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German Pages 230 Year 2017
Béatrice Hendrich, Sandra Kurfürst, Anna Malis (Hg.) Grenzüberschreitend forschen
Edition Kulturwissenschaft | Band 123
Béatrice Hendrich, Sandra Kurfürst, Anna Malis (Hg.)
Grenzüberschreitend forschen Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Trans*Syndrome
Dieser Band wurde finanziert von der Fächergruppe für Außereuropäische Sprachen, Kulturen und Gesellschaften der Universität zu Köln.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort: Grenzüberschreitend Forschen – zur Trans-Perspektive in der Kulturwissenschaft
Béatrice Hendrich, Sandra Kurfürst, Anna Malis | 7 Das „Trans-Syndrom“: Wenn die Welt durch das Netz unserer Begriffe fällt
Peter Weichhart | 19
I I DEENTRANSFER : R ECHT , P OLITIK , W ISSEN 1. Rechtstransfers und Rechtsentwicklung in China Björn Ahl | 43 2. Die westeuropäische Neue Linke und das maoistische China: Globaler Transfer und Translation revolutionärer Ideen
Felix Wemheuer | 61 3. Indisches Wissen in Südostasien: Sprache, Religion und andere Kulturgüter
Karl-Heinz Golzio | 81 4. Trans-Occupy: Organisat ion und Kommunikation der Regenschirmbewegung in Hongkong
Sandra Kurfürst | 97
II T RANSFORMATION : W IRTSCHAFT , G ESELLSCHAFT , K ULTUR 5. „Transforming Borneo“ : Ökologische, wirtschaftliche und soziale Wandelprozesse in Indonesien
Michaela Haug | 117 6. Kampfkunst als New Age Bewegung: Transkultureller Austausch in Pencak-Silat-Netzwerken
Patrick Keilbart | 139
7. Muslimische Mystik im 21. Jahrhundert: Trans/nationale und globale Netzwerke im mevlevitischen Feld
Béatrice Hendrich | 163 8. Exil als Negation und die Negation der Negation: Poetische und politische Transgressionen in der zeitgenössischen arabischen Exillyrik (Palästina und Irak)
Stephan Milich | 185 9. Bilder des Extremen: Dystopien im japanischen SF-Comic des ausgehenden 20. Jahrhunderts
Bernd Dolle-Weinkauff | 205 Autoren | 227
Grenzüberschreitend Forschen – zur Trans-Perspektive in der Kulturwissenschaft B ÉATRICE H ENDRICH , S ANDRA K URFÜRST , A NNA M ALIS
Die Vorsilbe „trans-“ ist ein allgegenwärtiger und oft unauffälliger Bestandteil der deutschen Sprache: „Transport“ und „Transfer“ gehören zum Grundwortschatz; selbst der Umgangssprache bereitet trans* kein Problem. Außerhalb des akademischen Bereichs würde auch niemand auf die Idee kommen, den Sinngehalt von Transport (per LKW) oder Transfer (von Fußballern) zu problematisieren. (Zugegebenermaßen, Transgender und Transfette sind Begriffe einer hitzigen Diskussion, aber die Vorsilbe alleine würde hier niemand für die Problematik selbst haftbar machen.) Ganz anders sieht es im wissenschaftlichen Bereich aus, wo fast keine Forschung ohne trans* auskommt, egal ob Transgenetik, Transregio-Forschung oder Translationstheorie. Der endlosen Reihe wissenschaftlicher Trans-Begriffe, und der großen Bedeutung der dadurch benannten Forschungsgebiete, steht der Verdacht der explikatorischen Unschärfe gegenüber. Dieser Vorwurf scheint insbesondere die Sozial- und Kulturwissenschaften zu treffen. Wo ein Terminus im Erfassen der außerakademischen Realität zu versagen droht, da wird ein neuer geschaffen, mit Begeisterung aufgenommen, drittmittelgefördert, und versagt dann doch vor seiner Aufgabe. Aus inter-kulturell wird multi-kulturell und schließlich trans-kulturell, so die Kritik. Gibt es also eine grundsätzliche Schwäche der kulturwissenschaftlichen „Plastikwörter“, wie es Ulrich Niethammer einmal für die „kollektive Identität“ formulierte, oder einen Catch-all-Begriff, der „seine unterscheidende und benennende Kraft einbüßt“ (Pries 2010: 11)? Hantieren wir mit expansiv verwendeten Wörtern ohne historische Dimension, austauschbar und inhaltsleer? In der Tat ist nichts einfacher, als den Begriff schon für die Erklärung zu halten, und, wenn die Erklärung nicht gelingt, den Begriff auszutauschen. Man könnte aber auch den Begriff – in unserem Fall das Feld der Trans-Begriffe – näher betrachten und statt nach den Mängeln nach der Attraktivität von trans*
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für die Kultur- und Sozialwissenschaften fragen. Möglicherweise rührt das Interesse am trans* von einer bestimmten disziplinären Perspektive her, und womöglich fordert uns die Diskussion um trans* dazu heraus, diese Perspektive deutlicher zu benennen, sie zu konzeptualisieren. Die in diesem Band veröffentlichten Beiträge benennen eine ganze Reihe von Trans-Phänomenen in unterschiedlichen disziplinären, regionalen und sozioökonomischen Zusammenhängen. Zu den großen Trans-Begriffen, die eine Mehrheit der kulturwissenschaftlichen Forschung berühren, gehören sicherlich transnational sowie Translation und Transkulturalität. All diese Begriffe sind für die im Buchtitel erwähnten kulturwissenschaftlichen Perspektiven von konstitutiver Bedeutung, deshalb im Folgenden einige kurze, doch konzeptuelle Bemerkungen zur Rolle von Trans-Theorien und Trans-Perspektiven für die und in der Kulturwissenschaft. Wie zu Trans-Begriffen ist auch zu „Kulturwissenschaft/en“ schon ausführlich gedacht und geschrieben worden. Aus der facettenreichen Diskussion der vergangenen drei Jahrzehnte zur Definition von Kulturwissenschaften (Böhme 1998; Welsch 1998) kann man einen grundsätzlichen Konsens herauslesen, der jedenfalls für die Herausgeberinnen dieses Bandes, und wohl auch für die meisten Autoren 1, Gültigkeit hat. Diese Definition ersetzt nicht einfach die Bezeichnung „Geisteswissenschaften“ durch einen neuen Terminus; auch geht es nicht um das curricular orientierte Verständnis von Kulturwissenschaften eines Studienganges, der eine Professionalisierung von Kulturbetrieb und Kulturvermittlung zum Ziel hat. Vielmehr handelt es sich um eine Forschungsperspektive, einen veränderten Zugriff auf ein Thema, der den Cultural Studies viel zu verdanken hat und sich gleichzeitig von letzteren gut abgrenzen lässt. Es geht um ein „essentially […] interdisciplinary and […] international field of research“ (Nünning 2014: 30), wobei Kultur umfassend gedacht wird als „a full range of cultural expressions, objects, and practices, including, e.g., institutions, rituals, and other social practices“ (Nünning 2014: 33). Es handelt sich nicht um eine Kritik an Disziplinarität, aber um die Möglichkeit, a priori gesetzte, disziplinäre und/oder ideologische Grenzen systematisch zu hinterfragen und zu überschreiten. Neu verhandelt werden also sowohl die Definition von „Kultur“ selbst als auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit derselben. Migration und Globalisierung der Gegenwart gehören zweifellos zu den Antriebskräften dieser veränderten Forschungsperspektive, andererseits hilft letztere zu erkennen, dass Migration kein neues Phänomen ist, und dass das
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Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mit gemeint.
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Streben nach Globalisierung auch in der Vergangenheit Politik und Wirtschaft geprägt hat. Kein Beitrag dieses Bandes kommt ohne einen Blick auf beide Themen aus, sei es die ganz in der Gegenwart verankerte Untersuchung zu den sozioökonomischen Effekten des Raubbaus am Urwald von Borneo (Michaela Haug) oder der Beitrag von Karl-Heinz Golzio, der sich mit indischem Wissen, das wohl schon in prähistorischer Zeit nach Südostasien gelangt ist, beschäftigt. Schließlich gehört auch die Kritik an der Nation als grenzziehendem kategorialem Kriterium in der geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung zu den Ecksteinen der (Entwicklung der) Kulturwissenschaften. Aus diesem Verständnis von Kulturwissenschaften ergibt sich zwangsläufig, dass Themen, Theorien und Methoden grenzüberschreitend angelegt sind. Die Grenzüberschreitung kann sowohl durch den konkreten Untersuchungsgegenstand ausgelöst werden, als auch programmatischer Natur sein, wenn es beispielsweise darum geht, etablierte Grenzen und Kategorien zu hinterfragen wie die Nationalliteratur und die Muttersprache. Doris Bachmann-Medick hat einige dieser programmatischen Grenzüberschreitungen unter dem Titel cultural turns beschrieben (2006). „[C]ultural turns in the humanities […] cut across disciplinary and national boundaries and […] have significantly changed the ways in which research agendas have developed (Nünning 2014: 35). Einen Schwerpunkt in der Arbeit Bachmann-Medicks stellen die Translationsperspektive und der translational turn dar (2014b; 2006: 238-283). „Knowledge is gained through translation – not through dissemination from an original, but through ongoing translations as negotiations, appropriations, and transformations“ (Bachmann-Medick 2014b: 18), so lautet die Grundidee der translationalen Perspektive. Auch wenn Bachmann-Medick und andere Translation im Wesentlichen mit Blick auf die Form von Kulturwissenschaften diskutieren, die sich in Deutschland (und in Europa) unter dem Einfluss der Cultural Studies entwickelt haben, so lassen sich Problemstellung und Lösungsansätze auch auf Kulturwissenschaften übertragen, die sich aus anderen Traditionen speisen. Es geht darum, in der wissenschaftlichen Kommunikation und Forschung die Differenz zwischen den (Wissens-)kulturen, Konzepten oder Analysekategorien verschiedener Zeiten und Weltgegenden nicht durch eine vermeintliche Eins-zu-eins-Übersetzung zu überdecken, da diese Übersetzung nur den monolingualen Modus stärkt (bei Bachmann-Medick das Englische und die Episteme der angelsächsischen Welt). In den Kulturwissenschaften muss es zu einer Provinzialisierung Europas kommen (Dipesh Chakrabarty), um die vermeintliche Universalität europäischer Konzepte zu unterminieren. Durch die historische, soziale oder politische Kontextualisierung von Ideen und ihren
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Wirkungen einschließlich der Beschäftigung mit Kontakten, Austauschverhältnissen und intellektuellen Machtkonstellationen kann deutlich werden wie ein bestimmter Wissensbestand zustande gekommen ist, wobei der gesamte Prozess immer schon translationsabhängig ist – es gibt kein Wissen unabhängig von seiner Entstehungsgeschichte und es gibt keine Übersetzung unabhängig von bestehenden Epistemen und sprachlichen Konventionen. Für die sogenannten exotischen Fächer der Geisteswissenschaften ist die Existenz von Austauschverhältnissen eine Selbstverständlichkeit, gibt es doch keine Islamwissenschaft oder Südostasienwissenschaft, die ganz ohne die Frage nach der Rolle Europas für die eigene Region auskommen könnte. Wie manche Beiträge des vorliegenden Bandes zeigen, kommen die Translationsbeziehungen aber sehr wohl auch ohne den Blick nach Europa aus. Die Theoretisierung und Systematisierung der Übersetzungsverhältnisse – aber auch der Unübersetzbarkeiten – wird der Kulturwissenschaft in ihrer Auseinandersetzung mit ihrer eigenen disziplinären Position und in der Eröffnung neuer „epistemischer Räume“ (Bachmann-Medick 2014: 10) behilflich sein. Ein weiterer Trans-Begriff, der zum unverzichtbaren Bestand der Kulturund Sozialwissenschaften gehört und seinerseits andere Trans-Begriffe zu erfassen hilft, ist transnational bzw. Transnationalismus. Innerhalb verschiedener Disziplinen und Themenstellungen nimmt das Transnationale spezifische Funktionen und Zustände an. So kann es darum gehen, einen transnationalen Ansatz für die Kulturwissenschaft zu finden, der die diversen Zuschnitte der kulturwissenschaftlichen Forschung in einzelnen Ländern und Forschungstraditionen überwindet. Nach Nünning existiert trotz aller internationaler akademischer Beziehungen nach wie vor das Problem der letztlich einschränkenden Forschungshorizonte, insbesondere aber Selbstverständlichkeit, mit der Kategorien, Grundannahmen und diskursive Praktiken geradezu als natürlich hingenommen und gar nicht thematisiert werden. Diese Grenzen müssen deutlich gemacht und durch innovative, transnationale, Ansätze überwunden werden (Nünning 2014: 45-46). Die Bedeutung des Transnationalismus für die Sozialwissenschaften diskutiert Ludger Pries (2010). Es geht darum, gesellschaftlichen Wandel mittels eines Forschungsprogramms zu verstehen, das den methodologischen Nationalismus überwindet: „Der Transnationalismus im hier verstandenen engeren Sinne dagegen betrachtet vor allem solche Sozialphänomene und sozialen Beziehungen, die sich über mehrere lokale Einheiten in unterschiedlichen Nationalgesellschaften hinaus erstrecken, die relativ dauerhaft sind und vergleichsweise dichte Interaktionen beinhalten“ (Pries 2010: 10). Die Existenz von Nationalstaaten sowie die Einwirkung dieser Gegebenheit auf soziale
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Zusammenhänge wird also nicht negiert, anders als im Globalismus, der eine De-Lokalisierung und das Verschwinden nationaler Grenzen beinhaltet. Vielmehr geht es um „neue transnationale Sozialeinheiten“ (ebd. 15), die eine historisch neue Qualität aufweisen: Formen von Vergesellschaftung, die sich in bisher unbekannter Intensität zwischen Nationalstaaten hin- und her bewegen, oder mittels digitaler Kommunikation gleichzeitig hier und dort aktiv sind. Was , Pries Forschungsprogramm mit den bisher zitierten Ansätzen der *TransForschung verbindet, ist die Öffnung der Perspektive, auch der Disziplinarität, auf „gesellschaftliche Phänomene als Ganzes“ (ebd. 16), also der Blick nicht nur auf ökonomische Aspekte wie in (Teilen) der Globalisierungsforschung, sondern auch auf kulturelle, ökologische und andere mehr. Für die in diesem Band versammelten Beiträge ist die Frage nach dem Vorliegen von transnationalen , Verhältnissen in der Regel relevant. Hilfreich ist Pries Ansatz aber auch, um transnationale von globalen, globalisierten Phänomenen unterscheiden zu können. Dann kann offensichtlich werden, dass dasselbe Thema sowohl transnationale als auch globale Aspekte aufweist, oder auch in globalen Zusammenhängen *Trans-Phänomene existieren. Gekoppelt an transnationale Gegebenheiten oder auch als einzelnes Phänomen in einem anderen Umfeld kann man auf Transkulturalität treffen. Dieser Begriff wirft eine endlose Definitionsdebatte auf, kombiniert er doch gleich zwei „Plastikwörter“. Warum also sich damit abmühen? Wie in den Beispielen zuvor geht es nicht darum, etwas abzuschaffen: Wenn Autoren die Überwindung von Inter- und Transkulturalität, oder anderer BindestrichKulturen, hin zur „Hyperkultur“ fordern (Griese 2006), dann ist das eine normative Verengung des Forschungsraums, mit der niemandem gedient ist, am wenigsten dem Verstehen von Kultur (als Praxis) selbst, denn die Praxis hält sich bekanntlich nicht an Kategorien. Transkulturalität als Forschungsperspektive hingegen erlaubt gerade Grenzüberschreitungen verschiedenster Art. Wolfgang Welsch hat eine ganze Reihe von Veröffentlichungen zur Transkulturalität verfasst, mit denen er die Vorstellung von Kulturen als in sich homogenen Einheiten überwinden will (u.a. Welsch 2012). Die Kritik an seiner weit rezipierten Arbeit lautet, dass sie eine frühere, vormoderne, Existenz homogener, in sich abgeschlossener Kulturen postuliere, und auch heute voneinander abgetrennte Kulturen existieren müssten, aus denen dann erst durch Kombination „Vielheit“ entstehe (Blumentrath 2007: 17). Nach Blumentrath et al. erlaubt die Perspektive der Transkulturalität hingegen ein Nachdenken über Kultur, das Heterogenität, Dynamik, Unabgeschlossenheit und Prozesshaftigkeit einschließt (ebd. 18; 123). Postkoloniale Theorieansätze, Differenz, Gender und Medialität spezifizieren die transkulturelle Perspektive. Literaturen, die in
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keinen nationalen Kanon passen, politische Theorien, die in anderen als ihren ursprünglichen geografischen und politischen Zusammenhängen rezipiert werden, fordern den Begriff der Ursprungskultur heraus, indem sie die Kategorien selbst, deren Produktion und Grenzen in Frage stellen. Die Auseinandersetzung mit Trans-Begriffen kann also für die Kulturwissenschaft weit mehr sein als das Aufgreifen einer gängigen Redefigur. Die Trans-Begriffe können u.a. helfen, etablierte Themen und Erkenntnisse theoretisch zu unterfüttern – etwas, das für Disziplinen mit Wurzeln in den Philologien und Religions- und Kulturwissenschaften des 18. Jahrhunderts wie der gegenwärtigen Islamwissenschaft keine Selbstverständlichkeit ist (Conermann 2012: 11-12). Für eine Kulturwissenschaft im hier skizzierten Sinne ist die Arbeit mit den beschriebenen Perspektiven und Forschungsprogrammen konstitutiv. Dabei geht es nicht um eine Ablösung anderer Zugriffe, oder eine Aufhebung von Disziplinarität. Kulturwissenschaft wie sie von den hier vertretenen Autoren verstanden wird, basiert jedoch auf Erkenntnisgewinn durch Grenzüberschreitung. Diese Bedeutung von trans* für die Kulturwissenschaft bzw. die kulturwissenschaftlich arbeitenden Fächer hat an der Universität zu Köln zu einem intensiven Austausch zwischen Wissenschaftlern insbesondere innerhalb der Philosophischen Fakultät und den sogenannten kleinen Fächern geführt. Aus der Diskussion erwuchs eine interdisziplinäre Ringvorlesung im Wintersemester 2015/16 unter dem Titel „Trans*Syndrome“; einige der Vorträge sind in den vorliegenden Band eingegangen. Die hier versammelten Beiträge widmen sich ganz unterschiedlichen Themen wie Recht, Wissen, Religion, Politik, Gesellschaft und Literatur. Auch die behandelten Regionen reichen vom südöstlichen Rand Europas bis in den Nahen Osten, und von Indien und Südostasien bis nach China und Japan. Vereint werden die Beiträge jedoch durch das gemeinsame Bestreben nach Erkenntnisgewinn durch die Verwendung von Trans-Begriffen. Alle Beiträge basieren auf aktuellen Forschungsarbeiten der Autoren. Einen theoretischen Beitrag zur Trans-Diskussion leistet Peter Weichhart mit dem gleichnamigen Artikel „Trans-Syndrom“. In dem bereits beim Lit-Verlag erschienenen Beitrag verortet Peter Weichhart den Ursprung der Trans-Begriffe in der zunehmenden Komplexität der Welt, für deren Verständnis unsere bestehende Begriffswelt nicht mehr ausreicht. Trans-Begriffe stellen somit einen Versuch dar, neue Maschen der Begrifflichkeit zu konstruieren. Weichhart rät zu einem bewussten, reflektierten und kritischen Umgang mit diesen Begrifflichkeiten. Die Verwendung des Trans-Begriffs sollte zur Lösung einer spezifischen fachlichen Fragestellung beitragen. Die folgenden Beiträge folgen diesem Unter-
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fangen, indem sie den jeweils verwendeten Trans-Begriff kontextabhängig zu definieren suchen. Die Artikel gliedern sich in die zwei Themenkomplexe Ideentransfer und Transformation. Ideentransfer benennt hier den Austausch, die Adaption und lokale Einbettung von Recht, politischen Ideen und Wissen. So diskutiert Björn Ahl in seinem Beitrag internationale Rechtstransfers unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsentwicklung in China. Historisch analysiert er den Transfer von Recht und geht dabei bis auf das Römische Recht im mittelalterlichen Europa zurück. In jüngster Zeit haben Rechtstransfers in besonderem Maße nach dem Zusammenbruch des Ostblocks durch die Erweiterung der Europäischen Union und das Welthandelsrecht zugenommen. In seinem Beitrag stellt Björn Ahl die gängigen Modelle vor, die Rechtstransfers zu erklären versuchen, und bezieht sie auf die Rechtsentwicklung in China. Ebenfalls mit China beschäftigt sich der Beitrag von Felix Wemheuer. Dieser untersucht die Perzeption der chinesischen Kulturrevolution in der globalen Revolte um 1968. Zu dieser Zeit diente Maos China als Bezugspunkt für diverse soziale Bewegungen wie etwa die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA, studentische Protestbewegungen in Westeuropa oder Guerillabewegungen in Lateinamerika und Afrika. Der Artikel geht der Frage nach, warum China für die unterschiedlichsten Akteure als Projektionsfläche für die eigenen politischen Versionen einer alternativen Gesellschaft gewählt wurde und wie eine Übersetzung und Aneignung der Theorien aus dem fernen China erfolgte. Anhand von Filmdokumenten, Zeitschriften und Erinnerungen von Zeitzeugen analysiert der Beitrag Maoismus als globales Phänomen und den damit verbundenen Transfer von politischen Ideen. Die beiden Beiträge von Björn Ahl und Felix Wemheuer weisen bereits auf die Qualität von trans* als wechselseitige – und niemals einseitige – Prozesse hin. Um den Transfer von Wissen, insbesondere religiösem, rituellem Wissen und Sprache, geht es in dem Beitrag von Karl-Heinz Golzio. Im Vordergrund steht hier die Untersuchung kultureller Transferprozesse zwischen Indien und Südostasien. Bereits vor dem Kontakt mit der indischen Hochkultur hatten sich im soziolinguistisch diversen Südostasien eigene kulturelle Identitäten herausgebildet. Die Kenntnisse von Schrift (vor allem Sanskrit), der Bau mit dauerhaften Materialien (insbesondere von Sakralbauten) sowie die Herstellung von Götterstatuen und der gesamte damit verbundene Hintergrund von Religion, Ritual sowie eher weltliche Kenntnisse wie etwa Kalenderwesen und Staatslehre übten jedoch eine große Anziehungskraft auf die Bevölkerung Südostasiens aus. Anhand von chinesischen Quellen und lokalen Inschriften untersucht der Artikel den Transfer indischen Wissens nach Südostasien und seine Anpassung an lokale Vorstellungen.
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Auch Sandra Kurfürst behandelt in ihrem Beitrag die Sinnstiftung im lokalen Kontext. Ihr Artikel zu „Trans-Occupy“ präsentiert die Entstehung, Organisation und Kommunikation der Occupy-Bewegungen in Nordamerika und Europa und vergleicht diese mit Occupy Central in Hongkong. Seit der Besetzung der Wall Street in New York im Jahr 2011, ist „Occupy“ zu einem globalen Emblem geworden, um weltweit Ungleichheit und Machtdifferentiale zu adressieren. Das Emblem wird von räumlich und zeitlich situierten Gruppen übernommen, angeeignet und lokal eingebettet. Durch die Sinnstiftung im lokalen Kontext wird „Occupy“ mit Bedeutung, gemeinsamen Ideen und Zielen gefüllt. Während bei den Occupy-Bewegungen in Nordamerika und Europa vor allem eine Kapitalismuskritik im Fokus stand, wurde im Falle von Occupy Central die politische Machtfrage gegenüber der Volksrepublik China gestellt. Diesen unterschiedlichen Zielen und Forderungen wurde mit verschiedenen kommunikativen Praktiken Ausdruck verliehen. Der Artikel dechiffriert die in den Protesten verwendeten Symbole und versteht trans* sowohl als grenzüberschreitendes Phänomen, als auch als Translationsprozess. Der zweite Teil des Sammelbandes widmet sich dem weiten Thema Transformation in Wirtschaft, Gesellschaft und/oder Kultur. So befasst sich Michaela Haug in ihrem Beitrag „Transforming Borneo“ mit den Auswirkungen der Integration der ländlichen Räume Südostasiens in globale Märkte auf die Umwelt und die Lebensbedingungen der lokalen Bevölkerung. Kalimantan, der indonesische Teil der Insel Borneo, ist ein großer Lieferant von natürlichen Ressourcen. Das zunehmende Eindringen extraktiver Industrien stellt für die lokale Bevölkerung ein Dilemma dar. Zum einen führt der Abbau der Ressourcen zur Verbesserung der Infrastruktur, und zum anderen zum Verlust von Land, Umweltverschmutzung und wachsenden Abhängigkeiten. Der Beitrag analysiert die Folgen dieser Entwicklung auf der lokalen Ebene und beleuchtet die Transformation von traditionellen Wirtschaftssystemen und sozialen Beziehungen. In Indonesien verbleibend befasst sich Patrick Keilbart in seinem Beitrag mit transkulturellem Austausch in den Netzwerken der indonesischen Kampfkunst Pencak Silat. Pencak-Silat-Schulen stellen für einen Großteil der indonesischen Bevölkerung Institutionen gesellschaftlicher Wissensvermittlung dar. International ist Pencak Silat im Vergleich zu anderen asiatischen Kampfsportarten bislang jedoch relativ unbedeutend. Anhand der Modernisierungsstrategien von Pencak-Silat-Schulen, ihrer globalen Vermarktung und ihrem Export in die Gesellschaften des Globalen Nordens (USA, Europa) zeichnet Patrick Keilbart transkulturellen Austausch als wechselseitigen, konstitutiven Prozess nach. Einerseits wird in Indonesien aus dem Globalen Norden stammende Ideologie adaptiert, transformiert oder abgelehnt. Andererseits wird „religiöses“ Wissen
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im Globalen Norden rezipiert, an lokale kulturelle Bedürfnisse angepasst und im Sinne einer New Age Bewegung identitätsstiftend verbreitet. Die transnationale Bedeutung von Religion bzw. islamischer Mystik greift auch Béatrice Hendrich in ihrem Beitrag zum mevlevitischen Feld auf. Das mevlevitische Feld setzt sich aus Gruppen und Gemeinschaften weltweit zusammen, die sich durch den islamischen Mystiker Mevlana Dschelaleddin Rumi inspiriert fühlen. Das traditionelle Modell der tarikat als gemeinschaftliche Lebensform der Derwische wird dabei in sehr unterschiedlicher Form umgesetzt oder ganz ignoriert. Zwei Elemente beeinflussen dieses Feld wesentlich: einerseits die physische und virtuelle Mobilität der Gegenwart, die zu einer weltweiten Verbreitung (von Bestandteilen) dieser Kultur geführt haben, andererseits die religiösen, sozialen und rechtlichen Randbedingungen der einzelnen (National-) staaten. Die Kombination dieser Faktoren mündet in eine breite Varietät des Feldes. Der Beitrag konzentriert sich auf das mevlevitische Feld in der Türkei, Zypern und Deutschland, und dabei insbesondere auf die Qualität der trans/nationalen und globalen Netzwerke sowie auf die Auswirkung lokaler und globaler Randbedingungen auf die Institutionalisierung und Umsetzung der mevlevitischen Inhalte. Die letzten beiden Beiträge zum Thema Transformation befassen sich mit Literatur. Stephan Milich präsentiert in seinem Beitrag zu poetischen und politischen Transgressionen in der zeitgenössischen arabischen Exillyrik die Exilerfahrungen von prominenten Autoren aus dem Irak und Palästina und deren Reflektion in der Lyrik. Die präsentierten literarischen Arbeiten haben das Exil und seine Folgen für den Einzelnen, das Verhältnis der Autoren zu ihrer alten und neuen ‚Heimat‘ sowie die Funktion von literarischem Schreiben im Exilierungs-/Migrationsprozess zum Gegenstand. Anhand ausgewählter Gedichte untersucht der Beitrag unterschiedliche Positionen von auf Arabisch schreibenden Autoren zum Exil und zeigt vom Exil beeinflusste Tendenzen in der neuen arabischen Lyrik auf. Bernd Dolle-Weinkauff widmet sich in seinem Beitrag der Transformation des japanischen Mangas. Dabei geht er der Frage nach, warum bestimmte Spielarten und Motive, wie die Postapokalypse, in den Vordergrund treten und wieder verschwinden. Ein besonders häufig in Mangas verhandeltes Sujet stellen Umwelt- und Naturkatastrophen dar. Geschichten wie Barfuß durch Hiroshima von Keiji Nakazawa, Akira von Katsuhiro Otomo, Nausicaä aus dem Tal der Winde vom Filmemacher Hayao Miyazaki oder Neon Genesis Evangelion von Yoshiyuki Sadamoto haben das Bild des Manga auch in den Ländern des Globalen Nordens maßgeblich geprägt. Unter Bezugnahme auf Mangas, die auch in deutschsprachiger Übersetzung vorliegen, vollzieht der Beitrag die
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Entstehung und Entwicklung sowie die unterschiedlichen Formen dieser Thematik im Manga nach.
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L ITERATUR Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek: Rowohlt. Bachmann-Medick, Doris (Hg.) (2014a): The trans/national study of culture: a translational perspective, Boston: De Gruyter. Bachmann-Medick, Doris (2014b): „The trans/national study of culture. A translational perspective , in: Doris Bachmann-Medick (Hg.), The trans/national study of culture, S. 1-21. Blumentrath, Hendrik et al. (2007): Transkulturalität: Türkisch-deutsche Konstellationen in Literatur und Film, Münster: Aschendorff. Conermann, Stephan (2012): Was ist Kulturwissenschaft? Zehn Antworten aus den „Kleinen Fächern“, Berlin: De Gruyter. Nünning, Ansgar (2014): „Towards transnational approaches to the study of culture: from cultural studies and kulturwissenschaften to a transnational study of culture , in: Doris Bachmann-Medic k (Hg.), The trans/national study of culture: a translational perspective, S. 23-49. Griese, Hartmut (2006): „,Meine Kultur mache ich selbst. Kritik der Inter- und Transkulturalität in Zeiten der Individualisierung und Globalisierung“, in: Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik 29(4), S. 19-23. Pries, Ludger (2010): Transnationalisierung. Theorie und Empirie der grenzüberschreitenden Sozialwissenschaften, VS Verlag: Wiesbaden. Welsch, Wolfgang (2012): „Was ist eigentlich Transkulturalität“, in: Dorothee Kimmich/Schamma Schahadat (Hg.), Kulturen in Bewegung: Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität, Berlin: De Gruyter, S. 25-40.
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Das „Trans-Syndrom“: Wenn die Welt durch das Netz unserer Begriffe fällt1 P ETER W EICHHART
P ROBLEMSTELLUNG Der Begriff „Syndrom“ bezeichnet in der Medizin das gleichzeitige Vorliegen verschiedener Merkmale (Symptome), etwa Krankheitssymptome, mit meist einheitlicher Ätiologie (Ursachen) und wenig bekannter Pathogenese. Als Beispiel kann etwa das metabolische Syndrom angeführt werden.2 Der Begriff wird aber auch in anderen Disziplinen verwendet. In der Soziologie wird eine Gruppe von Merkmalen oder Faktoren, deren gemeinsames Auftreten einen bestimmten Zusammenhang oder Zustand anzeigt, ebenfalls als „Syndrom“ bezeichnet. Als Beispiel sei das „Syndrom der Verschuldung privater Haushalte“ (vgl. z. B. Hanf et al. 2005) genannt. Der Begriff bezeichnet also eine komplexe, meist schwierig zu erfassende Problemlage, bei der mehrere Bedingungsfaktoren zusammenspielen, deren gemeinsames Auftreten einen bestimmten Zusammenhang oder Zustand anzeigt. „Syndrom“ ist damit auf andere Sachbereiche übertragbar und lässt sich auch auf geistesgeschichtliche, gesellschaftliche und erkenntnistheoretische Problemlagen anwenden.
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Der vorliegende Text ist die schriftliche Version eines Vortrages im Rahmen der Tagung „Transkulturalität – Transnationalität – Transstaatlichkeit – Translokalität. Theoretische und empirische Begriffsbestimmungen“ an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), die vom 1.-3. Oktober 2009 stattfand. Der Vortragsstil wurde bewusst beibehalten.
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Darunter versteht man (sehr verkürzt formuliert) eine Fettstoffwechselstörung mit zu viel Cholesterin und zu wenig HDL, Bluthochdruck (Hypertonie) und erhöhtem Blutzucker (Diabetes Typ 2).
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In den letzten zwei Jahrzehnten sind in den Fachdiskussionen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen immer wieder Versuche zu beobachten, eingeführte Fachbegriffe durch das Voranstellen des Präfixes „trans“ inhaltlich neu zu fassen und damit eine gegenüber früheren Konzeptionen deutlich differente Bedeutungszuschreibung vorzusehen. Dabei fällt auf, dass diese neuen Begriffe häufig recht unpräzise verwendet werden und überdies nicht selten auch unterschiedliche Definitionen vorliegen. Das Präfix „trans“ soll dabei in der Regel auf das Überwinden irgendwelcher Grenzen verweisen, was in der Ausgangsbegrifflichkeit ungenügend zum Ausdruck käme. Das Erstaunliche an diesem Phänomen ist das Faktum, dass sich diese terminologische Praxis in den letzten zwei Jahrzehnten häuft und in verschiedenen sozialwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Disziplinen und Forschungsfeldern vorkommt. Wie lässt sich dieses Phänomen erklären und verstehen? Meine Ausgangsthese für die folgenden Überlegungen kann so formuliert werden: Die knapp beschriebenen Befunde deuten auf Brüche und Verwerfungen hin, die sich einerseits aus der Wahrnehmung aktueller gesellschaftlicher Problemlagen und Entwicklungsprozesse, andererseits aus der Veränderung der Perspektiven und Fragestellungen beziehungsweise der Erkenntnisobjekte wissenschaftlicher Disziplinen ergeben. Durch diese veränderte Sichtweise sollen bekannte Phänomene neu interpretiert und gängige fachspezifische Denkmuster zum Teil erheblich modifiziert werden. Das überkommene Netzwerk von Begriffen wird offensichtlich als unzulänglich angesehen, die „Welt“ angemessen zu beschreiben. Daraus resultieren für die verschiedenen Scientific Communities das Bedürfnis und die Notwendigkeit zu einer Modifikation terminologischer Konventionen. Die geschilderte Symptomatik hängt – so möchte ich die Ausgangsthese erweitern – mit den Denkstrukturen und Problemlagen der „Zweiten Moderne“ zusammen. In der Theorie der reflexiven Modernisierung wird die se“ der modernen Gesellschaft nicht nur als eine Anpassungs- und Strukturkrise, sondern auch als eine Begriffskrise verstanden (Beck/Lau 2004: 11). War die „Erste Moderne“ durch das „Leitbild der Eindeutigkeit“ (Beck et al. 2004: 32) sowie durch klar abgrenzbare begriffliche Dualitäten (wie Natur versus Kultur) gekennzeichnet, welche das Produkt verschiedener „Reinigungs-praktiken“ (Latour 1995) waren, so wird in der „Zweiten Moderne“ eine neue Strukturlogik schlagend. Das „Entweder-Oder“ der gesellschaftlich relevanten Basisstrukturen gängiger Weltbeschreibungen muss nun durch ein ambivalentes und in unterschiedlichen Konfigurationen erkennbares „Sowohl-als Auch“ersetzt werden. Bei aktuellen Beschreibungen der Welt „scheint das Strukturprinzip exklusiver Unterscheidungen in vielen Fällen nicht mehr zu greifen“ und muss einem
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„Prinzip inklusiven Unterscheidens, das heißt pluraler, ambivalenter Zuordnungsregeln“ (Beck/Lau 2004: 33) Platz machen. Dabei bereitet gerade diese Pluralität gesellschaftlicher Phänomene große Probleme. „Alte“ Basisstrukturen (wie etwa „Normalarbeitsverhältnisse“ oder die klassische Kernfamilie) existieren nach wie vor, daneben sind aber zahlreiche andere Strukturen entstanden, die nicht als bloße Abweichungen angesehen werden können, sondern in der Zwischenzeit zur „Normalität“ gehören. Dadurch entstehen „Melangephänomene“ (Beck/Lau 2004: 40), die als Ausdruck von Grenzauflösungen angesehen werden müssen. Die oben angesprochene „Transifizierung“ eingebürgerter sozial- und kulturwissenschaftlicher Begriffe kann damit als Bemühen angesehen werden, die „kategoriale Antiquiertheit empirischer Beobachtungsperspektiven und -daten im Übergang zur Zweiten Moderne“ (ebd. 2004: 59) zu überwinden. Damit lässt sich die „Transifizierung“ gängiger Fachtermini als ein (nicht immer gelingender) Versuch der Wissenschaften interpretieren, die Beobachtungs- und Begriffskrise der „Zweiten Moderne“ zu bewältigen. Da die Bedingungsfelder und Motivationen für diese Praxis vielfältig und komplex sind, erscheint es angemessen, hier von einem Syndrom zu sprechen. Ein charakteristisches Ergebnis dieser Vorgangsweise ist eine sehr eigenartige Inkonsistenz der daraus resultierenden neuen terminologischen Strukturen. Das vorher im Netzwerk der Begrifflichkeiten, also im bestehenden terminologischen System zum Ausdruck kommende Modell der Realität hat sich als unzulänglich erwiesen, die aktuell wahrgenommene Faktizität der Phänomene angemessen zu repräsentieren. Dennoch wird durch das Voranstellen des Präfixes „trans“ das „alte“ Modell der terminologischen Repräsentation gleichsam reproduziert. Gleichermaßen lässt diese terminologische Konvention aber auch die Interpretation zu, dass die mit der Ausgangsbegrifflichkeit angesprochenen Phänomenkonstellationen bedeutungslos geworden seien. Im Folgenden sollen einige Überlegungen zur Praxis der „Transifizierung“ und deren Auswirkungen auf die aktuellen terminologischen Systeme angestellt werden. Dabei soll vor allem danach gefragt werden, wodurch die Transifizierung angestoßen und motiviert wurde. Haben sich die Phänomene verändert (die Struktur des „Gegenstandes“, der „Wirklichkeit“) oder die Sichtweise (der Problematisierungsstil, die Erkenntnisobjekte) der Forschung? Oder trifft beides zu? Ausgangspunkt soll eine ausdrücklich sprachpragmatische Grundhaltung sein. Denn trotz Wittgenstein, Sprachphilosophie, Linguistic Turn und Radikalem Konstruktivismus finden sich in sozialwissenschaftlichen Diskursen noch immer sprachrealistische Einstellungen, deren Vertreter ernsthaft daran glauben, man könne die „eigentliche“ Bedeutung eines Begriffes quasi „entdecken“ oder re-
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konstruieren beziehungsweise zu einer „privilegierten“ Definition gelangen. Bei der Analyse und Bewertung von Trans-Begriffen soll also sowohl die Zwecksetzung der jeweiligen Sprecher als auch die Position des neuen Zeichens im relationalen Gefüge der Begrifflichkeiten des jeweiligen terminologischen Systems berücksichtigt werden. In der folgenden exemplarischen Besprechung einiger dieser Begriffe sollen zentrale Problemdimensionen identifiziert werden, die für diese Klasse von Fachbegriffen charakteristisch zu sein scheinen (Call for Papers, siehe Hühn et al. 2009).
U NEINHEITLICHE UND UNPRÄZISE V ERWENDUNG – D A S B EISPIEL „T RANSDISZIPLINARITÄT “ Der Autor ist seit einigen Jahren Mitglied der Forschergruppe „Netzwerk Multilokalität“. Diese Gruppe (bestehend aus Soziologen, Geographen, Familienforschern, Volkskundlern, Verkehrsforschern und Ökonomen) trifft sich regelmäßig zu Workshops, in deren Rahmen ein Antrag auf Bildung einer Forschergruppe bei der DFG ausgearbeitet und bereits eingereicht wurde. Im Rahmen der Gruppendiskussion wurde ausführlich erörtert, ob der von uns entwickelte Forschungsansatz nun eigentlich interdisziplinär oder transdisziplinär angelegt sei oder angelegt werden solle. Dabei wurde auch die Auffassung vertreten, dass es gewiss „nützlich“ wäre, wenn in einem DFG-Antrag der Begriff transdisziplinär vorkommen würde. „Trans-Begriffe“ seien doch – so wurde nicht nur scherzhaft bemerkt – ausgesprochen trendy und „sexy“. In den folgenden Versuchen, sich auf ernsthafte Begriffsbestimmungen zu einigen, stellte sich dann allerdings heraus, dass innerhalb der Gruppe zwei unterschiedliche Bedeutungsvarianten des Begriffs „transdisziplinär“ jeweils als „zutreffend“ oder „richtig“ angesehen wurden. Die erste Variante, die von etwa der Hälfte der Gruppenmitglieder präferiert wurde, fasst Transdisziplinarität als eine Vorgangsweise der Forschung auf, bei der die Grenzen zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen überwunden werden sollen. Dabei würde durch Synergieeffekte und Emergenzphänomene eine neue Qualität der Weltdeutung ermöglicht, die mono- oder interdisziplinär nicht erreicht werden könne. Als zweite Variante des Begriffsverständnisses wurde von den anderen Gruppenmitgliedern die Auffassung vertreten, dass durch Transdisziplinarität eine ganz andere Grenze überwunden werde, nämlich jene zwischen Wissenschaft und Lebenswelt. Transdisziplinarität verknüpfe also wissenschaftliches und praktisches Wissen. Auch bei dieser Interpretation wird ein Mehrwert
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postuliert, weil wissenschaftliche Diskurse durch gesellschaftliche Problemstellungen angereichert und neu strukturiert würden. Dabei war für den Autor überraschend, dass einige Vertreter dieser beiden Begriffsvarianten auf der Differenz zwischen den Auffassungen beharrten, obwohl natürlich auch eine Verknüpfung vorstellbar ist. Bei Durchsicht der Literatur zu diesem Thema fällt auf, dass diese Vagheit und Uneinheitlichkeit des Begriffsverständnisses häufig geradezu kultiviert wird. Der Artikel „Transdisziplinarität“ auf Wikipedia beginnt mit der lakonischen Bemerkung: „Von Transdisziplinarität existiert im aktuellen wissenschaftlichen Gebrauch kein einheitliches Verständnis. Im deutschen Sprachraum bezeichnet der Ausdruck zumeist ein Prinzip integrativer Forschung (Mittelstraß 2003a). Dies steht im Gegensatz zur Auffassung von Transdisziplinarität als einem universellen theoretischen Einheitsprinzip (Nicolescu 2002). […] Diese unterschiedlichen und zum Teil unvereinbaren Begriffsgebräuche deuten an, dass eine der Transdisziplinarität inneliegende Gefahr die der Unübersichtlichkeit ist.“3
Einen deutlichen Beleg für diese Unübersichtlichkeit liefert auch die Diskussionsseite zu diesem Stichwort auf Wikipedia.4 An der „Interfakultären Koordinationsstelle für Allgemeine Ökologie“ der Universität Bern wurde eine eigene „Forschergruppe Inter-/Transdisziplinarität“ eingerichtet, deren „primäres Ziel“ darin besteht, „zur Verbesserung inter- und transdisziplinärer Prozesse beizutragen“.5 Unter „Interdisziplinarität“ versteht diese Gruppe eine Form wissenschaftlicher Kooperation zwischen Personen aus mindestens zwei Disziplinen, die sich an gemeinsamen Fragen orientiert und darauf ausgerichtet ist, das jeweils angemessenste Problemlösungspotenzial für gemeinsam bestimmte Ziele bereitzustellen. Demgegenüber wird „Transdisziplinarität“ in Anlehnung an den wissenschaftssoziologischen Diskurs definiert „als eine spezielle Form problemorientierter Interdisziplinarität, nämlich als eine Interdisziplinarität, die Anwender in ihre Forschung einbezieht.“6 Allerdings muss von der Logik der Argumentation her auch die Auffassung zulässig sein, dass Transdisziplinarität ebenfalls vorliegt, wenn in Forschungsprozessen einer spezifischen Einzeldisziplin durch den Einbezug von AnwenderInnen die Grenzen zwischen
3
http://de.wikipedia.org/wiki/Transdisziplinarit%C3%A4t [01.04.2060].
4
http://de.wikipedia.org/wiki/Diskussion:Transdisziplinarit%C3%A4t [02.04.2016].
5
http://www.ikaoe.unibe.ch/forschung/interdisciplinarity/ [02.04.2016].
6
http://www.ikaoe.unibe.ch/ikaoe_inter_transdisziplinaritaet.html [02.04.2016].
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Wissenschaft und Lebenswelt überschritten werden. Auch im Editorial eines einschlägigen Themenheftes der Zeitschrift Gaia beziehen sich die Autoren (Burger/ Zierhofer 2007: 27) auf die von Mittelstraß (1992; vgl. auch 2003b) vertretene Meinung, unter Transdisziplinarität eine Forschung zu verstehen, „die ihre Probleme mit Blick auf außerwissenschaftliche Entwicklungen disziplinenunabhängig definiert und disziplinenunabhängig löst“ und „das wissenschaftliche Wissen wieder mit den lebensweltlichen Problemlagen“ verbindet. Auch in diesem Themenheft kommen verschiedene Kontroversen und Uneinheitlichkeiten im Begriffsverständnis deutlich zum Ausdruck, die auf epistemologische und methodologische Probleme oder kontroverse Partizipationskonzepte zurückzuführen sind. Die Vagheit und Uneinheitlichkeit des Begriffsverständnisses wird auch in den verschiedenen Texten sehr deutlich, die in einer umfangreichen Bibliographie mit 320 Einträgen ausgewiesen sind, die auf der Homepage der Interfakultären Koordinationsstelle für Allgemeine Ökologie bereitgestellt wird (Defila et al. 2009). Ein weiterer bedeutsamer Aspekt des Begriffes, der mit den beiden bereits angesprochenen natürlich in Zusammenhang steht, aber doch als eigenständige Dimensionalität anzusehen ist, wird in den Überlegungen deutlich, die unter dem Stichwort „Transdisziplinarität“ in der „Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie“ formuliert werden. Transdisziplinarität charakterisiere Forschungsformen, „… die problembezogen über die fachliche und disziplinäre Konstitution der Wissenschaft hinausgehen. Diese Konstitution ist im Wesentlichen historisch bestimmt und hat zu einer Asymmetrie von Problementwicklungen […] und disziplinären oder Fachentwicklungen geführt, die sich noch dadurch vergrößert, dass die disziplinären und Fachentwicklungen durch eine zunehmende Spezialisierung bestimmt werden. Damit drohen Grenzen der Fächer und der Disziplinen zu Erkenntnisgrenzen zu werden. Gegenüber dem älteren Begriff der Interdisziplinarität, der […] an den überkommenen Fächer- und Disziplinengrenzen festhält, verbindet sich mit dem Begriff der Transdisziplinarität das wissenschaftstheoretische und forschungspraktische Programm, innerhalb eines historischen Konstitutionszusammenhanges der Fächer und der Disziplinen fachliche und disziplinäre Engführungen, wo diese ihre historische Erinnerung verloren und ihre problemlösende Kraft über allzu großer Spezialisierung eingebüßt haben, zugunsten einer Erweiterung wissenschaftlicher Wahrnehmungsfähigkeiten und Problemlösungskompetenzen wieder aufzuheben. Transdisziplinäre Forschung lässt in diesem Sinne die fachlichen und disziplinären Dinge nicht, wie sie (historisch geworden) sind, und lässt sogar in bestimmten Problemlösungszusammenhängen die ursprüngliche Idee einer Einheit der Wissenschaft […] im forschungspraktischen, d. h. operationellen, Sinne wieder konkret werden.“ (Mittelstraß 2003a: 329)
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Das am Beispiel von Transdisziplinarität exemplarisch aufgezeigte Attribut der Uneinheitlichkeit, Mehrdeutigkeit und ambivalenten Konzeption ist auch für andere Trans-Begriffe charakteristisch.
„K RISE
DES
W ORTSTAMMS “
„Trans-Begriffe“ werden konstruiert, indem einem Wortstamm das Präfix „trans“ vorangestellt wird. Der Zweck dieser Konstruktion besteht offensichtlich darin, bestimmte Unzulänglichkeiten zu überwinden, die sich nach Auffassung des Konstrukteurs aus der bisherigen Bedeutungszuschreibung des Wortstamms ergeben. Durch diese Konstruktion wird jedoch die Grundproblematik des Wortstamms in den „Trans-Begriff“ gleichsam übernommen. Oliver Kuhn (2009) hat es im Abstract zu seinem Vortrag präzise auf den Punkt gebracht: „Überschreitungsbegriffe [bleiben] an das Überschrittene (,Nation‘) gebunden.“ Damit werden die designativen und konnotativen Inhalte des zu „überwindenden“ Terminus mehr oder weniger deutlich auf den neuen Begriff übertragen. Als kleine linguistische Nebenbemerkung soll darauf hingewiesen werden, dass in der Literatur wie auch in einigen der eingereichten Abstracts eine Formulierung verwendet wird, die aus sprachwissenschaftlicher Sicht nicht korrekt ist. Es wird nämlich jener Teil des Begriffes, der nach dem „Trans“ steht, als „Suffix“ bezeichnet. In der Linguistik versteht man unter „Suffix“ jedoch ein Affix (gebundenes Morphem), das einem Grundmorphem oder Wortstamm angefügt ist. Es handelt sich bei einer Begriffskonstruktion wie „Transgender“ bei dem nach dem „Trans“ stehenden Wortbestandteil also nicht um ein Suffix, sondern um das Grundmorphem oder den Wortstamm, wobei auch der Fall vorliegen kann, dass dem Wortstamm zusätzlich ein Suffix angefügt ist. Eine für Trans-Begriffe charakteristische Problemdimension besteht nun offensichtlich darin, dass sie sich häufig auf Wortstämme beziehen, die als Fachtermini schon lange problematisiert werden, weil sie als ideologische Konstrukte entlarvt wurden (Nation), weil sie so umfassend sind, dass sie nicht mehr operational definiert werden können (Kultur), oder weil sie in unter-schiedlichen Disziplinen oder Denkschulen unterschiedlich verwendet werden (Disziplinarität). Obwohl mit dem Präfix „trans“ eine „Überschreitung“ der ursprünglichen Begriffe intendiert ist, wird durch den Bezug auf den Wortstamm dessen Problematik oder „Krise“ gleichsam auf den Trans-Begriff übertragen. Die Transifizierung führt also dazu, dass das Unbehagen an der Ausgangsbegrifflichkeit zumindest unterschwellig auch den neu konstruierten Begriff belastet.
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„A UFHEBUNG “ ALS F REMDDIMENSION Einen ebenfalls nachteiligen Effekt können Trans-Begriffe dann haben, wenn man sie – gleichsam als Gegenposition zur oben beschriebenen Wirkungsmöglichkeit – so versteht, als ob mit ihrer Konzeption die ursprüngliche Inhaltszuschreibung des Wortstammes völlig bedeutungslos geworden wäre. In der Methodenlehre der empirischen Sozialforschung findet sich der Begriff der „Fremddimension“ (vgl. z. B. Holm 1975: 67). Darunter versteht man jede inhaltliche Deutungsmöglichkeit einer Frage oder eines Stimulus, die von der intendierten Zieldimension abweicht. Das Ausmaß, in dem eine Frage oder ein Stimulus auf Fremddimensionen misst, wird als „Fremdbestimmtheit“ bezeichnet. Das Präfix „trans“ kann inhaltlich auch so gedeutet werden, als sollte mit dem neuen Begriff die Bedeutung des Wortstammes aufgehoben werden. „Transstaatlichkeit“ kann demnach auch so interpretiert und gedeutet werden, als ob der Staat völlig bedeutungslos geworden wäre. Dass dies wenig Sinn macht, merkt man spätestens dann, wenn man einen Reisepass, einen Gewerbeschein, einen Meldezettel benötigt oder die vom Staat gebotene Rechtssicherheit in Anspruch nehmen will. Aber dennoch suggeriert das Präfix (zumindest ist dies eine Deutungsmöglichkeit), dass der Staat nun gleichsam überwunden, seine frühere Bedeutung nicht mehr gegeben sei. „Translokalität“ lässt sich demnach auch so deuten, als ob heute das Lokale keine Rolle mehr spielen würde und die Verankerung unserer Körperlichkeit in lokalen Interaktions- und Bindungsstrukturen völlig aufgehoben sei. Malte Steinbrink (2009) verwendet in seiner Untersuchung über Migration, Translokalität und Verwundbarkeit in Südafrika diesen Begriff sehr ähnlich wie unsere (oben angesprochene) Arbeitsgruppe den Begriff „Multilokalität“. Bei der Lektüre hatte ich den Eindruck, als sollte mit der gewählten Begrifflichkeit die Bedeutung der durch die Körperlichkeit des Menschen bedingten und auf die Materialität der Lebenswelt bezogenen lokalen Bindungen (an mehrere Orte) bestritten werden. Bei einer sehr anregenden Diskussion per E-Mail stellte sich aber heraus, dass dies keineswegs die Intention des Autors war: Translokalität bedeutet für mich keineswegs, dass das Lokale nicht (mehr) bedeutsam ist. Das Lokale wird nicht transzendiert in dem Sinne, dass es verschwindet oder seine Bedeutung verliert. Vielmehr sind es die sozialen Netzwerkbeziehungen, die die Grenzen des Lokalen transzendieren („überschreiten“, „darüber hinausgehen“, „überwinden“). Es ist die steigende Bedeutung dieser Netzwerkbeziehungen „jenseits“ des einzelnen Ortes, auf die ich mit meiner Konzeption abziele. (Steinbrink E-Mail v. 08.09.2009, zitiert mit freundlicher Genehmigung des Autors)
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Nun stellt sich natürlich die Frage, ob bei einer solchen Intention die gewählte Terminologie eigentlich genau das trifft, was der Autor konzeptionell gemeint hat. „Community without propinquity“ ist ja spätestens seit der klassischen Arbeit von Melvin Webber (1963) ein Allgemeinplatz sozialwissenschaftlicher Befunde, der in Zeiten der (beinahe) ubiquitär verfügbaren Telekommunikation und des Internet immer wieder angesprochen wird (vgl. z. B. Calhoun 1998). Genau darauf will sich Steinbrink aber eben nicht beschränken. Es geht ihm offensichtlich um die Verschränkung beider Aspekte. „Das Translokale umfasst immer lokale, wie auch nicht-lokale Elemente. Mit ,nicht-lokal’ meine ich zum einen dasjenige ,am jeweils anderen Orte’ und zum anderen auch dasjenige, was zwischen den Orten passiert. Die sozialen Netzwerke, die die Grenzen des Lokalen überspannen, spielen dabei die entscheidende Rolle. Sie sind in erster Linie soziale Netzwerke. Da es aber den Menschen aufgrund ihrer ,Körperlichkeit’ (Sie beschreiben das in Ihrem Aufsatz)7 kaum möglich ist, nicht nicht an einem Ort sein zu können, haben die Netzwerke selbstverständlich auch einen räumlichen Aspekt.“ (Steinbrink E-Mail v. 08.09.2009.)
Steinbrink verwendet also den Begriff „translokal“, um ein changierendes „Sowohl-als-Auch“ zum Ausdruck zu bringen, riskiert damit aber die Möglichkeit einer Deutung im Sinne einer „Aufhebungs-Interpretation“. Mit einer derartigen Deutung ist bei Trans-Begriffen grundsätzlich zu rechnen.
P HÄNOMEN VERSUS P ERSPEKTIVE Der eben angesprochene Text von Malte Steinbrink (2009) ist sehr gut geeignet, eine weitere Problemdimension von Trans-Begriffen zu veranschaulichen. In den Wissenschaften geht man meist davon aus, dass die Gegenstände der Forschung in der „Realität“ vorgegeben sind. Wir „entdecken“ sie, behandeln sie als „Rätsel“, die es zu lösen gilt, und beginnen, an der Lösung zu arbeiten. Das Objektverständnis von Wissenschaft ist – jedenfalls in meinem Fach Geographie – häufig noch immer weitgehend im Sinne des sogenannten „Realobjekts“ ausgebildet. „Gegenstände“ oder Phänomene der Welt, die als objektiv vorfindbar angesehen werden, werden als Objekte wissenschaftlicher Forschung reklamiert. Die in der Wissenschaftstheorie seit langer Zeit gängige Unterscheidung von Realobjekt und Erkenntnisobjekt wird in der Praxis der empirischen Arbeit oft
7
Verweis auf Weichhart 2009b.
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ignoriert beziehungsweise nicht ausdrücklich reflektiert. Erkenntnisobjekte liefern uns auch die Beschreibungs- und Erklärungs-modalitäten, die wir anwenden müssen, um mit dem betreffenden Phänomen überhaupt umgehen zu können. Unter „Erkenntnisobjekt“ versteht man den interessierenden Aspekt, die spezifische Fragestellung einer Disziplin/eines Paradigmas/eines Forschungsansatzes beziehungsweise den spezifischen Stil der Problematisierung von „Wirklichkeit“. Keine Wissenschaft wird also durch einen monopolistischen Anspruch auf bestimmte „Objekte“, „Objektbereiche“ oder durch „eigene Methoden“ „gerechtfertigt“, sondern durch das Vorhandensein einer Klasse von logisch und arbeitsökonomisch mehr oder weniger zusammengehöriger Fragestellungen und entsprechender Lösungsansätze (Hard 1970: 178) Man kann auch sagen, dass durch diesen spezifischen Stil der Problematisierung ein „Objekt“ der Forschung erst konstituiert wird. Unsere Trans- Begriffe sind – so meine Behauptung – als ein sehr wichtiges Vehikel anzusehen, neue Erkenntnisobjekte in die Wissenschaft einzubringen. Es geht vielfach gar nicht um „neue“ Phänomene, sondern darum, bereits bekannte Sachverhalte aus einer neuen, bisher nicht bedachten Perspektive in den Blick zu nehmen. Malte Steinbrink will in seinem Buch unter anderem ein bestimmtes Verständnis des Begriffes „Haushalt“ propagieren, das der Phänomenologie seines Untersuchungsgegenstandes beziehungsweise seinem Forschungsinteresse besser entspricht als die gängigen Konzeptionen. Im Zusammenhang der von ihm vertretenen translokalen sozialräumlichen Perspektive müsse die Kategorie „Haushalt“ also rekonzeptualisiert werden. Er versteht unter einem Haushalt als soziale Einheit eine: „… im spezifischen sozial-kulturellen Kontext anerkannte ,haushaltende‘ Gemeinschaft […], deren Mitglieder sich bei der Organisation von Aktivitäten der Konsumption, Reproduktion und Ressourcennutzung über lange Zeit hinweg koordinieren. Die Mitglieder müssen nicht unbedingt zusammenwohnen […]. Bei dieser Rekonzeptualisierung […] des Haushaltsbegriffs steht der Aspekt der Organisation der kollektiven Strategie der Überlebenssicherung stärker im Vordergrund als bei der konventionellen Begriffsbestimmung.“ (Steinbrink 2009: 48f.)
Steinbrink verweist darauf, dass es einen umfangreichen Korpus sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Literatur gibt, die sich mit der sozialen und ökonomischen Organisation von Haushalten befasst und in der unterschiedlichste Definitionen dieses Begriffes formuliert werden. Eine solche Auffassung wird auch von anderen Autoren geteilt: „Jede am Erkenntnisobjekt privater Haushalt‘ interessierte Disziplin hat ihr eigenes Begriffsverständnis“ (Albers 2008: 55;
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vgl. dazu auch die terminologische Studie von Petzold 2007). All diese Definitionen würden jedoch in einigen zentralen Punkten Gemeinsamkeiten aufweisen. Ein Haushalt ist demnach eine Gruppe von Menschen, die gemeinsam wohnt, gemeinsam isst und gemeinsam bzw. koordiniert Entscheidungen über die Ressourcenverwendung trifft sowie ihre Einkünfte zusammenlegt („income pooling“ Steinbrink 2009: 46) Allerdings sei es in der Regel schwierig, „klare Grenzen eines Haushalts entsprechend den obigen Definitionskriterien auszumachen“ (ebd.). Vor allem die Organisation und Zusammensetzung der als Haushalt definierten Residenzgruppe könne je nach Ausprägung der gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen räumlich sehr unterschiedlich und zeitlich sehr wandelbar sein. „Die Vorstellung vom Haushalt als universell anwendbare und vergleichbare Analysekategorie kann somit in die Irre führen“ (ebd.: 47). Für Steinbrink ist das Definitionskriterium der KoResidenz eine „Manifestation der flächenräumlichen Befangenheit der herkömmlichen Forschungsperspektive“ (ebd.: 48). In der einschlägigen Literatur finden sich – stark verkürzt formuliert – drei Typen von Haushaltsdefinitionen (vgl. dazu auch Petzold 2007), die allerdings auch in Mischformen auftreten können. Die wohl gängigste Konzeption ist das „household-dwelling concept“. Sie ist deshalb so einflussreich, weil sie die dominante Definition der amtlichen Statistik darstellt. Bei den Bestrebungen zu einer Harmonisierung der Sozialstatistik innerhalb des Europäischen statistischen Systems wurde diese Definition ausdrücklich empfohlen und in den meisten Staaten der EU auch umgesetzt8 (vgl. Mejer 2003). Demgegenüber stellt das „housekeeping concept“ den gemeinsamen Konsum in den Vordergrund und betont die ökonomische Einheit des Haushalts. Als dritte Variante kann eine stärker sozialwissenschaftliche Auffassung angeführt werden, bei der neben den ökonomischen Interaktionen vor allem die sozialen Beziehungen, wechselseitigen Unterstützungen und Netzwerkbindungen in den Vordergrund gerückt werden (vgl. Petzold 2007).
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Für die BRD kann als Beispiel die Definition im Mikrozensusgesetz 2005 zitiert werden: „Einen Haushalt bilden alle Personen, die gemeinsam wohnen und wirtschaften. Wer allein wohnt oder allein wirtschaftet, bildet einen eigenen Haushalt. Personen mit mehreren Wohnungen werden in jeder ausgewählten Wohnung einem Haushalt zugeordnet“ (Mikrozensusgesetz 2005, § 2, Absatz 2). Für Österreich wird auf die Definition der Statistik Austria verwiesen: „Alle in einer Wohnung oder ähnlichen Unterkunft mit Hauptwohnsitz lebenden Personen bilden einen Privathaushalt (Wohnparteienkonzept, household-dwelling-concept)“ (Statistik Austria 2005).
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Malte Steinbrinks Argumente wenden sich also gegen die Dominanz des „household-dwelling“-Konzepts. Er ist bemüht, die Aspekte der ökonomischen und sozialen Interaktionen der Haushaltsmitglieder in den Vordergrund zu stellen und die lokalen Bindungen (lokale Opportunitätsstrukturen) sowie die lokale „Entankerung“ gleichermaßen im Auge zu behalten. Seinen terminologischen Vorschlag, diese Ambivalenz zum Ausdruck zu bringen („Translokalität“), interpretiere ich als einen Versuch, den altbekannten Forschungsgegenstand „Haushalt“ aus einer neuen Perspektive zu betrachten und damit ein spezifisches Erkenntnisobjekt zu konstituieren.9 In einigen Teilprojekten unserer Forschergruppe zum Thema „Multilokalität“ versuchen wir demgegenüber jedoch, einen anderen Aspekt der Phänomenkonstellation einer Lebenspraxis an mehreren Orten in den Fokus zu nehmen, nämlich die über unsere Körperlichkeit verwirklichte Bindung an das physische Substrat der Orte und ihrer „Standortofferten“. Entscheidend ist also nicht die Phänomenkonstellation, sondern die Perspektive, aus der wir sie betrachten wollen. Hinter Trans-Begriffen lässt sich also auch das Bemühen ihrer Konstrukteure und Verwender erkennen, neue Betrachtungsperspektiven, Fragestellungen und Erkenntnisobjekte zu kennzeichnen und bekannte Phänomene aus einer neuen oder anderen Sichtweise zu betrachten.
N EUIGKEITSANSPRUCH In der einschlägigen Literatur finden wir bei der Diskussion von Trans-Begriffen so gut wie immer die Behauptung, es würde sich um völlig neue Phänomenkonstellationen handeln, die es in der Geschichte in dieser Form noch nie gegeben hätte. Trans- oder Multilokalität kann hier wieder als Beispiel herangezogen werden. Dabei wird häufig auf spezifische Rahmenbedingungen rekurriert, für die ebenfalls oft ein spezifischer Neuigkeitsanspruch postuliert
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Meine Tochter studiert in Graz und lebt dort in einer Wohngemeinschaft. Sie wird aber finanziell von meiner Frau und mir erhalten. Wenn gröbere Gartenarbeiten, Arbeiten zur Bereitstellung von Brennholz für den Winter oder Aufräumungs- und Bauarbeiten anstehen, kommt sie, um uns zu helfen. Nach der konventionellen Definition des „household-dwelling“-Konzepts gehört sie dem Haushalt ihrer Wohngemeinschaft an. Nach dem Housekeeping-Konzept ist sie aber zweifellos Mitglied unseres translokalen Familienhaushaltes. Die Perspektive Steinbrinks ist also sehr hilfreich bei der Darstellung solcher spezifischer Phänomenkonstellatione.
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wird. Bei Trans- und Multilokalität wird meist auf den Prozess und die Konsequenzen der Globalisierung verwiesen. Beide Arten des Neuigkeitsanspruchs erweisen sich bei genauerer Betrachtung als nicht oder nur partiell zutreffend. Bei der Diskussion von Trans- und Multilokalität wird oft behauptet, dass es sich hier um eine neue soziale Praxis handle, die als Reaktion der Akteure auf die Mobilitätszwänge unserer aktuellen sozio-ökonomischen Systeme anzusehen ist. Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch, dass es dieses Phänomen schon immer gegeben hat. Die Transhumanz,10 die eine agrarwirtschaftliche Form von Multilokalität darstellt, gibt es seit der Antike. Ein römischer Senator aus Ephesos musste ebenso eine multilokale Lebenspraxis mit zwei Wohnsitzen führen wie ein Adeliger im Feudalismus, der ein Hofamt innehatte und in seinem Stadtpalais sowie auf seinem oft weit entfernten Stammsitz residierte. Almwirtschaft, Störgeher, Schwabenkinder, Lungauer Sauschneider und die Praxis der Sommerfrische zeigen, dass Multilokalität oder Translokalität in der europäischen Agrargesellschaft, aber auch als Verknüpfung von Freizeit und Arbeitswelt eine lange historische Tradition besitzt. Es handelt sich hier also keineswegs um ein völlig neues Phänomen, sondern um eine universelle soziale Praxis. Sie kann immer dann zum Einsatz kommen, wenn es (meist in Mangelsituationen oder als Optimierungsstrategie) darum geht, Handlungsspielräume beziehungsweise das Spektrum nutzbarer Ressourcen zu erweitern. Durch diese Handlungspraxis wird es möglich, die räumlich ungleich verteilten Standortofferten (Weichhart 2009b) oder Opportunitätsstrukturen (Steinbrink 2009) von zwei oder mehreren Orten zu nutzen. So gut wie alle Phänomenkonstellationen, die wir mit Trans-Begriffen bezeichnen, sind ebenfalls nicht wirklich neu. Die Idee der Transkulturalität findet sich seit langem in Literatur, Musik und bildender Kunst (Westöstlicher Diwan, Siddhartha, „das Land der Griechen mit der Seele suchen“, Expressionismus und Japonismus etc.); Transstaatlichkeit ist spätestens seit dem Vertrag von Bretton Woods und den damals gegründeten Finanzinstitutionen gängige (wenngleich nicht immer reibungslos funktionierende) Praxis unserer politischen Systeme. Neu sind heute allerdings die Rahmenbedingungen, die den Vollzug derartiger Praktiken ermöglichen und erleichtern. Die neue Qualität und Intensität der Phänomene ist sehr wesentlich auf veränderte Rahmenbedingungen im Bereich der Verkehrs- und Telekommunikationstechnologie zurückzuführen. Billigfluglinien, ICE, die beinahe ubiquitäre PKW-Verfügbarkeit, Internet,
10 Fernweidewirtschaft mit jahreszeitlichem Wechsel der Weidegebiete (vgl. z. B. Beuermann 1967).
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Satellitenfernsehen, Mobiltelephon, Skype und vergleichbare Technologien stellen entscheidende Bedingungen für die Möglichkeit jener grenzüberschreitenden Praktiken dar, die mit Trans-Begriffen bezeichnet werden. Neu sind nicht die Phänomene, sondern die Intensität, mit der ihre Verwirklichung möglich ist.
S KALENPROBLEME Als „Skalenproblem“ wird in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen (Politikwissenschaft, Humangeographie, Physiogeographie, Soziologie, Ökologie etc.) das Faktum angesprochen, dass zwischen kausal nicht unmittelbar und unidirektional miteinander verknüpften Maßstabsebenen von Phänomenen dennoch Wechselwirkungen und gegenseitige Beeinflussungen im Sinne einer Wechselsteuerung beobachtet werden können (vgl. z. B. Dikau 2006; Gunderson/Holling 2002; Wissen et al. 2008). Im Lehrbuch-Klassiker „Geography. A Modern Synthesis“ von Peter Haggett (1979) findet sich eine didaktisch sehr gut aufbereitete Darstellung des Faktums, dass abhängig vom zeiträumlichen Maßstab der Betrachtung jeweils ganz andere Phänomene und Prozesse der Geosphäre in den Vordergrund treten. Das eigentliche Skalenproblem besteht darin, dass zwischen den differenten Phänomenen auf den verschiedenen Maßstabsebenen offensichtlich Wechselbeziehungen und bidirektionale gegenseitige Beeinflussungen vorliegen, deren Wirkungsweise in vielen Fällen ungeklärt ist (Weichhart 2009b: 70). Eine fundierte Darstellung des Skalenproblems für den Forschungsbereich der Geomorphologie hat Richard Dikau (2006) vorgelegt. Er weist darauf hin, dass für die Geomorphologie Phänomene wie Gleichgewicht, Nichtgleichgewicht, Stabilität, Instabilität, Chaos oder Selbstorganisation „skalenabhängige Systemeigenschaften“ darstellen. „Sie emergieren und verschwinden bei Änderung des Skalenniveaus, in dem das System operiert“ (Dikau 2006: 129). In der Diskussion zum Thema der nichtlinearen Komplexität haben Geomorphologen (Thornes 2003; Slaymaker 2006) die von Ökologen entwickelten Konzepte des „adaptiven Kreislaufes“ und der „Panarchie“ (Gunderson/Holling 2002) aufgegriffen und auf geomorphologische Fragestellungen übertragen. Im Rahmen dieser Ansätze kann aufgezeigt werden, dass Stabilitäten und Instabilitäten sowie Emergenzphänomene von Systemen durch die Systemdynamik auf einer höheren oder niedrigeren Skalenebene hervorgerufen werden können. Um die Dynamik eines spezifischen Systems verstehen zu können, müssen also auch die Prozesse in jenen Systemen berücksichtigt werden, die in der Skalenhierarchie oberhalb und unterhalb angesiedelt sind. So kann sich die
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Dynamik eines Systems der Mikroebene auch auf der Meso- und Makroebene auswirken und umgekehrt. Dieses Phänomen der Skalenkoppelung entzieht sich einer simplen funktionalistischen oder kausalistischen Deutung und muss im Sinne der Komplexitätstheorie verstanden werden. Dies ist besonders dann zu beachten, wenn Gleichgewichts- und Nichtgleichgewichtssysteme verkoppelt sind und geringfügige Ereignisse in einer niedrigen Skale chaotische Instabilitäten in höherrangigen Systemen induzieren können (Weichhart 2009a: 71). Es gibt Hinweise darauf, dass zumindest einige der Phänomene, die wir mit Trans-Begriffen belegen, von derartigen komplexen Interdependenzen zwischen den Skalenniveaus betroffen sind. Dies ist etwa bei Trans- oder Multilokalität der Fall. Die Handlungspraxis der multilokalen Nutzung von Standortofferten und Opportunitätsstrukturen wird auch von multinationalen Konzernen eingesetzt. Die hier relevanten Entscheidungen und Handlungen wirken sich auf einer globalen und auf den Konzern bezogenen Maßstabsebene aus. Auf einer ganz anderen Skalenebene, nämlich auf der haushalts- und personenbezogenen Mikroebene einer kleinen Primärgruppe, laufen die Entscheidungsprozesse und Handlungen der Expatriots ab, die ihre persönliche Lebensführung an die Multilokalität ihrer Arbeitgeber anpassen. Auf beiden Entscheidungs- und Handlungsebenen geht es um völlig unterschiedliche Motivationen, Begründungen, Sachbezüge oder Zeithorizonte (Ertragsmaximierung, rechtliche Rahmenbedingungen oder Risikostreuung auf der Makroebene, innerfamiliäres Beziehungsmanagement oder Ressourcentransfer auf der Mikroebene). Und dennoch sind die beiden Skalenbereiche auf sehr komplexe Weise wechselseitig voneinander abhängig. Die Konzerne sind davon abhängig, dass sich eine größere Zahl von Mitarbeitern rekrutieren lässt, die bereit sind, die Risiken einer anspruchsvollen Tätigkeit in fernen Ländern auf sich zu nehmen und die dadurch realisierbaren Chancen zu nutzen, ihre Partnerund Familienbeziehungen solchen Projekten unterzuordnen, um damit finanzielle und karrierebezogene Vorteile zu lukrieren. Ein unmittelbarer kausaler Zusammenhang zwischen den betrieblichen und den personalen Entscheidungsund Begründungsstrukturen lässt sich nicht herstellen.
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P HÄNOMEN VERSUS I DEOLOGIE Zumindest einige der gängigen Trans-Begriffe werden auch ideologisch interpretiert. Sie werden einerseits auf empirisch fassbare Phänomene bezogen, andererseits aber auch auf normativ begründete Ideologien. Dies gilt jedenfalls für Transkulturalität, Transstaatlichkeit oder Transnationalität. „Transkulturalität“ kann also einerseits eine spezifische Phänomenkonstellation beschreiben, andererseits aber auch eine Ideologie bezeichnen. Um diese sehr erhebliche Bedeutungsdifferenz zu markieren, wäre es gewiss überlegenswert, dies auch terminologisch zum Ausdruck zu bringen. Beck (1997) und andere Autoren wie Blotevogel (2000) unterscheiden beispielsweise dezidiert zwischen Globalität und Globalismus. Unter „Globalität“ verstehen sie die empirisch begründbare Auffassung, dass wir heute nicht mehr in geschlossenen nationalen oder regionalen Interaktionszusammenhängen leben, sondern längst in einer Weltgesellschaft. „Als Folge der Globalisierung […] ist die Weltgesellschaft längst zum Faktum geworden“ (Blotevogel 2000: 20), was allerdings nicht völlige Ortslosigkeit oder die Aufhebung örtlicher Bindungen bedeutet. „Analytisch davon zu unterscheiden ist der Globalismus‘, als eine andere, nämlich ideologisch aufgeladene Form des Globalisierungsdiskurses“ (ebd.). Dementsprechend wäre es sinnvoll, beispielsweise zwischen „Transkulturalität“ als empirisch beobachtbarem Phänomen und „Transkulturalismus“ als politisch-ideologischem Konzept, mit dem eine Integration unterschiedlicher kultureller Praktiken als wünschenswert oder erstrebenswert postuliert wird, deutlich zu unterscheiden (vgl. dazu etwa Demorgon/Kordes 2006). ‘
„C IS -P ROBLEM “ In diesem Zusammenhang sei noch darauf hingewiesen, dass bei einer ideologischen Interpretation von Trans-Begriffen mit der Möglichkeit gerechnet werden muss, dass ideologische Gegenkonzepte formuliert oder bereits bestehende ältere Ideologien als Gegenpositionen aktiviert werden. In Ermangelung einer gängigen Begrifflichkeit zur Benennung dieses Phänomens möchte ich diese Reaktion als „Cis-Problem“ 11 bezeichnen. Dem Transkulturalismus als
11 In der k. u. k. Monarchie wurde das Königreich Ungarn zusammen mit dem zu den Ländern der ungarischen Stephanskrone gehörigen halbautonomen Königreich Kroatien-Slawonien auch Transleithanien („Land jenseits der Leitha“) genannt.
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Bestandteil politischer Programme oder als wünschenswerte und anzustrebende soziale Praxis steht in der Landschaft ideologischer Positionen zweifellos das Kontrastprogramm des „Ciskulturalismus“ gegenüber. Dieses Kontrastprogramm wird von einer Reihe politischer Parteien in ganz Europa vertreten, die sich damit gegen eine „kulturelle Überfremdung“ zur Wehr setzen wollen. Für Österreich kann als Beispiel die Freiheitliche Partei angeführt werden, die auf Wahlplakaten mit den Slogans „Daham 12 statt Islam“ oder „Pummerin 13 statt Muezzin“ werben. Ihr Bundesparteiobmann H.-C. Strache verwendete bei politischen Ansprachen (etwa bei einer Demonstration gegen den Ausbau eines islamischen Kulturzentrums in Wien-Brigittenau) die Formel „Abendland in Christenhand“, was durch ein demonstrativ erhobenes Kruzifix gestisch und symbolisch unterstützt werden sollte.
R ESÜMEE Es ist also anscheinend nicht so ganz einfach, mit Trans-Begriffen umzugehen. Sie sind sperrig, ambivalent, oft nicht eindeutig interpretierbar und immer für Missverständnisse gut. Es ist in der Zweiten Moderne noch schwieriger geworden als früher, die Welt, das, was wir die „Wirklichkeit“ nennen, zu beschreiben und zu verstehen. Die hier vorgelegten Argumente sollen die These stützen, dass Trans-Begriffe einen Versuch darstellen, mit der zunehmenden Unübersichtlichkeit, Ambivalenz und Kontingenz unserer Wahrnehmung dieser Welt zurande zu kommen. Sie sind als Versuch anzusehen, „Melangephänomene“ begrifflich zu fassen. Wenn das Netzwerk unserer überkommenen Begriffswelt nicht mehr ausreicht, die zunehmende Komplexität der von uns wahrgenommenen Struktur jener kognitiven Konstrukte aufzufangen, die wir „die Welt“ nennen, dann müssen wir neue Maschen der Begrifflichkeit konstruieren, welche diese Aufgabe – vielleicht – bewältigen können. Unsere Trans-Begriffe sind ein derartiger Konstruktionsversuch. Mein Plädoyer lautet: Gehen wir mit diesen Begriffen bewusst, reflektiert und kritisch um, erkennen wir die Tücken und Fallen ihrer Verwendung, aber scheuen wir uns nicht, sie einzusetzen. Und: Versuchen wir nicht, nach der
Die westlichen und nördlichen Teile der Monarchie hießen Cisleithanien („Land diesseits der Leitha“). 12 Wienerisch für „daheim“. 13 Bezeichnung für die im kleinen Nordturm des Stephansdomes in Wien hängende größte Glocke Österreichs.
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„wahren“ Bedeutung von Trans-Begriffen zu fragen. Es liegt an uns, sie so zu definieren, dass sie bei der Lösung einer spezifischen fachlichen Problemstellung nützlich oder viabel sind.
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I. Ideentransfer: Recht, Politik, Wissen
1. Rechtstransfers und Rechtsentwicklung in China B JÖRN A HL
E INLEITUNG Die Entwicklung des Rechts wird weltweit ganz maßgeblich durch die Übernahme von fremdem Recht inspiriert und gefördert. Ein berühmtes Beispiel ist die Rezeption des römischen Rechts im Mittelalter in Europa, eine Rezeption, die bis ins 19. Jahrhundert andauerte und in Deutschland in der Form der Pandektenwissenschaft die Grundlage für das noch heute gültige Bürgerliche Gesetzbuch bildete (Wieacker 1967: 475). Umfassende Rechtstransfers europäischen Rechts über alle Kontinente der Erde wurden durch die Kolonialmächte bewirkt (Baxi 2003). Rechtstransfers in ganz erheblichem Umfang haben in neuerer Zeit nach dem Zusammenbruch des Ostblocks (Reitz 2003), durch die Erweiterung der Europäischen Union (Cohn 2010) und durch die Übernahme von völkerrechtlichen Standards in nationales Recht stattgefunden (Schaffer 2012). In China findet seit dem Ende der Qing-Dynastie eine intensive Orientierung am ausländischen und am internationalen Recht statt, die mit einigen Unterbrechungen bis heute andauert. Dieser Beitrag beginnt mit einer Darstellung der Übernahme des deutschen Zivilrechts nach China, als Beispiel für die Orientierung des chinesischen Rechts am ausländischen Recht. Im Anschluss daran werden die gängigen Modelle vorgestellt, die Rechtstransfers zu erklären versuchen und die Dynamiken von Rechtsreformen im chinesischen Aufnahmekontext vorgestellt. Schließlich wird die Bedeutung der Erkenntnisse über Rechtstransfers für die Beratungspraxis im Rahmen von Entwicklungszusammenarbeit mit China im Rechtsbereich erörtert.
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T RADITION DER O RIENTIERUNG AM DEUTSCHEN R ECHT Im Bereich des chinesischen Zivilrechts gibt es eine bis zum Ende der Qing-Zeit zurückreichende Tradition der Übernahme deutschen Rechts, welche die Bedeutung von Rechtstransfers für die chinesische Rechtsentwicklung gut veranschaulicht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in China ein Amt für die Zusammenstellung von Gesetzen ( ) eingerichtet, dem auch die Übersetzung der Gesetze westlicher Staaten und Japans oblag (He 2011). Gleichzeitig wurden die ersten Rechtsschulen eingerichtet und bis zum Jahr 1908 hatten über 1000 Chinesen ein juristisches Auslandsstudium aufgenommen (Heuser 2008: 198). Der erste Entwurf für ein Zivilgesetzbuch ( ) datiert von 1911 und orientiert sich mit seiner Unterteilung in fünf Bücher, Allgemeiner Teil, Schuldrecht, Sachenrecht, Familienrecht und Erbrecht am Pandektensystem. Neben dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 diente auch das Schweizerische Zivilgesetzbuch von 1907 als Vorbild. Dieser Entwurf wurde zwar aufgrund des Untergangs des Kaiserreiches nicht mehr Gesetz, er fand aber indirekt über die Rechtsprechung des Obersten Gerichts, des Daliyuan (), schon bald Eingang in das Zivilrecht der Republikzeit (Zhang 2004). Fragt man nach den Ursachen dieser frühen Rechtsmodernisierung, sind einerseits der sozioökonomischen Wandel zu nennen, der in vielen Bereichen nach neuen und verlässlichen rechtlichen Regelungen verlangte. Andererseits aber auch der Wunsch nach der Beendigung der ungleichen Verträge, deren Rücknahme etwa im Britisch- Chinesischen Handelsabkommen von 1902 angekündigt wurde, falls sich das chinesische Kaiserreich zu einer umfassenden Rechtsmodernisierung entschließen würde (Heuser 2002: 137140). Als Gründe für die Übernahme von deutschem Recht werden in der Literatur die Nähe zur Tradition der Rechtskodifikationen in China angeführt, das Vorbild der japanischen Rechtsreformen, die sich gleichfalls am deutschen Recht orientiert haben, die hohe juristische Qualität des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches zu jener Zeit sowie die militärische und industrielle Entwicklung Deutschlands gegen Ende des 19. Jahrhunderts (Wang 1996). Auch wenn die Rechtsmodernisierung der Qing nicht zur Aufrechterhaltung der alten Ordnung taugte, so schuf sie doch eine wichtige systematische und terminologische Grundlage für weitere Rechtsreformen. Ein Zivilgesetzbuch konnte aber erst in der politisch stabileren Nanjingperiode entstehen, die mit dem Jahr 1927 begann. Ab 1928 war dann eine Kommission unter dem Gesetzgebungsyuan zuständig für die Kodifikation des Zivilgesetzbuches, dessen einzelne Bücher sukzessive zwischen 1929 und 1931 verabschiedet wurden. Vorbilder für das Zivilgesetzbuch der Republikzeit waren
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einerseits unmittelbar der Gesetzestext und die Motive des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches von 1900 (Bünger 1934: 13-18; Wang 1966). Daneben wurde das deutsche Recht auch über das japanische Zivilgesetzbuch von 1896 in China rezipiert, das wiederum maßgeblich auf dem Entwurf für das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch von 1887 aufbaute. Daneben fand schweizerisches Recht, russisches, türkisches und italienisches Recht Berücksichtigung. Die indirekte Übernahme des deutschen Rechts über das japanische Recht war deshalb so attraktiv, da der japanische Gesetzgeber bei der Schaffung von japanischer Rechtsterminologie für die chinesischen Verfasser des Gesetzes nützliche Vorarbeiten geleistet hatte und viele Rechtsbegriffe unmittelbar übernommen werden konnten (Wang 1997). Das chinesische Zivilgesetzbuch war mit 1225 Paragraphen etwa nur halb so umfangreich wie das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch, was daran lag, dass nur zwingende und nicht auch dispositive Bestimmungen im Zivilgesetzbuch enthalten waren. In vielen Bereichen sollte so den örtlichen Gewohnheiten Rechnung getragen werden. Die Struktur des Zivilgesetzbuches folgt dem deutschen Recht, versucht aber an vielen Stellen eine weitergehende Systematisierung, wie sie etwa durch die erneute Unterteilung des Schuldrechts in einen allgemeinen Teil und einen besonderen Teil zum Ausdruck kommt, auch ist das Entstehen von vertraglichen und von gesetzlichen Schuldverhältnissen getrennt geregelt.1 Der chinesische Gesetzgeber ist nicht dem Modell der Trennung von Bürgerlichem Recht und Handelsrecht gefolgt, sondern hat Regelungen, die sich im deutschen Handelsrecht finden, in das Zivilgesetzbuch integriert. So enthält beispielsweise das kaufrechtliche Gewährleistungsrecht eine Käuferobliegenheit zur unverzüglichen Untersuchung der Ware.2 Das chinesische Zivilgesetzbuch folgt nicht dem Einheitsprinzip des Code Civil, wonach bereits mit dem Abschluss des Kaufvertrags das Eigentum an einer beweglichen Sache übergeht.3 Die Vor-
1
So ist nach § 153 Abs. 1 Zivilgesetzbuch der Republik China ein Vertrag geschlossen, wenn die Parteien gegenseitig ausdrücklich oder stillschweigend ihren übereinstimmenden Willen erklären. Gemäß § 184 Abs. 1 Zivilgesetzbuch der Republik China ist derjenige zum Schadensersatz verpflichtet, wer vorsätzlich oder fahrlässig das Recht eines anderen widerrechtlich verletzt.
2
Gemäß § 356 Zivilgesetzbuch der Republik China hat der Käufer die empfangene Sache sogleich ihrer Natur entsprechend auf die übliche Weise zu untersuchen.
3
Art. 1583 Code Civil (1803) sieht einen Eigentumsübergang vor, sobald die Vertragsparteien Einigkeit über Sache und Preis erlangt haben, auch wenn weder der Preis gezahlt noch die Sache übergeben wurde: [La vente] est parfaite entre les par-
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schrift über das Publizitätsprinzip enthält auch das aus dem deutschen Recht stammende Trennungs- und Abstraktionsprinzip, wonach schuldrechtliches Verpflichtungsgeschäft und dingliches Verfügungsgeschäft getrennt und auch in ihrem Bestand voneinander unabhängig sind.4 Nachdem das chinesische Zivilgesetzbuch mit der Außerkraftsetzung der Gesetze der Republik auf dem chinesischen Festland seine Geltung nur noch auf das Territorium von Taiwan erstreckt, konnte es erst nach der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik in der Volksrepublik wieder indirekte Wirkungen zeitigen. So orientierte man sich in einzelnen Regelungen der Allgemeinen Grundsätze des Zivilrechts aus dem Jahr 1986 am Zivilgesetzbuch der Republikzeit und damit auch wieder am deutschen Recht, etwa bei den Regelungen über die Stellvertretung (Liu 2012; Zhu und Xu 1999: 78). Diese wurden dann in noch weiterem Umfang in das Vertragsgesetz aus dem Jahr 1999 übernommen (Shen 2015). Ein Beispiel dafür ist die Regelung des Vertragsschlusses durch den Vertreter ohne Vertretungsmacht, der nach § 177 des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches folgendermaßen geregelt ist: „Schließt jemand ohne Vertretungsmacht im Namen eines anderen einen Vertrag, so hängt die Wirksamkeit des Vertrags für und gegen den Vertretenen von dessen Genehmigung ab. Fordert der andere Teil den Vertretenen zur Erklärung über die Genehmigung auf, so kann die Erklärung nur ihm gegenüber erfolgen; eine vor der Aufforderung dem Vertreter gegenüber erklärte Genehmigung oder Verweigerung der Genehmigung wird unwirksam. Die Genehmigung kann nur bis zum Ablauf von zwei Wochen nach dem Empfang der Aufforderung erklärt werden; wird sie nicht erklärt, so gilt sie als verweigert.“
Das Zivilgesetzbuch der Republik China regelte den Vertragsschluss durch den Vertreter ohne Vertretungsmacht in § 170 folgendermaßen: „Ein Rechtsgeschäft, das ein Vertreter ohne Vertretungsmacht im Namen des Vertretenen vornimmt, ist Dritten gegenüber nur wirksam, wenn der Vertretene es genehmigt. Im Falle des vorhergehenden Absatzes kann derjenige, dem gegenüber das Rechtsgeschäft vorgenommen wurde, den Vertreter unter Setzung einer angemessenen Frist auffordern,
ties, et la propriété est acquise de droit à l'acheteur à l'égard du vendeur, dès qu'on est convenu de la chose et du prix, quoique la chose n'ait pas encore été livrée ni le prix payé. 4
Nach § 761 Abs. 1 Zivilgesetzbuch der Republik China wird die Übertragung eines dinglichen Rechts an einer beweglichen Sache erst mit Übergabe der Sache wirksam.
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zu erklären, ob er genehmige oder nicht. Gibt der Vertretene innerhalb der Frist keine Antwort, so gilt die Genehmigung als verweigert.“
Das Vertragsgesetz der Volksrepublik China aus dem Jahr 1999 fand für den Vertragsschluss durch den Vertreter ohne Vertretungsmacht dann die folgende Regelung: „Ein Vertrag, der vom Handelnden ohne Vertretungsmacht, in Überschreitung seiner Vertretungsmacht oder nach Beendigung der Vertretungsmacht im Namen des Vertretenen errichtet wurde, wird dem Vertretenen gegenüber nicht wirksam; die Haftung wird vom Handelnden übernommen. Der andere Teil kann den Vertretenen auffordern, den Vertrag innerhalb eines Monats zu genehmigen. Hat der Vertretene keine Erklärung abgegeben, so ist das als Ablehnung der Genehmigung anzusehen. Bevor der Vertrag genehmigt wird, hat der gutgläubige andere Teil ein Aufhebungsrecht. Die Aufhebung muss in Form der Mitteilung erklärt werden.“
Auch wenn das chinesische Recht bis heute dem kontinentaleuropäischen Rechtskreis zuzuordnen ist, so gehen Rechtsreformen umfangreiche rechtsvergleichende Studien voraus, die sich normalerweise auf alle wichtigen Rechtssysteme der Welt erstrecken, und sich vielfach auch am Common Law orientieren. Eine gewisse Dominanz deutschen Rechtsdenkens, wie man sie in den frühen Zivilrechtskodifikationen der Republikzeit sehen mag, besteht heute jedenfalls in China nicht mehr.
M ODELLE FÜR R ECHTSTRANSFERS In diesem Beitrag wird der Begriff des Rechtstransfers verwendet, um die Übertragung von Rechtskonzepten, Rechtsinstitutionen und einzelnen rechtlichen Regelungen von einem Rechtssystem in ein anderes zu beschreiben. Diese horizontalen Transferprozesse zwischen Rechtssystemen sind von vertikalen Prozessen innerhalb einer Rechtsordnung zu unterscheiden, wo es um die Initiierung oder Implementierung von Rechtsreformen „von unten“ geht, etwa durch Richter oder Verwaltungsbeamte, die täglich mit der Rechtsanwendung befasst sind, oder durch Reformen „von oben“, die durch die politische Elite eingeleitet werden. Bei diesen Prozessen im Aufnahmekontext, welche die Auswahl und das Einfügen fremden Rechts steuern, geht es lediglich um Teilprozesse von horizontalen Transfers zwischen verschiedenen Rechtssystemen (Peerenboom 2006: 825).
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Der Begriff des Rechtstransfers wird hier verwendet, da er relativ unbelastet von bestimmten Vorverständnissen ist, wie sie anderen Metaphern für die Übertragung von Recht anhaften. Rechtstransfers werden üblicherweise, wenn auf den Gegenstand des Transfers abgestellt wird, auch mit der Metapher des Rechtstransplantats beschrieben. Wenn es um die Wirkungen der Transfers geht, ist auch von Rechtsirritationen oder Reizstoffen des Rechts die Rede. Ferner sind die Begriffe der Rechtsübersetzung, der Rechtstransposition, der selektiven Adaption oder der Rechtsrezeption gebräuchlich. Im Zusammenhang mit der internationalen Rechtsvereinheitlichung und mit Globalisierungstheorien werden die Begriffe von der Konvergenz und der Divergenz verwendet, die implizieren, dass sich Rechtssysteme aufeinander zu oder voneinander weg entwickeln können (Gillespie 2008). Diese relativ offenen Begriffe sind insofern positiv, als das sie implizieren, dass alle Rechtsysteme Wandlungen unterworfen sind und Rechtstransfers in verschiedene Richtungen stattfinden können. Allerdings können sie nicht abbilden, dass Tendenzen der Rechtsvereinheitlichung normalerweise mit neuen rechtlichen Fragmentierungen einhergehen. Ferner sind sie, bezogen auf den Transferprozess, zu konturlos. Problematisch sind die Begriffe vom Rechtsexport bzw. Rechtsimport, die durch die Gleichsetzung von Recht mit Waren implizieren, dass bei einem Rechtstransfer weder der Aufnahmekontext noch das übertragene Recht Veränderungen unterworfen ist.5 In der chinesischen Rechtswissenschaft gibt es eine einflussreiche kulturkonservative Strömung, welche die Übernahme westlichen Rechts ablehnt und die Diskurse über den Transfer ausländischen Rechts nach China weitgehend dominiert (Zhu 1995). Dies heißt nicht, dass gegenwärtig keine Rechtstransfers aus den Rechtssystemen der westlichen Industriestaaten nach China stattfinden, sondern bedeutet vielmehr, dass sich der Schwerpunkt in der rechtswissenschaftlichen Diskussion auf die Weiterentwicklung des chinesischen Rechts auf der Grundlage indigener Ressourcen ( ) verschoben hat. Vielfach werden übernommene Rechtsinstitute dann mit dem Zusatz „chinesische Charakteristika“ () versehen um deutlich zu machen, dass es sich um eine Anpassung an „chinesische Gegebenheiten“ () handelt und keinesfalls nur um eine unmittelbare Übernahme ausländischen Rechts. Allerdings ist diese Anknüpfung an die chinesische Rechtstradition und die Nutzbarmachung eigener Erfahrungen für die Weiterentwicklung des chine-
5
In der Justizaußenpolitik des Bundesministeriums für Justiz und für Verbraucherschutz gibt es etwa ein mit anderen deutschen Institutionen durchgeführtes Programm zu „Law – Made in Germany“, welches das deutsche Recht als global, effektiv und kostengünstig“ anpreist.
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sischen Rechts vielfach eher rhetorischer Natur und wird dazu eingesetzt, um die eigentliche Herkunft eines Rechtsinstituts zu verschleiern. Ein Beispiel dafür ist die Diskussion über die Einführung von Leitentscheidungen des Obersten Volksgerichts (Ahl 2014). Diese Reform ermöglicht es dem Obersten Volksgericht, aus seinen eigenen und den Entscheidungen unterer Gerichte, wichtige Urteile auszuwählen und ihnen den Status einer Leitentscheidung zu verleihen. Diese Leitentscheidungen werden zwar gegenüber den chinesischen Gerichten nicht verbindlich im Rechtssinne, entfalten aber eine starke faktische Bindungswirkung und Gerichte sind verpflichtet, sich mit ihnen in den Entscheidungsgründen auseinanderzusetzen, wenn sie einen ähnlichen Fall entscheiden. Um sich bei dieser Reform nicht dem naheliegenden Vorwurf einer „Amerikanisierung“ oder „Verwestlichung“ des chinesischen Rechts auszusetzen, wurden in internen Diskussionen die entsprechende Praxis im Common Law und im kontinentaleuropäischen Rechtskreis vielfach extrem überzeichnet, um dann eine „chinesische Lösung“ als einen vernünftigen Mittelweg präsentieren zu können. Die rechtswissenschaftliche Diskussion der Leitentscheidungen ist bis in Detailfragen der juristischen Terminologie hinein von der Abgrenzung gegenüber „westlichem“ Recht geprägt, obwohl man sich tatsächlich stärker auf die Rechtspraxis westlicher Industriestaaten zubewegt hat, welche der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine wichtige Rolle für die einheitliche Auslegung und die Fortentwicklung des Rechts einräumen (Ahl 2014).
T HEORIE VON DER LEICHTEN Ü BERTRAGBARKEIT DES R ECHTS Die in der Literatur über Rechtstransfers wohl verbreitetste Metapher ist die vom Rechtstransplantat (legal transplant). Sie geht zurück auf den Rechtshistoriker und Rechtsvergleicher Alan Watson. Er vertritt die Ansicht, dass der Transfer von Recht zwischen verschiedenen Rechtssystemen aufgrund der Autonomie und Ungebundenheit des Rechts relativ einfach möglich ist. Tatsächlich sind es seiner Ansicht nach diese Transfers von Recht, welche zumindest in der westlichen Welt seit mehr als tausend Jahren die treibende Kraft der Rechtsentwicklung gewesen sind (Watson 1978: 314). Er geht von einem Modell aus, in dem keine enge Bindung zwischen Recht und den Bedürfnissen von Wirtschaft und Gesellschaft besteht. Das Recht sei langlebig und beharrlich, habe ein Eigenleben und existiere vielfach seit Jahrhunderten an den Bedürfnissen von Gesellschaften vorbei. Da Rechtsordnungen von ihrer ursprünglichen Einbettung in die Kultur einer Gesellschaft
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herausgelöst seien, hätten Kultur und andere Kontextfaktoren keinen Einfluss auf Rechtstransfers. Danach ließen sich Rechtsanleihen ohne Rückgriff auf soziale, wirtschaftliche oder politische Faktoren erklären. Rechtstransfers würden durch kommunikative Direktkontakte in globalen rechtlichen Diskursen innerhalb der Juristenschaft ermöglicht. Da die innere Logik des juristischen Diskurses auf normativer Selbstreferenz und Rekursivität aufbaue, imitierten und übernähmen Juristen eher fremdes Recht, als direkt auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren. Juristen bevorzugten die Ableitung aus rechtlichen Traditionen gegenüber Neuschöpfungen. Faktoren, welche den Transfer eines bestimmten Rechts ermöglichen, sieht Watson beispielsweise in dem Zugang zu entsprechendem fremden Recht und den Kenntnissen der Juristen im Aufnahmekontext über das fremde Recht (Watson 1978: 314-317). Er entwickelt dementsprechend ein Modell für Rechtsentwicklung, in dem die Juristen eine dominante Stellung einnehmen (1978: 322-332). In seinem Modell für Rechtsentwicklung durch Rechtstransfers wird als erster Faktor die für die Rechtsentwicklung in einem Rechtssystem vorherrschende Rechtsquelle angesprochen. Die Einwirkungsmöglichkeiten auf die Rechtsquelle und die Aussichten der Rechtsentwicklung entscheiden sich danach, ob die dominante Rechtsquelle Gewohnheitsrecht, Präzedenzfälle, Rechtslehre oder Gesetzgebung ist. Finde Rechtsentwicklung primär durch die Rechtsprechung der Gerichte statt, so sei zu berücksichtigen, dass es von sozialen und ökonomischen Faktoren abhängig ist, welche Fälle durch wen überhaupt vor Gericht gebracht werden. Eine Entwicklung des Rechts durch Präzedenzfälle sei rückwärtsgewandt, unsystematisch und einzelfallorientiert. Dagegen sei eine Rechtsentwicklung durch Gesetzgebung auf die Zukunft ausgerichtet und könne flexibel auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren. Auf die entsprechende Rechtsquelle wirken Reformbefürworter, d.h. Gruppen, die von Rechtsreformen profitieren würden, sowie Reformgegner ein. Zu berücksichtigen sei auch die Empfänglichkeit einer Rechtsordnung gegenüber einer anderen, da Rechtssysteme aufgrund ihrer sprachlichen Nähe zu einem bestimmten Erstkontext, dessen Tradition oder Einfluss besonders geneigt seien, aus diesem Rechtssystem Rechtsnormen zu übernehmen. Juristen könnten sich aufgrund ihres Fachwissens besonders gut als Reformbefürworter oder als Reformgegner organisieren, da sie am besten in der Lage seien abschätzen, wie sich Rechtsänderungen auf ihre Interessen auswirken. Mithin forme eine juristische Elite das Recht und entschieden über die Übernahme von fremden Rechtsnormen (Watson 1995). Der von Alan Watson verwendete Begriff des Rechtstransplantats bezieht sich auf das aus dem Erstkontext herausgelöste und in einen Zweitkontext
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übertragene Recht. Er impliziert das Einfügen des Rechts in einen statischen Kontext, da bei einem medizinischen Verständnis der Empfänger des Transplantats sich ja nicht ändert. Im Organismus des Empfängers erfüllt das Transplantat dann eine vorab festgelegte Funktion. Mithin geht der Begriff des Rechtstransplantats von der Entwicklung auf ein bestimmtes Ziel aus, nämlich entweder der erfolgreichen Annahme des Transplantats durch den Aufnahmekontext oder einer Abstoßung durch diesen. Er fokussiert dagegen nicht den Prozess der Transplantation und blendet aus, dass sowohl der Aufnahmekontext als auch das Transplantat durch den Transferprozess gewissen Veränderungen unterworfen sein können. Es ist wohl der Perspektive des Rechtshistorikers geschuldet, dass er dem Begriff des Rechtstransplantats ein formalistisches Rechtsverständnis zugrunde legt, das Recht als bloßen Gesetzestext und ohne Rücksicht auf seine Bindungen an seinen Kontext versteht.
T HEORIE VON DER U NMÖGLICHKEIT VON R ECHTSTRANSFERS Die Gegenposition zu der von Watson proklamierten leichten Übertragbarkeit von Recht wird von Pierre Legrand vertreten, der aus einer kulturalistischen und den Kontext des Rechts betonenden Perspektive heraus Rechtstransfers für unmöglich hält (Legrand 1997). Zwar seien Konvergenzen auf der Ebene von Normen und Institutionen möglich, diese vollzögen sich aber lediglich an der Oberfläche, die Rechtskulturen und Rechtsmentalitäten blieben aber unüberbrückbar verschieden. Von Rechtstransplantaten könne man nur sprechen, wenn man Recht lediglich im Sinne von Texten gesetzlicher Regelungen verstünde. Rechtliche Regelungen trügen ihre Bedeutung aber nicht nur in sich selbst. Ihre Bedeutung sei vielmehr eine Funktion der epistemologischen Annahmen derjenigen, die eine Regelung auslegen und anwenden. Diese Annahmen wiederum seien historisch und kulturell bedingt. Die Auslegung einer Regelung sei immer ein subjektives Ergebnis, ein Ergebnis, welches ein bestimmtes Verständnis der Regelung voraussetzt, das selbst wiederum durch eine Reihe von Faktoren bestimmt ist, die je nach Kontext ganz verschieden sein können (Legrand 1997: 114-115). Was unter diesen Bedingungen übertragen werden könne, sei lediglich eine bedeutungslose Worthülse, die eigentliche Bedeutung der Regelung werde durch den neuen Kontext determiniert und können nicht mitübertragen werden. Bei der Übertragung von Rechtsnormen in einen anderen Kontext bliebe deshalb die Bedeutung der Rechtsnorm in ihrem Ausgangskontext zurück.
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Die Theorie von der Unmöglichkeit von Rechtstransfers geht bei Legrand auf eine Perspektive zurück, die weniger Rechtstexte und Rechtsdogmatik in den Blick nimmt und sich stattdessen mit dem Prozess der Rechtsanwendung und den daraus resultierenden Wirkungen befasst. Diese Theorie ist aber insoweit problematisch und im Ergebnis auch nicht überzeugend, als sie Recht als eine Widerspiegelung seines gesellschaftlichen Kontextes versteht und folglich auch die Möglichkeit von Rechtsentwicklung durch Rechtstransfers verneint.
T HEORIE VON DEN R ECHTSIRRITATIONEN Einen anderen Weg geht Gunther Teubner, der von Rechtsirritationen oder Reizstoffen des Rechts (legal irritants) als Metapher für die Übertragung von Recht von einem Erst- in einen Zweitkontext spricht (Teubner 1998:). Gegenüber dem Begriff des Rechtstransplantats handelt es sich hier um einen kontextund folgenbezogenen Begriff, der die durch den Rechtstransfer ausgelösten Folgen im Aufnahmekontext beschreibt. Anders als die Metapher des Rechtstransplantats lenkt er den Blick auf die Prozesse im Aufnahmekontext und erlaubt die Abbildung von Veränderungen sowohl des übertragenen Rechts als auch des Empfängerkontextes. Die Übernahme fremden Rechts bewirkt seiner Ansicht nach zunächst eine Irritation im Aufnahmekontext, die eine Ketten neuer und unerwarteter Ereignisse auslöst und den hergebrachten Rechtsbetrieb stört. Insbesondere irritierten Rechtstransfers die Bindungsinstitutionen (binding arrangements) des Rechts, die es mit seinem gesellschaftlichen Kontext verknüpfen. Die durch eine Übernahme fremder Rechtsnormen ausgelösten Prozesse führten dazu, dass die eigenen Normen intern rearrangiert und die fremden Normen ebenfalls neu konstruiert werden. „Rechtsirritationen sind nicht zähmbar, sie verwandeln sich nicht von etwas Fremdem in etwas Vertrautes, sie passen sich nicht dem neuen kulturellen Kontext einfach an, sondern lösen eine prinzipiell nicht beherrschbare evolutionäre Dynamik aus, in der sowohl die Bedeutung der externen Norm als auch der interne Kontext grundlegend verändert wird.“ (Teubner 1998: 12)
Anders als bei dem Konzept des Rechtstransplantats geht es also nicht um die Frage, ob dieses von seinem neuen Kontext integriert oder abgestoßen wird, sondern um eine Fokussierung komplexer Veränderungs- und Anpassungsprozesse, die sowohl das übertragene Recht, das Recht des Aufnahmekontextes,
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seine Bindungsinstitutionen und die entsprechenden Bereiche des Kontextes, mit denen es verbunden ist, erfassen. Diese Ansicht überwindet die Dichotomie von einem in seinen kulturellen Kontext eingebundenen Recht nach dem Verständnis von Rechtstransfers bei Legrand und einem autonomen Recht bei Watson. Weiter geht Teubner davon aus, dass die Bindungen des Rechts an die Gesellschaft nicht mehr umfassend ausgestaltet, sondern in hohem Maße selektiv und innerhalb eines Spektrums von loser bis enger Kopplung angesiedelt seien. Ferner bestünden diese Bindungen nicht gegenüber der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, sondern bildeten sich an den unterschiedlichen Fragmenten der Gesellschaft aus (Teubner 1998: 18). Diese Selektivität der Bindungen bedeute, dass viele Bereiche des Rechts lediglich in einem losen Kontakt zu sozialen Prozessen stünden. In diesen Bereichen könnten Rechtstransfers ohne größere Widerstände stattfinden. Steht das Recht allerdings in enger Kopplung zu sozialen Prozessen, so sieht nach einem Transfer die Rechtsnorm als Text möglicherweise unverändert aus, hat ihre Bedeutung aber durch ihre Einpassung in den neuen juristischen Kontext grundlegend geändert.
T HEORIE VON DER SELEKTIVEN A DAPTION Der von Pitman Potter in unterschiedlichen Zusammenhängen in Bezug auf China entwickelte Ansatz der selektiven Adaption (selective adaptation) beschreibt, wie fremdes Recht durch einen Prozess der Anpassung lokaler Regelungen teilweise übernommen wird. Im Gegensatz zu Konvergenztheorien, die von der Entwicklung eines global einheitlichen Systems von Praktiken und Werten ausgehen, zielt der Ansatz der selektiven Adaption auf die Erklärung von Variationen bei der Übernahme fremden Rechts ab. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Übernahme von fremdem Recht davon abhängt, inwieweit die den rechtlichen Regelungen zugrundeliegenden Normen von lokalen interpretierenden Gemeinschaften angenommen werden. Die Übernahme und Auslegung fremden Rechts wird dabei durch lokale Normen vermittelt, indem „interpretierende Gemeinschaften fremdes Recht selektiv für die lokale Anwendung aus ihrem normativen Blickwinkel anpassen“ (Potter 2007: 700-701). Der Prozess der selektiven Adaption wird nach dieser Ansicht maßgeblich durch die Faktoren der Perzeption, der Komplementarität und der Legitimität geprägt. Perzeption bezieht sich dabei auf die durch historische, politische, kulturelle und weitere Faktoren geprägte Wahrnehmung des fremden Rechts. Die Wahrnehmung der Regelungsinhalte des
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fremden Rechts bestimme maßgeblich, auf welche Weise die lokalen Gemeinschaften das fremde Recht interpretieren und anwenden. Mit dem Begriff der Komplementarität wird umschrieben, wie an sich widersprüchliche Elemente zusammengefügt werden, dabei die wesentlichen Eigenschaften der einzelnen Komponenten erhalten bleiben und sie effizient und sich gegenseitig verstärkend zusammenspielen (Potter 2007: 701). Elemente auf der Seite des Aufnahmekontextes, die im Widerspruch zu übernommenem Recht stehen, können etwa in der mangelnden Kapazität von Institutionen und den Strukturen des politischen Systems zu sehen sein. Wenn es etwa um die Übernahme von Prinzipien und Regelungen aus rechtsstaatlichen Rechtsordnungen für die Reform des chinesischen Verwaltungsprozesses geht, so werden durch die Struktur des chinesischen Parteistaats dem Schutz von Rechtspositionen des Einzelnen bestimmte Grenzen gesetzt. Beispielsweise werden Gerichte in politisch sensiblen Gerichtsverfahren vielfach von Parteiorganen getroffene Entscheidungen umsetzen müssen und können damit kein faires Verfahren gewährleisten. Um diesen Anforderungen des politischen Systems gerecht zu werden, müssen dann Grundsätze des Verwaltungsprozesses wie der Grundsatz effektiven Rechtsschutzes, das Öffentlichkeitsprinzip oder das Prinzip des fairen Verfahrens Ausnahmen für eine flexible Handhabung vorsehen, um im Aufnahmekontext funktionieren zu können. Das Element der Legitimität trägt dem Umstand Rechnung, dass die Wirksamkeit selektiv übernommener fremder Rechtsnormen in einem bedeutenden Maß von der Akzeptanz im Aufnahmekontext abhängt (Potter 2011; 2004: 478-479). Deshalb erscheinen übernommene Rechtsnormen oder Institutionen vielfach im Aufnahmekontext in einer Form, in welcher sie an gewisse Traditionen und Gewohnheiten anknüpfen, um von den lokalen Rechtsanwendern akzeptiert zu werden. Dieser Ansatz nimmt die Dynamiken im Aufnahmekontext in den Blick und macht deutlich, dass es sich beim Zweitkontext nicht um einen passiven Empfänger handelt, sondern dass dieser aktiv auswählt und bestimmte fremde Normen übernimmt und andere abstößt, dass übernommenes Recht nach eigenen Grundsätzen ausgelegt wird und übernommene Rechtsinstitutionen örtlichen Gegebenheiten angepasst werden.
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D YNAMIKEN INNERHALB DES CHINESISCHEN A UFNAHMEKONTEXTES Rechtstransfers werden maßgeblich vom Aufnahme- oder Zweitkontext gesteuert. Der Bedarf für die Orientierung an fremden Regelungsmodellen entsteht im Aufnahmekontext, auch die Initiative zur Prüfung dieser Modelle und deren Vergleich. Schließlich geht auch die Selektion passender Rechtsvorschriften und deren Übernahme in gesetzliche Vorschriften vom Aufnahmekontext aus. Da folglich Prozesse im Aufnahmekontext ganz entscheidend für Rechtstransfers nach China sind, wird vielfach der Frage nachgegangen, ob es sich dabei um Prozesse handelt, die primär von der Führung des Parteistaats gesteuert sind, also top-down verlaufen, oder ob es sich um Dynamiken handelt, die ihren Ausgang bei der Verwaltungspraxis und der Gerichtspraxis an der Basis nehmen und damit eine Bottom-up-Richtung einnehmen. Dies ist nicht eine rein akademische Frage, sondern für die Beratung im Rahmen von Entwicklungszusammenarbeit im Rechtsbereich von wichtiger praktischer Bedeutung. Richtigerweise wird man davon ausgehen müssen, dass in Rechtsreformprojekten normalerweise Prozesse in beide Richtungen eine Rolle spielen. Betrachtet man das nationale Gesetzgebungsverfahren, so vollzieht sich der politische Prozess in der Hauptrichtung top-down, da zunächst eine Gesetzgebungsplanung erarbeitet wird, die wiederum auf einer Planung der Kommunistischen Partei beruht. Auch wenn der Nationale Volkskongress nicht demokratisch legitimiert ist, so wird durch die Veröffentlichung von Gesetzentwürfen, die nach der Revision des Gesetzgebungsgesetzes im Jahr 2015 die Regel darstellt,6 der Öffentlichkeit ermöglicht, zu den Inhalten der geplanten Gesetze schriftlich Stellung zu nehmen. Diese Praxis der Entwurfsveröffentlichung hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass Gesetzgebungsprojekte zeitlich verzögert wurden und inhaltlich abgeändert werden mussten. Ein Beispiel dafür ist der langwierige Gesetzgebungsprozess beim Erlass des Sachenrechtsgesetzes, das schließlich im Jahr 2007 vom Nationalen Volkskongress angenommen wurde (Ahl 2008). Allgemein sind die Rechtsreformen in China insoweit als ein induktiver oder Bottom- up-Prozess zu verstehen, als mit Neuregelungen zunächst auf einer unteren Ebene der Normenhierarchie in einem eingegrenzten Gebiet experimen-
6
§ 37 des revidierten Gesetzgebungsgesetzes sieht grundsätzlich eine Veröffentlichung von Gesetzesentwürfen zur Meinungseinholung () bei allen Gesetzesvorlagen des Ständigen Ausschusses vor, während der entsprechende § 35 des Gesetzgebungsgesetzes in der Fassung des Jahres 2000 lediglich die fakultative Veröffentlichung wichtiger Gesetzesvorlagen normierte.
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tiert wird und erst dann, wenn sich diese Regelungen in der Praxis als erfolgreich erwiesen haben, der Anwendungsbereich der entsprechende Regelung ausgeweitet wird. Beispielsweise wurde in den 1980er Jahre bereits mit der kommerziellen Übertragbarkeit von Landnutzungsrechten experimentiert, als die Verfassung dies noch untersagte. Erst später wurde die Verfassung entsprechend geändert (Ding 2003: 112). Der Einführung von Leitentscheidungen durch das Oberste Volksgericht war auch eine zehnjährige Experimentierphase vorausgegangen, in der untere Gerichte mit der Verbindlichkeit besonders wichtiger Gerichtsurteile Erfahrungen gesammelt hatten (Wei 2011).
E NTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT IM R ECHTSBEREICH Vor dem Hintergrund der hier dargestellten Erklärungsansätze für Rechtstransfers ist fraglich, was die internationale Entwicklungszusammenarbeit im Rechtsbereich, insbesondere die Rechtsstaatsinitiativen und Menschenrechtsdialoge in Bezug auf China, eigentlich leisten können. Auch wenn bis heute in großem Umfang internationale Entwicklungszusammenarbeit im Rechtsbereich stattfindet, ist man sich über den Erfolg der Programme uneins. Vielfach werden die Ergebnisse dieser Projekte als enttäuschend bezeichnet (Tamanaha 2011: 213). Die Schwierigkeiten, die mit der Übertragung von Gesetzen und Rechtsinstitutionen in andere Staaten einhergehen, die sich auf einer anderen Stufe wirtschaftlicher und politischer Entwicklung befinden, werden darauf zurückgeführt, dass Recht mit seinem Kontext auf eine vielfach nicht beachtete Art und Weise verbunden ist und deshalb die mit Rechtstransfers beabsichtigten Erfolge, wie etwa ein verbesserter Schutz von Menschenrechten, oft ausbleiben (Tamanaha 2011: 214). Fraglich ist, welcher Maßstab für die Bewertung von Rechtstransfers sinnvollerweise anzusetzen ist. Von einem erfolgreichen Rechtstransfer könnte dann auszugehen sein, wenn eine gesetzliche Regelung vollständig in den neuen rechtlichen und politischen Kontext absorbiert wurde. Problematisch ist, ob es ausreicht, dass ein Rechtstransfer zu einer Gesetzesänderung im Empfängerstaat geführt hat oder ob verlangt werden muss, dass die entsprechende Regelung in der Praxis auch so angewandt wird und in der Gesellschaft des Empfängerstaats auch die gleiche Wirkung wie im Ausgangskontext entfaltet. Geht man davon aus, so würden erfolgreiche Rechtstransfers zu einer fortwährenden Angleichung sozialen Verhaltens führen. Problematisch ist, ob erwartet werden kann, dass Regelungen oder Institutionen im Ursprungskontext und im Empfängerkontext jeweils den gleichen Zwecken dienen und die gleichen Wirkungen haben. Dabei
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muss man allerdings bedenken, dass es gut möglich ist, dass Regelungen, um die gleichen Wirkungen wie im Ursprungskontext zu haben, anders angewandt werden müssen oder dass eine gleiche Anwendung der Regelung wie im Ursprungskontext im Empfängerkontext zu anderen Ergebnissen führen kann (Nelken 2011: 353). Schließlich kann man auch einen allgemeinen, nicht an die einzelne Regelung anknüpfenden Maßstab anlegen und fragen, ob Rechtstransfers zu mehr Wirtschaftswachstum, zu einer Wohlstandsmaximierung oder zu einer Durchsetzung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit geführt haben (Peerenboom 2006: 835).
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2. Die westeuropäische Neue Linke und das maoistische China: Globaler Transfer und Translation revolutionärer Ideen1 F ELIX W EMHEUER
Im Zuge der globalen Unruhen um das Jahr 1968 entwickelte sich das kulturrevolutionäre China zum Bezugspunkt für linke Bewegungen weltweit. Der Einfluss erstreckte sich von der Studierendenbewegung Westeuropas, über bäuerliche Guerilla-Bewegungen der „3.Welt“ bis hin zum linksradikalen Flügel der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung (Wemheuer 2008a; Cook 2014; Frazier 2014). Dieser Beitrag behandelt die chinesische Kulturrevolution (19661967) als globales Trans*Syndrom. Darunter werden sowohl der Transfer als auch die „Übersetzungen“ der Ideen aus dem maoistischen China in westeuropäische kulturelle und politische Kontexte verstanden. Was waren die Gründe dafür, dass das maoistische China zwischen Mitte der 1960er bis Ende der 1970er als Inspiration und Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Bewegungen dienen konnte? Dieser Artikel konzentriert sich auf sich den Einfluss der Kulturrevolution auf die Neue Linke in Westeuropa an den Beispielen Frankreichs, Italiens und der BRD. Es werden auch die parallelen Entwicklungen in China aufgezeigt sowie das Verhältnis zur Gewalt in der Neuen Linken analysiert. Diese Fragen werden globalgeschichtlich im Zusammenhang mit den Revolutionszyklen analysiert, welche die Weltordnung zwischen 1945 und den 1970ern erschütterten. Es handelt sich besonders bei der „Chiffre 1968“ um einen globalen Moment, in dem sich auf verschiedenen Kontinenten revolutionä-
1
Gekürzte Fassung des Beitrages erschien in: (2016). Die westeuropäische Neue Linke und die chinesische Kulturrevolution, Kulturrevolution [Aus Politik und Zeitgeschichte – APuZ], 23, 32–38.
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re Bewegungen aufeinander bezogen und interagierten (Mayer/Kastner 2008). In der „3.Welt“ stand der Zyklus im engen Zusammenhang mit der Dekolonialisierung, die 1945 in Asien begann und Ende der 1970er in Afrika weitgehend endete. Neben der chinesischen Revolution von 1949 war auch die kubanische Revolution von 1959 in der „3.Welt“, besonders in Lateinamerika, ein Modell sozialer und nationaler Befreiung. In Westeuropa wurde der soziale Frieden der Nachkriegsära ab 1967 durch Studierendenunruhen aufgekündigt, die in Frankreich und Italien von großen „wilden“ Streikbewegungen in der Industrie begleitet wurden. In Osteuropa hatten Streiks und Aufstände schon 1956 Polen und Ungarn erschüttert. 1968 folgten der „Prager Frühling“ und Proteste in Jugoslawien. Während die Niederschlagung der Aufstände und Reformbewegungen in Osteuropa die Sowjetunion diskreditierte, verlor die USA durch den Vietnamkrieg (1964-1975) in den Augen vieler Menschen den Anspruch auf die moralische Führung des Westens.
W AHRNEHMUNG DES MAOISTISCHEN C HINAS Seit den 1950ern war die KPCh (Kommunistische Partei Chinas) sehr aktiv, ihre Ansichten auch international zu propagieren. Bis Ende der 1960er erschien das offizielle Organ für das Ausland, die „Peking Rundschau“, in einer beeindrukkenden Anzahl von Sprachen. Übersetzungen des offiziellen Verlags für fremdsprachige Literatur der „Ausgewählten Werke“ und Gedichte von Mao sowie der berühmten „Worte des Vorsitzenden“, der sogenannte „Mao-Bibel“, wurden über ein globales Netzwerk vertrieben (Xu 2014). Die Übersetzungen alleine können natürlich die Aufnahmebereitschaft für Ideen der chinesischen Kulturrevolution im Westen nicht erklären, sondern müssen vor den globalen Hintergründen verstanden werden. Chinas Kampf gegen beide Supermächte, die USA und Sowjetunion, beinhaltete die Version vom Ende einer bipolaren Welt mitten im „Kalten Krieg“. Die Volksrepublik China wurde als aufsteigendes Land der „3.Welt“ wahrgenommen, das „sich auf die eigene Kraft stützte“, statt die Industrialisierung durch ausländische Kredite zu finanzieren. China selbst inszenierte sich als bester Freund des Befreiungskampfes der „farbigen“ Völker (Kelly/Esch 1999). Es habe mit der Strategie „Vom Land die Stadt einnehmen“ ein erfolgreiches Modell für einen Guerillakrieg entwickelt. China propagierte seine „Barfußärzte“ als Symbol eines ländlichen Entwicklungsweges, eine Form der Modernisierung, die nicht auf Kosten der Landbevölkerung gehen würde. Mitte der 1960er war die Sowjetunion und der Ostblock als Gesell-
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schaftsmodell in den westlichen Metropolen nicht sonderlich attraktiv. Die Kulturrevolution erschien als Versuch, durch eine Jugendrevolte gegen den Parteiapparat die Revolution wieder zum Leben zu erwecken. Maos Kampagne wurde als Experiment mit einer neuen Form der Massendemokratie wahrgenommen, welche Ideale des jungen Karl Marx wieder in die Gegenwart hole (Kuntze 1973).
Abbildung 1: Sachbuchautor Peter Kuntze versuchte sich an einem Dialog zwischen Mao und Freud (1977)
Quelle: Peter Kuntze, China- Revolution in der Seele, München: Fischer 1977.
Außerdem fühlte sich die besonders technologiekritische westliche Linke angesprochen. Sie glaubten, dass die chinesische und vietnamesische Revolutionen bewiesen hätten, dass die armen Völker der „3.Welt“ über die moderne Hochtechnologie ihrer Feinde siegen könnten. Technische Überlegenheit könne durch Solidarität und politischen Willen ausgeglichen werden (Haffner 1966: 33). China symbolisierte während des Höhepunkts seines internationalen Ansehens viele Facetten, aus denen sich Aktivisten unterschiedlichster Bewegung etwas aussuchen konnten.
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F RANKREICH UND I TALIEN : K ULTURREVOLUTION UND LINKE D ISSIDENTEN Besonders großen Einfluss hatte China auf die sogenannten Neue Linke in den westlichen Metropolen. Sie grenzte sich von der alten Linken, traditionellen Gewerkschaften sowie sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterparteien, ab. Ihre soziale Basis fand die Neue Linke hauptsächlich unter jungen Menschen, die in den letzten Kriegsjahren oder ersten Nachkriegsjahren geboren wurden. Es stellten sich aber auch ältere linke Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre (Jahrgang 1905) oder Herbert Marcuse (Jahrgang 1898) auf ihre Seite. Der Dokumentarfilm „Rot liegt in der Luft/Le fond de l'air est rouge“ (1977) von Chris Marker stellt die These auf, dass die Idee der „Revolution der Revolution“ das verbindende Element der kubanischen und chinesischen Revolution sowie der Neuen Linken im Westen gewesen sei. Den traditionellen kommunistischen Parteien falle keineswegs automatisch die Rolle der Avantgarde zu, sondern nur im revolutionären Kampf könne sich eine neue Avantgarde herausbilden, so der Tenor. Sowohl die „Fokus-Theorie“ von Che Guevara als auch Maos Parole vom „Sieg im Volkskrieg“ ließ Revolution im hier und heute als möglich erscheinen. Das „Primat der Praxis“ sei wichtiger als das Warten auf vermeintlich objektiv reife Bedingungen für den Umsturz. Zur „Revolution der Revolution“ gehörte auch die Vision einer grundsätzlichen Veränderung von Alltag, Bildung, der Beziehungen zwischen Mann und Frau sowie Eltern und Kinder und des Kulturbetriebs. Die beiden größten kommunistischen Parteien Westeuropas, jene Frankreichs (KPF) und Italiens (KPI), hatten schon lange ihren Frieden mit der Nachkriegsgesellschaft gemacht. Sie führten ihren Kampf bestenfalls für Verbesserung von Arbeitsbedingungen und Lohnerhöhungen. Die KP-nahen Gewerkschaften gehörten zu den wichtigsten beider Länder. Die KPF erhielt bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1967 über 22 Prozent der Stimmen. Als während es „Pariser Mais“ 1968 zuerst Studierende und dann junge Arbeiter rebellierten, fürchtete die KPF-Führung durch Kontrollverlust ihre Verhandlungsposition gegenüber Staat und Kapital zu schwächen. Die Parteiführung erklärte die revolutionären Studierenden zu kleinbürgerlichen Spinnern und Träumern. An den Streiks im Mai beteiligten sich über zehn Millionen Arbeiter. Die KPF und ihre Gewerkschaft versuchten, die Bewegungen unter ihre Kontrolle zu bringen und in Forderungen nach höheren Löhnen zu kanalisieren. In Italien erhielt bei den Senatswahlen 1968 die KPI 30 Prozent der Stimmen und strebte langfristig eine Regierungsbeteiligung an. In beiden Ländern bildeten sich linkskommunistische Dissidentenbewegungen heraus, die auch bei
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den Theorien der Kulturrevolution nach theoretischen und praktischen Anleihen suchten. In dieser Wahrnehmung war die Notwendigkeit einer Revolte der Jugendlichen gegen einen bürokratisch-verknöcherten und „revisionistischen Parteiparat“ die größte Parallele zu China. „Il manifesto“ war eine Gruppe von Kadern, die 1969 aus der KPI wegen „Linksabweichung“ ausgeschlossen wurden. Sie kritisierte die beschwichtigende Haltung der KPI während des „heißen Herbstes“ 1969, dem Höhepunkt der Streik- und Protestbewegungen. Rossana Rossanda (Jahrgang 1924) war eine bekannte Parlamentsabgeordnete und spielte eine wichtige Rolle bei „Il manifesto“. Sie schrieb 1971: „In dem Augenblick, wo die Massen aufgerufen sind, nicht nur über die Partei zu urteilen, sondern sie zu bekämpfen, führt Mao das politische Subjekt wieder in die Gesellschaft ein. Er macht aus der Partei wieder ein ‚Instrument‘ des Proletariats, wodurch sie nicht mehr eine Wesenheit ist, die in gewisser Hinsicht außerhalb des Proletariats existiert“ (Rossanda 1971: 30). Die Gruppe um „Il manifesto“ begrüßte auch, dass in China Mao und Rotgardisten die zentrale Bedeutung der Universität als Ort gesellschaftlicher Kämpfe erkannt hätten. In der Plattform der Gruppe hieß es: „Die chinesische Revolution greift folglich die Produktionsverhältnisse und die Produktionsweise an, betont die Frage der Egalität, kritisiert die Hierarchie, welche durch die gesellschaftliche Teilung der Arbeit entsteht, verneint die vermeintliche Neutralität von Wissen und Technik“ (Il manifesto 1971: 31). Gemeint war damit die ständige Kritik an der Trennung von Hand- und Kopfarbeit, sprich die Arbeitsteilung zwischen der arbeitenden Bevölkerung und den Intellektuellen sowie die Betonung, dass das bei jeder Form des Wissens gefragt werden müsse, welcher Klasse es nütze. Studierende müssten sich dabei politisieren und ihre Rolle in der Arbeitsteilung des Kapitalismus in Frage stellen. In Frankreich bezogen sich Philosophen wie Sartre, Louis Althusser, Alain Badiou, oder der Regisseur Jean-Luc Godard auf Theorien Maos und die Kulturrevolution, um den Marxismus der KPF und ihre reformistische Selbstbeschränkung zu kritisieren (siehe Wollin 2010). Auch einfache Arbeiter und Studierende begannen sich als „Maos“ zu bezeichnen und Gruppen zu bilden, die in Fabriken, Universitäten, Gefängnissen und sogar unter der Landbevölkerung aktiv wurden. Sartre betonte zwar, dass er selbst kein „Mao“ sei, sympathisierte aber mit der Bewegung, die für revolutionäre Gewalt, Spontanität der Massen und Anti-Autoritarismus stehen würde. Die klassischen Linksparteien in Frankreich seien in ihrer Denkweise im 19. Jahrhundert stehen geblieben. „Die Maos hingegen mit ihrer anti-autoritären Praxis erscheinen als einzige, noch unvollkommene revolutionäre Kraft, die in der Lage ist, sich im Stadium des organisierten Kapitalismus den neuen Formen des Klassenkampfes
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anzupassen“ (Sartre 1973: 12). Als das Verbot der maoistischen Zeitung „Die Sache des Volkes“ (Cause du Peuple) drohte, solidarisierte sich Sartre, indem er die Herausgeberschaft übernahm und Ausgaben demonstrativ mit seiner Weggefährtin Simon De Beauvoir auf der Straße verteilte. Sartres und de Beauvoirs Sympathien für China fielen nicht vom Himmel. Schon 1956 hatten die beiden eine Reise nach China auf Einladung der Regierung unternommen und de Beauvoir veröffentlichte einen langen Reisebericht als Buch (Beauvoir 1960).
W ESTDEUTSCHLAND : V ON „S PAß -G UERILLA “ ZU K-G RUPPEN Die Neue Linke in Westdeutschland hatte ganz andere Ausgangsbedingungen als in Frankreich und Italien. Mit dem erneuten Verbot der KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) 1956 war die revolutionäre Arbeiterbewegung der Zwischenkriegszeit endgültig untergegangen. Im anti-kommunistischen Klima der Nachkriegszeit und in den ständigen Auseinandersetzungen mit der DDR waren radikale linke Kräfte vor 1967 marginalisiert, auch in der Einheitsgewerkschaft DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund). Zwar ließ die Bundesregierung 1968 die DKP (Deutsche Kommunistische Partei) zu. Die DKP wurde wegen ihrer Treue zu Ost-Berlin und Moskau aber von vielen Aktivisten der Neuen Linken abgelehnt. Sie galt als zu „reformistisch“ und konnte bei Bundestagwahlen nie einen bedeutenden Stimmenanteil gewinnen. In Westdeutschland ließ sich keiner der bekannten theoretischen Größen wie Theodor Adorno oder Max Horkheimer für China begeistern. Der radikalen westdeutschen Linke fehlte es generell an „organischen Intellektuellen“ vom Schlage Sartres, de Beauvoir, Foucault oder Rossanda.
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Abbildung 2: Als Konfuzius noch kein Sympathieträger war
Quelle: Elo und Jürg Baumberger, Beethoven kritisieren! Konfuzius verurteilen! Was geschah in China 1973/74? Reinbek bei Hamburg, Rowohlt 1975.
Die Auseinandersetzung mit dem maoistischen China in Westdeutschland kann man in zwei Phasen einteilen: eine anti-autoritäre, gefolgt von der Phase des Parteiaufbaus. Zwischen 1966 und 1968 hatte der Bezug auf die Kulturrevolution innerhalb der Studierendenbewegung oft spaßhaften und provozierenden Charakter wie z.B. in Aktionen der „Kommune I“ oder im Kurzfilm „Die Worte des Vorsitzenden Maos“ von Harun Farocki (1967). In linken und linksliberalen Medien entwickelte sich ein radical chic um Mao (Diehl 2008). Zu diesem Zeitpunkt entdeckten das „Kursbuch“, eine wichtige linke TheorieZeitschrift, und Autoren wie Joachim Schickel Mao als großen Philosophen und Dichter-Politiker. Die Kulturrevolution wurde als konkrete Utopie und Gegen-
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modell zur entfremdeten westlichen Konsumgesellschaft gesehen (Schickel 1968). 1968 erschien die offizielle deutschsprachige Ausgabe der „Ausgewählten Werke“ Maos in vier Bänden. Große westdeutsche Verlagshäuser begannen aus kommerziellen Interessen Maos Gedichte, die „Die Worte des Vorsitzenden“ sowie in China unveröffentlichte Reden herauszubringen, die nach der Stürmung der Archive durch die Roten Garden in Umlauf gekommen waren (z.B. Mao 1967; Martin 1974 und 1975). Positive Berichte westlicher Revolutionstouristen aus China wurden in großer Auflage auf den Markt gebracht. Besonders hervorzuheben ist der „Berichte aus einem chinesischen Dorf“ von Jan Myrdal (Myrdal 1972 und 1976). Auch Edgar Snows „Roter Stern über China“, ein Bericht über einen Besuch bei Mao in Yan‘an 1935, wurde mehrfach wieder aufgelegt (Snow 1970). Beide Bücher vermittelten den Eindruck, in China finde eine authentische Bauernrevolution unter Führung einer volksverbundenen Partei statt. Viele Schriften der französischen und italienischen Sympathisanten der Kulturrevolution wurden von den Verlagen Merve und Klaus Wagenbach zeitnah ins Deutsche übersetzt und hatten einen großen Einfluss auf die Linke in Westdeutschland. Sympathien für den Maoismus konnte auch über Umwege aus Frankreich oder Italien importiert werden. Die Ausführungen von deren großen Intellektuellen erreichte ein breiteres Publikum als die hölzerne Sprache der „Peking Rundschau“ oder „Radio Peking“, mit der die chinesische Regierung ihrer Ansichten in der ganzen Welt verbreitete 1968/69 wurden marxistisch-leninistische Strömungen innerhalb der Studierendenbewegung stärker, die sich an Chinas Außenpolitik orientierten und die Theorien Maos ernst nahmen. Das „Ende der anti-autoritären Phase“ wurde verkündet. Viele hielten die Studierendenbewegung für gescheitert. So lösten sich zum Beispiel die „Kommune I“ 1969 und der SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) 1970 auf. Die Marxisten-Leninisten erklärten, dass eine neue revolutionäre Kaderpartei in Westdeutschland aufgebaut werden müsse. Da die Sowjetunion und DDR als „revisionistisch“ und bürokratisch verknöchert wahrgenommen wurden, galt das maoistische China als wichtigster Bezugspunkt der Gegenwart. Es wurde auch die Geschichte der KPD der Weimarer Republik wieder entdeckt, die schließlich eine revolutionäre Massenpartei gewesen war. Die „wilden“ Septemberstreiks 1969 weckten Hoffnung, dass Arbeiter wieder revolutionäre Subjekte seien könnten. Im maoistischen China wurden nun nicht mehr die anti-autoritären Momente einer Studierendenrevolte gesucht, sondern ein Vorbild für eine erfolgreiche Revolution. Die Werke Lenins und Maos wurden als praktische Anleitung für den Parteiaufbau studiert. Zum Jahreswechsel 1968/69 wurde die Marxistisch-Leninistische Partei
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Deutschlands (KPD/ML) gegründet. Weitere Gründungen anderer K-Gruppen folgten, die sich entweder als Partei oder als Vorstufe dazu verstanden. Ihre Namen begannen mit „K“ für kommunistisch (Forschung siehe Steffen 2002, Koenen 2002, Kühn 2005, Benicke 2010, Hinck 2012). Die K-Gruppen konnten zwar nie bedeutsame Wahlergebnisse erzielen, falls sie überhaupt antraten. Es gelang ihnen jedoch sich an Universitäten in Studierendenvertretungen und auch in einigen Großbetrieben in Betriebsräten zu etablieren. Mitte der 1970er schätzte der Verfassungsschutz den harten Kern der Mitglieder auf 15.000. Die Zahl der Menschen, die sich kurzfristig im Umfeld der K-Gruppen und ihrer zahlreichen Massenorganisationen bewegten, war um ein vielfaches größer. Ab 1972 waren auch Mitglieder und Sympathisanten der K-Gruppen von Berufsverboten im öffentlichen Dienst betroffen. Ein Verbot der Organisationen selbst wurde in der Bundesregierung diskutiert, erfolgte aber nicht. Um die wichtigsten K-Gruppen zu nennen: Die Kommunistische Partei/Aufbauorganisation (KPD/AO), ab 1971 KPD, sowie der Kommunistische Bund Westdeutschlands (KBW) rekrutierten ihre Führung und Mitglieder im großen Maß aus der Studierendenbewegung. Sie orientierten sich sehr stark an der chinesischen Außenpolitik und machten bis 1979 fast alle Linienschwenks der KPCh mit. KPD (AO) und KBW verteidigten sogar noch den Machtantritt des Reformers Deng Xiaoping sowie den chinesischen Krieg gegen Vietnam 1979. Sie unterstützten die „Drei Welten-Theorie“ und forderten die Wiedervereinigung Deutschlands. Die KPCh erklärte mit dieser Theorie ab Mitte der 1970er zunehmend die Sowjetunion zum Hauptfeind und verlangte, die „2.Welt“, Europa und Japan, gegen den „Sozialimperialismus“ zu verteidigen. Die KPD/ML konnte auch einige ältere Kader der illegalen alten KPD gewinnen. Sie pflegte einen besonders starken anti-intellektuellen Habitus und Abgrenzung zur Gegenkultur von 1968. Die KPD/ML stellte sich 1977/78 nach dem Bruch zwischen China und Albanien auf die Seite der albanischen KP. Seit Anfang der 1960er war Albanien das einzige sozialistische Land gewesen, das Chinas Kritik am „sowjetischen Revisionismus“ treu unterstützt hatte. Der albanische KPFührer Enva Hoxha kritisierte nun an Chinas Kulturrevolution die chaotische Mobilisierung der Massen gegen den Parteiapparat und setzte lieber auf „Säuberungen“ von oben. Die „Drei Welten-Theorie“ würde dem „USImperialismus“ in die Hände spielen (Hoxha 1978: 453-455). Der Kommunistische Bund (KB) schätzte die Lage der BRD wesentlich skeptischer ein als die anderen Organisationen und warnte vor einer „Faschisierung“ von Staat und Gesellschaft. Er war besonders in der Antifa- und AntiAtomkraftbewegung aktiv. Die Organisation zeigte sich grundsätzlich mit China solidarisch, kritisierte öffentlich aber auch einzelne Entwicklungen wie den
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Empfang des CSU-Politikers Franz-Josef Strauß durch die chinesische Regierung 1975. In der deutschen Linken galt Strauß als Erzfeind und Schrittmacher der „Faschisierung“. Der KB lehnte die „Drei Welten-Theorie“ der KPCh ab, da er die „herrschende Klasse“ der BRD und nicht die Sowjetunion als Hauptfeind sah. Das Existenzrecht der DDR wurde verteidigt. Nach dem Sturz der „Viererbande“ in China 1976, der Parteilinken um Maos Frau Jiang Qing, erkannte der KB, dass der maoistische Flügel geschlagen war und wandte sich von der neuen KPCh-Führung ab (Steffen 2002: 94-97). Die meisten K-Gruppen machten in den 1980ern noch weiter. China spielte jedoch keine große Rolle mehr. Die Gruppen lösten sich auf oder verschwanden in der Bedeutungslosigkeit. Nicht wenige Aktivisten des KB schlossen sich den Grünen an, da diese K-Gruppe schon vorher am stärksten in den neuen sozialen Bewegungen verankert war. In der Öffentlichkeit war die Geschichte der K-Gruppen nicht mehr sehr präsent bis unter der rot-grünen Bundesregierung von Gerhard Schröder Ex-Aktivisten aus dem ML-Spektrum Ministerposten bekamen, Bundesumweltminister Jürgen Trittin (KB) und Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (KBW).
P ARALLELEN ZUR E NTWICKLUNG IN C HINA Besonders erklärungsbedürftig scheint, dass sich viele anti-autoritäre Aktivisten von 1968 nur einige Jahre später K-Gruppen anschlossen, die sich als straff geführte leninistische Kaderparteien verstanden. Trotz des offensichtlichen Bruches gab es auch Kontinuitäten wie das avantgardistische Politikverständnis, Verankerungen an Universitäten, Anti-Imperialismus, den starken Bezug auf die Bewegungen der „3.Welt“, kritisches Verhältnis zur DDR sowie der Glaube an die Möglichkeit einer Revolution. Oft wird argumentiert, dass China nur als Projektionsfläche diente und westliche Linke wenig über die wirklichen Ereignisse im „Reich der Mitte“ wussten. Die Informationen, die Anfang der 1970er in westlichen Sprachen zum kulturrevolutionären China zur Verfügung standen, waren in der Tat begrenzt. Chinesisch konnten nur wenige Freunde des maoistischen Chinas. Reisen in China waren nur im Rahmen von staatlich organisierten Delegationen oder unter Aufsicht möglich. Weitgehend unbekannt war z.B. das Ausmaß der Hungersnot (1959-61) mit 15 bis 40 Millionen Toten (Wemheuer/Manning 2011: 21-22). Trotzdem ging der positive Bezug auf den Maoismus nicht nur auf Unkenntnis oder Missverständnisse zurück. Erstaunlich ist die parallele, wenn auch verspätete, Entwicklung der chinesischen und westeuropäischen „Kulturrevolutionen“.
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Abbildung 3: Nachdruck und Vertrieb offizieller Dokumente zur Kulturrevolution durch den Verlag des Kommunistischen Bundes (KB)
Quelle: Kommunistischer Bund (Hrsg.), Die chineische Kulturrevolution in Dokumenten, Hamburg: J. Reents, Arbeiterkampf, 1974.
Die Ereignisse in China kann man grob in vier Phasen einteilen: 1. Im Sommer 1966 bildeten sich Rotgardistengruppen, die mit Billigung Maos „akademische Autoritäten“ und Kulturschaffende angriffen. 2. Ab Herbst entwickelte sich eine neue Bewegungen gegen die „Machthaber des kapitalistischen Weges“ innerhalb der Partei. Nun revoltierten auch Arbeiter und große Teile der Stadtbevölkerung gegen den lokalen Parteiapparat. Rebellenorganisationen bildeten sich. 3. Im Januar 1967 erfolgte in Shanghai die erste „Machtergreifung“ der Linken. Fraktionskämpfe eskalierten gewaltsam im ganzen Land und Mao versuchte, mit Hilfe der Armee die Ordnung wieder herzustellen. 4. 1968 übernahm die Armee fast in allen Provinzen die Macht, und alle unabhängigen Massenorganisationen wurden aufgelöst. Mit dem 9.Parteitag der KPCh 1969 begann die Restauration
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des Parteiapparates, dessen Kontrolle über die gesamte Gesellschaft Anfang der 1970er wiederhergestellt werden konnte (Übersicht siehe Badiou 2011: 77-105). Die linkskommunistischen Dissidenten Frankreichs und Italiens bezogen sich mit ein, zwei Jahren Verspätung vor allem auf die Frühphase der Kulturrevolution von Sommer 1966 bis Frühjahr 1967, als es in China ein starkes Element der Revolte von unten gab. Einigen pro-maoistischen Beobachtern war durchaus klar, dass Mao und seine Führungsgruppe dabei nicht in Frage gestellt werden durften und der charismatische Führer die Revolte von unten erst legitimierte (Masi 1970: 27-28). Während in China ab 1969 der Parteiapparat wieder restauriert wurde, verkündeten westdeutsche K-Gruppen das „Ende der antiautoritären Phase“ und den Aufbau neuer marxistisch-leninistischer Parteien. Mao ließ im Sommer 1968 die studentischen Rebellengruppen von Arbeiterpropagandatrupps auflösen unter der Parole „Die Arbeiterklasse muss bei allem die Führung haben“. Viele westeuropäische Maoisten wandten sich kurze Zeit später auch den Arbeitern zu, gingen in die Betriebe und versuchten, ihre eigene „kleinbürgerliche Herkunft“ zu überwinden. Auch wenn die Aktivisten wenig über die konkreten Entwicklungen in China wussten, scheinen die K-Gruppen den Maoismus der frühen 1970er gar nicht so falsch verstanden zu haben, nämlich als autoritäres Projekt des (Wieder)aufbaus einer Kaderpartei. Der Maoismus und die Kulturrevolution funktionierten als Bezugsrahmen für anti-autoritäre Linke und stramme Leninisten auch wegen der Ambiguität von Mao selbst. Er war nach eigenen Angaben gleichzeitig Affe, Rebell gegen die Ordnung, und Tiger, höchster Repräsentant der Partei (Martin 1982: 175-176). Im Herbst 1966 verkündete er: „Rebellion ist gerechtfertigt“. Als die Fraktionskämpfe eskalierten, wurden wieder die leninistischen Aspekte in seinem Weltbild gestärkt und ab 1968 betonte er wieder Disziplin und Unterordnung unter die Führung. Es ist bemerkenswert, dass die KPCh trotz der maoistischen Organisationen auf allen Kontinenten keine neue Komintern (Kommunistische Inernationale) unter ihrer Führung gründete. Seit den 1930ern war die KPCh Meisterin darin, westliche Sympathisanten und linke Journalisten für eigne Zwecke einzuspannen, um das internationale Image zu verbessern (Braudy 2003). Während Maoisten aus der „3.Welt“ in China militärisch ausgebildet wurden, beließ es Peking in den westlichen Metropolen bei Unterstützung durch Propaganda-Materialen und Einladung von Reisedelegationen. Entweder wollte die chinesische Regierung die diplomatische Anerkennung durch westliche Regierungen nicht gefährden oder sie war selbst nicht von der Möglichkeit einer Revolution im Westen überzeugt. Hier könnte nur eine Öffnung der Archive in China Klarheit bringen.
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R ATIONALISIERUNG VON G EWALT Auch wenn in westdeutschen Medien über Gewalttaten der Rotgardisten im Sommer 1966 berichtet wurde, so war das gesamte Ausmaß des Terrors der Kulturrevolution, besonders der Jahre 1968 und 1969, damals nicht bekannt. Zum Beispiel wurde der grausame Tod des Staatspräsidenten Liu Shaoqi in Haft im November 1969 in China zu Maos Lebzeiten nie offiziell bekannt gegeben. Der Mythos, dass Mao seine Gegner nur in den Rinderstall sperren lassen hätte, aber nicht wie Stalin erschießen ließ, hielt sich lange. Selbst in China wussten nur Wenige, dass zum Beispiel im August und September 1966 in Peking über 1000 Menschen, darunter viele Lehrer, totgeschlagen wurden (Wang Nianyi 2005: 57). Eine neue Studie, die auf einer systematischen Auswertung aller Kreischroniken basiert, schätzt die Todesopfer der Kulturrevolution auf ca. 1,1 bis 1,6 Millionen Menschen. Wobei der Hauptanteil weder auf das Konto der Roten Garden 1966, noch der bewaffneten Fraktionskämpfe 1967 ging. Die meisten Menschen wurden in der Phase von 1968 und 1969 getötet, als die Armee nach der Wiederherstellung der Ordnung „Säuberungskampagnen“ von oben durchführte (Walder 2014). Nun war es allerdings keineswegs so, dass die westlichen Neuen Linken überhaupt keine Meldungen von Gewalt aus China erreichten. Es gab aber ein tiefes Misstrauen gegenüber den etablierten Medien, besonders der „Lügenpresse“ des Axel Springer-Konzerns, die im Kalten Krieg die Welt in Gut und Böse einteilten. Negative Meldungen über China konnten daher schnell als „bürgerliche Propaganda“ abgetan werden. Das Pamphlet „China: Der deutschen Presse Märchenland“ (1968) ist eine Collage von Günter Amendt mit negativen Meldungen über China. Der Autor erklärte die negative Berichterstattung mit rassistischer Angst des Establishments vor dem aufsteigenden Land, das als „gelbe Gefahr“ wahrgenommen würde (Amendt 1968: 35). Auch die westlichen Neue Linken kannte Maos berühmte Aussage, dass Revolution eben kein Deckchen sticken sei, sondern ein gewaltsamer Akt zum Sturz einer Klasse durch die andere (Mao 1968: 27). Dieses Zitat wurde in China immer angeführt, wenn Gewalt der Massen gerechtfertigt werden sollte. Mit ihrem starken Bezug zu den Befreiungskämpfen der „3.Welt“ hatte die Neue Linke schon früh eine Argumentation zur Legitimation revolutionärer Gewalt entwickelt (Übersicht siehe Wemheuer 2014). Das System des (Neo)-Kolonialismus beruhte offensichtlich selbst auf Gewalt. Die französischen und US-amerikanischen Streikkräfte begingen in Algerien und Vietnam schwere Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung. Da konnte die Gewalt der Bewegung als Gegengewalt zur Selbstverteidigung erscheinen. Zugleich wollte man als Linke in den „imperiali-
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stischen Metropolen“ dem Befreiungskampf der „3. Welt“ nicht in den Rücken fallen. Sartre erklärte in seiner Sympathieerklärung für die „Maos“: „Ein Sozialist muss für die Gewalt sein, denn er steckt sich ein Ziel, das von der herrschenden Klasse schlichtweg abgelehnt wird“ (Sartre 1973: 6). Foucault und Benny Levy diskutierten 1971 darüber, ob Kapitalisten und Reaktionäre besser durch Volksgerichte abgeurteilt werden sollten oder spontane Selbstjustiz der Massen besser sei (Wemheuer 2008b: 41-58). Es blieb bei diesen Intellektuellen bei Gedankenspielen. In Westdeutschland befürworteten alle K-Gruppen einen revolutionären Umsturz. „Roter Terror“ sei allerdings erst gerechtfertigt, wenn man die Arbeiterklasse vom Sozialismus überzeugt habe, war der allgemeine Tenor. Anfangs präsentierte sich die RAF als „Marxisten-Leninisten mit Knarren“. In der frühen Erklärung „Das Konzept Stadtguerilla“ (1971) reihte sich ein MaoZitat ans nächste, um den bewaffneten Kampf in der BRD zu rechtfertigen (RAF 1971). Allerdings blieben die Bezüge oberflächlich und richteten sich als Durchhalteparolen wohl eher an mögliche Sympathisanten aus dem MLSpektrum (Gehrig 2008: 172-174). Mao selbst hatte die Möglichkeit einer „Stadtguerilla“ in westlichen Metropolen nie in Betracht gezogen. Die meisten K-Gruppen lehnten den „individuellen Terror“ der „kleinbürgerlichen“ RAF ab. Die KPD/ML sah hingegen den Anschlag der RAF auf das Hauptquartiert der US-Streikkräfte in Heidelberg im Mai 1972 als revolutionäre Aktion, betonte aber, dass der Aufbau revolutionärer Streitkräfte nur unter Führung einer Kaderpartei erfolgen könne. Die Flugzeugentführung einer mit einfachen Urlaubern besetzten Maschine im Herbst 1977 durch ein palästinensischdeutsches Kommando wurde dann von der KPD/ML scharf als „konterrevolutionär“ verurteilt (Benicke 2008: 147). Insgesamt hatte die Eskalation der Gewalt während des deutschen Herbstes 1977 eine Schockwirkung auf die westliche Linke und auch das ML-Spektrum (Koenen 2008: 36-37).
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Abbildung 4: Mao als Sympathieträger gegen die „Pigs“ der US-Armee in der Berliner Sponti-Zeitung „Agit 883“
Quelle: Agit 883, Nr. 62 (1970)
Durch das Scheitern der K-Gruppen mussten ihre Kader nicht in der Praxis beweisen, ob sie wie ihre chinesischen Genossen bereit waren, mit Massenerschießungen die „Diktatur des Proletariats“ zu sichern. Bei Fraktionskämpfen und Ausschlüssen von „Rechts- und Linksabweichler“ beließen es die westdeutschen K-Gruppen im schlimmsten Fall bei Psychoterror.
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S CHLUSS Die Kenntnisse über die Ereignisse in China waren Anfang der 1970er im Ausland begrenzt. Die parallele, wenn auch etwas verspätete, Entwicklung der chinesischen Kulturrevolution und der Neuen Linken in Westeuropa ist dennoch bemerkenswert. Kurz nachdem Mao 1968 die Zeit der Revolte der Studierenden für beendet erklärt hatte und die Restauration des Parteiapparates begann, widmeten sich ehemalige „Anti-Autoritäre“ in Westeuropa neuen Projekten zum Aufbau leninistischer Kaderparteien. Keineswegs führte eine kritische Auseinandersetzung mit den Ereignissen in China zur Abwendung vom Maoismus in den westlichen Bewegungen. Nach Ende des globalen revolutionären Zyklus Ende der 1970er erschien eine Revolution in den westlichen Metropolen als Illusion. Die Bewegungen, die aus der Neuen Linken um 1968 hervorgegangen waren, zerbrachen an ihrer eigenen Erfolglosigkeit, zumindest gemessen an ihrem ehrgeizigen Ziel einer sozialistischen Revolution in Westeuropa. 1981 ließ die neue chinesische Parteiführung um Deng die „Viererbande“ in einem Schauprozess verurteilen und bezeichnete die Kulturrevolution „große Katastrophe für Partei und Volk“. China gab Maos „permanente Revolution“ auf und reintegrierte sich als „Werkbank der Welt“ wieder in die kapitalistische Weltordnung. Die Abwendung Chinas von der Revolution bewirkte bei vielen westlichen (Ex-)„Maos“, sich mit dem Land nie wieder auseinanderzusetzen, anstatt das Scheitern ihrer Übertragung des Maoismus in nicht-chinesische Verhältnisse kritisch zu reflektieren. Heute hat eine wissenschaftliche Aufarbeitungen der globalen Auswirkungen der Kulturrevolution gerade erst begonnen.
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3. Indisches Wissen in Südostasien: Sprachen, Religion und andere Kulturgüter K ARL -H EINZ G OLZIO
E INLEITUNG Es ist unbestreitbar, dass indische Kultureinflüsse seit der Zeitenwende verstärkt in Südostasien auftraten; vermutlich bestanden auch bereits in prähistorischer Zeit Kontakte mit Südindien und Bengalen, d. h. lange bevor Indien selbst „sanskritisiert“ (damit wird der Prozess der Durchdringung Indiens mit der klassischen Hochkultur bezeichnet, der nach der Kultursprache „Sanskrit“ benannt ist) wurde. Dabei erhebt sich die Frage, wann und warum dies geschah. Festzuhalten ist, dass nicht alle Kulturgüter rezipiert wurden, sondern in diesem langen Prozess auch eine Auswahl getroffen und manches modifiziert wurde. Die indischen Kultureinflüsse, von Ethnologen als „Große Tradition“ bezeichnet, waren und sind nicht ausschließlich auf die Eliten und die höfische Kultur beschränkt, genauso wie die einheimische „Kleine Tradition“ sich nicht nur auf das dörfliche Leben bezog. Der Einfluss der Sanskritkultur mit den religiösen Komponenten Hinduismus und Buddhismus ist auch im Dorfleben zu verspüren, ebenso wie umgekehrt Elemente der Volkskultur einschließlich der einheimischen Sprachen und der Ahnenverehrung in der höfischen Kultur eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten. Auf diese Weise geschah der Transfer von Wissen nach Südostasien in einem sehr breiten Sinne und führte zu Symbiosen mit den dort angetroffenen kulturellen Gütern. Der indische Einfluss in Südostasien erfolgte weder auf dem Wege der Kolonisierung noch der militärischen Gewalt. Zudem geschah diese Ausbreitung beinahe ausschließlich auf dem Seeweg durch Bewohner des indischen Subkontinents, wie chinesische Quellen und z. T. auch frühe Inschriften aus dem insularen Südostasien bezeugen. So finden sich z. B. im geographischen Sammelwerk Shujngzhù 水經注 (Bericht über Klassiker zum Wasser) des Lì
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Dàoyuán 酈道元 (496-527) auch Abschnitte über Südostasien, in denen z. B. berichtet wird, dass in dem vom „Reich Fúnán 扶南 (einem Land im heutigen südlichen Vietnam und südlichen Kambodscha) abhängigen Staat Dùnxùn 頓遜 (wahrscheinlich auf der Malaiischen Halbinsel) fünfhundert Familien der hú 胡 aus Indien, zwei fótú 佛圖 (die Bedeutung dieser beiden Bezeichnungen ist nicht klar) und mehr als 1000 indische Brahmanen (póluómén 婆羅門) leben und die Bewohner von Dùnxùn ihren Lehren folgen und ihnen ihre Töchter zur Frau geben, weshalb viele der Brahmanen dort bleiben und sich dem Studium der heiligen Texte widmen (Wheatley 1961: 16; Pelliot 1903: 279). Die hohe Anzahl an Brahmanen mag überraschen, weil insbesondere für sie nach den religiösen Rechtsbüchern Indiens (dharma- stra) das Verbot der Seefahrt galt (Arp 2000: 6). Mabbett (1977: 157) hat auf die Diskrepanz aufmerksam gemacht, dass indische Quellen von Glücksrittern und Händlern berichten, die nach Übersee gingen, während chinesische Berichte die aus Indien Gekommenen sehr oft als Brahmanen bezeichnen. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich aber auf, wenn man berücksichtigt, dass in Südostasien Brahmanen (br hma a) und Adlige (katriya) als zusammengehörend betrachtet werden und adlige Abenteurer durchaus auch als Sanskritgelehrte wirken konnten; zudem war die Grenze zwischen unternehmungslustigen Adligen und Kaufleuten wahrscheinlich nicht so scharf gezogen. Überdies scheint es fraglich, ob das Verbot der Seereise in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten von den meisten wirklich strikt befolgt wurde.
E RSTE , DURCH I NSCHRIFTEN UND CHINESISCHE NACHWEISBARE E INFLÜSSE
B ERICHTE
In einer Inschrift des ca. 400 n. Chr. regierenden Königs Mlavarman aus Kutai in Ost-Borneo wird berichtet, er habe den nach dorthin gekommenen (ih gata) Brahmanen einen Opferpfosten (y pa) errichtet und große Geschenke gemacht (Vogel 1918: 214). Der Name des Königs ist indisch, ebenso der seines Vaters Awawarman, aber der seines Großvaters, Kundu gga, ist einheimisch. Inder, die sich in Südostasien niederließen, bildeten aber offensichtlich keine eigene „Kolonie“, sondern gingen in der einheimischen Bevölkerung auf, was nicht zuletzt auch in Legenden von der Ankunft eines Brahmanen, der eine einheimische Prinzessin heiratet, ihren Niederschlag fand. Eine große Anzahl von Brahmanen bedeutet nicht unbedingt, dass diese unmittelbar aus Indien gekommen waren, sondern möglicherweise schon mehrere Generationen in
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Südostasien ansässig waren. Außerdem dürfte die Syndromatik auch zur Bildung einheimischer Brahmanen geführt haben. In ganz Südostasien entstanden in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten mehr oder weniger große politische Einheiten, von denen eine der bedeutendsten das von den Chinesen als Fúnán 扶南 bezeichnete Gebiet war, dessen Bevölkerung wohl mehrheitlich aus Khmer bestand. Es sind die chinesischen Annalen Liáng sh („Geschichte der Liáng-Dynastie“) und Jìn sh („Geschichte Jìn-Dynastie“), die einen König Tinzhú Zhntán 天竺旃檀 bzw. Zhú Zhntán nennen, der im Jahre 357 an den in Südchina herrschenden Jìn-Kaiser S m Dn 司馬聃 (reg. 344-361; Memorialname: Mùdì 穆帝) gezähmte Elefanten als Tribut schickte (Pelliot 1904: 252, 255, 269). Der erste Namensteil des Königs (Tinzhú) ist eine Bezeichnung für (Nord-)Indien und könnte somit auf Verbindungen dorthin hinweisen, und Zhntán entspricht vielleicht dem Namen Candana. Dem bis zu diesem Zeitpunkt nicht genannten (weil vielleicht in chinesischen Augen noch nicht signifikanten) indischen Kultureinfluss wird dann in der Gestalt eines gewissen Qiáochénrú 僑陳如 (Kauinya) Rechnung getragen. So heißt es im Liáng sh: „Einer seiner [des Zhú Zhntán] Nachfolger, Qiáochénrú, war ursprünglich ein Brahmane aus Indien. Ihm sagte eine Stimme: ‚Du wirst König von Fúnán sein’, und er war in seinem Herzen erfreut und erreichte im Süden Pánpán. Die Menschen in Fúnán hörten davon; das ganze Königreich empfing ihn voller Freude und man machte ihn zum König. Er änderte die gesamte Ordnung des Landes und führte indische Sitten ein. Qiáochénrú starb“ (Pelliot 1903: 269). Aus weiteren chinesischen Quellen und einer frühen, nur fragmentarisch erhaltenen Inschrift mit der Nummer K.1 5 aus einem Ort namens Pràsàt Pr Lovê in der Ebene der Schilfrohre (Tháp Mi, „Plain of the Reeds“) in Cochinchina (heute Vietnam), die dem des 6. Jahrhundert zuzuordnen ist, geht hervor, dass Kauinya inzwischen zum Namen des herrschenden Klans geworden war. Der in der Inschrift genannte Prinz Guavarman wird hier als jünge-rer Sohn (npasunu--b lo pi) eines Königs Ja[yavarman]-- 2 bezeichnet und außerdem als „Mond aus der Linie des Kauinya” (… kaui[n]ya[va] a a in …. ) (Cœdès 1931: 2-8). Ebenfalls aus dem 6. Jahrhundert stammt die Inschrift K. 875 aus Nak Tà Daba Dèk (Provinz Tà Kèv)3, in der Kulaprabhvat als Hauptgemahlin (agramahi) dieses Jayavarman und eigenständige Königin (r jñ) sowie als Stifterin eines Asketen-Haines ( r ma), eines Teiches (ta ka) und eines Wohnhauses ( laya)
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K. steht für „Khmer-Inschrift“ (sowohl in Sanskrit als auch in Khmer).
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Vom Ende der Textzeile ist nur npatir jja---erhalten, aber als Königsname kommt auch aus metrischen Gründen nur Jayavarman in Betracht.
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auftritt (Cœdès 1937: 120-121). Der religiöse Inhalt dieser Inschriften ist in beiden Fällen viuitisch: In K. 875 soll der Gott Viu die Königin beschützen, und in K. 5 tritt Guavarman als Stifter in einem Heiligtum namens Cakratrtha auf, in dem sich ein Fußabdruck Vius befindet. Diese Inschriften vermitteln den Eindruck, die Religionen indischer Herkunft seien aus ihrem Ursprungsland unverändert übernommen worden. Dies trifft jedoch nur bis zu einem gewissen Grad zu. Während der Vor-Angkor Zeit schritt der Synkretismus von Animismus und Hinduismus weiter voran, wobei sich die Hindu-Götter immer mehr der Gebirge, Felsen und anderer natürlicher Stätten bemächtigten, wo die einheimischen Naturgeister wohnten Die meisten Inschriften der Nach-Fúnán-Zeit berichten von Schenkungen. Sie haben zwar immer einen religiösen Hintergrund, doch stehen bei fast allen ökonomische und politische Angelegenheiten im Vordergrund. Der Charakter der Inschriften als Dokumente bringt es mit sich, dass sie über religiöse oder philosophische Inhalte eigentlich keine Auskunft geben, weil diese als bekannt vorausgesetzt werden. Das trifft auch für die Objekte der Verehrung zu, d. h. die Götter und ihre Welt, die sich sowohl aus einheimischen wie importierten indischen Gottheiten zusammensetzte. Sie wurden als vra bezeichnet, eine fast ausschließlich für maskuline Gottheiten verwendete Nomenklatur. Dazu zählten Gottheiten aller drei bedeutenden indischen Religionen (ivaismus, Viu-is -mus und Buddhismus), aber auch lokale Khmer-Götter. Die meisten der letzteren tragen den Titel kpoñ und sind fast alle feminin, doch sind einige indisiert und werden durch Durg oder Sa-ras-vat repräsentiert. Moderne Autoren wie Jacob (1979) und Vickery (2004) haben in diesem Zusammenhang zu Recht den in vielen älteren Arbeiten vernachlässigten indigenen Kulturhintergrund reklamiert. Häufig besteht bei diesen Autoren jedoch die Tendenz, den Beitrag der indischen Religionen als marginal zu betrachten, obwohl es genügend Beispiele (besonders der Angkorperiode) in Sanskrit-Inschriften und bildlichen Darstellungen gibt, die sich auf die indische Mythologie, aber auch religiöse Texte aus Indien beziehen. Wie bereits oben gezeigt, kann man die religiösen Kulte der Khmer nicht a priori als hinduistisch oder buddhistisch betrachten, da häufig (wie im Falle des unten besprochenen Phänomens eines paarweise auftretenden „jungen“ und eines „alten“ Gottes) die indische Gestalt nur eine Fassade für indigene lokale Vorstellungen bildete. Ein gutes Beispiel dafür bieten die beiden ersten Inschriften von Jayavarman I., K. 447 aus Bàs t und K. 493 aus Tûol Kôk Prá, die beide das Datum des 14. Juni 657 tragen. Die erstere berichtet von einem Anhänger der (viuitischen) Bh gavata-Religion und nennt sogar deren P ñcar tra-Schule mit Bezugnahme auf die in diesem System vorkommenden fünf großen Opfer (yajña), auf das Beachten der fünf Augenblicke (pañcakla)
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und auf die Kenntnis der fünf Elemente (p ñcabhautikavedin). Gewidmet ist diese Inschrift dem Vi u Trailokyasra („Essenz der drei Welten“), der auch in der auf Khmer verfassten Inschrift K. 21 vom Mittwoch, dem 25. März 655 aus Poñ Hòr südlich von Tà Kev (siehe oben) als kamrat añ rtrailokyas rasv mi bezeichnet wird (IC V: 5-6). In der Bàst-Inschrift wird dann auch noch kurz auf iva angespielt, der den Liebesgott verbrennt. Prominente Erwähnung findet iva aber in der Inschrift des weiter östlich gelegenen Tûol Kôk Prá, doch viel bemerkenswerter ist hier der Gott mrta-ke-vara („Herr der Mangos“); dieser ist zwar als Aspekt ivas bereits aus Indien bekannt3, aber die inschriftlichen Belege weisen auf eine leichte Bedeutungsverschiebung hin; sie sind auf das Flusstal des Mekong bis ins Delta beschränkt (Vickery 1998: 149, Anm. 42), was ganz deutlich auf seine Funktion hinweist, während der Name im indischen Kontext iva als Herrn eines Berges namens mrtaka meint, obgleich auch hier der Bezug zu Mangofeldern gewahrt ist. Zudem weist diese Inschrift auf ein Phänomen der Khmer-Religion hin, nämlich die Nennung eines „alten Gottes“ (bhagav n prva) namens Rudramahlaya und eines „jungen Gottes“ (vra kanme) mrtakevara. Dasselbe Konzept begegnet uns in der undatierten Inschrift K. 423 aus Trapn Tho (IC II: 135-136), wo ebenfalls die Begriffe „alter Gott“ (vra kamrat añ ta cas) und „junger Gott“ (vra kanmi) verwendet werden. In der Inschrift K. 563 aus Phum rei (IC II: 198-199) wird Vi u in seiner Form als Nryaa als „alter Gott“ (vra kamrat añ n r yaa ta acas) bezeichnet, der sich den Ertrag von Reisfeldern mit seiner anderen Form Ka-pi-la-va-s-de-va teilt. Der vorgenomme Transfer besteht hier nun darin, dass diese indigenen religiösen Vorstellungen sich offensichtlich entweder ivas oder Vi us und ihrer Aspekte bedienten, was darauf hindeutet, dass hier eine „Indisierung“ von bereits existierenden Gottheiten vorliegt, während in der Bàst-Inschrift das indische Element eindeutig das Dominierende ist. Man muss wohl davon ausgehen, dass in einem langen Prozess eine Vermischung unterschiedlicher religiöser Konzepte stattfand, in dem viele Khmergottheiten zumindest äußerlich eine Wandlung zu indischen Göttern durchmachten und zudem religiöse Vorstellungen Indiens bei den Khmer-Eliten einen immer größeren Stellenwert einnahmen. Eines der prägnantesten Beispiele für die Identifizierung eines autochthonen Kultes mit der Gestalt des Gottes iva dürfte die Verehrung des Bhadrevara (Pódulì ) sein, dessen Name wie der des mrtakevara schon aus Indien bekannt ist (Banerjea 1956: 183; Bhat-tacharya 1961: 21). Besonders signifikant bei iva ist die Verehrung seines liga (Phallus), speziell auch von phal-
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Banerjea 1956: 179; siehe auch Bhattacharya 1961: 51-52.
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lisch geformten Bergspitzen. Die entsprechende Textstelle mit Bezug auf einen Li-ga-par-vata (Língjibpó ) findet sich im Suí sh . Bei diesem Liga-Berg kann es sich entgegen der Annahme von Cœdès nicht um den Berg bei dem im südlichen Laos gelegenen Heiligtum von V t Ph’u handeln, sondern es muss in der Nähe der damaligen Hauptstadt napura (heute die archäologische Stätte Sambòr Prei Kuk) gelegen haben. Zudem gab es mehr als einen li gaparvata, wobei es sich offensichtlich um eine Erhebung mit einem natürlich entstandenen li ga (sth lali ga bzw. svya bhuli ga) handelt. Der geschilderte Kult hat Fruchtbarkeitscharakter, und Bhadrevara war wohl ursprünglich eine Berggottheit, so wie iva in Indien ursprünglich ein Berggott war, der dort auch unter den Namen Giria („auf dem Berg ruhend“), Gira („Herr der Berge“) und Giritra („Beschützer der Berge“) bekannt ist (Bhattacharya 1961: 22-23). Daher war die Identifizierung mit iva gewissermaßen vor-gegeben, zumal zahlreiche Bergheiligtümer von Natur aus mit li gas ausge-stattet waren. Bhadrevara genoss dann insbesondere in der Angkor-Periode große Verehrung, obgleich er nicht so omnipräsent war wie im benachbarten Camp. Die Tempelinschrift K. 441 aus -na-pura (IC IV, 14-17) beschreibt zwei Berge. Der eine ist ein Berg in Giriapura und der andere befindet sich in Ligapura. Weil die beiden Berge in ein und derselben Inschrift zusammen genannt werden, haben sie möglicherweise ähnliche Merkmale und gleichen sich in Bezug auf ihre Bedeutsamkeit. Wie bereits erwähnt, bezieht sich Giria auf iva und somit Giriapura auf „ ivas königliche Stadt“, aber ihre Lage konnte bis jetzt nicht festgestellt werden (Shimoda 2007: 27).
D IE S CHRIFT Im vorangegangenen Abschnitt wurde ohne große Erklärungen von Inschriften gesprochen ohne ein Wort über die Einführung der Schrift zu verlieren. Wie bereits gesagt, sind sie im Gebiet der Khmer erst ab dem 6. Jahrhundert nachweisbar, während man die y pa-Inschriften von Kutai bereits im 5. Jahrhundert ansetzt. Das Vorbild für diese Schrift ist die der südindischen Pallava-Dynastie (5.-9. Jahrhundert). Die Pallavas pflegten offensichtlich Handelsbeziehungen mit Südostasien, obwohl nichts über die Art der Güter mit Gewissheit ausgesagt werden kann, es aber einige Befunde über Kontakte neben der Übernahme der Pallava-Schrift gibt. Zum einen ist der Fund einer Pallava-Münze aus Kupfer bei der Hafenstadt Khuan Luk Pat in Thailand zu nennen, auf deren Vorderseite ein König und ein Schiff mit zwei Masten und auf der Rückseite ein Bulle (das Symboltier ivas) abgebildet ist (Shanmugam 1994: 97-99). Ferner existiert eine
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in Takuapa (ebenfalls Thailand) gefundene kurze Inschrift, die dem PallavaKönig Nandivarman III. (reg. 846-869) zuzuordnen ist (Nilakanta Sastri 1949: 25-30).
D AS P ROBLEM DES T RANSFERS UND DER M ODIFIKATION EINER U RSPRUNGSLEGENDE Eine ganz spezifische kulturelle Beeinflussung durch die Pallavas zeigt sich bereits im 7. Jahrhundert in der Übernahme und Modifizierung der PallavaUrsprungslegende durch die Khmer. Die genealogische Abfolge beginnt bei den Pallavas mit dem Schöpfergott Ambujantha (Vi%#u) oder Brahm, setzt sich dann mit einigen Sehern aus der vedischen Religion fort (2. A"giras; 3. Gravtea (Bhaspati); 4. a!yu; 5. Bhradvja) und dann mit zwei Helden aus dem altindischen Epos Mahbhrata, nämlich (6) Dro#a und dessen Sohn (7) Avatthman, der mit einer Schlangen (Nga)-Prinzessin, Tochter des ngaKönigs (phanndrasut) (8) Pallava, den Stammvater der Dynastie, zeugte (Jayaswal 1933: 179; Gaudes 1993: 348). Diese Genealogie findet sich in der Pa a"kvil-Inschrift des Königs Si!havarman III., der ca. 540-550 regierte (Mahalingam 1988: 89-93), in der Kram-Inschrift des Paramevaravarman I., der ca. 669-690 regierte (SII, I: 144-155; Mahalingam 1988: 152-161) und in zwei Inschriften seines Nachfolgers Narasi!havarman II (ca. 690-728)4. Das gleiche wird von Vrakrca berichtet, der ebenfalls als Gründer der PallavaDynastie gilt. Diese Geschichte wurde in Kambodscha bzw. genauer in Camp (im heutigen Zentral-Vietnam) modifiziert, denn in der Camp-Inschrift C. 96 aus M Sn vom Sonntag, dem 18. Februar 658, wird gesagt (Verse XVI-XVIII), dass Kau#inya, der Hervorragendste der Brahmanen, den Speer, den er von Dro#as Sohn Avatthman, dem besten der Brahmanen, erhalten hatte, in einer Stadt namens Bhava (Bhavapura in Kambodscha) einpflanzte; und außerdem ein Schlangenmädchen namens Som heiratete 5 . Zwar wird hier Kau#inya als
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Weiterhin ist die Geschichte in der Panamalai-inschrift (EI XIX: 109-115) und der
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Finot 1904: 918-925; Vers XVI: (tat)ra sthpitav. chla! kau#inyas taddvijar%ab-
Stelen-Inschrift von Vyalr (EI XVIII: 145-152) referiert. ha avatthmno dvijare%&hd dro#aputrd avpya tam Vers XVII: - - kulsd bhujagendrakany someti s vanakar p$thivym ritya bhve tivie%avastu y mnusvsam uvsa -- Vers XVIII: kau#inyanmn dvijapu"gavena kryrthapatntvam any ypi bhavi%yato rthasya nimittabhve vidher acintya! khalu ce%&ita! hi.
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Name des Stammvaters der Herrschers von Bhavapura eingesetzt, doch lässt die Ableitung seiner Macht durch den Speer A vatth mans noch die Herkunft dieser Legende von den Pallavas erkennen. Andererseits wählte man offensichtlich den Namen des herrschenden Klans von Fúnán, dem Qiáochénrú der chinesischen Quellen. In dieser Phase wurde aber auch die Anbindung an das indische Epos Mahbhrata gesucht, wo man jedoch vergeblich nach einem solchen Helden Ausschau hält, der dort lediglich ein bloßer Name in einer Aufzählung von Sehern ist. Zweierlei ist ganz deutlich: zum einen die Abhängigkeit von der Pallava-Legende und zum anderen deren Modifizierung durch Einsetzung des Namens des herrschenden Klans von Fúnán. Dessen von den Chinesen genannter Gründungsvater hat aber nichts mit dem indischen Epos zu tun und auch keine Schlangenprinzessin geheiratet, auch wenn dies von vielen Gelehrten (zuletzt Gaudes) postuliert wird, die aber alle den Beweis schuldig bleiben6. Weiterhin ist verwunderlich, dass dieser auf eine alte kambodschanische Hauptstadt (Bhavapura) bezogene Text sich in einer Inschrift aus Camp findet. Allerdings kommt eine Sanskrit-Inschrift unbekannter Herkunft mit der Nr. K. 1142 (Jacques 2007: 41-53) möglicherweise der historischen Wahrheit viel näher. In ihr wird gesagt, dass ein König aus Kambodscha namens Candravarman Sohn von Kauinya und Som sei, wobei letztere wiederum als Tochter von Soma bezeichnet wird. Vorab ist festzuhalten: Som ist hier keine Schlangenprinzessin, sondern Tochter von Soma, womit der Mond gemeint sein könnte (oder aber auch einfach nur der Name eines Würdenträgers), und Kauinya hat hier keinerlei Bezug zu den Helden des Mahbhrata. Ihr Sohn Candravarman hat laut dieser Inschrift mit der namentlich nicht genannten Enkelin des -na-var-man den späteren König Jayavarman I. (reg. 657-ca. 681) gezeugt. -na-var-man I. wird im 636 von Wèi Zhng (580-643) vollendeten Suí sh (Annalen der Suí-Dynastie) als Yshnàxi ndài bezeichnet und als dessen Hauptstadt napura genannt (Pelliot 1903: 272). Er gilt als Herrscher von Zhnlà , wie die Chinesen das nördliche Kambodscha nannten. Höchstwahrscheinlich ging die Gesandtschaft Zhnlàs im Jahre 616 zum Hof der Suí von ihm aus, da bereits die Stadt napura genannt wird. -na-var-man I. trat auch durch eigene Inschriften aus napura vom 13. September 627 (K. 604; Finot 1928: 43-46) und Khu Nôy (Thailand) vom 7. Mai 637 (K. 506; IC V: 23) in Erscheinung. Er soll auch Fúnán erobert haben, doch sind die chinesischen Quellen nicht eindeutig. Nach dem erst 1060 von
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Zu den epigraphischen Zeugnissen für Kauinya in Indien siehe Nilakanta Sastri 1961: 403-406; zur Auseinandersetzung mit der Kauinya-Geschichte siehe Golzio 2009: 157-165.
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uyáng Xi (1007-1072) und Sòng Qí (998-1061) abgeschlossenen Xn Táng sh (Neue Geschichte der Táng-Dynastie) hat Fúnán noch in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts existiert, wurde jedoch dann von Zhnlà unterworfen: „Die Hauptstadt des Königs war Tèmù . Plötzlich wurde seine Stadt von Zhnlà unterworfen und er mußte nach Süden in die Stadt Nàfúnà auswandern. Zur Zeit der Regierungsperioden wdé [618627] und zhn’gu n [627-650] kamen sie [die Leute von Fúnán] erneut an den [chinesischen] Hof“; an anderer Stelle behauptet die gleiche Quelle, zu Beginn der Periode zhn’gu n habe der König Yshnà (na), ein K#atriya (Adliger), Fúnán unterworfen und sein Territorium besetzt (Pelliot 1903: 273-275). Diese Ereignisse erscheinen durch die in K. 1142 referierte Genealogie in einem neuen Licht. Candravarman gehörte durch seinen Vater, einem Angehörigen des Kau!inya-Klans, zu Fúnán, schuf aber durch seine Heirat mit der Enkelin des navarman einen Ausgleich. Als deren Vater wird der Kronprinz (yuvar ja) genannt, womit möglicherweise Bhavavarman II. gemeint ist, der durch die Inschriften K. 79 aus Tà Kev (IC II: 69-72) vom 5. Januar 644 und K. 21 aus Poña Hòr südlich von Tà Kev (IC V: 5-6) vom Mittwoch, dem 24. März 6557bezeugt ist, und der in seiner undatierten Inschrift K. 483 aus Phno Bàyà (die aufgrund von Beschädigungen sehr lückenhaft ist) in Vers 1 „ rkau[]i[n[yas]ya mahi“ (die Hauptfrau des Kau!inya) nennt (IC I: 251-255). Auch diese Inschrift dürfte trotz ihres fragmentarischen Charakters ein Hinweis auf eine Heiratsallianz zwischen Fúnán und Zhnlà sein. Im Vergleich dazu ist die in das epische Zeitalter versetzte Geschichte der Verbindung mit einer Schlangenprinzessin, die von den seefahrenden Cham kolportiert wurde, wohl sekundär, obwohl sich Generationen von Wissenschaftlern mit dieser intensiv beschäftigten und sie mit dem Kau!inya der chinesischen Quellen in Verbindung bringen möchten, dabei zumeist den Pallava-Hintergrund vernachlässigend. Diese Geschichte fand für 300 Jahre keine Erwähnung mehr, bis eine neue Angkor-Dynastie (944-1001) in mehreren Inschriften beanspruchte, von Kau!inya und Som, der Tochter des Soma (und eben nicht der eines Schlangenkönigs) 8 , abzustammen, was nichts anderes bedeuten kann als dass in dieser Familie jene Tradition über Jahrhunderte gepflegt worden war.
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Zur Errechnung dieses Datums siehe Golzio 2012: 219.
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So ist etwa in Vers XVI der Inschrift K. 286 des Tempels von B.ksi akro vom 23. Februar 948 davon die Rede, dass die Könige, beginnend mit König Rudravarman (von F.n.n) von Kau!inya und der Tochter des Soma abstammen (IC IV, 90: rrudravarnman"patipramukhs tata rkau!inyasomaduhit"prabhav k#itndr... ).
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K ALENDER Schon mehrfach wurden in unsere Zeitrechnung umgeformte Daten aus Inschriften genannt, bisweilen sogar mit Angabe des Wochentages. Dies mag verwundern, aber bereits in Indien hatte man das westliche Kalendersystem samt Wochentagen und den sogenannten Tierkreiszeichen übernommen bzw. mit einheimischen Elementen wie den 28 Sternbildern, den sogenannten nak atras oder Mondhäusern kombiniert. Letztere wurden aber dann auf 27 mit einer genau abgegrenzten Gradeinteilung von 13°20' für jedes Sternbild reduziert. Das Vorbild für dieses System außer den nak atras und den später eingeführten Wochentagen war die babylonische Zeitrechnung samt Zodiakalzeichen, die in Indien häufig näher am Original als im europäischen Westen sind (Golzio 2012: 207-208); so heißt z. B. das Zeichen Aquarius in Sanskrit kumbha ((Wasser-) Topf), und Sagittarius dhanus (Bogen). Das babylonische Zeichen su ur-máš (Ziegenfisch) wurde bei den Griechen zu (Capricornus), also zu einem Steinbock, während es im indischen Kulturbereich zu einem Seeungeheuer (makara) wurde. Man folgte in ganz Südostasien außer Vietnam einer in Indien entstandenen Ära, die nach einem nach Indien eingefallenen und dort heimisch gewordenen Volk, den akas (Saken) benannt ist. Diese Ära mit dem Startdatum 78 n. Chr. verbreitete sich zuerst nach Südindien und von dort aus nach Südostasien. Erst in relativ rezenter Zeit wurde sie in den Ländern des Theravda-Buddhismus (Myanmar, Thailand, Laos und Kambodscha) durch die buddhistische Ära abgelöst, die als Ausgangspunkt das Jahr 543 v. Chr. hat, das traditionelle Jahr des Nirva (Todes) des historischen Buddha, das zwar völlig unhistorisch, aber weithin bei den Gläubigen akzeptiert ist. Was bei den Kalenderangaben in Südostasien auffällt, ist die häufig auftretende zusätzliche Nennung der Positionen aller 7 bekannten sogenannten Planeten, während man sich in Indien, wo man durchaus dazu in der Lage gewesen wäre, mit der Nennung der Position von Sonne und Mond in den Daten der Inschriften begnügte. Es wurde also in Südostasien das Kalendersystem Indiens komplett übernommen, aber mit Zusätzen wie in Indonesien, wo dessen 210-Tage-Zyklus mit diesem kombiniert wurde.
B LOSSE N ACHAHMUNGEN ODER T RANSSYNDROME ? Die ältesten epigraphischen Dokumente aus Jawa sind vier Felsinschriften eines Königs P rawarman von Tr managara in West-Jawa, die ebenfalls in Sanskrit verfasst sind und aus der Mitte des 5. Jahrhunderts stammen und sich an
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verschiedenen kleineren Orten befinden (Vogel 1925: 15-35). Auf zwei Inschriftensteinen, dem von Ci Arutan und dem von Jambu, wurden Fußabdrücke eingemeißelt, die laut den Inschriften die des Königs sein sollen, aber doppelt so groß wie normale Füße sind. Die Jambu-Inschrift behauptet, die Füße Prawarmans besäßen die Fähigkeit, feindliche Städte zu zerstören, seien aber loyalen Fürsten gegenüber eine Quelle der Freude. Die andere Inschrift vergleicht die Füße mit denen des Gottes Wiu, während die von Kbon Kopi Fußabdrücke des königlichen Elefanten enthält, der mit Airawata, dem Reittier des Gottes Indra, verglichen wird. In der Inschrift von Tugu schließlich wird von der Aushebung der Kanäle Candrabhg und Gomat im 22. Jahr der Herrschaft des Prawarman berichtet, die die Namen nordindischer Flüsse sind (Chhabra 1965: 96; Sarkar, Corpus I: 5). Auf den ersten Blick scheinen diese Beispiele nicht nur für eine Rezeption, sondern eine komplette Übernahme indischer Kulturgüter im Sinne von völliger Nachahmung zu sprechen, aber ein genaueres Hinschauen lässt doch bereits Unterschiede erkennen. Marijke Klokke (1995: 78) hat etwa darauf hingewiesen, dass kein indischer Herrscher bekannt sei, der seine eigenen Fußabdrücke abbilden und mit denen Wius vergleichen ließ. Möglicherweise wurde durch das Eindrücken des Fußes in den Boden das Besitzrecht auf denselben legitimiert. Jahrhunderte später berichtet das N garakt gama, eine 1365 von dem Hofdichter Prapañca vollendete jawanische Chronik, über die religiösen Praktiken des jawanischen Königs Krtanagara (1268-1292), der als Gottkönig (dewaprabhu) die Erde beschützte und ergeben dem Buddha diente (Kap. XLII und XLIII). Die Besonderheit besteht aber in der Mitteilung, dass er fünf Verhaltensregeln (pañca la) des Buddhismus folgte und an den esoterischen Sinn (adhy- tmaka) aller Riten glaubte und nach der richtigen Weltordnung durch Verehrung, Yoga und Samdhi (Versenkung) suchte, vor allem aber durch das sogenannte Gaacakra. Diese Aussage gibt dem Ganzen einen tantrischen Kontext, denn mit dem Gaacakra sind offensichtlich der Genuss der fünf „M“, d. i. Fleisch (m sa), Fisch (matsya), Alkohol (mada), bestimmte Körner (mudr ) und Geschlechtsverkehr (maithuna) gemeint, so dass pañca la hier auch den Sinn von k mapañcika (fünf Genüsse) haben dürfte. Dies alles findet sich bereits in bestimmten indischen Kontexten. Aber noch zu seinen Lebzeiten ließ er sich laut der Wurare-Inschrift10 vom Mittwoch, dem 21. September 1289, als Mahkobhya (ein kosmischer Buddha) darstellen und gleichzeitig als Jñna iwabajra (Donnerkeil des iwa zur Erkenntnis) bezeichnen (Damais 1990: 137, 243). Nach seinem Tod wurde von ihm nach dem N garakt gama (XLIV, 5) gesagt, er sei im „Reich von iwa und Buddha erlöst worden“ (mokteg iwabuddhaloka), und im Tempel Cai Jawi wurde er als iwa-Buddha
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(iwabuddh rca) beigesetzt (Zoetmulder 1965: 268; Hunter 2007: 41), ein schlagendes Beispiel für den Synkretismus von Buddhismus und Hinduismus in einem speziell jawanischen Kontext, da Grabtempel für Könige in Indien unbekannt sind. Auch sein Nachfolger Krtarjasa, der Gründer des Reiches von Majapahit, wurde nach seinem Tod im Jahre 1309 als Jina (Buddha) in Antapura (im königlichen Palast) und als Harihara („Hara [ iwa], der [auch] Hari [Wiu] ist“) im Grabtempel von Simping verehrt (N garak rt gama XLVII, 3). Die Beschreibung dieses Grabtempels findet sich in derselben Chronik in den Gesängen LXI, 4 – LXII, 1 (Slametmuljana 1976: 52; daselbst, gegenüber Seite 40, ist auch die Harihara-Statue abgebildet).
S CHLUSSBETRACHTUNG Der Begriff des Trans ist – wie zuvor gezeigt – in vielfacher Weise auf den Transfer indischer Kulturgüter nach Südostasien und deren dortige Modifizierung im Zusammentreffen ( M) mit indigenen Vorstellungen nachweisbar. Manches wurde scheinbar unverändert übernommen, aber selbst im Fall der Kalenderrechnung, die sich weitestgehend an astronomischen Gegebenheiten orientieren muss, gibt es die Variationsmöglichkeiten, Zahlen durch Numerale auszudrücken, die nicht immer eindeutig sind, etwa „Auge“ (netra), das normalerweise die Wertigkeit 2 hat, aber auch 3 bedeuten kann, wenn das dritte Auge ivas mitgerechnet wird. Dies ist nur ein Beispiel dafür, dass scheinbar unverrückbare, in Indien geprägte Normen in Südostasien keineswegs immer sklavisch befolgt wurden. So gilt etwa in der Ikonographie als Dogma, dass nur der Gott Viu mit vier Armen dargestellt werden dürfe. Doch gibt es im Bereich des 881/82 geweihten B.ko-Tempels eine Skulpturengruppe, die einen vierarmigen Gott darstellt, der mit seinen Armen zwei ihn flankierende Frauengestalten umfasst (die Köpfe aller drei Figuren sind leider nicht erhalten).In Vers XXIX der Inschrift dieses Tempels (K. 826; IC I:33) ist aber von der Errichtung einer Statue die Rede, die Gott iva beschreibt, wie er mit seinen Armen, die wie Lianen sind, seine Gemahlin Um und die Flussgöttin Gag umfasst. Dies wird im Text als Umgagpatvara bezeichnet und dürfte sich entgegen der Annahme einiger Puristen auf die vorgefundene Skulptur beziehen.
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L ITERATUR Abkürzungen: BEFEO - Bulletin de l’École Française d’Extrême-Orient C. - Camp-Inschriften ÉC - Études Cambodgiennes EI - Epigraphia Indica ESEA - Early South East Asia IC - Inscriptions du Cambodge ISCC - Inscriptions sanscrites de Camp et du Cambodge JA - Journal Asiatique JGIS - Journal of the Greater India Society JSEAS - Journal of Southeast Asian Studies K. - Kambodschanische Inschriften KITLV - Koninklijk Instituut voor Taal-, Land- en Volkenkunde MÉC - Manuel d’épigraphie du Cambodge SII - South Indian Inscriptions ZDMG - Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft Arp, Susmita 2000. Klapni: Zum Streit über die Zulässigkeit von Seereisen im kolonialzeitlichen Indien. Stuttgart: Franz Steiner Verlag (Alt- und NeuIndische Studien: 52). Banerjea, Jtendra Nath 1956. The development of Hindu iconography, Calcutta: Calcutta Univ. Press . Bhat-tacharya, Kamaleswar 1961. Les religions brahmaniques dans l’ancien Cambodge d’après l’épigraphie et l’iconographie, Paris: EFEO (Publ. d l’EFEO. Vol. 49).
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4. Trans-Occupy: Organisation und Kommunikation der Regenschirmbewegung in Hongkong S ANDRA K URFÜRST
Seit der Besetzung der Wall Street in New York im Jahr 2011, ist Occupy1 zu einem globalen Emblem geworden, um weltweit Ungleichheit und Machtdifferentiale zu adressieren. Der Begriff Trans-Occupy konnotiert zum einen den grenzüberschreitenden Transfer der Occupy-Idee, und zum anderen den damit einhergehenden Translationsprozess. Das globale Emblem wird von räumlich und zeitlich situierten Gruppen übernommen, angeeignet und lokal eingebettet. Durch die Sinnstiftung im lokalen Kontext wird Occupy mit Bedeutung, gemeinsamen Ideen und Zielen gefüllt. Der Artikel präsentiert die Entstehung, Organisation und Kommunikation der Occupy-Bewegungen in Nordamerika und Europa und vergleicht diese mit Occupy Central in Hongkong. Während bei den Occupy-Bewegungen in Nordamerika und Europa eine Kapitalismuskritik im Fokus stand, wurde im Falle von Occupy Central die politische Machtfrage gestellt. Diesen unterschiedlichen Zielen und Forderungen wurde mit verschiedenen kommunikativen Praktiken Ausdruck verliehen. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen somit Bedeutungskonstruktionen. Welche Symbole werden in den Protesten verwendet und welche Bedeutungen werden damit transportiert?
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Occupy (von dem lateinischen occupare) heißt so viel wie besetzen, einnehmen.
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C HRONOLOGIE DER O CCUPY -P ROTESTE Am 17. September 2011 marschierten Hunderte von Demonstranten2 durch die Straßen von Manhattan und errichteten schließlich ein Zeltlager an der Wall Street. Die Proteste waren inspiriert von den im selben Jahr vorangegangenen Ereignissen im Nahen Osten. Der sogenannte Arabische Frühling begann in Tunesien und breitete sich von dort schnell in die anderen Länder der arabischen Welt aus. Mit den Protesten verliehen die Bürger ihrer Unzufriedenheit mit der Regierung des Landes Ausdruck. Sie protestierten gegen Arbeitslosigkeit, Korruption, Klientelismus usw. (Castells 2012). Eine neue Qualität kam dieser Forms des Protests vor allem durch die Verwendung digitaler Kommunikationsnetzwerke zu. Insbesondere die Gleichzeitigkeit von persönlicher Kommunikation und Interaktion im städtischen Raum mit digitaler Kommunikation über soziale Medien brachte eine neue Dimension von sozialen Bewegungen hervor. Die Besetzung symbolträchtiger öffentlicher Plätze in den Hauptstädten Tunis, Kairo oder Sanaa wurde über digitale Netzwerke gesteuert und organisiert. Darüber hinaus fanden Debatten im digitalen öffentlichen Raum statt. Der Arabische Frühling etablierte damit die Einnahme und Besetzung symbolischer Plätze als Praktik des Protests. Die Besetzung öffentlichen Raums wurde zum Repertoire der sozialen Bewegung. Der Soziologe Charles Tilly (2004) versteht unter den Repertoires einer sozialen Bewegung, die kommunikativen Praktiken, die eine Bewegung einsetzt, um ihre Forderungen zu artikulieren und visualisieren. Diese kommunikativen Praktiken können z. B. Demonstrationen, Petitionen, sit-ins etc. umfassen. Die Bürger des Nahen Ostens nutzten das Repertoire der Besetzung, um für bessere Lebensumstände und politischen Wandel in ihren Ländern einzutreten. Einige Monate später nahm Occupy Wall Street diese Protest-Praktik auf. Hunderte von Menschen marschierten gemeinsam auf dem Broadway durch Manhattan bis zur Wall Street und forderten der Gier der Großunternehmen ein Ende zu setzen. Als Ausdruck des Protests besetzten ca. 150 Menschen einen privaten Park in der Nähe der Wall Street, den Zucotti-Park. In den ersten zwei Wochen blieben die Forderungen der Demonstranten noch sehr allgemein und vage formuliert. Hartleb (2012: 28) zufolge einten Occupy Wall Street zwei abstrakte Ziele: 1. Die „Aufklärung über das ‚eine Prozent der Bevölkerung‘ – die Korruption und Gier der wirtschaftlichen und politischen Eliten“. 2. Das Verlangen nach einem „anderen Finanzsystems, das dem jetzigen diametral entgegensteht und eine
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Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Beitrag, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
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wahrhaft demokratische, also anarchistische Kultur verkörpert (wie diese aussieht wird nicht näher spezifiziert; es läuft aber auf die Ablehnung von Repräsentation und Elitenbildung in Wirtschaft und Politik hinaus)“. Neben diesen vagen Forderungen zeichnete sich die Occupy-Bewegung dadurch aus, dass keine Führung benannt wurde. Dies diente grade als Zeichen der partizipatorischen Natur der Bewegung. Viele Beobachter sahen bereits den Zerfall der Bewegung vorher, wenn Occupy Wall Street die genannten Forderungen nicht spezifizieren würde, nichtahnend wie lange die Besetzung der Wall Street und die Aufmerksamkeit der Massenmedien anhalten würden. Drei Wochen später hatten die Proteste die Hauptstadt Washington DC sowie weitere Großstädte wie Boston und Chicago erreicht, in denen ebenfalls Protestcamps errichtet wurden. Occupy entwickelte sich zu einer Trans*Amerika-Bewegung und erreichte Anfang Oktober auch die Westküste der USA. Auf dem Pershing Platz von Los Angeles trafen sich hunderte von Bürgern und marschierten gemeinsam zum Rathaus. Die Demonstranten sprachen sich gegen die US-amerikanische Wirtschaftspolitik und soziale Ungleichheit aus. Auch bei den Occupy-Protesten in Los Angeles konnte keine Führung des Protests identifiziert werden (LA Times 2012). Im selben Monat überschritten die Proteste die Landesgrenzen der USA. Am 6. Oktober 2011 fand eine Solidaritätsbekundung von Pensionären und Mitgliedern der Kommunistischen Partei in der chinesischen Stadt Zhengzhou in der Provinz Henan statt (LA Times 2011). Diese Solidaritätsbekundung ist von besonderer Bedeutung, da Occupy in erster Linie als antikapitalistische Bewegung in den Ländern des Globalen Nordens bekannt geworden war und nun Zuspruch durch die Führungselite eines Landes des Globalen Südens erfuhr, das das Modell der sozialistischen Marktwirtschaft verfolgt. Am 15. Oktober fanden schließlich über 1.000 Occupy-Proteste weltweit statt (Juris 2012). In diesem Zuge erreichte Occupy auch Europa. In London versuchten 2.500-3.000 Menschen den Platz vor der Londoner Börse einzunehmen. Von einem Polizeiaufgebot daran gehindert, ließen sie sich letztlich vor der St. Pauls Kathedrale nieder. Zwei Tage später wurde auf diesem Platz ein Protestcamp errichtet. In Deutschland wurde das Finanzzentrum Frankfurt zu einem wichtigen Aushandlungsort. Frankfurt ist Sitz der wichtigsten deutschen und europäischen Finanzinstitutionen wie z. B. der deutschen Wertpapierbörse, der Europäischen Zentralbank sowie den größten Banken Deutschlands. Die sogenannte „Blockupy“Bewegung, ein Zusammenschluss verschiedenster Organisationen, rief zuletzt am 18. März 2015 zur Blockade und Einnahme der Eröffnungsfeier der Europäischen Zentralbank in Frankfurt auf. In Hamburg errichteten die Demonstranten ein Zeltlager gegenüber der HSH Nordbank in der Haupteinkaufsstraße der Stadt.
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Ende Oktober 2011 gingen über 1.200 Menschen in Köln auf die Straße. Die Demonstration begann am Kölner Hauptbahnhof und zog sich über die Bankenmeile Unter Sachsenhausen, das Kommerzzentrum in der Breite- und Ehrenstraße bis hin zum Rudolfplatz, wo die Demonstration mit einer Abschlusskundgebung endete. Vor einigen Banken wurden sit-ins abgehalten. Die Kölner Bürger prangerten die Macht der Banken sowie die zunehmende Ungleichheit in der Gesellschaft an (Kölner Stadtanzeiger 2011). Innerhalb eines Monats hatten sich die Occupy-Proteste auf über 80 Länder und mehr als 900 Städte ausgeweitet (Bennett/Segerberg 2012).
K OMMUNIKATION UND O RGANISATION IN DER O CCUPY - B EWEGUNG In seiner Monographie Networks of Outrage and Hope. Social movements in the Internet age stellt Manuel Castells (2012) die vernetzten sozialen Bewegungen des digitalen Zeitalters wie Occupy als eine neue Art von Bewegung dar. Die Occupy-Bewegung in den USA zeichnete sich vor allem durch die Kombination von persönlicher Kommunikation („face-to-face interaction“) mit digitaler Kommunikation aus. Castells (2012) definiert Kommunikation als Prozess, in dem Bedeutungen durch den Austausch von Informationen geteilt werden. Er bezeichnet digitale Kommunikation als „mass self-communication“ (Castells 2012: 6). Masse, da Nachrichten von vielen an eine Vielzahl von verschiedenen Empfängern gesendet werden und an endlose Netzwerke auf der ganzen Welt anschließbar sind. Als ‚selbst‘ bezeichnet er die autonome Handlung des Senders, eine Nachricht zu verfassen und den Empfänger selber auszuwählen und zu benennen. Auch der Abruf einer Nachricht aus den Kommunikationsnetzwerken ist selbstgesteuert. Grade weil Massenmedien wie Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften oder große Online-Nachrichtenportale zumeist von Regierungen und großen Medienkonzernen gelenkt werden, kann kommunikative Autonomie in erster Linie in digitalen Netzwerken und durch drahtlose Kommunikation entstehen (Castells 2012). Trotz der Relevanz von drahtlosen Netzwerken, betont Castells die Wichtigkeit der Besetzung öffentlicher Räume. Erst durch die physische Anwesenheit kann sich das Kollektiv seiner selbst gewahr werden und ein Gefühl von Gemeinschaft und Zusammenhalt zwischen Individuen geschaffen werden. Der Zugang zu und die Aktivitäten im öffentlichen Raum werden in vielen Städten vom Staat oder großen Finanzinstitutionen kontrolliert. Die Einnahme dieser Plätze stellt somit eine (Wieder-)Aneignung durch die Bevölkerung dar. Indem soziale Bewegungen eine Gemeinschaft auf symboli-
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, schen Plätzen schaffen, entsteht erst ein öffentlicher Raum im Arendt schen Sinne als Raum der Zusammenkunft und politischen Repräsentation (Arendt 1958; Castells 2012; Harvey 2012). Die Occupy-Bewegung zeichnet sich also grade durch das Zusammenspiel von okkupiertem urbanem Raum und digitaler Kommunikation aus. Durch das Zusammenspiel der beiden Räume wird ein neuer Raum, ein „hybrider“ Raum geschaffen. Daraus folgt eine enge Korrelation zwischen Kommunikationsprozess und Organisationsstruktur der sozialen Bewegungen (Castells 2012). Je interaktiver sich Kommunikation gestaltet, desto weniger hierarchisch erscheint auch der Aufbau der Organisation und desto partizipatorischer gestaltet sich die Bewegung. Juris (2012) setzt dem entgegen, dass die Verwendung neuer Medien die Operation von sozialen Bewegungen nicht vollständig verändere, sondern dass die Integration digitaler Medien in bestehende Praktiken von bereits existierenden Gruppen dazu beitrage, neue Formen und Dynamiken von Aktivismus zu verbreiten. Für die Verbreitung und Organisation von Occupy waren insbesondere soziale Medien wie youtube und soziale Netzwerkseiten wie Facebook und Twitter zentral. Die Teilnehmer von Occupy Wall Street produzierten und zirkulierten kontinuierlich Medieninhalte und dokumentierten ihre Aktivitäten und Forderungen auf vielfältigen Plattformen und Kanälen. Um die Präsenz von Occupy in den sozialen Netzwerken beständig auszubauen, gründeten sie Medien-, Presse- und technische Arbeitsgruppen. Einige Arbeitsgruppen wurden von erfahrenen Medienaktivisten unterstützt, die sich zwischen den verschiedenen Netzwerken bewegten (Constanza-Chock 2011). Produkte dieser vielfältigen Aktivitäten sind das 24-Stunden Livestream-Fernsehen Globalrevolution.tv sowie Webseiten wie OccupyTogether.org. Auch bei der Entwicklung und Anwendung dieser Medienformate ist ein Translationsprozess festzustellen, denn viele der verwendeten Kommunikationsstrategien stellen Zitate von vergangenen Protestbewegungen dar. So geht z. B. die Kommunikationsform des Livestreams auf die Antiatom- und Antikriegsdemonstrationen der 1980er und 1990er Jahre zurück. Die Live-Übertragungen der Generalversammlungen und Demonstrationen von Occupy in Städten weltweit erreichte mit 80.000 Zuschauern ihren Höhepunkt (Constanza-Chock 2011). Die regelmäßig im öffentlichen Raum stattfindenden Versammlungen unterlagen einer formalen Konsensbildung, für welche dezidierte Kommunikationsregeln galten. Die Occupy-Bewegung bediente sich unterschiedlicher Handzeichen, die u. a. aus der Gerechtigkeitsbewegung für Menschen mit Behinderungen stammen (Constanza-Chock 2011). Steinberg (2014) zufolge bietet die Verwendung verkörperter semiotischer Ressourcen den Zuhörern die Möglichkeit, aktiv an der Diskussion teilzuhaben ohne eine auditive Kakophonie zu
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schaffen. Für die Generalversammlungen von Occupy Los Angeles (LA) wurden die wichtigsten Handzeichen in einem Handbuch, dem Dummy’s Guide to General Assembly bekannt gegeben. Darunter befindet sich ein Handsignal, welches drei Jahre später auch in der Occupy-Bewegung in Hongkong zentral werden sollte: die Geste der über dem Kopf gekreuzten Arme. In Occupy LA konnotierte diese Geste vehementen Widerspruch gegenüber einem Vorschlag. Galt das Zeichen in den Anfängen von Occupy LA als Ausdruck für die Bereitschaft die Versammlung oder sogar die Bewegung zu verlassen, falls der Vorschlag angenommen werden sollte, so wurde das Zeichen einige Monate später modifiziert und gab dem Ausführenden die Möglichkeit, Gegenrede zu erhalten (Steinberg 2014). Neben diesen Gesten spielten auch linguistische Praktiken eine wesentliche Rolle. Das People’s Mic war zunächst in einigen Lokalitäten eingeführt worden, da die Verwendung von Verstärkern und Lautsprechern im öffentlichen Raum verboten war. Das People’s Mic basiert auf einer Wiederholung des Gesprochenen durch die Menge. Auf großen Versammlungen spricht eine Person in einzelnen Sätzen oder Satzfragmenten. Diese werden dann von der umstehenden Menge wiederholt. Auf diese Weise wird das gesprochene Wort eines Individuums amplifiziert. Das Instrument des People’s Mic geht wiederum zurück auf die Antiatombewegung der 1980er Jahre und die globale Gerechtigkeitsbewegung der 1990er. Es ist ein Zeichen für die partizipative Natur der Bewegung und wurde schnell zum Grundpfeiler der Versammlungen von Occupy. Occupy Wall Street betonte ausdrücklich, dass es sich nicht um eine führerlose, sondern ganz im Gegenteil um eine Bewegung voller Anführenden handelte (Constanza-Chock 2011). Um diesen Anspruch zu wahren, war es nötig ein hohes Maß an Transparenz und Zugänglichkeit zu Informationen zu schaffen.3 So wurden die Mitschriften der Generalversammlungen sowohl online, als auch physisch in der Bibliothek von Occupy Wall Street zugänglich gemacht (Constanza-Chock 2011). Darüber hinaus wurde die Printpublikation Occupied Wall Street Journal herausgegeben. Neben diesen bewährten Kommunikationsformen setzte die Bewegung auch auf innovative Formate wie autonome Medienplattformen (Occupy.net) oder Wikis, online editierbare Webseiten. 4
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Dieser Anspruch sollte sich in der Organisations- und Kommunikationsform über digitale Netzwerke manifestieren. Constanza-Chock (2011) weist jedoch darauf hin, dass strukturelle Ungleichheiten wie Klasse, Ethnizität oder Gender in digitalen Medien reproduziert werden.
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In einem Wiki können die Nutzer Wissen und Erfahrungen zu einem Thema gemeinsam zusammentragen.
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Folglich wurde die transmediale (Jenkins 2008) Mobilisierung über digitale und analoge Medien ein wichtiger Bestandteil der Occupy-Bewegung.
P ERSÖNLICHE H ANDLUNGSRAHMEN Den vernetzten Bewegungen des digitalen Zeitalters wie dem Arabischen Frühling und Occupy gelang es innerhalb kürzester Zeit die Massen zu mobilisieren. Wie konnte dies gelingen? Eine wesentliche Prämisse für die Mobilisierung der Massen ist die Herstellung einer Verbindung zwischen den übergeordneten gesellschaftlichen Forderungen und dem Individuum. Dies geschieht Bennett und Segerberg (2012: 744) zufolge über sogenannte „personal action frames“. Persönliche Handlungsrahmen stellen eine Verbindung zwischen der Bewegung und dem Individuum her, indem sie Themen ansprechen, die das persönliche Alltagsleben betreffen. Wichtig ist hier die Herstellung von Emotionalität, so dass sich das Individuum mit den Zielen der Bewegung identifizieren kann. Den Ausgangspunkt für eine soziale Bewegung und somit die Basis für gemeinsames Handeln bildet die Umwandlung von Gefühlen in Aktionen. Persönliche Handlungsrahmen können nicht von alleine zirkulieren und auf andere Gruppen und Individuen ausgeweitet werden. Sie werden im Rahmen eines interaktiven Prozesses von Personalisierung und Teilen beständig (weiter) entwikkelt und zirkuliert (Bennett/Segerberg 2012; Castells 2012). Ein Beispiel für einen personalisierten Handlungsrahmen stellt der Slogan „We are the 99%“ dar, welcher zum Slogan zunächst von Occupy Wall Street und später weiteren Occupy-Bewegungen wurde. Mit der Selbstbezeichnung als 99% distanzierten sich die Demonstranten von den Reichsten 1% der Amerikaner. Mit diesem Slogan konnten sich weltweit viele Menschen, die sich von sozioökonomischer Ungleichheit betroffen sahen, identifizieren. Slogans sind Symbole, die die Identifikation des Individuums mit der Bewegung ermöglichen können.
S YMBOLIK VON O CCUPY W ALL S TREET In seinem Werk Einführung in die Semiotik differenziert Umberto Eco (1972) zwischen den drei Termini Signifikans, Referens und Signifikat. Das Signifikans ist in Ecos Definition gleich dem Symbol. Das Referens stellt das Objekt eines Zeichens dar. Das Signifikat eines Ausdrucks stellt eine kulturelle Einheit dar. Es kann nur durch den Kontext und den Kommunikationsumstand bestimmt werden (Eco 1972). Auf Basis dieser Kategorien erfolgt nun eine semiotische Untersuchung der in den Occupy-Bewegungen verwendeten Symbolik.
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Ein zentrales Symbol der Occupy Wall Street Bewegung ist die Guy Fawkes Maske aus dem Komik und gleichnamigen Film V for Vendetta. Die ZeichenObjekt Beziehung erfolgt hier transmedial. In der in den 1980er Jahren veröffentlichten Graphic Novel verwendet der unter dem Namen V bekannt gewordene Protagonist die Maske der historischen Figur Guy Fawkes, um gegen ein totalitäres Regime im fiktiven England gegen Ende des 20. Jahrhunderts vorzugehen. Gleich der historischen Figur Guy Fawkes, der 1605 ein Sprengstoffattentat auf das englische Parlament auszuüben suchte, nimmt V die Sprengung des britischen Parlamentsgebäudes vor. Im gleichnamigen Kinofilm von 2006 kämpft der Protagonist V ebenfalls gegen ein faschistisches Regime an. Im Film nutzen die Bürger das Konterfei des Helden V als Maske, um im Schutze der Anonymität gegen das Regime zu demonstrieren. Das Hacker-Kollektiv Anonymous übernahm das Signifikans der Maske und die Signifikate 1. der Schaffung von Anonymität und 2. des Ausdrucks des Widerstands und setzte die auf die Figur des Protagonisten zurückgehende Maske, also das Referens, aus der Graphic Novel und dem Film schließlich in ihren Protesten im öffentlichen Raum ein. Anonymous hatte grade in den Anfängen von Occupy Wall Street dazu beigetragen, die Bewegung bekannt zu machen. So erhielten auch die von ihnen verwendeten Masken Einzug in die Bewegung. Das Beispiel der Guy–Fawkes–Maske zeigt, wie ein Signifikans, hier das Symbol der Maske, diverse Signifikate, abhängig vom Kommunikationskontext, konnotieren kann (Eco 1972). Die Symbolik von Occupy Wall Street beruhte sehr stark auf Farben und schriftlichen Zeichen. Individuen und/oder Gruppen hielten auf Demonstrationen und in den besetzten Parks immer wieder selbstgeschriebene oder bedruckte Schilder hoch. Die Banner mit der Aufschrift „Occupy Wall St.“ Oder „We are the 99%“ waren oft in den Farben gelb und schwarz gehalten. Die offizielle Facebook-Seite von Occupy Wall Street zeigt eine zum Betrachter hin geballte Faust, ebenfalls ein Signifkans mit diversen Signifikaten, das bereits von anderen Bewegungen sehr vielseitig eingesetzt wurde (von asiatischen Kampfsportarten, über die Frauenrechtsbewegung bis hin zur Black Panther Bewegung in den USA).
O CCUPY C ENTRAL WITH L OVE AND P EACE , H ONGKONG Im Jahr 2014, als die Occupy-Bewegungen andernorts bereits abgeebbt waren, kam es zu Occupy-Protesten in Hongkong. Im Unterschied zu den OccupyBewegungen in Europa wurde hier von den Demonstranten zwar die Praktik der Okkupierung, jedoch nicht die Symbolik der Guy–Fawkes–Masken oder des
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Slogans „We are the 99%“ übernommen. Die ausschließliche Übernahme der Praktik lässt bereits auf den differierenden, lokal konstituierten Bedeutungszusammenhang der Proteste in Hongkong schließen. Zwar adressierten die Bürger Hongkongs auch soziale Ungleichheit im generellen, was auch durch die große Teilnahme von Jugendlichen an den Protesten deutlich wurde. Im speziellen forderten die Demonstranten jedoch ihr Recht auf allgemeine und freie Direktwahlen des Hongkonger Regierungschefs (Chief Executive) ein, das ihnen laut der Verfassung Hongkongs, dem Basic Law, für die Wahlen in 2017 zusteht. Hongkong war im Jahr 1997 von Großbritannien an die Volksrepublik China übergeben worden und ist seitdem eine Sonderverwaltungszone Chinas. Die Integration des Stadtstaates in die Volksrepublik erfolgte unter dem Leitmotiv „ein Land, zwei Systeme“, womit Peking Hongkong deutliche demokratische Zugeständnisse einräumte. Auslöser für die Proteste war die Ankündigung der Regierung in Peking im September 2014 gewesen, ein Nominierungskomittee für die Wahl des Kandidaten für das Amt des Regierungschefs einzuberufen. Entscheidungskriterien für die Aufstellung der Kandidierenden sollten Vertrauen und Liebe für das Heimatland (China) sein (Luk 2014). Die Ankündigung kam zu einem symbolischen Zeitpunkt, drei Monate nach dem 25. Gedenktag an das Tiananmen-Massaker und zwei Monate nach dem Jubiläum der Übergabe Hongkongs an China (Schucher/Holbig 2014). Während also in den Occupy-Bewegungen Nordamerikas und Europas eine Kapitalismuskritik im Vordergrund stand, wurde im Rahmen von Occupy Central in Hongkong die politische Machtfrage gestellt. Im Falle der ersten richteten sich die Forderungen der Demonstranten an eine undefinierte Zahl von Finanzinstitutionen und Großunternehmen und zu Teilen auch an die nationalen Regierungen, die aufgefordert wurden, die Operationen genau dieser Konzerne stärker zu regulieren. Im Falle von Occupy Central gab es jedoch klare Adressaten der Demonstrationen, nämlich sowohl die Regierung in Peking, als auch in Hongkong. Der derzeitige Regierungschef von Hongkong, Leung Chun-Ying, gilt als ein starker Unterstützer der Politik Pekings. Die seit März 2013 bestehende Vereinigung Occupy Central with Love and Peace, die sich als eine Bewegung des zivilen Ungehorsams versteht, hatte zunächst Proteste für den 1. Oktober 2014, den chinesischen Nationalfeiertag, in Hongkongs Finanz- und Wirtschaftszentrum, genannt Central, vorgesehen. Als Reaktion auf die Ankündigung Pekings besetzten die Bürger jedoch bereits in den Tagen ab dem 24. September 2014 zunächst den Tamar Park auf Hongkong Island und zogen von dort in Richtung Central weiter. Tamar Park ist eine Grünanlage in Mitten des Hongkonger Regierungsbezirks. Der Park ist umgeben von Gebäuden, die das Büro des Regierungschefs, den Legislativrat und das
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Zentrale Regierungsbüro beherbergen. Die Besetzung dieses Parks stellt bereits einen symbolischen Akt dar. Anders als in vielen westlichen Großstädten, darf man in den meisten Parks in Hongkong nicht auf der Wiese sitzen. Generell ist die Nutzung öffentlicher Plätze auf das strengste reguliert. Überall befinden sich Verbotsschilder für diverse Aktivitäten, wie Ball spielen, Skateboard fahren, Wäsche trocknen, auf Bänken liegen etc. Grade vor diesem Hintergrund ist bereits die Praktik des Okkupierens in Mitten des Regierungsbezirks als hoch politisch zu bewerten. Die Proteste wurden zum Großteil von Studierenden getragen, die am 24. September 2014 den Park einnahmen und Informationsstände und Diskussionsforen in verschiedenen Ecken des Parks einrichteten. Passanten wurden eingeladen, an den Diskussionen teilzunehmen und ihre Wünsche und Forderungen auf einem großen schwarzen auf dem Rasen ausgelegten Banner festzuhalten. Der Protest zeichnete sich zudem durch seinen hohen Grad an Organisation aus. Für die ersten vier Tage der Okkupierung gaben Zeitpläne auf Englisch und Chinesisch Auskunft über die diversen geplanten Aktivitäten. Auf dem Weg von der Metrostation Admiralty zum Tamar Park verteilten Studierende Flugblätter mit Informationen zum freien allgemeinen Wahlrecht und dessen geplante Beschränkung durch die Regierung in Peking. Für den Nachmittag des 24. September war ein Protestmarsch der Demonstranten von Tamar nach Central geplant. Ab Ende September wurden diverse Camps in der ganzen Stadt, insbesondere auf Hongkong Island in den Vierteln Admiralty und Causeway Bay eingerichtet. In dem dem Festland zugewandten Stadtteil von Kowloon wurde der Bahnhof von Mongkok, ein zentraler Verkehrsknotenpunkt für den öffentlichen Verkehr in Hongkong, von Demonstranten eingenommen. Die Metro konnte tagelang nicht operieren, was den Alltag Tausender Hongkonger, die tagtäglich vom Norden der Stadt nach Hongkong Island oder Kowloon zur Arbeit oder Universität pendeln, erheblich beeinträchtigte. Auch aufgrund von Hongkongs Stellung als Stadtstaat hatten die Proteste eine größere Reichweite, längere Dauer und somit weitreichendere Konsequenzen für das Alltagsleben der Stadtbewohner als in New York, London oder Köln, wo nur an wenigen Tagen einzelne Stadtteile von den Protesten betroffen waren.
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S YMBOLIK VON O CCUPY C ENTRAL Sinnstiftung und Bedeutungskonstruktionen finden im lokalen Kontext statt. Der lokale Kontext wird nicht alleine von der geographischen Lage der Protestbewegung bestimmt, sondern ist vielmehr als sozialräumliche Geographie zu verstehen, die mit einem bestimmten politisch-institutionellen Gefüge gefüllt und von sozialen Gruppen konstruiert wird. Vor diesem Hintergrund ist die Übernahme der kommunikativen Praktik der Okkupierung und deren Einbettung in den lokalen Bedeutungszusammenhang zu verstehen. Auf dem Weg von der Metrostation Admiralty zum Tamar Park händigten Demonstranten gelbe Anstecker mit einer gelben Schleife aus. Form und Funktion erinnern an die roten Schleifen, die am Welt-Aids-Tag, dem 1. Dezember, gegen eine kleine Spende auch in deutschen Städten ausgeteilt werden. Das Aufgreifen der Farbe Gelb lässt zunächst auf ein Zitat von Occupy Wall Street schließen. Doch in Hongkong ist eine historisch noch tiefergehende Referenz festzustellen, denn die Farbe Gelb wurde u. a. in Anlehnung an vorangegangene Wahlrechts-Bewegungen5, vor allem in den USA, inszeniert (Wen 2014). Die gelbe Schleife kann als ein persönlicher Handlungsrahmen von Occupy Central gedeutet werden, da sie zum Symbol der Solidarität mit den Demonstranten wurde. Das materielle Objekt des Ansteckers wurde zugleich in ein immaterielles Zeichen im digitalen Raum transformiert. Nutzer von Twitter und Facebook änderten ihr Profilbild in eine gelbe Schleife. Die Schleife wurde bald auch von den Opponenten von Occupy Central zu einem Gegensymbol umgedeutet. Im Zuge der Besetzung tauchten blaue und grüne Schleifen auf. Blau ist die Farbe der Hongkonger Polizei. Die blaue Schleife wurde vor allem von den Bürgern genutzt, die sich durch die anhaltende Besetzung von Verkehrsknotenpunkten und Hauptstraßen in der Stadt gestört fühlten und die ökonomischen Folgen der Proteste fürchteten. Insbesondere der Tourismussektor musste Einbußen verzeichnen, da am 1. Oktober, dem chinesischen Nationalfeiertag, üblicherweise Tausende von chinesischen Touristen vom Festland nach Hongkong strömen um dort einzukaufen. Die Regierung in Peking hatte jedoch angesichts der Proteste ein Einreiseverbot für Hongkong verhängt. Die grüne Schleife hingegen wurde zum Symbol der sogenannten Protect Central-Gruppe. Die Gruppe war von Junios Ho, einem Hongkonger Rechtsanwalt, der 2012 auch für einen Sitz im Legislativrat kandidiert hatte, gegründet worden. Trotz der vom Gründer betonten prodemokratischen Ausrichtung der Gruppe, hatte sie die
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Als Beispiel ist hier vor allem die Frauenwahlrechtsbewegung in den USA in den 1860er Jahren zu nennen.
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Beendigung der Okkupierung und die Initiierung eines Dialogs zwischen der Regierung und dem Volk zum Ziel (CNN 2014).
S YMBOLIK DES S CHUTZES Am 27./28. September 2014 eskalierten die Proteste und es kam zur offenen Konfrontation zwischen Demonstranten und der Hongkonger Polizei. Die Polizei setzte Tränengas und Pfefferspray ein, um die Massen-sit-ins außerhalb der Regierungsgebäude aufzulösen (BBC 2014). Zum Schutz gegen die Angriffe der Polizei, setzten die Protestierenden Mundschutz und Regenschirme ein. Der Mundschutz ist seit dem Ausbruch der Atemwegserkrankung Severe Acute Respiratory Syndrome (SARS) in Hongkong im Jahr 2002 ein Alltagsgegenstand, den viele Hongkonger ständig mit sich führen. Der Mundschutz wird vor allem bei der Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln getragen, um sich selber und andere vor Ansteckung zu schützen. In der Eskalation der Proteste bekam der Mundschutz neben seiner Gebrauchsfunktion als vor Krankheit schützendem Objekt, eine weitere symbolisch-kommunikative Funktion (Eco 1972), indem er zum Schutz gegen die Staatsgewalt eingesetzt und zu einem weiteren Symbol von Occupy Central wurde. Neben dem Mundschutz war der Regenschirm ein weiterer wichtiger Alltagsgegenstand, der in ein Symbol transformiert wurde. Regenschirme, die während der im September herrschenden Monsunzeit ebenfalls von vielen Bürgern mitgenommen werden, wurden zum Schutz gegen die Tränengas- und Pfeffersprayattacken durch die Polizei eingesetzt. Die Medien erklärten Occupy Central in der Folge zur sogenannten „Regenschirmbewegung“ (Umbrella Revolution). In der Berichterstattung über Occupy Central waren häufig hunderte von bunten Regenschirmen zu sehen. Der Alltagsgegenstand des Regenschirms fand, wie das Symbol der Schleife, auch sehr schnell Eingang in die sozialen Netzwerke. Viele Nutzer von sozialen Netzwerkseiten wie Facebook und Twitter änderten ihr Profilbild in einen Regenschirm. Das Signifikans des Regenschirms und des Mundschutzes konnotierte somit die Protektion der Demonstranten gegenüber der Polizei und wurde damit zum Symbol einer ganzen Bewegung. Der hier erfolgte Translationsprozess beinhaltete die Übersetzung eines materiellen Objektes in ein immaterielles Zeichen, welches als Symbol für die Bewegung steht.
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M EME Eine weitere Kommunikationspraktik im digitalen Raum sind Meme. Bennett und Segerberg (2012: 745) definieren ein Mem als „symbolic packet that travels easily across large and diverse populations because it is easy to imitate, adapt personally, and share broadly with others“. Ikonische Zeichen können so z. B. zum Mem einer Bewegung werden. Ein bekanntes Mem, welches von Occupy Central verwendet wurde, war die Darstellung des Hongkonger Regierungschefs Leung als Teufel oder Vampir. Diese Bilder wurden sowohl im urbanen Raum, als auch im Internet zirkuliert. Bereits vor dem Beginn der Besetzung der Straßen von Hongkong war Leung von seinen politischen Widersachern als Wolf bezeichnet worden. Nachdem ein Mitglied der Partei League of Social Democrats einen Kuscheltier-Wolf während einer Sitzung nach ihm geschmissen hatte, erreichte das, von IKEA produzierte und Lufsig genannte, Spielzeug Berühmtheit (Coleman 2014). In wenigen Tagen war Lufsig bei IKEA ausverkauft, während im Internet Fotomontagen des Spielzeugwolfs mit dem Kopf des Regierungschefs kursierten. Meme dienen somit als Vehikel der Übersetzung. Die Gebrauchsfunktion eines Stofftieres mag zunächst klar als Kuscheltier erscheinen. Doch die Konnotation, die symbolisch-kommunikative Funktion, des Gegenstands erschließt sich erst im lokalen Bedeutungszusammenhang. Um das Mem des Lufsig-Wolfs deuten zu können, bedurfte es des Wissens über die Assoziation des Regierungschefs mit einem Wolf sowie über die aktuelle politische Situation in Hongkong.
V ERBALE UND N ONVERBALE K OMMUNIKATION In der Auseinandersetzung mit der Polizei wurden auch nonverbale Kommunikationsformen wie z. B. Gesten wichtig. Immer wieder kreuzten Demonstranten ihre Arme über dem Kopf. Diese Geste wurde wie oben bereits beschrieben in den Generalversammlungen von Occupy LA als Zeichen des Widerspruchs verwendet. In Hongkong signalisierte das Kreuzen der Arme zum einen die Gewaltlosigkeit des Protests. Die Sichtbarmachung der Hände zeigte der Polizei, dass die Demonstranten keine Waffen bei sich trugen. Zum anderen konnotierte diese Geste die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Performanz der aktuellen Regierung. Auch hier liegt wiederum ein Translationsprozess vor. Die Handgeste war bereits einige Jahre zuvor von der Hongkonger Studentengruppe Scholarism etabliert worden. Sie hatte die Geste genutzt, um ihrem Unmut über
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den Plan der Regierung, chinesische Patriotismusklassen zum Pflichtteil des Curriculums in Schulen zu machen, Ausdruck zu verleihen (Coleman 2014). Auch verbale Kommunikation, in Form von Liedern, wurde zu einem wichtigen Bestandteil der Bewegung. Auf den Straßen fanden sich immer wieder Gruppen von Menschen, die gemeinsam Lieder sangen. Ein beliebtes Lied war „Under a Vast Sky“ von der Kanto-Rock Band Beyond, das bereits 1993 erschienen war. Der Liedtext thematisiert das Verlangen nach Freiheit. Weitere Lieder, die oft zu hören waren, waren „Do You Hear the People Sing?“ aus dem Musical Les Miserables und „Imagine“ von John Lennon. Die Liedtexte wurden auf Banner geschrieben und über den Straßen angebracht (Coleman 2014).
K ONKLUSION Der Artikel diskutierte anhand der Occupy-Bewegungen in Nordamerika, Europa und Hongkong die Aneignung von Praktiken und Symbolen, die an anderen Orten in der Welt etabliert wurden, und deren Transfer und Einbettung in lokale Bedeutungszusammenhänge. Insbesondere durch den Fortschritt in der Kommunikationstechnologie werden Zeichen und Objekte zunehmend öffentlich gemacht und global zirkuliert. Der Slogan „Hongkong stay strong“, ein zentrales Symbol von Occupy Central, wurde so z. B. von Demonstranten in Ferguson, Missouri aufgenommen. Im August 2014 war dort der unbewaffnete afroamerikanische Jugendliche Mike Brown von einem Polizisten erschossen worden. Seitdem fanden in Ferguson regelmäßig Proteste statt, die sich gegen die rassistisch motivierte Diskriminierung der afroamerikanischen Bevölkerung der USA zur Wehr setzten. Als die Proteste in Hongkong eskalierten, hielten am 29. September 2014 Demonstranten in Ferguson Banner mit den Worten „Hongkong stay strong“ auf Englisch und Chinesisch hoch (Wills 2014). Auf diese Weise erklärten sich Bürger in den USA mit einem anderen Ziel, solidarisch mit einer Protestbewegung am anderen Ende der Welt. Auch in Köln tauchten im Jahr 2014 Graffitis auf einem nahe der Uni gelegenen Bauzaun auf, die das Symbol des Protestes, den Regenschirm, begleitet von den Worten „Free China“ zitierten. Diese Beispiele verdeutlichen die Translationsprozesse, die durch das Aufgreifen von Praktiken und Symbolen von lokal situierten Gruppen aus anderen Kulturen und Gesellschaften über politische, kulturelle und soziale Grenzen hinweg erfolgen können. Wie diese Zeichen letztendlich von den Empfängern interpretiert werden, ist abhängig vom jeweiligen Kommunikationskontext und den Bedingungen der Kommunikation. Signifikate, die
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zugeschriebene Bedeutung, sind kulturelle Einheiten, die von sozialen Gruppen konstituiert werden.
Abbildung 1: Versammlung im Tamar Park, 24.09.2014
Quelle: Sandra Kurfürst (2014)
Abbildung 2: Banner zum Ausdruck von Forderungen und Wünschen an die Regierung, Tamar Park, 24.09.2014
Quelle: Sandra Kurfürst (2014)
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L ITERATUR Arendt, Hannah (1958): The Human Condition, Chicago: University of Chicago Press. BBC (2014): Hong Kong: Tear gas and clashes at democracy protest, [online] http://www.bbc.com/news/world-asia-china-29398962 [29.06.2016]. Bennett, W.L. und A. Segerberg (2012): „The logic of connective action“, in: Information, Communication & Society 15 (5), S. 739–768. Castells, Manuel (2012): Networks of Outrage and Hope. Social movements in the Internet age, Cambridge: Polity Press. CNN (2014) Interview with Junios Ho. 3 October 2014. [TV] Coleman, Jasmine (2014): Hong Kong protests: The symbols and songs explained, [online] http://www.bbc.com/news/world-asia-china-29473974 [25.05.2015]. Costanza-Chock, S. (2012): „Mic Check! Media Cultures and the Occupy Movement“, in: Social Movement Studies 11 (3-4), S. 375–385. Eco, Umberto (1972): Einführung in die Semiotik, München: Wilhelm Fink Verlag. Hartleb, Florian (2012): Die Occupy-Bewegung. Globalisierungskritik in neuer Maskerade, Sankt Augustin/Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Harvey, David (2012): Rebel Cities, London: Verso Books. Jenkins, Henry (2008): Convergence Culture. Where old and new media collide. Updated and with a new afterword, New York: New York University Press. Juris, Jeffrey S. (2012): „Reflections on #Occupy Everywhere. Social media, public space and emerging logics of aggregation“, in: American Ethnologist 39 (2), S. 259-279. Kölner Stadtanzeiger 22.10.2011 Occupy Cologne. Protestzug durchs Bankenviertel, [online] http://www.ksta.de/koeln/occupy-cologne-protestzug-durchsbankenviertel,15187530,12045128.html [29.06.2016]. Los Angeles Times (2011): Chinese leaders grow nervous about Occupy Wall Street, [online] http://latimesblogs.latimes.com/world_now/2011/10/beijinggrows-nervous-about-occupy-wall-street.html [29.06.2016]. Los Angeles Times (2012): Timeline. Occupy Wall Street, [online] http://timelines.latimes.com/occupy-wall-street-movement/ [29.06.2016]. Luk, Eddie (2014): „Change ruled out as Xi opens up on ties“, in: The Standard vom 23.09.2014, S. 4. Schucher, Günther und Heike Holbig (2014): „Occupy in Hongkong. Entwicklung einer neuen Jugendprotestkultur“, in: GIGA Fokus Asien 10, S. 1-7.
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II. Transformation: Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur
5. „Transforming Borneo“: Ökologische, wirtschaftliche und soziale Wandelprozesse in Indonesien M ICHAELA H AUG
E INLEITUNG Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte lässt sich disziplinübergreifend das sogenannte Trans-Syndrom beobachten: etablierte Fachbegriffe werden durch das Voranstellen des Präfixes trans inhaltlich neu gefasst und mit neuen Bedeutungen versehen (Weichhart 2010: 48). Peter Weichhart vertritt die These, „[…] dass Trans-Begriffe einen Versuch darstellen, mit der zunehmenden Unübersichtlichkeit, Ambivalenz und Kontingenz unserer Wahrnehmung dieser Welt zurande zu kommen. […] Wenn das Netzwerk unserer überkommenen Begriffswelt nicht mehr ausreicht, die zunehmende Komplexität der von uns wahrgenommenen Struktur jener kognitiven Konstrukte aufzufangen, die wir „die Welt“ nennen, dann müssen wir neue Maschen der Begrifflichkeit konstruieren, welche diese Aufgabe – vielleicht – bewältigen können.“ (Weichhart 2010: 66)
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit ökologischen, ökonomischen und sozialen Wandelprozessen auf Borneo, die zunehmend als „Transformation“ beschrieben werden. Das zunehmende Eindringen globaler Märkte in die ländlichen Räume Südostasiens hat weitreichende Veränderungen der Umwelt und der Lebensbedingungen der lokalen Bevölkerung zur Folge. So sind zum Beispiel große Teile der Regenwälder Indonesiens im Laufe der letzten Dekaden durch den kommerziellen Holzeinschlag, die expandierende Bergbauindustrie und die Ausweitung der kommerziellen Landwirtschaft zerstört worden. Nach Angaben der Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) hat Indonesien zwischen 1990 und 2010 im Durchschnitt 1,2 Millionen Hektar Wald
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pro Jahr verloren (FAO 2010). Besonders greifbar wird der Waldverlust und damit verbundene Umweltveränderungen auf der Insel Borneo, die als ein Zentrum dieser Wandelprozesse angesehen werden kann: „Located at the heart of Southeast Asia, they [the territories and peoples of Borneo] have become increasingly involved in key processes of change that have engulfed the region – they are in the eye of the storm, so to speak“ (De Koninck et al. 2011: 24). Dieser rapide Wandel der Wälder und Gesellschaften Borneos wird seit den 1990er Jahren zunehmend als Transition oder Transformation bezeichnet (vgl. Padoch/Peluso 1996; Brookfield/Byron/Potter 1995; Padoch et al. 1998). Ein besonders schönes Beispiel dafür ist der rezente Sammelband Borneo Transformed von De Koninck et al. (2011), der die Expansion der kommerziellen Landwirtschaft auf Borneo untersucht Bei der Verwendung des Begriffs der Transformation geht es in diesem Kontext nicht darum, einen etablierten Fachbegriff durch das Voranstellen des Präfixes trans inhaltlich neu zu fassen. Vielmehr stellt die zunehmend bevorzugte Verwendung des Begriffs Transformation meiner Ansicht nach den Versuch dar, die rapide Geschwindigkeit und die extreme Dimension des Wandels zum Ausdruck zu bringen. Der Begriff der Transformation – so empfinde ich es auch in meiner eigenen Verwendung des Begriffes – bringt die enorme Tragweite und die immer deutlich werdende Irreversibilität der Umweltveränderungen auf Borneo deutlicher zum Ausdruck. In einigen Regionen der Insel sind Entwaldung und Umweltverschmutzung inzwischen so weit vorangeschritten, dass traditionelle Ressourcennutzungsmuster der indigenen Bevölkerung nicht mehr an die veränderten Bedingungen angepasst werden können. Die Menschen in diesen Regionen stehen somit vor der Herausforderung, die Strategien zur Sicherung ihres Lebensunterhalts komplett umorientieren zu müssen (Höing und Radjawali forthcoming). Die Wahl des Begriffes Transformation deutet damit hier auf „Brüche und Verwerfungen hin, die sich […] aus der Wahrnehmung aktueller gesellschaftlicher Problemlagen und Entwicklungsprozesse […] ergeben“ (Weichhart 2010: 48). Der Neuigkeitsanspruch, der für das Trans-Syndrom charakteristisch ist (Weichhart 2010: 61), bezieht sich in diesem Fall also nicht auf ein neues Phänomen, das erfasst werden soll, sondern um die Erfassung einer bisher nicht dagewesenen Qualität und Intensität eines bekannten Phänomens. Politisch ist die Insel Borneo in drei Gebiete unterteilt. Die ehemaligen britischen Kronkolonien Sarawak und Sabah im Norden und Nordwesten der Insel gehören zu Malaysia. Das Sultanat Brunei Darussalam befindet sich ebenfalls an der Nordküste. Der als Kalimantan bezeichnete südliche Hauptteil der Insel, der ehemals unter niederländischer Kolonialverwaltung stand, gehört
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zum Staatsgebiet von Indonesien. Mein Beitrag gibt zunächst einen Überblick über die Ausmaße und Ursachen der Entwaldung auf Borneo bevor die Auswirkungen auf die indigene Bevölkerung genauer erläutert werden. Mein Fokus liegt dabei auf der indonesischen Provinz Ost-Kalimantan. Anhand einer kurzen ethnographischen Beschreibung des Dorfes Muara Nayan werden die weitreichenden ökologischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen auf Borneo verdeutlicht. Die hier präsentierten Daten wurden während einer zweiundzwanzig Monate umfassenden Feldforschung in Ost-Kalimantan, Indonesien zwischen 2004 und 20071 gesammelt und durch Einsichten von zwei kürzeren Feldaufenthalten in den Jahren 2009 und 2011 ergänzt. Meine Forschungsmethoden umfassten verschiedene qualitative und quantitative Methoden, wie zum Beispiel teilnehmende Beobachtung, formale und informale Interviews, ein Wellbeing-Survey und zwei umfangreiche Haushaltsbefragungen (vgl. Haug 2010).
U MWELTVERÄNDERUNGEN AUF B ORNEO Die Wälder Borneos werden häufig als „unberührte Natur“ dargestellt. Diese Darstellung ignoriert jedoch die lange und intensiv miteinander verwobene Geschichte von ökologischem und kulturellem Wandel. Die Wälder Borneos sind seit vielen tausend Jahren Lebensraum von Menschen und ihre heutige Erscheinungsform ist das Ergebnis vielfältiger Mensch-Wald Interaktionen (Cleary/Eaton 1992; King 1993; Brookfield/Byron/Potter 1995; Padoch/Peluso 1996). Die gegenwärtigen Umweltveränderungen stellen somit kein Novum dar. Allerdings haben diese Veränderungen seit Beginn der sogenannten Neuen Ordnung unter Präsident Suharto Ende der 1960er Jahre eine zuvor noch nicht dagewesene Geschwindigkeit und Intensität angenommen. Anna Tsing beschreibt diese extreme Beschleunigung der Umweltveränderungen als schockierend und unerwartet:
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Meine Feldforschung in Ost-Kalimantan (2004-2007) war ein integraler Bestandteil des CIFOR-BMZ Projektes „Making Local Government More Responsive to the Poor: Developing Indicators and Tools to Support Sustainable Livelihood under Decentralization“, das die Auswirkungen von Dezentralisierungsreformen auf das Wellbeing von waldabhängigen Gemeinden in Indonesien und Bolivien erforscht hat. Finanziert wurde das Projekt vom BMZ und ausgeführt vom Centre for International Forestry Research (CIFOR) in Zusammenarbeit mit der Universität Freiburg.
120 | M ICHAELA H AUG „Something shocking began to happen in Indonesia’s rainforests during the last decades of the twentieth century: Species diversities that had taken millions of years to assemble we cleared, burned, and sacrificed to erosion. The speed of landscape transformation took observers by surprise.“ (Tsing 2005: 2)
Im Namen von Entwicklung und Wirtschaftswachstum intensivierte der Staat während der Neuen Ordnung die Kontrolle über Land und natürliche Ressourcen und förderte ihre Ausbeutung durch private Investoren aus dem In- und Ausland (Thorburn 2004: 37; Lucas/Warren 2000: 222). Traditionelle Landrechte der indigenen Bevölkerung wurden hingegen stark limitiert und Millionen von Hektar Wald, Waldgärten und Felder unter traditionellem Individual- und Kommunalbesitz wurden zum Einschlag an Holzfirmen vergeben oder für die Expansion der kommerziellen Landschaft gerodet. Zwischen 1985 und 2005 hat Borneo durchschnittlich 850.000 ha Wald im Jahr verloren und Umweltschutzorganisationen prognostizieren, dass die Waldbedeckung im Jahr 2020 auf weniger als ein Drittel reduziert sein wird (WWF 2005). Viele unterschiedliche Faktoren tragen zur der rasch voranschreitenden Entwaldung in Indonesien bei. Von zentraler Bedeutung für die Region Ost-Kalimantan sind der kommerzielle Holzeinschlag, die Expansion der Palmölindustrie, die Kohleförderung und großflächige Waldbrände (vgl. Haug 2015a). Während der Neuen Ordnung breitete sich der kommerzielle Holzeinschlag von Java auf die äußeren Inseln Indonesiens, und damit auch nach Borneo, aus. In den 1970er Jahren war die zentrale Methode des Holzeinschlags der sogenannte banjir kap. Dabei wurden Bäume ohne mechanisierte Techniken gefällt und entlang der Flüsse während der Regenzeit vom Landesinneren an die Küste transportiert. Mit der zunehmenden Mechanisierung von Einschlag- und Transporttechniken hat die Holzindustrie seitdem jedoch immer größere und unzugänglichere Gebiete erschlossen, während an der Küste die holzverarbeitende Industrie gewachsen ist. Ein zentrales Problem ist der viele verschiedene Facetten annehmende illegale Holzeinschlag, der vor allem durch die Überkapazitäten der verarbeitenden Industrie und der anhaltenden Nachfrage nach tropischen Hölzern verursacht wird. In den letzten Jahrzehnten mussten viele Waldflächen auf Borneo für den Anbau von Ölpalmen weichen. Indonesien und Malaysia leisten gemeinsam über 85% der Weltproduktion von Palmöl, das als billiges Pflanzenfett zur Herstellung von Lebensmitteln, Seifen, Kosmetika, Kerzen und anderen Industrieprodukten genutzt wird. In den letzten Jahren hat unter anderem die gesteigerte Nachfrage nach Biotreibstoffen den Ausbau der Palmölindustrie auf Borneo und damit die Transformation von tropischen Regenwäldern in ÖlpalmMonokulturen vorangetrieben. Indonesien hat inzwischen Malaysia als welt-
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größten Produzenten von Palmöl abgelöst und seine Anbauflächen von 2,5 Millionen Hektar im Jahr 1997 auf 7,8 Millionen Hektar im Jahr 2011 ausgedehnt (Obidzinski 2013). Ehrgeizige Entwicklungspläne von Provinz- und Regentschaftsregierungen identifizieren sogar weitere 20 Millionen Hektar als mögliche zukünftige Anbauflächen. Im Zentrum dieser angestrebten Ölpalmexpansion stehen vor allem die Erschliessungsfronten in Kalimantan und dem indonesischen Teil der Insel Papua Neu Guinea. Auch wenn die Gebiete Borneos im jeweiligen nationalstaatlichen Kontext von Malaysia und Indonesien oft als Peripherie dargestellt werden, argumentieren De Koninck et al., dass Borneo als Zentrum einer agrarischen Transformation anzusehen ist: „[T]he island should also be considered as the centre of a major transformation process associated with agricultural expansion, particularly oil palm expansion, occuring through-out much of Southeast Asia […]“ und bezeichnen die Insel als „the ultimate frontier territory within Southeast Asia“ (De Koninck et al. 2011: 24). Da Borneo über reiche Metall- und Mineralvorkommen (u.a. Zinn, Kupfer, Gold, Silber, Diamanten, Kohle, Uran und Bauxit) verfügt, hat der Bergbau eine lange Geschichte auf der Insel. So fand zum Beispiel Goldabbau schon Anfang des 19. Jahrhunderts im westlichen Sarawak statt (Jackson 1968: 144). Von besonderer wirtschaftlicher Bedeutung sind jedoch vor allem fossile Brennstoffe. Der Wohlstand des Sultanats Brunei an der Nordküste Borneos beruht zum Beispiel fast komplett auf seinen Erdöl- und Erdgasreserven (De Koninck 2011: 25). Die Förderung von Erdöl und Erdgas ist ebenfalls von zentraler wirtschaftlicher Bedeutung in Ost-Kalimantan. Durch den rezenten Kohleboom in Indonesien hat jedoch auch die Kohleförderung hier stark an Bedeutung gewonnen (vgl. Haug 2015b). Während die Kohleproduktion zwischen 1989 und 1999 von 4,4 Millionen Tonnen auf 80,9 Millionen Tonnen angestiegen ist (Lucarelli 2010: 25), hat sie sich in den letzten Jahren von 246 Millionen Tonnen im Jahr 2008 auf 489 Millionen Tonnen im Jahr 2013 erhöht (World Coal Association 2014 und 2009). Der indonesische Teil der Insel Borneo ist das Zentrum der indonesischen Kohleförderung – 83% der nachgewiesenen Kohlereserven lagern hier (Lucarelli 2010: 40). Der nationale Masterplan zur wirtschaftlichen Entwicklung Indonesiens (MP3EI) für den Zeitraum von 2011 bis 2025 sieht daher vor, Kalimantan zu einem Zentrum der Produktion und Verarbeitung von nationalen Bergbau- und Energiereserven zu machen (Government of Indonesia 2011) – ein Plan, der weitere großflächige Entwaldung für den Bergbau befürchten lässt. Waldbrände haben in den letzten Dekaden in Indonesien wiederholt riesige Waldflächen vernichtet und durch ihre Rauchentwicklung die gesamte Region belastet. Während der bisher großflächigsten Waldbrände sind in den Jahren
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1982/1983 insgesamt 3,7 Millionen Hektar und 1997/1998 rund 11,7 Millionen Hektar Wald vernichtet worden (Tacconi 2003). Besonders gravierende Auswirkungen von globalem Ausmaß haben die Brände von Torfmoorwäldern, da dabei große Mengen von Kohlendioxid freigesetzt werden. Während der letzten verheerenden Brände im Herbst 2015 wurden geschätzte 600 Millionen Tonnen Treibhausgase freigesetzt, was ungefähr dem gesamten Jahresausstoß von Deutschland entspricht (ABC News, 3. Oktober 2015). Hauptursache für das gestiegene Waldbrandrisiko ist der Qualitäts- und Feuchtigkeitsverlust der Wälder durch deren wachsende industrielle Nutzung, insbesondere durch den Einsatz von Feuer als billige Methode zur großflächigen Landklärung. Abbildung 1: Regenwald auf Borneo
Quelle: Michaela Haug
A USWIRKUNGEN DER E NTWALDUNG AUF DIE LOKALE B EVÖLKERUNG Die sprachlich und kulturell vielfältigen indigenen Gesellschaften Borneos werden mit dem Sammelbegriff Dayak bezeichnet. Der Ursprung des Wortes Dayak lässt sich auf das malaiische Wort dya zurückgeführen, das so viel bedeutet wie „Hinterland, Inland, aus dem Hinterland stammend“. Während der Begriff in der Vergangenheit eine negative Konnotation im Sinne von „unzivilisierter Mensch“ hatte, verbinden die Dayak ihn heute mit einer positiven Gemein-
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schaftsidentität, mit der sie sich als indigene Bevölkerung Borneos und als Christen bzw. Anhänger autochthoner Überzeugungssysteme von anderen, meist muslimischen Bevölkerungsgruppen abgrenzen (vgl. dazu auch Sillander 1995: 85, Duile forthcoming). Die indigenen Gesellschaften Borneos haben unterschiedliche Wirtschaftsweisen entwickelt, um sich an den Lebensraum Wald anzupassen. Bis heute existieren einige Wildbeutergruppen, die ihren Lebensunterhalt weitgehend durch die Jagd und das Sammeln von Waldprodukten bestreiten. Die Mehrheit der Dayak sichert ihre Lebensgrundlage jedoch durch eine Kombination aus Schwendbau und marktorientierten Aktivitäten. Diese Wirtschaftsweise wird in der Literatur als „dual or composite economy“ (z.B. bei Eghenter 2006: 164; Dove 2011: 13), „semi-subsistence“ (Potter 2011: 154; Rigg 2005: 179-180) oder „extended subsistence“ (Gönner 2011) bezeichnet. Die Basis der Nahrungssicherung stellt dabei der Anbau von Trockenreis auf alljährlichen Schwendflächen dar. Die meisten Felder werden zwei bis drei Jahre lang bewirtschaftet, danach muss wegen nachlassender Erträge ein neues Feld angelegt werden. Bis zu ihrer erneuten Nutzung werden die Felder anschließend entweder brach liegen gelassen oder mit Rattan, Kautschuk- oder Fruchtbäumen angereichert und somit in Waldgärten umgewandelt. Das Ergebnis dieser Nutzungsweise ist eine mosaikartige Waldlandschaft, die aus Feldern, Gärten, Sekundärwald verschiedenen Alters und Primärwald besteht. Wildbeuter und Schwendbauern nutzen somit auf eine sehr flexible Art und Weise eine hohe Vielfalt an natürlichen Ressourcen, wodurch sie die Möglichkeit haben, rasch auf Marktpreisschwankungen oder Naturkatastrophen reagieren zu können (Gönner 2011). Mit dem zunehmenden Qualitätsverlust der Wälder verringert sich jedoch diese Resilienz lokaler Wirtschaftssysteme. Die Umwandlung von zuvor meist bewaldeten Gebieten in ÖlpalmMonokulturen hat weitreichende Folgen für die natürliche Umwelt und die lokale Bevölkerung. Während zum Beispiel die Ölpalmexpansion in Indonesien auf nationaler Ebene meist als wirtschaftlicher Erfolg angesehen wird, zeigt sich vor Ort häufig ein anderes Bild. Für die in und von den Wäldern lebenden Menschen bedeutet das Anlegen von Ölpalmplantagen meist den Verlust (von Teilen) ihres Landes. Eingeschränkter Zugang zu Land verringert jedoch die Diversität und damit auch die Resilienz ihrer traditionellen Ressourcenmanagementsysteme. Mit ihrem Land verlieren die Menschen nicht nur ihre Ernährungssicherheit, sondern oft auch einen Teil ihrer Kultur, ihrer Identität und ihrer Selbstbestimmung. Die Arbeitsplätze, die durch die Ölpalmindustrie geschaffen werden, nehmen sie oft nur an, weil sie andere Einkommensquellen durch dieselben verloren haben. Aus selbstständigen Subsistenzbauern werden so abhän-
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gige Tagelöhner. Diese weitreichenden Veränderungen, die immer mehr als irreversible Transformation von Umwelt und lokaler Lebensweise wahrgenommen werden, werden im Folgenden am Beispiel des Dorfes Muara Nayan in OstKalimantan aufgezeigt.
P ALMÖLEXPANSION IN O ST -K ALIMANTAN : D IE T RANSFORMATION EINES D ORFES Beschreibung des Dorfes Das Dorf Muara Nayan liegt im südlichen Tiefland der Regentschaft Kutai Barat in der indonesischen Provinz Ost-Kalimantan. Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Dayak Benuaq, einer der vielen unterschiedlichen DayakGruppen Borneos, welche in der neu gegründeten Regentschaft Kutai Barat stark vertreten ist (Haug 2010). Mit nur 251 Einwohnern, die auf 28 Haushalten verteilt leben, stellt Muara Nayan eine relative kleine Siedlung dar. Direkt an einer der großen Trans-Kalimantan-Verbindungsstraßen gelegen, verfügt das Dorf über eine gute Verkehrsanbindung an das Zentrum der Regentschaft sowie an die Küste. Allerdings befindet sich die Straße in einem schlechten Zustand und ist besonders während der Regenzeit schlecht zu passieren. Die Lebensgrundlage der Dorfbevölkerung ist eine Kombination aus Subsistenzlandwirtschaft und marktorientierten Tätigkeiten, wie sie von vielen Dayak-Gruppen praktiziert wird (siehe oben). Die Menschen in Muara Nayan nutzen verschiedene Waldprodukte, am wichtigsten für den Verkauf sind Rattan und Kautschuk. Aufgrund der zunehmenden Verschlechterung der Umweltbedingungen hat jedoch in den letzten Jahrzehnten die Bedeutung von Lohnarbeit stark zugenommen. Die Waldgebiete von Muara Nayan sind durch eine Kombination von kommerziellem Holzeinschlag und großflächigen Waldbränden erschöpft, die ebenso große Teile der Rattan-, Kautschuk- und Waldgärten der Dorfbewohner zerstört haben. Das Leben in Muara Nayan ist seit dem Beginn von Kohleabbau 1994/1995 im benachbarten Distrikt Muara Pahu und dem Anlegen von drei Ölpalmplantagen auf dem Dorfgebiet im Jahr 1996 stark von diesen beiden Industriezweigen geprägt. Gegenwärtig ist die zentrale Ein-kommensquelle der Einwohner Muara Nayans Lohnarbeit auf den Ölpalmplantagen und im flussaufwärts betriebenen Bergbau. Vor allem die Expansion der Palmölindustrie und damit verbundene Umweltveränderungen haben das Leben in Muara Nayan weitreichend transformiert. Im Folgenden werden die ökonomischen, sozialen und gesundheitlichen Auswirkungen dieser Veränder-
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ungen genauer beschrieben, sowie die konfliktreichen Anfänge der Palmölindustrie in Muara Nayan (vgl. dazu auch Haug 2014a), die die emotionale Situation in Muara Nayan nachhaltig geprägt haben. Palmölexpansion in Muara Nayan: Erfahrungen von Gewalt und Widerstand Auf dem Dorfgebiet von Muara Nayan befinden sich drei Ölpalmplantagen, die alle der indonesischen Firma PT London Sumatra International (PT LonSum) gehören. Zu Beginn der Landklärungsarbeiten im Jahr 1996 versprach die Firma den Dorfbewohnern ein hohes Einkommen, eine Verbesserung der Infrastruktur und ein Plantagenmodell, das Felder beinhalten würde, die den Bauern gehören und von ihnen selbst bewirtschaftet würden (kebun plasma). Die Mehrheit der Dorfbewohner lehnte die Entwicklungspläne dennoch ab, da sie durch die großflächige Umwandlung von Reisfeldern, Rattan-, Kautschuk- und Waldgärten in Ölpalmplantagen ihre Subsistenzbasis bedroht sahen. Als die Landklärungsarbeiten dennoch voranschritten, nahmen die Dorfbewohner diese als eine Verletzung ihrer traditionellen Landrechte wahr. 2 Die Stimmung verschlechterte sich zunehmend durch zahlreiche Konflikte um intransparente Kompensationszahlungen, um den Einsatz von Feuer als billiger Rodungsmethode und durch die Zerstörung einer Begräbnisstätte während der Rodungsarbeiten (vgl. Gönner 1999). Im November 1998 besetzte schließlich eine Gruppe von 64 Personen aus Muara Nayan und den umliegenden Dörfern das Base Camp einer der drei Plantagen. Sie forderten faire und transparente Kompensationszahlungen für alle gerodeten Felder und Gärten und eine sofortige Einstellung weiterer Arbeiten bis zur Erzielung eines Übereinkommens. Nachdem vereinbarte Treffen mit Vertretern der Firma wiederholt abgesagt wurden, brannten die Camp-Besetzer schließlich Teile des Base Camps nieder. Die Firma rief daraufhin staatliche Sicherheitskräfte zu Hilfe. Einer der Camp Besetzer erzählte, dass ein Polizist mit einer Plastiktüte gefüllt mit 100 Million IDR (nach damaligem Kurs ca. 13.000 US$) gekommen sei. Die Protestierenden lehnten das Geld jedoch ab – sie wollten sich nicht kaufen lassen. Stattdessen beharrten sie auf ihrem Wunsch nach direkten Verhandlungen mit dem Firmenmanagement. Am 7. Mai 1999 wurde das Base Camp schließlich von mobilen Polizeieinheiten (Brimob) gestürmt. Die meisten Camp-Besetzer
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Die Landrechtssituation in Indonesien ist von Rechtspluralismus geprägt. Neben dem staatlichen Recht existieren traditionelle Rechte an Land, die jedoch unzureichend anerkannt sind.
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konnten in den Wald fliehen, elf wurden jedoch festgenommen und wegen Diebstahl und Vandalismus vor Gericht gestellt. Im Anschluss an die Erstürmung des Base Camps durchsuchten Polizisten die Häuser von am Widerstand beteiligten Personen. Die Dorfbewohner berichteten darüber hinaus von mysteriösen Männern, die komplett in Schwarz gekleidet und mit Schwertern und Speeren bewaffnet waren. Diese beschädigten die Häuser von führenden Widerständlern, bedrohten ihre Familien und plünderten Reisvorräte und Wertgegenstände. Im Lauf des Gerichtsprozesses zeigte sich, dass PT LonSum das Land ohne die notwendigen Genehmigungen durch das Forstministerium und das Landwirtschaftsministerium gerodet hatte und die elf inhaftierten Dorfbewohner mussten freigelassen werden. Dies war ein wichtiger symbolischer Sieg, der jedoch nicht den Kern des Konflikts löste. Geschwächt durch die asiatische Finanzkrise hat PT LonSum nach dem Gerichtsprozess vorrübergehend seine Aktivitäten in Muara Nayan eingestellt. Nach dem Fall Suhartos und der Implementierung der Regionalen Autonomie in Indonesien im Jahre 2001 nahm PT LonSum die Bewirtschaftung der ruhenden Plantagen in und um Muara Nayan wieder auf. Die neue Lokalregierung der Regentschaft Kutai Barat war sehr darauf bedacht, neue Konflikte zu vermeiden. Daher wurden mehrere Mediationstreffen im Lauf des Jahres 2002 abgehalten, an denen Vertreter der Lokalregierung, der Firma, der Dorfbevölkerung und mehrerer Nichtregierungsorganisationen teilnahmen. Ziel der Treffen war es, eine Lösung für den noch ungeklärten Konflikt um Land und Kompensationszahlungen zu finden. Die Treffen wurden nach Aussagen von Bewohnern aus Muara Nayan stark von der Lokalregierung dominiert, deren vorrangiges Ziel die (Re-) Etablierung des Ölpalmsektors war. Die Dorfbevölkerung stimmte schließlich dem Vorschlag von PT LonSum zu, als Entschädigung Ölpalmgärten (kebun plasma) für die Dorfbevölkerung anzulegen, auf Land, das zusätzlich von den Haushalten zur Verfügung gestellt werden sollte. Im Jahr 2003 nahm PT LonSum schließlich die Bewirtschaftung der Plantagen in und um Muara Nayan wieder auf und begann mit retrospektiven Kompensationszahlungen für Land, das in 1996 und 1997 gerodet worden war. Diese Kompensationszahlungen wurden von der Bevölkerung sehr begrüßt. Sie verliefen jedoch wiederum höchst intransparent, erreichten nur einen Teil der Haushalte und fielen in den betroffenen Dörfern unterschiedlich hoch aus. In Muara Nayan haben zum Beispiel nur sehr wenige Personen Kompensationszahlungen erhalten und diese waren, gemessen an den staatlichen Vorgaben, gering. Parallel dazu liefen die Arbeiten für die Ölpalmgärten der Dorfbewohner an. Im März 2005 war in Muara Nayan dafür bereits eine Fläche abgesteckt worden, die zwei Hektar pro Haushalt umfasste. Allerdings stellte sich heraus, dass eine
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andere Palmölfirma bereits eine Konzession über dieses Gebiet von der Regierung erhalten hatte. Die Bevölkerung von Muara Nayan hat somit bis heute nicht die ihnen zugesagten Ölpalmgärten zur eigenen Bewirtschaftung erhalten. Ein großer Teil der Anwohner arbeitet stattdessen auf den Plantagen von PT LonSum. Auch wenn sich die meisten mit dieser Situation arrangiert haben, und das gegenwärtige Management der Firma um eine gute Beziehung zu der Dorfbevölkerung bemüht ist, so hat der heftige und langwierige Konflikt doch emotionale Spuren hinterlassen (für eine ausführlichere Darstellung siehe Haug 2014b). Vor allem das Gefühl, als Tagelöhner auf dem (ehemals) eigenen Land arbeiten zu müssen, hinterlässt bei vielen Dorfbewohnern einen bitteren Nachgeschmack. Abbildung 2: Frauen aus Muara Nayan bei der Arbeit auf der Ölpalmplantage
Quelle: Michaela Haug
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Palmölexpansion in Muara Nayan: Ökonomische Folgen Seit den 1980er Jahren haben die meisten Haushalte in Muara Nayan einen großen Verlust an natürlichen Ressourcen erfahren. Viele Rattan-, Kautschukund Waldgärten sind während der verheerenden Waldbrände in den Jahren 1982/83 und 1997/98 verbrannt. Zusätzlich haben viele Familien Land – vor allem in direkter Nähe der Siedlung – durch die Anlegung der Ölpalmplantagen verloren. Bis auf ein paar, in den letzten Jahren zugewanderte Familien, besitzen alle Haushalte in Muara Nayan Waldgärten. Allerdings berichten 78% der Waldgartenbesitzer, dass sie große Teile davon aus oben genannten Gründen verloren haben. Die meisten Haushalte haben zwar neue Waldgärten angelegt, diese waren jedoch während der Zeit meiner Forschung noch nicht produktiv. Zudem befinden sich diese meist recht weit von der Siedlung entfernt und werden nur in unregelmäßigen Zeitabständen aufgesucht. Dies sind die Hauptgründe dafür, dass keiner der Haushalte in Muara Nayan in den letzten Jahren ein Einkommen durch den Verkauf von Früchten erwirtschaften konnte. Durch den zunehmenden Waldverlust verlieren Nicht-Holz-Waldprodukte an Bedeutung – sowohl für den Verkauf als auch für die Subsistenzsicherung. Meine Haushaltsbefragung zeigt, dass nur 25% der Haushalte wild wachsende Früchte sammeln, nur in 15% aller Fälle ein Haushaltsmitglied regelmäßig auf die Jagd geht, und nur ein Haushalt manchmal wilden Honig sammelt – alles jeweils für den Eigengebrauch. Durch die voranschreitende Entwaldung und die Degradation der natürlichen Ressourcen haben die Menschen in Muara Nayan kaum noch die Möglichkeit auf Marktpreisschwankungen, sich ändernde Nachfrage oder Naturkatastrophen reagieren zu können. Die Resilienz ihres über viele Jahrhunderte praktizierten Wirtschaftssystems ist weitgehend verloren, während im Gegenzug ihre Marktabhängigkeit gewachsen ist. Keiner der Haushalte in Muara Nayan ist mehr in der Lage seinen Reisbedarf selbst zu decken und fast alle Haushalte kaufen auch zusätzliches Obst und Gemüse. Obwohl viele Leute gerne gelegentlich Fischen gehen, und einige auf die Jagd, wird doch der größere Teil des Fisch- und Fleischbedarfes ebenfalls eingekauft. Die Menschen in Muara Nayan empfinden diese Entwicklung als einen tiefgreifenden Verlust ihrer Autonomie und betonten oft, dass sie vor dem Verlust ihrer Waldgärten viele Früchte hatten, die sie nun gut vermarkten könnten: „Keiner hier nutzt die Straße um Obst zu verkaufen. Stattdessen kaufen wir Früchte, die hier ‘rein kommen. Wir kaufen Früchte auf dem Markt…wenn unsere Waldgärten nicht verbrannt wären, wäre es jetzt so einfach unsere Früchte zu verkaufen! Wir müssten sie nur an den Straßenrand tragen…“ (Tinen Ruscik, Muara Nayan, 29.11.2004).
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Durch den Verlust von zentralen wirtschaftlichen Grundlagen ist die tägliche Lohnarbeit auf den Plantagen von PT LonSum zu einer zentralen Einkommensquelle der Menschen in Muara Nayan geworden. Die meisten Arbeiter verlassen ihr Haus um 6 Uhr morgen und versammeln sich an der nahe der Siedlung gelegenen Baumschule für Ölpalmen. Dort werden sie in Arbeitsgruppen mit unterschiedlichen Aufgaben, wie zum Beispiel dem Pflanzen von Ölpalmsetzlingen, dem Verteilen von Düngemittel oder dem Versprühen von Herbiziden und Pestiziden eingeteilt. Der Arbeitstag endet meist um ca. 16 Uhr, wenn sich die Leute wieder auf den Weg nach Hause machen. Für einen Arbeitstag wurde im Jahr 2004 25.000 IDR bezahlt, dies entspricht nach damaligem Umrechnungskurs in etwa 2,25 US$. Da viele Menschen aus Muara Nayan jedoch regelmäßig auf den Plantagen arbeiten, bekommen sie ihr Geld nicht täglich ausbezahlt, sondern erhalten es am Ende des Monats. Jemand, der fünf Tage die Woche auf der Plantage arbeitet, kommt somit auf ungefähr 500,000 IDR (US$ 55) im Monat.3 Viele Einwohner beklagen, dass sie meist nur die schlecht bezahlte Tagelöhner-Arbeit bekommen. Anstellungen mit festen Verträgen, besserer Bezahlung und sozialer Absicherung gehen meist an (besser ausgebildete) Migranten aus anderen Teilen Indonesiens. Insgesamt beklagt die große Mehrheit meiner Informanten im Rahmen der Haushaltsbefragung einen Rückgang ihres Lebensstandards, da die Lebenskosten kontinuierlich steigen, während die Möglichkeiten ein Einkommen zu erwirtschaften weniger werden. Palmölexpansion in Muara Nayan: Soziale Dimensionen Um eine langfristige und besser bezahlte Anstellung in der Palmölindustrie oder im Bergbau zu erlangen, ist formale Bildung ist von zentraler Bedeutung. Menschen mit nur geringer Schulbildung können meist nur als Tagelöhner arbeiten, alte und physisch schwache Menschen können gar keine Lohnarbeit finden. Für die Einwohner von Muara Nayan ist die Situation oft schwierig, da nur wenige einen höheren Schulabschluss haben: „Es ist schwer. Ich habe keine Bildung und meine Kinder haben keine Bildung – so können wir für kein Unternehmen arbeiten. Wir haben auch keine Gärten…wir warten nur auf unseren Atem. […] Ich kann nicht als Regierungsbeamter arbeiten und auch nicht als
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Dieser Betrag sollte im Vergleich zu einem durchschnittlichen Mindestbedarf von ungefähr 700.000 IDR pro Haushalt pro Monat im Jahr 2004 gesehen werden (US$ 77). Eine Person ist somit mit einer „Vollbeschäftigung“ als Tagelöhner auf der Plantage nicht in der Lage einen Haushalt zu ernähren.
130 | M ICHAELA H AUG Angestellter im Privatsektor. Es ging so weit, dass ich mich mit den Leuten auf der Palmölplantage gezankt habe, weil ich dort um eine Anstellung als Wachmann gebeten habe. Aber die haben gesagt, dass sie mich nicht brauchen. Das ist alles, was ich arbeiten kann… […] Ich kann auch nicht von meinen Kindern leben, wie andere Väter von ihren Kindern leben können, die bei Firmen arbeiten – während der letzten zwei Jahre fühle ich mich wirklich oft gestresst!“ (Taman Idani, Muara Nayan, 28.11.2004).
Momentan ist die formale Bildungssituation in der Eltern- und Großelterngeneration in Muara Nayan in allen Haushalten gleich niedrig. In der jüngeren Generation zeichnen sich jedoch immer größere Unterschiede ab. Einige Haushalte haben erfolgreich in die Ausbildung ihrer Kinder investiert und letztere bemühen sich gegenwärtig um bessere Stellen. Es deutet sich damit eine wachsende Ungleichheit in Muara Nayan an, nicht nur in Bezug auf die Höhe des Einkommens, sondern auch in Bezug auf die zukünftige Sicherheit und Stabilität des Einkommens. Der soziale Zusammenhalt im Dorf wird von allen Befragten allgemein positiv bewertet, vor allem bei Krankheitsfällen und anderen Notsituationen sowie zur Durchführung der damit verbundener Rituale ist die Solidarität in Muara Nayan groß. Im Gegensatz dazu geht die Zusammenarbeit für kollektive Aufgaben im Dorf und in Landwirtschaft stark zurück. Die Leute erklären dies durch die zurückgehende Anzahl und sinkende Größe der Reisfelder im Dorf. Durch die wachsende Bedeutung der Lohnarbeit bauen immer weniger Familien Reis an. Und die Haushalte, die Reis anbauen, legen meist nur ein kleines Feld an, das sie leicht ohne die Unterstützung anderer bepflanzen und abernten können. Die großen Reisfelder, deren Aussaat und Ernte in kollektiven Arbeitsgruppen geleistet wurden, gibt es in Muara Nayan nicht mehr. Gemeinsame Aktivitäten der Dorfgemeinschaft, wie zum Beispiel Ausbesserungsarbeiten an Brücken oder Feldwegen, werden immer schwieriger zu organisieren, da viele Dorfbewohner an feste Arbeitszeiten gebunden sind und somit nicht mehr frei über ihren Tagesablauf und ihre Aktivitäten bestimmen können. Vor allem ältere Menschen beschweren sich über diese Situation, da ihnen das gemeinsame Arbeiten mit Familienangehörigen und Freunden ebenso fehlt wie eine freie Zeiteinteilung die jüngere Generation hingegen beklagt nur selten die festen Arbeitszeiten und die davon ausgehende Fremdbestimmung. Die neuen Arbeits- und Zeiteinteilungsmuster haben auch Auswirkungen auf das religiöse Leben in Muara Nayan. Die meisten Dorfbewohner sind Christen und gleichzeitig Anhänger ihrer autochthonen Religion. Letztere beinhaltet große Reinigungs- und Totenrituale, die sich über mehrere Tage und manchmal auch Wochen hinziehen. Für diese Ereignisse kommen die Menschen aus den
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umliegenden Dörfern zusammen, einerseits um Freunde und Verwandte zu treffen, andererseits aber auch um den Haushalt mit ihrer Arbeitskraft zu unterstützen, in dem das Ritual stattfindet, da dessen Durchführung solch großer Rituale eine große Anzahl von Mitwirkenden nötig macht. Eingeschränkt durch feste Arbeitszeiten und neue Verpflichtungen wird die Durchführung dieser Rituale immer schwerer. Fest angestellte Arbeitskräfte bekommen nur in seltenen Fällen Urlaub in entsprechendem Umfang und Tagelöhner können es sich oft nicht leisten länger als ein paar Tage nicht arbeiten zu gehen. Während meiner Feldforschung beschwerten sich daher viele Menschen darüber, dass die Anzahl der Besucher und Helfer bei Ritualen abnimmt. Dieser Effekt lässt sich auch in anderen Teilen von Ost-Kalimantan beobachten. Allerdings werden die Form und Organisation von Ritualen teilweise auch so verändert, dass ihre Durchführung mit den veränderten Lebensumständen kompatibel ist (vgl. Herrmans forthcoming). Palmölexpansion in Muara Nayan: Gesundheitliche Aspekte Nach Angaben der Dorfbevölkerung sind die häufigsten Gesundheitsprobleme in Muara Nayan Brechdurchfall mit Fieber bei Kindern und Kopfschmerzen sowie Altersbeschwerden bei Erwachsenen. In Interviews berichten vor allem Frauen, die auf der Ölpalmplantage regelmäßig Pestizide versprühen, über starke Kopfschmerzen. Der von der Lokalregierung im Dorf positionierte Krankenpfleger berichtet, dass er seit Aufnahme seiner Arbeit im Jahr 2003 hauptsächlich Atemwegserkrankungen und Hautirritationen behandelt. Er führt die große Anzahl von Hautproblemen auf die zunehmende Verschmutzung des Nayan und des Ohookng zurück. Die Wasserqualität der beiden Flüsse ist nach Aussagen der Dorfbewohner seit der Präsenz der Palmölindustrie und des Kohleabbaus flussaufwärts von Muara Nayan stark beeinträchtigt. Tinen Leni erzählte zum Beispiel: „After bathing in the Nayan the whole body itches, and if one drinks water from the Ohokng one gets diarrhoea and diarrhoea with vomiting even if it’s boiled. The water quality started to decrease with the arrival of the companies in 1997“ (Muara Nayan, 29.11.2004). Während die meisten Haushalte noch zu Beginn der 1990er Jahre abgekochtes Flusswasser konsumierten, holen sie inzwischen Trinkwasser und das Wasser zur Säuglingspflege von umliegenden Quellen. Während der Regenzeit gibt es in unmittelbarer Nähe der Siedlung zwei Quellen, während der Trockenzeit müssen die Einwohner von Muara Nayan jedoch einen ca. 2 km weiten Weg zurücklegen um an sauberes Trinkwasser zu gelangen. Dies führt zu einer regelmäßigen Trinkwasserknappheit während ausgeprägten Trockenzeiten.
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Familien, die kein Motorrad besitzen, müssen viel Zeit und Energie aufwenden um sich mit ausreichend Trinkwasser zu versorgen. Während meiner Aufenthalte beobachtete ich auch mehrfach, wie Babys mit gekauftem Trinkwasser aus Aquaflaschen gebadet wurden, was für ärmere Haushalte kaum erschwinglich ist bzw. eine große finanzielle Belastung darstellt. Abbildung 3: Kohleabbau flussaufwärts von Muara Nayan
Quelle: Michaela Haug
T RANSFORMING B ORNEO : W AS BRINGT DIE Z UKUNFT ? Die Menschen in Muara Nayan sehen sich mit großen ökologischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen konfrontiert. Durch den Verlust von zentralen natürlichen Ressourcen und der daraus resultierenden wachsenden Abhängigkeit von Lohnarbeit sehen sie sich in ihren Lebens-Optionen stark eingeschränkt. Viele Menschen, vor allem der älteren Generation, befürchten, dass die gesamte Situation in ihrem Dorf immer schlechter wird: „I am old now…in former times I lived upstream with my husband, we had many forest gardens and our children were still complete, then my heart was happy; 10 years ago my
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husband died and one of our children died as well, our gardens lie abandoned now, our rattan is taken by others and our rubber trees are burnt—the joy of previous times is gone.“ (Itaq Ruscik, Muara Nayan 15.11.2004)
Die jüngere Generation ist etwas optimistischer und versucht momentan durch eine höhere formale Bildung langfristigere und besser bezahlte Positionen in den lokalen Industrien zu erlangen; sie ist auch bereit zu diesem Zweck in andere Regionen Kalimantans zu migrieren. Damit entkommen sie aber nicht der Situation, die viele Menschen in Kalimantan als ein Dilemma beschreiben: Obwohl sie die negativen Auswirkungen von nicht-nachhaltiger Ressourcennutzung nur zu gut kennen und darunter leiden, werden sie selbst ein Teil davon, indem sie bei genau den Firmen Arbeit suchen, die ihre natürliche Umwelt zerstören und verschmutzen. Den meisten Menschen bleibt jedoch keine andere Wahl, da sie alternative Einkommensquellen verloren haben, während sie auf der anderen Seite mit immer höheren und regelmäßigeren Lebenskosten konfrontiert werden. Das hier beschriebene Fallbeispiel des Dorfes Muara Nayan verdeutlicht exemplarisch den rapiden und weitreichenden wirtschaftlichen und ökologischen Wandel auf Borneo, der mit vielfachen sozialen Veränderungen einhergeht. Meiner Ansicht nach werden diese Wandelprozesse zunehmend als Transformation bezeichnet, um die gesteigerte Geschwindigkeit und Intensität der Veränderungen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Anfang nahmen, auszudrücken. Dynamische Wandelprozesse von Mensch und Natur haben über Jahrhunderte bzw. sogar Jahrtausende die Wälder Borneos geprägt. Aber erst die rezente Transformation geht soweit, dass sie die Fortführung jahrhundertealter Wirtschaftsweisen ernsthaft in Frage stellt und droht, die Wälder Borneos komplett zu zerstören. Victor King, ein renommierter BorneoExperte, sieht die Zukunft für die Dayak daher wenig optimistisch: „Unless something is done to halt or considerably reduce rainforest clearance, then the prospects for the Dayaks must be bleak indeed. The very resources upon which they have depended for centuries – the land, forests and rivers – will no longer be able to sustain them. […] [The Dayak] who, over the course of four thousand years or so, have adopted to the natural environment, used it and protected it, will have been transformed into mar”
ginal peasants, estate workers and urban wage laborers, in the space of about 40 years (King1993: 302).
Während ich diesen Beitrag schreibe, liegt das Jahr 2033 noch 17 Jahre vor uns und es ist anzumerken, dass „die Dayak“ ganz gewiss keine homogene Einheit darstellen. Trotzdem ist diese düstere Vorhersage für einige Dayak-Gemein-
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schaften schon wahr geworden, während andere, vor allem einflussreiche Dayak-Eliten, diese negativen Entwicklungen selbst mitvorantreiben und riesige Summen durch die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen verdienen. Wieder andere kämpfen für soziale Gerechtigkeit und engagieren sich für eine nachhaltigere Art der Ressourcennutzung. Die Zukunft der Wälder und Menschen auf Borneo bleibt somit offen, eindeutig ist lediglich, dass die Gegenwart auf Borneo von rapiden, intensiven und in weiten Teilen irreversiblen ökologischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen geprägt ist.
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6. Kampfkunst als New Age Bewegung.. Transkultureller Austausch in Pencak-Silat-Netzwerken P ATRICK K EILBART
Zum Begriff Transkulturalität, wie zu Begrifflichkeiten mit der Vorsilbe „trans“ allgemein, besteht Klärungsbedarf, nicht zuletzt aufgrund des inflationären und unpräzisen Gebrauchs in der Alltagssprache wie auch im akademischen Diskurs. Zur Begriffsklärung wurden bereits grundlegende Beiträge geliefert (Lerp 2009, Gottowik 2010, Weichhart 2015 und dieser Band). Peter Weichhart charakterisiert „Trans-Begriffe“ als nicht eindeutig interpretierbar und plädiert für eine kontextsensible, kritische und reflektierte Herangehensweise. Davon ausgehend und aufbauend auf Wolfgang Welschs (1999) Verständnis von „Transkulturalität“ behandelt der vorliegende Artikel transkulturelle Austauschprozesse. Transkulturalität, ebenso wie Globalisierung, ist entgegen verbreiteter Vorstellungen nicht im Sinne von Kulturimperialismus und kultureller Homogenisierung zu verstehen; ebenso wenig können Konzepte von Partikularisierung und autarken Lokalkulturen aufrechterhalten werden. Die Vorstellung einheitlicher, soziolinguistisch abgrenzbarer und sozial homogener Kulturen muss, Welsch entsprechend, einem Konzept von Kultur weichen, in dem Homogenität lediglich ideologisch existiert. Zur Stärkung einer einheitlichen nationalen Identität im Rahmen des nation-building werden Vereinheitlichung und Abgrenzung zwischen Eigen- und Fremdkultur vorgenommen. Diese ideologisch postulierte Homogenität entspricht aber weder historischer Evidenz noch der Wahrnehmung und Alltagserfahrung einzelner Akteure. Im Gegenteil widerlegen gerade die Alltagserfahrungen von Akteuren starre Kulturkonzepte sowie Vorstellungen von in sich geschlossenen Gesellschaften und Kulturkreisen. Diese Grundprämisse steht im Einklang mit Welschs Kritik an Konzepten wie
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Multi- und Interkulturalität, die implizit die Annahme einer Existenz von Einzelkulturen beibehalten (Welsch 1999: 195-196). Weichhart betont, dass Trans-Begriffe oft fälschlicherweise eine Neuartigkeit des Gemeinten implizieren. Mit Bezug auf Globalisierung stellt er fest, dass die Neuartigkeit weniger in den Phänomenen selber liege, als vielmehr in ihren Rahmenbedingungen, z.B. neuen Kommunikations- und Verkehrstechnologien (Weichhart 2010). Im Folgenden soll Transkulturalität weder als neues Phänomen und Produkt zunehmender globaler Vernetzung und Informationsaustauschs verstanden werden, noch können kulturelle Formation und Hybridisierung bis zu den frühesten Anfängen en Detail zurückverfolgt werden (Conversi 2010). Anhand von Kriegs- und Kampfkunst im indonesischen Archipel können jedoch historische Prozesse innerasiatischen Austauschs zwischen Indien, Ostasien und Südostasien skizziert werden. Vor diesem historischen Hintergrund lassen sich kultureller Wandel und Identitätskonstruktionen innerhalb des heutigen indonesischen Staatengebildes nachvollziehen. Im Zuge von Modernisierungsmaßnahmen werden globale Vermarktung und der Export von Pencak Silat von einer Vielzahl an Schulen aktiv vorangetrieben, speziell in die Länder des Globalen Nordens. Am Beispiel einer der verbreitetsten (inter-)nationalen Pencak-SilatSchulen namens Merpati Putih (MP; wörtl. Weiße Taube) zeigt der Beitrag, wie Pencak Silat als New Age Bewegung in Nordamerika praktiziert wird und inwiefern amerikanische Interpretationen und Rekompositionen wiederum MP in Indonesien verändern. Transkulturalität gestaltet sich demnach als wechselseitig konstitutiver Prozess. In Übereinstimmung mit Autoren wie Gottowik (2010) und Hannerz (1998) muss das Interesse der Forschung zu Transkulturalität darin bestehen zu analysieren, wie Globalisierungsprozesse, Translation und Transformation von individuellen Akteuren aufgenommen und vollzogen werden. Durch die Betrachtung des indonesischen Pencak Silat und der weltweiten Vernetzung Praktizierender sollen kulturelle Aushandlungsprozesse und Identitäts-konstruktionen erfahrbar gemacht werden.
E NTSTEHUNG DES P ENCAK S ILAT – FRÜHSTAATLICHE , RELIGIÖSE , TRANSKULTURELLE G RUNDLAGEN In Indonesien stellen Pencak-Silat-Schulen formelle Institutionen gesellschaftlicher Wissensvermittlung dar. Exakte Daten für die Mitgliederzahlen von Schulen sind schwer zu bestimmen, aber De Grave (2014) schätzt auf mehrere zehn Millionen Praktizierende in Indonesien und verdeutlicht die Stellung von
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Pencak-Silat-Schulen in der indonesischen Gesellschaft mit dem Zusatz, deren Führungsspitzen würden für gewöhnlich auch nationale Führungspositionen bekleiden, sowohl in rituellen und religiösen, als auch in politischen und wirtschaftlichen Bereichen (De Grave 2014: 48). Diese Funktionen und Institutionen wie sie heute bestehen, sowie das (religiöse) Wissen, das darin vermittelt wird, sind zum einen durch historische Prozesse innerasiatischen transkulturellen Austauschs, zum anderen durch das nation-building des indonesischen Staates und der damit verbreiteten Staatsideologie geprägt. Aus historischer Sicht sind für die Genese von Pencak-Silat-Schulen vor allem transkulturelle Austauschprozesse zwischen Südostasien, China, Indien und dem Nahen Osten relevant. Für das heutige Indonesien lieferten neben bedeutenden Großreichen Festland-Südostasiens die insularen Königreiche Javas und Sumatras die frühstaatlichen und kulturellen Grundlagen. Ansätze frühstaatlicher Entwicklung sind bereits auf das erste Jahrtausend vor Christus und deren stärkere Ausprägung auf die ersten Jahrhunderte nach Christus (also vor Beginn indischer Einflüsse) zu datieren. Dies bekräftigen malaiische und javanische Herrschernamen früher Inschriften, wie beispielsweise datu auf Sumatra oder ratu auf Java. Diese Herrschaftstitel entstammen indigenen Sprachen, während später verwendete wie raja aus dem Sanskrit oder sultan aus dem Arabischen stammen und auf Fremdeinflüsse zurückzuführen sind (Kulke 1998: 104). Durch die Mittelposition zwischen Indien und China, durch Seehandel und die strategisch bedeutende Lage an der Straße von Malakka nahmen die frühen Großreiche, auf denen der heutige indonesische Staat fußt, eine Vielzahl kultureller Einflüsse auf. Der Transfer indischer Kulturgüter in den malaiischindonesischen Archipel (wie auch nach Festland-Südostasien) in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends führte zur Entstehung einer Reihe von TransPhänomenen. Diese umfassten bildende und darstellende Kunst, religiöse Vorstellungen und Praktiken, sowie Herrschaftslegitimation (vgl. Golzio 2012 und dieser Band). Brahmanen1 und hinduistische Verwaltungsexperten fungierten als Berater und verhalfen Herrschern zu religiöser wie politischer Autorität, letztlich zu mehr Macht und Ausweitung ihrer Herrschaftsgebiete. Srivijaya, als Herrschaftszentrum und wichtigste Hafenstadt der Straße von Malakka, war seit dem 7. Jhdt. zugleich eine Stätte buddhistischer Gelehrsamkeit. Als Zwischenstation für buddhistische Mönche aus China auf dem Weg nach Nordindien wurde es zum wesentlichen Bestandteil eines transasiatischen Netzwerks des Buddhismus, das auch politisch bedeutend war und für Kriegsbündnisse oder
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Zur Figur des Brahmanen in Südostasien siehe auch den Beitrag von Golzio in diesem Band, der eine differenzierte Darlegung des Begriffs vornimmt.
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politische Kämpfe eine zentrale Rolle spielte. Zudem wurde bereits seit dem 7. und 8. Jhdt. von indischen Muslimen aber auch von Kaufleuten der arabischen Halbinsel und Persiens, die über Sumatra Handel mit China trieben, kulturell Einfluss genommen (Kulke 1998/1999, Abaza 1999). Die Ausbreitung des Islams und sufischer Lehren seit Ende des 13. Jhdt. in Aceh, Nordsumatra und Anfang des 14. Jhdt. in Malaya führte letztlich dazu, dass Indonesien zum heute größten muslimischen Land der Welt wurde (gemessen an der Bevölkerungszahl). Kulturgüter wie wayang (Tanz, Schatten- und Puppenspiel) und monumentale Bauwerke wie Prambanan und Borobodur zeugen aber davon, dass viele Bereiche der frühen, hindu-buddhistisch geprägten Kultur als Teil der heutigen Identität bewahrt werden. Eigene kulturelle wie religiöse Identität sind ein Produkt indigener Weiterentwicklung, Hybridisierung, Translation und Transformation. Das zeigt sich auch an der indonesischen Kampfkunst und der Entwicklung von Pencak-Silat-Schulen, die in ihrer Entstehung verschiedene kulturelle und religiöse Elemente integrierten. Die Ursprünge des indonesischen Pencak Silat werden auf die Kriegs- und Kampfkünste der frühen Großreiche zurückgeführt. Reliefs an der buddhistischen Stupa Borobodur und am hinduistischen Tempelkomplex Prambanan (beide erbaut während der Shailendra-Dynastie, im 8. Jhdt.) zeigen Kampftechniken, die als Vorläufer des heutigen Pencak Silat interpretiert werden. Austausch- und Transformationsprozesse sind in der Funktion zum Schutz von Handelsrouten und -waren, als Performanz- und Kriegskunst, wie auch als Teil religiöser, mystisch-spiritueller Erziehung und Herrschaftslegitimation erkennbar. In der Ära hindu-buddhistischer Großreiche entwickelte sich die indomalaiische Kampfkunst in zwei verschiedene Richtungen: einerseits als elitäre militärische und spirituelle Erziehung an den Königshöfen, andererseits als Selbstverteidigungs- und Kunstform (Penca-Tanz) der einfachen Bevölkerung. Innerhalb des kraton (Königspalast) wurde versucht, Kriegstechniken und taktiken sowie mystisch-spirituelles Wissen elitär und geheim zu halten. Selbstverteidigungstechniken und Penca-Tanz, als Teil öffentlicher Darstellungen, wurden hingegen offen ausgetauscht (Maryono 2002: 44-45). Durch Kriegsbündnisse und Erweiterung des Herrschaftsterritoriums, sowie durch javanische historische Darstellungen (babad) wurden letztlich auch mystischspirituelle Vorstellungen verbreitet, die sich mit fiktionalen und mythologischen Elementen vermischten (Ras 1987). Javanische kanuragan-Praktiken, die Kriegsmagie wie Schutzgeister und Unverwundbarkeit mit ritueller Initiation, mystischem Wissen und spiritueller Autorität verbinden, gehen auf die vor-islamische Ära zurück, möglicherweise sogar vor die Sanskritisierung Javas. Kanuragan als ursprünglich geheime, rituelle Initiation wurde zunächst im
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Rahmen von Pilgerschaft und Austausch fortgeschrittener Praktizierender, später durch Beschreibungen in den historischen Darstellungen der Königshöfe verbreitet. Bis Mitte des 19. Jhdt. wurden Beschreibungen von kanuragan wesentlicher Bestandteil klassischer javanischer Literatur und eng verknüpft mit Kosmologie und Kriegsführung. Bereits früher, im 17. Jhdt., erreichte die Sufi-Bruderschaft (indones. tarekat) Qâdiriyah die Insel Java und so vermischten sich sufistische Lehren mit Unverwundbarkeits- und Trancepraktiken des kanuragan. Religiöse Institutionen wie Koranschulen und Sufi-Bruderschaften spielten eine wesentliche Rolle in der Überführung von kanuragan in einen islamischen sozialen Kontext (De Grave 2014: 47-48). Die sogenannten Neun Heiligen (wali songo), denen die Islamisierung Indonesiens zugeschrieben wird, passten islamischen Glauben an lokale hindu-buddhistische Kultur und Glaubensvorstellungen an, interpretierten sie teils um und schufen letztlich eine hybride, islamisch orientierte Kultur. Der Übergang von der hindubuddhistischer zur islamischen Ära, aber auch Kontinuitäten und die Rolle der wali songo werden in den Chroniken Babad Tanah Jawi aus dem 17. Jhdt. deutlich: Der erste islamische Herrscher des Reiches Demak (15. Jhdt.) besiegte seinen Vater, den Herrscher des letzten großen hindu-buddhistischen Reiches Majapahit, so die Chronik. Panembahan Senopati dagegen, der legendäre Begründer des Reiches Mataram, soll sowohl von dem wali Sunan Giri, als auch von der Meeresgöttin Ratu Kidul 2 die Legitimation seiner Herrschaft durch Allah zugesichert bekommen haben. Animistische Vorstellungen und hindubuddhistische Elemente wurden auf diese Weise in ein islamisches Setting überführt (Van Dijk/Nas 1998: 225). Im Zuge der Islamisierung wurden so auch Kampfkunst und spirituelle Erziehung mit entsprechenden religiösen Lehren verbunden und verbreiteten sich in allen Bevölkerungsschichten. An KoranSchulen und -Internate (pesantren) sind bis heute oftmals Kampfkunstschulen angegliedert und auch die beiden größten muslimischen Organisationen „Muhammadiyah“ und „Nahdlatul Ulama“ unterhalten in Indonesien PencakSilat-Schulen, deren Mitgliederzahlen in die Millionen gehen. Im Sinne D.S. Farrers (2014) „Cross-cultural articulations of war magic and warrior religion“ lässt sich als Zwischenresümee für die historischen Grundlagen des Pencak Silat festhalten, dass durch Fremdeinflüsse, im Zuge gesellschaft-
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Ratu Kidul (auch Nyai Loro Kidul), die Meeresgöttin und Herrscherin über die Geisterwelt, ist eine Figur aus der javanischen Mythologie, die bis heute rituell zur Legitimation von Macht fungiert sowie Teil von konkreten Bewältigungsstrategien (bspw. bei Naturkatastrophen) und Modernitätskonzeptionen ist (Schlehe 1998/ 2006).
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licher Veränderungen und durch transkulturellen Austausch Kampfkunst und religiöses Wissen untrennbar miteinander verknüpft wurden.
P ENCAK -S ILAT -S CHULEN IN I NDONESIEN – FORMELLE I NSTITUTIONEN GESELLSCHAFTLICHER W ISSENSVERMITTLUNG Mit der offiziellen Unabhängigkeit Indonesiens 1945 und der Entwicklung des indonesischen Staates wurde Pencak Silat als Nationalsport eingeführt und die historisch gewachsene Verknüpfung von Kampfkunst mit religiösem, mystischspirituellem Wissen zu gewissen Teilen aufgelöst. Die indonesische Staatsideologie Pancasila, die den Glauben an einen (und nur einen) Gott postuliert, beinhaltet modernisierungstheoretische Ansätze, gerade in Bezug auf Religions- und Glaubensfragen. Demnach galten und gelten Geister, übernatürliche Kräfte und mystisch-spirituelles Wissen offiziell als Indizien von Irrationalität und VorModerne. Neben den offiziell anerkannten monotheistischen Religionsgemeinschaften (agama) bestehen Glaubenssysteme und Weltanschauungen, die als Kultur (budaya) oder Brauchtum (adat) kategorisiert werden (Hornbacher/ Gottowik 2008: 25). Die indonesische Kampfkunst wurde bis in die 1970er Jahre gemeinhin mit Mystik, Übernatürlichem, Geisterwesen, Reinigungsritualen und asketischen Praktiken assoziiert. Seit dieser Zeit wird aber von staatlicher Seite die „Versportung“ der Kampfkunst propagiert und als moderner Kampfsport von mystischen Praktiken gezielt abgegrenzt. Vom Indonesischen PencakSilat-Verband (Ikatan Pencak Silat Indonesia, IPSI) wurde 1973 ein standardisiertes Regelwerk eingeführt, um nationale und internationale sportliche Wettkämpfe zu ermöglichen. Des Weiteren wurde Pencak Silat offiziell als Sammelbegriff für alle lokalsprachlichen Bezeichnungen eingeführt und in die vier offiziellen Kategorien Selbstverteidigung, sportlicher Wettkampf, Kunst und Spiritualität („mental-spiritual“) unterteilt. Diese Entwicklung spiegelte die damaligen Veränderungen im sozio-kulturellen und politischen Klima Indonesiens, das durch eine landesweite Debatte über Mystizismus gekennzeichnet war. Jegliche magischen, übernatürlichen Kräfte wurden im Zuge dessen als „veraltete irrationale Praktiken“ bezeichnet (Surahardjo 1983), umbenannt oder mit neuen Bedeutungen belegt. Von den 1980er Jahren an wurde die Regierungspolitik zu Glaubenssystemen sukzessive revidiert und Religion strikt von Mystik getrennt. Gleichzeitig änderte IPSI drastisch die Haltung und schloss mystische Elemente, die bis dahin als fester Bestandteil des Pencak Silat anerkannt wurden, zunehmend aus (Maryono, 2002: 232). Seit der Diktatur der „Neuen Ordnung“ und
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auch im Rahmen der Reformbemühungen der Post-Suharto Ära (ab 1998) wurde von staatlicher Seite Fortschritt, Entwicklung und Modernisierung propagiert. Die ablehnende Haltung gegenüber Mystik und Geisterglauben als irrational und unmodern wurden auch in IPSI weitergeführt. Bis heute werden mystischesoterische Aspekte der Kampfkunst unterdrückt, während sportlicher Wettkampf und nationalistische Vorstellungen eines gemeinsamen Volkssports und kulturellen Erbes gepflegt werden. Pencak Silat kann demnach als „erfundene Tradition“ im Sinne Hobsbawms und Rangers (1983) verstanden werden, die staatlichen Organen als wirksames Mittel dient, nationale Identität zu schaffen. Von staatlicher Seite wird die Versportung, Säkularisierung und Rationalisierung der indonesischen Kampfkunst forciert, um einen modernen, standardisierten, (inter-)nationalen Wettkampfsport zu schaffen, der im kulturell diversen Inselstaat einend und identitätsstiftend wirkt. In Indonesien sind aber diverse Reaktionen und Dynamiken zu beobachten. Seit dem Ende der Ära Suharto, 1998, haben staatliche Überwachung und Zensur deutlich abgenommen und ein offenerer Umgang mit der Geisterwelt wie mit Übernatürlichem generell ist – zumindest in den Medien – deutlich erkennbar. Trotz kultureller wie sozialer und zunehmend auch politischer Dominanz des Islam besteht gesellschaftlicher Raum für alternative Glaubenssysteme. Vertreter eines reformistischen Islam (vereint in der zweitgrößten muslimischen Organisation Indonesiens Muhammadiyah) verstehen mystische Praktiken edoch nach wie vor als „unmodern“ und lehnen sie offiziell rigoros ab. Hier wird deutlich, dass religiöse Institutionen wie muslimische Schulen und SufiBruderschaften eine entscheidende Rolle in der Überführung von Kampfkunstinhärenten mystischen Praktiken in einen islamisierten sozialen Kontext gespielt haben, noch bevor der Prozess von Versportung eingetreten ist. In diesem Zusammenhang wurden letztlich aber sowohl Islam als auch Sport Teil eines breiteren Modernisierungsprozesses, der spezifische Konzepte und Körperpraktiken, muslimische und säkulare, wie auch Christliche, Chinesische, Japanische und Europäische eingeführt hat (De Grave 2014: 48-49). Innerhalb des indonesschen Staates und angesichts dieser vielfältigen Fremdeinflüsse haben sich Kampfkunstschulen, trotz unterschiedlicher Ansätze und Ideologien, zu formellen Institutionen gesellschaftlicher, religiöser Wissensvermittlung entwickelt. PencakSilat-Meister und Schulen, die der Versportung, Standardisierung und Säkularisierung der Kampfkunst ablehnend gegenüber stehen, haben sich Räume und Möglichkeiten geschaffen, alternative Ansätze zu etablieren, in denen mittels Umdeutung und Umbenennung auch ehemals mystische Praktiken weiterhin Bestand haben. 1983 wurde Pencak Silat als Kulturgut – budaya – unter die Verantwortlichkeit des Ministeriums für Kultur und Erziehung gestellt. Diese Maß-
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nahme sollte die strikte Trennung von Kampfkunst und Religion (besonders Mystik) befördern. Nationalistische Vorstellungen eines gemein-samen kulturellen Erbes wurden aber, mit Betonung auf kulturelle Vielfalt und das offizielle Staatsmotto „Einheit in Vielfalt“ uminterpretiert und gegen eine Standardisierung eingesetzt. Staatlichen Vorgaben zufolge sind gewisse Praktiken und speziell deren öffentliche Darbietung, weil sie als zu brutal und gefährlich eingestuft wurden, mittlerweile untersagt. Somit werden (ehemals) mystische Praktiken teils verworfen, teils unter dem Label „kulturelles Erbe“ (warisan budaya) uminterpretiert, angepasst oder weiterentwickelt. Es zeigt sich aber, dass in Indonesien auch der ideologische Gegenpol zu Standardisierung, Versportung und Säkularisierung sich zunehmend institutionalisiert. So wird seit 2012 in Yogyakarta (Zentral-Java) alljährlich das „Pencak Malioboro Festival“ abgehalten, bei dem kulturelle Vielfalt und künstlerische Darstellung des Pencak Silat im Vordergrund stehen. Schulen und Teilnehmende aus verschiedenen Regionen Indonesiens und aus dem Ausland vertreten und präsentieren dort ihre Pencak-SilatStile. Die Veranstalter, selbstorganisierte Privatpersonen, die die Veranstaltung über Sponsoren finanzieren, heißen ausdrücklich alle Spielarten und Facetten des Pencak Silat willkommen, also implizit auch mystisch-spirituelle Orientierungen. Kulturminister Anies Baswedan – Pencak-Silat-Förderer und selbst Praktizierender – betonte in seiner Rede anlässlich des 4. Pencak Malioboro Festival 2015 dessen positive Effekte auf die Charakterbildung von Jugendlichen und sprach sich, auch im Namen der Veranstalter, für die Wiederaufnahme von Pencak-Silat-Unterricht in die formale Schulbildung aus. Auch hierbei soll nicht (nur) sportliche Betätigung, sondern insbesondere die traditionelle, kulturelle Komponente Teil der schulischen Erziehung sein. Unabhängig davon wo sie im ideologischen Spektrum verortet sind, müssen Pencak-Silat-Schulen als formale Institutionen gesellschaftlicher Wissensvermittlung verstanden werden. Die angeführte Dichotomie zwischen mystischen Praktiken und Versportung ist keinesfalls trennscharf gedacht. Anhand des Fallbeispiels Merpati Putih wird deutlich, dass auch Schulen die Versportung befürworten, ehemals mystische Praktiken und Vorstellungen beibehalten und „modernisieren“.
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M ODERNISIERUNG UND ( GLOBALE ) V ERMARKTUNG – S PIRITUALITÄT ALS S PORT Im Zuge der Modernisierung werden die globale Vermarktung und der Export von Pencak Silat von einer Vielzahl an Schulen aktiv vorangetrieben, speziell in Länder des Globalen Nordens. Modernisierung ist dabei nicht gleichzusetzen mit Versportung und Säkularisierung. Vielmehr sehen viele Pencak-Silat-Schulen im oben aufgezeigten ideologischen Spektrum gleichermaßen die Expansion ins Ausland als Indikator für Modernität. Die erfolgreiche Expansion einer Schule dient als Legitimationsgrundlage für die eigene Ideologie, sowohl zur Etablierung eines (inter-)nationalen Wettkampfsports, als auch für Vertreter mystisch-spiritueller Kampfkunst. Legitimation wird benötigt, um gegenüber der Konkurrenz, anderen Pencak-Silat-Schulen und fremden Kampfsportarten (Karate, Taekwondo etc.), zu bestehen. Letztere werden unter indonesischen Jugendlichen zunehmend populärer, was der älteren Generation Pencak-SilatPraktizierender zufolge daran liegt, dass Jugendliche fremde Kampfsportarten als moderner und etablierter ansehen.3 Die Pencak-Silat-Schule Merpati Putih wurde 1963 in Yogyakarta von den Brüdern Poerwoto Hadi Poernomo (genannt Mas Poeng) und Budi Santoso Hadi Poernomo (genannt Mas Budi) gegründet. Im Sinne eines gemeinsamen kulturellen Erbes führen die beiden Gründer die Ursprünge ihrer Schule auf Kriegs- und Kampfkunst sowie spirituelle Erziehung am Königspalast von Amangkurat II., dem Sultan von Mataram im 17. Jhdt. zurück. Die nationale Ideologie ist in der Schule deutlich erkennbar, beispielsweise im „janji anggota“, dem Treueeid der Mitglieder, der zur Eröffnung und zum Abschluss eines jeden Trainings rezitiert wird. Deren janji anggota besteht aus drei Teilen: Die Schüler geloben (1) ihr Vertrauen auf und Glaube an Gott (Tuhan yang Maha Esa), (2) ihre Dienstbarkeit und Hingabe gegenüber dem indonesischen Staat, der Nation und dem Heimatland, (3) ihre Loyalität und ihr Vertrauen gegenüber der Schule. Die Aufnahme von Schülerinnen und Schülern erfolgt unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, in Übereinstimmung mit IPSI und dem Bestreben Pencak Silat zu säkularisieren. Reguläre Trainingseinheiten, für gewöhnlich
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In Interviews mit Leitern von Pencak-Silat-Schulen betonten die Interviewten unabhängig voneinander einvernehmlich ihre Besorgnis über die zunehmende Zuwendung indonesischer Jugendlicher zu ausländischem Kampfsport und Trendsport im Allgemeinen. Erklärungsansätze fanden sich in der Regel in einer Gegenüberstellung von sogenannten modernen, etablierten fremden Kampfsportarten und als altmodisch, weit weniger prestigeträchtig eingeschätztem Pencak Silat.
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zwei Stunden zwei Mal pro Woche, beinhalten standardisierte Aufwärmübungen, Angriffs- und Abwehrtechniken, sowie verschiedene Kombinationen und Bewegungsabläufe, die teils synchron in der Gruppe, teils zu zweit mit einem Trainingspartner angewendet werden. Von Anfängern bis zu höchsten Stufen sind darüber hinaus bestimmte Atemübungen (pernafasan) ein wesentlicher Bestandteil des regulären Trainingsprogramms. Durch regelmäßiges Training von pernafasan versuchen Praktizierende Kontrolle über ihre Innere Kraft zu erlangen, die sodann auf verschiedene Arten angewendet werden kann. Bereits vom Anfängerlevel an werden mit Hilfe verschiedener Körperpartien und Techniken Bruchtests (patahan benda keras - Brechen harter Gegenstände) durchgeführt und dazu verwendet, das Voranschreiten der Schüler im Kontrollieren der Inneren Kraft zu testen. Diese Tests sind Teil des Graduierungssystems der Schule und werden auch bei öffentlichen Darbietungen gezeigt. Das Konzentrieren der Inneren Kraft in bestimmten Körperteilen wird durch gezielte Atmung, Konzentration und Wahrnehmungstraining erreicht. Weitere Anwendungsmöglichkeiten der Inneren Kraft werden als getaran (Schwingung) oder als Anglizismus Vibra Vision bezeichnet, wodurch Praktizierende – so der Anspruch – ihre Umgebung wahrnehmen können ohne ihr physisches Sehvermögen zu benötigen. Diese Fähigkeit wird durch die verschiedenen Energien und Schwingungen erklärt, die alle Objekte und Lebewesen aussenden und die MP-Schüler wahrnehmen und unterscheiden lernen, indem sie ihre Innere Kraft nutzen. Auch hierfür stellt pernafasan die Grundlage dar, wobei Atemübungen mit Meditation, Konzentration und sensomotorischen Übungen verbunden werden. Die offizielle Erklärung von Vibra Vision beschränkt sich auf Konzepte wie elektromagnetische Lichtwellen und unterschiedliche Wellenlängen verschiedener Farben und Formen. MP Atemtechniken, so die Erklärung, ermöglichen anaerobe Atmung, die zur körpereigenen Produktion von Adenosintriphosphat (ATP) führt, einem Molekül, das für Zellregeneration und Regulation energieliefernder Prozesse im Körper zuständig ist. Sich auf diese Stoffwechselprozesse zu berufen liefert die rationale, wissenschaftliche Erklärung für die Innere Kraft, die in Merpati Putih zur Abgrenzung von kanuragan und mystischen Praktiken genutzt wird (De Grave 2001: 215, Wilson 2011: 71). MP beschränkt sich in offiziellen Erklärungen also auf wissenschaftliche Grundlagen von Stoffwechselprozessen und optischer Wellenlehre. Im Vermitteln und in der Ausübung von Vibra Vision wird jedoch Bezug zu mystischem, spirituellen Wissen und intuitiven Aspekten von Wahrnehmung, von Realität deutlich. Zur Umsetzung von Vibra Vision wird pernafasan um meditative Atemtechniken erweitert, die dem Praktizierenden ermöglichen sollen, Energien aus der Umwelt wahrzunehmen (z.B. der Sonne). Die tiefe
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Verwurzelung von Merpati Putih in javanischer Mystik und inhärenten Vor-stellungen von (über-)natürlichen Kräften wird besonders anhand der Jahres-versammlung Tradisi Tahunan deutlich. Im Rahmen des zweitägigen Events, das nahe des Küstendorfes Parangkusumo (etwa 30 Kilometer südlich von Yogyakarta) abgehalten wird, treffen sich Mitglieder aller Zweigstellen aus Indonesien und dem Ausland, um gemeinsam zu trainieren, zu meditieren, Rituale durchzuführen und asketische Praktiken auszuüben. Parangkusumo ist ein Ort hoher Energie oder Schwingung (tempat getaran tinggi), wie mir während des ersten Jahrestreffens, das ich 2009 besuchte, erklärt wurde. Es ist darüber hinaus ein mythologisch bedeutsamer Ort, an dem Senopati, der Herrscher der zweiten Mataram Dynastie (siehe oben), den Beistand der Meeresgöttin Ratu Kidul erlangt haben soll. Überzeugt durch Senopatis spirituelle Kraft und Macht über die Natur wurde Ratu Kidul die spirituelle Gemahlin des Herrschers Zentral-Javas (Schlehe 1998). Sich mit der Geisterwelt und Ratu Kidul in Verbindung zu setzen, ist nicht Teil des expliziten Wissens, das den Teilnehmenden der jährlichen Zusammenkunft vermittelt wird. Dennoch sind sich viele der indonesischen Teilnehmenden der mythologischen Bedeutung des Ortes bewusst und beziehen sie in ihre persönliche, spirituelle Erfahrung in Parangkusumo mit ein.4
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Von 95 Teilnehmenden (aus 6 verschiedenen MP Zweigstellen in Indonesien), die auf der Tradisi Tahunan 2014 von mir befragt wurden, gaben 68 (72%) an, die Mythen und Geschichten von der Königin des Südmeeres Ratu Kidul zu kennen, 44 (46%) sagten, dass dieses Wissen sie in ihrem Wahrnehmungstraining beeinflusse.
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Abbildung 1: Teilnehmende der Tradisi Tahunan 2014 von der MP Zweigstelle Cirebon trainieren die Energie des Meeres wahrzunehmen
Quelle: Patrick Keilbart
In Indonesien ist Merpati Putih bekannt für öffentliche Demonstrationen von Innerer Kraft und Vibra Vision. Von IPSI wird die Schule wegen ihres rationalistischen Ansatzes und der Abkehr von mystischen Vorstellungen favorisiert. MP verkörpert die Werte von IPSI, von Pencak Silat als modernem, rationalem Sport, was wiederum die Staatsideologie und Metanarrative von nationaler Einheit, Fortschritt und Entwicklung wiederspiegelt. Die Versportung von Pencak Silat wird innerhalb der Schule befürwortet und weiterentwickelt. MP-Mitglieder nehmen an nationalen und internationalen Wettkämpfen teil; einer der MP-Athleten (aus der Zweigstelle Bandung) ist Teil des Nationalkaders und wurde auf den 16. Pencak Silat Weltmeisterschaften 2015 in Thailand VizeWeltmeister. Darüber hinaus hat Merpati Putih 2012 ein eigens entwickeltes System sportlichen Wettkampfes für Innere Kraft und Vibra Vision eingeführt. Für Wettbewerbe in Vibra Vision werden den Teilnehmenden die Augen verbunden und sie müssen sich sodann durch einen Hindernisparcours bewegen, in dem verschiedenfarbige Stofftücher an unterschiedlichen Stellen platziert wurden. In einer vorgegebenen Zeit müssen die Teilnehmenden die Stoffe auffinden und ihre Farbe benennen, ohne dabei Hindernisse zu berühren. Sowohl die Anzahl richtig benannter Stoffe als auch die versehentlichen Kontakte mit Hindernissen werden festgehalten und miteinander verglichen, um den Gewinner zu ermitteln (siehe Abb. 2). Wettkämpfe im Brechen verschiedener Gegenstände laufen nach einem ähnlichen Schema ab. Mit dem eigens entwickelten Wettkampfsystem hat
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Merpati Putih die Standardisierungs- und Rationalisierungsbemühungen von IPSI uminterpretiert und weiterentwickelt. In MP werden ehemals mystische Praktiken in moderne Spiritualität und Sport überführt. Obwohl bei den PilotWettbewerben in Bogor die meisten der Teilnehmenden in beiden Kategorien deutlich scheiterten5, plant die MP Führung Wettkämpfe in Vibra Vision und Innerer Kraft weiter fortzuführen und auszuweiten.
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Die meisten Teilnehmenden scheiterten daran, ihre Bruchtests erfolgreich durchzuführen bzw. die Farben der Stofftücher richtig zu benennen. Die Teilnehmer waren zumeist fortgeschritten und erfahrungsgemäß sehr erfolgreich bei Bruchtests oder Vibra Vision. Sie erklärten ihr Scheitern durch den Zeitdruck und die stressige, kompetitive Atmosphäre, die es erschwerte sich zu konzentrieren und die Innere Kraft zu kontrollieren.
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Abbildung 2: MP Wettbewerb in Vibra Vision, „IPB Open“ Bogor
Quelle: Patrick Keilbart
MP USA – N EW A GE UND WECHSELSEITIGER TRANSKULTURELLER A USTAUSCH Seit der Gründung im Jahre 1963 expandiert Merpati Putih von Yogyakarta aus in ganz Indonesien und auch international; mittlerweile bestehen Zweigstellen in Australien, Japan, Holland, Frankreich und den USA. Im globalen Rahmen kann Pencak Silat als Phänomen populärer Religion verstanden werden. Als New Age Bewegung bietet es Identität, ideologische und religiöse Orientierung für westliche Gemeinschaften (Knoblauch 2009). Als Form globaler, moderner
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Spiritualität stellt es eine integrative Alternative zu formaler Religion wie auch zu Säkularität dar (Van der Veer 2009). New Age wird als Rezeption östlicher Religiosität verstanden, wobei diese neuen sozialen Gruppen im Westen zugänglich gemacht wird (Knoblauch 2009: 110). Weltanschauliches (religiöses) Wissen wird dabei vermittelt, selektiert und neu zusammengestellt. Einzelpersonen sind in ihrer Rekomposition nicht frei und autonom. Religiöses Wissen formt sich in Weisen, die den kulturell unterschiedlichen Anforderungen der Individuen entsprechen (ebd.: 79). Anhand des Exports von Merpati Putih werden im Folgenden kulturelle Aushandlungsprozesse und Identitätskonstruktionen im Austausch zwischen Indonesien und den USA nachvollzogen. Im Oktober 2000 wurden die beiden Amerikanischen Brüder Mike und Nate Zeleznick gemeinsam von Mas Budi und Mas Poeng zu Ausbildern ernannt. Zusammen gründeten sie die Zweigstelle „Merpati Putih USA“ in Ogden, Utah. Als erste Westler, denen jemals die Genehmigung erteilt wurde, MP zu unterrichten, ist das erklärte Ziel der Zeleznick-Brüder „spreading MP to the people in America who need it“.6 Die amerikanischen Repräsentanten von MP importieren javanisches spirituelles Körperwissen und passen es den kulturellen Bedürfnissen ihrer amerikanischen Schülerschaft an. MP und Inner Power werden angepriesen als „life-energy art of vitality, health and inner peace“ (Startseite des Internetauftritts). Mitglieder können zwischen ver-schiedenen Programmen wählen, die nicht notwendigerweise KampfkunstTraining beinhalten. Im sogenannten „Wealth of Health“-Kurs beispielsweise werden Meditation und Atemtechniken eingesetzt um Gewicht zu reduzieren, Stress zu lindern, Energie und Gesundheit zu befördern und um „a greater internal connection“ zu erreichen. Das Kursangebot richtet sich explizit an Menschen, die kein Interesse an Kampfkunst haben, aber ihre physische und psychische Gesundheit fördern und/oder Spiritualität erleben wollen. Das sogenannte „Empowered Women“-Programm ist im Gegensatz dazu als Selbstverteidigungskurs konzipiert, der Frauen befähigen soll, sich gegen Angriffe und Gefahren aller Art im Alltag erfolgreich zur Wehr zu setzen. Die Angebote von MP USA beinhalten also weder Pencak-Silat-Wettkampftraining, noch sportlichen Wettkampf und widersprechen damit dem Ansatz von MP, Innere Kraft und Vibra Vision als sportlichen Wettkampf zu etablieren. In MP USA werden bestimmte Aspekte des Pencak Silat separat angeboten und
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Diese Aussagen entstammen dem Internetauftritt von MP USA, http://www.mpusa.org/ und http://mpusa.50megs.com/ (Zugang zuletzt am 02.06.2016). Zitate und Referenzen im weiteren Verlauf sind, soweit nicht anders gekennzeichnet, ebenfalls diesen Webseiten entnommen.
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unterrichtet, entsprechend den (kulturellen) Erwartungen der US-Amerikaner. Die Zweigstelle in den USA unterscheidet sich somit wesentlich von der indonesischen Ursprungsorganisation und dem Gesamtkonzept von Pencak Silat in Indonesien generell. Unabhängig von der Unterteilung durch IPSI in die vier offiziellen Kategorien (siehe oben) sind diese vier Bereiche in Pencak-SilatSchulen in Indonesien in der Regel untrennbar miteinander verknüpft (Maryono 2002: 9), wenngleich verschiedene Schwerpunkte gelegt werden und unterschiedliche Ansichten zu sportlichem Wettkampf bestehen. In Merpati Putih in Indonesien können Lernende sich auf eine bestimmte Kategorie fokussieren, aber keinesfalls werden andere dadurch ausgeschlossen. In MP USA werden Kurse und Programme angeboten, die auf die kulturellen Ansprüche der (potenziellen) Mitglieder abgestimmt sind; es besteht die Möglichkeit, bestimmte Teilbereiche zu erlernen, ohne dass notwendigerweise Kampfkunst-Training involviert ist. Die Zeleznicks distanzieren MP USA klar von anderen „gewöhnlichen“ Kampfkunst- oder Kampfsportarten und versuchen ein elitäres, exklusives Image aufzubauen, indem sie sich auf das „geheime“ Wissen aus dem Sultanspalast in Yogyakarta beziehen. Sie versuchen ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen, das auf gemeinsamem spirituellem Streben und Erleben beruht sowie auf dem Ziel, sein „wahres Potenzial“ auszuschöpfen. Selbstoptimierung durch Praktizieren einer traditionellen Kampfkunst wird mit asiatischer Spiritualität und Östlicher Weisung assoziiert (Berg/Prohl 2014: 7). Für die meisten Mitglieder von MP USA stellen die Aussicht auf physische und psychische Gesundheit und inhärente spirituelle Aspekte von Merpati Putih dessen Attraktivität dar. Dies wird anhand von Aussagen deutlich, die auf der Internetseite von MP USA in der Rubrik „testimonials“ in Form von Zitaten zu finden sind: „I AM AN ALL AROUND BETTER PERSON PHYSICALLY, MENTALLY and most important SPIRITUALLY. Jed W., 20, Automotive Customizer/Musician (Herv. i.O.) (http://mp-usa.org/SocialSite/testimonials; Zugriff zuletzt am 02.06.2016). Mythologisch bedeutsame Orte oder Geisterglaube haben keinen erkennbaren Einfluss auf das Training in MP USA, aber Training im Freien, Meditation und Wahrnehmungstraining werden auch dort mit Atemübungen und Innerer Kraft-Praktiken verknüpft. Letztlich wird indonesisches spirituelles Körperwissen in den USA also aufgenommen, uminterpretiert und im Sinne einer New Age Bewegung verbreitet, unabhängig von der formalen Religionszugehörigkeit der Praktizierenden. Im Gegenzug beeinflusst MP USA die indonesische Ursprungsorganisation und allgemein Pencak Silat auf verschiedenen Ebenen. Besuche von MP USA Delegationen in Indonesien und die Zirkulation von Bildern und Videos im ”
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Internet beeinflussen das Image und erhöhen das Prestige von Merpati Putih in Indonesien. Die Vorstellung dass Nicht-Indonesier, speziell „Westler“, an indonesischer Kampfkunst interessiert sind, indonesische Kultur und althergebrachtes Wissen schätzen, veranlasst viele Entscheidungsträger in der indonesischen Pencak-Silat-Welt dazu, ihre Schule und ihr Wissen dem Westen zugänglich zu machen. Sinn und Zweck dieser Strategie ist nicht nur Prestige, sondern auch der (intendierte) Effekt, die landeseigene Kampfkunst, Tradition und Kultur besonders für indonesische Jugendliche wieder attraktiver zu machen. Für Merpati Putih ist Expansion in die USA und ins westliche Ausland Teil eines breiten Modernisierungsansatzes. Jugendliche Mitglieder begrüßen diesen Ansatz und verkörpern die Vorstellung eines modernen, progressiven Pencak Silat, auch wenn manche sich nicht vollständig von Mythologie und Mystik lösen. Der Einfluss von MP USA auf ihre Ursprungsorganisation und auf den gesamten Pencak-Silat-Diskurs zu Mystik und Modernisierung ist beachtlich, insbesondere da MP USA wesentlich zur wissenschaftlichen Begründung von Innerer Kraft und Vibra Vision beigetragen haben. Innerhalb US-amerikanischer Debatten um übernatürliche Phänomene und deren wissenschaftlichen Beweis waren die Bemühungen der Zeleznicks, das öffentliche Bild von Praktiken wie Vibra Vision in besseres Licht zu rücken, bisher nicht sonderlich erfolgreich. Wissenschaftliche Tests, die in den USA an MP-Mitgliedern aus Indonesien durchgeführt wurden, um die Wirksamkeit von Vibra Vision zu bestätigen, lieferten keine positiven Ergebnisse.7 In Indonesien hingegen gilt Vibra Vision seit den Bemühungen von MP USA – unabhängig von den negativen Testergebnissen – als wissenschaftlich bewiesen. Die 1998 gegründete MP Stiftung Yayasan Saring Hadipoernomo, deren Ziel eine Verbesserung der Lebensumstände von blinden Menschen ist, hat enorm von der öffentlichen Kundgabe wissenschaftlicher Tests von Vibra Vision in den USA profitiert. Wie der Mitbegründer Mas Poeng bestätigte, führte diese Verlautbarung zu steigender finanzieller wie auch moralischer Unterstützung seiner Stiftung und Merpati Putih generell. Neben der eigenen Zweigstelle wird MP in Indonesien auch von anderen US-amerikanischen Akteuren beeinflusst. Seit den 1990er Jahren haben sich der Vollkontakt-Kampfsport Mixed Martial Arts (MMA) und das entsprechende Wettkampfsystem Ultimate Fighting Championships (UFC) zu einem globalen Trend entwickelt, der sich von den USA aus weltweit verbreitet. Der relativ junge Kampfsport, bei dem Techniken aus verschiedenen Disziplinen und
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Für Details siehe http://nowscape.com/vibra/index.html und http://nowscape.com/ vibra/Nate_Correspondence.htm (Zugriff zuletzt am 05.06.2016)
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Kampfkünsten (Boxen, Tritte, Würfe, Bodenkampf, etc.) angewendet werden, ist auch als Free Fight bekannt. Er zeichnet sich durch Härte und Brutalität aus, da auch im Bodenkampf geschlagen und (zum Teil) getreten werden darf. In Indonesien, wie auch in anderen Ländern der Welt, gewinnen MMA und UFC zunehmend an Popularität in den Medien, „traditionelle“ Kampfkunst und Wettkampfsport konkurrieren mit dem Trendsport um Teilnehmer und Publikum (Farrer/Whalen-Bridge 2011: 4). In Indonesien sind Wettkämpfe und Übertragungen des neuen Kampfsports in den Medien ein sehr junges Phänomen. Einer der Pioniere und Förderer des MMA in Indonesien ist Merpati Putih Mitglied Marsyel Ririhena, einer der Führungskräfte der MP Zweigstelle Süd-Jakarta und zugleich ein Mitglied von Satu Darah (One Blood), eines internationalen Motorrad Clubs (MC), der offiziell als kriminelle Organisation ein-gestuft wird.8 Ririhena bewirbt MMA als natürliche Evolution von Pencak Silat und versucht Merpati Putih Lernende und Lehrende dafür zu begeistern. Im Rahmen der nationalen MP-Wettkämpfe in Bogor 2014 gaben die Veranstalter Ririhena ihr Einverständnis dafür, eine MMA-Demonstration abzuhalten. Insgesamt waren die Reaktionen des Publikums darauf eher verhalten. MP Mitglieder, die ich nach ihrer Einschätzung befragte, verwiesen auf dessen Brutalität und den Verlust wesentlicher Charaktereigenschaften des Pencak Silat wie künstlerische Werte, Selbstkontrolle und Ehrgefühl. Viele der Athleten fügten hinzu, dass für sie ein enormer Unterschied darin bestünde, Übertragungen professioneller UFC-Kämpfe im Fernsehen oder im Internet anzusehen und selbst MMA zu praktizieren; ein Fan von UFC zu sein, würde nicht unbedingt dazu ermutigen, selbst MMA zu trainieren, weder anstelle von Merpati Putih noch zusätzlich.
8
Satu Darah wurde 1990 von indonesischen Migranten in Holland gegründet und hat sich zu einer internationalen Organisation entwickelt. Mitglieder des MC werden regelmäßig mit Gewaltverbrechen, Drogenschmuggel und Waffenhandel in Verbindung gebracht (vgl. Bundesanzeiger Bundesministerium des Innern 2015).
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Abbildung 3: MMA-Demonstration bei den MP „IPB Open“ in Bogor
Quelle: Patrick Keilbart
Die Zeleznicks und MP USA, mit ihrem Fokus auf spirituelle Erziehung und der ablehnenden Haltung gegenüber sportlichem Wettkampf, lehnen a fortiori auch MMA und UFC ab. Dennoch gewinnen MMA und UFC in Indonesien zu-nehmend an Popularität, Wettkampfveranstaltungen füllen in Jakarta Stadien mit mehreren tausend Sitzplätzen und Millionen indonesischer Zuschauer verfolgen Übertragungen im Fernsehen oder via Online-Mediendienste. 9 Abschließend lässt sich festhalten, dass US-amerikanische und indonesische Akteure wie MP USA und die Zeleznicks, UFC und Marsyel Ririhena, aber auch indonesische Eventorganisatoren, Fernsehsender und Internetseiten (z.B. mmaindonesia.net) Teil globaler transkultureller Austauschprozesse sind und unterschiedliche Beiträge zum Pencak-Silat-Diskurs leisten.
9
Siehe beispielsweise http://ufcindonesian.blogspot.com/ oder http://www.ufc.com/ news/ufc-announces-indonesian-partnership (Zugriff zuletzt am 02.06.2016).
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F AZIT : T RANSKULTURELLER A USTAUSCH P ENCAK -S ILAT - N ETZWERKEN Bereits in der Darstellung frühstaatlicher, religiöser Grundlagen des Pencak Silat wird dessen transkultureller Charakter deutlich. Im Zuge transkultureller Austauschprozesse zwischen Südostasien, China, Indien und dem Nahen Osten entwickelte sich die Kampfkunst als Teil der frühen, hindu-buddhistisch geprägten Kultur und weiter innerhalb des hybriden, islamisch orientierten sozio-kulturellen Rahmens. Durch Fremdeinflüsse und im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen, durch Neuerungen und Revitalisierung von Tradition, wurden Kampfkunst und religiöses Wissen untrennbar miteinander verknüpft. Die Ursprünge des Pencak Silat und die damit verbundene kulturelle wie religiöse Identität sind ein Produkt indigener Entwicklung und Hybridisierung. Es zeigt sich also, dass die (ideologisch postulierte) Homogenität, die durch staatliche Vorgaben eines einheitlichen, nationalen Wettkampfsports und kulturellen Erbes suggeriert wird, keinesfalls historischer Evidenz entspricht. In der Entwicklung Indonesiens wurde Pencak Silat als „erfundene Tradition“ für staatliche Organe zu einem wirksamen Mittel, nationale Identität zu stärken. Von staatlicher Seite wird die Versportung, Säkularisierung und Rationalisierung des Pencak Silat vorangetrieben. Dem gegenüber entwickeln sich aber, wie anhand des Pencak Malioboro Festivals deutlich wurde, auch alternative Ansätze zu institutionellen Formen der Kampfkunst. Religiöse oder mystisch-spirituell orientierte Pencak-Silat-Gruppen nutzen die offiziell vorgegebene Trennung zwischen Religion und Kultur, um entsprechende Praktiken unter neuer Bedeutungszuschreibung weiterzuführen. Innerhalb des indonesischen Staates und angesichts vielfältiger Fremdeinflüsse haben sich Kampfkunstschulen, trotz unterschiedlicher Ideologien, zu formellen Institutionen religiöser und gesellschaftlicher Wissensvermittlung entwickelt. In Pencak Silat manifestiert sich so ein Konzept von Kultur, in dem Homogenität lediglich ideologisch existiert. Anhand des Fallbeispiels Merpati Putih wird die Modernisierung und Versportung ehemals mystischer Praktiken nachvollziehbar. Wie aufgezeigt, beschränkt sich MP in offiziellen Erklärungen von Innerer Kraft und Vibra Vision auf wissenschaftliche Grundlagen, die als Fremdeinfluss aus dem Westen kategorisiert werden müssen. In der Vermittlung und Ausübung bleibt jedoch Bezug zu mystischem spirituellem Wissen und intuitiven Aspekten von Wahrnehmung und Realität erkennbar. Aktuelle transkulturelle Austauschprozesse lassen sich im wechselseitigen Einfluss von MP in Indonesien und der Zweigstelle in den USA aufzeigen. In MP USA werden bestimmte Aspekte des Pencak
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Silat separat angeboten und unterrichtet, entsprechend der individuellen kulturellen Anforderungen der US-Amerikaner. Nachdem eindrücklich spirituelle Aspekte des Pencak Silat in den USA dessen Attraktivität bedingen, wird es in Nordamerika als New Age Bewegung praktiziert. Amerikanische Interpretationen und Rekompositionen verändern wiederum MP in Indonesien, gerade in Bezug auf Modernisierung und Rationalisierung. Der rückwirkende Einfluss auf das Verständnis von Pencak Silat im Herkunftsland Indonesien demonstriert die Existenz von Netzwerken transkulturellen Austauschs. Das Beispiel zu MMA und UFC zeigt aber, dass Fremdeinflüsse kritisch hinterfragt werden und einzelne Individuen in ihrer Umgestaltung nicht frei und autonom sind. Transkulturalität gestaltet sich als wechselseitig konstitutiver Prozess von Translation und Transformation, der den kulturellen Anforderungen des Kollektivs entspricht.
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7. Muslimische Mystik im 21. Jahrhundert: Trans/nationale und globale Austauschverhältnisse im mevlevitischen Feld 1 B ÉATRICE H ENDRICH
Abbildung1: 5000 Lira-Note der Türkischen Republik mit einer stilisierten Darstellung von Dschelaleddin Rumi sowie seinem Mausoleum in Konya
Quelle: Béatrice Hendrich
E INLEITUNG Der Beitrag beschäftigt sich mit dem mevlevitischen Feld in der Türkei, auf Zypern und in Deutschland, sowie den Netzwerken, die sich in den letzten Jahrzehnten transnational entwickelt haben. Der Begriff des mevlevitischen Felds wird verstanden als jene Gemeinschaften, Gruppen und auch Individuen, die in ihren kulturellen oder religiösen Aktivitäten durch die sufische Gemein-
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Die Feldforschung in Zypern wurde durch ein Marie Curie Intra European Fellowship im 7. European Community Framework ermöglicht.
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schaft (tarikat2) der Mevlevis maßgeblich beeinflusst sind und sich selbst auch darauf berufen. Innerhalb dieses Feldes existieren ganz unterschiedliche Formen der Übernahme, Adaption und Umsetzung der mevlevitischen Lehre, Texte und Riten. Das Feld ist sowohl durch Transnationalisierung und Globalisierung als auch durch Diversifizierung gekennzeichnet. Während die physische und virtuelle Mobilität zur Verbreitung mevlevitischer Bestände und zur Entstehung weltweiter Netzwerke geführt hat, bestimmen auf lokaler und nationaler Ebene soziale und auch rechtliche Gegebenheiten die jeweilige Organisationsform, die inhaltlichen Schwerpunkte und die konkrete Ausführung der Riten. Transnationale Netzwerke können helfen, Restriktionen im direkten und nationalen Umfeld zu überwinden. Gleichzeitig sind transnational vernetzte oder sich in der Diaspora ausdifferenzierende Religionsgemeinschaften besonders stark durch Transfer und Translation religiöser und kultureller Elemente des durchschrittenen Raums gekennzeichnet. Transfer und Translation werden insbesondere von unmittelbar konkurrierenden religiösen Gemeinschaften (desselben Felds) nur selten toleriert; vielmehr definiert man durch die strikte Ablehnung der konkurrierenden Rituale und Interpretation die eigene rechtmäßige Position. Der Beitrag beschreibt einige wichtige Gruppen und Netzwerke innerhalb dieses mevlevitischen Felds, zeigt die Unterschiede zwischen ihnen hinsichtlich der Fragen der Autorität, der Organisationsformen und des Selbstverständnisses auf, und analysiert den Zusammenhang zwischen den lokalen Gegebenheiten und dem global beobachtbaren spiritual turn. Es wird zugleich argumentiert, dass ein religiöses Feld wie das der Mevleviye nur dann richtig verstanden werden kann, wenn man die globalen und nationalen Bedingungen, und ebenso die Effekte der trans-lokalen und trans-nationalen Interaktion, gleichermaßen beachtet. Insbesondere der Figur des Scheichs, des Religionsspezialisten an der Spitze einer sufischen Gemeinschaft, kommt eine bestimmte, auch früher vorhandene, Funktion verstärkt zu Transnationalisierung und Globalisierung heben die Bedeutung der Gemeinschaftsführung durch den einzelnen Scheich nicht auf. Vielmehr ist er – und eher selten sie – die Person, die nicht nur als
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Auch wenn die meisten Termini des Islam ursprünglich dem Arabischen entstammen, hat sich doch im Laufe der Zeit ein regionales Idiom entwickelt, das die Termini der eigenen Sprache anpasste und weitere Begriffe entwickelte. Da im vorliegenden Zusammenhang das Türkische die dominierende Sprache ist, verwende ich die zeitgenössische türkische Variante sowie die entsprechende Schreibung, beispielsweise tarikat statt at-Tarqa. Das gilt auch für die Schreibweise der Eigennamen.
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spiritueller Führer wirkt, sondern vor allem mevlevitische Inhalte in das religiöse Idiom der jeweiligen lokalen Gemeinschaft transferiert. Die Mevleviye, die sogenannten Tanzenden Derwische, gehört zu den großen sufischen Gemeinschaften des Osmanischen Reichs und später dann der Türkei. Man kann diese tarikat als b-shar‘a (persisch, wörtlich „mit der Scharia“) klassifizieren: eine Gemeinschaft, die in der vielfältigen Welt des Sufismus als orthoprax gilt, also hinsichtlich der Befolgung der rituellen Pflichten des Islam, wie dem Gebet und dem Fasten, keine Nachlässigkeit duldet. Die Anfänge der Mevleviye reichen ins 13. Jahrhundert zurück, als der im heutigen Afghanistan geborene sunnitische Rechtsgelehrte, Mystiker und Poet Mevlana Dschelaleddin Rumi (1207-1273) im zentralanatolischen Konya sein höchst umfangreiches Werk verfasste und zahlreiche Anhänger fand. In den folgenden Jahrhunderten schufen die Mevlevis ein beeindruckendes musikalisches, poetisches und theologisches Œuvre, sowie bis ins kleinste Detail reichende Ordensregeln und ausgefeilte Rituale. Diese Gemeinschaft der Gelehrsamkeit und der städtischen Elite war und ist nicht für eine staatskritische Haltung bekannt. Es waren vielmehr ihre Mitglieder, die einen neu inthronisierten Sultan mit dem herrschaftlichen Schwert gürteten (Kayaolu 2007: 48-49). 3 Diese Haltung bewahrte die Mevleviye allerdings nicht davor, 1925 im Rahmen der neuen republikanischen Kultur- und Religionspolitik der Türkei wie alle anderen tarikat im Geltungsbereich des türkischen Gesetzes verboten zu werden. Das Verbot aller religiösen Aktivitäten, die nicht durch den Staat und seine Behörde gelenkt wurden, führte allerdings nicht zu einem Ende des Sufismus in der Türkei, und schon gar nicht zum Ende individueller Suche nach spiritueller Anleitung. Es entwickelten sich vielmehr neue Varianten gerade der Organisationsformen, damit einhergehend aber auch neue Perspektiven auf die Lehre und auf die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung der islamischen Mystik. Einerseits kam es zunächst zu einer stärkeren ‚Privatisierung‘ der Religionsausübung; man traf sich in den eigenen vier Wänden, um die Rituale auszuüben und Texte zu studieren. Der Wegfall der staatlichen Unterstützung bedeutete auch einen Wegfall der staatlichen Kontrolle. Diese Kontrolle hatte in der Vergangenheit auch Auseinandersetzungen um Autorität und Ausrichtung klären
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Wie alle anderen tarikat hat auch die Mevleviye bereits in der Vergangenheit eine Aufsplitterung erfahren. In diesem Beitrag ist vom Sultan Veled-Zweig die Rede. Diese Ausrichtung ist i.d.R. gemeint, wenn man von der Mevleviye spricht. Für weitergehende Informationen über die Mevleviye und Dschelaleddin Rumi siehe u.a. Schimmel 1980; Yazc et al. 1991; Lewis 2001; Ambrosio 2006.
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können bzw. diese durch die eigene Autorität unterbunden. Die neue Situation förderte letztlich die Diversifizierung des mevlevitischen Felds. Darüber hinaus konstatierte die politische Elite bald ein öffentliches Interesse an der ‚türkischen Kultur‘; unter diesem Schlagwort wurden zunehmend bauliche Relikte der osmanischen Zeit restauriert und beispielsweise als Museum der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht. Insbesondere die Mevleviye profitierte schon früh von diesen Maßnahmen. Anders als viele andere religiöse Stätten, die jahrzehntelang geschlossen blieben und baulich vernachlässigt wurden, wurde der zentrale Gebäudekomplex der Mevleviye in Konya als Antiquitätenmuseum (Konya Âsâr- Âtîka Müzesi) unter staatlicher Aufsicht bereits im März 1927 der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht und damit wenigstens baulich erhalten. Im Jahr 1954 wurde es als Mevlana-Museum neueröffnet und die Ausstellungsgegenstände entsprechend verändert. Bereits 1953 war das zentrale Ritual, der ‚Drehtanz‘ (sema), erstmals seit 1925 wieder öffentlich zu sehen gewesen. In einem Kino in Konya hatten drei Musiker sowie zwei Mevlevi-Scheiche in Alltagskleidung das Ritual aufgeführt: Keine religiöse Performanz sondern eine beispielhafte Darstellung eines Elements der türkischen Kultur war Ziel der Veranstaltung gewesen. Auch in den folgenden Jahren durfte der sema öffentlich nicht ausgeübt sondern lediglich aufgeführt werden. Doch schrieb der deutsche Orientalist Hellmut Ritter, der 1960 eine Aufführung in Konya beobachtete, dass auch 35 Jahre nach dem Bann noch eine gewisse spirituelle Atmosphäre zu bemerken gewesen sei (Ritter 1962). Die UNESCO spielt eine große Rolle in der Erhaltung und Verbreitung der mevlevitischen Kultur. Anlässlich des siebenhundertsten Todestages von Dschaleleddin Rumi 1973, sowie anlässlich des achthundertsten Geburtstags im Jahr 2007 nahm die UNESCO diese Daten in ihren kulturellen Jahreskalender auf.4 Darüber hinaus wurde der sema 2008 in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen. Trotz des offiziell seit 1925 anhaltenden Banns der traditionellen Vergemeinschaftungsform durch die türkische Gesetzgebung haben sich das Ritual sema, die Musik, die Literatur und religiöse Inhalte weltweit verbreitet.5 In der
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In der Regel bietet die Aufnahme in den UNESCO-Kalender die Gelegenheit, weltweit entsprechende Gedenk- und Kulturveranstaltungen zu organisieren. Das ganze Jahr darf dann „UNESCO-Jahr zum Gedenken an…“ genannt werden, wie es in der Türkei 1973 und 2007 auch geschah.
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Elemente der mevlevitischen Kultur waren schon in osmanischer Zeit im Westen bekannt. Die aktuelle weltweite Popularität derselben, bis hin zum Verkauf von T-Shirts
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Gegenwart ist zum einen das mevlevitische Feld selbst religiös und kulturell produktiv. Zum anderen hat sich auch die mevlevitische Organisation, die sich direkt in der Nachfolge der osmanischen tarikat sieht, soweit stabilisiert, dass sie es wagen kann, eine Unterschriftenkampagne gegen die touristische Vermarktung des sema durchzuführen. Man argumentiert, dass die Aufführung des sema für Türkei-Touristen die (sufische) Tradition verletze (http://imza.la/ turistiksema, letzter Zugriff 16.10.16). Das Beispiel der Mevleviye zeigt, dass das Verbot der mystischen Orden einerseits zu einem Ende der traditionalen sufischen Organisationsformen in der Türkei geführt hat, andererseits aber neue Formen hat entstehen lassen. So hat der Scheich als oft durch Erbfolge bestimmtes Oberhaupt viel an seiner früheren Unantastbarkeit und Autorität verloren. (Wobei es natürlich auch in der Vergangenheit Konflikte um den Führungsanspruch gab.) Heute werden die Konflikte allerdings oft medial ausgetragen, und die Entscheidung, welchem (mevlevitischen) Oberhaupt man die größte Autorität beimisst, ist vielmehr eine individuelle als eine durch familiäre Tradition und religiöses Milieu vorgegebene. Die Individuen entscheiden sich für die Gemeinschaft, die aufgrund ihres Angebots, das beispielsweise stärker auf die Lektüre der Texte oder auf die Einübung des sema ausgerichtet sein kann, ihren eigenen Bedürfnissen am nächsten kommt. Somit stehen die einzelnen Gemeinschaften und ihre Schlüsselfiguren auch in einem stärkeren Konkurrenzverhältnis um ihre Mitglieder, insbesondere wenn eine räumliche Überschneidung des Einflussbereichs vorliegt. Angesichts der Vielzahl von Angeboten im mevlevitischen Feld ist von einer bedeutenden, aber kaum zu ermittelnden Anzahl von FreizeitMevlevis oder „free-riders“6 auszugehen. In den folgenden Abschnitten werde ich einige mevlevitisch orientierte Gemeinschaften aus der Türkei, Zypern und Deutschland vorstellen, ihre wesentlichen Konzepte, Netzwerke und Hauptunterschiede.
mit Rumis „Konterfei“, ist allerdings beispiellos. Franklin D. Lewis beschreibt die überaus umfangreiche und vielfältige Aneignung und Adaption mevlevitischer Elemente in der europäischen kulturellen Produktion (Lewis 2001). 6
Annabelle Böttcher definiert „free-riding“ als „ […] keine dauerhafte Einbindung in Netzwerkstrukturen mit Übernahme von Verpflichtungen, sondern die unverbindliche gelegentliche Teilnahme an sozialen und rituellen Veranstaltungen“ (Böttcher 2011: 106).
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T ÜRKEI 1: O BERHAUPT IN E RBFOLGE Das rechtliche Verbot, eine religiöse Gemeinschaft außerhalb des von der Religionsbehörde kontrollierten Rahmens zu gründen oder zu leiten, wurde in den ersten Jahrzehnten der türkischen Republik strikt umgesetzt. Deshalb beschritten die Sufi-Gemeinschaften, die offiziell gar nicht mehr existierten, ab den 1950er Jahren zunächst den Weg, sich als Verein, der die türkische Kultur verbreitet, zu re-organisieren. Diese Verknüpfung von Kulturarbeit und Bewahrung des religiösen Erbes lässt sich bis heute bei vielen sufisch orientierten Vereinen in der Türkei erkennen. Die Internationale Mevlana-Stiftung (Uluslararas Mevlana Vakf), gegründet 1996 in Istanbul, gehört zu den großen Spielern im Feld. Von entscheidender Bedeutung ist, dass der Vorsitzende der Stiftung, Faruk Hemdem Çelebi, zugleich als Nachfahre von Mevlana Dschelaleddin Rumi in 22ster Generation gilt und Angehöriger der elebi-Familie ist. Die elebi-Familie wiederum residiert in Konya, dem historischen Zentrum der mevlevitischen Kultur. Sie beansprucht für sich, im Rahmen der biologischen Abstammung und Erbfolge das mevlevitische Erbe zu repräsentieren und weltweit die sufische Gemeinschaft der Mevleviye exklusiv anzuführen. Die Internationale Mevlana-Stiftung wurde als eine Service-Einrichtung gegründet, die Informationen über die Mevleviye vermittelt und als event manager für weltweite Aufführungen des sema fungiert. Als solche organisiert sie u.a. in Kooperation mit der UNESCO und dem Türkischen Ministerium für Kultur und Tourismus Welttouren für Sema-Gruppen und Mevlevi-Orchester (http://mevlanafoundation.com/about_en.html, letzter Abruf 17.08.2016). Darüber hinaus werden im In- und Ausland eine Vielzahl von Bildungsangeboten realisiert: Bildungs- und Glaubensreisen nach Konya und zu anderen Orten von Relevanz, Kurse für mevlevitische Musik, sema und Textstudium. Der religiöse Hintergrund sowie der institutionelle Zusammenhang der Internationalen Mevlana-Stiftung sind durch den Vorsitz von Faruk Hemdem eindeutig definiert. Ein Link auf der Seite der Internationalen Mevlana-Stiftung bestätigt diesen Zusammenhang: Unter der Adresse mevlana.net gelangt man zu einer Seite, die weder einen eigenen Namen trägt noch durch einen Verein oder irgendeine andere Organisation betrieben zu sein scheint. Das Motto zu Beginn der homepage ist in seinem Anspruch allerdings eindeutig: „Mevlana.net is the only website that is owned by Mevlana’s own family.“ Die Unterseiten machen das Ziel dieses Webauftritts deutlich; es geht darum, die Autorität der ÇelebiFamilie für die Mevleviye und insbesondere den erblichen Anspruch der männlichen Nachkommen dieser Familie auf das höchste mevlevitische Amt,
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das des Maqâm- Çelebi zu propagieren und zu verteidigen (http://mevlana.net/ celebi.html, letzter Abruf 17.08.2016). Anders gesagt, die Çelebi-Familie sieht sich als einzig wahre Vertreterin der historischen tarikat,7 wobei die Angehörigen dieser Sufi-Gemeinschaft längst nicht mehr nur auf dem Gebiet des früheren Osmanischen Reichs, sondern auf mehreren Kontinenten leben. Zu den Befugnissen eines Oberhauptes einer tarikat gehört auch, die Vertreter der nächstniedrigen Hierarchiestufe zu initiieren, nämlich die Scheiche. Zurzeit kennt man rund 20 Scheiche, die durch den Çelebi Faruk Hemdem initiiert wurden. Sie leben beispielsweise in der Türkei, den USA oder den Niederlanden. Besonders aktive Vertreter finden sich in der Schweiz und in Deutschland. Ein neues Instrument in der virtuellen Welt der von Konya aus kontrollierten Mevleviye ist ein grafisches Symbol, das die Grenze zwischen religiöser Legalität und häretischer Anmaßung kennzeichnen soll, der sogenannte Mevlevi-Ring. Abbildung 2: Der Mevlevi Ring
Quelle: http://mevlana.net (letzter Abruf 14.11.2016)
Nach Mevlana.net ist die Bedeutung dieses Symbols „to unite the currently approved members of the International Mevlana Foundation, […]. The hope is that the Mevlevi Ring will help resolve confusion caused by the many websites on the Internet that claim authority to represent the Mevlevi Order. Websites belonging to the Mevlevi Ring will have the logo of the International Mevlana Foundation which will signify acceptance, approval, and authorization to represent the Mevlevi tradition by the current hereditary leader of the Mevlevi Order, Faruk Hemdem Chelebi, the 33rd elebi (hereditary leader of all Mevlevis) and the 22nd generation direct descendent of Hazret-i Mevlana Jelaluddin Rumi. The Mevlevi Ring will allow visitors to visit the various websites that are authorized to represent the Mevlevi tradition“ (http://mev lana.net/webring.html, letzter Abruf 17.08.2016).
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Ein weiteres Indiz für das Selbstverständnis als tarikat ist der Wortlaut der englischsprachigen Seite, wo anstelle des türkischen Begriffs „Mevlevilik“, Mevlevitum, die Formulierung „Mevlevi order“ Verwendung findet (mevlana.net/mevlevi_order.html, letzter Abruf 19.10.16).
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T ÜRKEI 2: U NIVERSAL L OVERS Die Sufis um Faruk Hemdem vertreten ein möglichst traditionalistisches Verständnis der mevlevitischen Kultur unter Berufung auf die abstammungsbasierte Nachfolge in der religiösen Führung. Dieser Interpretation des mevlevitischen Erbes stehen Hasan kar (Dede8) und seine Anhänger entgegen. Im Jahre 1935 in Skopje, Mazedonien, geboren, kam Hasan kar 1959 nach Istanbul. Dort gründete er 1987 die Çada Mevlâna Aklar Topluluu, die Zeitgemäße Gemeinschaft der Mevlana-Liebenden9, die sich zunächst vor allem dem sema und der mevlevitischen Musik widmete.10 In der Gegenwart existiert die Gruppe unter dem Namen Universal Lovers of Mevlana Foundation / Evrensel Mevlana Aklar Vakf, EMAV. Die Sema-Gruppe unterscheidet sich schon nach außen hin von anderen mevlevitischen Gruppen durch ihre farbige – statt ausschließlich schwarz-weiße – Kleidung und durch die Teilnahme von Männern und Frauen im selben Ritual. Ihre öffentlichen Auftritte an zentralen Orten Istanbuls oder im eigenen Silivrikap Mevlana Kültür Merkezi‚ Silivrikap Mevlana-Kulturzentrum, sind vielen Touristen bekannt. Hasan kar ist außerdem für seine überkonfessionelle Kooperation mit alevitischen Vereinen bekannt, für die Offenheit gegenüber nicht-konvertierten nicht-muslimischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern an den Vereinsaktivitäten und für seine Unterstützung der (Religions-) politik Atatürks (Aydn 2009: 519). Wie einige Strömungen, die durch das türkistische Bild der Religionsgeschichte beeinflusst sind, vertritt auch Hasan kar die Ansicht, dass seine Lehre und Praxis sich auf eine alte, genuin türkische Kultur stützen, die sich vom „arabischen Islam“, so die in der Türkei geläufige, pejorative Formulierung, deutlich unterscheide. Somit verknüpft Hasan kar seine öffentlich zelebrierte Offenheit für ethnische und religiöse Pluralität mit einem türkisch-nationalen Weltbild. Seine Verehrung
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Dede ist ein türkischsprachiger religiöser Titel, der u.a. in der Mevleviye sowie bei den Aleviten und Bektaschiten gebraucht wird. Die Bedeutung dieses Titels lässt sich ebenso wenig wie die meisten anderen religiösen Titel im Islam eindeutig definieren. Er ist bedeutungsverwandt mit dem Scheich, im Sinne eines älteren, damit weisen, Religionsspezialisten.
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Çada, zeitgemäß im Sinne von modern gehört zum ideologischen Vokabular des türkischen Nationalismus.
10 Wo nicht anders vermerkt beruhen die Informationen zu Hasan Çkar und seinen Gruppen auf den Angaben der Vereinsseite, http://www.emav.org/. Das Gründungsdatum der ersten Gruppe wird in unterschiedlichen Publikationen mit 1987, 1988 oder 1989 angegeben.
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von Mustafa Kemal Atatürk hat ganz besondere Formen angenommen: In seiner religiösen Dichtung setzt er Atatürk gleich mit Dschelaleddin Rumi und dem Heiligen Ali, dem wichtigsten Heiligen der Aleviten und Schiiten (Saymaz 2002). Diese Grenzüberschreitungen haben im Laufe der Zeit zu tiefen Zerwürfnissen mit anderen mevlevitischen Gruppen in der Türkei geführt, u.a. mit der Galata Mevlevi Musik und Sema-Gemeinschaft, Galata Mevlevi Musikisi ve Sema Topluluu11 unter der Leitung von Nail Kesova (Görgün/Denker 2000), vor allem aber auch mit der Internationalen Mevlana-Stiftung und der elebiFamilie. Das Zerwürfnis mit der elebi-Familie beruht vor allem aber auf der Frage nach der religiösen Autorität, kraft derer beispielsweise neue Mevlevi-Scheiche weltweit initiiert und zugleich an eine bestimmte Organisation angebunden werden können. Hasan kar postuliert selbst, 1960 – oder 1965 – in Skopje durch Hakk Dede, einem Mevlevi im Range eines postniin initiiert worden zu sein, nach einer gemeinsam verbrachten Lehrzeit von mehreren Jahren. Da man in der Mevleviye den Rang eines Kalifen, eines Nachfolgers von Dschelaleddin Rumi nicht verliehen bekäme, sondern selbst ergriffe, sei es Hasan kar eines Tages möglich gewesen, in aller Stille selbst zum Kalif zu werden, er „attained the position of a successor to the Exalted Mevlana“ (http://www.emav.org/en/hasancikar, letzter Abruf 17.08.2016). Was seine religiöse Autorität weiterhin stärke, sei der Besitz des Roten Fells. Hierbei geht es um die Manifestation der religiösen Autorität durch den Besitz eines – vererbten – Sitzfells, auf dem der ranghöchste Sufi während der gottesdienstlichen Zeremonien Platz nimmt, woraus sich auch der bereits erwähnte Rang des postniin, des „Fellsitzers“, ableitet. Nach Hasan kars Aussage habe das jetzt in seinem Besitz befindliche Rote Fell bereits Dschelaleddin Rumi gehört und sei ihm selbst 1993 überantwortet worden.12 Ganz grundsätzlich verwirft Hasan kar die Weitergabe der sufischen Ämter an biologische Nachkommen; die Probleme, die die mevlevitische Kultur in der Gegenwart erlebe, seien zum großen Teil auf das Abstammungsprinzip zurückzuführen (Aydn 2009: 543).
11 Zur Galata Mevlevi-Gruppe und ihren Sema-Aktivitäten siehe Nikolaisen 2004. 12 In der islamischen Mystik sind Symbolik und Praxis des „Fells“ ein facettenreiches Thema, das hier nicht weiter ausgeführt werden kann. Hasan Çkars Ausführungen stellen in einigen Aspekten eine Sondermeinung dar.
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D EUTSCHLAND : S ÜLEYMAN 13 UND H ALIS D ORNBRACH
W OLF B AHN
In Deutschland wird das mevlevitische Feld von zwei sehr unterschiedlichen Gemeinschaften und ihren Führungspersönlichkeiten bestimmt. Während die eine Gemeinschaft durch einen Scheich geführt wird, den der Çelebi in Konya eingesetzt hat, handelt es sich bei der zweiten um eine unabhängige Gemeinschaft, die mit einem „New Age background“ (Klinkhammer 2009b: 139) aus dem spirituellen Markt in Deutschland erwachsen ist. Bei dem durch den Çelebi eingesetzten Scheich handelt es sich um Süleyman Wolf Bahn, der dem Mevlana e. V. (Internationale-Mevlânâ-Stiftung – Deutschland Mevlânâ e. V.) vorsitzt. Die geistliche Hierarchie der Gemeinschaft und die Vereinsstruktur sind das Ergebnis der Überschneidung von nationaler Gesetzgebung, der Religionspolitik in Deutschland, der mevlevitischen Tradition im Umgang mit weit von Konya entfernt angesiedelten Gemeinschaften, und dem gegenwärtigen globalen Markt der spirituellen Bewegungen. Der Verein beschreibt sich selbst als „offizieller Landesvertreter der International Mevlana Foundation“ (Internationale Mevlana Stiftung [o. D.], „Über uns“, letzter Abruf 18.07.2016). Der Mevlana e. V. – mit Sitz in Nürnberg und einigen kleineren Zentren deutschlandweit – ist, wie so viele religiöse Gemeinschaften in Deutschland, entsprechend des deutschen Vereinsrechts organisiert. Dies erlaubt, einige Vergünstigungen aus dem Vereinsrecht wahrzunehmen ohne in der Vereinsarbeit selbst kontrolliert oder reglementiert zu werden, so lange keine Rechtsverstöße vorliegen. Den Rechtsstatus einer Religionsgemeinschaft zu erlangen, wäre mit einem erheblichen Aufwand ohne besondere Vorteile für kleine Gemeinschaften verbunden. Andererseits muss ein eingetragener Verein bestimmte strukturelle Vorgaben umsetzen: So müssen der Vorsitzende und der Vorstand durch die Mitglieder gewählt werden, und die Aktivitäten dürfen nicht nur einem beschränkten Personenkreis zugutekommen sondern einer weiteren Öffentlichkeit. Aufgrund dieser Vorgaben besitzt auch der deutsche MevleviVerein eine doppelte Struktur, ganz ähnlich wie die „Mutterorganisation“ in der Türkei. Auf der einen Seite steht der säkulare Verein mit seinen kulturellen Aktivitäten und seiner Organisationsstruktur, die dem nationalen Recht entspricht. Auf der anderen Seite steht die tarikat, die ein traditionalistisches
13 Eine weitere Darstellung des mevlevitischen Felds in Deutschland, der einzelnen Gemeinschaften und ihrer Rituale aus einer anderen Perspektive als der dieses Beitrags findet sich bei Klinkhammer 2009a.
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Verständnis der Mevleviye vertritt, welches eine spirituelle Hierarchie, Gehorsam gegenüber dem Scheich und dem Lehrlingsstatus der Adepten beinhaltet. Scheich und Çelebi geben die Lehrinhalte und Hierarchien vor, wobei sie sich auf Dschelaleddin Rumi berufen. Die Vereinsziele sind laut Satzung, die Poesie Rumis zu lehren sowie den sema, und den interkulturellen und interreligiösen Dialog zu unterstützen (Internationale Mevlana Stiftung [o. D.], „Mevlana Verein e. V.“, letzter Abruf 18.07.2016). Das Ziel der tarikat hingegen ist es, Methoden zu lehren, durch die der Einzelne „sich seinem wahren Wesen“ nähern und „schließlich dieses Wesen, das man selbst ist“ leben kann, um schließlich „Gott und seiner Schöpfung zu dienen“. „Das oberste Ziel ist es, leer zu werden von allem, was nicht Gott entspricht“ (Internationale Mevlana Stiftung [o. D.], „Die Tarikat“, letzter Abruf 18.10.2016). Übertritt zum Islam wird nicht vorausgesetzt, doch solle man sich bewusst sein, dass der Islam die Basis des Mevlevitums ist. Während die Vereinssatzung sich wie irgendeine Satzung eines Kulturvereins liest, betonen die durch die Internationale Mevlana-Stiftung aufgestellten Grundregeln die Bedeutung der mevlevitisch-islamischen Regeln und fordern strikten Gehorsam gegenüber den Scheichs und dem Çelebi (Internationale Mevlana Stiftung [o. D.], „Grundregeln“, letzter Abruf 18.07.2016). Die zweite bedeutsame mevlevitisch orientierte Gemeinschaft in Deutschland unterscheidet sich in zahlreichen Aspekten vom Mevlana e. V. Die KubreviMevlevi Tariqa wird ebenfalls durch einen deutschen Konvertiten angeführt, Sheikh Abdullah Halis Dornbrach (oder Abdullah Halis El-Mevlevî), der allerdings die exklusive Autorität des Çelebi nicht akzeptiert, sondern argumentiert, im Jahre 1975 von einem syrischen Mevlevi initiiert worden zu sein, der seinerseits einer Linie angehöre, in deren Tradition die Scheichs nach Eignung ausgewählt werden, nicht nach Abstammung (Nuriye Hanimefendi n. d.). Halis Dornbrach, geboren 1945 in Deutschland, blickt auf ein ereignisreiches Leben zurück. Er verbrachte einige Jahre in Syrien und in der Türkei und gründete verschiedene spirituelle und soziale Organisationen, bevor er sich in der ostdeutschen Provinz, in Trebbus, niederließ. Dort gründete er mit seiner Frau Nuriye, genannt Sheikha, 1992 das Trebbus Mevlevihane, das Zentrum seiner sufischen Aktivitäten. Während seiner Reisen auf dem mystischen Pfad habe er die Lehrerlaubnis für verschiedene tarikat erhalten, für die Nakschibendiye, Dscherrahiye und Rifaiye. Außerdem sei er 2007 mit der Leitung der deutschen Abteilung der zypriotisch-britischen Nakschibendi-Gemeinschaft von Scheich Nazm beauftragt worden (Klinkhammer 2009a: 220). Die Initiation in mehr als nur eine mystische Gemeinschaft ist im Sufismus nicht außergewöhnlich, ebenso wenig wie die Schaffung einer neuen Gemein-
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schaft oder die Variation von Inhalten; für die Vielfalt des Sufismus sind dies unabdingbare Prozesse. Von größerem Interesse für die kulturwissenschaftliche Betrachtung sind die retrospektive Konstruktion des kulturellen Erbes der neuen Gemeinschaft sowie die Rechtfertigungsnarrative. Halis Dornbrach verweist zu diesem Zweck auf eine Reihe von mystischen Vorfahren und auf „altes Wissen . So habe schon der große Meister Scheich Muhammad Nured-din al-Dscherrahi die vier großen Pfade (Schulen) zu einem vereinigt und im 17. Jahrhundert eine neue tarikat gegründet (Nuriye Hanimefendi n. d.). Das Adjektiv kubrevi im Namen der eigenen tarikat verweise auf Nadschm al-Din Kubra (1145-1220), den Lehrer des Vaters von Dschelaleddin Rumi.14 Der Internetauftritt der Kubrevi-Mevlevi Tariqa enthält auch eine englischsprachige Seite, die die Reihe der religiösen Vorfahren und die Überlieferung des Wissens kurz zusammenfasst:
”
„Today’s Kubrevi-Mevlevi Tariqa is headed by Sheikh Abdullah Halis Efendi, a native German who received many years of broad and intensive training in the Orient, where he also served as a Qady (judge), before returning to the West. His teacher, the honourable Sheikh Mustafa Kemal al-Maulavi from Aleppo, Syria, gave him the task of reestablishing traditional Dervish training, and Sheikh Abdullah Halis Efendi teaches in the traditional way of the Aleppinian branch of the Mevleviyya. This tradition is considered to be most complete.“ (www.mevlevi.de/sufitum-weg/mevlevi-order/#.UjhR1H-HeVE, letzter Abruf 17.08.2016)
Die abschließende Formulierung verweist auf die „unvollständige“ Tradition der Internationalen Mevlana-Stiftung, und zugleich auf eine Besonderheit im Angebot der Kubrevi-Mevlevi Tariqa, nämlich „tbb-i nuraniyye“ (Lichtmedizin) oder „Lichtglanzmeditation, LGM“ (Programmheft 2013: 16). Im Programmheft heißt es dazu: „Diese spezielle Methode wurde seit Generationen in unserer Linie der Mevlevi-Tariqa weitergegeben und hat ihre Wurzeln in der indischen Sufi-Gemeinschaft der Suhrawardiyya. Die Form, mit der wir in der Mevlevihane arbeiten, geht auf einen Lehrer von Scheich Abdullah Halis zurück. Sein Rehber, Ferhad Dede, unterwies ihn darin in den frühen siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts während der Zeit seiner Tschile [Phase der mystischen Zurückgezogenheit] in Aleppo. Wir geben diese Arbeit so weiter, wie sie uns überliefert wurde und knüpfen an die Jahrhunderte alte Tradition an“ (Programmheft 2013: 16).
14 Hinsichtlich des Einflusses der Kubrawiya auf Mevlana Dschelaleddin Rumi siehe Binba 2001: 59.
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Diese Methode wäre einer ausführlicheren Betrachtung wert, was hier aber nicht geleistet werden kann. Wichtig ist festzuhalten, dass hier offensichtlich mehrere Elemente ineinander übergegangen sind, beispielsweise die Lehre von den farbigen Lichtern in der Kubrawiya und der ontologische Diskurs der Suhrawardiyya über das Licht. Auch Dornbrachs Meister, der Syrer Ferhad (oder Farhad) Dede (1882-1977), ist weniger als großer Scheich der Mevleviye denn als ein „rather unconventional Mevlevi dervish“ (Lewis 2001: 514) in die Forschungsliteratur eingegangen. Bekannt ist er vor allem durch seinen Kontakt mit John G. Bennett (1897-1974), einem Briten auf der Suche nach spiritueller Erfüllung und einer wichtigen Figur für die Geschichte der Esoterik und des europäischen Sufismus im 20. Jahrhundert. Auffällig ist, dass Dornbrachs Aktivitäten ohne eine Einbettung in verschiedene sufische, personelle und transnationale Netzwerke nicht denkbar wären. So sehr er sich einerseits von dem Prinzip der biologischen Abstammung der Mevlevis im Umkreis der Internationalen Mevlana-Stiftung abgrenzt, so sehr ist er doch auf die Legitimierung seiner Autorität durch Personen und Institutionen angewiesen, die ihrerseits möglichst weit zurück in der Vergangenheit verankert werden können. Nach Klinkhammer beruhen dieses aufwendige Setting, diese vielfältigen Narrative der Rechtfertigung seiner mystischen Autorität u. a. auf dem Mangel eines auf Ethnizität beruhenden Charismas (Klinkhammer 2009a: 227), da der Scheich weder aus dem Orient stammt noch geborener Muslim ist. Auf der anderen Seite, so Klinkhammer weiter, entspricht sein Angebot von sufischer Lehre und esoterischer Selbsterfahrung sehr genau dem Bedürfnis, das der deutsche „(religious) identity market“ (ebd.) zu befriedigen versucht.
D AS MEVLEVITISCHE F ELD IN Z YPERN Mit der osmanischen Eroberung Zyperns 1571 gelangte auch die mevlevitische tarikat auf die Insel. Das Mevlevihane, das Zentrum der Mevlevis in Nicosia, beherbergte keine wirklich herausragenden Sufis; andererseits stand es durch das System der sufischen Netzwerke nicht nur mit den mevlevitischen Gemeinden der anderen osmanischen Provinzen und mit Konya in Kontakt, sondern auch mit den anderen auf der Insel vertretenen tarikat und deren Netzwerken. Reisende Mystiker, die in den Häusern der eigenen und anderer Gemeinschaften unterkamen, sorgten für die transregionale Kommunikation, ebenso wie osmanische Beamte, die in die Provinzen ausgesandt wurden. Mit der zunehmenden Mobilität im 19. Jahrhundert und dem beginnenden britischen Einfluss bekam Zypern eine gewisse Bedeutung als Station für Reisende zwischen Europa und
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dem Nahen Osten. Angehörige diverser Religionen und spirituellen Strömungen, auch und gerade der westlichen Esoterik, machten hier halt und knüpften Kontakt mit einheimischen Religionsvertretern. Zwischen 1923 und 1925 änderte sich die politische und rechtliche Situation erheblich; die muslimischen, meist türkischsprachigen, Zyprioten waren davon deutlich mehr betroffen als die griechisch-orthodoxen. Im Zusammenhang mit der Gründung der Türkischen Republik 1923 erklärte letztere auch ihren Verzicht auf alle Ansprüche auf Zypern. Im Jahr 1925 wurde der Kolonialstatus Zyperns durch die Ausrufung der Kronkolonie Zypern nochmals gefestigt, und im selben Jahr erging in der Türkei das Verbot aller tarikat. Somit waren die Türken, Muslime und Sufis Zyperns von der türkischen Unterstützung sowie den etablierten Netzwerken weitgehend abgeschnitten. Andererseits nahmen die Briten keinen Einfluss auf die Religionsausübung in Zypern. Als Ergebnis blieb das Mevlevihane in Nicosia bis 1954 geöffnet, wobei die Aktivitäten der verbliebenen Sufis auch starker Kritik ausgesetzt waren vonseiten der Zyprioten, die sich eine radikalere Säkularisierung der türkischen Gemeinschaft gewünscht hätten. Nach 1954 wurde das Gebäude der Mevleviye als Waisenhaus und Museum verwendet und zum Teil zerstört. Interessanterweise fand es aber Aufnahme in das Wappen der 1958 institutionalisierten Stadtverwaltung von Nord-Nicosia.
Abbildung 3: Wappen der Stadtverwaltung von Nord-Nicosia: Das Mevlevihane, umgeben von der venezianischen Stadtmauer
Quelle: (www.lefkosabelediyesi.org/, letzter Abruf 14.11.2016).
Das Jahr 2002 kann als ein Wendepunkt für das mevlevitische Feld in Zypern betrachtet werden, wobei sich Praktiken und Strukturen deutlich von denen der Vergangenheit unterscheiden. Die ‚zweite mevlevitische Periode Zyperns’ wurde eingeleitet durch die Wiedereröffnung des restaurierten Mevlevihanes als Museum für mevlevitische Kultur. Im selben Jahr wurde an einer Universität in
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Nordzypern in Kooperation mit der britischen Universität Exeter das RumiInstitute gegründet, „as a centre to coordinate academic research into the legacy of Mawlana Jalal al-Din Rumi, and to promulgate the universal ideas which underlie Rumi’s teachings in these verses that are of immediate relevance to today’s world“ (Near East University Rumi Institute). Die Eröffnungsfeier im Dezember schloss eine Sema-Aufführung ein, die erste an diesem Ort seit 50 Jahren. Seither hat sich eine neue „Tradition“ der Mevlana-Gedenkaktivitäten im Dezember jeden Jahres etabliert. Die mevlevitisch-orientierten Aktivitäten werden von Einzelpersonen und kleinen Gruppen mit recht unterschiedlichen Ausrichtungen getragen; die entsprechenden Konflikte haben sich bereits entwickelt. Das Rumi-Institute betont die internationalen akademischen Aktivitäten, wobei zugleich die Bedeutung der Mevleviye für die genuine zypriotische Kultur und den Friedensprozess hervorgehoben wird (Kaplan/Gebe 2012). Zwischen dem Institut und den pro-türkischen Unterstützer der Çelebi-Familie in Konya besteht seit 2011 spätestens ein öffentlicher Konflikt, der sich zum Teil an einer maßgeblichen Person des Rumi-Institute entzündete. Der 2012 verstorbene Gökalp Kamil, der als Zypriote viele Jahre in Großbritannien verbrachte, zeigte großes Interesse an westlichem Sufismus und Esoterik und lehnte außerdem jede türkische Einmischung in zypriotische Angelegenheiten, einschließlich der religiösen, ab (Interview Oktober 2011). Die Volkstanzgruppe Dance of Cyprus-Çada Halk Danslar Dernei hat den sema in ihr Programm aufgenommen, wobei sie einerseits die Rolle des sema als Teil der allgemeinen zypriotischen und säkularen Kultur konstatiert, andererseits aber jede Aufführung mit einer Koranrezitation beginnt. Die Tänzer betonen die spirituelle Erfahrung während des sema, welcher für sie Gebet und Yoga zugleich ist (Interview Mai 2013). Die vierte Gemeinschaft im mevlevitischen Feld Zyperns ist zugleich eine tarikat der Richtung Nakschibandi-Hakkani, gegründet von Sheikh Nazm al-Qubrusi (1922-2014), einem gebürtigen Zyprioten. Es handelt sich um jenen Scheich, von welchem der oben genannte Halis Dornbrach angibt, als Vertreter für Deutschland eingesetzt worden zu sein. Einige Vorfahren al-Qubrusis, der ebenfalls viele Jahre in London lebte, waren in der Mevleviye aktiv. Während der Londoner Jahre nahm der Scheich den Drehtanz in seine Rituale auf. Neben anderen Begründungsversuchen für die Einbettung des sema in das Nakschibandi-Repertoire hat besonders Simon Stjernholms Argument Gewicht, dass es nämlich darum gegangen sei, im Ausland „new sympathisers through this eye-catching ritual” (Stjernholm 2009: 94) anzuziehen. Al-Qubrusi hat außerdem in London Kontakte zu Vertretern des westlichen Sufismus gehabt, die stets
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an der Musik und den besonderen Bewegungsformen der Sufis interessiert waren. Auf der Webseite der deutschen Gruppe von al-Qubrusi ist schließlich zu lesen, dass der sema bereits im Bagdad des 9. Jahrhunderts existiert hätte und von Dschelaleddin Rumi lediglich perfektioniert worden sei (Sufizentrum Braunschweig [o. D.]).
D AS MEVLEVITISCHE F ELD : A USTAUSCH UND Ü BERSCHREITUNG ALS G RUNDBEDINGUNG In den mehr als 700 Jahren ihrer Existenz hat sich die Mevleviye weltweit verbreitet; dabei hat sie im Zusammenspiel von bereits bestehenden Formen und neuen Rahmenbedingungen unterschiedliche Vergemeinschaftungsformen angenommen. Die idealtypische Form der tarikat, die ihre Adepten wenigstens für eine bestimmte Zeit ganz und gar in das spirituelle Leben der Gemeinschaft einbindet, die die Lehre in jahrelanger Arbeit an nachfolgende Generationen weitergibt und stabile Hierarchien über große Regionen hinweg aufbaut, hat sich realiter ohnehin nur in bestimmten Zeiten umsetzen lassen und wurde stets durch innere und äußere Konflikte und Veränderungen modifiziert. In der Gegenwart sind nur noch wenige Menschen in den hier betrachteten Ländern mit allen Aspekten ihres Lebens in eine tarikat eingebunden. (Ohnehin steht in der Diskussion, ob die Nachfolgeorganisationen der durch die türkische Regierung gebannten Sufikongregationen überhaupt noch als tarikat bezeichnet werden können.) Die Tendenz zum Freizeitsufitum und zum eklektischen Umgang mit sufischen Elementen hat zur Folge, dass ein Markt entstanden ist, aus dem der oder die Einzelne ein den eigenen Bedürfnissen entsprechendes Angebot auswählen kann. Dieser Markt eröffnet auch die Möglichkeit, Verschiedenes auszuprobieren, zu wechseln oder selbst Neues zu schaffen. Der Konkurrenzdruck unter den Anbietern wächst entsprechend. Weltweit agierende und damit auch weltweiten Einflüssen ausgesetzte tarikat wie die Mevleviye müssen um den eigenen Fortbestand zu sichern unentwegt Grenzüberschreitungen begehen, auch wenn die Selbstwahrnehmung und Außendarstellung auf eine „uralte Tradition und Geschichte“ rekurrieren. Umgekehrt dient dieser Verweis der historischen Tiefe der Überschreibung, also Unkenntlichmachung, von Grenzüberschreitungen. Die Figur des Scheichs gehört zu den zentralen Bestandteilen einer sufischen Gemeinschaft; nur durch ihn können die Adepten auf ihrem spirituellen Weg fortschreiten. Die Scheichs der Gegenwart nehmen wie ihre Vorgänger die Einflüsse ihrer sich ändernden Umwelt auf und kommunizieren sie in einem
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lokal geläufigen religiösen Idiom ihren Anhängern. Der Scheich gibt nicht nur das Wissen einer oder mehrerer Gemeinschaften weiter, die ihn mit einer Lehrbefugnis ausgestattet haben, und ist der Vermittler zwischen dem Diesseits und Jenseits (Böttcher 2006: 241); er war und ist auch oft genug physisch mobil und erschafft durch seine Wanderungen (transnationale) Netzwerke. Akademische Forschungsinteressen und Erkenntnisse, wie im Fall des Rumi Institute in Zypern, vergrößern den Radius des Einflusses und der Beeinflussung einer beforschten tarikat. Die transnationale Qualität der Netzwerke ergibt sich aus der Existenz nationaler Rahmenbedingungen, die durch eine Transnationalisierung nicht aufgehoben werden. „Transnationales ist eben nicht ‚De-lokalisiertes‘ oder das Ergebnis der ‚Auflösung‘ von Nationalgesellschaften, sondern ein in dieser Art und diesem Umfang historisch neuer Vergesellschaftungsmodus über die Grenzen von – weiterhin bestehenden und bedeutsamen – nationalen Gesellschaften hinweg“ (Pries 2010: 10).
Das transnationale Netzwerk ermöglicht es aber, nationale Einschränkungen zu umgehen und auch neue, als vorteilhaft gewertete, Erfahrungen in die Arbeit im Ursprungsland einzubringen.15 Der Umstand, dass der Islam historisch gesehen über einen supranationalen Charakter verfügt (Voll 2007: 290), kann als Bestandteil des sufischen Selbstverständnisses betrachtete werden und erleichtert die Bewegung der Sufis im transnationalen Raum. Andererseits hat die Nationalisierung der Religion durch den türkischen Staat großen Einfluss auf die sufischen Gemeinschaften genommen, die ihr Zentrum in der Türkei haben. Die Mevleviye musste sich innerhalb der neuen gesetzlichen Grenzen neu aufstellen und kann nur schrittweise ihre transnationalen Beziehungen ausbauen und ihren supranationalen Charakter wieder unterstreichen. Rivalitäten zwischen einzelnen Akteuren im mevlevitischen Feld regen zusätzlich die Formulierung einer eigenen, separaten mevlevitischen Lehre und Identität an, die zugleich ganz wesentlich ein Produkt dieser Auseinandersetzung ist. Insgesamt ist das mevlevitische Feld in einer ständigen Bewegung: Basierend auf einem musikalischen, literarischen und religiösen Fundament, das durch die Jahrhunderte hinweg Nutzer und Nutzerinnen unterschiedlichster Motivation inspiriert hat, ist das Feld in der Gegenwart sicher den größten Umbrüchen in seiner Geschichte ausgesetzt und vernetzt sich zugleich in bisher unbe-
15 Auf die Rückwirkungen der Aktivitäten in anderen Ländern auf die Ursprungsorganisation konnte hier nicht eingegangen werden.
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kanntem Maßstab im globalen Raum, d.h. Transfer- und Translationsprozesse innerhalb des Feldes sind keine neuen Ereignisse, verfügen aber über eine neue Qualität.
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8. Exil als Negation und die Negation der Negation: Poetische und politische Transgressionen in der zeitgenössischen arabischen Exillyrik (Palästina und Irak) S TEPHAN M ILICH
Aber die Ruhe der Trauer, die nach großen Katastrophen sich über eine Unglücksstätte senkt, ist bis heute ausgeblieben. HANNAH ARENDT Weil der Kolonialismus eine systematische Negation des anderen ist, eine blindwütige Entschlossenheit, dem anderen jedes menschliche Attribut abzustreiten, treibt er das beherrschte Volk dazu, sich ständig die Frage zu stellen‚Wer bin ich eigentlich? FRANTZ FANON
E XILLITERATUR IN DER ARABISCHEN M ODERNE Während mit dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft für viele deutschsprachige Literatinnen1, Künstlerinnen und Intellektuellen das Exil nach 1945 oder wenige Jahre danach zu Ende ging, gilt dies für die arabischsprachige
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Mit Nennung der weiblichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die männliche Form mitgemeint.
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Literatur – wie auch für einige andere Literaturen der Welt – nicht: Das arabische Exil der Moderne ist aufgrund politischer und gesellschaftlicher Umstände wie Diktatur, Krieg, politischer Repression oder Okkupation ohne absehbares Ende und wird möglicherweise noch Jahrzehnte fortdauern. Es trifft in vielen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas nicht nur politische Aktivisten, Intellektuelle und Kunstschaffende, sondern potentiell alle Teile der Bevölkerung. Bereits Hannah Arendt hatte die nach dem Ersten Weltkrieg massenhaft entstehende Staatenlosigkeit und das Flüchtlingsdasein (siehe Arendt 2000: 583) als Anomalie beschrieben, die „nicht vorübergehend ist, sondern chronisch“ (Arendt 2000: 583, Fußnote 20). Für Arendt führte das Zusammenwirken von Staaten- und Heimatlosigkeit, dem Totalitarismus und Imperialismus sowie immer neu gezogenen physischen und juristischen Grenzen durch die nationalstaatliche Politik in „Aporien der Menschenrechte“, die als „chronischer“ Dauerzustand zeitgenössischer Lebensbedingungen unzähliger Menschen ohne eine radikal andere Form des Politischen nicht mehr aufzulösen seien.2 Mit dieser Situation des „chronischen Ausnahmezustands“ und des daraus resultierenden „chronischen Exils“ müssen sich arabische Autorinnen gezwungenermaßen arrangieren, wenn sie nicht den Weg der politischen Vereinnahmung als staatstreue öffentliche Intellektuelle oder das Verstummen wählen, um in der Heimat zu bleiben. Meines Erachtens lassen sich drei Grundsituationen des arabischen Exils unterscheiden: 1) Die individuelle Flucht vor Bedrohung und Verfolgung durch die ‚einheimische‘ politische Macht wie im Irak, Libyen und Ägypten; 2) die kollektive Flucht vor Krieg und gewaltsamen Konflikten wie z. B. im Algerien der 1990er Jahre, im libanesischen oder den sudanesischen Bürgerkriegen und seit 2011/12 in Syrien, Jemen, Irak und Libyen; 3) die Vertreibung, Landnahme oder Besatzung des eigenen Landes durch eine „fremde“ politische Macht wie in Palästina oder der Westsahara, was oft mit einem Einreise- oder Rückkehrverbot für die vertriebene Bevölkerung einhergeht.3 Die erste Situation betrifft vor allem oppositionelle Intellektuelle und damit auch kritische Schriftstellerinnen und Künstlerinnen, während der zweite und dritte Fall potentiell alle Teile der Bevölkerung zur Flucht zwingen kann. Hinzu
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Siehe die betreffenden Passagen in Arendt 2000: 559 f.
3
„The ‚plight‘ of the Palestinians, according to Susan Akram, citing the Lebanese representative to the UN General Assembly in 1951, was unique because ‚the obstacle‘ to their repatriation was not dissatisfaction with their homeland as required by Article 1J, but the fact that a member of the United Nations [Israel] was preventing their return.“ Zitiert nach Harlow 2012: 14.
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kommt oft noch eine Mischung aus politischen, sozialen und kulturellen Faktoren wie Einschüchterung, Zensur und Beschneidung der Meinungsfreiheit sowie ein allgemeines Klima sozialer, ethnischer, sexueller oder konfessioneller Diskriminierung. Der gemeinsame Nenner dieser Ursachen des Exils aber besteht in der Negation nicht nur der Würde und des Selbstbestimmungsrechts, sondern der bloßen Existenz eines Individuums oder einer Gruppe an seinem eigenen Ort, die eine Rückkehr so lange unmöglich macht, solange die Negation weiterbesteht. Während al-manf im Arabischen den Ort und Zustand des Exils bezeichnet, besitzt das aus derselben Wurzel (nn – f – y) gebildete zweite arabische Wort für „Exil“, an-naf , eine weitere Konnotation, die diesen wesentlichen Aspekt wohl jeder politischen Flucht/Migration erhellen kann, denn an-naf bedeutet zugleich Exil und Negation im grammatikalischen Sinne. Die Bedeutung des Wortes ist damit nicht nur auf die Negierung der Rechte oder Würde eines Menschen beschränkt, sondern drückt diese Negierung auch sprachlich aus. Die in diesem Zustand immer latent vorhandene andere Seite des Exils ist die individuelle oder kollektive Entrechtung oder gar Vernichtung, die die Existenz eines Menschen nicht an einen außerhalb des eigenen Territoriums gelegenen Ort auslagert, sondern auf dem eigenen Territorium einen abgeschotteten Raum der Vernichtung, der Auslöschung oder des Verschwindens schafft. Der ägyptische Autor Fat Abd al-Fatt 4 hat diese zwei ineinandergreifenden Seiten der Negation in seinem Romantitel Der Dualismus von Gefängnis und Exil ( un’ yat as-si n wa l- urba, 1995) anhand des politisch repressiven Klimas der Sadat-Ära zum Ausdruck gebracht, während Judith Butler in Bezug auf Israel-Palästina von „internally linked categories“ (Butler 2012: 38) spricht, für die gewisse Mechanismen entwickelt wurden, die eine Umwandlung von der einen in die andere Kategorie mittels eines politischen Automatismus der Negation und Entrechtung ermöglichen. Aus den einzelnen arabischen Exilliteraturen, die trotz aller nationalen Unterschiede eine miteinander verbundene arabische Literatur5 bilden, möchte ich
4
Im Folgenden schreibe ich nur die arabischen Autoren, deren Namen in den deutschsprachigen Medien noch nicht „eingedeutscht“ wurden, nach den in der Islamwissenschaft/Arabistik üblichen Transkriptionsregeln.
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Natürlich bestehen zwischen den 21, der Arabischen Liga angehörenden Staaten grundlegende Unterschiede, nicht nur was die gesellschaftlichen Strukturen, das politische System und die Geschichte betrifft, sondern auch die Aufmerksamkeit, die den einzelnen ‚Nationalliteraturen‘ sowohl in der arabischen als auch internationalen Arabistik zuteil wird.
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für diesen Beitrag zwei Beispiele in den Blick nehmen: die irakische und die palästinensische Exillyrik. Anhand der Interpretation ausgewählter Gedichte möchte ich zeigen, wie die einzelnen Lyriker sich zu ihrem Exil, zum Exil anderer Exilantinnen sowie zur Situation ihres Heimatlandes positionieren. Dabei geht es nicht nur um die Frage, welche Aspekte des oft als ambivalent erfahrenen Exils benannt werden, sondern auch um Versuche, mit und in der Sprache gewaltsam gesetzte und die menschliche Freiheit einschränkende Grenzen und Normen zu überschreiten. Die Notwendigkeit, transgressiv (grenzüberschreitend bzw. grenzverletzend) zu agieren, wird erst durch einen vorangegangenen Akt der gewaltsamen Negation – staatlich sanktioniert oder nicht – geschaffen. Wenn das literarische Exil ähnlich wie ein von Menschen an Menschen verübtes Trauma, dem psychische, aber auch soziale, politische, kulturelle und rechtliche Aspekte inhärent sind, als Syndrom verstanden wird, zieht es stets die Frage nach seiner Überwindung oder Transformation in einen weniger leidvollen oder weniger ungerechten Zustand nach sich. Die Überschreitungen kulturell-sozialer wie geografisch-politischer Grenzen interagieren und bedingen sich dabei auf komplexe Weise, sodass die Transgressionen im Kontext der arabischen Exilliteratur aufgrund der realen Exilerfahrungen der Autorinnen bzw. der transnationalen Ausrichtung ihrer Biografien, über die bloße Übertretung sozialer oder künstlerischer Normen hinausgehen. 6 So gesehen ließe sich das Exil als Trans-Syndrom begreifen, das nach sehr unterschiedlichen Formen der Überwindung verlangt, die politischer, sozialer, recht-licher, aber auch künstlerischer und sprachlicher Natur sein können. Insbesondere mit den beiden letzteren Bereichen kommt eine weitere Ebene ins Spiel, die weder die Verletzung gesellschaftlicher Normen noch die ‚illegale‘ Übertretung politischer Grenzen meint, sondern vielmehr die sprachliche und räumliche Übertragung von Wörtern, Menschen, Dingen und Konzepten, durch deren originäre Bezeichnung neue Identitäten und Konzepte entstehen.
D IE IRAKISCHE D ICHTUNG Aus dem Irak flüchteten Autorinnen in mehreren Phasen und aufgrund verschiedener Ursachen: einer zunehmend repressiver werdenden Diktatur, ethnischer und konfessioneller Verfolgung, vor Kriegen (1980-88 und 1990-91), Embargo
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Die Konzeptualisierungen von „Transgression“, wie sie von Georges Bataille und daran anknüpfend von Michel Foucault (z. B. Foucault 1977: 33-34) vorgenommen wurden, spielen für den Kontext der vorliegenden Studie keine Rolle.
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(1991-2003) und seit 2005/06 vor den Folgen eines failed state.7 Der Dichter und Verleger Khaled al-Maaly beschreibt retrospektiv die Folge der Machtübernahme durch Saddam Hussein Ende der 1970er Jahre folgendermaßen: „Die Folge [der Machtergreifung] war eine Zerstörung der Kultur im Irak und eine geistige Entleerung.“ (Al-Maaly 2004: 18) So befanden sich bereits ab den späten 1970er Jahren zahlreiche irakische Lyriker im Exil.8 Ein maßgeblicher Beweggrund für diesen „Exodus des Geistes“ (Stephan 1998) war das zunehmend repressive gesellschaftspolitische Klima, in dem Autoren von der Baath-Ideologie abweichende Ideen kaum mehr ohne anschließende Einschüchterung aussprechen konnten. Aber auch der Anfang der 1980er Jahre durch den iranisch-irakischen Krieg (1980-1988) erfolgte Einschnitt und seine militarisierende Wirkung können nicht überschätzt werden. Mit dem Krieg erschloss sich ein weiterer schrecklicher Erfahrungshintergrund, denn viele der noch im Land verbliebenen Dichterinnen wurden, ebenso wie im Iran, an die Front geschickt. Die Generation der 1980er Jahre wurde zur Generation des Krieges ( l al-arb). Leisere oder kritische lyrische Stimmen wurden von nationalistischer Kriegsrhetorik, von Gedichten an die Nation und den ‚Führer’ Saddam Hussein übertönt, während sich die entronnenen Dichter nach ihrer Flucht kritisch dem Exil und dem Zustand der Heimat zuwendeten.9 Nach Kriegsende und dem gescheiterten Aufstand gegen den Diktator im März 1991 flüchteten erneut zahlreiche Dichterinnen aus dem Irak. Über sie wurde häufig die Todesstrafe in Abwesenheit verhängt. Durch die Massenflucht zerfiel die irakische Literatur mehr und mehr in zwei Blöcke: Der eine Block umfasste die Autorinnen im Innern, der andere diejenigen im Exil. Diejenigen, die ‚zuhause’ geblieben waren, bezeichneten sich als die „Generation des Embargos und Hungers“ ( l al-i r wa-l-aw).10 Die politischen und sozialen
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Für einen historischen Überblick siehe FÜRTIG 2003: 83-100. Zur modernen iraki-
8
Siehe die bio-bibliographischen Angaben im Anhang der Anthologie von Al-Maaly
schen Literatur allgemein, siehe Milich und Tramontini 2013. 2004: 662-677. 9
Siehe Salam Abboud (2002): aq fat al-unf f al-Ir q (The Culture of Violence in Iraq). Köln: Kamel; Abbas Khidr (2005). Al- kiyya. Min ‘awr q al-ar ma alaq fiyya f al-Ir q (The Colour Kaki: Notes on the Cultural Crime in Iraq). Köln: Kamel; Achim Rohde (2010): State-Society Relations in Ba’thist Iraq. London (Routledge); S. Milich & F. Pannewick & L. Tramontini (eds.) (2012): Conflicting Narratives: War, Violence and Memory in Iraqi Culture. Wiesbaden: Reichert.
10 Über die 1991 verabschiedeten UN-Sanktionen gegen den Irak schrieb die Völkerrechtlerin Dorothee Starck: „Die Sanktionen gegen den Irak erfüllten […] objektiv
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Entwicklungen verstärkten den polemischen Grundton in der Literaturszene und die Angriffe gegen die jeweils feindliche Seite. So gab der irakische, in Berlin lebende Autor Fadil al-Azzawi 2000 in einem Artikel über die Frage nach der „Zukunft der irakischen Kultur“ die Worte eines damals noch im Irak lebenden, regimetreuen Schriftstellers damit wieder, dass sich „derzeit jeder Dichter und Schriftsteller in ein Emigrationsprojekt (mašr safar) verwandelt“ habe, und dass, wenn es so weiter gehe, „sich bald kein Autor mehr im Irak mehr finden lasse“ (Al-Azzawi 2000: 34). Manche Autorinnen im Innern wiederum bezichtigten ihre exilierten Kolleginnen des Verrats an der Heimat und der Anbiederung an westliche Interessen und Lesererwartungen. Wiederum andere Autorinnen, die erst im Laufe der 1990er Jahre flüchteten und sich dann im europäischen Exil einer Baath-kritischen Mehrheit von Exilautorinnen und häufigen Vorwürfen der Kollaboration mit dem Regime gegenübersahen, versuchten frühere Haltungen und mögliche Verwicklungen in die baathistische Kulturpolitik auf unterschiedlichste Weise zu rechtfertigen. So verortet sich der irakische Dichter Adnn a -’i in seinem 1996 in Beirut verfassten Gedicht Uqda (Schlinge) aus dem Band Ta’abbaa Manfan11 von 2001 nicht nur in einer Zwischenposition, um die Kluft zwischen Heimatland und Exil aufzubrechen, sondern um sich mit einem doppelten Gegenangriff gegen Vorwürfe und vorherige Angriffe zur Wehr zu setzen: „Die Faschisten/ und die entmannten Dichter/ zerren/ an je einem Ende des Stricks/ der meinen Hals/ zuschnürt.“(‘i 2005: 51) Zwischen den „Faschisten“ im Innern und den „entmannten“ Exil-anten ringe der zum Opfer der Spaltung gewordene „wahre Dichter“ um seine Existenz, so die Botschaft des Textes. Die immer schon zu simple Unterscheidung in eine oppositionelle und damit moralisch überlegene Exilliteratur und eine sich willig unterwerfende Literatur im Innern kann seit 2003 durch die Fluchtwelle baathistischer Literatinnen nicht mehr aufrecht erhalten werden, denn nach dem Sturz von Saddam Hussein mussten auch viele ehemals regimetreue Autorinnen fliehen. Trotz zahlreicher
den Tatbestand der Aushungerung von Zivilpersonen, der nach dem humanitären Völkerrecht als Methode der Kriegführung verboten ist.“ STARCK, Dorothee: Die Rechtmäßigkeit von UN-Wirtschaftssanktionen in Anbetracht ihrer Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. Grenzen und Kompetenzen des Sicherheitsrates am Beispiel der Maßnahmen gegen den Irak und die Bundesrepublik Jugoslawien (Schriften zum Völkerrecht 139). Berlin 2000. Zit. nach Fürtig 2003: 134. 11 Der Titel des Bandes Ta’abbaa manfan (Der das Exil unter der Achsel trägt) spielt auf den altarabischen Räuber-Dichter Ta’abbaa šarran (Der das Böse unter den Armen trägt) an.
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Versuche, die ideologische Kluft zu verringern, gelang es den irakischen Literatinnen bisher kaum, eine Kultur der gegenseitigen Akzeptanz und des konstruktiven Dialogs zu etablieren: In Zeiten einer auseinanderbrechenden Gesellschaft und von Milizen und Armee(n) bedrohten Bevölkerung haben andere Probleme Priorität.
S A D Y SUF Sad Ysuf, der in zahlreichen Ländern Aufenthaltsrecht oder Asylstatus genoss, lebt seit 1999 in London. Der Lyriker wurde 1934 bei Basra im Südirak geboren, trat früh der Irakischen Kommunistischen Partei bei, arbeitete als Lehrer und Journalist und wurde mit seinen Exilgedichten über seine Zeit in Algerien bekannt (siehe Milich 2007). Neben Nizr Qabbni (1923-1998), Mamd Darwš (1941-2008) und Muammad al-M (1934-2006) prägte er eine neue lyrische Schreibweise, die sich dem Alltäglichen und Gewöhnlichen in einer prosaisierten Form widmet. Das lyrische Schreiben dient der dichten Beschreibung des Alltags, der Stadtlandschaften und der Menschen der neuen Umgebung, aber auch der Erinnerung an die eigene Vergangenheit in der Heimat und an die Stationen des Exils. So weist Ysuf in einem 2000 gegebenen Interview, das sich wie eine biografische Bestandsaufnahme liest, eine enge Definition von Exil und Heimat zurück, da er das Leben außerhalb des Heimatlandes als Normalzustand begreifen will: „I think of myself as a poet who is a resident of the world. I don’t feel exiled. Being outside my country has become my ordinary life. I am used to it. I feel at home wherever I am. And I need to feel at home, otherwise I cannot write poetry. I have to establish real contact with the country I am in, with the people and with the environment. I have to grasp daily life in its details and minutiae. That is how I write poetry. The details and minutiae are my raw material. I am not conditioning myself to do that; it is a direct, honest contact with people, culture, with nature. It’s a kind of open receptivity to the world, the universe.“ (Youssef [Ysuf] 2004: 10)
Von wechselnden Standorten aus schreibt Ysuf dabei nicht nur über sich selbst, sondern auch über andere irakische und arabische Exilanten. In dem 2000 verfassten Gedicht Der holländische Lastwagen: Der Kühlcontainer (aš-Šina al-hlndya: al-azzn) inszeniert sich der Autor als Sprachrohr der irakischen Exilgemeinschaft. Ysuf beschreibt darin das Schicksal der Exiliraker unter der Diktatur Saddam Husseins andeutungsreich als Folge der irakischen Geschichte.
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Die Forderung nach dem Sturz Saddam Husseins, zentrale Botschaft des Gedichts, ging 2003 mit der US-amerikanischen Invasion des Iraks in Erfüllung. Bereits 2002 hatte sich Sad Ysuf allerdings gegen eine US-geführte Invasion ausgesprochen. Während zum Zeitpunkt des Verfassens des Gedichts die Frage nach einem militärischen Eingreifen und die militärische Umwälzung der Zustände im Mittleren Osten durch die USA („Greater Middle East Initiative“) im Vordergrund standen, drängt sich aus heutiger Perspektive die Darstellung der Flüchtlinge als „ungezählte Millionen von Menschen“ (Arendt), die zu bloßen Transportwaren degradiert werden, auf abgelegenen Autobahnraststätten vergebens gegen LKW-Wände klopfen und auf dem Fluchtweg in tragischer Weise ums Leben kommen, ins Zentrum der Lektüre: „Wir sind Iraker 1958 töteten wir den König Heute sind wir Tomaten im Kühlcontainer eines Lasters, der aus den Niederlanden kommt um uns abzuliefern, tot und kalt... Warum? Darf ich Tony Blair eine Frage stellen: Wenn du nicht willst, dass sich London in eine irakische Kolonie verwandelt Warum verjagst du dann nicht Saddam Hussein, diesen einen, damit wir zurückkehren können wir sind vier Millionen vier von zwanzig Millionen 1/5 des Bodens 1/5 der Breitengrade 1/5 des einundzwanzigsten Jahrhunderts.“ (Ysuf 2002: 376-377)
Das hoch emotionale, stark appellative Gedicht muss aus seinem historischen Kontext verstanden und folglich als eine Reaktion auf eine konkrete politischhistorische Situation gelesen werden. Während das Gedicht die grenzüberschreitende Bewegung von Menschen schildert, die sich gezwungen sehen, ihr Leben zu riskieren, um in lebenswerten Umständen weiterleben zu können, liegt noch eine Transgression anderer Art vor, denn der Text zielt in seiner agitatorischen Rhetorik auf eine politische Aktion, auf ein aus dem Exil heraus entstandenes politisches Projekt. Die Transgression besteht in der Verletzung und Übertretung der Konventionen lyrischer Rede, die, ausgelöst durch die Exilsituation, zur poli-
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tischen Rede wird und sich lediglich ästhetisch-literarischer Gestaltungswerkzeuge bedient, um politische Wirkung zu erzielen. Mit diesem Übergang zu einem agitatorischen Sprechen läuft das Gedicht Gefahr, die Wiederherstellung der eigenen Rechte gewaltsam auf Kosten anderer Menschen auszutragen und neue Opfer zu produzieren. Die Kritik an solch einer Transgression hat Judith Butler in ihren Reflektionen zur Geschichte des palästinensisch-israelischen Konflikts in die Form eines moralischen Imperativs der Flüchtlingsproblematik gekleidet: „No rights for refugees are legitimate that by their very exercise produce a new population of the stateless“ (Butler 2012: 41). Dem politischen Projekt der Rückkehr oder Rückeroberung aus dem Exil, der „Negation der Negation“, steht eine Haltung entgegen, die für einen anderen Umgang mit dem Exil plädiert und Negation nicht mit Negation beantworten will. So gab es vor und während der Invasion 2003 auch Stimmen von Exilirakern, die vor den zerstörerischen Folgen des Krieges warnten.
K AML S ABT Zu diesen Stimmen gehört Kaml Sabt, der 2006 auf tragische Weise in seinem niederländischen Exil starb. In einem Essay in der Zeitschrift Nizw (Frühjahr 2005) reflektiert er anhand Schillers Aufsatzes über die „ästhetische Erziehung des Menschen“ und schiitischer historischer Erfahrung die politisch und menschlich hochkomplexe Situation des Irakkriegs von 2003. Er problematisiert nicht nur den eigenen, aus Sabts Sicht „egoistischen“ Rückkehr- und Rachewunsch vieler Exilantinnen, sondern auch die Instrumentalisierung der Ästhetik von Gewalt und Krieg, um geostrategische Interessen durchzusetzen. Diese Kritik an der ästhetischen Form, die sowohl die amerikanische als auch die baathistische Kulturindustrie betreffen, setzte er so konsequent wie wenige andere arabischen DichtInner in seiner eigenen Lyrik um, indem er es vermied, Zerstörung, Gewalt und Entmenschlichung durch sprachliche Ästhetisierung hinzunehmen. Er erfand stattdessen neue lyrische Formen für die äußere und innere Fragmentierung im fortbestehenden Ausnahmezustand.12 Das anfangs verspürte Verlangen nach Vergeltung sei im Laufe der Jahre, die der Dichter im Exil verbrachte, der Idee der Gewaltlosigkeit gewichen. So sah Sabt seine und die Rachegelüste anderer Exilantinnen in den Jahren vor seinem Tod äußerst kritisch, denn der Wunsch nach Rückkehr und
12 Siehe z. B. Milich 2012, sowie Milich 2009: 355 f.
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Rache hätte auch zur Situation der Invasion des Iraks geführt, in der „Raketen auf reale Häuser am Flussufer“ abgeschossen wurden. Die Rückkehr der Exilantinnen ab 2003 bedeutete aus dieser Sicht eine erneute Katastrophe, dieses Mal für die Bewohnerinnen des Iraks: „Am Tag meiner Flucht aus dem Irak dachte ich nicht an die Worte Alis über die Getöteten bei der Kamelschlacht, sondern an Dichtung oder einen Artikel über die Rückkehr… in meiner dichterischen Rachelust, in einem Traum, der heute durch den Krieg und seine Opfer verstümmelt wird. Ich dachte nicht daran, dass der Preis für seine Verwirklichung Leichen sind, die die Straßen auf dem Land und in der Stadt pflastern; dass der zu zahlende Preis Verwundete mit abgetrennten Armen und Beinen sind, die auf klapprigen Betten in belagerten Krankenhäusern vor sich hin dämmern. […] Die Szenerie am Euphrat war völlig surreal: Exilanten träumen von der Rückkehr in ihre Häuser. Befreier erklären dem Diktator den Krieg, solange bis die Exilanten in ihre Häuser zurückgekehrt sind. Aber in ihrem Krieg gegen den Diktator feuern sie Raketen auf wirkliche Häuser am Flussufer ab.“ (Sabt 2003: 112)
Sabt entblößt das Dilemma der irakischen Situation von Krieg und Rückkehr und kritisiert diejenigen Exilantinnen, die ihre Rückkehr über das Wohlergehen und Leben der irakischen Bevölkerung stellten. Was für die Exilantinnen „schön“ und damit auch „gut“ sei, bedeute für die Bewohnerinnen dieser Häuser eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes. Sabts Humanismus beharrt darauf, den Menschen und seine Existenz nicht aus dem Blick zu verlieren. Für Sabt besteht hier eine Grenze, deren Überschreiten in seinen Augen eine negative Transgression darstellen würde, die keinerlei Legitimität hätte, da sie das Menschsein anderer negierte. Die durch eine Negation/Exil herbeigeführte ‚Übertragung‘ des Selbst in einen fremden Kontext soll also gerade nicht in eine „thumping language of national pride, collective sentiments, group passions“ (Said 2000: 185) münden, wie Edward Said in seinen Reflections on Exile schrieb. Das Exil zu bewältigen hieße vielmehr, zu einem Selbstverständnis und Handeln zu gelangen, das der Vernichtung, Negation und Entfremdung in einer Weise entgegnet, die nicht auf Kosten neuer Opfer die eigene Position in der Welt wiederherstellen will. Um das Trans-Syndrom des Exils in seiner zerstörerischen Spielart zu überwinden und einen Zustand nach dem Exil, ein „Post-Exil“ (Milich 2009), zu erreichen, bedarf es einer Konflikttransformation, die sich auch im Inneren des Einzelnen realisieren muss. Auf einer kollektiven Ebene gab es aufgrund des Zusammenspiels von kolonialen Erbschaften und fortwährenden neo-kolonialen (einer kapitalistischen Logik unterworfenen) Interventionen einerseits, lokalen
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und regionalen Bedingungen andererseits weder im irakischen noch im palästinensischen Kontext hierfür bisher eine reale Chance.
D IE P ALÄSTINENSISCHE D ICHTUNG Während irakische Autorinnen mehrheitlich vor einer Diktatur und somit vor politischer Verfolgung, Einschüchterung und Zensur flohen, machte im Fall Palästinas eine aus historisch tragischen Umständen neu entstandene Nation durch Vertreibung und Staatsgründung große Teile der palästinensischen Bevölkerung heimat- und staatenlos, eignete sich deren Land an und besetzte es.13 Die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 teilte die Geschichte der Palästinenser in zwei Zeiten: eine erste Zeit vor der Nakba (Katastrophe der Vertreibung der Palästinenser 1948) und eine zweite, bis heute anhaltende Zeit danach. Diese zwei durch einen historischen Bruch entstandenen Zeiten spiegeln sich bis heute in zahlreichen Texten palästinensischer Autorinnen wider. Während ab den 1950er Jahren palästinensische Autorinnen in Israel trotz Repression und Militärgesetz ihr Recht auf kulturelle Selbstbestimmung geltend machten, widmeten sich palästinensische Autorinnen in der Diaspora der palästinensischen Tragödie und Heimatlosigkeit aus der Ferne. In den arabischen Nachbarstaaten und Israel wurden palästinensische Intellektuelle bisweilen von den dortigen politischen Fraktionen instrumentalisiert oder politisch verfolgt. Gleichzeitig beeinflussten und bereicherten sie als Intellektuelle und Künstlerinnen mit einem aus der Exilsituation entstandenen erweiterten Erfahrungshorizont die Kulturszenen in den anderen arabischen Ländern nachhaltig. Mit dem Junikrieg 1967 (Naksa) verschärfte sich der israelisch-arabische Konflikt, was die politischen Positionen weiter radikalisierte und zementierte, gegen die auf
13 Hannah Arendt fasst in „Elemente und Ursprünge“ (1951) das Paradox der Exilierung der palästinensischen Bevölkerung durch die staatenlos gewordenen jüdischen Migranten, Holocaustüberlebende und Flüchtlinge nach Palästina in folgende Worte: „Nach dem Krieg hat sich dann herausgestellt, daß man gerade die Judenfrage, die als einzig unlösbare galt, lösen konnte, und zwar aufgrund eines inzwischen erst kolonisierten und dann eroberten Territoriums, daß aber damit weder die Minderheitennoch Staatenlosenfragen gelöst sind, sondern daß im Gegenteil die Lösung der Judenfrage auch nur zur Folge gehabt hat, daß eine neue Kategorie, die arabischen Flüchtlinge, die Zahl der Staaten- und Rechtlosen um weitere siebenhundert- bis achthunderttausend Menschen vermehrte.“ (Arendt 2000: 601)
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Seiten der Palästinenser Autoren wie Mamd Darwš, R šid usayn und
ass n Kanaf n anschrieben. Die Aufbruchsstimmung der Beiruter Zeit fand 1982 ihr jähes Ende durch die israelische Vertreibung der Palästinenser aus Beirut nach Tunis, wo die PLO bis Mitte der 1990er Jahre residierte. Die Rückkehr vieler der PLO nahestehender Autorinnen Mitte der 1990er Jahre in die besetzten Gebiete wurde über-schattet von dem Schock, den das Leben unter der Besatzung bedeutet, sodass kaum ein zurückgekehrter Autor von einer Heimkehr spricht, da das Exil lediglich durch Belagerung und Besatzung abgelöst wurden.
M AM D D ARWŠ Nach schon bald 70 Jahren realer Staaten- und Schutzlosigkeit sowie immer wiederkehrender militärischer Konflikte bleibt wenig Hoffnung, um der Resignation und Verzweiflung etwas entgegenzusetzen. Gefühle der Erschöpfung, des Nicht-mehr-Warten-Könnens aufgrund des unerfüllten Lebens finden in Mamd Darwš‘ Gedicht L šay’a yu ibun (Nichts mehr gefällt mir mehr) über eine einfache Busfahrt ihren lakonischen Ausdruck: „Nichts gefällt mir, sagt ein Reisender im Bus, weder das Radioprogramm noch die Morgenzeitung und schon gar nicht die Festungen auf den Hügeln. Weinen will ich… Der Fahrer sagt: Warte noch die nächste Haltestelle ab Alleine kannst du weinen, soviel du willst… Eine Frau sagt: Auch mir gefällt hier nichts Als ich meinen Sohn an mein Grab führte hat es ihm so gut gefallen, dass er eingeschlafen ist ohne ein Wort des Abschieds… Der Akademiker sagt: Nichts gefällt mir mehr. Archäologie hab’ ich studiert, doch fand ich keine Identität im Stein. Bin ich wirklich ich? Und der Soldat sagt: Auch mir, auch mir gefällt hier nichts. Immerzu belagere ich ein Gespenst das mich belagert… Da sagt der genervte Fahrer: Gleich
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haben wir die Endstation erreicht, macht euch bereit zum Ausstieg… Doch alle rufen: Wir wollen an den Ort, der hinter dieser Haltestelle liegt Fahr weiter! Ich aber sage: Hier lass mich aussteigen. Wie euch gefällt mir nichts, doch bin ich des Reisens müde.“ (Darw š 2004: 85)
Selbst nach dem Exil besteht das Leben aus einer nicht enden wollenden Reise, die nur durch den Tod ein Ende, eine Ankunft, finden kann. Zwar sitzen alle, Israelis wie Palästinenser in einem Bus, doch das Einzige, was sie teilen, ist die durch fortwährende Erfahrungen der Negation internalisierte Ablehnung des Lebens unter den bestehenden Bedingungen. Diese von Darw š beschriebene Alltagsszene erfährt durch ihre lyrische Bearbeitung eine allgemein menschliche Dimension, wie sie typisch für das dialogische Sprechen des Dichters ist, der stets den Anderen in sein Selbstgespräch mit einbezog. Das geografische Exil mag zu Ende gehen. Lebensgefühl und Weltanschauung aber sind weiterhin gefärbt von den Erfahrungen des Exils, das den Glauben an ein mögliches Ankommen in der Welt, und damit an eine Überschreitung der entmenschlichenden Grenzziehungen, zerstört hat. Der einzige Ausweg, die einzig mögliche Transgression, die bleibt, ist der Tod.
R ŠID USAYN Das von Arendt geschilderte Schicksal der Staatenlosen und entrechteten Minderheiten hat der palästinensische Dichter Ršid usayn (1936-1977) in einem Theaterstück auf die Situation eines staatenlosen Palästinensers übertragen, der im Exil nur straffrei davon kommt, weil er aus Sicht des Richters gar nicht existiert. Die Situation der staatenlosen Palästinenser in einer nationalstaatlichen Ordnung passt in keine der verfügbaren Kategorien und sprengt die Grenzen sämtlicher juristischer Begriffe: „Abu-Ali: Mister, my village was demolished a long time ago, By my cousins … I mean the Israelis. […] Prosecutor: Sir! This man has no birth certificate No identity card No passport
198 | S TEPHAN M ILICH No country, not even a village How can we accept him here? Judge: You said he has no birth certificate […] Accordingly, this man does not exist. How can you accuse someone who does not exist of breaking the law? The charge is dismissed.“ (Boullata /Ghossein 1979: 193)
So viel „Glück“ wie sein Protagonist Abu-Ali hatte der Autor des Fragment gebliebenen Dramas mit dem Titel Inquiry/Taq q (Die Ermittlung) nicht. Das Leben des Mitbegründers der ersten palästinensischen politischen Bewegung al-Ar (das Land) in Israel, des Verfechters eines friedlichen Zusammenlebens zwischen Israelis und Palästinensern und Mitglied der Mapam-Partei (bis 1962), des dichtenden Humanisten im Exil, des Kettenrauchers und Alkoholikers, Kulturvermittlers und virtuosen Übersetzers hebräischer Nationallyrik endete wie dasjenige manch anderer Exilanten tragisch: „Am 1.2.1977 wurde der Dichter tot in seiner New Yorker Wohnung aufgefunden, er kam durch ein Brandunglück, wohl verursacht durch eine unter Alkoholeinfluss im Bett angezündete Zigarette, ums Leben.“ (Embaló 2001: 295) In seinen beiden ersten Gedichtbänden Ma a l-far (Mit der Morgenröte, 1957) und aw r (Raketen14, 1958) besang usayn das Flüchtlingsschicksal und sprach den Vertriebenen Mut zu, während er in anderen Texten die Palästinenser in Israel aufrief, ihre kulturelle Identität zu verteidigen. Später, im US-amerikanischen Exil und verheiratet mit einer jüdischen US-Amerikanerin, verbitterte er zunehmend ob der fehlgeschlagenen Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Gewissens-bisse plagten usayn, da er sich nur mit Worten, nicht aber mit Taten für sein Land einsetzte. Seine Pläne, wieder in die arabische Welt zurückzukehren, um noch mehr der palästinensische Sache dienen zu können, führten zur Trennung von seiner Frau. Doch auch die Rückkehr scheiterte, so dass er seine letzten Jahre bis zu seinem frühen Tod erneut in den USA verbrachte. usayn führte ein Leben der dichterischen Heimatsuche, das aus dem Gefühl nicht überwundenen Exils und einer aus den Fugen geratenen, von Grund auf beschädigten Zeit entstand, die nicht mehr heilen wollte. Vielleicht diente das Schicksal von usayn dem jüngeren Darwš als warnendes Beispiel, die Notwendigkeit zu erkennen, sich mit dem Exil vertraut
14 usayn wandte sich bis an sein Lebensende 1977 gegen Gewalt, Steine werfende Kinder und palästinensischen Heldenkult. Siehe z. B. sein Gedicht idd (Dagegen) von 1975: „Ich bin gegen die Revolutionäre meines Landes […]“. (Jayyusi 1979: 158)
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zu machen, es zu bändigen. Besonders interessant ist Darwšs Aussage, R šid usayn habe sich „‚von einem Verfasser von Poesie zu einem Thema der Poesie‘ entwickelt, so dass er ‚das Lied ist, nicht der Sänger‘“. (zit. nach Embaló 2001: 305) Diese Aussage weiterführend ließe sich sagen, dass der Dichter in usayns Fall nicht mehr seine Dichtung nutzt, um sich und die Bedeutungen des persönlichen Exils besser zu verstehen, sondern umgekehrt von seinem Exil benutzt wird, um geschrieben zu werden. So endet die Elegie Kna m sawfa yaknu (Es war, was sein wird) aus dem 1977 erschienenen Band A rs (Hochzeiten), die Mam d Darwš seinem älteren Freund widmete, mit einer dreifachen Negation: Nein, dies ist nicht meine Zeit Nein, dies ist nicht meine Heimat Und dies ist nicht mein Leib. (Darwš 2009: 256)
P OETISCHE T RANSGRESSIONEN ZWISCHEN S ELBST UND A NDEREM SOWIE R AUM UND Z EIT 26 Jahre nach R šid usayns Tod schrieb Mam d Darwš erneut eine Elegie. Nun ist es Edward Said, der „theoretische Kontrapunkt“ von Darwš im Konzert palästinensischer Exilstimmen, mit dem das Ich im Gedicht Manfan 4, ibq (Exil 4, Kontrapunkt; 2003) ein privates und zugleich politisches Zwiegespräch führt: „New York, im November, Fifth Avenue Die Sonne ist ein Teller aus zersprungenem Metall […] Dort […] traf ich Edward vor dreißig Jahren als die Zeiten noch weniger ungestüm waren als sie es heute sind Wir sagten uns: Wenn deine Vergangenheit Erfahrung bedeutet mache aus deinem Morgen Sinn und Vision! Lass uns mit Zuversicht in die Zukunft aufbrechen […].“ (Darwš 2005: 180-181)
Im Werk beider spielt die Idee der Grenzüberschreitung, des Kontrapunkts, „auf beiden Seiten zugleich“ verortet zu sein und beide Seiten in einen fruchtbaren Dialog zu bringen, eine herausragende Rolle. Said definierte die aus dem Exil entstehende kontrapunktische Sicht auf die Welt so:
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„Seeing „the entire world as a foreign place” makes possible originality of vision. Most people are principally aware of one culture, one setting, one home; exiles are aware of at least two, and this plurality of vision gives rise to an awareness of simultaneous dimensions, an awareness that – to borrow a phrase from music – is contrapuntal.“ (Said 2000: 186)
Während Said mit diesem Gedanken sein Essay über das Exil schließt, führt Darwš, Saids Theoriebegrifflichkeiten lyrisch vorwegnehmend und bis zu seinem Tod 2008 weiterführend, den gleichen Gedanken in seiner Elegie aus: „Er sagte: Ich stamme von dort und stamme von hier doch bin ich weder hier noch dort Zwei Namen hab’ ich, die sich begegnen und wieder trennen Zwei Sprachen hab’ ich, doch vergaß ich in welcher ich träume […] Ich werde mich nie ganz kennen um mich nicht zu verlieren denn ich bin nicht ich bin mein Anderer in der Zweiheit die fortwährend erklingt inmitten der Worte und Gesten Wäre ich ein Dichter, ich schriebe: Ich bin zwei in Einem wie die Flügel einer Schwalbe zufrieden die Botschaft weiterzutragen wenn der Frühling sich verspätet.“ (Darwš 2005: 182)
Schließlich überträgt Darwš das Prinzip der Zweiheit oder der zwei Stimmen – die grammatikalisch im arabischen Dual zum Ausdruck kommen – auch auf die Beziehung zwischen dem Israeli und dem Palästinenser. In einem bi-nationalen Staat erhellen die Fremden, die aus ihrem Exil die Erkenntnis schöpfen, dass sie ihr Menschsein teilen und relational vom Anderen her denken müssen, sich gegenseitig, denn die antagonistische Eindimensionalität kann nur in die Dunkelheit führen: „So erleuchte denn“, schrieb Darwš in dem Gedicht Dürre (aff) aus dem 1999 erschienenen Band Bett der Fremden, „mit deinem Wein mein Dunkles und mein Blut/ Und bewohne, mit mir, meinen Körper!“ (zit. nach Milich 2005: 199) Findet dieser Waffenstillstand und dieses Zusammenwohnen aber nicht statt, werden die Ziegen nicht nur das „Gras wegfressen“, sondern
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auch die Auslegungen der heiligen Schriften konfiszieren und mit ihren Fundamentalismen noch mehr Zerstörung und Tod bringen: „So ist der Waffenstillstand in der Stadt so unausweichlich/ Wie die Ziegen, die das Gras wegfressen,/ Das Gras aus den Büchern der Babylonier oder anderer“ (Milich 2005: 1999). Die Art der Transgression, die Darwš hier vorschlägt, überschreitet mit den Mitteln der Musik und Kunst die Grenzen des Selbst hin zum Anderen, um die Mauern der zur „Festung“ gewordenen Identität zu öffnen: „Waffenruhe, Waffenruhe, um die Direktiven zu prüfen Taugen Düsenjets als Pflüge Wir sagten zu ihnen: Waffenruhe, Waffenruhe, Um die Absichten zu prüfen, So könnte etwas Friede in die Seele dringen! Dann werden wir mit poetischen Mitteln wetteifern um die Liebe unserer Herzensdinge. Sie erwiderten: Wisst ihr denn nicht, Dass der Friede mit uns selbst Das Tor unserer Festung öffnet Den Makamen15 des Hidjaz und Nahawand? Und wir sagten: Und dann? ...Was dann?“ (Darwš 2005: 161)
Die Utopie des Friedens, die aus den geteilten Erfahrungen des Exils hätte entstehen können, rückt in immer weitere Ferne. Es scheint, als würde die nationalstaatliche Ordnung ununterbrochen neue Flüchtlinge und Staatenlose produzieren, für deren Schicksal die sogenannte internationale Gemeinschaft keine Lösungen bereithält. Arendts Satz, „historisch beispiellos ist nicht der Verlust der Heimat, wohl aber die Unmöglichkeit, eine neue zu finden“, ist angesichts der Millionen Menschen, die vor Krieg und Verfolgung flüchten, genauso aktuell wie 1951, dem Jahr des Erscheinens der englischen Originalausgabe.
15 Der Maqam (Maqm) ist eine traditionelle Gattung der nahöstlichen Kunstmusik, meint aber auch die einzelnen, zahlreichen Unterformen mit ihren jeweils besonderen Tonarten und Tonfolgenstrukturen. Zwei der bekanntesten Formen des Maqam sind der Hidjaz und der Nahawand.
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9. Bilder des Extremen: Dystopien im japanischen SF-Comic des ausgehenden 20. Jahrhunderts B ERND D OLLE -W EINKAUFF
Kaum ein anderes Genre der populären Literatur hat sich seit Mitte der 1990er Jahre derart tief greifend verändert wie das Angebot an Comics für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Fantasy und Science Fiction aller Spielarten haben die bekannten Funny-Comics wie auch die realistischen Comic-Abenteuer mehr oder minder in den Hintergrund gedrängt. Während Micky Maus, Asterix, Lucky Luke, Batman u.a. nun auf dem Klassiker-Regal abgestellt werden, sind an deren Stelle neue Helden getreten, deren phantastische Abenteuer im Alltag wie auch in einer oft bizarren, von den negativen Folgen der Technologiegesellschaft geprägten Zukunft angesiedelt sind. Bestimmend für diesen Wandel sind die Manga: Comics japanischer Herkunft, über deren gegenwärtigen Publikumserfolg die nach Millionen zählenden Auflagen eine deutliche Auskunft geben. Einher damit gehen Veränderungen in der Leserschaft. War der Comic traditionell eine Domäne der männlichen Kinder und Jugendlichen, so stützt sich die „Mangamania“ offenkundig auf eine beträchtliche weibliche Leserschaft und offeriert in breitem Umfang gezielt an diese adressierte Angebote (Bouissou et al. 2010: 257 ff.). Die Manga und deren Verbreitung in den westlichen Ländern stellen insofern ein „Transphänomen“ dar, als sie eine spezifisch fernöstliche Ausprägung des Comic erfolgreich in die amerikanischen und europäischen Jugendkulturen transferiert haben. Im Gegensatz etwa zum Technologieexport Japans handelt es sich darüber hinaus um einen nicht beabsichtigten oder gezielt kalkulierten Transfer, denn die Manga wurden und werden in erster Linie mit Blick auf das eigene Publikum in Japan produziert. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die japanische Politik diese und andere populärkulturelle Formen seit einigen Jahren zum Exportschlager erklärt hat – es handelt sich
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dabei um eine Strategie, die erst im Nachhinein formuliert wurde, als die internationale Durchsetzung der Manga längst eingetreten war. Höchst bedeutsam für den geradezu kometenhaften Aufstieg, den die Manga weltweit im Lauf der vergangenen drei Jahrzehnte erfuhren (Allison 2006a), sind vor allem die zahlreichen Animationsfilme aus japanischer Produktion (jap.: anime), die seit Beginn der 1990er Jahre v.a. von TV-Privatsendern auch in Deutschland ausgestrahlt wurden. Diese Filme, bei denen es sich oft nicht um voll synchronisierte deutsche, sondern häufiger um englischsprachige Fassungen oder japanische Original-Fassungen mit englischen Untertiteln handelte, haben eine neue Generation des Kinder- und Jugendpublikums geprägt, das sich in der Folge – und mittlerweile gleichzeitig – der Manga bemächtigte. Dies wird begleitet nicht nur von der Gründung einschlägiger klassischer Fan-Magazine wie AnimaniA (1994) sowie Vereinigungen wie Anime no todomachi (dt.: Freunde des Anime, seit 1997), Animexx (seit 2000) und speziellen Events und Meetings als Foren der Kommunikation. Eine herausragende Rolle im Prozess der Konstitution einer Fan-Kultur spielt dabei das Internet über auf japanische Populärkultur spezialisierte Foren, Blogs und soziale Medien.
H ISTORISCHE UND ANDERE K ATASTROPHEN Mit Fankultur oder dergleichen hatte indessen die erste in deutscher Sprache publizierte Comicgeschichte japanischer Herkunft nicht das geringste zu tun, sehr wohl aber mit der größten Katastrophe des Landes im 20. Jahrhundert. Es ist mehr oder weniger in Vergessenheit geraten, dass der erste in Deutschland publizierte Manga ein autobiographisch-zeitgeschichtlicher Roman war, der das Leben einer Familie aus Hiroshima während des Zweiten Weltkriegs und nach dem Abwurf der Atombombe schildert. Keiji Nakazawas Barfuß durch Hiroshima (jap. Hadashi no Gen, Abb. 1) erschien 1982 in der politischen Sachbuchreihe roro-aktuell – ein Umstand, der dafür sorgte, dass der Text, entgegen seiner ursprünglichen Wirkungsabsicht, die jugendlichen Adressaten nicht erreichte. Ohnehin handelte es sich um eine stark gekürzte und selbst innerhalb der gekürzten Passagen von den schreckenerregendsten Bildern gereinigte Ausgabe1, wie der Vergleich mit der englischsprachigen Edition im Verlag Educomics von 1982 zeigt.
1
Im CarlsenVerlag erschien 2004/2005 eine umfangreiche deutschsprachige Neuausgabe in vier S/W-Bänden, für 2016 ist eine farbige Version angekündigt.
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Abbildung 1: Keiji Nakazawa: Barfuß durch Hiroshima, S. 252
Dagegen machte eine Dekade später Katsuhiro Otomos zwanzigbändige Science Fiction-Serie Akira – in Deutschland zuerst von 1991 bis 1996 publiziert – deutlich, dass von japanischen Bildgeschichten sehr viel weiter ausgreifende Impulse ausgehen könnten. Die Fan-Gemeinde, die enthusiastisch reagierte, war noch überschaubar, doch begannen sich die Feuilletons der überregionalen Presse (z.B. Neuber 1997) und sogar manche literaturdidaktische Fachzeitschrift für diesen markanten Außenseiter der Comic-Literatur zu interessieren (siehe z. B. Wild 1994). Dank des gleichnamigen Animationsfilms wurde die aktionsreiche, postapokalyptische Geschichte aus „Neu-Tokio“, die in der kultursoziologischen Forschung bisweilen als allegorische Repräsentation der neueren Geschichte Japans (Pellitteri 2010: 175) und speziell als Ausdruck jugendlicher Perspektivlosigkeit in Japan im Zeichen der anhaltenden Wirtschaftskrise
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gewertet wird (Standish 1998; Bouissou 2010: 232ff.), einem breiteren Publikum bekannt. Die Vorstellung der Apokalypse als Weltenende, wie sie das christlichabendländische Denken prägt, ist dem japanischen, von Buddhismus und Shintoismus beeinflussten Weltbild eher fremd. Andererseits liefern gewaltige Naturkatastrophen im Allgemeinen seit jeher und der in der Atomkatastrophe endende Zweite Weltkrieg im Besonderen Erfahrungsmuster, denen Szenarien der vollkommenen Zerstörung keineswegs fremd sind: Allerdings verknüpft sich damit in der Regel die Erwartung des Wiederaufbaus und Neuanfangs. Nicht ohne Grund können daher die Auswirkungen globaler kriegerischer Katastrophen ein bevorzugtes Thema des Manga werden. Dabei treten authentische historische Stoffe wie Keiji Nakazawas Schreckenspanorama der Heimatfront des Zweiten Weltkriegs in Japan jedoch in den beiden letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts in den Hintergrund gegenüber Science fiction-Erzählungen, die von fiktiven künftigen kriegerischen Katastrophen handeln und Visionen von der Zerstörung der globalen Technologiegesellschaft und den Überlebenskämpfen der Menschen in dystopischen Szenarien entwerfen. Ihre Wurzeln besitzen diese Erzählungen offensichtlich in den japanischen Horror- und Katastrophenfilmen der frühen 50er Jahre, v.a. der Godzilla-Serie (jap.: Gojira). Gojira ist die Hauptfigur einer Reihe japanischer Monsterfilme (jap.: kaiju aiga), deren erster 1954 unter der Regie von Inoshiro Honda in seiner Heimat in die Kinos kam. Der Erfolg dieser Filme hängt nicht von ungefähr mit dem Schicksal Japans am Ende des Zweiten Weltkriegs und der Atompolitik der Großmächte in den 50er Jahren zusammen: Das dem Tyrannosaurus Rex äußerlich ähnliche Ungeheuer wird – so die origin story – durch Atombombenversuche aus seinem seit Jahrmillionen dauernden Schlaf auf einer einsamen Insel geweckt und greift Schiffe, Siedlungen und schließlich die japanische Hauptstadt Tokio an. Obgleich Gojira nach gewaltigen Zerstörungsorgien am Ende eines jeden der bislang 28 Streifen aus japanischer Produktion (zuletzt: Godzilla – Final Wars, 2004) in die Flucht geschlagen oder sogar vernichtet wird, wird er in späteren Filmen umstandslos wiederbelebt. Für die 1955 in den USA gezeigte englischsprachige Version wurde Gojira in Godzilla umbenannt und behielt diese Bezeichnung fortan in den Kinos der westlichen Welt bei. Der Godzilla-Stoff ist bislang weniger im Comic als im Zeichentrickfilm adaptiert worden. Der Grund dafür dürfte sein, dass es sich um eine Figur und eine Anzahl von Motiven handelt, die sehr viel wirkungsvoller im bewegten Bild als in der erzählenden Bildfolge zur Geltung kommen. Der zeitgenössische Katastrophen-Manga bietet dagegen ein ungleich diffizileres Bild der Bedrohungen und er setzt sehr viel weniger auf bloß kulinarische Inszenierung des
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Schreckens, wenngleich auch hier immer wieder archaische Elemente anzutreffen sind. Nicht zuletzt hat das zentrale Sujet der Endzeit-Vision eine entscheidende Variation erfahren: die apokalyptische Bedrohung geht weniger von der provozierten Natur und deren Geschöpfen aus, sondern von den aberwitzigen technologischen Artefakten der Menschen selbst – oder aber, wie in den jüngsten Varianten, von dämonischen Mächten, die allenthalben hinter den vermessenen Experimenten der Führungseliten der Menschheit lauern.
E NDLOS UND OHNE Z IEL : T SUTOMU N IHEI : „B LAME !“ Der Ankündigungstext für den Auftakt der Manga-Taschenbuchreihe Blame! (jap. BLAME!) im halbjährlich erscheinenden Werbemagazin Shinkan des Egmont Verlags deutet eher vorsichtig einige Charakteristika des Werks von Tsutomu Nihei an: „Vielleicht auf der Erde. Vielleicht in der Zukunft. Du begleitest den wortkargen Protagonisten Killy auf seinem Weg durch eine düstere, öde Welt, siehst, was er sieht. Alles wirkt zunächst zufällig, unmotiviert und verwirrend. Beton und Stahl, ein unwirkliches Geflecht von Gängen, Schächten und Kabeln. Konversation führt der Protagonist, wenn überhaupt, meist mittels seiner Waffe und das nicht gerade zimperlich. Auf seiner Suche nach Genen, die noch nicht von dem Virus befallen sind, das sie mutieren läßt, ist er nicht allein. Er trifft immer wieder auf Kreaturen, die sich entweder verstecken oder einsam vor sich hinvegetieren oder auf feindlich Gesinnte [...] Die Reise scheint endlos und ohne Ziel“ (Shinkan 2001, H. 1: 13).
Schauplatz des Geschehens ist eine Welt, angefüllt mit teilweise noch funktionsfähigen Resten zerstörter Technologie, die alleine schon ihrer Unübersichtlichkeit wegen als Ausdruck eines Transsyndroms im Sinne Weichharts gelten dürfte (Weichhart 2010: 47f). Deren Bewohner, auch die aggressivsten und durchsetzungsfähigsten, sind allesamt versehrte Erscheinungen und befinden sich ständig in einem schier hoffnungslosen Kampf aller gegen alle, der mit gnadenloser Härte geführt wird, dessen Ziel und Zweck jedoch unklar bleiben (Abb. 2).
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Abbildung 2: Szene aus Blame! von Tsutomu Nihei: Ein mit mysteriösen Kräften ausgestattes Mutantenkind tötet einen Angreifer (Bd.1, S. 153)
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Der Verlauf der Handlung erscheint nicht zuletzt deshalb „zufällig, unmotiviert und verwirrend“, weil der Autor und Zeichner überaus eifrig mit häufig wechselnden Einstellungen, schnellen Schnitten und Perspektivwechseln arbeitet und die verbalen Elemente auf lakonische Blasendialoge beschränkt bleiben. Mit dem Verzicht auf erklärende Blocktexte und dergleichen wird jeder Ansatz auktorialen Erzählens unterbunden. Diese Art der Verrätselung ist ebenso ein kalkulierter Bestandteil der narrativen Strategie wie es die z.T. äußerst präzisen, ästhetisierenden Darstellungen technischer Apparaturen und architektonischer Elemente sind: Die wenig kohärente Handlung ist exaktes Spiegelbild eines katastrophisch verstümmelten Kosmos, der seinen Zusammenhang verloren hat; dessen allenthalben auffindbare Fragmente sind zu reinen Artefakten degeneriert, nachdem sie infolge des mutmaßlichen Super-Gau ihrer Funktionalität beraubt wurden. Dass diese Welt buchstäblich auf dem Kopf steht und ihre Bewohner ihre natürliche Wahrnehmungsfähigkeit weitgehend verloren haben, macht Nihei in einem hintergründigen Spiel gleich zu Ende des zweiten Kapitels deutlich. „Bis zur nächsthöheren Plattform kannst du mitfahren“, bietet eine nicht näher benannte weibliche Figur dem Protagonisten auf S. 62 an. Als dieser nicht reagiert, zeigt das nächste ganzseitige Panel einen Aufzug – in Bewegung nach unten (Bd. 1: 64) Den Namen des Protagonisten, Killy, erfährt der Leser eher beiläufig (Bd. 1, S. 9). Killy ist nicht seinem Wesen nach „wortkarg“, sondern mangels Gelegenheit zur Konversation. Begegnungen mit nicht von vorneherein feindlich gesonnenen Kreaturen finden eher selten statt und alle anderen verstehen in erster Linie die Sprache der Waffe, mit der Killy, der seinen Namen nicht ohne Grund zu tragen scheint, perfekt umzugehen weiß. Ein Missverständnis wäre es indessen, ihn bloß für einen Verbrecher zu halten. Denn er agiert offenbar im Auftrag einer versprengten Gruppe von Menschen, die an einer medizinischen Lösung der Folgen der genetisch-biologischen Katastrophe, von der die Welt heimgesucht wurde, arbeitet. Er sucht „gesunde Gene“ wie auch die geheimen Zentren der noch funktionierenden, aber verselbständigten Technologie – die ersteren, um sie dem Labor zuzuführen, die letzteren, um sie ab- bzw. auszuschalten und damit deren bedrohliches Potential unter Kontrolle zu bekommen. Wer seine Auftraggeber eigentlich sind und welche Ziele sie wirklich verfolgen, bleibt auch nach Ende des 10. Bandes (2004) offen. Legt man an Blame! die Maßstäbe herkömmlichen Erzählens an, so führt dies – wie zu sehen war – zu recht unbefriedigenden Ergebnissen. Wie eine Rezensentin im Fan-Magazin AnimaniA nicht ganz unbegründet annimmt, ist sich der Autor zu Anfang der Geschichte nicht im Klaren gewesen, wie sie weiter verlaufen soll (Kohr 2002: 66). Weder schält sich eine klare Linie der
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Handlung heraus, noch lassen sich in den beständig mutierenden und neu auftretenden Personengruppen eindeutige bzw. dauerhafte Strukturen ausmachen, noch lässt sich der ständig seine Raumgestalt verändernde Schauplatz fixieren. Auf eine erste Spur einer Erklärung dessen, was der Autor eigentlich intendiert, führt eine weitere Sonderbarkeit der Erzählung: Die einzelnen Kapitel der Comic-Geschichte sind nicht nur nummeriert und mit knappen Überschriften sondern darüber hinaus mit dem Kürzel „LOG.“ versehen. Was auf den ersten Blick als eine Marotte des Autors erscheinen mag, erweist sich als ein wichtiges Element der Strukturierung und Sinngebung. *.LOG-file ist in der Welt der Computer die Bezeichnung für eine Protokolldatei, mit der das System die Benutzer über Programmverläufe, insbesondere auch fehlerhafte, unterrichtet. So gesehen stellt sich Blame! als eine Sammlung von Aufzeichnungen aus einer virtuellen Welt dar, in der eine Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Schein ihren Sinn verliert, da ausnahmslos alle Vorgänge vom System erzeugt und wieder protokolliert werden. Der Leser muss seine Erwartungen an den Text verändern um – wie es die Umschlagrückseite eines jeden Bandes verspricht – in die Rolle des „Adventureseeker Killy in the Cyber Dungeon quest“ zu schlüpfen. Er folgt dann gleichsam den Bewegungen eines Rollenspiel-Helden in den phantastischen Gefilden eines Computerspiels und wechselt mit diesem von einem Bildschirmlayout zum nächsten. Es sind die „Raum-Rahmen-Konstruktionen“ (Dolle-Weinkauff 2000: 192ff) von Multimedia-Anwendungen und nicht narrativ ausgeformte Schauplätze, welche die Arena für Killys Aktionen bilden. Die surrealen Räume, in denen sich die Handlungsträger von Blame! bewegen, folgen weniger den Zwängen einer irgendwie gearteten erzählerischen Kohärenz, sondern dem entfesselten Schöpfungsdrang einer virtuellen Phantasie, die beliebige Kontexte heraufbeschwört und wieder verschwinden lässt. Der Held hat in diesem Spiel nicht mehr und nicht weniger als die Aufgabe, sich gegen alle Überraschungen und Wendungen kämpfend zu behaupten. Sein Rüstzeug dafür ist eine Superwaffe und seine außerordentliche Reaktionsschnelligkeit – eben jene Eigenschaften bzw. Requisiten, über die ein erfolgreicher Computerspieler verfügen muss.
Y UKITO K ISHIRO : B ATTLE A NGEL A LITA Die bereits in drei verschiedenen Ausgaben in deutscher Sprache verbreitete Serie ist in Japan zuerst unter dem Titel Gunmu (dt.: Traumwaffe) von 1990 bis 1995 erschienen. Es folgten mehrere spin offs, darunter die in der japanischen
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Ausgabe erst 2014 beendete Serie Battle Angel Alita - Last Order (dt. 20042015). Der Autor nimmt dabei die Tradition der Robotergeschichte im Sinne von Osamu Tezukas Astro Boy2 auf, gibt dieser aber unter dem Einfluss der Cyberpunk-Literatur der 80er Jahre nicht nur eine aggressive und melodramatische Wendung, sondern siedelt diese in einer dystopischen, fernen Zukunft an. Verrückte Wissenschaftler, Maschinenmenschen, die über ungeahnte Zerstörungskräfte verfügen, Diebe, Kopfgeldjäger und Sonderlinge aller Art bevölkern eine Welt, die von ständigen mörderischen Kämpfen geprägt ist und kaum mehr lebenswert zu sein scheint. Im Gegensatz zu den permanent changierenden Milieus in Blame! besitzt der Kosmos des Werks von Yukito Kishiro eine relativ klare Grundstruktur: Die Erde ist zum – genau so genannten – „Schrottplatz“ der über ihr schwebenden Stadt Zalem herabgesunken. Während die Bewohner des künstlichen Satelliten ein privilegiertes Dasein führen, lebt die Erdbevölkerung im Elend und von den Abfällen Zalems. Hier wird, wie Jean-Marie Bouissou erklärt, ein Diskurs über japanische Identität und die Verortung des Landes innerhalb der gegenwärtigen internationalen politischen Ordnung geführt: eine Allegorie Japans, verkörpert in der Protagonistin, als Teil einer von anglo-amerikanischer Vorherrschaft geprägten, in Abhängigkeit gehaltenen Welt (Bouissou 2010: 238f.). Ein Großteil der Bewohner des Schrottplatzes besteht aus so genannten menschlichen Cyborgs, d.h. Wesen, deren menschliche Hirne und Nervensysteme mit einem Maschinenkörper kombiniert sind. Die Protagonistin Alita ist eine Schöpfung des Technikers Daisuke Ido, der, immer auf der Suche nach „Ersatzteilen“ für seine Cyborg-Werkstatt, ihren unversehrt gebliebenen Kopf im Abfall findet, der aus Zalem herabregnet. Ausgestattet mit einem Körper aus Idos Fertigung, beginnt Alita, die sich an ihre Vergangenheit nicht erinnert, ein neues Leben als Adoptivkind Idos, ein Leben, das jedoch unter den widrigen Daseinsbedingungen des Schrottplatzes alsbald wieder aus den Fugen gerät. Als sich Alita gegen zufällig Angreifende zur Wehr setzt, stellt sie eine unerhörte Kampfkraft unter Beweis, die die Vermutung nahe legt, dass sie unbewusst ein höchst kriegerisches Erbe mit sich herumträgt. Dieses ist letztlich der Auslöser für die sich über 50 Kapitel erstreckende Folge von Kämpfen des „Battle Angel“, in deren Verlauf Alita als Kopfgeldjägerin, Techno-Gladiatorin und schließlich sogar gegen ihr eigenes geklontes Ich anzutreten hat. Als mächtiger Gegner im
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Über den Meister des Manga der 50er und 60er und seinen Tetsuwan Atomu (dt. Eisenarm Atom, so der jap. Originaltitel für Astro Boy) liegt eine ausführliche Studie von Susanne Phillipps (2000) vor.
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Hintergrund agiert dabei zunehmend der mad scientist Desty Nova, der Alita nicht zerstören, sondern für seine Zwecke missbrauchen möchte. Die permanenten Kämpfe mit ihrem Kreislauf von Herausforderung, Zerstörung und Wiedergeburt durch Reparatur sind nicht zuletzt Mittel zum Zweck der Inszenierung der Mensch-Maschine-Symbiose, die auf diese Weise in immer neuen Varianten rekonstruiert werden kann. Deren Faszinosum, das Funktionieren menschlicher Vernunft- und Gefühlsausstattung in Verbindung mit einer technologisch perfektionierten Körperlichkeit, ist das eigentliche Thema der Erzählung Yukito Kishiros – eine Konstellation, die aus kulturwissenschaftlicher Sicht zuallererst mit Blick auf die Welt des Technik-Spielzeugs aus Japan als Techno-Animismus bezeichnet wird (Allison 2006b; Jensen/Blok 2013). Gegen Ende der Story offenbart sich, dass es sich bei den scheinbar glückseligen Bewohnern der Himmelsstadt ebenfalls um Zwitterwesen handelt. Wie der verrückte Professor Nova verrät, sind die Bewohner Zalems in gewisser Weise Gegenstücke zu den menschlichen Cyborgs des Schrottplatzes: Jedem von Ihnen wird mit Beginn des 18. Lebensjahres das menschliche Gehirn entfernt und durch einen Silikonchip ersetzt. Die mit dieser Offenbarung verbundene Desillusionierung ist eine doppelte, denn sie bezieht sich in gleicher Weise auf die technologischen Glücksverheißungen wie sie den Eintritt in das Erwachsenendasein geradezu dämonisiert. Die Furcht vor und die Abgrenzung zur Welt der Erwachsenen hinwiederum ist ein Motiv, das Battle Angel Alita mit zahlreichen Manga ganz anderer Genres gemeinsam hat und die von Kritikern als ein Syndrom der japanischen Gesellschaft angesehen wird (Ophüls-Kashima 1993: 551f.).
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Abbildung 3: Yukito Kishiro: Battle Angel Alita - Die Zerstörung des Hauptcomputers fördert die wahre Ansicht von (Jeru) – Zalem zu Tage (Bd. 9, 2002, S. 234)
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Die – trotz aller faszinierenden Elemente – antitechnizistische Tendenz der Geschichte wird in der abschließenden vollständigen Enthüllung des Mysteriums von Zalem auf den Punkt gebracht. Als die Steuerungseinheit dieser Welt entpuppt sich ein Rechner mit Namen Melchisedech, der den Invasoren vom Schrottplatz in der lächerlichen Gestalt eines strickenden Großmütterchens (Bd. 9) entgegentritt. Bevor er sich im Angesicht Alitas und ihrer Begleiter selbst zerstört, gibt sich der Zentralcomputer als Schöpfer eines Orbitalsystems zu erkennen, dessen erdnahe Station Zalem und dessen Raumhafen Jeru genannt wurde und dessen Funktionalität infolge verheerender kriegerischer Auseinandersetzungen, die auch die Erde zum „Schrottplatz“ werden ließen, zerstört wurde. Auf die Beendigung der Willkürherrschaft des Computers folgt eine Katastrophe (Abb. 3), die in eine Wiedergeburt der Welt einerseits und Alitas Reinkarnation als rein menschliches Wesen andererseits mündet: Der Kern des Satelliten Zalem entpuppt sich als organische Substanz, dessen gigantischem Wurzelwerk ein Stengel entspringt, aus dem das ehemalige Jeru als gigantische Lotosblüte emporragt. Diese allzu pathetische Wendung zum Glauben an die Selbstheilungskräfte der Natur erfährt dann aber eine ironische Relativierung, indem erst der zufällig aktivierte Backup-Chip des verrückten Desty Nova, aus dessen offener Hirnschale Pflanzen wachsen, die Rekonstruktion Alitas ermöglicht.
Y OSHIYUKI S ADAMOTO : N EON G ENESIS E VANGELION Die in bislang 14 Bänden vorliegende Manga-Serie ist eine der wenigen, deren Vorlagen TV- und Kinofilme bilden, die seit 1995 gezeigt werden. Dies ist auch der Grund dafür, dass neben dem Autoren und Zeichner der Comics die Film-Produktionsfirma Gainax stets als Urheber verzeichnet wird. Mit einer deutschsprachigen Gesamtauflage von mehr als 300.000 Exemplaren ist Neon Genesis Evangelion (jap. Shin seiki evangerion) der bislang erfolgreichste unter den in Deutschland publizierten SF-Manga. Der Kosmos von Evangelion oder NGE, wie die Serie im Fan-Jargon genannt wird, zählt zu den wohl verwirrendsten Konstruktionen, die die an eklektischen Mischungen keineswegs arme Welt des japanischen Comic zu bieten hat (Broderick 2002). Eine nur ungefähre Leitlinie bietet dabei die im Titel angedeutete Orientierung an biblischen Motiven; den Hintergrund bildet, wie so oft, eine postapokalyptische Szenerie, die im Jahr 2015 verortet wird: Nach zwei verheerenden, Milliarden von Opfern fordernden, Katastrophen, ausgelöst durch unkontrollierbare biogenetische Experimente und unerklärliche
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Einschläge von Himmelskörpern, wird die Welt von den Vereinten Nation vom neu konzipierten Neo-Tokyo 3 aus regiert. Deren phantastisches Design lässt die Inspiration durch die Architekten der japanischen Schule des Metabolismus erkennen, welche die Städte als sich gleichsam von selbst regenerierende Organismen betrachtete (Jung et al. 2008: 10ff). Die eigentliche Macht in diesem Kosmos wird von obskuren Geheimgesellschaften mit Namen wie „Seele“, „Gehirn“ und “NERV“ ausgeübt, unter denen die letztere als technologisch-militärische Einheit zur Abwehr der Gefahren für die Menschheit noch am ehesten fassbar erscheint. Geheimnisvolle, vom zerstörten Südpol her aufmarschierende Kampfmaschinen, die „Engel“ genannt werden, bedrohen auf der Suche nach dem mysteriösen Geschöpf „Adam“ die Kommandozentrale der Abwehrkräfte, die sich in einem pyramidenförmigen Bunker unterhalb der Festungsstadt Neo-Tokyo befindet. Als letztes Mittel setzen die Verteidiger auf eigene biomechanische Kampfroboter, die „Evas“, als deren Piloten ausschließlich paranormal begabte Kinder taugen, deren Hirne mit den Nervensystemen der Maschinen kooperieren.
Abbildung 4: Sadamoto, Yoshiyuki/ Studio Gainax Neon Genesis Evangelion: Ein Angriff der mysteriösen Engel auf Neo-Tokyo 3 wird dank versenkbarer unterirdischer Verteidigungsanlagen zurückgeschlagen (Bd. 3, S. 53)
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Abweichend von konventioneller Science Fiction scheint hier die Menschheitsbedrohung durch „extraterrestrische“ Kräfte nicht auf andere, feindliche Zivilisationen zurückzugehen, sondern auf einen Schöpfergott, der die demiurgischen Pläne seiner Kreatur zu durchkreuzen trachtet. So gesehen könnte man „Evangelion“ als eine universale Schlacht zwischen konkurrierenden Heilsplänen lesen – der eine der göttlichen Vorsehung und der andere den Hirnen der hoffärtigsten Vertreter der Menschheit entsprungen. Allerdings gehen derartige Interpretationen in der Fülle sich auftürmender Beliebigkeiten wieder unter. Die theologische Dimension, die die Autoren durch vielfältige stoffliche Anleihen beim Alten und Neuen Testament, dem Koran, dem Talmud und biblischen Apokryphen herstellen, reduziert sich auf eine esoterischen Mixtur, in deren Verwicklungen die Autoren offenbar absichtsvoll jegliche Orientierung verweigern. Von den Reizen des Mysteriums und der Spannungsförderung durch das Ungewisse einmal abgesehen, dürfte die Brisanz von Neon Genesis Evangelion denn auch weniger in solcherlei Konstruktionen zu sehen sein, als in der Inszenierung von Problemen und Auseinandersetzungen mit alltäglichen Kindheitserfahrungen, wie sie in den Handlungen der Protagonisten zum Ausdruck kommen. Denn es sind, entgegen der schicksalsschweren Thematik, nicht die Regierenden und Mächtigen der menschlichen Gesellschaft, sondern einige Kinder, die im Zentrum der Handlung stehen – ein Umstand, der als solcher schon auf das dahinter stehende Konzept verweist. Im Mittelpunkt steht der 14jährige Shinji, ein Halbwaise und Sohn des scheinbar ohne jede Gefühlsregung seine Mission verfolgenden Kommandeurs von NERV, Gendo Ikari. Shinji ist ein stiller, in sich gekehrter Junge, der sich selbst für einen Versager hält und der zutiefst unter der Missachtung leidet, die ihm sein ehrgeiziger Vater entgegenbringt; seine depressiven Neigungen gehen so weit, dass ihm bisweilen sein eigenes Leben vollkommen gleichgültig wird (Abb. 5). Ausgerechnet dieser ausgemachte Anti-Held ist jedoch berufen, sich an vorderster Front im Kampf zu bewähren, denn die Synchronisation seines Hirns mit den „Eva“-Kampfrobotern funktioniert perfekt.
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Abbildung 5: Sadamoto, Yoshiyuki/ Studio : Neon Genesis Evangelion Shinji Ikari (r.) ist ein depressives Kind, das keine Ambitionen hat, den Helden zu spielen (Bd. 2, S. 43)
Shinji stellt sich dieser Aufgabe nur widerwillig, die damit verbundenen unerfreulichen Begegnungen mit dem Vater und die Identitätskrisen wechseln einander regelmäßig ab. Offenkundig ödipal gefärbte Konfliktmuster, aufgeladen durch unheimliche Ereignisse und Unglücksfälle, spielen sich im Dreieck zwischen Shinji und Gendo Ikari und dem Mädchen Rei, dem „First Child“ des Teams, ab. Mehrfach beschließt Shinji aus dem Projekt auszusteigen. Hinzu kommen Rivalitäten und Kontaktschwierigkeiten mit den anderen als PsychoPiloten rekrutierten Kindern; die Gruppe verhält sich dabei ganz nach dem Muster von Geschwistern, die um ihre Position in der Familie und die Achtung der Eltern ringen. Bisweilen geht es auch um ganz ähnliche Konflikte wie sie in der Gattung Schulgeschichte als solcher geläufig sind. Dazu rechnen ebenso die problematischen Lehrer-Schüler-Beziehungen, die sich im Verhältnis der Kinder zu ihren Anleitern und Vorgesetzten der Organisation NERV wieder finden, wie auch eine Rollenverteilung, die u.a. die Typen des Klassenprimus, des ewigen Außenseiters, des Rabauken etc. in modifizierter Form an den Handlungsträgern erprobt. Die Fokussierung auf das von vorneherein unterlegen erscheinende, schwächste Mitglied der Gruppe schafft dabei nicht nur Spannung und Dynamik,
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sondern gibt der Erzählung den Anschein eines Entwicklungsromans, der jedoch letztlich nicht eingelöst wird.
K IA A SAMIYA : S ILENT M ÖBIUS Noch einen Schritt weiter im Hinblick auf die esoterische Thematik geht Kia Asamiyas zuerst 1989 im japanischen Original erschienene Serie Silent Möbius (jap. Sairento Mebiusu). Während die herkömmliche Mystery-Spielart der Science Fiction das Übersinnliche immer noch als das Unbegreifliche, ein rationales Weltbild irritierendes Moment begreift, ist dieses bei Silent Möbius integriert: Mit der Etablierung eines Paralleluniversums, das bezeichnenderweise den Namen der griechischen Rachegöttin Nemesis trägt, wird die Grenze von der szientistisch verbrämten Mystery-Story zur Fantasy mit SF-Requisiten überschritten. Aus der Anderswelt von Nemesis stammen die so genannten Lucifer Hawks, dämonische Angreifer, die offensichtlich auf der Suche nach paranormal begabten Menschen sind, um sie für ihre Absichten umzufunktionieren. Ausgangspunkt der Katastrophe ist hier jedoch einmal mehr ein ehrgeiziges Menschheitsprojekt („Gaia“), dessen Sabotage durch einige der beteiligten Wissenschaftler genau am 7.7.1999 zu einem Inferno führt, das nur ein Teil der Menschheit überlebt. Die esoterische Science Fiction-Erzählung stellt die ausschließlich mit jungen Frauen besetzte Polizeitruppe mit dem sonderbaren Namen AMP (Attacked Mystification Police) in den Vordergrund, die das wiedererstandene Tokyo von 2023 vor den numinosen Bedrohungen schützen soll. Wie in Neon Genesis Evangelion wird großer Wert auf die Charakterzeichnung und das Innenleben der Figuren gelegt und die ersten Bände der Serie sind vollständig der Einführung in die Lebenswelten, die Eigenarten und die magischtechnischen Fähigkeiten der einzelnen Mitglieder dieser Sondereinheit gewidmet. Diese werden demonstriert anhand bestimmter Herausforderungen durch besonders heftige Angriffe der Gegner oder durch Prüfungen, in deren Verlauf die Protagonistinnen die ihnen innewohnenden Fähigkeiten zu begreifen beginnen (Abb. 5). Im Mittelpunkt steht dabei die Polizistin Katsumi Liqueur, deren Eltern bereits in die Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts auf rätselhafte Weise verwickelt waren (Abb. 5).
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Abbildung 6: Kia Asamiya : Silent Möbius - Ein Lucifer Hawk (l.) beim Versuch, gewaltsam in das AMP-Mädchen Katsumi „einzudringen“ (Bd. 1, S. 48 f.)
Trotz der aufwändigen technologischen Kulissen und Requisiten ist hier die Frage nach der Zukunftsgesellschaft und deren Existenzbedingungen nicht als ein Problem der kollektiven Beherrschbarkeit der Technik, sondern als eine individuelle Auseinandersetzung mit dämonischen Mächten gesehen. Sehr viel deutlicher als in den anderen hier verhandelten Spielarten des TechnoAnimismus treten in dieser Geschichte die Prägung durch shintoistische Spiritualität und Vorstellungen von der Geisterwelt der Oni in Erscheinung. Die Dämonen sind nicht lediglich Auswüchse der Gegenwelt, sondern besitzen ihre Wurzeln teilweise in den handelnden Menschen, von denen es auch abhängt, ob sie ihre Zerstörungskräfte ungehindert entfalten können oder nicht. Hinzu kommt, dass in dieser scheinbar hoch entwickelten Welt ständig ganz unbefangen archaische Rituale praktiziert, Zauberformeln erdacht und angewandt, Gespenster losgelassen und vertrieben werden. So beruht etwa Katsumis Wehrhaftigkeit nicht bloß auf dem virtuosen Umgang mit hypermodernen Waffen sondern ebenso sehr auf der Fähigkeit, im Druidenfuß zerstörerische Geister zu bannen (Bd. 1, S. 22). Während die Alltagsszenen und Gespräche der AMP-Mädchen als Projektionen aktueller Teenagererfahrungen und des Austauschs darüber von Interesse sein können, führt die Entwirklichung der eigentlichen Thematik zu einer
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Abschwächung des apokalyptischen Elements und der von diesem ausgehenden Handlungsspannung. Mit dem Übergang in die märchenhafte Welt der Fantasy verliert die Vorstellung der Katastrophe an Gewicht: das Extreme ist in diesem Gattungskontext eben doch nur das Gewöhnliche, das jeder ohnehin erwartet und wieder mal rettet ein junges Mädchen die Menschheit vor dem Untergang. Die Tragik, welche einige der klassischen Vorbilder des Katastrophen-Manga, wie Katsuhiro Otomos Akira aufweist, hat sich hier in ein endloses Geplänkel zwischen bösen und guten Engeln verflüchtigt, an dem allenfalls spannend bleibt, wer am Schluss noch übrig ist.
D ER K ATASTROPHEN -M ANGA ALS GEGENWARTSORIENTIERTES G ENRE „Das K[sic!]urze 20. Jahrhundert“ – so schreibt Eric Hobsbawm (1995: 688) im Schlusskapitel seines Das Zeitalter der Extreme betitelten Rückblicks – „endete mit Problemen, für die niemand eine Lösung hatte oder auch nur zu haben vorgab“. Eben diese Ausgangssituation prägt ganz offensichtlich die dystopischen Welten des Science- Fiction-Manga, die in den beiden letzten Jahrzehnten des vergangenen Dezenniums in Japan entstanden sind und lässt die sozio-historischen Hintergründe für deren weit über Japan hinausgehende, globale Wirkung erahnen. Wie die hier vorgestellten Beispiele zeigen, versammeln sich unter dem Dach des neueren Science Fiction-Manga eine Reihe von Erzählungen, die sich von der herkömmlichen Science fiction in einigen wesentlichen Punkten unterscheiden. Die Attraktivität der Manga beruht generell auf einer Verknüpfung von Phantasie- und Wirklichkeitselementen, die sich engstens an den aktuellen Vorstellungswelten, Erfahrungen, Empfindungen, Ängsten und Idealen gegenwärtiger Kinder und Jugendlicher orientiert. Wurde bereits in frühen Beiträgen aus der deutschsprachigen japanologischen Forschung auf die gesellschaftlichen Implikationen gerade auch des an Kinder und Jugendliche gerichteten Manga hingewiesen (Maderdonner 1986), so ist diese Eigenart bei den zeitgenössischen apokalyptischen Science Fiction-Manga von konstitutiver Bedeutung. Zentral scheint hier einerseits die Auseinandersetzung mit antiutopischen Zukunftsbildern zu sein, die der Manga in unterschiedlichsten Varianten vergegenwärtigt und interpretiert. Das Pendant dazu bilden andererseits die Ängste, Wünsche und Omnipotenzphantasien der häufig pubertären bzw. adoleszenten Heldinnen und Helden, deren Leiden, Kämpfe und Erfolge Ausdruck eines ausgiebigen Spiels mit entsprechenden Leserdispositionen darstellen.
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Auf diese Weise ist die Ausprägung des Manga als eines transkulturellen Phänomens nicht nur in der Migration der fernöstlich geprägten Form des Comic in die westliche Hemisphäre zu sehen. Vielmehr geht damit auch ein Transfer bestimmter Inhalte, d.h. der Einstellungen, Vorstellungswelten und Mentalitäten des japanischen Publikums einher, insofern diese implizit in die für das heimische Publikum bestimmten Literaturangebote eingeschrieben sind. Dies gilt in besonderer Weise für die hier verhandelten Katastrophen- und ScienceFiction-Stoffe. Ihre Relevanz ist in weiten Teilen bestimmt durch die Erfahrungen historischer Katastrophen, v.a. derjenigen des Zweiten Weltkriegs und der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki sowie der Naturkatastrophen mit Erdbeben und Tsunami, welche das Land bis in die jüngste Vergangenheit heimgesucht haben. Das Modell der Zukunftserzählung erscheint in diesem Zusammenhang als eine Form der Krisenverarbeitung und -bewältigung. Die herkömmliche Science Fiction – nicht nur im Comic – legte ihren Schwerpunkt darauf, dem Leser Entwürfe technologisch bestimmter Zukunftswelten zu präsentieren, in deren abenteuerlichen Räumen sich menschliche Helden dadurch zu bewähren hatten, dass sie die Technologie unter ihrer Kontrolle hielten, Eindringlinge abwehrten und unerforschte Gebiete zugänglich machten bzw. unterwarfen. Die zunehmenden Zweifel an der Beherrschbarkeit der Technik wie auch an der Legitimität imperialer Politik haben einerseits dazu geführt, dass dezidiert negative Zukunftsvisionen an die Stelle utopischer Konstruktionen getreten sind; sie haben andererseits bewirkt, dass – wie etwa an Neon Genesis Evangelion und Silent Möbius besonders deutlich zu sehen ist – die Autoren in zunehmendem Maße esoterische anstelle spekulativnaturwissenschaftlicher Modelle und Erklärungsmuster heranziehen. Unübersehbar wird auch hier mit Leserdispositionen kalkuliert, die in diese Richtung gehen. Nicht zu übersehen ist aber auch, dass sich allgemein das Interesse an der globalen Konstruktion von Anderswelt eher verringert und hin zu Details wie Fragen der künstlichen Intelligenz oder der Mensch-Maschine-Kommunikation entwickelt hat. Bedingt interessante, globale Anderswelten, so legt das Beispiel von Tsutomu Niheis Blame! nahe, lassen sich gegenwärtig nur noch unter Rückgriff auf den unendlich reproduktionsfähigen Cyberspace des Computers herstellen. Damit aber wird die Simulation zum Prinzip des Erzählens erhoben und das Spiel gewinnt die Oberhand über die Geschichte. Die Folge ist, dass weniger eine bestimmte narrative Sinnstruktur als vielmehr die Vielfalt der Spielmöglichkeiten die Attraktivität der Rezeptionsvorlage ausmacht. Ähnlich wie ein Adventure-Game, bei dem das Interesse des Spielers nur so lange anhält, wie er die Spielhandlung nicht vollständig durchschaut, bleiben Comic-Geschichten in
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der Art von NGE und Blame! so lange interessant, wie die Enigmatisierung des Erzählten aufrechterhalten werden kann. In beiden mittlerweile abgeschlossenen Serien ist auch in dem abschließenden zehnten bzw. vierzehnten Band nicht zu erkennen, wie eine Auflösung all der von den Autoren aufgetürmten Rätsel aussehen könnte. Die Erzählkonzepte der meisten Beispiele bieten indessen Raum für die Entstehung relativ plastischer Charaktere, in die Projektionen von Elementen der Wirklichkeit der Adressaten eingehen können. Die offene, unaufdringliche und immer wieder auch komisierend-entlastende Art, in der sich die Manga vieler typischer Situationen und Probleme des Kindes- und Jugendalters annehmen, findet man zwar auch in nicht wenigen Texten der neueren Kinder- und Jugendliteratur vor. Die Zugeständnisse an die Unterhaltungsinteressen wie auch an nicht gerade pädagogisch erwünschte bzw. sanktionierte Bedürfnisse und Phantasien gehen jedoch sehr viel weiter als es die Kinder- und Jugendliteratur gemeinhin zulässt. Dass etwa Battle Angel Alita in ihren zahllosen Gladiatorenkämpfen in reichem Maße Gewalt symbolisch ausagiert und die Leser daran lustvoll partizipieren lässt, ist ebenso wenig zu verkennen, wie der Umstand, dass die besondere Faszination dieser Handlungen darin besteht, dass eine als junges Mädchen markierte Figur sie ausübt.
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Autoren
Ahl, Björn, ist Professor für chinesische Rechtskultur an der Universität zu Köln. Er forscht in den Bereichen chinesisches öffentliches Recht, vergleichendes Verfassungsrecht, chinesische Positionen zum Völkerrecht, Rechtstransfers und Rechtskultur. Dolle-Weinkauff, Bernd (Dr. phil., AOR), Kustos Institut für Jugendbuchforschung, Universität Frankfurt, Honorarprof. Universität Kecskemét. Arbeitsfelder: Geschichte und Theorie der Kinder- und Jugendliteratur, Historisches Kinderbuch, Märchen, Bildgeschichte, Comic. Golzio, Karl-Heinz, Jg. 1947, Studium der Indologie, Religionswissnschaft und Orientalischen Kunstgeschichte: zahlreiche Buch- und Aufsatz-Veröffentlichungen, darunter zuletzt „Geschichte Afghanistans“ (2010), „Geschichte Kambodschas“ (2011) und als Hrsg. „Kissinger und Südostasien“ (2014). Interessebschwerpunkt: Kambodscha Haug, Michaela, ist promovierte Ethnologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethnologie der Universität zu Köln und Mitglied des Global South Studies Center Cologne. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen politische Ökologie, Landrechte, Gender, soziale Ungleichheit und Mensch-Umweltbeziehungen in Südostasien/Indonesien. Hendrich, Béatrice (Dr. phil.), lehrt und forscht am Orientalischen Seminar der Universität zu Köln als Juniorprofessorin für türkische Sprache und Kultur zur religiösen Landschaft und Literatur der modernen Türkei und Zyperns. Keilbart, Patrick (Dipl.-Kulturw.-Univ.), ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Cross-cultural and Urban Communication“ der Universität zu Köln. Seine Forschung befasst sich mit transkulturellen und transmedialen Austauschprozessen in/mit Indonesien.
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Kurfürst, Sandra, ist Juniorprofessorin am Institut für Südasien- und Südostasienstudien der Universität zu Köln. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit dem Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit und öffentlichem Raum insbesondere in Asien. Malis, Anna, ist Doktorandin am Ostasiatischen Seminar der Universität zu Köln. Sie forscht zu Rechtstransfers ins chinesische Recht. Milich, Stephan, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Orientalischen Seminar der UzK und Übersetzer arabischer Literatur. Er lehrt und forscht zur modernen arabischen Kulturproduktion, arabischen Intellektuellendiskursen sowie zur deutschen Orientalistik im WWI. Weichhart, Peter (Univ.-Prof. i. R. Dr.), war bis 2014 Professor für Humangeographie am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien. Er war Gastprofessor an mehreren europäischen Universitäten und ist Mitglied der deutschen Akademie für Landeskunde. Wemheuer, Felix (Dr.), ist Professor für Moderne China Studien an der Universität zu Köln. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Sozialgeschichte Chinas im 20. Jahrhundert sowie Hungersnöte im Sozialismus.
Kulturwissenschaft Eva Horn, Peter Schnyder (Hg.) Romantische Klimatologie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2016 Mai 2016, 152 S., kart., 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3434-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3434-5
Fatima El-Tayeb Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft September 2016, 256 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3
Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.) Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2232-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8
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Kulturwissenschaft Andreas Langenohl, Ralph Poole, Manfred Weinberg (Hg.) Transkulturalität Klassische Texte 2015, 328 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-1709-2 E-Book: € (DE), ISBN
María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung 2015, 376 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-1148-9 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1148-3 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1148-3
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Nadja Geer, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.) POP Kultur & Kritik (Jg. 5, 2/2016) September 2016, 176 S., kart., zahlr. Abb., 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8376-3566-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3566-3
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