia non riuscirono ad evitare le persecuzioni in seguito alle leggi razziali, però in qualche modo riuscirono ad evitare, a differenza della stragrande maggioranza degli ebrei stranieri, l’estradizione e probabilmente si nascosero negli ultimi due anni della guerra.30 Le lettere di Herczeg in seguito alle leggi razziali in Ungheria del 1938 che imponevano anche la cancellazione dei giornalisti ebrei dall’albo dei giornalisti sono piene di dispiacere, di rimorso: aveva cercato di aiutare l’amico in tutti i modi e si rammarica di non esserci riuscito. Lui, rappresentante per eccellenza della classe media conservatrice, irredentista è deluso dal potere emergente. Scrive a Balla: «Il rendere noto la cancellazione dell’albo dei giornalisti è stato accolto da sbigottimento e rabbia generale. Sono stati estromessi vecchi giornalisti professionisti e invece inclusi a dozzine ratti sconosciuti.» E poi prosegue ancora: «Su ogni campo della cultura è l’invidia di quelli privi di talento a schiacciare tutto. Suona l’ora della glorificazione degli imbecilli.»31 Arriva a scrivere nel 1940 a Balla: «Caro Amico! È veramente fonte di grande dispiacere quello che vi sta succedendo. Questo triste svolazzare fra cielo e terra che una famiglia per bene ed eccellente è costretta a sopportare è disgustoso e scandaloso. Giuro sulla mia anima che arrossisco in nome di tutta l’umanità, che rende triste e insopportabile la propria vita. Ti ammiro perché in mezzo a circostanze del genere hai ancora voglia di occuparti di cose di poco conto come il mio Bisanzio. Ti sono molto riconoscente per questa tua preoccupazione.»32 In questo periodo Balla riferisce a Herczeg quanto egli stia cercando di fare attraverso l’Ambasciata Ungherese per ottenere la proroga del permesso di soggiorno.33 Nel 1943 Herczeg consiglia a Balla di rimanere in montagna, e di andare a Milano solo raramente. La loro corrispondenza si interrompe fra il 1943 e il 1945 e si riprende nel secondo dopoguerra. Balla prosegue con le pubblicazioni anche nel secondo dopoguerra e poi negli anni ’50 e ’60, malgrado il fatto che in quel periodo era ormai difficile pubblicare certi autori una volta cari al pubblico italiano. 30  | Archivio di Stato di Roma, SPD CO fasc. 16911. Sulla mor te del genero di Balla, il tenente Mario Sanguineti caduto in un incidente aereo, e la richiesta della figlia Bianca Balla Sanguineti del 17 febbraio 1939 di un’udienza per ottenere un permesso speciale per i suoi in modo da evitare l’estradizione. 31 | OSZMI 92.337/353, 3 maggio 1939. 32 | OSZMI 337.364, 25 aprile 1940. 33 | OSZK Kézirattári Növedéknapló 1954 év 97. sz.

Contatti culturali tra l’Italia, l’Ungheria e l’Austria durante il Ventennio

E pilogo La carriera e le opere di Balla offrono l’immagine di un intermediario culturale (della trasmissione culturale) che ha operato in un periodo molto proficuo per la cultura di tre paesi altrettanto complessi – in definitiva, in un periodo che sfociò in dittature, tragedie senza precedenti – visti gli interessi comuni e le alleanze politiche che li legavano. Ciò implicava anche certe prese di posizione da parte di un divulgatore culturale e politico quale era Balla. Legato agli orientamenti ufficia­ li del suo paese, Balla nella sua integrità culturale e politica era un rappresentante per eccellenza della cultura conservatrice ungherese, patriottica e irredentista. Egli collabora con la politica che diffondeva l’attacco al trattato di pace, di cui non riuscì ad elaborare il trauma delle conseguenze per l’Ungheria, ed era pronto a servire la cultura ufficiale che sentiva propria, ma allo stesso tempo era sensibile ai grandi rappresentanti della letteratura non sempre conformi ai suoi gusti personali. D’altra parte, attraverso la grande produzione delle commedie ungheresi Balla diffondeva una cultura borghese moderna che suggeriva una forma di evasione a un vasto pubblico, affascinato dalla spregiudicatezza elegante di un mondo assai lontano da quello dell’Italia fascista, che però qualcuno neanche nella cultura ungherese la trovava abbastanza ungherese. Più di qualsiasi altra persona Balla stimava Ferenc Herczeg, amico intimo malgrado la notevole differenza d’età, di origini e anche di stato sociale, rappresentante per eccellenza di una cultura ufficiale ungherese, come anche rappresentante dell’irredentismo ungherese. Quale che fosse il credo politico di Balla, era un autentico giornalista capace di diffondere oltre al suo anche il parere altrui. Quanto al fascismo italiano, Balla è stato probabilmente condizionato per tutta la vita dal saggio scritto su Mussolini dopo averlo intervistato sulla questione delle rivendicazioni ungheresi. È inevitabile comunque chiedersi come abbia potuto un giornalista ungherese ebreo, non solo farsi portavoce di personaggi di spicco della politica culturale ungherese antisemita, come Gömbös, Cécile Tormay o altri ancora, ma restar fedele allo stesso Mussolini anche dopo la Seconda guerra mondiale e la Shoa. D’altronde, la destra politica e culturale ungherese irredentista e spesso antisemita, non ha esitato, quando le faceva comodo, ad approfittare dell’attività di un giornalista ebreo, per poi perseguitarlo. Ci si può chiedere come Balla abbia vissuto la seconda guerra mondiale, e prima ancora le leggi razziali: come abbia sopportato che personaggi di potere della società politica e culturale che prima si rivolgevano a lui, servendosi del suo appoggio, lo avessero escluso dalla vita sociale, minacciando la sua stessa esistenza. La vita e l’attività di Balla, in equilibrio instabile tra contraddizioni e problematiche, si colloca all’incrocio delle correnti culturali e politiche che hanno fatto capo alle grandi tragedie del Novecento. Suo figlio Gabriele, in occasione del nostro incontro, parlava di suo padre con grande rispetto, anche quando ricordava che egli non era mai venuto meno alla

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sua fedeltà a Mussolini, fino alla morte, avvenuta in tarda età nel 1976 a Nervi. Gabriele, invece, dopo la tragica morte nell’incidente aereo del cognato, aveva imboccato una strada diversa, scegliendo di combattere con i partigiani contro il fascismo. E non è diventato né un giornalista né un letterato, ma un economista.

Viel Puppe und ein wenig Zwerg Žižek, Benjamin und die Gruppe 47 in wechselseitiger Übersetzung Christoph Leitgeb

Wie und durch welches Subjekt kommt Sinn in die Geschichte? Walter Benjamins Allegorie des Zusammenspiels von Zwerg und Puppe nähert sich dieser Frage, indem sie zugleich viele Möglichkeiten einer Antwort versperrt. Der Sinn der Geschichte leitet sich nach dieser Allegorie weder transzendental von einer göttlichen Vorsehung ab noch ist er historistisch-immanent in einem sich selbst verwirklichenden ›Geist‹ der Geschichte verankert. Auch kein autonom gedachtes Subjekt schreibt Geschichte eine jeweils subjektive Bedeutung zu. Die aufgezählten Ausschlüsse für das Nachdenken über Geschichte nach Benjamin deuten sich auch in einem relativ unbekannten Text Heinrich Bölls aus der unmittelbaren Nachkriegszeit an. Die heimlich bespielte, lebendig erscheinende Puppe führt dabei wie in anderen Texten der Gruppe 47 die Implikationen einer Theorie des Unheimlichen mit sich.

S l avoj Ž ižek und W alter B enjamin 2003 veröffentlicht Slavoj Žižek sein Buch Die Puppe und der Zwerg.1 Darin typisiert er Buddhismus, Judentum und Christentum, indem er ihre Jenseitserwartung, ihren Realitätsbezug und ihre Ethik auf psychoanalytische Thesen von Jacques Lacan bezieht. Wie etwa wirkt sich die christliche Perspektive auf eine Erlösung, die seit der Menschwerdung Gottes auch immer schon stattgefunden hat, und wie die jüdische Perspektive auf die Erlösung in einer unbestimmten Zukunft auf die jeweils geschichtsphilosophische Lektüre der Gegenwart aus?

1 | Slavoj Žižek, Die Puppe und der Zwerg – Das Christentum zwischen Perversion und Subversion. Aus dem Englischen von Nikolaus G. Schneider, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003.

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Žižek versucht, das Dogma vergangener oder zukünftiger Verwirklichung des ›göttlichen‹ Gesetzes in Hinblick auf Lacans Begriff des »Realen« zu dekonstruieren. Dazu betont er für die christliche Religion, wie Paulus mit seinen Briefen in das orthodoxe Judentum interveniert. Die Paulinische Forderung nach einem Ethos der Liebe sei die nach der Subversion des Gesetzes. Žižek stellt so einen Zusammenhang zwischen christlicher Gläubigkeit und Dekonstruktion her: Nicht der Wunsch nach der Erfüllung eines Gesetzes treibe das Begehren in der Liebe, sondern das Bewusstsein, dass die Erfüllung jedes Gesetzes das vom Begehren in der Liebe gemeinte »Reale« notwendig verfehlt. Die Kehrseite dieser abstrakten Typisierung identifiziert Judentum und Gesetz. Das hindert Žižek nicht daran, den Titel seines Buches als Übersetzung der ersten geschichtsphilosophischen These aus Benjamins 1940 entstandenem Essay Über den Begriff der Geschichte einzuführen, einem der letzten Texte vor Benjamins Tod auf seinem scheiternden Weg ins Exil. Gleich in seiner ersten These entwickelt Benjamin eine Spannung von »Theologie« und »historischem Materialismus« am Beispiel des barocken »Schachtürken« von Wolfgang von Kempelen. Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen ist, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzug erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man »historischen Materialismus« nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen. 2

Als allegorisch-theologische Figur hat Benjamins Essay denselben geistesgeschichtlichen Zusammenhang von Theologie und historischem Materialismus im bekannten »Engel der Geschichte« skizziert. Der Engel wendet sich der Vergangenheit und damit seiner Herkunft aus dem Paradies zu, im Zwischenraum, der zur Geschichte wird, türmt sich die Vergangenheit auf, nicht in der Verwirklichung eines Gesetzes, sondern als kontingentes Trümmerfeld einer Katastrophe. Das ist der melancholische Gestus von Benjamins Essay insgesamt: Der Historiker kann unmöglich eine Heilsgeschichte schreiben. Er kann allenfalls Bruchstücke der Vergangenheit finden, die ihm in ihrem Bezug zur Gegenwart allegorisch einleuchten, mit einem Licht, das nicht nur aus ihnen, sondern auch von anderswo kommt.

2 | Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977, S. 251.

Viel Puppe und ein wenig Zwerg

Sowohl Žižek als auch Benjamin skizzieren mit ihren Texten den Abschied von einer orthodox-marxistischen Geschichtsphilosophie, die historistisch einen ›Eigensinn‹ von Geschichte als große Erzählung konstruiert. Im Stil der Übersetzung über eine kulturelle Epochengrenze hinweg bezieht sich Žižeks Titel dabei ausdrücklich auf Benjamins Essay. Er transponiert Thematik und Metaphorik in den Zusammenhang eines wieder aufkeimenden religiösen Fundamentalismus vom 20. in das 21. Jahrhundert. Dazu besetzt er die Rollen von Puppe und Zwerg ironisch gleich doppelt neu. Einerseits verkörpert in seinem Text die Puppe die Theologie und der Zwerg den historischen Materialismus; andererseits übernimmt die Puppe trotz des ihr eingeschriebenen Status als lebloses Ding die Rolle als beherrschendes Subjekt: »Gewinnen soll immer die Puppe, die man ›Theologie‹ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie den historischen Materialismus in ihren Dienst nimmt, der heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.«3 Die Puppenmotivik entfaltet in beiden Texten zugleich eine metatextuelle Funktion im Sinne einer These von Monika Schmitz-Emans. 4 Žižek und Benjamin setzen nicht nur inhaltlich ein bestimmtes Geschichtsbild in Szene, sondern zugleich eine Form. Die Texte entwerfen eine Rhetorik der Erinnerung, welche die große Erzählung geschichtlichen Sinns ablösen soll. Auch diese Form ist Gegenstand der Übersetzung Žižeks: Die Allegorie bestimmt Benjamins »Thesen« als rhetorisches Mittel. Die Analysen Žižeks ironisieren auch dieses rhetorische Verfahren, indem sie den Rest der transzendentalen Würde im »allegorischen« Zusammenhang durch den ›materialistischen‹ Bezug auf Triviales und Populärkultur konterkarieren.

H einrich B öll 1951 veröffentlicht Heinrich Böll eine Erzählung unter dem Titel Der Zwerg und die Puppe.5 Žižeks Titel ist eine wörtliche Umkehr des Titels von Böll, ohne dass sich sein Text irgendwie auf diesen Autor bezieht. Žižek weiß wahrscheinlich gar nicht um Bölls relativ frühen Text; auch dessen Zusammenhang mit Benjamins erster These ist bisher noch nicht diskutiert. In Bölls Erzählung befragt ein Ich-Erzähler im Nachkriegsdeutschland für ein empirisch Meinungen erhebendes »Intelligenz-Institut«6 ausgewählte Bürger nach ihrem Verhältnis zu Gott. Žižeks Diagnose ca. 50 Jahre später entspricht 3 | Žižek 2003, S. 7. 4 | Vgl. Monika Schmitz-Emans, Eine schöne Kunstfigur? Androiden, Puppen und Maschinen als Allegorien des literarischen Werkes, in: Arcadia 30 (1995), S. 1–30. 5 | Heinrich Böll, Der Zwerg und die Puppe, in: Ders.: Nicht nur zur Weihnachtszeit, München: dtv, 1992, S. 35–41. 6 | Böll 1992, S. 37.

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auffallend dem Befund dieser früheren, fiktiven Befragung. »Wir haben es heute mit einer Art ›suspendiertem‹ Glauben zu tun, einem Glauben, der sich nur dann entfalten kann, wenn er (in der Öffentlichkeit) nicht vollständig eingestanden wird, sondern ein privates obszönes Geheimnis bleibt. Im Widerspruch zu dieser Haltung sollte man jedoch mehr denn je zuvor darauf beharren, daß die ›vulgäre‹ Frage ›Glauben Sie wirklich oder nicht?‹ von entscheidender Bedeutung ist und zwar möglicherweise mehr denn je zuvor.«7 Bölls Protagonist reist von Opladen über Düsseldorf nach Gelsenkirchen einem Befragungsplan nach, schläft dann im Zug ein und fährt so versehentlich wieder nach Opladen zurück. Motivische Wiederholung überlagert diesen Handlungsrahmen und bricht ihn auf, indem sie die Aufmerksamkeit des Protago­ nisten immer wieder auf Darstellungen des künstlichen Menschen richtet. In Opladen fällt ihm auf einem Fensterbrett ein »Porzellanzwerg mit einer Ziehharmonika«8 auf, bei seiner zweiten Befragung bemerkt er auf einer Abbildung in einem Tabakladen »einen Türken mit Fes«9 . Die Darstellungen dieser Figuren werden motivisch weiter vernetzt: Der Porzellanzwerg dient als Aschenbecher, in seiner »hohlen Mütze« steckt eine Zigarette, der Türke lässt »seine Zigarette sinnlos zwischen den Fingern verqualmen«; der Porzellanzwerg »grinste ins Unbestimmte hinein«, der Türke »grinst« einer Moschee zu.10 Im Grinsen dieser künstlichen Figuren lacht der Protagonist nicht mit. Das Leben der Geschichte ist den Figuren von anderswo her gespenstisch eingeschrieben, es ist keines, das der Protagonist auf sie projiziert. In seinen Interviews nimmt der Ich-Erzähler außerdem selbst Züge eines künstlichen Menschen an: »Ich habe die Gewohnheit, die Einleitung absichtlich herunterzurasseln, auch die Fragen abzuleiern, um den Eindruck des Unpersönlichen zu erhöhen.«11 In seiner letzten, geplanten Station Gelsenkirchen multiplizieren sich die äußeren Bilder des künstlichen Menschen in einem Friseursalon um ihn herum: ein »sehr zufrieden« lächelnder Herr, der für Rasiercreme wirbt, eine Filmschauspielerin, »die längst schon vergessen war, hier aber noch als die schönste Frau des Jahrhunderts galt«, und »das humane Gesicht eines Generals, der beteuerte, daß er unschuldig sei; woran stand nicht da.«12 Unter diese Bilder mischt sich im Spiegel sein »hilfloses« Gesicht; dann wird er, rauchend, unerwartet Gegenstand einer Befragung durch das eigene Institut. Die Unterbrechung des alltäglichen Lebens durch den Krieg dissoziiert den Protagonisten von den alten Bildern seines Lebens, die sich vereinzeln und dadurch umso schärfer als künstliche erscheinen. An der Projektionsfläche alter 7 | Žižek 2003, S. 8. 8 | Böll 1992, S. 35–36. 9 | Ebd., S. 37. 10 | Ebd., S. 36. 11 | Ebd., S. 37. 12 | Ebd., S. 39.

Viel Puppe und ein wenig Zwerg

Konventionen wird die Geschichte des Lebens fantastisch. Das zeigt sich zugleich in den unterschiedlichen Versuchen der Befragten, Gott zu beschreiben. Sie behandeln zum Teil Gott selbst als Puppe, auf die sie ihre Befindlichkeit projizieren: »Gott ist traurig […] wir müssen ihn trösten«, 13 antwortet die erste Befragte. Die zweite projiziert den historischen Materialismus in den Himmel und löst dadurch ein verständnisvolles »Lächeln« zwischen sich und dem Protagonisten aus: »Es gibt zwei Götter, einen Gott der Reichen und einen Gott der Armen. […] Der eine ist hart und machtlos […], und der andere ist sanft, aber gewaltig – gewaltig.«14 Der Protagonist der Erzählung aber antwortet schlicht: »Ich bin Christ.« Er verzichtet damit auf das Spezifische der vorhergehenden Projektionen und löst damit als ungläubige Nachfrage aus: »Schön – wirklich?«15 Mit den künstlichen Figuren entsteht bei Böll das Bild eines vereinzelten Protagonisten in der Gesellschaft vereinzelter, von jedem gesellschaftlichen Zusammenhang abgeschnittener Menschen. Weil er im Zug auf der Rückfahrt einschläft, kehrt der Protagonist Bölls wie unfreiwillig nach Opladen und zum Haus seines ersten Interviews zurück. Dort winkt er einer »struppigen« Puppe zu, die ein Kind neben dem bereits geschilderten Porzellanzwerg aus dem Fenster schauen lässt. Gerade weil sich das Kind im Spiel mit seiner Puppe identifiziert, er­ schrickt es, als der Erzähler mit dieser Geste seine Isolation durchbrechen möchte. Es stößt im Schreck den Zwerg zu Boden, und der Erzähler befürchtet, dass es für dieses Missgeschick bestraft werden wird.

U nheimliche P uppen Weder Žižek noch Benjamin erläutern die Konnotationen, welche ihre Inszenierung des »Schachtürken« als Allegorie mit sich führt. Indem der »Automat« die Schatten seines Wirkens nach außen statt nach innen projiziert, invertiert er gewissermaßen das platonische Höhlengleichnis. Nicht nur der Zweck der Täuschung im historischen (Pseudo-)»Automaten« ergibt das Bild einer vielfachen Vermittlung und Störung von Kommunikation über historische Realität. Auch die Art des Zusammenspiels von Zwerg und Puppe schließt aus, dass sich ein Sinn der Geschichte aus einer (im Sinne von Habermas) öffentlich-transparenten Kommunikation über ein gemeinsames Gedächtnis ergibt. Durch das heimliche Spiel mit der Puppe wird der Zwerg mit einem Buckel über das zum Zweck des Automaten notwendige Maß hinaus verformt. Er wirkt isoliert und versteckt als gespenstische Figur, die man im Spiegel eben nicht sieht. Puppe und Zwerg sind in ihrem Agieren aufeinander angewiesen, was bis zu einem gewissen Grad auch ihre Austauschbarkeit nahelegt. Das von der Alle13 | Ebd., S. 37. 14 | Ebd., S. 38. 15 | Ebd., S. 40.

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gorie suggerierte Schauspiel konnotiert eine über mehrere Stationen medial vermittelte, asymmetrische Kommunikation in der Produktion von Geschichte. Wer naiv von außen über die Produktion dieses »Automaten« reflektiert, wird letztlich auf sich selbst zurückgeworfen. Als mediale Projektionsfläche für einen Kommunikationsteilnehmer, dem der einfache Blick auf die Wirklichkeit verstellt ist, hat eine Theorie des Unheimlichen seit Sigmund Freud 16 – genauer, seit Ernst Jentsch17 – das Motiv der Puppe allgemein analysiert. Warum ist also Bölls Gestaltung dieses Motivs, ist seine allegorische Wendung bei Benjamin und Žižek nicht unheimlich in dem Sinn, den diese Theorie vor allem an E.T.A. Hoffmanns Sandmann18 und der Puppe Olimpia diskutiert? Muss das Unheimliche der Puppe immer als lebendige Wirkung des künstlichen, leblosen Objekts gedacht werden, als Menschwerdung der Puppe? Warum sollte es nicht umgekehrt als zunehmende ›Verkünstlichung‹ des Menschen, als Automatisierung des Lebendigen gedacht werden? Die Fragen skizzieren die Alternative ungenau, denn schon der Text Hoffmanns kennt beide Aspekte und bezieht sie aufeinander: die unheimliche Ver­ lebendigung der Puppen-Geliebten Olimpia und die tote Puppenhaftigkeit des geliebten Menschen Clara. Die Theorie des Unheimlichen allerdings betont den ersten Aspekt. In diesem Sinn entwickelt auch Todorov das Unheimliche als literaturhistorischen Komplementärbegriff zur Fantastik: Die wunderbar belebte Puppe wird unheimlich, wenn ihr Leben plötzlich in einem ›realistischen‹ Rahmen ernst genommen werden muss.19 Bölls Erzählung entspricht ganz einer Tendenz, die Todorov als das Ende des fantastischen Genres beschreibt: Durch das Fehlen des verbindlichen, ›realistischen‹ Zusammenhangs verliert das Fantastische den für seine Existenz notwendigen Gegenpol. Vor diesem Hintergrund beschreibt zwar auch Böll beides, das unheimliche Leben von Puppen und die Puppenhaftigkeit von Menschen, wenn er auch vordergründig die zweite Möglichkeit betont. Dass sein Text kaum unheimlich wirkt, liegt jedoch daran, dass er, anders als Hoffmann, Verlebendigung des Künstlichen und Künstlich-Werden des Lebendigen nicht in einem ›realistischen‹ Rahmen miteinander verknüpft. Bei Benjamin und Žižek widerspricht die allegorische Fixierung der Rollen von Zwerg und Puppe ihrer unheimlichen Wirkung. Ihre allegorischen Festlegungen entwickeln Unheimlichkeit nicht als

16 | Sigmund Freud, Das Unheimliche, in: Ders.: Der Moses des Michelangelo, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 2004, S. 137–172. 17 | Ernst Jentsch, Zur Psychologie des Unheimlichen, in: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 8.22 (1906), S. 195–198 und 8.23 (1906), S. 203–205. 18 | E.T.A. Hoffmann, Der Sandmann: historisch-kritische Edition, hg. von Kaltërina Latifi, Frankfurt am Main: Stroemfeld, 2011. 19 | Vgl. Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, München: Hanser, 1972, S. 40.

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Wirkung, sondern bannen im Bild des Automaten insgesamt eine Unheimlichkeit der Geschichte als allegorische Bedeutung. Dass die skizzierte Wechselwirkung von Belebung des Toten und Abtötung des Lebendigen für die unheimliche Wirkung der Puppe notwendig ist, zeigt ein philosophisches Zwischenspiel: In berühmten Aufzeichnungen aus dem Wintersemester 1920/21 20 hat der Philosoph Edmund Husserl seinen Irrtum bezüglich einer Puppe ganz ohne das Gefühl der Unheimlichkeit referiert: »Im Panoptikum die Schaulust einmal befriedigend, sehe ich neben mir unter anderen Zuschauern ein Mädchen, das, den Katalog in der Hand, interessiert dieselben Schaustücke ansieht wie ich. Nach einer Weile kam mir das Mädchen verdächtig vor. Ich erkannte, daß es eine bloße Figur war, eine auf Täuschung berechnete Puppe.«21 Hans Blumenberg macht diese bei Husserl zunächst unverfängliche Szene »gespenstisch«, indem er herausstreicht, »daß die Schaustücke selbst als Zuschauer auftreten, wenn der Zuschauer von ihrem Typus ist«.22 Dieses Gespenstische findet sich im »Exkurs: Mensch und Wachsfigur« aus Spuren von Ernst Bloch noch einmal gesteigert, der ein Liebespaar in der Nacht in ein Wachsfigurenkabinett führt: »Hier war Liebe nicht stärker als der Tod, oder war sie es, dann nicht stärker als der Tod, der sich bewegt. Als ein Scheinleben, das sich plötzlich als Scheintod gibt; [...]. Vorüber gingen sie an künstlichen Leichen und Abbildern, der eigene Leib wurde ihnen fremd, das Tote in Leibgestalt nicht verwandter.«23

A lfred A ndersch und I lse A ichinger Wie traumatisierte Menschen ihre Erinnerung an den Krieg noch nach Jahrzehnten mit der Erinnerung an Puppen verbinden, verdeutlichen eindrucksvoll Texte von Swetlana Alexijewitsch. »Heimat« ließe sich geradezu als der Ort definieren, an dem Menschen arglos mit Puppen spielen. Viele Erinnerungen in diesen Texten machen daher die Puppenmotivik zum motivischen Kondensationspunkt der

20 | Sie wurden später überarbeitet und der Vorlesung 1923 unter dem Titel »Ausgewählte phänomenologische Probleme« beigelegt; vgl. Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlaß herausgegeben und mit einem Nachwort von Manfred Sommer, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2014, S. 753. 21 | Edmund Husserl, Gesammelte Werke (Husserliana), Bd. XI, Dodrecht: Springer, 1966, S. 305–306. 22 | Blumenberg 2014, S. 755. Vgl. auch Harald Wasser, Sinn, Erfahrung, Subjektivität: Eine Untersuchung zur Evolution von Semantiken in der Systemtheorie, der Psychoanalyse und dem Szientismus, Würzburg: Königshausen u. Neumann, 1995, S. 68–69. 23 | Ernst Bloch, Spuren, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. I, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, S. 135–136.

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Erfahrung, Heimat zu verlieren.24 »Puppen … Die allerschönsten … Sie erinnern mich immer an den Krieg …«25 Lässt sich die Verwendung dieses Motivs aber in Bezug auf andere deutschsprachige Schriftsteller als Erinnerung an das Unheimliche der Nachkriegszeit über Böll hinaus analysieren? Für eine solche Analyse kommen im Umfeld der Gruppe 47 Kurzgeschichten von Alfred Andersch und Ilse Aichinger in Betracht.26 Insbesondere Anderschs Kurzgeschichte Vollkommene Reue hat zugleich die Puppe als Motiv und Religion als Thema. Die Erzählung ist 1948, wahrscheinlich knapp vor Bölls Der Zwerg und die Puppe, entstanden. Obwohl Andersch Benjamin früh und intensiv rezipiert,27 bezieht sich der Text nicht auf Benjamins geschichtsphilosophische Allegorie. Die bei Böll nur am Schluss anklingende Frage nach Gewalt, Schuld und Strafe steht in dieser Erzählung in der Überblendung von drei Situationen im Zen­ trum. Ein Priester zelebriert die Wandlung. Er erinnert sich an einen Kriegsheim­ kehrer, der seine kleine Tochter geschlagen hat, weil sie eine unter Entbehrungen erworbene Puppe zerstörte. Der Mann hat dem Priester in der paradoxen Hoffnung gebeichtet, dass ihm dieses eine Vergehen nicht verziehen wird. Die Tochter selbst spielt währenddessen alleine in der zerbombten Stadt, indem sie Ziegel in Puppen verwandelt und einen Ausflug mit ihrem Vater in eine heile Welt imaginiert. »Warum kann Gott nicht einmal aufhören uns zu verzeihen? Es geht ja immer so weiter. Zuletzt wird Gott der Geschlagene sein.«28 Vor dieser Frage mit dem Hintergrund der Kriegsvergangenheit verkettet die Erzählung reale und symbolische Akte der Gewalt, die von jeder handelnden Person in der Geschichte ausgehen: Die Tochter, die »vertieft in ihr Spiel«29 der Puppe den Kopf abreißt;

24 | Vgl. Swetlana Alexijewitsch, Die letzten Zeugen. Kinder im zweiten Weltkrieg. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, Berlin: Suhrkamp, 2016: » … und wiegte sie wie eine Puppe« (S. 77–78); »Sie müssen an die Front fahren … und stattdessen verlieben Sie sich in meine Mama …« (S. 170–175); »Ich schrie und schrie. Ich konnte nicht aufhören …« (S. 188–189); »Vor dem Krieg wussten wir gar nicht, wie man jemanden beerdig t. Aber nun fiel es uns auf einmal ein …« (S. 192–193); »Ich schmückte ihn mit roten Nelken …« (S. 286–289); »An dieser Scheide … An jener Grenze …« (S. 291– 299). 25 | Alexijewitsch 2016, S. 291. 26 | Auch Thomas Valentin hat einen weiteren solchen Text geschrieben. Eine vollständige Recherche und Interpretation literarischer Kurzgeschichten aus der Nachkriegszeit mit dem Motiv der Puppe wäre eine Arbeit für sich. 27 | Vgl. Erhard Schütz, Alfred Andersch, München: Beck, 1980, S. 41–42 und Alfred Andersch, An Walter Benjamin, in: Erdmut Wizisla/Michael Opitz (Hg.), Glückloser Engel. Dichtungen zu Walter Benjamin, Frankfurt am Main/Leipzig: Insel, 1992, S. 47–48. 28 | Alfred Andersch, Vollkommene Reue, in: Ders., Geister und Leute. Zehn Geschichten, Zürich: Diogenes, 2006, S. 56. 29 | Andersch 2006, S. 57.

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der Vater, der ihr im Zorn »ins Gesicht schlägt;30 der Priester, der letztlich diesem Fremden die Absolution verweigert, weil er zu hochmütig sei, an die Gnade Gottes zu glauben.31 »Gott, warum schlägst du uns?«32 , steht als Frage des Priesters am Schluss. Den Akten der Gewalt in der Erzählung stehen Versuche der Wandlung gegenüber: Der Vater versucht durch sein Puppen-Geschenk vergeblich, die Gegenwart des Kindes ohne Mutter in etwas Vertrautes zu wandeln. Die Reflexion des Priesters über die Begegnung mit dem einen »Gesicht«, das auf der Unentschuldbarkeit besteht, begleitet die Wandlung in der von ihm zelebrierten Messe und die Gewissheit, in einer sinnentleerten Routine nicht wert zu sein, die Messe zu lesen. Das Mädchen aber bietet ein Bild der Versöhnung an, indem es in seinem Spiel Ziegelsteine zu Puppen verwandelt. Dieses Fixieren der Möglichkeit einer »Wandlung« setzt zugleich die Erzählung Anderschs von der Reflexion und Rhetorik Žižeks ab, obwohl beide auf dem Gegensatz von christlicher Liebe und religiösem Gesetz bestehen. Insbesondere die Funktionalisierung der Puppe als Metapher einer solchen Wandlung schließt ihre unheimliche Wirkung aus: Unter der Voraussetzung dieser metaphorischen Funktionalisierung lässt sich der Text ›realistisch‹ lesen, die Frage nach einem ›unheimlichen‹ Eigenleben der Puppe steht nie im Raum und auch nicht deren Doppelgängertum mit dem Menschen. Bei Böll hingegen erzeugte gerade die Aufhebung der ›realistischen Illusion‹, dass Puppen nur durch Projektion belebt werden, einen Ansatz für Unheimlichkeit im Text. Denn die Bilder des mechanischen Menschen entgleisen gleichzeitig mit der Gewissheit einer metaphysischen Verankerung. Ilse Aichinger war in ihrer Jugend ähnlich im christlichen Glauben verankert wie Böll und im Umfeld der Gruppe 47 mit ihm befreundet. Das Puppenmotiv ist vor allem in ihrem Erzählband Eliza Eliza33 wichtig innerhalb einer Poetik, die seit der Erfahrung nationalsozialistischer Verfolgung immer auf dem Zusammenhang von Schreiben und Angst besteht. 1962 hat sie ihren Kurzprosatext Die Puppe34 geschrieben, der in einem anderen Sinne als Böll ›Fantastisches‹ und Reales verknüpft und dadurch am stärksten von den hier zitierten Texten unheimlich wirkt. Die ›realistische‹ Tendenz der Kurzgeschichte im Sinne der amerikanischen Short Story hebt bei ihr die alte ›fantastische Erzählung‹ stärker als bei Böll und Andersch auch in einem bewahrenden Sinne auf. 30 | Ebd., S. 52. 31 | Ebd., S. 57. 32 | Ebd., S. 58. 33 | Vgl. z.B. die Erzählungen Mein Vater aus Stroh, Eliza Eliza, Das Bauen von Dörfern oder Fünf Vorschläge; vgl. auch die Puppenmacher und Dragoner aus Auf verlorenem Posten in Zu keiner Stunde. 34  | Ilse Aichinger, Die Puppe, in: Dies., Eliza Eliza, Frankfur t am Main: Fischer, 1991, S. 87–92.

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›Unheimlich‹ im von Freud etymologisch entwickelten Gegensinn zu ›heimlich‹ bzw. ›heimisch‹ wird an den Puppen wieder die Projektion einer scheiternden Begegnung mit dem Anderen. Die im Unheimlichen wiederbegegnende Angst ist in Aichinger Erzählung die bis zum Extrem zugespitzte und verallgemeinerte Erfahrung, mit dem Anderen auch sich selbst zu verfehlen. Aichinger übernimmt in der Erzählung ganz die Innenperspektive einer sich erinnernden, verlorengegangenen Puppe und formuliert aus ihr die Entfremdung: »Was gab mir ein, ich wäre um meinetwillen im Stich gelassen worden, man hätte sich gleichsam von mir selbst zu mir selbst begeben und suchte mich nun überall, wo ich nicht bin? Und wüßte dann doch einen Ort, an dem ich nicht sein könnte, mich selber.«35 In einem Essay über Freuds Unheimliches unterscheidet Helene Cixous das Motiv von Doppelgänger und Puppe: Der Doppelgänger sei die Imagination der in der Vergangenheit nicht verwirklichten und also nur in der erinnernden Imagination lebendigen Bestandteile des Ich. Ohne den Bezug auf diese Imagination würden diese Teile aber »die gespensterhafte Gestalt der Nichterfüllung und der Unterdrückung […] weder lebendige noch tote und unmögliche Puppe. Abgeschoben, und weshalb?«36 Diese Frage nach dem Weshalb findet sich in Aichingers Text im Auftreten der Puppe als Ich-Erzählerin objektiviert, ihre Entfremdung von sich selbst hat nicht individuell-psychologische, sondern gesellschaftlich allgemeine Gründe im historischen Trauma. Aichingers Text legt das Unheimliche seiner Perspektive nicht mehr in den Zweifel, ob die Puppe lebt oder tot ist. Es liegt weder darin begründet, dass die Puppe an sich als »Double« Lebendes in Totes verwandelt37 noch an einer Freudschen Wiederkehr des Verdrängten. Die Unheimlichkeit dieser Puppe liegt darin, dass ihre Abhängigkeit von der Projektion eines Imaginären an eine Abhängigkeit des Menschen erinnert, wenn es darum geht, Zukunft zu denken. »Es scheint mir jetzt, dass nur mehr die Richtungen, die hinter mich führen, offen sind, mit ihren Luftzügen, ihrem Unbekannten, ihren unverlockenden Farben. […] und bald vergesse ich, wem ich gehöre, vergesse das Vergessen und das Vergessen vergisst mich.«38 Die Abwehr der Puppe gegenüber dem Leben, das auf sie projiziert wird, assoziiert Aichinger mit dem Gedanken an den Tod. »[…] ich will nicht mehr viel 35 | Aichinger 1991, S. 91. 36 | Hélène Cixous, Die Fiktion und ihre Geister. Eine Lektüre von Freuds Das Unheimliche, in: Klaus Herding/Gerlinde Gehrig (Hg.), Orte des Unheimlichen – die Faszination verborgenen Grauens in Literatur und bildender Kunst, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2006, S. 51. 37 | Vgl. Sarah Kofman, The Double is / and the Devil: The Uncanniness of The Sandman, in: Steven Vine (Hg.), Literature in psychoanalysis – a reader, Basingstoke [u.a.]: Palgrave Macmillan, 2005, S. 79. 38 | Aichinger 1991, S. 91.

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träumen. Mit meinen Locken kann man noch Engelsköpfe schmücken, mit meinen Spitzen noch die grünsamtenen Mäntel, aber mit mir selber? Wachs und Schnüre.«39 In Žižeks Dichotomie von allgemeinem Gesetz und Liebe gefasst, ist Aichingers Puppe eine Figur, der die Liebe entzogen wird und die deswegen hoffnungslos dem Gesetz verfällt. Auch Žižek entwirft eine solche Figur, allerdings ohne an die Puppenmotivik oder noch einmal an Benjamins erste These zur Geschichtsphilosophie zu erinnern: Im letzten Abschnitt seines Buches diskutiert er so Agambens Thesen über den Muselmann der Konzentrationslager40 als das Endresultat eines völlig vom Totalitarismus des Gesetzes erfassten Menschen.

H einrich B öll und W alter B enjamin Während Andersch und Aichinger lediglich Konnotationen der Puppen-Metaphorik weiter entfalten, stellt sich zur Erzählung Bölls die abschließende Frage, inwieweit sie Benjamins Text direkt kommentiert und in die Nachkriegssituation übersetzt. Konnte Böll Anfang der 1950er-Jahre Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte überhaupt schon kennen? Die Voraussetzungen für eine solche Lektüre können hier zumindest angesprochen werden. Der Name Benjamins wenigstens war Böll sicher schon vor dem Krieg bekannt. 1927 las er seine Übersetzung »Im Schatten der jungen Mädchen« aus Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit41 – eine Übersetzung, auf die sich auch Andersch in seinem Gedicht An Walter Benjamin bezieht. 42 Zwar wurde Benjamin erst in den 1960er-Jahren breit rezipiert, die Benjamin-Rezeption direkt nach dem Krieg war laut Sigrid Weigel »mit dem schwierigen Ort jüdischer Intellektueller im Nachkriegsdeutschland verknüpft«, vor allem mit den Bemühungen Theodor W. Adornos, Hannah Arendts und Gershom Scholems. Adorno 39 | Ebd., S. 92. 40 | Vgl. auch direkt eine Nähe von Agambens oft zitierter und kritisierter Beschreibung des Muselmanns zur Beschreibung einer Puppe: »Er, der Muselmann, ist wirklich das Gespenst, das unsere Erinnerung nicht zu begraben vermag, der Nicht-zu-Verabschiedende […] Er zeigt sich einmal als der Nicht-Lebendige, als das Wesen, dessen Leben nicht wirklich Leben ist, und ein andermal als der, dessen Tod nicht Tod genannt werden kann, sondern nur ›Fabrikation von Leichen‹; als Einschreibung einer toten Zone in das Leben und einer lebendigen Zone in den Tod. […] Der Muselmann ist der Nicht-Mensch, der sich hartnäckig als Mensch zeigt, und das Humane, das nicht mehr vom Individuum getrennt werden kann.« (Giorgio Agamben, Homo Sacer. 3. Was von Auschwitz bleibt: das Archiv und der Zeuge, Frankfurt am Main: S. Fischer, 2003, S. 38). 41 | Vgl. Gabriele Sander, Böll und die literarische Moderne, in: Werner Bellmann (Hg.), Das Werk Heinrich Bölls: Bibliographie mit Studien zum Frühwerk, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1995, S. 67. 42 | Vgl. Wizisla/Opitz 1992, S. 47–48.

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hatte aber die Thesen Über den Begriff der Geschichte (damals Geschichtsphilosophische Reflexionen) schon 1942 in Amerika herausgegeben; 1950 erschien der Text auch in der Neuen Rundschau, und 1955 folgte die zweibändige Ausgabe seiner Schriften. 43 Der Engel schwieg, der erste Roman Bölls nach dem Krieg, 1951 verfasst, fand wegen seiner Thematisierung der unmittelbaren Kriegsvergangenheit keinen Verlag und wurde erst viel später aus dem Nachlass veröffentlicht. 44 Dieser Roman ist ein Indiz für die frühe Auseinandersetzung Bölls mit der berühmten neunten geschichtsphilosophischen These Benjamins und dem »Engel der Geschichte«. Ganze Passagen dieses Romans wurden in Bölls späteren, 1953 erschienenen Roman Und sagte kein einziges Wort45 aufgenommen – aber auch in einzelne Erzählungen; »Baluhn« verbindet als der Name eines der Interviewten Bölls aus Der Zwerg und der Engel mit der Figur einer Vermieterin in diesem Roman. 1965 hat Böll unter dem Pseudonym Victor Hermanns ein Gedicht veröffentlicht. Es führt einen Engel als Titel, der angerufen wird, als Engel der Geschichte auf den Tod Benjamins zu reagieren. Der Gestus dieses Gedichts nimmt den der Erzählung Bölls auf, wenn man diese in Bezug auf Benjamins erste These zum »Begriff Geschichte« liest. Engel, wenn Du ihn suchst er ist Erde zwischen den Steinen am großen Berg bereit aufzustehen wenn Du ihn rufst ohne Macht ohne Herrlichkeit ruf wie ein Bruder wenn Du ihn suchst Germane war er Jude Christ Erde ist er Für Schlehdorn Fuchsie Ginster Zwischen den Steinen am großen Berg wenn Du ihn suchst

43 | Vgl. Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Hg.), Walter Benjamin, in: Trajekte 13 (2006). http://www.zfl-berlin.org/publikationen-detail/items/trajekte-nr-13-walter-benjamin. html (abgerufen am 06.03.2018). 44 | Heinrich Böll, Der Engel schwieg, München: dtv, 1997. 45 | Ders., Und sagte kein einziges Wort, München: dtv, 2002.

Viel Puppe und ein wenig Zwerg Wenn Du ihn findest Engel mach ihn neu nicht aus Galle aus Tränen und ein paar Tropfen Rheinwasser mach ihn neu wenn Du ihn findest. 46

46 | Victor Hermanns, Engel, in: Wizisla/Opitz 1992, S. 30.

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Scontro di civiltà per un ascensore a piazza Vittorio di Amara Lakhous Un esempio di traduzione culturale nella letteratura italofona Alessandra Sorrentino

Decontestualizzare un testo da un contesto e ricontestualizzarlo in un altro, questo è in sostanza il movimento principale di una traduzione che è translazione o traduzione culturale, che dir si voglia, secondo Michael Rössner. […] such translations – which always consist of de- and re-contextualizations – necessarily lead to negotiations between these contexts and thus do not leave their object unaltered.1

Questa è la natura di una traduzione, che tiene conto della necessaria e imprescindibile negoziazione tra due contesti, quello di partenza e quello di arrivo del testo tradotto, e che nel rispetto di entrambi li altera e altera l’oggetto della traduzione. We therefore have to understand cultural interaction and cultural practice of communica­ tion as the performative negotiation of differences between identity constructions – and this is what we call cultural translation or translatio/n. 2

La teoria della traduzione in tal modo si amplia, divenendo un mezzo utile a comprendere i rapporti tra culture, le loro pratiche di comunicazione e adatto all’ana1 | Michael Rössner, Translatio/ns of Identity-Building Narratives, in: Narrated Communities-Narrated Realities. Narration as Cognitive Processing and Cultural Practice, a cura di Hermann Blume/Christoph Leitgeb/Michael Rössner (= Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 183), Leiden/Boston: Brill/Rodopi, 2015, p. 174. 2 | Michael Rössner/Federico Italiano, Translatio/n. An Introduction, in: Translatio/n. Narration, Media and the Staging of Differences, a cura di Federico Italiano e Michael Rössner, Bielefeld: transcript, 2012, p. 12.

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lisi delle costruzioni identitarie, individuali e collettive. Tale approccio risulta parti­colarmente congeniale allorquando ci si confronti con la cosiddetta letteratura della migrazione.3 Il secondo romanzo di Amara Lakhous, Scontro di civiltà per un ascensore a piaz­za Vittorio, 4 è un caso singolare di traduzione nella letteratura della migrazione italofona. Il romanzo si presenta con una trama da giallo: nell’ascensore di un palazzo di Roma viene ucciso Lorenzo Manfredini, detto il Gladiatore, un ragazzo malvisto da tutti gli inquilini dello stabile di piazza Vittorio. L’indagine della polizia pare fin da subito designare come colpevole Ahmed/Amedeo, il protagonista, di cui si sono perse le tracce proprio la sera dell’omicidio. Nessuno dei personaggi sa che Ahmed/Amedeo è straniero e nessuno è disposto ad accettare la sua colpevolezza. A fine romanzo si capirà che l’omicidio è opera di Elisabetta Fabiani, la proprietaria del cane Valentino, rubato dal Gladiatore per essere utilizzato nei combattimenti clandestini. Attraverso i punti di vista dei vari personaggi e di Ahmed/ Amedeo verrà abilmente narrata la società italiana multietnica e le sue dinamiche. L’autore di nazionalità algerina Lakhous scrive il romanzo in un primo momento in arabo, sottraendosi all’utilizzo della lingua francese che è la lingua dei colonizzatori e in un secondo momento si auto-traduce in italiano, se la trama e i personaggi rimangono invariati, si può invece seguire un processo di traduzione culturale. Questa scelta ha una valenza che va oltre la mera comodità, difatti, l’utiliz­ zo della lingua francese da parte degli intellettuali nord africani, come fa notare in un suo saggio Paul Bandia,5 è una scelta che mette in gioco elementi politici, etici e non solo. Lakhous, conformemente ad altri autori magrebini, fa una scelta in senso ampio politica, utilizzando l’italiano come lingua di riscrittura. In controtendenza rispetto ad altri romanzi di autori migranti, l’autore algerino non parlerà né della sua esperienza di migrante, né della sua terra, che appare talvolta solo sullo sfondo. Non si realizza quindi la classica traduzione dell’esperienza dell’autore 3 | Armando Gnisci, La letteratura italiana della migrazione, Roma: Lilith, 1998, ora in: Creolizzare l’Europa: letteratura e migrazione, Roma: Meltemi, 2003. – Amara Lakhous, l’autore di cui tratta questo articolo, non ama affatto la definizione piuttosto generica di letteratura di migrazione, utilizzata da Armando Gnisci, pur condividendo la diffidenza del nostro autore nei confronti di facili etichette, ho scelto di utilizzarla per meglio orientarsi in questo vasto mare che comprende autori, paesi, storie di vita e lingue completamente diverse. Sulla complessità del tema si veda Andrea Grappoldi, La lingua della letteratura migrante: identità italiana e maghrebina nei romanzi di Amara Lakhous, in: Italiano Lingua Due 2 (2012), pp. 35–59. Per una panoramica ampia sul fenomeno, cfr. Furo Brugnolo, La lingua di cui si vanta Amore. Scrittori stranieri in lingua italiana dal Medioevo al Novecento, Roma: Carocci, 2009. 4 | Amara Lakhous, Scontro di civiltà per un ascensore a piazza Vittorio, Roma: E/O, 2011. 5 | Paul Bandia, African Europhone Literature and Writing as Translation. Some Ethical Issues, in: Translating Others, vol. 2, a cura di Theo Hermans, London/New York: Routledge, 2006, pp. 349–361.

Scontro di civiltà per un ascensore a piazza Vittorio di Amara Lakhous

dal contesto originario in un contesto altro. Lakhous, infatti, parla della società italiana, delle sue abitudini nel confronto con l’altro, il diverso, lo straniero. Se si guarda con attenzione ai due romanzi, nelle due lingue arabo e italiano e alla letteratura secondaria ad essi riferita, come ha fatto Maria Grazia Negro,6 pare di essere difronte a due romanzi diversi. Nonostante la trama rimanga essenzialmen­te la stessa e anche la struttura, i nuclei tematici dei due romanzi, nei due con­testi linguistici a cui rispettivamente appartengono, sembra facciano riferimento a testi diversi. Questo è uno dei motivi per cui nel caso di questo romanzo si può parlare di una vera e propria riscrittura del testo in italiano, che arricchisce i significati della mera traduzione e mette in atto una translazione, una traduzione culturale. Nel titolo italiano del romanzo riecheggia il titolo del noto volume The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order di Samuel Huntington,7 che a sua volta riporta la ben nota espressione scontro di civiltà cara al colonialismo. L’accosta­ mento di un concetto così problematico ad un oggetto comune e poco affascinante come l’ascensore e a una piazza romana oramai simbolo del fenomeno migratorio indica immediatamente l’ironia che sottende l’intera narrazione. 8 Nella versione del libro in arabo del 2003 il titolo, tradotto letteralmente, suona più o meno così: Come farti allattare dalla lupa senza che ti morda.9 Nella differenza tra i due titoli si può intravedere una prima diversità tra i due romanzi; quello arabo racconta la società italiana multietnica di piazza Vittorio ad un pubblico arabofono, mentre quello in italiano fa riferimento ad un tema piuttosto dibattuto nel mondo occidentale: l’incontro/scontro tra differenti culture. Nella resa in italiano di questo rapporto, la lingua svolge un ruolo non secondario. La lingua di Lakhous, infatti, potrebbe venir definita spuria, nata come da un adulterio, dal rapporto tra due altre lingue lontane tra loro. Come egli stesso ci dice in un saggio del 2011, egli tende a «italianizzare l’arabo e arabizzare l’italiano»,10 creando quindi una lingua complessa, pur mantenendo all’apparenza un 6 | Maria Grazia Negro, L’Upupa o l’Algeria perduta: i nuclei tematici, il processo di riscrittura e la ricezione nel mondo arabo di Amara Lakhous, in: Kúmá Creolizzare l’Europa 12 (2006) (http://www.disp.let.uniroma1.it/kuma/critica/kuma12upupa.html link attualmente non attivo). 7 | Samuel Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York: Simon & Schuster, 1996. 8 | Sul rapporto ironico tra il romanzo di Lakhous e il libro di Huntington si veda M. Cristina Mauceri, Riso amaro? L’umorismo come rimedio contro il razzismo in Lakhous, Wadia e de Caldas Brito, in: A. Frabetti/L. Toppan (a cura di), Scrivere altrove/Ecrire ailleurs, in: Recherches. Culture et histoire dans l’espace roman 10 (2013), pp. 69–82. 9 | Ritroviamo la frase, in forma di domanda a se stesso, nel romanzo: «La domanda fondamentale è: come farmi allattare dalla lupa senza che mi morda?» (Lakhous 2011, p. 100.) 10 | Amara Lakhous, Italianizzare l’arabo e arabizzare l’italiano, L’italiano degli altri. La piazza delle lingue (Atti dell'Accademia della Crusca, Firenze, 27-31 maggio 2010), a cura di Anna Antonini et al., Firenze: Le Lettere, 2011, pp. 321–322.

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registro linguistico semplice e familiare. Lakhous quindi non si limita ad introdurre elementi della lingua araba nel testo italiano, compiendo un movimento abbastanza comune se si scrive in una lingua che non è la propria, ma rende ibrida anche quella di partenza. L’arabo è per Lakhous la lingua madre e l’italiano invece «La lingua della nuova terra [che] rappresenta la chiave d’ingresso all’inaccessibile mondo degli altri.»11 Al più noto e comune code-switching, di cui gran parte della letteratura di migrazione fa uso, che comporta la messa a punto di una lingua specifica con un’estetica diversa e ben identificabile, Lakhous associa anche una particolare attenzione ai dialetti italiani. Questo ingresso nel mondo degli altri viene quindi condotto attraverso un’immersione non solo nella lingua italiana standard, ma anche nelle sue differenze regionali, nei suoi dialetti, che connotano le singole aree geografiche, ma anche le differenze culturali di cui l’Italia è ricca. Gli effetti comici, che si associano all’utilizzo di alcuni dialetti, spesso sono utilizzati per rafforzare lo stereotipo che marchia i suoi personaggi e a sottolineare alcuni malintesi esistenti nella comunicazione tra individui di lingua diversa. Si consideri il caso del rapporto tra la portiera napoletana Benedetta e Parviz l’iraniano: Sfortunatamente Benedetta mi sorveglia come una gatta litigiosa, e non appena metto i piedi in ascensore mi grida in faccia: «Guaglio’! Guaglio’! Guaglio’!». Guaglio’ è la parola preferita di Benedetta! Come sapete Guaglio’ vuol dire cazzo in napoletano. Così mi hanno detto molti napoletani con cui ho lavorato […] per questo, invece che rispondere all’offesa con un’altra offesa, come fanno in tanti, mi limito a una breve risposta: «Merci!»12

La versione della portiera è ben altra, ma in qualche modo comicamente simile: Questo disgraziato fa lo scostumato quando lo chiamo Guaglio’! Non so come si chiama, e a Napoli siamo abituati a dire così, però lui mi risponde con male parole nella sua lingua. Non mi ricordo esattamente quella parola che dice sempre, forse mersa o mersis! Insomma, l’importante è che questa parola vuol dire cazzo in albanese, e si usa per offendere la gente.13

Lakhous, anche attraverso l’uso che fa della lingua quindi, si occupa di identità, approfondendo quei malintesi linguistici e culturali tra persone che, pur utilizzando apparentemente un codice linguistico comune, non lo gestiscono adeguatamente e così facendo si sofferma su quei momenti della comunicazione che creano dei vuoti nella comprensione. Lakhous appartiene a quella categoria di autori identificata da Armando Gnisci, che non parlano più o solamente della loro esperienza 11 | Amara Lakhous, Maghreb, in: Nuovo planetario Italiano, a cura di Armando Gnisci, Troina: Città Aperta Edizioni, 2006, p. 157–187. 12 | Lakhous 2011, p. 17. 13 | Ivi, p. 35.

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di migranti, come avveniva in precedenza, ma ritengono di poter trattare, in lingua italiana, di temi che vanno oltre la propria esperienza personale, che vogliono essere riconosciuti come scrittori al di là delle loro biografie.14 Aggiungerei che il tipo di letteratura cui si fa riferimento, quando si tratta di Amara Lakhous, è una letteratura creolizzata, mutuando il termine da Éduard Glissant,15 già riadattato al contesto italiano da Armando Gnisci.16 Il fenomeno difatti, come è noto, ha un respiro mondiale e non solo circoscritto al contesto dell’autore delle Antille. La creolizzazione», scrive Gnisci, «è anche quella che accade in Europa, soprattutto negli ultimi trent’anni, provocata dagli scrittori migranti che contribuiscono a produrre il nostro nuovo immaginario comune nelle lingue europee.»17 Gnisci prosegue sottolineando come lo sguardo dello straniero cambi la per­ cezione che noi abbiamo di noi stessi. Lo straniero, io credo, è colui nei cui occhi io posso vedermi come straniero. Lo straniero mi fa sentire, quando lo lascio parlare e ne accolgo la visione e il giudizio sul nostro rapporto mentre esso si fa, e quando il nostro incontro accade presso di noi, e quando esso non è una visita o un’ambasciata, ma la proposta di costruire una convivenza pacifica, lo straniero mi fa sentire che siamo tutti stranieri l’uno all’altro. Ciò comporta che nessuno è origine, fondamento, radice e identità di per sé, come ci ha insegnato la filosofia europea pensando a sé stessa.18

Il romanzo di Lakhous consente proprio questo: di conoscere noi attraverso gli occhi degli stranieri. L’utilità, o meglio, il valore politico del testo parrebbe quello di introdurre, attraverso l’esperienza narrata, le basi per una strategia di convivenza pacifica e, allo stesso tempo, di invogliare a riflettere su ciò che si intende per identità araba – cosa che Lakhous approfondisce anche nei suoi interventi pubblici in arabo, come riferisce Negro.19 I vari punti di vista presenti nel romanzo provengono da culture diverse e si confrontano nel contesto italiano, ormai divenuto a tutti gli effetti multietnico. La struttura stessa del romanzo, composto da ventidue capitoli, ciascuno dei quali dedicato ad uno dei personaggi che in prima persona espone la propria versione dei fatti, organizza le voci narranti. Il titolo di ciascun capitolo è la verità di seguito 14 | Per un resoconto statistico della presenza di autori arabofoni si guardino i dati dal bollettino di sintesi 2009, della banca dati BASILI, aggiornati al 18.01.2010: http:// www.aliasnetwork.it/pdf_rivistaArte/pdf_N1_marzo2012/29_basili_bollettino.pdf (ultima consultazione 21.04.2018). 15 | Éduard Glissant, Poétique de la Relation, Paris: Gallimard, 1990. 16 | Cfr. Gnisci 2003. 17 | Armando Gnisci, La letteratura del mondo nel XXI secolo, Milano: Bruno Mondadori, 2010, p. 41. 18 | Gnisci 2003, p. 114. 19 | Negro 2006, p. 7.

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dal nome del personaggio; tra un capitolo e l’altro, in cui ascoltiamo le verità dei vari personaggi, compaiono i capitoli in cui Ahmed/Amedeo narra la sua personale versione. I capitoli di Ahmed/Amedeo sono caratterizzati dalla presenza di ululati, dal vario significato, che si moltiplicano durante la narrazione. I titoli dei capitoli in cui parla il protagonista sono diversi dagli altri, sono numerati «primo ululato», «secondo ululato» e così via, fino all’undicesimo che invece s’intitola «ultimo ululato o prima che il gallo canti». Nel capitolo «decimo ululato» troviamo una proverbiale definizione di ululato. Cos’è l’ululato? Ci sono due tipi di ululato: quello del dolore e quello della felicità. Molti immigrati emarginati che abbracciano le loro bottiglie di vino e di birra nei giardini di piazza Vittorio non smettono di ululare tristemente, perché il morso della lupa è doloroso. Ogni tano l’ululato è come il pianto. Invece io ululo di gioia, un’immensa gioia. Mi allatto dalla lupa insieme ai due orfanelli Romolo e Remo. Adoro la lupa non posso fare a meno del suo latte. 20

Gli ululati rappresentano l’indicibile, sono l’espressione del dolore e della gioia. In qualche modo, nel corso della narrazione più le ‹verità› si moltiplicano, sia sull’omicidio, sia sulla figura del protagonista, più il quadro si fa complesso, più si perviene ad una vera e propria incapacità di raggiungere una versione dei fatti che metta in accordo tutte le voci di questo romanzo. Parrebbe che gli ululati stiano a significare anche questo, l’impossibilità di ottenere una verità unica e definitiva, che per alcuni è un dolore e per altri invece una gioia. Ovviamente l’analisi della presenza degli ululati non può non tenere conto del titolo in arabo del romanzo che, non va dimenticato, nella traduzione letterale è per l’appunto: Come succhiare il latte dalla lupa senza che ti morda; gli ululati richiamano quindi anche all’animale, simbolo della città eterna, che nutre e allo stesso tempo è spietato predatore. Chiude il romanzo «la verità del commissario Bettarini,» che svelerà il mistero dell’omicidio del Gladiatore e, a seguire, l’ultimo dei capitoli in cui parla il nostro protagonista Ahmed/Amedeo. La versione di Bettarini è quella delle forze dell’ordi­ ne, quella in qualche modo indiscutibile, ma che dopo aver ascoltato le altre risulta quasi screditata nella sua infallibilità, pare quasi che essa annoverata lì tra le altre non sia più così incontestabile come dovrebbe essere. Essa si presenta in questo modo solo come una delle tante verità possibili, con un registro linguistico da verbale della polizia, che ne accentua l’effetto comico. D’altronde anche le leggi in luoghi diversi spesso cambiano, ciò che è legge in un luogo, non è detto lo sia anche in un altro. Il punto di vista di Ahmed/Amedeo è quello che tesse le fila della narrazione e riannoda i passaggi e a lui è prescritto di condurci fuori dalla storia. Il lettore, attraverso i vari capitoli di questo romanzo polifonico, viene a conoscenza sia delle presunte ‹verità› dei vari personaggi sull’omicidio, sia dell’opinione di questi sugli altri inquilini del condominio di piazza Vittorio. Nelle descrizioni 20 | Lakhous 2011, p. 117.

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degli altri ciascun personaggio si moltiplica, vittima di stereotipi o semplicemente di malintesi, che ne rendono l’identità multipla. Ogni diversa ‹verità› è espressa da persone di etnie o luoghi di provenienza diversi, lasciando narrare a ciascuno la propria versione. Dalle pagine del romanzo emerge così la cultura di provenienza di ciascun personaggio e si evince come essa influenzi la narrazione dei fatti e la loro interpretazione. Il punto di osservazione di Ahmed/Amedeo rimane privilegiato: conosce perfettamente l’italiano, ha una compagna italiana, lavora regolarmente nel quartiere in cui vive ed è ben voluto e rispettato da tutti. La maggior parte dei personaggi che incontriamo leggendo lo crede italiano e lui glielo lascia credere. Perché insistete? Vi ho detto che Amedeo è italiano verace. Gli ho chiesto personalmente più volte di dirmi da dove viene, dei genitori, della famiglia, del luogo di nascita e di altre cose che non ricordo più. Mi ha sempre risposto con una sola parola: sud. 21

Queste sono le parole di Benedetta Esposito, ma non meno incredule sono quelle di Iqbal Amir Allah: Il signor Amedeo è uno dei pochi italiani che viene a comprare nel mio negozio [...] Il signor Amedeo è un italiano diverso dagli altri: non è fascista, voglio dire non è un razzista che odia gli stranieri [...] Il signor Amedeo è l’unico italiano che mi risparmia domande imbarazzanti sul velo, il vino, il maiale. 22

La portiera napoletana e il commerciante bengalese non sono disposti a credere che Ahmed/Amedeo sia straniero, entrambi, pur partendo da punti di vista diversi, lo ritengono italiano, o meglio un esempio di italiano «diverso dagli altri» o del «sud.» Per Iqbal Amir Allah Ahmed/Amedeo è italiano, ma diverso, disposto a confrontarsi con la sua cultura senza risultare, come avviene per altri clienti del suo negozio, inappropriato nella migliore delle ipotesi o addirittura razzista. Il fatto che a Benedetta basti che lui venga da sud per essere certa della sua nazionalità e poi della sua innocenza ha una valenza importante. La solidarietà che la donna esprime ad Amedeo perché come lei arriva dal sud fa riecheggiare tutta una serie di stereotipi e pregiudizi che in Italia esistono nei confronti dei meridionali. Ovviamente il sud a cui la portiera si riferisce è il meridione d’Italia e non altro, ma il riferimento alla situazione comune vissuta nella capitale da tutti coloro che arrivano da un qualsiasi sud del mondo, italiani e non, è esplicita. Nella vita del protagonista, che pare un ottimo esempio di integrazione riuscita, sarà solo l’avvenire di un evento eccezionale, l’omicidio del Gladiatore, a portare scompiglio. Nonostante la narrazione ruoti attorno ad un omicidio, il romanzo in

21 | Ivi, p. 38. 22 | Ivi, pp. 45–46.

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realtà si presta a più letture e il noir alla Gadda è solo una di queste.23 È inevitabile in tal senso notare le vicinanze con il Pasticciaccio:24 la location romana, l’ascensore che assurge a ruolo di personaggio come il palazzo di via Merulana e la erosione del punto di vista di una verità unica. Tuttavia, questi mi sembra siano più i sintomi di una conoscenza approfondita da parte dell’autore della tradizione letteraria italiana, piuttosto che indizi di una volontà di emulazione. Le indagini investigative della pubblica sicurezza hanno un ruolo marginale e sia esse sia la ricerca del movente fanno da pretesto a un’analisi della società italiana contemporanea. Al centro della narrazione, sempre in primo piano, troviamo modi verbali e non verbali, attraverso cui individui di provenienza diversa comunicano, ovvero le quotidiane traduzioni culturali, cui sono costretti per meglio definirsi, per rendersi comprensibili agli altri. Il nostro protagonista, non a caso, è un traduttore e del suo lavoro dice: Tanta gente considera il proprio lavoro come una punizione quotidiana. Io, invece, amo il mio lavoro di traduttore. La traduzione è un viaggio per mare da una riva all’altra. Qualche volta mi considero un contrabbandiere: attraverso le frontiere della lingua con un bottino di parole, idee, immagini e metafore. 25

Un «contrabbandiere», qualcuno che di soppiatto attraversa le frontiere e trasporta con sé significati. Alla metafora classica propria del traduttore come colui che si trova tra due sponde, Lakhous aggiunge quella del contrabbandiere, che attraversa il mare sfidando la legge. Ma Ahmed/Amedeo, non va dimenticato, è anche il contrabbandiere di elementi della cultura occidentale nel mondo arabo ed è anche colui che fa slittare il significato di alcuni pilastri della cultura occidentale in una prospettiva diversa, come avviene per Sallustio.26 La guerra di Giugurta, che egli commenta, con il suo amico professore di storia contemporanea Antonio Marini, è riproposta attraverso lo sguardo di chi proviene da quei luoghi che hanno subito le invasioni romane e che sono state nel recente passato nuovamente colonie di grandi imperi. Si inserisce nella riflessione portata avanti dal protagonista il concetto di coloniability,27 l’idea della permeabilità di alcuni paesi alle pratiche coloni-

23 | Sulle vicinanze tra il romanzo e l’opera gaddiana si veda Nora Moll, La narrativa di Amara Lakous e i suoi intertesti, in: La letteratura di Arablit IV (2014), pp. 177–187. 24 | Carlo Emilio Gadda, Quer pasticciaccio brutto de via Merulana, Milano: Garzanti, 1957. 25 | Lakhous 2011, p. 107. 26 | Gloria Camesasca, Il romanzo di Amara Lakhous: un crocevia di civiltà tra Gadda, Sallustio e Agostino, in: El Ghibli: ht tp://archivio.el-ghibli.org /index.php%3Fid=1&is sue= 06_24§ion=6&index_pos=1&lettura=1.html (ultima consultazione 13.04.2018). 27 | Cfr. Badrane Benlahcene, The Socio-Intellectual Foundations of Malek Bennabi’s Approach to Civilization, London: International Institute of Islamic Thought, 2013.

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ali, un principio che è la base di una rilettura del colonialismo e delle debolezze di alcuni sistemi politici dei paesi vittime delle barbarie coloniali. Oggi ho incontrato per caso Antonio Marini alla biblioteca della Sapienza. Abbiamo parlato a lungo dell’impero romano e discusso su questioni di colonialismo in generale. Gli ho detto che secondo me i popoli che hanno subito il colonialismo nel corso della storia hanno una parte consistente di responsabilità. Ho riflettuto sul concetto di «colonizzabilità» dell’intellettuale algerino Malek Bennabi. Questa colonizzabilità, cioè la permeabilità al colonialismo, è il risultato di un tradimento tra fratelli. Che Bocco, traditore di Giugurta, vendutosi ai romani, e i suoi seguaci siano maledetti per sempre! Auuuuu… 28

È così, con eleganza e senza dar troppo peso alla cosa, che Lakhous inserisce nella narrazione la prospettiva di un intellettuale algerino complesso come Malek Bennabi, che ha il merito di aver tentato di spostare il punto di focalizzazione sulla storia di questi luoghi abbandonando le analisi eurocentriche cui siamo abituati, una sorta di tentativo di decolonizzazione del pensiero occidentale. A una lettura più attenta, parrebbe nascondersi in questo romanzo pieno di ironia, lieve nella forma e con un linguaggio colloquiale, un messaggio altro. Non va dimenticato che Amara Lakhous è uno scrittore colto, con una solida base filosofica e antropologica; lo si evince nei non pochi passaggi del romanzo in cui si mette in dis­cussione una visione eurocentrica e stereotipata della diversità culturale. La messa in risalto di alcune forme di razzismo presenti sul territorio italiano a carico dei meridionali, la designazione della nazionalità di una persona lasciata al puro stereotipo e altri elementi di cui si è brevemente detto, mettono al centro della narrazione un concetto importante, ovvero l’incapacità di giungere ad una verità unica ed indiscutibile, se non a patto di analisi frettolose e superficiali. La funzione di traduttore cui il nostro protagonista è designato, sia nella finzione narrativa, sia nel suo aspetto metaforico, rimette al centro del dibattito la capacità di compiere una traduzione culturale efficace, che riesca a superare gli stereotipi, che si faccia mezzo per una comunicazione rispettosa delle diversità e che non tema di modificare i contesti di partenza e arrivo del messaggio, ma anzi che veda in questo un arricchimento di entrambi. Non sembra azzardato quindi, quando si parla di questo secondo romanzo di Lakhous, parlare di un tentativo ben riuscito di creolizzare l’Europa, come direbbe Armando Gnisci, oppure di decolonizzarla come piacerebbe a Walter Mignolo.29 Il prodotto letterario si fa viatico per nuove forme di comunicazione, si adegua ai cambiamenti del mondo attuale e cerca di tenere in giusto conto le voci di tutti, consentendogli di esprimersi attraverso un’accurata traduzione culturale. Ciò che 28 | Lakhous 2011, p. 80. 29 | Cfr. Walter Mignolo, Epistemic Disobedience, Independent Thought and De-Colonial Freedom, in: Theory Culture & Society, 26 (2009) 7–8, pp. 1–23.

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ne risulta è una narrazione che altera i contesti, li rimodella e li rende spazio possibile di comunicazione di tutti i soggetti in campo; solo a patto di questo mutamento, tanto dei contesti quanto del testo, si può giungere, evitando lo scontro, a una convivenza delle diversità e a preferire una narrazione, che se pur mai stabile, non smette di comunicare il messaggio.

Unorte der Translation Travelling Concepts zwischen den Disziplinen Monika Mokre

In einem Buchbeitrag1 erzählt Michael Rössner, dass er in einer Berufungskommission von der Frage überrascht und überfordert wurde: »Wo verorten Sie sich?« Zumindest unausgesprochen sehe ich eine ähnliche Frage in vielen Gesichtern, wenn ich mich einerseits als Politikwissenschaftlerin und andererseits als Mitarbeiterin des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte vorstelle. Wird die Frage ausgesprochen, antworte ich für gewöhnlich, dass wir transdisziplinär arbeiten – was mir üblicherweise weitere Fragen erspart, aber wenig aussagekräftig ist. Wird doch weitergefragt, füge ich hinzu, dass ich innerhalb dieses kulturwissenschaftlichen Instituts im Forschungsschwerpunkt Translation arbeite. Dies führt entweder zu noch mehr Unverständnis, wenn Translation als sprachliche Übersetzung verstanden wird, oder aber zu einem gewissen intuitiven Verständnis, wenn kulturelle Translation assoziiert wird. Doch um ein Konzept für konkrete wissenschaftliche Arbeit fruchtbar zu machen, bedarf es mehr als Assoziationen. Dieser Beitrag versucht daher darzulegen, was Translation für politikwissenschaftliche und politisch-theoretische Forschungen zu bieten hat, insbesondere in Bezug auf Fragen der Migration, aber auch, welche möglichen Fallen oder unerwünschten Nebenwirkungen sich aus dieser Ver- oder Entwendung eines kulturwissenschaftlichen Konzepts für ein Verständnis des Politischen ergeben können. Die Frage, ob der Zusammenhang zwischen kultureller Translation und Politik(wissenschaft) ein rein assoziativer ist, erinnert an eine Diskussion, die die Konjunktur des Konzepts in den Kulturwissenschaften, den »translational turn«2 , 1 | Michael Rössner, Migration, Exil und Diaspora in der neuesten Literatur, in: Gertraud Marinelli-König/Alexander Preisinger (Hg.), Zwischenräume der Migration. Über die Entgrenzung von Kulturen und Identitäten, Wien: transcript, 2011, S. 235–248, hier S. 235. 2 | Doris Bachmann-Medick, Introduction: The Translational Turn, in: Translation Studies 2 (2009) 1, S. 2–16.

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von Beginn an begleitet hat: Bietet kulturelle Translation tatsächlich eine innovative kulturwissenschaftliche Analyseform oder ist das Konzept als Metapher zu verstehen? Hinter diesem Streit um eine Begrifflichkeit steht die Frage, ob das Konzept wissenschaftlich relevant oder ›eine bloße Beschreibungsform‹ ist. Auf meine Zusammenhänge umgelegt, schließt sich die Frage an, ob das Konzept politisch relevant ist. Eine mögliche Antwort darauf lässt sich in Anlehnung an ein Wortspiel geben, das Slavoj Žižek gerne und mehrfach verwendet und das er seinerseits von Groucho Marx entlehnt hat, der auf die Frage, »coffee or tea?« mit »yes, please« antwortete, die Wahl zwischen diesen beiden Alternativen, eine Entscheidung also, verweigerte. Žižek benutzt diese Form der nicht-intendierten Antwort etwa in dem Titel; »Class Struggle or Post Modernism? Yes, please.«3 Žižeks Punkt hier und anderswo ist, dass post-moderne, post-strukturalistische, post-marxistische Zugangsweisen sich nicht vom Anspruch auf politische Veränderung abwenden sollen oder wollen, sondern gerade durch ihren spezifischen Zugang neue Formen von Gesellschaftsänderung ermöglichen. Dieser Anspruch ergibt sich eigentlich so klar aus den Überlegungen wie auch Biografien von Theoretiker_innen, die diesen Richtungen zuzuordnen sind, dass es erstaunlich erscheint, dass darauf hingewiesen werden muss. Nimmt man den Post-Strukturalismus ernst, hat man ihm auch den Willen zur politischen Veränderung zuzugestehen – alles andere wäre ein Missverständnis (das allerdings durchaus durch die Theorieverliebtheit der Proponent_innen genährt wird). Dieses Missverständnis scheint mir auch bei der Frage vorzuherrschen, ob kulturelle Translation einen analytischen und politischen Mehrwert besitzt, denn die Antworten (der Verteidiger_innen wie auch der Kritiker_innen des Konzepts der kulturellen Übersetzung) unterstellen, dass Metaphern einen solchen Mehrwert nicht erbringen.

D iskurs und M e tapher Michael Rössner4 weist indes darauf hin, dass »Metapher« wohl die einzig adäquate altgriechische Übersetzung des Begriffs der kulturellen Übersetzung oder Translatio/n darstellt – meta (über) pherein (tragen). Die Alternative »Metaphrasis« mit ihrem klaren Bezug zu Sprache und Text erscheint hier nicht befriedigend. 3 | Slavoj Žižek, Class Struggle or Post Modernism? Yes, please, in: Judith Butler/Ernesto Laclau/Slavoj Žižek (Hg.), Contingency, Hegemony, Universality: Contemporary Dialogues on the Left, London: Verso, 2000, S. 90–135. 4 | Michael Rössner, Translating Translation. On Mimesis, Translatio/n, and Metaphor. Some Reflections on the Boundaries of Cultural Translation and the »Translational Turn«, in: Federico Italiano/Michael Rössner (Hg.), Translatio/n. Narration, Media and the Staging of Differences, Bielefeld: transcript, 2012, S. 35–50, hier S. 41–42.

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Etymologisch lässt sich also sagen, dass die Metapher als Synonym für kulturelle Übersetzung verstanden werden kann.Eine Rehabilitierung des metaphorischen Gebrauchs kultureller Übersetzung lässt sich noch klarer aus der post-strukturalistischen Diskurstheorie ableiten; einer ihrer Vertreter, Homi Bhabha, wird häufig als derjenige genannt, auf den das Konzept der kulturellen Übersetzung zurückgeht; wenn er in diesem Zusammenhang von einem »dritten Raum« spricht, der durch die Übersetzung entsteht, so kann dies wohl auch nur (oder zumindest in erster Linie) metaphorisch verstanden werden5 . Um den Stellenwert der Metapher in der poststrukturellen Theorie klarer zu bestimmen, wird hier auf einen anderen Theoretiker zurückgegriffen, auf Ernesto Laclau, der sich (zum Teil gemeinsam mit Chantal Mouffe) um eine Systematisierung des Diskursbegriffes bemüht hat.6 Laclau definiert den Post-Strukturalismus als eine Weiterentwicklung des Strukturalismus im Verständnis von Ferdinand de Saussure. Nach de Saussure besteht keine notwendige Beziehung zwischen einem Signifikanten (also einem Teil des Diskurses) und einem Signifikat (der Idee, auf die sich dieser Signifikant bezieht). Die Stellung von Signifikanten wird nur durch ihre Relation zu anderen Signifikanten bestimmt; der Diskurs stellt eine geschlossene Struktur von Signifikanten dar, deren Relation untereinander notwendig ist, während ihre Relation zu Signifikaten kontingent ist. Diese Überlegung wird im Post-Strukturalismus in der Fassung von Laclau weiterentwickelt und zugleich kritisiert. Einerseits rückt Laclau von einem rein sprachlichen Diskursverständnis ab und versteht unter Diskurs »sämtliche sozial­ kulturellen Phänomene […]. Der Diskurs […] bezeichnet den relationalen Sinnzusammenhang, der sich in mündlicher Kommunikation oder schriftlichen Texten genauso manifestiert wie in Praktiken des Umgangs mit Objekten – etwa der Industrie – oder in ›schweigsamen‹ institutionellen Komplexen.«7 Die Unterscheidung zwischen sprachlicher Äußerung und Praxis ist hier also aufgehoben – der Diskurs ist die Form, in der sich uns die Welt erschließt. (Dies bedeutet nicht, dass es keine ›reale‹ Welt außerhalb des Diskurses gibt, aber diese wird für unser Denken und Handeln nicht relevant.) Durch die Verbindung sprachlicher Äußerungen und anderer soziokultureller Phänomene kann Laclau Begrifflichkeiten der Rhetorik, wie etwa die Metapher und das Metonym, für die Beschreibung und Erklärung gesellschaftlicher Phänomene nutzbar machen. Hier wird die enge Be5 | Homi K. Bhabha, How Newness Enters the World, in: Ders., The Location of Culture, London/New York: Routledge, 1994, S. 212–235. 6 | Vgl. insbesondere: Ernesto Laclau/Chantal Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy. Towards a radical democratic politics, London: Verso, 1985. 7 | Andreas Reckwitz, Ernesto Laclau. Diskurse, Antagonismen, Hegemonien, in: Stephan Moebius/Dirk Quadflieg (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, S. 339–349, hier S. 342, https://www.kuwi.europa-uni.de/de/ lehrstuhl/vs/kulsoz/professurinhaber/buecher_artikel/reckwitz_2006e_.pdf (abgerufen am 23.10.2017).

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ziehung dieses Zugangs zur kulturellen Übersetzung deutlich, die sich ja einerseits aus dem Konzept der sprachlichen Übersetzung entwickelt und andererseits über diese hinausreicht. Andererseits weist Laclau die Auffassung zurück, dass ein Diskurs ein geschlossenes und stabiles System darstellt. In seinem Verständnis kann jeder Diskurs nur temporär geschlossen werden und ist stets instabil und prekär. Die temporäre Schließung erfolgt durch die Schaffung einer Äquivalenzkette durch einen Meistersignifikanten, etwa den Signifikanten »kulturelle Übersetzung«. Dieser Meistersignifikant bindet Differenzen aneinander und an den Meistersignifikanten; damit werden Differenzen in Bezug auf den Meistersignifikanten zu Äquivalenzen. Dies gelingt aufgrund der relativen Unbestimmtheit des Meistersignifikanten; Laclau nennt ihn deshalb auch »leeren Signifikanten«. Differenzen werden indes nicht völlig aufgehoben – Äquivalenz bezieht sich stets nur auf einen Aspekt, der gleichwertig ist; sie schafft nicht Identität. Der Meistersignifikant »kulturelle Übersetzung« etwa schafft eine Äquivalenzkette der Begriffe De- und Rekontextualisierung, Verhandlung, Kommunikation, kulturelle Interaktion. Der Meistersignifikant schafft also die inneren Relationen des Diskurses; zugleich repräsentiert er den Diskurs nach außen. Beides ist eigentlich unmöglich – weder kann eine von vielen Differenzen (und der Meistersignifikant ist nichts anderes als eine privilegierte Differenz) – stabile Äquivalenzen schaffen, noch kann ein Teil des Diskurses den gesamten Diskurs nach außen repräsentieren. Trotzdem gelingt beides – auf stets prekäre Art – mit den Mitteln der Rhetorik – der Entleerung des Signifikanten nach innen und seiner metaphorischen Funktion nach außen. Damit lässt sich die Ausgangsfrage beantworten, ob kulturelle Übersetzung als Konzept Relevanz besitzt oder eine Metapher ist: Nur durch seine metaphorische Funktion gewinnt das Konzept Relevanz – denn seine Relevanz hängt von seiner Darstellbarkeit ab. Jeder Diskurs strebt nach Hegemonie, i.e. nach Universalisierbarkeit, und steht damit im Konflikt mit anderen Diskursen. Wenn wir dies anhand des Konzepts der kulturellen Übersetzung durchexerzieren, so lässt sich dieser Diskurs etwa in Konkurrenz und Konflikt zu Konzepten der kulturellen Reinheit einerseits und der Multikulturalität andererseits verstehen. Gegen Vorstellungen kultureller oder nationaler Reinheit bringt die kulturelle Übersetzung in Anschlag, dass Übersetzung möglich ist, gegen die Vorstellung eines bloßen Nebeneinanders verschiedener Kulturen in multikulturellen Gesellschaften, dass Übersetzung notwendig ist. Dem ließe sich eventuell noch hinzufügen, dass das Konzept der kulturellen Übersetzung sich auch naiven Vorstellungen interkultureller Kommunikation entgegenstellt, indem zugleich dargestellt wird, dass kulturelle Übersetzung zugleich auch unmöglich ist – und gerade durch diese Unmöglichkeit »Neuheit in die Welt bringt«, einen »dritten Raum« schafft. All dies leistet das Konzept der kulturellen Übersetzung auch und insbesondere aufgrund seiner spezifischen Metaphorik, also aufgrund dessen, dass ihr

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Quellbereich die sprachliche Übersetzung ist; im Sinne von Aristoteles wird hier also ein Begriff von einer »Art« auf die »Gattung« übertragen. 8

W ozu kulturelle Ü berse t zung ? Aus dieser diskurstheoretischen Betrachtung lässt sich allerdings nicht ableiten, dass das Konzept der kulturellen Übersetzung als Analyseinstrument besser geeignet ist als andere (gleichfalls metaphorische) Konzepte. Zugleich stellt sich aber auch die Frage, wie sich definieren lässt, ob ein Analyseinstrument besser oder schlechter ist, wenn man davon ausgeht, dass die Welt, wie wir sie verstehen, ebenso wie unsere Analyse im Diskurs geformt wird und daher auch unsere Analyse die Welt formt. Aus dieser Perspektive kann eine bestimmte Form, die Welt zu beschreiben und damit zu verstehen, nur in Hinblick auf eine normative Setzung ›besser‹ oder ›schlechter‹ sein – also in einem politischen Sinn. Die normative Setzung von Laclau besteht im demokratischen Horizont – sowohl die Stabilisierung als auch die Destabilisierung von Diskursen wird an diesem Horizont, an der universellen Verwirklichung von »Gleichfreiheit« (Balibar)9 gemessen. Insbesondere die Notwendigkeit der kontinuierlichen Destabilisierung von Diskursen spielt hier eine zentrale Rolle; hier trifft sich Laclau mit Bhabhas Anspruch, Neues durch kulturelle Übersetzung zu ermöglichen. Vielleicht lassen sich diese und verwandte normative Zielsetzungen mit dem ethischen Imperativ von Heinz von Förster verallgemeinern: »Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird!«10 In Hinblick auf kultur- und sozialwissenschaftliche Interpretations- und Erklärungsmodelle bedeutet dies wohl, dass diejenigen Modelle vorzuziehen sind, die Veränderung und Dynamik für möglich oder gar wahrscheinlich halten – und durch diese Positionierung Veränderung und Dynamik auch fördern. Die Theorie als metaphorischer Vorgriff auf eine politische Zukunft – oder vielmehr plurale und heterogene politische Zukünfte, ähnelt hier vielleicht der Form, in der laut Rössner11 in der Bibel die Bilder des Alten Testaments als metaphorischer Vorgriff auf die Ereignisse des Neuen Testaments verstanden werden – wenn auch eben gerade ohne Teleologie. Geht es in der kulturwissenschaftlichen Forschung also um die Produktion (bzw. das Aufzeigen) von Möglichkeiten, dann hat das Konzept der kulturellen Übersetzung deutlich mehr zu bieten als die beschriebenen Konkurrenzkonzepte der kulturellen Reinheit, des Multikulturalismus und der Interkulturalität, die 8 | Zit. nach Rössner, Translating Translation, 2012, S. 42 9 | Étienne Balibar, Gleichfreiheit. Politische Essays, Berlin: Suhrkamp, 2012. 10 | Heinz von Foerster, Das Konstruieren einer Wirklichkeit; in: Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben. Beiträge zum Konstruktivismus, hg. und kommentiert von Paul Watzlawick, München: Oldenbourg, 1985, S. 60. 11 | Vgl. Rössner, Translating Translation, 2012, S. 42.

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sich – mit konträren Vorzeichen – auf einen statischen Begriff von Kulturen beziehen, die voneinander getrennt werden müssen, nebeneinander existieren oder sogar kommunizieren können, stets jedoch als langdauernd, wenn nicht gar ewig, essentialisiert werden. Kulturelle Übersetzung lenkt den Blick auf Prozesse, die sich über kulturelle Grenzen hinweg entwickeln und sowohl die Übertragung von einer Kultur in eine andere, als auch die Schaffung neuer kultureller Formen ermöglichen, wie Rössner etwa am Beispiel der vielfältigen Überschneidungen von europäischer Avantgarde und lateinamerikanischer Literatur zeigt.12 Dabei hält das Konzept nicht nur offen, ob diese Prozesse gelingen oder nicht, sondern auch, wie hier nun Gelingen genau zu definieren wäre. Diese Offenheit verdankt die kulturelle Übersetzung nicht der Metaphorik, sondern einer anderen rhetorischen Figur, nämlich der Metonymie. Während die Metaphorik die temporäre Schließung eines Diskurses ermöglicht, gelingt es der Metonymie, Bedeutungen zu verschieben und Signifikanten gleiten zu lassen. Im Gegensatz zur paradigmatischen diskursiven Achse der Metapher stellt die Metonymie die syntagmatische Achse des Diskurses dar. Äquivalenzketten bestehen aus Metonymien, die sich ständig verschieben und durch die Metapher des leeren Signifikanten prekär stabilisiert und repräsentiert werden. Dies ist einer der zahlreichen diskursiven Aspekte, auf die Jacques Derrida mit seinem Begriff der »différance« hinweist – Differenzen sind nicht statisch, sondern werden ständig produziert und dabei auch verändert.13 Um hier noch einmal auf Rössners Analyse lateinamerikanischer Literatur zurückzugreifen: Hier zeigen sich Metonymien etwa daran, dass gerade Exilautor_innen zu Protagonist_innen neu konstruierter nationaler Literaturen erklärt wurden.14

K ulturelle Ü berse t zung und D e -E ssentialisierung Seine normative Würde erhält das Konzept der kulturellen Übersetzung also dadurch, dass es rigide Diskurse destabilisiert und damit neue Möglichkeiten eröffnet. In Hinblick auf zeitgenössische politische und gesellschaftliche Debatten erscheint dies insbesondere in der Auseinandersetzung mit nationalistischen (bzw. eurozentrischen) Gesellschaftsbildern von Relevanz. Diese Diskurse unterscheiden sich von anderen Diskursen nicht durch ihren ausschließenden Charakter – jeder Diskurs benötigt zu seiner Schließung ein Außen –, sondern einerseits durch ihren Essentialismus, also dadurch, dass die Grenzen des Diskurses und damit sein Außen als absolut und unveränderlich angesehen werden, und andererseits dadurch, dass als dieses Außen nicht Ideen, Politiken oder Ideologien definiert werden, sondern Menschengruppen. Da jeder Diskurs nach Universali12 | Vgl. Rössner, Migration, 2011, S. 235–248. 13 | Vgl. Reckwitz, Laclau, 2006, S. 342. 14 | Vgl. Rössner, Migration, 2011, S. 239–240.

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tät strebt, stellt die Tatsache, dass er ein Außen hat, für ihn eine Bedrohung dar. Es ist ein Spezifikum des Rassismus, dass diese Bedrohung auf eine Gruppe von Menschen projiziert wird, wie Žižek etwa am Beispiel des Anti-Semitismus zeigt: Die Unmöglichkeit der rassischen Reinheit verkörpert sich im Juden.15 Die Juden werden damit, in der Wortwahl von Lacan zum »Symptom«, das das Phantasma der rassischen Reinheit zugleich stört und aufrechterhält. Das Symptom spiegelt vor, dass seine Beseitigung die rassische Reinheit herstellen würde; ohne das Symptom wird deutlich, dass das Phantasma nicht mehr als ein Phantasma ist – und damit bricht es in sich zusammen. In zeitgenössischen Diskursen stellen Geflüchtete, Islamist_innen etc. das Symptom dar. Das Konzept der kulturellen Übersetzung bemüht sich in mehrfacher Hinsicht um die Dislozierung nationalistischer und rassistischer Diskurse. Nicht nur widerspricht das Konzept der Übersetzbarkeit jedem absoluten Ausschluss; vielleicht noch wichtiger ist, dass dieses Konzept anti-essentialistisch ist. Ebenso wie in der sprachlichen Übersetzung geht es niemals darum, ein Original in eine andere Version zu übertragen – es gibt keine Originale, und alles ist stets schon Übersetzung oder, umgekehrt, es gibt nur Originale und jede Übersetzung erzeugt ein Original. Die Metapher der kulturellen Übersetzung trägt also die Möglichkeit der Verständigung und der Grenzüberschreitung oder auch der Verschiebung von Grenzen in sich. Zugleich allerdings transportiert sie auch andere Assoziationen ihres Quellkontexts. Wenn Übersetzung bedeutsam ist, so impliziert das, dass auch die Unterschiede zwischen Sprachen bedeutsam sind. Sprache kann bekanntlich sowohl der Kommunikation wie auch der Abgrenzung dienen und stellt einen entscheidenden nationalen wie auch nationalistischen Marker dar. Und die Wortgruppe »kulturelle Übersetzung« verstärkt noch einmal die Assoziation, dass gerade verschiedene Kulturen, verstanden als Ethnizität, Nation oder vielleicht auch »civilization« im Sinne von Huntington,16 besonders übersetzungsbedürftig sind. In diesem Sinne zeigt der Begriff der kulturellen Übersetzung zugleich die Möglichkeit der Übersetzung wie auch die Notwendigkeit gerade im Bereich »kultureller Unterschiede«. Selbstverständlich lässt sich das Konzept der kulturellen Übersetzung auch anders anwenden als in Bezug auf Kulturen, etwa in Bezug auf Klassenunterschiede, auf die Transformation und Adaption von Konzepten auf neue Zusammenhänge,17 auf Übersetzungen zwischen verschiedenen Wissenschaftsspra-

15 | Vgl. Slavoj Žižek, The Sublime Object of Ideology, London: Verso, 1989. 16 | Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York: Simon & Schuster, 1996. 17 | Vgl. Monika Mokre, Solidarität als Übersetzung. Überlegungen zum Refugee Protest Camp Vienna, Wien: transversal, 2015.

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chen oder etwa zwischen Wissenschaft und Kunst.18 Doch der Preis dafür, die Metapher ernst zu nehmen, besteht darin, alle nicht geplanten Assoziationen mit ihr gleichfalls ernst zu nehmen und die Metapher unter Umständen auch in Frage zu stellen. In diesem Sinne spricht einiges dafür, das Adjektiv »kulturell« in diesem Zusammenhang zu vermeiden und nur von »Translatio/n«19 oder auch von einem »erweiterten Übersetzungsbegriff«20 zu sprechen.

»The D ark S ide of Tr ansl ation « Eine andere Konnotation des Übersetzungsbegriffs, der sprachlich eventuell weniger leicht beizukommen ist, besteht in der Vorstellung von Übersetzung als grundlegend ›freundlicher‹, kommunikationsfördernder Tätigkeit und des/der Übersetzer_in als Vermittler_in. Diese Lesart wird immer wieder und sehr plausibel kritisiert. So beschäftigte sich etwa die Jahrestagung 2017 des IKT mit »The Dark Side of Translation«;21 Sakai spricht von Übersetzung als Filter,22 und Dolmetscher_innen beschreiben plausibel, dass eine äquidistante Positionierung des Dolmetschens nicht möglich ist, insbesondere in Situationen mit erheblichem Machtgefälle – auch ungeplant schlägt man sich immer wieder entweder auf die Seite der Macht oder auf die der Machtlos(er)en.23 Überall im Bereich der – sprachlichen wie kulturellen – Übersetzung spielt Macht eine Rolle – etwa bei der Frage, welche Werke übersetzenswert sind und in welche Sprachen sich Übersetzung lohnt; oder auch in Hinblick darauf, wer übersetzt werden muss und wer in »seiner/ihrer« Sprache sprechen und schreiben darf. Benötigt wird hier eine genauere Betrachtung von Übersetzung als Prozess wie auch des Ausgangs- und Endpunkts von Übersetzung.

18 | Vgl. Jens Badura/Monika Mokre, Translation als Transformation. Wissensproduktion im Spannungsfeld von Künsten und Wissenschaften, in: Werner Hasitschka (Hg.), Performing Translation. Schnittstellen zwischen Kunst, Pädagogik und Wissenschaft, Wien: Löcker, 2014, S. 17–27. 19 | Italiano/ Rössner, Translatio/n, 2012. 20 | Thomas Macho, Künste und Kulturen des Übersetzens. Plädoyer für einen erweiterten Übersetzungsbegriff. Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung »Nicht/Übersetzbarkeiten. Sprachen – Texte – Medien – Differenzen«, Zürich, 2016. 21  | https://www.oeaw.ac.at/fileadmin/Institute/IKT/PDF/Veranstaltungen/Programm_ Dark-Side_03102017.pdf (abgerufen am 23.10.2017). 22 | Naoki Sakai, Übersetzen als Filter, in: eine kommunalität, die nicht sprechen kann. transversal webjournal 06/2013. http://eipcp.net/transversal/0613/sakai2/de (abgerufen am 23.10.2017). 23 | Vgl. Mascha Dabić, Reibungsverluste, Wien: edition atelier, 2017; Shumona Sinha, Erschlagt die Armen, Hamburg: Edition Nautilus, 2015.

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Für ein komplexeres und ambivalenteres Verständnis des Prozesses der Übersetzung bietet sich ein Wortspiel von Rössner an, nämlich die deutschsprachige Homonymie von »übersetzen« und »über-setzen« im Sinne der Überquerung eines Gewässers.24 Auch hier dient eine Begrifflichkeit der Rhetorik, die Homonymie (die Betonung der beiden Begriffe ist unterschiedlich, doch schriftlich können sie nicht voneinander unterschieden werden) dem Verständnis gesellschaftlicher Zusammenhänge. Der/die Übersetzer_in lenkt das Schiff zwischen zwei Ufern und schafft damit einen Zwischenraum der Unentscheidbarkeit und damit neuer Möglichkeiten. Diese Form der Übersetzung sieht Raunig etwa in bestimmten Formen der Kunst- und Kulturproduktion verwirklicht, die er – in Anlehnung an den Fährmann zur Unterwelt in der griechischen Mythologie – als »charonitische Hilfsarbeiten« bezeichnet, die den Raum zwischen zwei Ufern produktiv machen, Grenzen nicht auflösen, Differenzen nicht verschwinden lassen, aber aus Grenzlinien Grenzräume machen.25 Rössner weist allerdings auch darauf hin, dass man im Prozess des Über­ setzens nass werden kann und relativiert damit den emphatischen Zugang von Raunig. Dem ist wohl, insbesondere, aber nicht nur in Hinblick auf zeitgenössische Politiken hinzuzufügen, dass man im Prozess des Über-setzens auch ertrinken kann; »The Dark Side of Translation« kann zu Sprachlosigkeit bis zur endgültigen Auslöschung der Sprechfähigkeit führen.

D ifferenz und Ä hnlichkeit Übersetzung kann ebenso wie Über-setzung auf vielfältige Weisen scheitern, und auch wenn gilt, dass ein vollständiges Gelingen der Übersetzung stets unmöglich ist und Übersetzung daher letztendlich immer scheitert und genau deshalb auch produktiv wird, so ist doch auch zu beachten, dass es Formen dieses Scheiterns gibt, die dramatisch und tragisch sind. Diese Formen des Scheiterns und ihre Ursachen bedürfen daher einer genauen Analyse. Übersetzungen scheitern, wenn der Übersetzungsprozess missverstanden wird, als Übertragung von hier nach dort, als Überschreitung einer Grenze, die keinerlei Schwierigkeiten und daher auch keine produktiven Möglichkeiten in sich trägt, bei der kein Gewässer bewältigt werden muss. Als Beispiel in zeitgenössischen Diskursen lässt sich hier etwa die Forderung von Assimilation von Migrant_innen nennen, die häufig fälschlich Integration genannt wird. Integration ist allerdings ein Vorgang der wechselseitigen Annäherung und Anerkennung, der eine Gesellschaft verändert, also Neuheit entstehen lässt.

24 | Siehe etwa Rössner, Translating Translation, 2012, S. 41. 25 | Gerald Raunig, Charon. Eine Ästhetik der Grenzüberschreitung (= Klagenfurter Reihe zur Philosophie und Kulturwissenschaft), Wien: Passagen-Verlag, 1999.

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Die Forderung nach einer Übersetzung dieser Art entspringt der Vorstellung, dass Differenzen so groß sind, dass ihr gemeinsames Bestehen unmöglich ist, dass keine Äquivalenzkette gebildet werden kann. Dieses Verständnis von Differenz ist ebenso ein (bewusster oder unbewusster) politischer Akt wie die Entscheidung, bestimmte Differenzen als relevanter anzusehen als andere. Es ist eine politische Entscheidung (mit eminenten politischen Auswirkungen), kulturelle Differenzen als unüberwindlich anzusehen und Klassendifferenzen als vernachlässigbar. Es ist eine politische Entscheidung, unterschiedliche Wahrnehmungsweisen einer grundlegenden kulturellen Prägung zuzuschreiben oder unterschiedlichen – individuellen oder kollektiven – Lebenserfahrungen. Eine Möglichkeit der De-Essentialisierung von Differenz (und damit auch eines spezifischen Zugangs zur kulturellen Übersetzung) bietet das Konzept der Ähnlichkeit, das in den letzten Jahren von Anil Bhatti und Dorothee Kimmich26 als kulturtheoretisches Paradigma entwickelt wurde. Ähnlichkeit ist ein vager Begriff,27 dem es ebenso wie vielen anderen Konzepten der Kulturwissenschaften an Präzision mangelt,28 und der daher von vielen Theoretiker_innen als unbefriedigend angesehen wurde und wird – Willard van Orman Quine bezeichnet ihn gar als »logisch abstoßend«.29 Doch diese Vagheit bedeutet einerseits nicht, dass der Begriff beliebig ist, und sie macht ihn andererseits auf spezifische Art politisch produktiv. Ähnlichkeit ist ebenso wie Differenz oder das Begriffspaar Identität/Alterität eine Perspektive auf Gesellschaft, eine Indifferenz gegenüber Differenz.30 Wie Bhatti beschreibt, spielt diese Indifferenz für die indische Gesellschaft eine wichtige Rolle – es geht nicht um das Paradigma des Verstehens, sondern um Verständigung, um »Versuche, überlappende Felder der Ähnlichkeit zu finden«,31 um eine Strategie der Entdramatisierung, und es geht wohl auch darum, Übersetzung – in ihrer Möglichkeit, Unmöglichkeit und Notwendigkeit – in Schwebe zu halten, den Zwischenraum als Aufenthaltsraum zu akzeptieren. Der Zwischenraum ist unbequem, er ist ein ›Unort‹. Er befindet sich auf dem rutschigen, »slippery« Gelände der Ähnlichkeit32 oder gar auf einem schwankenden Schiff. Er bleibt auch stets theoretisch wie politisch fundamental unbefriedigend – kein rettendes Ufer, keine schützende Grenzmauer und auch keine universellen Lösungen sind in Sicht. Mit jeder theoretischen Weiterentwicklung wird mehr verloren als nur Fesseln, und niemals ist eine Welt zu gewinnen – um nach Groucho Marx am Beginn dieses Texts nun auch noch Karl Marx an seinem Ende 26 | Anil Bhatti/Dorothee Kimmich, Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma, Konstanz: konstanz university press, 2015. 27 | Vgl. dies., Einleitung, in: Dies., Ähnlichkeit, 2015, S. 7–31, hier S. 10. 28 | Vgl. Rössner, Translating Translation, 2012, S. 36. 29 | Zit. nach Bhatti/Kimmich, Ähnlichkeit, 2015, S. 10. 30 | Vgl. ebd., S. 16. 31 | Ebd., S. 15. 32 | Nelson Goodman, zit. nach ebd., S. 10.

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zu paraphrasieren. Das Reich der Freiheit ist weiter entfernt denn je und die Frage nach der Macht oder den Mächten, die der Freiheit entgegenstehen, noch nicht einmal präzise gestellt. Doch in einer Zeit, in der sich täglich zahlreiche Menschen auf unsichere Boote begeben, ist der Theoretikerin wohl zuzumuten, zumindest intellektuell Unorte aufzusuchen und sicheres Terrain zu verlassen.

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Schriftenverzeichnis

1. B ücher und M onogr afien (a) Alleinautor 1.1. Pirandello Mythenstürzer. Fort vom Mythos – Mit Hilfe des Mythos – Hin zum Mythos (= Junge Wiener Romanistik 1), Wien/Graz/Köln: Böhlau, 1980 (https:// epub.ub.uni-muenchen.de/6490/) 1.2. Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Zum mythischen Bewußtsein in der Literatur des 20. Jahrhunderts (= Monografien Literaturwissenschaft 88), Frankfurt am Main: Athenäum, 1988 (https://epub.ub.uni-muenchen. de/6488/) 1.3. Informationen über meinen unfreiwilligen Aufenthalt auf der Erde. Leben und Werk Luigi Pirandellos erzählt von Michael Rössner (= Pirandello-Werkaus­ gabe 16), Berlin: Propyläen, 2000.

(b) Herausgeber und Autor 2.1. Lateinamerikanische Literaturgeschichte, Stuttgart: Metzler, 1995, 22002, 3 2007. 2.2. Pirandello zwischen Avantgarde und Postmoderne (Akten des 5. und 6. Piran­ dello-Symposiums in Erlangen und München), Wilhelmsfeld: Egert, 1996. 2.3. Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 1999. 2.4. ¡Bailá! ¡Vení! ¡Volá! El fenómeno tanguero y la literatura (Actas del Simposio »Tango y literatura« de Berlin), Frankfurt am Main: Vervuert, 2000.

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2. H er ausgebertätigkeit (a) Textedition/Übersetzung 2.1. Luigi Pirandello-Werkausgabe in deutscher Sprache. Mindelheim: Sachon, 1985–1989 (ab 1987 hg. von Michael Rössner), Neuausgabe im Propyläen-­ Verlag (Berlin) in 16 Bänden: 1. Die Aufzeichnungen des Kameramanns Serafino Gubbio 1997 2. Die Riesen vom Berge. Die Mythen und andere späte Stücke 1997 3. Der Humor. Essay 1997 4. Die Wirklichkeit des Traums und andere Novellen 1997 5. Die Ausgestoßene / Einer, keiner, hunderttausend. Zwei Romane 1997 6. Sechs Personen suchen einen Autor. Trilogie des Theaters auf dem Theater und theaterkritische Schriften 1997 7. Einer nach dem anderen und Sonne und Schatten. Sizilianische Novellen I 1998 8. Die vergessene Maske. Sizilianische Novellen II 1998 9. Mattia Pascal. Roman 1999 10. So ist es (wenn es Ihnen so scheint). Die frühen Stücke 1998 11. Da lacht doch jemand. Die späten Erzählungen 1999 12/1. Der Mensch, das Tier und die Tugend und andere Stücke 1999 12/2. Der Mann mit der Blume im Mund und andere Stücke 1999 13/1. Heinrich IV. und andere Stücke 1999 13/2. Ich träume (aber vielleicht auch nicht) und andere Stücke 2000 14. Die Alten und die Jungen. Roman 2000 15. Der Mann seiner Frau. Roman 1999 16. Informationen über meinen unfreiwilligen Aufenthalt auf der Erde. Leben und Werk 2000

(b) Herausgebertätigkeit 2.2. Gemeinsam mit Birgit Wagner: Aufstieg und Krise der Vernunft. Komparatistische Studien zur Literatur der Aufklärung und des Fin de siècle (Festschrift für Hans Hinterhäuser), Wien/Graz/Köln: Böhlau, 1984. 2.3. Gemeinsam mit Frank-Rutger Hausmann: Theatralisierung der Wirklichkeit und Wirklichkeit des Theaters (Akten des 3. Pirandello-Symposiums in Wien 1986), Bonn: Romanistischer Verlag, 1988. 2.4. Gemeinsam mit Frank-Rutger Hausmann: Pirandello und die europäische Erzählliteratur (Akten des 4. Pirandello-Symposiums in Aachen 1988), Bonn: Romanistischer Verlag, 1990. 2.5. Gemeinsam mit Christoph Strosetzki: Encuentro y Desencuentro 1492 (Vorträge der Sektion »1492« des Deutschen Hispanistentags Göttingen 1991), 3 Bände (= Acta Columbina 19–21), Kassel: Reichenberger, 1992.

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2.6. Gustav Siebenmann: Suchbild Lateinamerika. Essays über interkulturelle Wahrnehmung (Zu seinem 80. Geburtstag hg. von Michael Rössner), Tübingen: Niemeyer, 2003. 2.7. Gemeinsam mit Thomas Klinkert: Zentrum und Peripherie – Pirandello zwischen Sizilien, Italien und Europa / Centro e periferia. – Pirandello tra Sicilia, Italia ed Europa, Berlin: Erich Schmidt, 2006. 2.8. Gemeinsam mit Fausto De Michele: Pirandello e l’identità europea, Pesaro: Metauro, 2008. 2.9. Gemeinsam mit Heidemarie Uhl: Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Bielefeld: transcript, 2012. 2.10. Gemeinsam mit Federico Italiano: Translatio/n. Narration, Media and the Staging of Differences, Bielefeld: transcript, 2012. 2.11. Gemeinsam mit Alessandra Sorrentino: Pirandello e la traduzione culturale, Rom: Carrocci, 2012. 2.12. Gemeinsam mit Wolfram Aichinger und Martina Maidl: ›Melos‹ y ›opsis‹ en el Siglo de Oro. Ritmo, imagen y emoción en el teatro y en la poesía lírica (= Sonderheft der Iberoromania 75–76, H. 1), Tübingen: De Gruyter 2012. 2.13. Gemeinsam mit Hermann Blume, Elisabeth Großegger und Andrea Sommer-Mathis: Inszenierung und Gedächtnis. – Soziokulturelle und ästhetische Praxis, Bielefeld: transcript, 2014. 2.14. Gemeinsam mit Hermann Blume und Christoph Leitgeb: Narrated Communities – Narrated Realities. Narration as Cognitive Processing and Cultural Practice (= Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 183), Leiden/Boston: Brill/Rodopi 2015.

3. A ufsät ze in F achzeitschrif ten und S ammelwerken 3.1. Aspetti di »coscienza mitica« nelle novelle di Pirandello, in: Stefano Milioto (Hg.), Le novelle di Pirandello (Atti del 6o Convegno internazionale di studi pirandelliani, Agrigento 1979), Agrigent: Centro nazionale di studi pirandelliani, 1980, S. 239–252 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6789/). 3.2. Le raccolte tedesche, in: Paola Daniela Giovanelli (Hg.), Pirandello Poeta (Atti del Convegno internazionale organizzato dal Centro nazionale di studi pirandelliani di Agrigento), Florenz: Vallecchi 1981, S. 110–125 (https://epub. ub.uni-muenchen.de/6788/). 3.3. Rezeptionsästhetische Lektüre im Werk des Arcipreste de Hita: Zu den Leerstellen im Libro de Buen Amor, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen Bd. 221, Jg. 136 (1984) 1, S. 113–129 (https://epub. ub.uni-muenchen.de/6787/). 3.4. Nietzsche und Pirandello. Parallelen und Differenzen zweier Denk-Charaktere, in: Johannes Thomas (Hg.), Pirandello-Studien (Akten des I. Paderbor-

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ner Pirandello-Symposiums), Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh, 1984, S. 9–25 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6498/). 3.5. Zwischen Analyse und Entfremdung. Gedanken zur Krise des europäischen Naturalismus zwischen Zola und Pirandello, in: Michael Rössner/Birgit Wagner (Hg.), Aufstieg und Krise der Vernunft. Komparatistische Studien zur Literatur der Aufklärung und des Fin de siècle (Festschrift für Hans Hinterhäuser), Wien/Graz/Köln: Böhlau, 1984, S. 143–156 (https://epub.ub.uni-muenchen. de/6681/). 3.6. Das Wien-Bild im Estebanillo González und das Bild des Spaniers in Johann Beers Des berühmten Spaniers Francisci Sambelle wohlausgepolirte Weiber-Hae­ chel, in: Wolfram Krömer (Hg.), Spanien und Österreich im Barockzeitalter (Akten des Dritten Spanisch-Österreichischen Samposions, Kremsmünster, 25.–30. Sept. 1983) (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Sonderheft 58), Innsbruck: Institut für Sprachwissenschaft, 1985, S. 9–20 (https:// epub.ub.uni-muenchen.de/6680/). 3.7. Auf dem Weg zu einer Literaturwissenschaft für den Leser? Provokatorische Denkanstöße für eine Zweckbestimmung der Literaturwissenschaft, in: Romanistik integrativ (Festschrift für Wolfgang Pollak), Wien: Braumüller, 1985, S. 445–451 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6679/). 3.8. El fracaso de la razón entre Musil y Kafka, in: Revista de la Universidad Católica de Chile, Santiago de Chile (1984), S. 40–45 (https://epub.ub.uni-muenchen. de/6678/). 3.9. Stichwort: Philippe Sollers, in: Wolf-Dieter Lange (Hg.), Kritisches Lexikon der romanischen Gegenwartsliteraturen, Tübingen: Narr, 1985. 3.10. Der französische Surrealismus und die indianisch-mythische Welt in der lateinamerikanischen Literatur, in: Zeitschrift für Lateinamerika 29 (1985), S. 54–64 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6673/). 3.11. Mythos und Magie als poetische Kategorie in einigen Erzählungen von Borges und Cortázar, in: Lateinamerika-Studien 19 (1985), S. 427–445 (https:// epub.ub.uni-muenchen.de/6670/). 3.12. Die »lebende Figur«. Bemerkungen zur Personenemanzipation bei Capuana und Pirandello, in: Johannes Thomas (Hg.), Pirandello und die Naturalismusdiskussion (Akten des II. Paderborner Pirandello-Symposiums), Paderborn/ München/Wien/Zürich: Schöningh, 1986 (https://epub.ub.uni-muenchen. de/6665/). 3.13. Über Pirandello, Wahrheit und Lüge, alles in durchaus moralischem, jedenfalls aber humoristischem Sinn, in: Sandro Moraldo/Ronald Michael Schmidt (Hg.), Pirandello. Pirandello (Dokumentationsband zur Ausstellung der Universitätsbibliothek in der Alten Universität Heidelberg, 4.–23. April 1986), Heidelberg: HVA, 1986, S. 29–42 (https://epub.ub.uni-muenchen. de/6661/). 3.14. Philippe Sollers, in: Wolf-Dieter Lange (Hg.), Französische Literatur des 20. Jahrhunderts. Gestalten und Tendenzen (Zur Erinnerung an Ernst Robert

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Curtius), Bonn: Bouvier 1986, S. 398–409 (https://epub.ub.uni-muenchen. de/6659/). 3.15. La fortuna di Pirandello in Germania e le messinscene di Max Reinhardt, in: Quaderni del teatro 9 (1986), S. 40–53 (https://epub.ub.uni-muenchen. de/6657/). 3.16. La fortuna di Pirandello nel mondo di lingua tedesca, in: Problemi 77 (1986) 4, S. 298–305 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6654/). 3.17. Lope de Vegas mystische Dichtung oder das Große Dichtungstheater, in: Hans-Josef Niederehe (Hg.), Schwerpunkt Siglo de Oro (Akten des Deutschen Hispanistentags Wolfenbüttel 1985), Hamburg: Buske, 1986, S. 9–26 (https:// epub.ub.uni-muenchen.de/6607/). 3.18. Auf der Suche nach Pirandello. Zur deutschen Pirandello-Rezeption der ersten Stunde anhand unveröffentlichter Regiebücher von Karlheinz Martin, Rudolf Beer und Max Reinhardt, in: Italienisch 8 (1986), S. 22–38 (https://epub. ub.uni-muenchen.de/6605/). 3.19. Il siciliano nel ruolo del Bon Sauvage nell’opera di Luigi Pirandello, in: Helene Harth/Titus Heydenreich (Hg.), Sizilien. Geschichte-Kultur-Aktualität, Bd. 8, Tübingen: Stauffenburg, 1987, S. 151–163 (https://epub.ub.uni-muenchen. de/6604/). 3.20. Zerrspiegel, Marionetten, Grotesken. Valle-Incláns esperpentos im Vergleich mit dem italienischen teatro del grottesco und Pirandello, in: Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Ramón del Valle-Inclán (1866–1936) (Akten des Bam­ berger Kolloquiums vom 6.–8. Nov. 1986), Bd. 5, Tübingen: Niemeyer, 1988, S. 147–162 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6598/). 3.21. Nietzsche e Pirandello: Paralleli e differenze, in: Antonio Alassio/Claudia Persi Haines/Leonard G. Sbrocchi (Hg.), L’enigma Pirandello (Atti del Congresso Internazionale, Ottawa, 24.–26. Okt. 1986), Ottawa: Canadian Society for Itali­ an Studies, 1988, S. 228–242 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6597/). 3.22. »La fable du Mexique« oder vom Zusammenbruch der Utopien. Über die Konfrontation europäischer Paradiesvorstellungen mit dem Selbstverständnis des »indigenen« Mexiko in den 20er- und 30er-Jahren, in: Karl Hölz (Hg.), Literarische Vermittlungen. Geschichte und Identität in der mexikanischen Literatur (= Beihefte zur Iberoromania 6), Tübingen: Erich Schmidt, 1988, S. 47–60 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6596/). 3.23. Europäische Avantgarde und Ethnologie im Kontext der Suche nach natio­ naler Identität: Gedanken zum frühen Asturias und zum frühen Carpentier, in: Iberoamericana 31/32 (1988), S. 23–38 (https://epub.ub.uni-muenchen. de/6594/). 3.24. Die Krise kam nur bis Eboli. Bemerkungen zu Ethno-Literatur und Mythi­ sierung des Mezzogiorno bei Carlo Levi, in: Italienische Studien 1988, S. 51–60 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6593/).

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3.25. Theater auf dem Theater und »Bühnen-Pikareske« bei Corneille und Cer­ vantes. Zur Illusion comique und zu Pedro de Urdemalas, in: Romanische Forschungen 101 (1989), S. 42–59 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6590/).  3.26. Realismo loco o lo real maravilloso europeo. A propósito de Notícias del Imperio de Fernando del Paso, in: Sábado, Suplemento de unomásuno, México, 6. Jan. 1990, S. 1–2. 3.27. Svevos (mitteleuropäische?) Ironie, in: Rudolf Behrens/Richard Schwaderer (Hg.), Italo Svevo, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1990, S. 81–92 (https:// epub.ub.uni-muenchen.de/6587/). 3.28. Pirandellos Erzählwerk im Rahmen des Europäischen Regionalismus, in: Michael Rössner/Frank-Rutger Hausmann ( Hg.), Pirandello und die europäische Erzählliteratur, Aachen: Romanistischer Verlag, 1990, S. 36–49 (https:// epub.ub.uni-muenchen.de/6586/). 3.29. Das italienische Theater zwischen 1900 und 1949. Bilanz einer lückenund fehlerhaften Rezeption, in: Reinhard Klesczewski/Bernhard König (Hg.), Italienische Literatur in deutscher Sprache. Bilanz und Perspektiven, Tübingen: Narr, 1990, S. 97–105 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6585/). 3.30. »Literatura fantástica« in Brasilien? Die phantastische Kurzerzählung bei Joao Guimaraes Rosa, in: Erna Pfeiffer/Hugo Kubarth (Hg.), Canticum Ibericum (Gedächtnisschrift für G.R. Lind), Frankfurt am Main: Vervuert, 1991, S. 244–256 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6584/). 3.31. Das Theater der Siglos de Oro, in: Christoph Strosetzki (Hg.), Geschichte der spanischen Literatur, Tübingen: Niemeyer, 1991, S. 161–191 (https://epub. ub.uni-muenchen.de/6511/). 3.32. Fernando del Paso: Realismo loco o lo real maravilloso europeo, in: Karl Kohut (Hg.), Literatura mexicana hoy (= Americana Eystettensia 1), Frankfurt am Main: Vervuert, 1991, S. 223–229 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6510/) (geringfügig veränderte Fassung von 3.26). 3.33. »Nuestra América« und das »exotische Europa«. 1492 in der lateinamerikanischen Perspektive des letzten Jahrzehnts am Beispiel von Abel Posse Los perros del paraíso, in: Michael Rössner/Christoph Strosetzki (Hg.), Encuentro y Desencuentro 1492 (Vorträge der Sektion »1492« des Deutschen Hispanistentags in Göttingen 1991), Bd. 2 (= Acta Columbina 20), Kassel: Reichenberger, 1992, S. 45–58 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6509/). 3.34. Spuren der europäischen Avantgarde im »modernistischen Jahrzehnt« in Brasilien, in: Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.). Europäische Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext, Frankfurt am Main: Vervuert, 1991, S. 31–50 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6508/). 3.35. Lateinamerikavisionen im frühen 20. Jahrhundert, in: Gustav Siebenmann/ Hans-Joachim König (Hg.), Das Bild Lateinamerikas im deutschen Sprachraum, Tübingen: Niemeyer, 1991, S. 163–177 (https://epub.ub.uni-muenchen. de/6506/).

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3.36. El concepto del »otro estado« en Hofmannsthal y Musil, in: Inter Litteras (Revista de la Sección de Literatura en Lenguas Extranjeras, Instituto de Filología y Literaturas Hispánicas, Facultad de Filosofía y Letras, Universidad de Buenos Aires) 1 (1992), S. 29–34. 3.37. Vom »goldenen Zeitalter« zum »arkadischen Endspiel«. Das Schäferspiel in Italien und Frankreich zwischen Tasso und Du Ryer, in: Hans-Jürgen Lüsebrink/ Hans Theo Siepe (Hg.), Romanistische Komparatistik. Begegnungen der Texte – Literatur im Vergleich, Frankfurt am Main: Peter Lang, 1993, S. 49–64 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6504/). 3.38. Die hispanoamerikanische Literatur, in: Walter Jens (Hg.), Kindlers Li­ teratur-­Lexikon, Bd. 20, München: Kindler, 1992, S. 40–56 (https://epub. ub.uni-muenchen.de/6503/). 3.39. Adolfo Bioy Casares: »El sueño de los héroes«, in: Volker Roloff/Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Der hispanoamerikanische Roman, Bd. I: Von den Anfängen bis Carpentier, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992, S. 254–265 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6502/). 3.40. Post-Boom, noch immer Boom oder gar kein Boom? Gedanken zu den Problemen von Übersetzung und Vermarktung lateinamerikanischer Literatur im deutschen Sprachraum, in: Ludwig Schrader (Hg.), Von Góngora bis Nicolás Guillén. Spanische und lateinamerikanische Literatur in deutscher Übersetzung. Erfahrungen und Perspektiven (Akten des internationalen Kolloquiums Düsseldorf vom 21.–22. Mai 1992), Tübingen: Narr, 1993, S. 13–23 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6500/). 3.41. Der Modernitätsaspekt in der spanischen Dramatik nach der Jahrhundertwende, in: Hans-Joachim Piechotta/Ralph-Rainer Wuthenow/Sabine Rothemann (Hg.), Die literarische Moderne in Europa, Bd. 2: Formationen der literarischen Avantgarde, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1994, S. 344–352 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6494/). 3.42. Der Modernitätsaspekt in der italienischen Dramatik nach der Jahrhundertwende, in: ebd., S. 353–360 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6496/). 3.43. Transgressionen. Zu dem wirkungsästhetischen Potential der Gattungsmischung in nicht-einordenbaren Texten der modernen Literatur, in: Annette Sabban/Christian Schmitt (Hg.), Sprachlicher Alltag. Linguistik – Rhetorik – Literaturwissenschaft (Festschrift für Wolf-Dieter Stempel, 7. Juli 1994), Bonn: De Gruyter, 1994, S. 455–476 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6495/). 3.44. Textsortenlabyrinthe. Zu den Textstrategien bei Macedonio Fernández, Jorge Luis Borges und Julio Cortázar, in Iberoromania 39 (1994), S. 79–92 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6493/). 3.45. Das literarische Kaffeehaus. Zu den Besonderheiten von Literaturproduktion und -rezeption im Kaffeehaus, in: Günther R. Burkert (Hg.), Grenzen­ loses Öster­reich (Symposium, April 1994) (= Dokumentation 1), Wien 1994, S. 97–102 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6492/).

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3.46. »Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist ...«. La soportable levedad del ser en la literatura austríaca, in: Régula Rohland de Langbehn/ María Esther Mangariello (Hg.), De Franz Kafka a Thomas Bernhard (IX Jornadas de Literaturas Alemanas, 8–11/9/1993), Buenos Aires: Facultad de Filosofía y Letras, 1995, S. 9–33. 3.47. »Los herederos de Borges y Cortázar«, in: Karl Kohut (Hg.), Literaturas del Río de la Plata hoy. De las utopías al desencanto, Frankfurt am Main/Madrid: Iberoamericana, 1996, S. 154–162. 3.48. Los textos de tango como base de juegos intertextuales, in: Walter Bruno Berg/Markus Klaus Schäffauer (Hg.), Oralidad y Argentinidad, Tübingen: Narr, 1996, S. 174–184. 3.49. Pirandello e il mondo tedesco, in: Antonio Alessio/Giulietta Sanguinetti Katz (Hg.), Le fonti di Pirandello, Palermo: Palumbo, 1996, S. 159–167. 3.50. Pérez Gay schreibt über Wien, in: Zeitschrift für Lateinamerika (Wien) 50 (1996), S. 23–28. 3.51. ¿Ocaso del boom, aurora del verdadero interés? Desarrollo y cambio de papel en los estudios hispanoamericanos y brasileños en la Romanística de los países germanófonos, in: Susanne Klengel (Hg.), Contextos, historias y transferencias en los estudios latinoamericanistas europeos. Los casos de Alemania, España y Francia, Frankfurt am Main: Vervuert, 1997, S. 121–132. 3.52. Die Geschichte vom Ausstieg aus der Geschichte, oder: Ist Ecos Insel des vorigen Tages ein historischer Roman?, in: Thomas Stauder (Hg.), »Staunen über das Sein«. Internationale Beiträge zu Umberto Ecos Insel des vorigen Tages, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997, S. 316–331. 3.53. De la búsqueda de la propia identidad a la deconstrucción de la »historia europea«: Algunos aspectos del desarrollo de la novela historica en América Latina entre Amalia (1855) y Noticias del Imperio (1987), in: Karl Kohut (Hg.), La invención del pasado. La novela histórica en el marco de la posmodernidad, Frankfurt am Main/Madrid: Vervuert, 1997, S. 167–173. 3.54. Die Verführung der Heiligen Teresa. Zur Rolle der Thérèse in Klossowskis Baphomet und zur weiblichen Stimme in der Mystik, in: Dietrich Briesemeister/Axel Schönberger (Hg.), Ex nobili philologorum officio (Festschrift für Heinrich Bihler zum 80. Geburtstag), Berlin: Schönberger, 1998, S. 459–469. 3.55. Jardiel Poncela – el café como taller de la estética vanguardista, in: Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Nuevos caminos en la investigación de los años 20 en España (= Beihefte zur Iberoromania 14), Tübingen: De Gruyter, 1998, S. 27–36. 3.56. ¿América como exilio para los valores caballerescos? Apuntes sobre la Numancia de Cervantes, la Araucana de Ercilla y algunos textos americanos en torno al 1600, in: Jules Whicker (Hg.), Actas del XII Congreso de la Asociación Internacional de Hispanistas (21–26 de agosto de 1995, Birmingham), Bd. 3 (= Estudios Aureos II), Birmingham: Department of Hispanic Studies, 1998, S. 194–203.

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3.57. Magischer Realismus und mythisches Bewußtsein: Die Literatur Lateinamerikas zwischen europäischer Erwartung und lateinamerikanischem Selbstverständnis, in: Elke Mader/Maria Dabringer (Hg.), Von der realen Magie zum Magischen Realismus. Weltbild und Gesellschaft in Lateinamerika (= ¡Atención! Jahrbuch des Österreichischen Lateinamerika-Instituts 2), Wien: Brandes & Apsel, 1999, S. 103–116. 3.58. Das Bild der Indios in der brasilianischen und hispanoamerikanischen Romantik, in: Sibylle Große/Axel Schönberger (Hg.), Dulce et decorum est philologiam colere (Festschrift für Dietrich Briesemeister zu seinem 65. Geburtstag), Berlin: Schönberger, 1999, S. 1709–1726. 3.59. La América de las vanguardias. Observaciones acerca de algunos manifiestos caribeños, in: Matthias Perl/Klaus Pörtl (Hg.), Identidad cultural y lingüística en Colombia, Venezuela, y en el Caribe hispánico (= Beihefte zur Iberoromania 15), Tübingen: De Gruyter, 1999, S. 55–63. 3.60. Wo man Literatur schreiben, lesen, hören, kritisieren und wiederschreiben kann: Das Kaffeehaus als Ort literarischer Produktion und Rezeption zwischen 1890 und 1950 in Europa und Lateinamerika, in: Michael Rössner (Hg.), Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 1999, S. 13–28. 3.61. Das »Chat noir« als Laboratorium der Avantgarde, in: ebd., S. 287–294. 3.62. Das literarische Kaffeehaus in Lissabon, in: ebd., S. 359–375. 3.63. Das literarische Kaffeehaus in Madrid, in: ebd., S. 376–405. 3.64. Das Kaffeehaus als Ort der Literatur. Was ist ein Ort der Literatur?, in: ebd., S. 580–589. 3.65. De la utopía histórica a la historia utópica: reflexiones sobre la nueva novela histórica como re-escritura de textos históricos, in: Sonja M. Steckbauer (Hg.), La novela latinoamericana entre historia y utopía (= Mesa redonda N.F. 13), Eichstätt: ISLA, 1999, S. 68–78. 3.66. Borges y la transgresión. Estrategias del texto basadas en la transgresión y combinación de géneros textuales, in: Alfonso de Toro/Fernando de Toro (Hg.), El siglo de Borges, Bd. 1: Retrospectiva – Presente – Futuro, Frankfurt am Main: Vervuert, 1999, S. 291–300. 3.67. Die Populärkultur und der Groß-Romancier. Zu Mario Vargas Llosas La tia Julia y el escribidor, in: José Morales Saravia (Hg.), Mario Vargas Llosa, Frankfurt am Main: Vervuert 1999, S. 125–135. 3.68. Avantgardistische Gewächse des Bösen: Vom Theater der Grausamkeit zum Roman der Diktatoren, in: Gerhild Fuchs et al. (Hg.), Blumen des Bösen (Festschrift für Wolfram Krömer), Frankfurt am Main/Wien: Peter Lang, 2000, S. 293–306. 3.69. Aretino ispanizzante? Alcune osservazioni sugli »scambi culturali« italo-spagnoli alla Roma papale del primo Cinquecento, in: Campi immaginabili 22 (2000), S. 6–15.

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3.70. Discepolón, Discepolín. Invariantes temáticas y estructurales en el tango y en el teatro del »grotesco criollo« en el laberinto de los géneros »popular« y »serio«, in: Inke Gunia et al. (Hg.), La modernidad revis(it)ada. Literatura y cultura latinoamericanas de los siglos XIX y XX (Festschrift für Klaus Meyer-Minnemann), Berlin: tranvía, 2000, S. 213–227. 3.71. Literatura y cultura popular: sobre la relación entre tango y literatura, in: Michael Rössner (Hg.), ¡Bailá! ¡Vení! ¡Volá! El fenómeno tanguero y la literatura (Actas del Simposio »Tango y literatura« de Berlin), Frankfurt am Main: Vervuert, 2000, S. 11–24. 3.72. El papel de la canción en las comedias. Del teatro en torno al 1900 a las películas de Gardel, in: ebd., S. 73–85. 3.73. »La nieve de aquella sierra ofende a la flaqueza de mi vista« o la perfección umanista frente al »abismo andino«: Dávalos y Figueroa y su Miscelanea Austral, in: Karl Kohut/Sonia M. Rose (Hg.), La formación de la cultura virreinal: 1. La etapa inicial, Frankfurt am Main: Vervuert, 2000, S. 93–102. 3.74. Die Beziehungen zwischen der italienischen und der deutschsprachigen Literatur im 20. Jahrhundert, in: Stefan Krimm/Ursula Triller (Hg.), Europäische Begegnungen – Die Faszination des Südens, München: Bayerischer Schulbuch-Verlag, 2001, S. 152–167. 3.75. Der Gaucho als argentinische Identitätsfigur zwischen Politik, Literatur und Sport von den Unabhängigkeitskriegen bis zum Fußball-WM-Maskottchen, in: Michael Riekenberg/Stefan Rinke/Peer Schmidt (Hg.), Kultur-Diskurs. Kontinuität und Wandel der Diskussion um Identitäten in Lateinamerika im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart: Heinz, 2001, S. 85–102. 3.76. Indianische Schäfer: Möglichkeiten und Grenzen der Anverwandlung des Amerikanischen in der frühen Kolonialliteratur, in: Frank Leinen (Hg.), Literarische Begegnungen. Romanische Studien zur kulturellen Identität, Differenz und Alterität (Festschrift für Karl Hölz), Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2002, S. 190–202. 3.77. Die lateinamerikanische Literatur an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Vorspiel zu einem neuen Boom?, in: Giulia Eggeling/Silke Segler-Meßner (Hg.), Europäische Verlage und lateinamerikanische Gegenwartsliteraturen. Profile, Tendenzen, Strategien, Tübingen: Narr, 2003, S. 141–152. 3.78. Historias en la historia. La pluralidad de la Historia en la literatura latino­ americana, in: Sonja M. Steckbauer/Günther Maihold (Hg.), Literatura – Histo­ ria – Política. Articulando las relaciones entre Europa y América Latina, Frankfurt am Main/Madrid: Vervuert, 2004, S. 61–70. 3.79. Tollpatsche (Versager), Heuchler, Menschenfresser. Zu einigen ernsten und unernsten Stereotypen von Immigranten in Brasilien und Argentinien, in: Helmuth A. Niederle/Elke Mader (Hg.), Die Wahrheit reicht weiter als der Mond. Europa – Lateinamerika: Literatur, Migration und Identität, Wien: WUV Universitätsverlag, 2004, S. 149–160.

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3.80. Alejo Carpentier zwischen dem Wunderbar-Wirklichen Amerikas und der postkolonialen Realitätssicht, in: Elena Ostleitner/Christian Glanz (Hg.), Alejo Carpentier (1904–1980). Jahrhundertgestalt der Moderne in Literatur, Kunst, Musik und Politik, Strasshof/Wien/Bad Aibling: Vier-Viertel, 2004, S. 15–28. 3.81. Érase una vez un boom. Reflexiones carnavalescas acerca de fenómenos de preglobalización postocolonial en el siglo pasado, in: José Manuel López de Abiada/José Morales-Saravia (Hg.), Boom y Postboom desde el nuevo siglo: impacto y recepción, Madrid: Verbum, 2005, S. 248–267. 3.82. Zum Tod eines »philosophe« der deutschsprachigen Hispanistik, in: Iberoromania 61 (2005), S. VII–IX. 3.83. Ein älterer Bruder Don Juans und die parodistische (?) Umkehrung des Komödienschemas. Bemerkungen zu Guillén de Castros Los mal casados de Valencia und den Wechselwirkungen zwischen italienischer, spanischer und französischer Komödie um 1600, in: Iberoromania 61 (2005), S. 1–19. 3.84. La nueva imagen de la literatura latinoamericana en la vieja Europa. Acerca de su recepción, sobre el trasfondo de los viejos estereotipos de los tiempos del boom, in: Humboldt 142 (2005), S. 56–57. 3.85. Das leere (zentraleuropäische) Zentrum und die lebendige Peripherie – Gedanken zu Musils »Kakanien«-Kapitel im Mann ohne Eigenschaften in einem lateinamerikanischen Kontext, in: Johannes Feichtinger/Elisabeth Großegger/Gertraud Marinelli-König/Peter Stachel/Heidemarie Uhl (Hg.), Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen (Festschrift für Moritz Csáky) (= Gedächtnis – Erinnerung – Identität 7), Innsbruck/Wien: StudienVerlag, 2006, S. 269–277. 3.86. »Sagra del Signore della Nave«: Pirandello zwischen sizilianischer Religiosität und internationaler Avantgarde, in: Thomas Klinkert/Michael Rössner (Hg.), Zentrum und Peripherie: Pirandello zwischen Sizilien, Italien und Europa / Centro e periferia. Pirandello tra Sicilia, Italia ed Europa, Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2006, S. 161–169. 3.87. Barock als Element mitteleuropäischer und lateinamerikanischer Identität. Überlegungen zur Konstruktion und »Innenausstattung« von Gedächtnisorten, in: Moritz Csáky/Federico Celestini/Ulrich Tragatschnig (Hg.), Barock – ein Ort des Gedächtnisses. Interpretament der Moderne/Postmoderne, Wien/ Köln/Weimar: Böhlau, 2007, S. 47–64. 3.88. La letteratura italiana del Novecento e la Germania, in: Rocco Mario Morano (Hg.), Strutture dell’immaginario. Profilo del Novecento letterario italiano, Soveria Mannelli: Rubbettino, 2007, S. 401–430. 3.89. Die Geschichte vom lateinamerikanischen Fenster im europäischen Haus. Zur wechselseitigen Wahrnehmung und Identitätskonstruktion Europas und Lateinamerikas, in: Moritz Csáky/Johannes Feichtinger (Hg.), Europa – geeint durch Werte? Die europäische Wertedebatte auf dem Prüfstand der Geschichte, Bielefeld: transcript, 2007, S. 157–178.

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3.90. Luigi Pirandello: I giganti della montagna, in: Manfred Lentzen (Hg.), Italienisches Theater des 20. Jahrhunderts in Einzelinterpretationen, Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2007, S. 114–125. 3.91. Hybridität als »Anti-Macondismo«: Paradigmenwechsel in der lateinamerikanischen Literatur der Jahrtausendwende?, in: Alfonso de Toro/Cornelia Sieber/Claudia Gronemann/René Ceballos (Hg.), Estrategias de la hibridez en América Latina. Del descubrimiento al siglo XXI, Frankfurt am Main/Bern/ New York: Peter Lang, 2007, S. 395–407. 3.92. »Latin Literatures’ New Look« im »alten« Europa. Zur Rezeption der neuesten latein-amerikanischen Literatur vor dem Hintergrund der alten Stereotypen aus der Boom-Zeit, in: Diana v. Römer/Friedhelm Schmidt-Welle (Hg.), Lateinamerikanische Literatur im deutschsprachigen Raum, Frankfurt am Main: Vervuert 2007, S. 113–129. 3.93. Borges y Musil: encuentros y desencuentros, in: Alfonso de Toro (Hg.), El laberinto de los libros: Jorge Luis Borges frente al canon literario (= TKKL 40), Hildesheim/Zürich/New York: Olms, 2007, S. 243–255. 3.94. Traducción y poder: estrategias de la periferia, in: Liliana R. Feierstein/Vera E. Gerling (Hg.), Traducción y poder. Sobre marginados, infieles, hermeneutas y exiliados, Frankfurt am Main: Vervuert, 2008, S. 121–134. 3.95. Pirandello autore europeo del secolo XXI: una lezione del rispetto umano della diversità (europea), in: Fausto De Michele/Michael Rössner (Hg.), Pirandello e l’identità europea, Pesaro: Metauro, 2008, S. 13–22. 3.96. Ein Blick auf Weltordnungen und Zwischenwelten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, in: Alfonso de Toro (Hg.), Andersheit: Von der Eroberung bis zu New World Borders (= TKKL 43), Hildesheim/Zürich/New York: Olms 2008, S. 41–60. 3.97. Tollpatsche, Heuchler und andere »Grenzgänger«: Zu den Wechselbeziehungen zwischen der italienischen, spanischen und französischen Komödie vom 16. bis ins 18. Jahrhundert, in: Jenny Haase/Janett Reinstädler/Susanne Schlünder (Hg.), El andar tierras, deseos y memorias (Homenaje a Dieter Ingenschay), Frankfurt am Main: Vervuert, 2008, S. 79–89. 3.98. Sobre la aplicabilidad de teorías »poscoloniales« a las culturas centroeuropea y latinoamericana, in: Valenciana. Estudios de filosofía y letras, N.E. 1 (2009) 2, S. 9–24. 3.99. Fuori di casa: L’umorismo montaliano e lo sguardo dell’altro, in: Atti della tavola rotonda su Fuori di casa di Eugenio Montale (I quaderni della Biblioteca sul mare), Alassio: Comune di Alassio 2009, S. 41–46. 3.100. Traducción, Translación, translatio, transscriptio… Reflexiones sobre un concepto actual de la discusión en las ciencias culturales, in: René Ceballos et al. (Hg.), Passagen: Hybridity, Transmédialité, Transculturalidad, Hildesheim: Olms, 2010, S. 33–44. 3.101. Luces picarescas en México: El pícaro y la voz paterna de la razón en el Periquillo Sarniento, in: Robert Folger/Stephan Leopold (Hg.), Escribiendo la Inde-

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pendencia. Perspectivas postcoloniales sobre la literatura hispanoamericana del siglo XIX, Frankfurt am Main/Madrid: Vervuert, 2010, S. 83–95. 3.102. La voce post-coloniale della Sicilia: aspetti nuovi dell’opera di Luigi Pirandello, in: Pirandelliana. Rivista internazionale di studi e documenti 4 (2010), S. 51–55. 3.103. La traducción de lo indecible. Borges y la mística, in: Alfonso de Toro (Hg.), Borges poeta (= TKKL 48), Hildesheim: Olms, 2010, S. 71–84. 3.104. Silenzio maschile vs. parlata femminile in L’autunno della signora Waal, in: Atti della tavola rotonda su L’autunno della signora Waal di Nico Orengo, Alassio: Einaudi, 2011, S. 39–42. 3.105. Orden mundial y entremundos: historias universales paralelas en los Comentarios reales, in: José Morales Saravia/Gerhard Penzkofer (Hg.), El Inca Garcilaso entre varios mundos, Lima: Fondo Editorial de la Universidad Nacional Mayor de San Marcos (Publicaciones del Vicerrectorado académico) 2011, S. 323–339. 3.106. Migration, Exil und Diaspora in der neuesten Literatur, in: Gertraud Marinelli-­ König/Alexander Preisinger (Hg.), Zwischenräume der Migration. Über die Ent­ grenzung von Kulturen und Identitäten, Bielefeld: transcript 2011, S. 235–248. 3.107. Postcolonial studies und Hispanoamerika, in: Joachim Born/Robert Folger/ Christopher Laferl/Bernhard Pöll (Hg.), Handbuch Spanisch, Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2012, S. 619–624. 3.108. Vielfalt und Reichtum der hispanoamerikanischen Literaturen – ein Überblick, in: ebd., S. 756–763. 3.109. La sovversione umoristica della poetica naturalista: Luigi Pirandello narratore, in: Rocco Morano (Hg.), Narratori italiani del Novecento, Bd. 1, Soveria Mannelli: Rubettino, 2012, S. 257–282. 3.110. Von der Suche nach dem Authentischen zur Dekonstruktion der Authentizität des Zentrums. Lateinamerikanische Blicke auf Paris 1968, in: Michael Rössner/Heidemarie Uhl (Hg.), Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Bielefeld: transcript, 2012, S. 89–115. 3.111. Translating Translation. On Mimesis, Translatio/n and Metaphor. Some Reflexions on the Boundaries of Cultural Translation and the ›Translational Turn‹, in: Michael Rössner/Federico Italiano (Hg.), Translatio/n. Narration, Media and the Staging of Differences, Bielefeld: transcript, 2012, S. 35–50. 3.112. Pirandello, la traduzione e la comprensione: Da Illustratori, attori e traduttori alla Villa La Scalogna, in: Michael Rössner/Alessandra Sorrentino (Hg.), Pirandello e la traduzione culturale, Rom: Carocci, 2012, S. 27–36. 3.113. ›Melos‹ y ›opsis‹ de Don Juan: El burlador de Tirso y El estudiante de Salamanca, in: Michael Rössner/Wolfram Aichinger/Martina Meidl (Hg.), ›Melos‹ y ›opsis‹ en el Siglo de Oro. Ritmo, imagen y emoción en el teatro y en la poesía lírica (= Sonderheft der Iberoromania 75–76, H. 1), Tübingen: De Gruyter, 2012, S. 221–231.

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3.114. Il Galileo come teatro grottesco del Risorgimento: riflessioni sul libro Sull’Oceano di De Amicis, in: Franciska d’Elhounge Hervai/Dávid Falvay (Hg.), Sul filo di ragno della memoria (Studi in onore di Ilona Fried), Budapest: Ponte Alapítvány, 2012, S. 93–99. 3.115. Mise en abyme and Transmediality: Mediatizing Media, in: Alfonso de Toro (Hg.), Translatio. Transmédialité et transculturalité en littérature, peinture, photographie et au cinéma. Amériques – Caraïbes – Europe – Maghreb, Paris: L’Harmattan, 2013, S. 115–127. 3.116. Überlappungen und Translationen: Zur Gattung der comedia/sainete/Komödie/Posse im spanischen und österreichischen (aber nicht deutschen) Literatursystem, in: Paul Danler/Christopher Laferl/Bernhard Pöll (Hg.), Typen – Klassen – Formen. Methoden und Traditionen der Klassifikation in Spanien und Österreich, Wien/Münster: LIT 2013, S. 301–315. 3.117. Margins and Centers – Insularity, in: Civiltà del mediterraneo XI (2013) 23–24 (= Stefania De Lucia/Gabriella Sgambati (Hg.), Homelands in Translation), S. 261–279. 3.118. The Post-Colonial Voice of Sicily: New Aspects in Luigi Pirandello’s Work, in: ebd., S. 309–325. 3.119. Tangowelten. Transmediale Übersetzungen und hybride Identitäten, in: Sabine Zubarik (Hg.), Tango Argentino in der Literatur(wissenschaft), Berlin: Frank und Timme, 2014, S. 17–34. 3.120. Zum Klassikerbegriff der deutschsprachigen Italianistik. Eine Bestandsaufnahme mit einigen Thesen, in: Barbara Kleiner/Michele Vangi/Ada Vigliani (Hg.), Klassiker neu übersetzen. Zum Phänomen der Neuübersetzungen deutscher und italienischer Klassiker / Ritradurre i classici. Sul fenomeno delle ritraduzioni di classici italiani e tedeschi (= Impulse – Villa Vigoni im Gespräch 8), Stuttgart: Franz Steiner, 2014, S. 29–38. 3.121. Mestizaje and Hybrid Culture. Toward a Transnational Cultural Memory of Europe and the Development of Cultural Theories in Latin America, in: Johannes Feichtinger/Gary Cohen (Hg.), Understanding Multiculturalism. The Habsburg Central European Experience, New York/Oxford: Berghahn 2014, S. 47–60. 3.122. Inszenierung übersetzen. Übersetzung inszenieren. Zur Rolle des Theaters für das kulturelle Gedächtnis, in: Hermann Blume/Elisabeth Großegger/Michael Rössner/Andrea Sommer-Mathis (Hg.), Inszenierung und Gedächtnis. Soziokulturelle und ästhetische Praxis, Bielefeld: transcript, 2014, S. 43–50. 3.123. Translation/s of Identity-Building Narratives: The Character of El Cid in Spanish and Latin American Texts from the 12th to the 20th Century, in: Hermann Blume/Christoph Leitgeb/Michael Rössner (Hg.), Narrated Communities – Narrated Realities – Narration as Cognitive Processing and Cultural Practice, Amsterdam: Rodopi/Brill, 2015, S. 173–183.

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3.124. (Kulturelle) Übersetzung, in: Johannes Feichtinger/Heidemarie Uhl (Hg.), Habsburg neu denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa. 30 kulturwissenschaftliche Stichworte, Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 2016, S. 214–221. 3.125. Translating War. Zur kulturellen Übersetzung des Weltkriegserlebnisses in die europäische Literatur, in: Brigitte Mazohl (Hg.), Translating War. Der Erste Weltkrieg und seine kulturelle Verarbeitung (= Österreichische Akademie der Wissenschaften. Forschung und Gesellschaft 9), Wien: Verlag der ÖAW, 2016, S. 7–18. 3.126. »Grenzzeichen Macedonio«: Groteske und Innovation, in: Jörg Türschmann/Matthias Hausmann (Hg.), Das Groteske in der Literatur Spaniens und Lateinamerikas, Wien: Vienna University Press, 2016, S. 165–179. 3.127. Repräsentation aus kulturwissenschaftlicher Sicht. Sieben Annäherungen an einen diffusen Begriff, in: Gernot Gruber/Monika Mokre (Hg.), Repräsentation(en). Interdisziplinäre Annäherungen an einen umstrittenen Begriff, Wien: Verlag der ÖAW, 2016, S. 5–14. 3.128. Literatur im Wechselspiel des Nationalen/Transnationalen/Translatorischen, in: Liljana Radonic/Heidemarie Uhl (Hg.), Gedächtnis im 21. Jahrhundert. Zur Neuverhandlung eines kulturwissenschaftlichen Leitbegriffs, Bielefeld: transcript, 2016, S. 205–223. 3.129. Knock-out o vittoria ai punti ? Modalità della fine nelle novelle lunghe e brevi di Luigi Pirandello, in: Pirandelliana 9 (2016), S. 69–77. 3.130. Spielmannskultur und Moraldidaktik. Vom Poema de Mio Cid zum Libro de buen amor des Arcipreste de Hita, in: Hans Sauer/Gisela Seitscher/Bernhard Teuber (Hg.), Höhepunkte mittelalterlichen Erzählens. Heldenlieder, Ro­mane und Novellen in ihrem kulturellen Kontext, Heidelberg: Winter, 2016, S. 159–172. 3.131. Pirandello jako evropský autor 21. Století: Lekce respektu (evropské?) různorodosti, übers. von Helena Lergetporer, in: Alice Flemrová (Hg.), Luigi Pirandello: Hry I, Prag: Divadelní ústav, 2016, S. 415–429. 3.132. La letteratura e il congresso di Vienna, in: Römische Historische Mitteilungen 58 (2016), S. 313–326. 3.133. Humor extremo en una época de extremismos: Enrique Jardiel Poncela y Fritz von Herzmanovsky-Orlando, in: Georg Pichler (Hg.), Extremos. Visiones de lo extremo en literatura, historia, música, arte, cine y lingüística en España y Austria, Bern u.a.: Peter Lang, 2017, S. 247–268, 3.134. Comoedia est enim speculum comoediae (et imitatio vitae?). Translationen und Spiegelungen in der barocken Komödie, in: Andrea Sommer-Mathis/Elisabeth Großegger/Katharina Wessely (Hg.), Spettacolo barocco – Performanz, Translation, Zirkulation, Wien: Hollitzer, 2018, S. 137–150. 3.135. Serialität und Gattungswechsel. Zur Geburt des argentinischen Theater aus Serienroman und Zirkus, in: Daniel Winkler/Martina Stemberger/Ingo Pohn-Lauggas (Hg.), Serialität und Moderne. Feuilleton, Stummfilm, Avantgarde, Bielefeld: transcript, 2018, S. 97–106.

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4. K leinere Te x te (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) 4.1. Von der Schwierigkeit, einen Essay über Jorge Luis Borges zu schreiben, in: Wiener Journal Nr. 5, Februar 1981, S. 24–25; Nachdruck in: Argentinisches Tagblatt, Buenos Aires, 23. Aug. 1981. 4.2. Ein literarischer Naturbursche: Gabriel García Marquez oder Die große Desillusion, in: Wiener Journal, Dezember 1982/Jänner 1983, S. 37. 4.3. Lo spirito stava seduto al caffé. La Vienna d’inizio secolo, in: Il Sabato, 17.–23. Sept. 1983, S. 21–22. 4.4. Poeta ludens: Zum Tode Julio Cortázars, in: Wiener Journal, März 1984, S. 19–20. 4.5. In der Mitte der Zeit. Zum 70. Geburtstag von Octavio Paz, in: Wiener Journal, April 1984. 4.6. Vernunft und schöner Wahn; Vorwort zu Michael Rössner/Birgit Wagner (Hg.), Aufstieg und Krise der Vernunft. Komparatistische Studien zur Literatur der Aufklärung und des Fin de siècle (Festschrift für Hans Hinterhäuser), Wien/Graz/Köln: Böhlau, 1984, S. 129–131. 4.7. Argentinien: Zauber zu Ende?, in: profil, Nr. 37, 10. Sept. 1984, S. 43–44. 4.8. »Wer das Spiel begriffen hat« (Luigi Pirandello zum 50. Jahrestag der Verleihung des Literatur-Nobelpreises), in: Wiener Journal, Dezember 1984/Jänner 1985, S. 31–32. 4.9. Kaffeehausliteratur am Rio de la Plata, in: Wiener Journal, April 1985. 4.10. Feschaks Wien-Collage (Joachim Riedl und die Ausstellung »Traum und Wirklichkeit«), in: Wiener Journal, Mai 1985, S. 25–26. 4.11. »Jeder auf seine Weise« – Ein Gespräch zwischen dem Großen Ich und dem kleinen ich zu Luigi Pirandellos 50.Todesjahr, in: Wiener Journal, Mai 1986. 4.12. »Wer das Spiel begriffen hat«, in: Literatur-Journal 2 (1985), S. 2–5 (überarbeitete Fassung von 4.8.). 4.13 Serafino Gubbio oder die Ironie im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit (Nachwort zu: L. Pirandello, Die Aufzeichnungen des Kameramanns Serafino Gubbio (= Werkausgabe, Bd. 3), Mindelheim: Sachon, 1986. 4.14. Serafino Gubbio oder die Ironie im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, in: Literatur-Journal 1 (1986), S. 16–18 (Kurzfassung von 4.13.). 4.15. Pirandello und das Problem mit der Identität, in: Programmheft 5 (1986/87) des Theaters in der Josefstadt (Wien) zu So ist es – wie es Ihnen scheint, S. 42–45. 4.16. Zwei Ent-Zauberer: Arthur Schnitzler und Luigi Pirandello, in: Neue Zürcher Zeitung, 23./24. April 1988, S. 65–66. 4.17. Materialien zu den Riesen vom Berge und Villen, in: Programmheft zu Die Riesen vom Berge am Stadttheater Bern (1988). 4.18. Lexikonartikel in Kindlers Literatur-Lexikon, 1988ff: J. Cortázar, Rayuela und Historias de Cronopios y Famas; Mário de Andrade, Paulicéia desvairada;

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Oswald de Andrade, Manifesto Pau-Brasil; D. Ribeiro, Maíra; sämtliche Artikel zu Pirandello (Neufassung bzw. Überarbeitung). 4.19. Lexikonartikel im Harenberg Literatur-Lexikon (1989), Brasilianischer Moder­ nismus, Mário de Andrade, Macunaíma; Joao Guimaraes Rosa, Grande Sertao. Veredas; Darcy Ribeiro, Maíra. 4.20. Vor der Burg (Parodie auf Thomas Bernhards Heldenplatz), in: Wiener Journal, Nr. 100, Dezember 1988/Jänner 1989. 4.21. Österreichs Universitäten – fünf nach zwölf, in: Wiener Journal, Nr. 105, Juni 1989, S. 12–14. 4.22. Concepto y esencia del mito o acerca de la cuadratura del círculo, in: Humboldt 30 (1989) 97, S. 4–7. 4.23. Vom Krampf der Geschlechter, in: Wiener Journal, Nr. 111/112, Dezember 1989/Jänner 1990, S. 24–25. 4.24. Abgedroschene Melodramatik. Ketzerische Gedanken zu Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor, in: Applaus 14 (1990) 3, S. 22–23. 4.25. Das Mißverständnis von der Parabel. Eine Geschichte aus der mittelalterlichen Postmoderne (über die Griechen- und Römer-Parabel aus dem Libro de Buen Amor), in: Wiener Journal, Nr. 120, September 1990, S. 31–32. 4.26. Brauchen wir Geist? Perspektiven einer geistlosen Wissenschaft, in: Wiener Journal, Nr. 122, November 1990, S. 19–20. 4.27. Die Phantasten. Ein Porträt des Cervantes-Preisträgers Adolfo Bioy Casares, in: Wiener Journal, Nr. 125, Februar 1991, S. 33–34. 4.28. Die Hand des Dichters. Fünf Versuche und eine Coda über Marco Antonio Campos, in: Wiener Journal, Nr. 129, Juni 1991, S. 36. 4.29. Die explodierte Idiotie. Zu Robert Flecks Theorie vom baldigen Aufgehen Österreichs im Deutschen Reich, in: Wiener Journal, Nr. 131, September 1991. 4.30. Qualunquismus und Faschismus. Geisterfahrer, Brückenspringer & Co., in: Wiener Journal, Nr. 135/136, Dezember 1991/Jänner 1992, S. 9–10. 4.31. Von Tieren und Menschen. Gedanken zu Pirandellos Der Mensch, das Tier und die Tugend, Aufsatz im Programmheft der Wuppertaler Bühnen, 1991. 4.32. Nu habt euch mal nicht so! Zum »schlampigen Verhältnis« der deutschen Intellektuellen zu Österreich, in: Wiener Journal, Nr. 140, Mai 1992, S. 6–7. 4.33. Am Anfang war die phantastische Idee. Interview mit Adolfo Bioy Casares, in: Wiener Journal, Nr. 141, Juni 1992, S. 38–39. 4.34. Sin ganas de ir a Düsseldorf o el viaje de Colón al paraíso de allende el eros. Reflexiones sobre una novela de Abel Posse, in: Humboldt 32 (1991), Nr. 104, S. 46–49. 4.35. Zuaschaun kann I net. Zur Serbien-Berichterstattung des profil, in: profil, Nr. 34, 17. Aug. 1992, S. 14–15. 4.36. »Mestizaje« oder »ethnische Reinheit«? Österreich und Europa am Scheideweg, in: Wiener Journal, Nr. 144, Oktober 1992.

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4.37. Ach Botho! – Ein deutscher Dichtdenker tritt auf seine eigene Kaugummi­ blase. Gedanken zu Botho Strauß’ Anschwellendem Bocksgesang, in: Wiener Journal, Nr. 149, April 1993. 4.38. Die Parallelaktion. Über ein mögliches österreichisches Doppeljubiläum, in: Wiener Journal, Nr. 149, Oktober 1993. 4.39. Von Menschen und Rechten. Gedanken zur Internationalen Menschenrechtskonferenz der UNO und den Non Governamental Organizations, in: Wiener Journal, Nr.151, Juni 1993. 4.40. Prólogo, in: Georg Trakl, Poesía, México 1997. 4.41. Prólogo, in: Claudio Magris, El mito habsbúrgico en la literatura moderna austríaca, México (1999). 4.42. Borges und ich, in: Wiener Journal, Nr. 222, März 1999. 4.43. Adolfo Bioy Casares ist tot, in: Wiener Journal, Nr. 223, April 1999, S. 36. 4.44. Kann denn Lachen Kunst sein? Enrique Jardiel Poncela – Ein avantgardistischer Kaffeehausliterat zwischen den Stühlen, in: Wiener Journal, Nr. 226/ 227, Juli/August 1999, S. 49–50. 4.45. Manon Lescaut – ein romantischer Schelmenroman?, in: Programmheft der Grazer Oper zu Henze-Weil, Boulevard Solitude (1952), März 2005. 4.46. Lexikonartikel in Kindlers Literatur-Lexikon, 2007ff: Neufassung bzw. Über­ arbeitung aller Artikel von 1988ff., weiters Artikel zu F. Andahazi/J. Volpi, A. Camilleri u.a. 4.47. Lexikonartikel zu Pirandello in: Monika Schmitz-Emans/Uwe Lindemann/ Manfred Schmeling (Hg.), Poetiken. Autoren – Texte – Begriffe, Berlin: De Gruyter, 2009. 4.48. Translatio/n: An Introduction (gemeinsam mit Federico Italiano), in: Michael Rössner/Federico Italiano (Hg.), Translatio/n. Narration, Media and the Staging of Differences, Bielefeld: transcript, 2012, S. 9–16. 4.49. A mo’ di prefazione: »Si gira (sempre)«. Pirandello, il translational turn e altri turns, in: Michael Rössner/Alessandra Sorrentino (Hg.), Pirandello e la traduzione culturale, Rom: Carocci, 2012, S. 11–14. 4.50. ›Melos‹ y ›opsis‹ en el Siglo de Oro. Ritmo, imagen y emoción en el teatro y en la poesía lírica, in: Michael Rössner/Wolfram Aichinger/Martina Maidl (Hg.), ›Melos‹ y ›opsis‹ en el Siglo de Oro. Ritmo, imagen y emoción en el teatro y en la poesía lírica (= Sonderheft der Iberoromania 75–76, H. 1), Tübingen: De Gruyter 2012, S. 1–3.

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5. R ezensionen 5.1. Sebastian Neumeister: Mythos und Repräsentation. Die mythologischen Festspiele Calderóns, München: W. Fink, 1978, in: Romanisches Jahrbuch 30 (1979), S. 350–352 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6801/). 5.2. David Loughran: Federico García Lorca. The Poetry of Limits, London 1978; Norman Miller: García Lorca's Poema del Cante jondo, London 1978; Derek Harris: Federico García Lorca, Poeta en Nueva York, London 1978 und Federico García Lorca, El público y Comedia sin título, hg. von Rafael Martínez Nadal und Marie Laffranque, Barcelona u.a. 1978, in: Romanistisches Jahrbuch 31 (1980), S. 433–438 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6800/). 5.3. Romano Luperini: Il Novecento. Apparati ideologici, ceto intellettuale, sistemi formali nella letteratura italiana contemporanea, 2 Bde., Turin 1981, in: Italienische Studien 6 (1983), S. 195–199 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6799/). 5.4. Wort-Welt oder Widerlegung der Zeit. Zur deutschsprachigen Ausgabe der Gesammelten Werke von Jorge Luis Borges, in: Wiener Journal, Mai 1983, S. 23–24. 5.5. Jerome Mazzaro: The Figure of Dante. An Essay on the Vita Nuova, Princeton 1981, in: Italienische Studien 7 (1984), S. 181–183 (https://epub.ub.uni-muenchen. de/6798/). 5.6. Cantar de Mio Cid. Chanson de Mon Cid, ed., trad. et notes par Jules Horrent, 2 Bde., Gand 1982, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 222 (1986) 2. 5.7. Franco Zangrilli: L’arte novellistica di Pirandello, Ravenna (Longo) 1983; Antonio Alessio, Pirandello pittore, Agrigent 1984; Elio Providenti (Hg.): Luigi Pirandello, Lettere da Bonn 1889–1891, Rom 1984, in: Italienische Studien 8 (1985), S. 150–152 (https://epub.ub.uni-muenchen.de/6794/). 5.8. Karl Hölz: Destruktion und Konstruktion. Studien zum Sinnverstehen in der modernen französischen Literatur, Frankfurt am Main 1980, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte (1986), S. 251–254 (https://epub. ub.uni-muenchen.de/6793/). 5.9. Peter Zima: Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Ro­ mans, München 1986, in: Sprachkunst 2 (1988), S. 199–203. 5.10. Wilfried Floeck (Hg.), Spanisches Theater im 20. Jahrhundert. Gestalten und Tendenzen (= Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 6), Tübingen: Francke, 1990, in: Iberoamericana 49 (1993) 1, S. 97–99. 5.11. Pere Ballart, EIRONEIA. La figuración irónica en el discurso literario moderno, Barcelona 1994, in: Romanische Forschungen 109 (1997) 1, S. 116–118. 5.12. Dieter Janik: Hispanoamerikanische Literaturen. Von der Unabhängigkeit bis zu den Avantgarden (1810–1930), in: Iberoromania 67 (Dezember 2009) 1, S. 83–85. 5.13. Walter Bruno Berg/Lisa Block de Behar (Hg.), France-Amérique Latine: croise­ ments de lettres et de voies, in: Iberoromania 67 (Dezember 2009) 1, S. 85–87.

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6. L iter arische Ü berse t zungen (a) Aus dem Spanischen 6.1. Große Teile der Gedichtanthologien: Nicanor Parra, Und Chile ist eine Wüste, Wuppertal: Peter Hammer, 1977. 6.2. Gemeinsam mit Huberta Langer: Oscar Collazos, Chronik der toten Zeit, hg. von Peter Schultze-Kraft. 6.3. Ruben Barreiro Saguier, Die Intellektuellen und die Diktatur, in: Curt Meyer­ Clason (Hg.), Unsere Freunde die Diktatoren, München: Fischer, 1981, S. 60–71.

b) Aus dem Spanischen, Französischen, Italienischen und Russischen 6.4. Aufsätze von Larra, E. Quinet/E. Pardo Bazán/G. Leopardi/W.P. Botkin, in: Hans Hinterhäuser (Hg.), Spanien und Europa, München: dtv Dokumente, 1978.

c) Aus dem Italienischen 6.5. Luigi Pirandello, Die Aufzeichnungen des Kameramanns Serafino Gubbio (= Piran­dello-Werkausgabe 3), Mindelheim: Sachon, 1986. 6.6. Ders., Essays zum Theater, in: Die Trilogie des Theaters auf dem Theater (= Pirandello-Werkausgabe 3), Mindelheim: Sachon, 1986. 6.7. Ders., Novellen (bislang 19, in den Bänden 6, 12, 13 der Pirandello-Werkausgabe). 6.8. Ders., Der Mensch, das Tier und die Tugend (Kiepenheuer Bühnenvertrieb 1987). 6.9. Ders., Die Riesen vom Berge (gemeinsam mit Elke Wendt-Kummer, in: Die Mythen (= Pirandello-Werkausgabe 12), Mindelheim: Sachon, 1988. 6.10. Ders., Das Märchen vom vertauschten Sohn, in: ebd. 6.11. Ders., Lazarus, in: ebd. 6.12. Ders., Das Fest Unseres Heilands vom Schiff, in: ebd. 6.13. Ders., Das Rollenspiel, in: ebd. 6.14. Marco Antonio Campos, Herr Mozart; Erinnere Dich; Gedichte in: Wiener Journal, Nr. 129, Juni 1991, S. 37.

7. N icht wissenschaf tliche V eröffentlichungen Gefangenschaft. Freiheit der Negation der Freiheit (Roman), Wien: Österreichische Staatsdruckerei, 1981.

Autorinnen und Autoren

Böhler, Michael, Studium der Germanistik, Philosophie, Gräzistik und Soziologie an der Universität Zürich, 1967 Promotion, 1974 Habilitation; Lehrtätigkeit und Gastprofessuren an zahlreichen Schweizer und amerikanischen Universitäten. 1984–92 Forschungsrat des Schweizerischen Nationalfonds, 1990–2000 Mitglied des Standing Committee for the Humanities of the European Science Foundation, Strasbourg; Mitglied und/oder Präsident weiterer Stiftungsräte und Beiräte, u.a. des International Advisory Board des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW. Forschungsschwerpunkte: Literatursoziologie und Rezeptionstheorie, literarischer Kanon, Theorien des Lachens und der Komödie, Kulturtopographie der deutschsprachigen Länder. Borek, Johanna, Studium der Romanistik, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Köln und Wien. 1983 Promotion in Wien mit Sensualismus und Sensation. Zum Verhältnis von Natur, Moral und Ästhetik in der Spätauf klärung und im Fin de Siècle. 1989–2017 Professorin für romanistische Literatur- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Gastprofessuren in Frankreich, Deutschland und Italien. Veröffentlichungen zur europäischen Aufklärung (Denis Diderot, Berlin 2000), zur italienischen Literatur und Politik im 20. Jahrhundert (Gramsci, Pasolini. Ein imaginärer Dialog, gemeinsam mit S. Puntscher-Riekmann und B. Wagner, Wien 1987) und zur Geschichte des Übersetzens. Ausgedehnte Über­ setzungstätigkeit (u. a. von Gide, Diderot und Pirandello), 1994 Österreichischer Staatspreis für literarisches Übersetzen. Borsò, Vittoria, em. Professorin für romanistische Literatur-und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Senior-Fellow im Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) der Bauhaus-Universität, Weimar. Mitglied des DFG-Fachkollegiums »Literaturen Europas und Amerikas« (2012–16). Mitglied des Hochschulrates der Heinrich-Heine-Universität (2007–17). Forschungsschwerpunkte: New Materialism, Biopolitik, Bio-Poetik und Epistemologie des Lebens in Literatur und visuellen Medien; Ästhetik von Visualität und Schrift, Iberian Postcolonialities, Literatur

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und Kultur Mexikos; Weltliteratur. Zahlreiche Aufsätze zu Literatur-, Kultur- und Medientheorie sowie zu den Literaturen Europas (Frankreich, Italien, Spanien) und Lateinamerikas. Budor, Dominique, Professor Emeritus an der Universität Sorbonne nouvelle-Paris 3. Forschungsschwerpunkte: zeitgenössische Literatur, Semiotik, hybride Formen (insbesondere Theater, Film und Comics) und Theorie der Literatur (insbesondere kritisch-genetische Methode, vgl. Genèses théâtrales, Paris 2010); zahlreiche Publikationen über verschiedene italienische Autoren, u.a. Dario Fo, Vincenzo Consolo und Luigi Pirandello (z.B. Mattia Pascal tra parola e immagine, Rom 2004). Csáky, Moritz, Studium der Philosophie, Ethnologie, Theologie, Kirchengeschichte (1963 Lic. Hist. Eccl.), Geschichte (1966 Dr. phil.) und Musikwissenschaft in Rom, Paris und Wien; 1979 Habilitation für Allgemeine Geschichte der Neuzeit; 1984–2004 Professur für Österreichische Geschichte an der Universität Graz; 1988–97 Vizepräsident des FWF; 1997–2005 Leiter des SFB Moderne: Wien und Zentraleuropa um 1900; 1997–2009 Obmann der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der ÖAW; Mitglied der Österreichischen und der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Geschichte Zentraleuropas, Kulturgeschichte, Kulturtheorie. De Michele, Fausto, 1982–88 Studium der Germanistik und Anglistik an der Universität Pisa, 1997 Promotion an der Universität Wien mit Guerrieri ridicoli e guerre vere nel teatro comico del Cinquecento e del Seicento (Italia, Spagna e paesi di lingua tedesca), 2014 Habilitation mit Phänomene einer Rezeption. Luigi Pirandello zwischen Intertextualität und Intermedialität. Seit 1991 Lehrtätigkeit am Institut für Romanistik der Universität Graz, seit 2000 am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Wien; zahlreiche Gastprofessuren in der EU und in den USA. Forschungsschwerpunkte: Theatergeschichte Italiens, Spaniens und der deutschsprachigen Länder in der Frühen Neuzeit; Modernismus in Europa; Theorie der Komik. Dünne, Jörg, Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Romanistik und Philosophie in München und Paris, 2000 Promotion an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 2008 Habilitation an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2008–17 Professor an der Universität Erfurt, seit 2017 Professor für Romanischsprachige Literaturen an der Humboldt-Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: spanisch- und französischsprachige Literatur seit der Frühen Neuzeit, kulturwissenschaftliche Raumforschung, Literaturen im Anthropozän.

Autorinnen und Autoren

Feichtinger, Johannes, Studium der Geschichtswissenschaft an der Universität Graz, 2010 Habilitation für Neuere Geschichte an der Universität Wien. Seit 2004 Mitarbeiter der ÖAW (Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte). Gastprofessuren in Österreich und den USA. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte, Zentraleuropa, Kulturtheorie. Zuletzt erschienen: The Worlds of Positivism. A Global Intellectual History, 1770–1930, hg. mit F. Fillafer/J Surman (New York 2018); Die Akademien der Wissenschaften in Zentraleuropa im Kalten Krieg. Transformationsprozesse im Spannungsfeld von Abgrenzung und Annäherung, hg. mit H. Uhl (Wien 2018). Fried, Ilona, Studium der Anglististik und Italianistik an der Eötvös Loránd Universität in Budapest, 1991 Promotion, 2002 Habilitation mit der Schrift Emlékek városa, die in Italien unter dem Titel Fiume. Città della memoria 1868–1945 veröffentlicht wurde (Udine 2005). 1985–93 Assoziierte Professorin und Vize-Direktorin des Italianistik-Departments an der Janus Pannonius-Universität in Pécs. Gründerin und Leiterin des Instituts für Italienische Studien für Lehrerbildung an der Eötvös Loránd Universität in Budapest. Seit 2014 Professorin für Literaturwissenschaft am Institut für Italianistik an der Eötvös Loránd Universität. Gastprofessuren in Trient und Triest. Chef-Redakteurin der on-line Zeitschrift Italogramma (http://italogramma.elte.hu). Graziadei, Daniel, Studium der Allgemeinen und Vergleichenden, Spanischen und Englischen Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2007 Magisterarbeit zu McOndo, Crack und Avant-Pop: Neueste Entwicklungen der spanischsprachigen und englischsprachigen Literatur der Americas (Saarbrücken 2008). 2013 Promotion mit Insel(n) im Archipel. Zur Verwendung einer Raumfigur in den zeitgenössischen anglo-, franko- und hispanophonen Literaturen der Karibik (überarbeitete und erweiterte Monographie: Paderborn 2017). Seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent am Institut für Romanische Philologie an der LMU München. Dzt. Forschungsschwerpunkt: Formen und Verwendungen von interkulturellen Missverständnissen in der Literatur. Zudem Poet, Improvisationsdichter an der Schreibmaschine und Lyrikübersetzer (www. danwillschreiben.de). Großegger, Elisabeth, Studium der Theaterwissenschaft und Romanistik an der Universität Wien; 1978–81 Lehrtätigkeit an der University of Miami, USA. Seit 1982 Mitarbeiterin der ÖAW (Institut für Publikumsforschung; Kommission bzw. Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte), seit 2009 Stellvertreterin des Direktors des IKT. Forschungsschwerpunkte: Wiener Theatergeschichte und Festkultur des 18. bis 20. Jahrhunderts, Theateravantgarde, Burgtheater und Publikum.

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Höfele, Andreas, Studium der Anglistik, Germanistik und Theaterwissenschaft in Frankfurt und München. Promotion in München, Habilitation in Würzburg. 1986–92 Professor für Theaterwissenschaft in München, 1992–2000 Lehrstuhl für Anglistik in Heidelberg, 2000–17 Lehrstuhl für Anglistik (Schwerpunkt Shakespeare und Frühe Neuzeit) in München. Mitglied der Bayerischen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. 2002–11 Präsident der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft. Neuere Monografien: Stage, Stake, and Scaffold: Humans and Animals in Shakespeare’s Theatre (Oxford 2011; 2012 Bainton Prize in Literature) und No Hamlets: German Shakespeare from Nietzsche to Carl Schmitt (Oxford 2016). Italiano, Federico, Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Geschichte an der Universität Mailand; 2008 Promotion in Komparatistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit Tra miele e pietra. Aspetti di geopoetica in Montale e Celan (Mailand 2009); 2016 Habilitation an der LMU München in den Fächern Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Romanische Philologie (Literaturwissenschaft) mit Translation and Geography (London 2016). Seit 2016 Senior Researcher am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW. Federico Italiano ist außerdem Lyriker, Übersetzer, Herausgeber und Essayist. Kohlrausch, Laura, Studium der Komparatistik und Hispanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2014 Arbeit an einer Dissertation mit dem Thema »…so zu tun, als gäbe es diese Bücher bereits…«. Fingierte Intertextualität in der (latein)amerikanischen Literatur ab 1940. 2015–16 Lehrtätigkeit am Institut für Komparatistik der LMU München. Seit 2014 Lektorin und Projektleiterin im Oekom-Verlag. Koppenfels, Martin von, 1997 Promotion an der Freien Universität Berlin mit Einführung in den Tod. García Lorcas New Yorker Dichtung und die Trauer der modernen Lyrik. 2006 Habilitation mit Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans. 1997–2007 zunächst Assistent, später Nachwuchsgruppenleiter am Peter Szondi-Institut der FU Berlin, 2007–10 Professor an der Universität Bielefeld, seit 2010 Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft mit romanistischem Schwerpunkt an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2009 Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Koppenfels, Werner von, Studium der Anglistik und Romanistik an den Universitäten Heidelberg, München und Nizza; 1967 Promotion in München mit Das petrarkistische Element in der Dichtung von John Donne, 1973 Habilitation mit Esca et hamus. Beitrag zu einer historischen Liebesmetaphorik, ab 1974 Professor (em.) für Anglistik und Komparatistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Veröffentli-

Autorinnen und Autoren

chungen v.a. zur Literatur der Renaissance und der Aufklärung, mit den Schwerpunkten Drama und Satire; Ausgaben und Übersetzungen u.a. von J. Donne, Quevedo, R. Burton, E. Dickinson, D. Walcott und G. Hill. 1994 Johann-HeinrichVoß-Preis für Übersetzung. Seit 1994 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Laferl, Christopher F., Studium der Romanistik und Geschichte an der Universität Wien, 1992 Staatsprüfung am Institut für Österreichische Geschichtsforschung, 1996 Promotion mit Die Kultur der Spanier in Österreich unter Ferdinand I. 1522– 1564 (Wien 1997); 2002 Habilitation an der Universität Wien mit »Record it, and let it be known«: Song Lyrics, Gender, and Ethnicity in Brazil, Cuba, Martinique, and Trinidad & Tobago from 1920 to 1960 (Wien/Münster 2005). Seit 2004 Professor für Iberoromanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Salzburg. Zahlreiche Gastprofessuren in den USA und in Brasilien. Leitgeb, Christoph, Studium der Geschichte, Anglistik/Amerikanistik und Germanistik in Salzburg. Bis 2004 Lektor in Sheffield, Osaka und Olmütz sowie Literaturkritiker für die Zeitung Der Standard. Seit 2004 Mitarbeiter der ÖAW. 2008 Habilitation mit Roland Barthes’Mythenbegriff und eine Theorie der Ironie. Regelmäßige Lehraufträge am Institut für Germanistik an der Universität Salzburg; 2006 Gastprofessur in Leiden. Wissenschaftlicher Redakteur der Zeitschrift Sprachkunst. Forschungsschwerpunkte: Österreichische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Stilistik und Rhetorik, Literaturtheorie. Mokre, Monika, Studium der Politikwissenschaft und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien, 1991 Promotion, 2010 Habilitation an der Universität Innsbruck. Seit 1992 Mitarbeiterin der ÖAW, seit 2009 am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte). Lehraufträge an verschiedenen Universitäten, u.a. Webster University Vienna, Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien, Kunstuniversität Beograd, Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Kulturelle Übersetzung, Kulturpolitik, Politik und Kunst, Demokratie und Öffentlichkeit, Migration und Asyl. Schmitz-Emans, Monika, Studium der Germanistik, Philosophie, Italianistik und Kunstwissenschaft an der Universität Bonn. 1984 Promotion mit einer Arbeit zu Jean Pauls Sprachreflexion, 1992 Habilitation zum Thema Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens, beides in Bonn. 1992 Professur für Europäische Literatur der Neuzeit an der Fernuniversität Hagen, seit 1995 Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Bochum. Zeitweilig Vorsitzende der DGAVL und der Jean-Paul-Gesellschaft. Seit 2017 Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Gastprofessuren in den USA, Japan und Korea. For-

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schungsschwerpunkte: westliche Literaturen vom späten 18. bis zum 21. Jahrhundert, Literatur und Bilder, Geschichte der Poetik. Sommer-Mathis, Andrea, Studium der Theaterwissenschaft und Romanistik (Italienisch) an der Universität Wien. 1982 Promotion mit »Tu felix Austria nube« aus theaterwissenschaftlicher Sicht. Theatrale Festveranstaltungen anläßlich der Hochzeiten Maria Theresias und ihrer Kinder. Seit 1984 Mitarbeiterin der ÖAW (Kommission bzw. Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte). 2000–07 Vize­ direktorin des Historischen Instituts am Österreichischen Kulturforum in Rom. Forschungsschwerpunkte: Theater, Fest und Zeremoniell an den Habsburgerhöfen; Kulturtransfer zwischen Österreich, Italien und Spanien in der Frühen Neuzeit. Sorrentino, Alessandra, Studium der Geschichte und der Italienischen Literatur an der Universität Neapel Federico II. 2013 Promotion mit Dissertation Pirandello e l’altro. Una lettura critica postcoloniale an der Universität München. Seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Europäischen Pirandello-Zentrums e.V. Seit 2014 Lehrbeauftragte für Italienische Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität München. Forschungsschwerpunkte: Zeitgenössische Literatur, Postkoloniale Literatur, Global South Studies und Mittelmeerstudien. Stachel, Peter, Studium der Geschichte, Europäischen Ethnologie und Philosophie an der Karl Franzens-Universität Graz. 1992 Sponsion, 1999 Promotion, 2005 Habilitation für Neuere Geschichte. Ab 1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter des SFB Moderne: Wien und Zentraleuropa um 1900 in Graz. Seit 1999 Mitarbeiter der ÖAW (Kommission bzw. Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte). Lehrtätigkeit am Institut für Geschichte der Universität Graz und an der American Heritage Association, Außenstelle Wien. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Habsburgermonarchie (18.–20. Jahrhundert), Wissenschafts-, Ideen- und Bildungsgeschichte, politische Rituale und Symbole, kollektives Gedächtnis. Teuber, Bernhard, Studium der Romanischen und Klassischen Philologie in München, Tours und Salamanca; 1986 Promotion mit Sprache, Körper, Traum – Zur karnevalesken Literatur in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit (Tübingen 1989). 1992 Feodor-Lynen-Forschungsstipendium in Madrid; 1994 Habilitation mit Sacrificium litterae – Zum Verhältnis von allegorischer Rede und mystischer Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz (München 2003). 1994/95 Gastprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin; 1996–2000 Ordinarius an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; seit 2000 Lehrstuhl für Romanische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München; 2008 Gastprofessor am Centre d’Études Supérieures de la Renaissance in Tours; Mitglied der DFG-Forschergruppen Anfänge (in) der Moderne (2006–12) und Philologie des Abenteuers (seit 2018).

Autorinnen und Autoren

Thomas, Johannes, Studium der Romanistik, Klassischen Philologie und Philosophie in Bonn, Lüttich, Genua und Köln. 1967 Promotion mit Brunetto Latinis Übersetzung der drei Caesarianae; 1974 Habilitation an der RWTH Aachen mit Studien zu einer Poetik der klassischen französischen Tragödie (1673–1678); 1978–2008 Professor für Romanische Philologie an der Universität Paderborn; 1982 Gründung der Deutschen Pirandello Gesellschaft; 1993–2008 Leitung der Zeitschrift Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog; 1999–2002 Gründungssenator und 2002–07 Kuratoriumsmitglied der Universität Erfurt; aktuelle Forschungsschwerpunkte: Luigi Pirandello, Wissenschaftstheorie/Zufall; al-Andalus. Toro, Alfonso de, 1973–77 Studium der Romanistik, Germanistik und Philosophie in München und Paris, 1977 M.A., 1992 Promotion an der Universität München mit Die Zeitstruktur im Gegenwartsroman, 1992 Habilitation mit Von den Ähnlichkeiten und Differenzen. Ehre und Drama des 16. und 17. Jahrhunderts in Italien und Spanien an der Universität Hamburg. 1993–2015 Professor an der Universität Leipzig; Gastprofessuren in Europa, Nord- und Südamerika, dem Maghreb und Israel. 2009 Orden Gabriela Mistral mit dem Rang »Grand Offizier«, 2015 Auszeichnung als »Officier dans l’ordre des Palmes académiques«; seit 2014 Korrespondierendes Mitglied der chilenischen Sprachakademie im Ausland. Uhl, Heidemarie, Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Graz, 2005 Habilitation in Allgemeiner Zeitgeschichte. Seit 2000 wissenschaftliche Mitarbeiterin der ÖAW (Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte). Lektorin an den Universitäten Wien und Graz, Gastprofessuren u.a. in Israel und den USA. Forschungsschwerpunkte: Memory Studies, Gedächtniskultur und Geschichtspolitik mit Schwerpunkt Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Holocaust. Vicentini, Claudio, Studium der Literaturwissenschaft an der Universität Turin, 1976 Promotion (PhD) in Drama an der New York University. Seit 1986 Lehrstuhl für Geschichte des Theaters und des Spektakels an der Universität L’Orientale in Neapel. Seit 2012 Professor Emeritus für Geschichte des Theaters und des Spektakels. 1973–75 Harkness Fellowship, 19780–81 Fullbright Fellowship, 1978 Visiting Professor an der University of California in San Diego, 1981 Visiting Scholar an der New York University, 1989 Visiting Professor an der University of California in Los Angeles. Wagner, Birgit, Studium der Romanistik und Germanistik an der Universität Wien, 1983 Promotion, 1994 Habilitation mit Technik und Literatur im Zeitalter der Avantgarden. Ein Beitrag zur Geschichte des Imaginären (München 1996). Seit 1998 ordentliche Professorin für romanistische Literatur- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Translation Studies, Sardinien

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(Literatur, Film, Kultur, u.a. Sardinien – Insel im Dialog. Texte, Diskurse, Filme, Bern 2008), französische und italienische Literaturen der Frühen Neuzeit und der Aufklärung. Weich, Horst, Studium der Romanistik und Germanistik an der Universität München. 1987 Promotion mit Don Quijote im Dialog. Zur Erprobung von Wirklichkeitsmodellen im spanischen und französischen Roman (von Amadís de Gaula bis Jacques le fataliste) (Passau 1989); 1994 Habilitation an der Universität Passau mit Paris en vers. Aspekte der Beschreibung und semantischen Fixierung von Paris in der französischen Lyrik der Moderne (Stuttgart 1998). Seit 1996 Professor für Romanische Philologie (mit dem Schwerpunkt iberoromanische Literaturen) an der LMU München. Forschungsschwerpunkte: klassische und moderne Lyrik der Romania, komisch-parodistisches Schreiben, Geschlechterdifferenz und Literatur. Zapf, Nora, Studium der Romanistik, Neueren deutschen Literatur und Politikwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2017 Promotion mit Ungeheurer Atlantik. Absenz und Wiederkehr in ausgewählten atlantischen Poetiken des 20. Jahrhunderts im Rahmen des DFG Graduiertenkollegs »Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung«. Seit 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik der Universität Innsbruck (Bereich Lateinamerikanistik). Arbeitstitel der Habilitation: Absteigen als Erzählen. Unterweltreisen in der lateinamerikanischen Prosa. Forschungsschwerpunkte: Lateinamerikanische Literaturen, Lyrik, atlantische Perspektiven, Unheimliches.

Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur März 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Götz Großklaus

Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9

Elisabeth Bronfen

Hollywood und das Projekt Amerika Essays zum kulturellen Imaginären einer Nation Januar 2018, 300 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4025-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4025-4

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Literaturwissenschaft Yves Bizeul, Stephanie Wodianka (Hg.)

Mythos und Tabula rasa Narrationen und Denkformen der totalen Auslöschung und des absoluten Neuanfangs März 2018, 178 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3984-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3984-5

Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)

Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt. Zur Theorie von Interkulturalität 2017, 204 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3818-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3818-3

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