Der deutsch-türkische Film: Neue kulturwissenschaftliche Perspektiven 9783839454398

Die deutsch-türkische Filmlandschaft der vergangenen Jahrzehnte bis heute ist von großer Vielfalt geprägt. Dieser interd

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German Pages 350 Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
A Kulturwissenschaftliche Perspektiven
Von den wehrlosen Türkinnen zu den neuen Deutschen. Darstellungen der türkischen Frau im deutschen und deutsch-türkischen Dokumentar-, Spiel- und Fernsehfilm
Das gefallene Märchen. Zur filmischen Narration und Semiotik transkultureller Missverständnisse
Rezeption des Spielfilms Shirins Hochzeit (1976) aus der Perspektive der türkischen Musikproduktion in Deutschland
»Ist doch alles getürkt«. Stereotype Darstellung von ZuwanderInnen in den Medien und ihr Einfluss auf kulturelle Teilhabe
Ermitteln ohne Türkisch und als »Kanake« beschimpft: Happy Birthday, Türke! (1992)
Interkulturelle Identität und enantiomorphe Existenz. Asymmetrische Spiegelungen in Kutluğ Atamans Lola und Bilidikid (1999)
Wenn einem der Naturalismus kommt: Zwei Literaturverfilmungen von Nuran David Calis Frühlings Erwachen (2009) und Woyzeck (2013)
Städtische Räume und Regionalität in Tatorten von Züli Aladağ und Umut Dağ
Vom anatolischen Heimatfilm zur modernen Familiengeschichte. Die Darstellung der deutschtürkischen Kultur in Almanya – Willkommen in Deutschland (2011)
B Sprachwissenschaftliche Perspektiven
Mehrsprachiges Handeln im Film: Am Beispiel von Gegen die Wand (2004) von Fatih Akın
Zur Rolle und Funktion der Sprache im Film Solino (2002) von Fatih Akın
C Didaktische Perspektiven
Interkulturelle Begegnung in fiktionalen Welten
Möglichkeiten des Filmeinsatzes im DaF-Unterricht: Am Beispiel des Films Haymatloz: Exil in der Türkei (2016)
Autorinnen und Autoren
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Der deutsch-türkische Film: Neue kulturwissenschaftliche Perspektiven
 9783839454398

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Deniz Bayrak, Enis Dinç, Yüksel Ekinci, Sarah Reininghaus (Hg.) Der deutsch-türkische Film

Edition Kulturwissenschaft  | Band 239

Deniz Bayrak studierte Germanistik, Anglistik/Amerikanistik sowie Erziehungswissenschaft an der TU Dortmund. Sie arbeitet an der TU Dortmund. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Literatur/Film und Interkulturalität bzw. Flucht. Enis Dinç (Dr. phil.) ist Ass. Professor für Medien- und Kulturwissenschaften an der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul. Er promovierte 2018 an der Am­ sterdam School for Cultural Analysis (ASCA) der Universität Amsterdam. Von 2014 bis 2015 war er Visiting Researcher der Abteilung Naher Osten der Princeton Universität in den USA. Yüksel Ekinci (Prof. Dr. phil.) ist Professorin für Erziehung und Bildung – Bildungsbereich Sprache an der FH Bielefeld. Als Stipendiatin des Österreichischen Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst schloss sie ihre Dissertation an der Universität Salzburg ab. Sie war an der Universität Çanakkale Onsekiz Mart, an der Universität Duisburg-Essen, an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und an der Technischen Universität Dortmund tätig. Ihre Forschungsinteressen sind Mehrsprachigkeit, Deutsch als Zweit- und Fremdsprache und Kulturwissenschaften. Sarah Reininghaus studierte Germanistik, Philosophie und Erziehungswissenschaft an der TU Dortmund. Sie arbeitet und lehrt an der TU Dortmund und beschäftigt sich im Rahmen ihrer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Dissertation mit Ikonografien der Shoah. Forschungs- sowie Publikationsschwerpunkte sind neben Horrorfilm Studies unter besonderer Berücksichtigung von Gender und Körperlichkeit Aspekte literar- und filmästhetischer Interkulturalität.

Deniz Bayrak, Enis Dinç, Yüksel Ekinci, Sarah Reininghaus (Hg.)

Der deutsch-türkische Film Neue kulturwissenschaftliche Perspektiven

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5439-4 PDF-ISBN 978-3-8394-5439-8 https://doi.org/10.14361/9783839454398 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort ........................................................................... 9 Einleitung Deniz Bayrak, Enis Dinç, Yüksel Ekinci, Sarah Reininghaus............................ 11

A Kulturwissenschaftliche Perspektiven Von den wehrlosen Türkinnen zu den neuen Deutschen. Darstellungen der türkischen Frau im deutschen und deutsch-türkischen Dokumentar-, Spiel- und Fernsehfilm Monika Riedel ....................................................................... 19

Das gefallene Märchen. Zur filmischen Narration und Semiotik transkultureller Missverständnisse Klaus Schenk ...................................................................... 39

Rezeption des Spielfilms Shirins Hochzeit (1976) aus der Perspektive der türkischen Musikproduktion in Deutschland Ali Osman Öztürk & Derya Canbolat ................................................. 65

»Ist doch alles getürkt«. Stereotype Darstellung von ZuwanderInnen in den Medien und ihr Einfluss auf kulturelle Teilhabe Hacı-Halil Uslucan.................................................................. 87

Ermitteln ohne Türkisch und als »Kanake« beschimpft: Happy Birthday, Türke! (1992) Gudrun Marci-Boehncke ............................................................ 101

Interkulturelle Identität und enantiomorphe Existenz. Asymmetrische Spiegelungen in Kutluğ Atamans Lola und Bilidikid (1999) Nils Jablonski ...................................................................... 119

Wenn einem der Naturalismus kommt: Zwei Literaturverfilmungen von Nuran David Calis – Frühlings Erwachen (2009) und Woyzeck (2013) Stefan Schroeder ................................................................. 157

Städtische Räume und Regionalität in Tatorten von Züli Aladağ und Umut Dağ Deniz Bayrak & Sarah Reininghaus ................................................ 187

Vom anatolischen Heimatfilm zur modernen Familiengeschichte. Die Darstellung der deutsch-türkischen Kultur in Almanya – Willkommen in Deutschland (2011) Hilal Keskin ....................................................................... 219

B Sprachwissenschaftliche Perspektiven Mehrsprachiges Handeln im Film: Am Beispiel von Gegen die Wand (2004) von Fatih Akın Ludger Hoffmann ................................................................. 235

Zur Rolle und Funktion der Sprache im Film Solino (2002) von Fatih Akın Pembe Şahiner.................................................................... 265

C Didaktische Perspektiven Interkulturelle Begegnung in fiktionalen Welten Tuncer Cabadağ & Stephan Holz ................................................... 287

Möglichkeiten des Filmeinsatzes im DaF-Unterricht: Am Beispiel des Films Haymatloz: Exil in der Türkei (2016) Anna Khalizova.....................................................................317

Autorinnen und Autoren..................................................... 343

Vorwort

Das deutsch-türkische Verhältnis blickt auf eine lange Tradition zurück. Die Zusammenarbeit erstreckt sich auf alle Bereiche des öffentlichen Lebens, der Wirtschaft und der Kultur. Einen wichtigen kulturellen Beitrag zu dieser Zusammenarbeit leisten die deutsch-türkischen Filmschaffenden. Um dieser Zusammenarbeit einen weiteren Aspekt hinzuzufügen, haben wir unterschiedliche WissenschaftlerInnen in diesem vorliegenden Band zusammengebracht, damit den LeserInnen verschiedene Perspektiven des deutsch-türkischen Films dargelegt werden können. Wir sind überzeugt, dass ein multiperspektiver Ansatz zu einem umfassenden und besseren Verständnis des deutsch-türkischen Films führen wird. Von daher freuen wir uns, Ihnen in diesem Sammelband die Beiträge zu Filmen von deutschtürkischen FilmemacherInnen vorstellen zu dürfen. Wir hoffen, dass dieses Buch einen Beitrag dazu leistet, den LeserInnen eine eigene, einzigartige Perspektive auf deutsch-türkische Filme zu ermöglichen. Wir bedanken uns bei allen Beitragenden für ihren Einsatz und für ihre Geduld bis zu der Veröffentlichung ihrer Texte. Darüber hinaus gilt unser Dank Dr. Ümit Koşan vom Verbund der sozial-kulturellen Migrantenvereine in Dortmund e.V. (VMDO e.V.), der die Finanzierung dieses Buchprojekts ermöglicht hat.   Dortmund und Istanbul, im Frühling 2020 Deniz Bayrak Enis Dinç Yüksel Ekinci Sarah Reininghaus

Einleitung Deniz Bayrak, Enis Dinç, Yüksel Ekinci, Sarah Reininghaus

Die deutsch-türkische Filmkultur blickt auf eine lange Tradition zurück. Bereits seit den 1970er Jahren des vergangenen Jahrhunderts produzieren RegisseurInnen türkischer Herkunft deutsch-türkische Filme. Zu Beginn war häufig ein Betroffenheitsgestus feststellbar, der zumeist mit der Tatsache einhergeht, dass migrantische Themen, wie beispielsweise Heimat- und Identitätsverlust, im Fokus standen und auch die biographischen Aspekte der FilmemacherInnen stark betont wurden. Analog zur Literatur deutschtürkischer AutorInnen trat das Thema der Betroffenheit zunehmend in den Hintergrund, als mit Beginn des neuen Jahrtausends verstärkt ein deutschtürkisches Bewusstsein einsetzte, das transkulturelle Strukturen der deutschen Gesellschaft als selbstverständliches Moment widerspiegelt bzw. sich zunehmend von prototypischen Migrationsthemen verabschiedet. Dabei werden Migration und ihre Folgen nicht mehr zwingend zum Hauptsujet erhoben und zudem auch positiv betrachtet. Eine Generation mit mehrfachkulturellen Identitätszuschreibungen wird erkennbar, die das Leben in der deutschen Gesellschaft nicht mehr als vorübergehende Diasporasituation mit dem Wunsch nach Heimkehr erlebt. Ähnliches konstatieren auch Ezli, Kimmich und Werberger, wenn sie für die erste Generation der MigrantInnen eine Lebenslage der durch Verlust und Leiden geprägten Diaspora umschreiben, während für nachfolgende Generationen die Neukonstitution von Subjekt und Kultur gilt. Beispielhaft für die Konstitution von etwas Neuem, jenseits von ethnischen und nationalen Zuschreibungen, soll an dieser Stelle ein Kommentar Fatih Akıns auf die Frage, ob er sich als Deutscher oder Türke bezeichnen würde, zitiert werden:

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Als Hamburger. Das ist ein Kompromiss, trifft aber auch zu. Ich lebe in einem Freundeskreis aus unterschiedlichen Kulturen, es entwickelt sich etwas völlig Neues, das nenne ich Hamburg. Ob mit oder ohne Migrationsthematik, positiv zu erwähnen ist die veränderte Rezeption deutsch-türkischer Filme, bei der vermehrt – zumindest im wissenschaftlichen Diskurs – das Hauptaugenmerk auf filmästhetische Qualitäten gelegt wird. Genau hier setzt der vorliegende Sammelband an und betrachtet deutschtürkische Filme hauptsächlich aus kulturwissenschaftlicher Sicht. Er lässt dabei unterschiedliche Perspektiven zu: Solche, die auch das Thema Migration und biografische Aspekte thematisieren, und solche, die diese beiden Facetten bewusst ausblenden. Allen gemein ist die Tatsache, dass es immer um das »Kunstwerk« Film geht. Auch mit Blick auf die verschiedenen (Teil-)Disziplinen ist der vorliegende Sammelband bewusst offen gestaltet: kulturwissenschaftliche, filmwissenschaftliche, sprachwissenschaftliche, aber auch didaktische Perspektiven werden entfaltet. Des Weiteren umfassen die Beiträge einen großen Entstehungszeitraum und zeichnen somit die Genese der deutsch-türkischen Filmkultur nach. Gerade aufgrund der Diversität des Bandes ergeben sich Möglichkeiten zu zahlreichen Untersuchungsgegenständen, -methoden und -ansätzen. Die Polyphonie der betrachteten Werke spiegelt sich also auch in der bewusst offenen Konzeption des Sammelbandes wider. Denn eines soll dieser Sammelband bewusst nicht: kategorisieren, etikettieren oder sogar stigmatisieren. Dieser Sammelband soll mit unterschiedlichen Disziplinen in Dialog treten und somit neue Denkanstöße liefern, den wissenschaftlichen Diskurs erweitern und vertiefen sowie neue Fragen aufwerfen. In diesem Sinne wünschen wir bei der Lektüre des Sammelbandes ein erkenntnisreiches als auch anregendes Lesen.

Zu den Beiträgen Die Beiträge des vorliegenden Bandes behandeln ein breites Spektrum deutsch-türkischer Filme, beginnend in den 1970er Jahren bis hin zur Gegenwart. Eröffnet wird der Sammelband durch Monika Riedels Beitrag zu Darstellungen der türkischen Frau im deutschen und deutsch-türkischen Dokumentar-, Spiel- und Fernsehfilm. Anhand zahlreicher ausgewählter

Einleitung

Filme geht es ihr darum, unterschiedliche Konstruktionen weiblicher Identitäten aufzuzeigen und für eine interkulturelle Filmdidaktik fruchtbar zu machen. Während in den 1970er und 1980er Jahren überwiegend sprachund chancenlose Frauenfiguren dargestellt wurden, kam es in den 1990ern zu kulturellen Verschiebungen. Einerseits treten nun auch Frauen als Regisseurinnen auf, aber auch in den Darstellungen der Frauen kommt es zu Veränderungen, wobei Sibel aus dem Film Gegen die Wand (2004) wohl die eigenwilligste weibliche Figur ist. Im Hinblick auf die Verwendung des deutsch-türkischen Films im Deutschunterricht gibt es nach Meinung der Autorin vielfache didaktische Umsetzungsmöglichkeiten, die jedoch bisher keine Einigkeit erkennen lassen. Während kulturelle Missverständnisse im Genre des deutsch-türkischen Films inzwischen erfolgreich zum Thema gemacht werden können, ergaben sich in den 1970er und 1980er Jahren mehrmals Anlässe zu vehementen Auseinandersetzungen, die unterschiedliche kulturelle Perspektiven der filmischen Rezeption erkennen lassen. Ein besonders eindrückliches Beispiel hierfür bietet der 1975 nach dem Drehbuch und unter der Regie von Helma Sanders-Brahms produzierte Film Shirins Hochzeit (1976). An der Rezeptionsgeschichte dieses Films zeigt Klaus Schenk ausgehend von narratologischen und semiotischen Überlegungen, welche divergenten Sichtweisen aufgerufen wurden und wie diese miteinander in Konflikt geraten sind. Auch Ali Osman Öztürk und Derya Canbolat setzen sich in ihrem Beitrag mit Shirins Hochzeit auseinander. Der Film erzählt von einer jungen türkischen Frau, die in beiden Ländern von Männern fremdbestimmt, (sexuell) ausgenutzt und viktimisiert wird. Die Entrüstung über die Darstellung einer Türkin, die in der Bundesrepublik zur Prostituierten wird, manifestierte sich unter anderem auch in der Musikproduktion türkischer Migranten in Deutschland. Hier setzt die Analyse Öztürks und Canbolats ein, wenn sie drei der damals populär gewordenen Lieder einer genaueren Untersuchung hinsichtlich ihrer Auseinandersetzung mit dem Film und dessen Protagonistin beziehungsweise vielmehr seiner Hauptdarstellerin unterziehen, und sie dabei die sprachliche Ausgestaltung der Lieder wie das ihnen zugrundeliegende Frauenbild berücksichtigen. Hacı-Halil Uslucan zeigt in seinem Beitrag, welche Stereotypen bei der Darstellung von ZuwandererInnen in den Medien verwendet werden. Er diskutiert, warum die kulturelle und künstlerische Teilhabe von ZuwanderInnen deutlich geringer als ihr gesellschaftlicher Anteil ist und liefert zentrale Gründe für diese Repräsentationslücke. Dabei wird die Frage aufgeworfen, welche

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Rolle hierbei stereotype Darstellungen (von ZuwandererInnen) im medialen Diskurs spielen, die sich ihrerseits hemmend auf den Kunst- und Kulturbetrieb auswirken. Anhand einer exemplarischen Analyse einer stereotypen Aufarbeitung des deutsch-türkischen Verhältnisses im Film Wut (2006) werden die Implikationen für die kulturelle Teilhabe beschrieben. Gudrun Marci-Boehncke beleuchtet in ihrem Beitrag über Doris Dörries Film Happy Birthday, Türke! aus dem Jahr 1991 nach dem gleichnamigen Erstlingswerk des Schriftstellers Jakob Arjouni (1985) das Problem der Kommunikation über kulturelle Aspekte der Identität. Diese Frage spielt sowohl im Plot des von Dörrie adaptierten Werks als auch in der inszenierten Biographie des Krimi-Autors Arjouni eine zentrale Rolle. Die Rezeption zeigt bis in die Gegenwart, dass Texte nicht nur anhand werkimmanenter Merkmale beurteilt werden können, sondern ihr gesellschaftlicher Produktions- und Vermittlungskontext berücksichtigt werden sollte. Gerade als Schullektüre, die der Krimitext seit den 2000er Jahren auch darstellt, verlangt er neben sprachlicher Sensibilität ein besonderes ethisches Bewusstsein der Lehrkraft und eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit kulturellen Bildern und Erwartungen. Mittels eines Close Readings vollzieht Nils Jablonskis Beitrag eine neoformalistische Untersuchung von Kutluğ Atamans Lola und Bilidikid (1999). Im Zentrum seines Interesses steht dabei die Art und Weise in welcher der Film, der im Milieu türkischer Homosexueller und Dragqueens im Berlin der späten 1990er Jahre verortet ist, die Konstruiertheit von Männlichkeit und Identität herausstellt. Der Kampf um das Erlangen einer eigenen Identität der gezeigten interkulturellen wie queeren Gruppe, die insofern als eine doppelt marginalisierte bezeichnet werden muss, erfolgt in einer heteronormativ wie patriarchal geprägten Gesellschaft, so dass Jablonski Lola und Bilididkid unter Bezugnahme auf Judith Butlers Theorien als Erzählung einer Subjektwerdung begreift. Insbesondere spürt der Artikel dabei den Gestaltungs- und Wirkweisen der asymmetrischen Spiegelung und der enantiomorphen Existenz nach, die für Lola und Bilidikid als zentrale Mittel geltend gemacht werden können. Stefan Schroeder untersucht in seinem Beitrag Nuran David Calis’ Adaptionen von Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (2009) und Georg Büchners Woyzeck (2013), wobei der deutsch-türkisch-armenisch-jüdische Autor sowie Film- und Theaterregisseur Bilder der Gegenwartsgesellschaft entwirft und die Relevanz der Dramen aus dem Blickwinkel des 21. Jahrhunderts betrachtet. Dies bezieht sich zum einen auf die Handlung, zum anderen aber auch auf die Figuren und deren Psyche, die aufgrund dramaturgischer Änderun-

Einleitung

gen neu kontextualisiert werden. In beiden Filmen kombiniert Calis realistische Elemente mit Verfremdungseffekten. Während in Woyzeck dokumentarische Aspekte mit Textpassagen des Originals verbunden werden, entstehen in Frühlings Erwachen die Verfremdungseffekte insbesondere durch die Besetzung. Beiden Werken gemein ist die Tatsache, dass sie realistische Elemente und Verfremdungseffekte gegenüberstellen bzw. miteinander kontrastieren. Deniz Bayrak und Sarah Reininghaus analysieren in ihrem Beitrag zwei Tatort-Folgen der deutsch-türkischen Regisseure Züli Aladağ und Umut Dağ hinsichtlich ihrer Ausgestaltung und Inszenierung städtischer, ländlicher und regionaler Räume. Erst seit 2003 lassen sich Filmemacher deutsch-türkischer Provenienz unter den Verantwortlichen der höchst erfolgreichen deutschen TV-Produktion ausmachen. Mit Mutterliebe (2003) und Rebecca (2016) wählen die Verfasserinnen bewusst zwei Filme aus, die sich inhaltlich nicht dem weiten Themenfeld der Migration und Integration widmen; lediglich einer der beiden Filme sieht überhaupt deutsch-türkische Nebenfiguren vor, ohne deren Zuwanderungsgeschichte auch nur annähernd zu problematisieren. In diesem Sinne kann der Beitrag als ein Plädoyer für eine in erster Linie filmästhetische Betrachtungsweise der Werke deutsch-türkischer KünstlerInnen verstanden werden, die sich abseits biografischer Lese- und Deutungsweisen bewegt, stattdessen das Werk in den Fokus der Betrachtung rückt und hier mittels einer als raumtheoretisch zu verortenden Untersuchung erfolgt. Hilal Keskin setzt sich in ihrem Beitrag mit dem Film Almanya – Willkommen in Deutschland (2011) auseinander. In den letzten Jahrzehnten wurden Fragen der Interkulturalität in Literatur und Film hauptsächlich im Hinblick auf Migrationsprobleme, wie beispielsweise Sprachbarrieren, Verlust der Heimat sowie Fremdheit in einem neuen Land gestellt. Die neue Generation von deutsch-türkischen RegisseurInnen und FilmproduzentInnen wie Yasemin Şamdereli zeigt aber, dass das deutsch-türkische Kino weit über die Auseinandersetzung mit einer Migrationsproblematik hinausgehen kann. Heutzutage werden in deutsch-türkischen Filmen nicht nur neue Perspektiven im Hinblick auf die deutsch-türkische Kultur eröffnet, sondern sie leisten ebenso einen Beitrag dazu, Interkulturalität und kulturelle Hybridität auf ganz unterschiedlichen Ebenen filmisch zu inszenieren. Dadurch entstehen laut Keskin neue kulturelle Bilder, Metaphern und gar sprachliche Aspekte. Ludger Hoffmann zeigt in seinem Beitrag, wie Funktionsanalysen von gesprochener oder geschriebener Sprache vor dem Hintergrund von Mehrsprachigkeit bei der Auseinandersetzung mit Filmen nutzbar gemacht werden können. Sie können Narration, Dialogizität und Entwicklung der Figu-

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ren mit ihren Emotionen, Einstellungen und mentalen Prozessen erfassen. Sprachfunktionen, Sprachenwahl und Sprachenwechsel werden mit den unterschiedlichen Konstellationen und der Inszenierung des Scheiterns in Relation gesetzt. Die Rolle und Funktion der Sprache im Film Solino (2002) von Fatih Akın zu charakterisieren, ist das Ziel des Beitrags von Pembe Şahiner. Die Autorin erkennt in der Verwendung des ruhrdeutschen Regiolekts Parallelen zum Kiezdeutschen, das in Akıns Filmen ein besonderes Element darstellt. Şahiner betont, dass sprachbiographische Erfahrungen in der Migration unterschiedliche Verhältnisse von Nähe oder Distanz zur Sprache einnehmen lassen und somit Sprache in einer Wechselwirkung zur Biographie steht. Als Teil der individuellen Auseinandersetzung zeigt das ungleiche Geschwisterpaar in Solino, wie Einstellungen zur Sprache und Umgebung Teil der Empfindungen von Nähe oder Distanz verdeutlichen können. Tuncer Cabadağ und Stephan Holz beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit dem Einsatz von Literatur und Film im Unterricht. Theoretische Grundlage hierfür bieten die Konzepte von Homi K. Bhabhas hybriden Identitäten und von Pierre Bourdieus Ausführungen zum gespaltenen Habitus. Darüber hinaus werden Verbindungen zu den postkolonialen Überlegungen Gayatri C. Spivaks aufgezeigt. Für den Einsatz im Unterricht entwerfen die Autoren didaktische Perspektiven für mehrkulturelle und -sprachige SchülerInnen. In einem ersten Schritt analysieren und kritisieren die Beitragenden das Konzept von interkultureller Literatur und Film, um dann in einem zweiten Schritt die Theorie des Dritten Raums im Klassenraum umzusetzen und zu realisieren, indem Literatur und Film des Dritten Raums betrachtet werden. Der Sammelband endet mit dem jüngsten der hier behandelten Filme. Am Beispiel des Dokumentarfilms Haymatloz – Exil in der Türkei (2016) von Eren Önsöz, der das Schicksal der jüdischen WissenschaftlerInnen Deutschlands im türkischen Exil während des Nationalsozialismus thematisiert, untersucht Anna Khalizova die Möglichkeiten des Einsatzes von interkulturellen Filmen im Rahmen des DaF/DaZ-Unterrichts. Zu diesem Zweck präsentiert sie exemplarisch ein didaktisches Modell für den Film. Aufgrund seines enormen interkulturellen, landeskundlichen und geschichtlichen Potenzials stellt der Film ein interessantes Lernmedium sowohl für den muttersprachlichen als auch für den DaF-/DaZ-Unterricht dar.

A Kulturwissenschaftliche Perspektiven

Von den wehrlosen Türkinnen zu den neuen Deutschen. Darstellungen der türkischen Frau im deutschen und deutsch-türkischen Dokumentar-, Spiel- und Fernsehfilm Monika Riedel

Abstract. This article discusses the representation of women in German Cinema from the 1970s to the present from a Turkish-German perspective. While films of the first two decades mirrored the economic and social situation of emigrants, the differences between German and Turkish culture and the traditional beliefs of gender roles, observing through images of patriarchy and power, since 2000 the New German Cinema emphasizes the heterogeneity within Turkish-German communities and draws urgent attention not only to the new forms of perception but also to female empowerment. Focusing on both, fictional and non-fictional films, the article examines the topic in general and common practices of description of Turkish women, particularly in the works of male and female German (Rainer Werner Fassbinder, Hark Bohm, Helma Sander-Brahms, Peter Lilienthal, Andreas Guttner, HansDieter Grabe) and Turkish-German (Tevfik Başer, Ayşe Polat, Fatih Akın, Aysun Bademsoy, Buket Alakuş) filmmakers.

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Einleitung

Betrachtet man die Filmproduktion in Deutschland seit der Veröffentlichung der ersten auf die Arbeitsmigration reagierenden Filme in den 1970er und 1980er Jahren, sieht man sich zunächst mit dem Bild des türkischen männlichen Gastarbeiters konfrontiert, während Darstellungen von selbstständig agierenden Gastarbeiterinnen fehlen. Wenn Frauen als Verlobte, Ehefrau und Tochter Teil der filmischen Welten werden, handelt es sich dabei um Figuren,

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Monika Riedel

die – ähnlich wie die männlichen – auf von kollektiven Vorstellungen geprägte, schematische und reduktionistische bzw. dichotomische Wahrnehmungsmuster zurückgehen. Auch mit dem Aufkommen des sogenannten Neuen deutschen Kinos, wie die Filmkritik die Produktionen mehrheitlich junger türkischstämmiger Filmemacher in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre auf eine griffige Formel zu bringen versuchte, bleiben Frauen – bezogen sowohl auf die Filmbranche als auch auf die dargestellten Wirklichkeiten – eher unterrepräsentiert. Zwar fanden deutsch-türkische Filmemacherinnen mit ihren hervorragenden filmischen Arbeiten vereinzelt Beachtung, doch von ihrer kontinuierlichen Sichtbarkeit kann bis heute ebenso kaum die Rede sein wie von durchgehend differenzierten und vielschichtigen filmischen Inszenierungen deutsch-türkischer weiblicher Erfahrungen und Frauenbiografien. Um für das hier skizzierte Thema im Bereich der Hochschule und Schule (Sekundarstufe II) zu sensibilisieren und seine Etablierung anzustoßen, bietet der folgende Beitrag einen kurzen Überblick der deutsch-türkischen Filmgeschichte aus weiblicher Perspektive. Sein Ausgangspunkt sind jene frühen filmischen Betrachtungsweisen und Beschreibungspraktiken, die die zeitgenössischen Diskussionen in Politik und Medien im Subtext unbewusst abbilden oder dem herrschenden Diskurs zuwiderlaufen und ohne welche die Entwicklungen in der Gegenwart kaum verständlich wären. Er untersucht vor dem Hintergrund des Paradigmenwechsels im Migrations- und Integrationsdiskurs seit der Jahrtausendwende den Einfluss der konzeptionellen Verschiebung,1 die die soziale Konstruktion des (kulturellen und weiblichen) »Anderen« in Deutschland auf die Modulierung von Welt in den Filmen deutscher und deutsch-türkischer FilmemacherInnen erfahren hat. Am Beispiel ausgewählter Filme von Hans-Dieter Grabe, Tevfik Başer, Ayşe Polat, Fatih Akın, Buket Alakuş u.a. sollen unterschiedliche Konstruktionen weiblicher Identitä-

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Zur Entwicklung der Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland seit der Jahrtausendwende siehe Sabine Mannitz/Jens Schneider: Vom »Ausländer« zum »Migrationshintergrund«: Die Modernisierung des deutschen Integrationsdiskurses und seine neuen Verwerfungen, in: Boris Nieswand/Heike Drotbohm (Hg.): Kultur, Gesellschaft, Migration. Die reflexive Wende in der Migrationsforschung. Wiesbaden: Springer 2014, S. 69-96. Zum Phänomen der Migration in seinen die Geschlechterverhältnisse betreffenden Zusammenhängen siehe Eva Hausbacher/Elisabeth Klaus/Ralph Poole/Ulrike Brandl/Ingrid Schmutzhart (Hg.): Migration und Geschlechterverhältnisse. Kann die Migrantin sprechen? Wiesbaden: VS Springer 2012.

Von den wehrlosen Türkinnen zu den neuen Deutschen

ten aufgezeigt und für eine (interkulturelle) Filmdidaktik fruchtbar gemacht werden.

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Darstellungen der türkischen Frau im Dokumentar-, Spiel- und Fernsehfilm der 1970er und 1980er Jahre

Die ersten den Gastarbeiter oder die türkischen MigrantInnen im deutschen gesellschaftlichen Kontext thematisierenden Filme sind Produktionen von deutschen (teils zum Umkreis des »Neuen Deutschen Films« gehörenden) RegisseurInnen wie Rainer Werner Fassbinder (Katzelmacher 1969, Angst essen Seele auf 1973/1974), Helma Sanders-Brahms (Shirins Hochzeit 1975/1976) oder Hark Bohm (Yasemin 1988) und von türkischen Regisseuren deutschtürkischer Koproduktionen wie Tevfik Başer (40 Quadratmeter Deutschland 1986, Abschied vom falschen Paradies 1988/1989)2 . Im Bereich des Dokumentarfilms sind Kenan Ormanlar (Gastarbeiter aus der Türkei 1969), Peter Lilienthal (Kadir 1976/1977), Hans-Dieter Grabe (Mehmet Turan oder Noch ein Jahr, noch ein Jahr 1977, Abdullah Yakupoglu: Warum habe ich meine Tochter getötet? 1986) und Hans Andreas Guttner (Alamanya Alamanya – Germania Germania 1979)3 zu nennen. In ihren Arbeiten bilden sie unabhängig von ihrer Herkunft migrantische Wirklichkeiten aus einer sozialkritischen Haltung agierend ab. Während die ersten Dokumentarfilme Lebensumstände sowie Fremdheitsund Ausbeutungserfahrungen der ArbeitsmigrantInnen fokussieren, widmen sich Spiel- und Fernsehfilme inhaltlich-motivisch der Darstellung von Identitätsfindungsprozessen im Kontext von Migration und Integration. Die Arbeitsweise der FilmemacherInnen kennzeichnet mehrheitlich die Tendenz,

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Mangels der für die Analyse erforderlichen Ressourcen wurden in der Forschung nicht in Deutschland hergestellte Filme zur deutsch-türkischen Migration bisher kaum berücksichtigt. Eine lohnende Zusammenschau der deutschen Perspektive und der in der türkischen Populärkultur zu verortenden Filme des Yeşilçam-Kinos der 1960er und 1970er Jahre bietet der Beitrag von Tunçay Kulaoğlu/Martina Priessner: Aufbruch, Unterwegssein, Ankunft und Rückkehr im türkischen Yeşilçamkino bis zum subversiven Migrationskino der Jahrtausendwende, in: Ömer Alkın (Hg.): Deutsch-Türkische Filmkultur im Migrationskontext. Wiesbaden: Springer 2017, S. 25-44. Guttner fasst seine Dokumentarfilme Alamanya Alamanya – Germania Germania (1979), Familie Villano kehrt nicht zurück (1981), Im Niemandsland (1983), Dein Land ist mein Land (1989) und Kreuz und quer (1996) als Pentalogie unter dem Titel Europa – ein transnationaler Raum. Alamanya Alamanya – Germania Germania zusammen.

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Monika Riedel

Kultur statisch zu denken und in ihren Narrativen vom gesellschaftlichen Zusammenleben die auch dem damaligen deutschen migrations- und integrationspolitischen Diskurs inhärenten kulturellen Dichotomien (Inländer vs. Ausländer, eigen vs. fremd, deutsch vs. türkisch, modern vs. traditionell/rückständig) zu reproduzieren.4 Filmische Auseinandersetzungen dieser Art werden in der Forschung auf die damaligen Vorgaben und Erwartungen der öffentlichen Filmförderung zurückgeführt.5 Der türkischen Zuwanderin wies sie bedingt durch ihren pädagogisch-aufklärerischen Impetus unreflektiert die Rolle des (doppelten) Opfers zu und schrieb damit das Bild einer im privaten wie im öffentlichen Bereich sprach- und chancenlosen türkischen Frau für Jahrzehnte fest.6 Zwar lieferte Fassbinder, als er mit seinen Filmen Katzelmacher und Angst essen Seele auf die Erfahrungen von Außenseitern, vor allem Frauen und Arbeitsmigranten, auf die Leinwand brachte, einen überzeugenden Einstand für das sogenannte Minderheitenkino, doch eine Zusammenschau der Filmproduktion der folgenden Jahre macht wenig überraschend eine ausgeprägte Neigung zu Problemfilmen und »leidvolle[n] Geschichten vom Verlorensein ›zwischen den Kulturen‹«7 sichtbar: Die dem Verlobten nach Köln nachgereiste und verstoßene Shirin muss sich in Sanders Shirins Hochzeit prostituieren und wird von einem Zuhälter umgebracht. Die wehrlose Turna wird in Başers 40 Quadratmeter Deutschland von ihrem Mann in einer Hamburger Wohnung gefangen gehalten, während der erniedrigten und misshandelten Elif im ebenfalls von Başer gedrehten Abschied vom falschen Paradies ihre Gefängnisstrafe nach der Ermordung ihres Mannes als Befreiung erscheint. Schließlich steht die jugendliche Yasemin im gleichnamigen Film Bohms seit drei Jahrzehnten stellvertretend für alle pflichtbewussten 4

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Vgl. hierzu die Beiträge in Ernst Karpf/Doron Kiesel/Karsten Visarius (Hg.): »Getürkte Bilder«: Zur Inszenierung von Fremden im Film. (=Arnoldshainer Filmgespräche Bd. 12). Marburg: Schüren 1995; Deniz Göktürk: Migration und Kino – Subnationale Mitleidskultur oder transnationale Rollenspiele?, in: Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. 329-347; Özkan Ezli: Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz. Fatih Akıns globalisiertes Kino, in: Özkan Ezli/Dorothee Kimmich/Annette Werberger (Hg.): Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur. Bielefeld: transcript 2009, S. 207-230, hier S. 207-210. Vgl. Göktürk, Migration und Kino, S. 333; Ezli: Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz, S. 209. Vgl. Göktürk, Migration und Kino, S. 333. Ebd.

Von den wehrlosen Türkinnen zu den neuen Deutschen

türkischen Töchter, die nach dem Prinzip »morgens Deutschland, abends Türkei« ein Doppelleben führen müssen, um dem Leben wenn nicht ein Stück Freiheit, dann doch zumindest deren Illusion abzutrotzen. Auch in den Dokumentarfilmen dieser Jahre ist – neben den Ausgrenzungsund Diskriminierungserfahrungen der ArbeitsmigrantInnen – die Geschlechtsidentität von Frauen zentraler Topos. In der ersten Generation türkischer Einwanderinnen geht es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, in der zweiten vordergründig um den Konflikt aufgrund der vom vermeintlich freien Westeuropa beeinflussten Zukunftsplanung der weiblichen Kinder und Jugendlichen mit ihren traditionell geprägten Eltern.8 Im Interviewfilm Mehmet Turan oder Noch ein Jahr, noch ein Jahr 9 thematisiert Grabe die negativen Auswirkungen des Lebens in der Fremde auf die weibliche Psyche. Dabei wird Nuriye Turans Erkrankung von zwei (männlichen) Ärzten zunächst einseitig auf ihren Status als Ausländerin und ihr Heimweh zurückgeführt. Erst im späten Verlauf des Films wird diese Sicht- und Darstellungsweise revidiert, indem eine dritte ärztliche Meinung Frau Turans chronisches Erschöpfungssyndrom mit ihrer Mehrfachbelastung, die ihre Berufstätigkeit, die Haushaltsführung und Kindererziehung ohne den Rückhalt eines familiären Gefüges in Deutschland für sie bedeuten, begründet. Peter Lilienthals Kadir verhandelt den Zwiespalt der zweiten Generation am Beispiel Semras, die in den Augen ihrer Eltern »verdeutscht« ist und entgegen der elterlichen Praxis, ihre Töchter zum Schutz vor dem fremden Einfluss in die Türkei zurückzuschicken10 , in Deutschland bleiben und stu-

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Vgl. Inga Selck: Realitäten der Einwanderung. Der deutsch-türkische Dokumentarfilm seit den 1960er Jahren, in: Alkın (Hg.), Deutsch-Türkische Filmkultur im Migrationskontext, S. 95-128, hier S. 102. Grabe vermittelt in seinem Interviewdokumentarismus gesellschaftliche Themen über Personenporträts. Die Darstellung von Heimat und Fremde ist in den 1980er Jahren mit fünf Filmen nahezu ein Schwerpunkt in seiner dokumentarischen Tätigkeit. Allerdings zeigen seine drei »Gastarbeiter«-Filme erst dann ein differenziertes und vielschichtiges Bild, wenn man sie zusammen betrachtet. Allen drei ist die Thematik des Nicht-Integrieren-Könnens eigen. Vgl. Christian Hißnauer: Personen beschreiben, Leben erzählen. Die Fernsehporträts von Georg Stefan Troller und Hans-Dieter Grabe. Wiesbaden: Springer 2017, S. 166-174, hier S. 172. Siehe hierzu auch Aysun Bademsoys Nirgends ist man richtig da (1994), Am Rand der Städte (2005) und Martina Priessners Wir sitzen im Süden (2012) über die erzwungene Remigration von Töchtern in die Türkei.

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dieren möchte.11 Vom Generationenkonflikt her rollt auch Grabe in einem Interview, das er in einer Justizvollzugsanstalt geführt hat, die Familiengeschichte Abdullah Yakupoglus in seinem gleichnamigen Dokumentarfilm auf. Der Gastarbeiter, der 1964 nach Deutschland gekommen ist, hat seine in Deutschland aufgewachsene Tochter Perihan ermordet, die mit 20 Jahren das Elternhaus verließ, um mit ihrem deutschen Freund ohne Trauschein zusammen zu leben. Grabe setzt sich mit dem Topos »Ehrenmord« (aus der Perspektive des Täters) mit dem Ziel auseinander, die Darstellbarkeit von kulturellen Konflikten zu überprüfen, welche durch mediale Bilder einseitig vorgeprägt sind.12 Doch in den 1980er Jahren erfährt die männliche Perspektive auf türkische Einwanderinnen durch die ersten Filme von Dokumentarfilmemacherinnen, wie etwa Mehrangis Montazami-Dabuis Männerrecht – Frauenleid: Türkinnen in Deutschland (1981) und Jeanine Meerapfels Die Kümmeltürkin geht (1985), eine Erweiterung und Korrektur. Letzterer schildert in einem Porträt mit semidokumentarischem Charakter die Lebenssituation von Türkinnen in Deutschland jenseits des herkömmlichen Bildes der passiven und marginalisierten Migrantin und der Betroffenheitsrhetorik der Erzählungen über MigrantInnen am Beispiel Melek Tez’, einer starken alleinstehenden Berliner Großstädterin. Beide Regisseurinnen ebnen mit ihren filmischen Arbeiten den Weg für alternative Wahrnehmungs- und Darstellungsmuster, denen wir uns im folgenden Kapitel zuwenden wollen.

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Kulturelle Verschiebungen im »deutsch-türkischen Kino«

Unter dem Begriff »deutsch-türkisches Kino« werden seit den 1990er Jahren neben Filmen über türkische MigrantInnen von deutschen oder türkischen RegisseurInnen auch Filme subsumiert, die von FilmemacherInnen deutsch11

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Wie Selck (Realitäten der Einwanderung, S. 103) feststellte, sei die weibliche Stimme in dieser Dokumentation »unterrepräsentiert, der Blick richtet sich auf die männlichen Akteure«, auf Semras Bruder Kadir und ihren deutschen Freund: Während Semra am rechten Rand des Bildes mit dem Rücken zum Zuschauer steht, »sich fast aus dem Off ins On arbeitend immer wieder in das Gespräch einmischt« und ihre Freiheit ohne eine eindeutige Verurteilung der Haltung ihrer Eltern zu verteidigen versucht, bedrängt sie ihr deutscher Freund mit seinem Standpunkt. Kadir bezieht – ob als Zeichen seines Einverständnisses mit den Eltern oder aus Angst vor Konflikten – keine klare Stellung. Vgl. ebd., S. 108.

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türkischer Herkunft produziert werden.13 Sie machen wahlweise die Lebensrealitäten in Deutschland lebender türkischer MigrantInnen oder türkischstämmiger Deutscher zu ihrem Gegenstand oder verhandeln Themen jenseits des Migrantischen. Neben Fatih Akın sind die RegisseurInnen Thomas Arslan, Ayşe Polat, Kutluğ Ataman, Yüksel Yavuz, Hussi Kutlucan, Buket Alakuş, Aysun Bademsoy, Yasemin Samdereli u.a. zu nennen. Für die Forschung sind die VertreterInnen der zweiten und dritten Einwanderergeneration bzw. die in Deutschland geborenen Nachfahren von EinwanderInnen, die sich zunehmend als PostmigrantInnen definieren14 , mehr oder weniger Garant für nicht-essentialistische bzw. die diskursiven Normen im Hinblick auf Ethnizität und Identität subversiv unterminierende Filme im Kino und Fernsehen.15 Göktürk spricht 2000 von der Befreiung der MigrantInnen »aus dem Gefängnis einer subnationalen Mitleidskultur, [sie] gehen transnationale Allianzen ein und unterlaufen durch ironische Rollenspiele ethnische Zuschreibungen und Identifizierungen«16 . In den letzten Jahren sind aber auch kritische Stimmen, vorwiegend aus den Film- bzw. Medienkulturwissenschaften, zu vernehmen, die den »Fortschrittsnarrativ« bzw. den »Wandelnarrativ« der 13

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Während bis in die 1990er Jahre kein dezidierter Begriff für diese Filme existiert, setzt sich seit der Jahrtausendwende der Genrebegriff »deutsch-türkisches Kino« zunehmend durch. Vgl. Göktürk, Migration und Kino; Johanna Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit: Über die visuellen Strukturen der Anerkennung. Bielefeld: transcript 2008; Ezli, Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz. Zur Kritik am normativen Ansatz siehe Hauke Lehmann: Die Produktion des »deutsch-türkischen Kinos«. Die Verflechtung von Filme-Machen und Filme-Sehen in LOLA + BILIDIKID (1998) und Tiger – Die Kralle von Kreuzberg (2006), in: Alkın, Ömer (Hg.), Deutsch-Türkische Filmkultur im Migrationskontext, S. 275-296. Lehmann lehnt die Wahrnehmung der deutsch-türkischen Filme als Abbild sozialer bzw. diskursiver Realität ab und fokussiert in seinem Beitrag ihre mediale Produziertheit. Zur Bezeichnungspraxis im Sinne sowohl einer Selbstbeschreibung als auch einer Fremdkategorisierung siehe Naika Foroutan: Neue Deutsche, Postmigranten und Bindungs-Identitäten. Wer gehört zum neuen Deutschland? www.bpb.de/apuz/32367/neue-deutsche-postmigranten-und-bindungs-identitäten-wer-gehört-zum-neuen-deutschland?p=all (Abruf am 12.03.2019). Ömer Alkın: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Deutsch-Türkische Filmkultur im Migrationskontext, S. 1-21, hier S. 2. In besonderem Maße gilt dies für Fatih Akın, dessen deutschtürkische Lebenserzählungen zugleich als transnational und transkulturell eingestuft werden. Vgl. Ezli, Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz, S. 211; Özkan Ezli (Hg.): Kultur als Ereignis. Fatih Akıns Film »Auf der anderen Seite« als transkulturelle Narration. Bielefeld: transcript 2015. Göktürk, Migration und Kino, S. 344.

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deutsch-türkischen Filmgeschichtsschreibung im Sinne einer linearen Entwicklung vom – inzwischen überholten – pflichtbewussten Problemfilm über das schwermütige Migrantenkino und die Integrationsfilme der 1990er Jahre bis zu einem aktuellen, Vielfalt als Normalität begreifenden »Kino der Métissage«17 hinterfragen.18 So argumentiert etwa Alkın19 berechtigterweise damit, dass in deutschen Filmproduktionen klassische Vorstellungen von MigrantInnen als Exoten und Opfer, integrierte AusländerInnen oder transkulturelle Subjekte nebeneinander existieren und nach wie vor ebenso ihre filmische Fiktionalisierung finden wie doppelt minoritäre Positionen angesichts homogenisierender Großerzählungen20 . Was es heißt, zur Realität des Einwanderungslandes Deutschland sowohl kritischer als auch gendersensibel Stellung zu nehmen, soll hier auch an einigen Filmbeispielen verdeutlicht werden. Für die erste Entwicklungsphase muss zunächst festgehalten werden, dass trotz Aufbruchsstimmung in Berlin und Hamburg im »deutsch-türkischen Kino« zwischen 1990 und 2005 weiterhin männliche Regisseure dominieren, die zudem die Erfahrungen des eigenen Geschlechts in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen. Den deutsch-türkischen filmischen Mikrokosmos bevölkern wütende junge Männer, Machos und (Klein-)Kriminelle, deren Geschichten die Regisseure Fatih Akın (Kurz und schmerzlos 1997/1998), Yüksel Yavuz (Aprilkinder 1998), Thomas Arslan (Dealer 1998/1999) und Kutluğ Ataman (Lola und Bilidikid 1997/98) sich an amerikanischen oder französischen Vorbildern orientierend erzählen. Sie sind allesamt selbstbewusste Subjekte, die die kulturelle Verschmelzung in den europäischen Großstädten und die Tücken und Alltagspraktiken eines Lebens in zwei Kulturen vor Augen führen. Gleichzeitig setzen Filme wie

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Vgl. Georg Seeßlen: Menschenbilder der Migration im Film. Wie das Kino das Leben in zwei Kulturen zugleich beschreibt, in: Der Überblick. 3/2002, S. 73-78. www.der-ueberblick.de/ueberblick.archiv/one.ueberblick.article/ueberblick6d50.html?entry= page.200203.073 (Abruf am 28.02.2019). Siehe Alkın, Einleitung; Nanna Heidenreich: V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration. Bielefeld: transcript 2015; Sabine Hake/Barbara Mennel: Introduction, in: Dies. (Hg.): Turkish German Cinema in the new Millenium: Sites, sounds and screens. New York: Berghahn Books 2012, S. 1-18. Vgl. Alkın, S. 5. An dieser Stelle soll auf das kurdische Kino von Hüseyin Tabak, Bülent Öztürk, Bahman Gobadi und Soleen Yusef verwiesen werden.

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Winterblume (1996/1997) von Kadir Sözen und Yara (1998) von Yılmaz Arslan die lange Reihe der Opferdarstellungen fort21 . Doch auch weibliche Regisseure wie Ayşe Polat (Auslandstournee 1999, En Garde 2003/2004), Seyhan C. Derin (Zwischen den Sternen 2001/2002) und Buket Alakuş (Anam 2000/2001, Eine andere Liga 2004/2005) profitieren von der öffentlichen Aufmerksamkeit und Anerkennung des deutsch-türkischen Kinos und machen um die Jahrtausendwende ihre ersten größeren Gehversuche. Sie zeigen in ihren hier genannten Filmen die persönliche Entwicklung von jungen Mädchen und Frauen, die sich im Leben (und oft genug auch in ihren Familien) ihren Platz erkämpfen müssen. In Polats Auslandstournee macht sich die Halbwaise Senay nach dem Tod ihres Vaters mit einem türkischstämmigen homosexuellen Nachtclubsänger aus Amsterdam quer durch Europa auf die Suche nach ihrer Mutter. Die Reise (zu ihren beiden Müttern in der Türkei), in der Neubauer »[d]ie Suche nach der Herkunft, nach den eigenen Wurzeln« sieht, scheitert zwar, doch die beiden sind sich »emotional näher gekommen und bilden eine Art ›utopische Gemeinschaft‹, die ihnen Schutz vor einer feindlichen Welt bietet«22 . Um die Freundschaft der introvertierten Alice und der lebenslustigen, auf ihren Asylbescheid wartenden Kurdin Berivan, beide in einem katholischen Mädchenheim untergebracht, geht es in Polats Film En Garde. In einem Umfeld, das unfähig ist, ihnen positive Gefühle und Nähe zu vermitteln oder ihre emotionalen Schwankungen überhaupt aufzufangen, gelingt es den beiden, Hoffnung zu entwickeln und Verantwortung füreinander zu zeigen. In Derins Film Zwischen den Sternen, einer Beziehungskomödie, verliebt sich die 19-jährige Deutschtürkin Deniz in der Türkei in Umut, der zwar in Deutschland geboren wurde und bis zu seinem 16. Lebensjahr dort aufwuchs, aber wegen der Rückkehr der Familie in die Türkei keine Aufenthaltsgenehmigung mehr für die BRD besitzt. Mit seiner illegalen Einreise und seinem nachfolgenden Versteck- und Verkleidungsspiel findet zunächst eine Umkehrung der Situation der weiblichen häuslichen Gefangenschaft statt. Zwar stellt Umut einen Asylantrag und sucht sich eine Arbeit, aber als sein Vater in der Türkei

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Vgl. Jochen Neubauer: Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer. Identität und Fremdwahrnehmung in Film und Literatur: Fatih Akın, Thomas Arslan, Emine Sevgi Özdamar, Zafer Şenocak und Feridun Zaimoğlu. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 198f. Ebd., S. 218.

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einen Herzinfarkt erleidet, muss er auf Druck der Familie Deutschland verlassen. Die selbstbewusste Deniz muss sich, entsprechend des Genres, zwischen Liebe und Karriere entscheiden. Sie spielt ihre Handlungsmöglichkeiten durch und folgt – gegen alle Widerstände – schließlich doch Umut in die Türkei. Alakuşs erster Spielfilm Anam schildert die Emanzipationsgeschichte einer Türkin, die innerhalb kürzester Zeit die »heile« Welt ihrer Familie zusammenbrechen sieht: Der Betrug durch ihren Mann und der Drogenabsturz ihres Sohnes zwingen sie, ihr Ehefrauen-, Mutter- und Putzfrauendasein zu hinterfragen und ihre Wünsche und Pläne neu zu definieren. Auch die junge Deutschtürkin Hayat muss sich in Eine andere Liga – in Folge einer Brustkrebsdiagnose – ins Leben zurückkämpfen und ihr Selbstbild neu justieren. Stütze findet sie, gegen den Willen des fürsorglichen Vaters, in ihrer Leidenschaft für das Fußballspielen und den Menschen in ihrer Außenseiterinnenmannschaft. Die wohl eigenwilligste weibliche Figur des deutsch-türkischen Films hat Fatih Akın 2003/2004 in seinem Kinofilm Gegen die Wand präsentiert: Die junge Sibel lotet ihre Möglichkeiten im Leben zwischen Lebenswut und Todessehnsucht balancierend aus. Im Zusammenhang mit ihrer Person greift der herkömmliche Begriff der Integration zu kurz, sie repräsentiert auch keine Kultur, sondern steht für extreme Individualität.23 Auch wenn sie auf den ersten Blick der Enge und den Traditionen ihres konservativen türkischen Elternhauses entkommen möchte, geht es ihr nicht primär um das Gegeneinander-Abwägen der Geschlechterrollen und Weiblichkeitsbilder der türkischen und der deutschen Kultur, den Aushandlungsprozess und die Entscheidung für den modernen westlichen Emanzipationsdiskurs. Ihr Anliegen ist fundamentaler und im Grunde transkulturell: Sie hinterfragt während ihrer Identitätssuche in der Auseinandersetzung mit den westlichen Vorstellungen von Emanzipation auch diese, indem sie die in den westlichen Gesellschaften hochgehaltene Freiheit zwar im Sinne sexueller Freizügigkeit interpretiert, Modernität und Selbstbestimmung in ihrer Lebensführung aber jenseits dieser ansiedelt.24 Auf humorvolle Art und Weise thematisiert die Tragikomödie Almanya – Willkommen in Deutschland (2009/2010) von Nesrin und Yasemin Şamdereli die Einwanderungsgeschichte der Familie Yılmaz. Einen wichtigen Erzählstrang 23 24

Vgl. Ezli, Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz, S. 215. Vgl. ebd., S. 216.

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bildet dabei die Darstellung der Lebenswege und der Identitätsfindungsprozesse der weiblichen Familienmitglieder in drei Generationen. Während die Großmutter Fatma als junge Frau in der Heimat und später in ihrer Ehe in Deutschland mit den traditionellen weiblichen Rollenbildern hadert, profitiert ihre Tochter Leyla scheinbar von den Errungenschaften der neuen deutschen Frauenbewegung. Sie lebt als alleinerziehende Mutter ihrer Mutter und Tochter vor, was es heißt, Akteurin des eigenen Lebens zu sein. Erst durch die (ungewollte) Schwangerschaft ihrer (Enkel-)Tochter Canan wird beiden die Wirkung des sozialen Drucks sowohl in der Herkunfts- als auch der Aufnahmegesellschaft auf ihre Selbstkonzepte bewusst, sodass sie Canan schließlich ihre vorbehaltlose Unterstützung zusichern. Im Bereich des Dokumentarfilms arbeitet man auch überwiegend an Porträts und Selbstporträts, die die Frauen als handelnde Subjekte in den Mittelpunkt rücken. Serap Berrakkarasu untersucht in Töchter zweier Welten (1990/1991) die vornehmlich wirtschaftlichen Auswanderungsgründe, die Reaktionen des jeweils persönlichen Umfeldes in der Türkei, die Migrationsgeschichte und die Lebenssituation einer Mutter und ihrer Tochter. Durch die parallel geführten Interviews entfaltet sich indirekt ein Gespräch zwischen den beiden über den sie belastenden Generationenkonflikt, was, wie Selck betont, »ohne die Kamera und die Filmemacherin nicht möglich gewesen wäre«25 . Nicht nur die ZuschauerInnen setzen sich anhand ihrer Schicksale mit dem Thema der arrangierten Ehe und der Unterdrückung der Frau durch die Familie (Eltern und Ehemann) auseinander, sondern auch die beiden Frauen lernen durch die Interviews sich gegenseitig besser zu verstehen. Zu den Darstellungen deutsch-türkischer Frauen zählen auch jene autobiografisch angelegten Dokumentarfilme, in welchen die FilmemacherInnen die Einwanderungsgeschichte der eigenen Familie filmisch verarbeiten. Zwei Filme sollen hier exemplarisch stehen. In Ben Annemin Kızıyım – Ich bin Tochter meiner Mutter (1995/1996) setzt sich Seyhan C. Derin als Studentin an der Hochschule für Fernsehen und Film München mit ihrer Beziehung zu ihrer Mutter auseinander. Sie fokussiert die Leidensgeschichte der Frauen unter ihren Männern und die Entwicklungen, die sie durchlaufen: Während die Mutter mit dem (vom Heimweh geplagten, spiel- und alkoholsüchtigen) Vater in die Türkei zurückkehrt, bleibt Derin in Deutschland. Im Gegensatz dazu zeichnet Fatih Akın in seinem Dokumentarfilm Wir haben vergessen zurückzukehren 25

Selck, Realitäten der Einwanderung, S. 114.

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(2000), in dem er im Stil eines privaten Familienfilms einen sehr persönlichen Einblick in die Einwanderungs- und Integrationsgeschichte seiner Familie gewährt, das Bild einer Frau, die in ihrem Erzählnarrativ zunehmend sowohl als Familienmitglied/Mutter als auch als Zeitzeugin agiert. Indem sie mit ihrem Sohn biografisch relevante Orte besucht und ihre Bedeutung für die eigene Lebensgeschichte reflektiert, verwischt sie in ihrem Identitätsentwurf zunehmend die äußeren nationalen Grenzen, sodass lokale Zugehörigkeit gegenüber Herkunft die Oberhand gewinnt. Hadiye Akın eine Lehrerin, die ihren Beruf nach zwölf Jahren in Deutschland wieder weiterführen konnte, steht für all jene Gastarbeiterinnen der ersten Generation, die – gebildet und emanzipiert – dem inhaltsleeren Begriff Integration schon in den 1980er Jahren eine eigene Note verliehen. Eine Rückkehr in die »Heimat« wurde von Akıns Eltern intendiert, aber angesichts der erfolgreichen Verwirklichung ihrer Lebensträume (trotz Hindernissen) in Deutschland nie umgesetzt. Zu den differenzierten Leistungen des Dokumentarfilms gehört schließlich Aysun Bademsoys dreizehn Jahre umfassende Langzeitstudie über türkische Jugendliche, die – wie schon im oben erwähnten Spielfilm von Buket Alakuş – innerhalb einer von Männern dominierten Sportart erfolgreich werden wollen. In Mädchen am Ball (1995), Nach dem Spiel (1997) und Ich gehe jetzt rein (2008) befassen sich die FilmemacherInnen mit dem Leben von Safiye, Arzu, Türkan, Nalan und Nazan, die zum Zeitpunkt der Entstehung des ersten Films zwischen sechzehn und zwanzig Jahre alt waren, der Bedeutung des Fußballs für ihr Leben (als Ausgleich zu familiären und schulischen Problemen), der ablehnenden Haltung der türkischen Community in Kreuzberg zum Frauenfußball bei gleichzeitiger Unterstützung der Eltern (und teilweiser Ablehnung der Brüder und später der Ehemänner)26 und ihrem Alltagsleben. Der dritte Film ist schließlich der aktuellen Lebenslage der inzwischen jungen Erwachsenen gewidmet, die in Situationen stecken, denen sie früher entfliehen wollten, sowie ihren Kämpfen, Enttäuschungen und Niederlagen. Bademsoy zwingt sie durch erneutes Nachfragen, sich mit Fragen der Geschlechterrollen auseinanderzusetzen, doch überlässt sie stets den jungen Frauen die Entscheidung, wie viel sie aus ihrem Privatleben preisgeben wollen.

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Siehe hierzu Selcks Analyse des Interviews (Ebd., S. 118) mit Nalans Ehemann zwischen traditionellen Ansichten zu den Geschlechterbeziehungen und dem Wunsch, als moderner Mann wahrgenommen zu werden.

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Optionen für die Deutschdidaktik

Abschließend sollen nun die Fragen nach der Verortung des »deutsch-türkischen« Films allgemein und der konkreten genderspezifischen Fragestellung dieses Beitrags in der schulischen und hochschulischen Lehre kurz beantwortet werden. Ersteres berührt zwei grundlegende Aspekte der Diskussion in der Deutschdidaktik seit dem Erscheinen der neuen Medien in den 1990er Jahren. Zwar steht inzwischen außer Frage, dass die ausschließliche Ausrichtung des Deutschunterrichts auf seine gewöhnlichen Gegenstände Sprache und Literatur nicht mehr zeitgemäß ist und dem audiovisuellen Text ebenfalls Bedeutung beigemessen werden soll27 , doch bleibt weiterhin unklar, auf welche Weise dies curricular und unterrichtsorganisatorisch geschehen soll, sodass die Wirkung der bisherigen Studien und Modelle auf die bestehende schulische Praxis nur mäßig ist. Wenig Einigkeit scheint in der Forschung außerdem darüber zu herrschen, welcher Anteil dem (Spiel- und Fernseh-)Film angesichts der alternativen audiovisuellen (und auch symmedialen) Texte am schulischen Unterricht zufallen sollte.28 Der Einsatz von »deutsch-türkischen« Filmen in der schulischen und hochschulischen Lehre hängt über diesen konzeptionellen Überlegungen hinaus auch davon ab, welche Chancen audiovisuellen Texten (und sonstigen Medienformaten), die in der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Wahrnehmung heute noch vielfach als Genres von Subkulturen gelten, in aktuellen und zukünftigen Studien, wissenschaftlichen Ansätzen sowie Unterrichtsmodellen tatsächlich zugestanden werden. Augenfällig ist nämlich bei der Verhandlung dieser zukunftsweisenden Aufgaben das mangelnde Diversitätsbewusstsein, wenn es um definitorische Grundlagen und didaktische Relevanz geht. Unsere aktuellen Denkmuster können die Attraktivität

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Siehe hierzu exemplarisch die Kanon- und Modellbildungen in Hans Dieter Erlinger/Bodo Lecke (Hg.): Kanonbildung bei audiovisuellen Medien im Deutschunterricht? München: Kopaed 2004; Klaus Maiwald: Wahrnehmung – Sprache – Beobachtung. Eine Deutschdidaktik bilddominierter Medienangebote. München: Kopaed 2005; Gudrun Marci-Boehncke/Matthias Rath (Hg.): Jugend – Werte – Medien. Das Modell. Weinheim, Basel: Beltz 2009 und Matthis Kepser: Fächer der schulischen Filmbildung. München: Kopaed 2010. Kaum Beachtung findet der Dokumentarfilm im schulischen Unterricht und folglich auch in der LehrerInnenausbildung. Vgl. Ingo Kammerer/Matthis Kepser (Hg.): Dokumentarfilm im Deutschunterricht. Hohengehren: Schneider 2014.

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des »deutsch-türkischen« Films jenseits vereinzelter Medienintegrationsversuche im DaM-Unterricht und einer normativen Schwerpunktsetzung wegen seiner vermeintlich integrationsfördernden und selbstkonstruierenden Bedeutung für SchülerInnen mit sogenanntem Migrationshintergrund im DaZ-Unterricht – so scheint es mir – nicht steigern. Auch die Sichtung der Filmproduktion der vergangenen 50 Jahre und ihre Wahrnehmung in der Forschung hat den Einfluss von institutionellen Machtund Herrschaftsstrukturen auf Produktion und Rezeption offengelegt. Weder die Thematisierung der kulturellen Verfasstheit der Filme noch der Filmästhetik kann ohne die Sensibilisierung für die strukturell-institutionellen Rahmenbedingungen in der Filmindustrie vonstattengehen, da die drei DiskursEbenen miteinander auf vielfältige Weise verwoben sind. Die dominanzkritische Perspektive auf die Filme und ihre Entstehungsgeschichte sowie die Wahl eines Themas (wie hier die Darstellung der türkischen Frau), welches das Individuum – im Sinne einer intersektionalen Denkweise – als Kombination und Kreuzungspunkt verschiedener Kategorien sozialer Differenzierung betrachtet, würde nicht nur eine fundierte Neuausrichtung der Beschäftigung mit Filmen im schulischen Unterricht in der Sekundarstufe II. und in der hochschulischen Lehre ermöglichen, sondern den Weg zur Stärkung transkultureller Wahrnehmungsmuster ebnen. Denn der »deutsch-türkische« Film demonstriert nicht zuletzt eindrücklich, wie sich in den audiovisuellen Medien die Formierung29 von Werten und Normen, Mythen und Diskursen einer dynamischen, veränderlichen und netzartig verbundenen Gesellschaft vollzieht.

Literatur Alkın, Ömer (Hg.): Deutsch-Türkische Filmkultur im Migrationskontext. Wiesbaden: VS Springer 2017. Alkın, Ömer: Einleitung, in: Alkın, Ömer (Hg.): Deutsch-Türkische Filmkultur im Migrationskontext. Wiesbaden: VS Springer 2017, S. 1-21.

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Vgl. Maiwald, Klaus: Filmdidaktik und Filmästhetik: Lesen und Verstehen audiovisueller Texte, in: Volker Frederking/Hans-Werner Huneke/Axel Krommer/Christel Meier (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 2: Literatur und Mediendidaktik. Hohengehren: Schneider 2013, S. 221-242, hier S. 222.

Von den wehrlosen Türkinnen zu den neuen Deutschen

Blumentrath, Hendrik/Bodenburg, Julia/Hillmann, Roger/Wagner-Engelhaaf, Martina (Hg.): Transkulturalität. Türkisch-deutsche Konstellationen in Film und Literatur. Münster: Aschendorff 2007. Chmielewska, Kamila: Von Angst essen Seele auf bis Almanya – deutsch-türkische Filme im interkulturellen Fremdsprachenunterricht, in: Glottodidactica 1/2014, S. 127-139. El Hissy, Maha: Getürkte Türken. Karnevaleske Stilmittel im Theater, Kabarett und Film deutsch-türkischer Künstlerinnen und Künstler. Bielefeld: transcript 2012. Erlinger, Hans Dieter/Lecke, Bodo (Hg.): Kanonbildung bei audiovisuellen Medien im Deutschunterricht? München: Kopaed 2004. Ezli, Özkan (Hg.): Kultur als Ereignis. Fatih Akıns Film »Auf der anderen Seite« als transkulturelle Narration. Bielefeld: transcript 2015. Ezli, Özkan: Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz. Fatih Akıns, globalisiertes Kino, in: Ezli, Özkan/Kimmich, Dorothee/Werberger, Annette (Hg.): Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur. Bielefeld: transcript 2009, S. 207-230. Göktürk, Deniz: Migration und Kino – Subnationale Mitleidskultur oder transnationale Rollenspiele?, in: Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart: Weimar: Metzler 2000, S. 329-347. Hake, Sabine/Mennel, Barbara: Introduction, in: dies. (Hg.): Turkish German Cinema in the new Millenium: Sites, sounds and screens. New York: Berghahn Books 2012, S. 1-18. Hausbacher, Eva/Klaus, Elisabeth/Poole, Ralph/Brandl, Ulrike/Schmutzhart Ingrid (Hg.): Migration und Geschlechterverhältnisse. Kann die Migrantin sprechen? Wiesbaden: VS Springer 2012. Heidenreich, Nanna: V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration. Bielefeld: transcript 2015. Hißnauer, Christian: Personen beschreiben, Leben erzählen. Die Fernsehporträts von Georg Stefan Troller und Hans-Dieter Grabe. Wiesbaden: Springer 2017, S. 166-174. Kammerer, Ingo/Kepser, Matthis (Hg.): Dokumentarfilm im Deutschunterricht. Hohengehren: Schneider 2014. Karpf, Ernst/Kiesel, Doron/Visarius, Karsten (Hg.): »Getürkte Bilder«: Zur Inszenierung von Fremden im Film. (=Arnoldshainer Filmgespräche Bd. 12). Marburg: Schüren 1995. Kepser, Matthis: Fächer der schulischen Filmbildung. München: Kopaed 2010.

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Kulaoğlu, Tunçay/Priessner, Martina: Aufbruch, Unterwegssein, Ankunft und Rückkehr im türkischen Yeşilçamkino bis zum subversiven Migrationskino der Jahrtausendwende, in: Alkın, Ömer (Hg.): Deutsch-Türkische Filmkultur im Migrationskontext. Wiesbaden: Springer 2017, S. 25-44. Lang, Kathrin: Transkulturelle Räume bei Fatih Akın. Eine Betrachtung der Filme »Gegen die Wand« und »Auf der anderen Seite«. Hamburg: Bachelor+Master Publishing 2015. Lehmann, Hauke: Die Produktion des »deutsch-türkischen Kinos«. Die Verflechtung von Filme-Machen und Filme-Sehen in LOLA + BILIDIKID (1998) und Tiger – Die Kralle von Kreuzberg (2006), in: Alkın, Ömer (Hg.), Deutsch-Türkische Filmkultur im Migrationskontext, Wiesbaden: Springer 2017, S. 275-296. Maiwald, Klaus: Filmdidaktik und Filmästhetik: Lesen und Verstehen audiovisueller Texte, in: Frederking, Volker/Huneke, Hans-Werner/Krommer, Axel/Meier, Christel (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 2: Literatur und Mediendidaktik. Hohengehren: Schneider 2013, S. 221-242. Maiwald, Klaus: Wahrnehmung – Sprache – Beobachtung. Eine Deutschdidaktik bilddominierter Medienangebote. München: Kopaed 2005. Mannitz, Sabine/Schneider, Jens: Vom »Ausländer« zum »Migrationshintergrund«. Die Modernisierung des deutschen Integrationsdiskurses und seine neuen Verwerfungen, in: Nieswand, Boris/Drotbohm, Heike (Hg.): Kultur, Gesellschaft, Migration. Die reflexive Wende in der Migrationsforschung. Wiesbaden: Springer 2014, S. 69-96. Marci-Boehncke, Gudrun/Rath, Matthias (Hg.): Jugend – Werte – Medien. Das Modell. Weinheim, Basel: Beltz 2009. Neubauer, Jochen: Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer. Identität und Fremdwahrnehmung in Film und Literatur: Fatih Akın, Thomas Arslan, Emine Sevgi Özdamar, Zafer Şenocak und Feridun Zaimoğlu. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011. Schaffer, Johanna: Ambivalenzen der Sichtbarkeit: Über die visuellen Strukturen der Anerkennung. Bielefeld: transcript 2008. Selck, Inga: Realitäten der Einwanderung. Der deutsch-türkische Dokumentarfilm seit den 1960er Jahren, in: Alkın, Ömer (Hg.), Deutsch-Türkische Filmkultur im Migrationskontext, S. 95-128. Soyka, Hakan: Die verschiedenen Phasen des »deutsch-türkischen Films«. Bachelorarbeit. Hochschule Mittweida – University of Applied Science (FH) 2009.

Von den wehrlosen Türkinnen zu den neuen Deutschen

Treiblmayr, Christopher: »Ein Mann ist ein Mann, und ein Loch ist ein Loch«. Männlichkeit, Homosexualität und Migration in Kutlug Atamans »Lola und Bilidikid« (Deutschland 1998), in: Dennerlein, Bettina/Frietsch, Elke (Hg.): Identitäten in Bewegung. Migration und Film. Bielefeld: trancript 2011, S. 191-225.

Film 40 Quadratmeter Deutschland (BR Deutschland, 1985/1986, Tevfik Bașer, 80 min.) Abdullah Yakupoglu: Warum habe ich meine Tochter getötet? (BR Deutschland, 1986, Hans-Dieter Grabe, 45 min.) Abschied vom falschen Paradies (BR Deutschland, 1988/1989, Tevfik Bașer, 96 min.) Alamanya – Willkommen in Deutschland (Deutschland, 2009/2010, Yasemin Şamdereli, 95 min.) Alamanya Alamanya – Germania Germania (BR Deutschland, 1979, Hans Andreas Guttner, 22 min.) Anam (Deutschland, 2000/2001, Buket Alakuș, 86 min.) Angst essen Seele auf (BR Deutschland, 1973/1974, Rainer Werner Fassbinder, 93 min.) Aprilkinder (Deutschland, 1998, Yüksel Yavuz, 85 min.) Auslandstournee (Deutschland, 1999, Ayșe Polat, 91 min.) Ben Annemin Kızıyım – Ich bin Tochter meiner Mutter (Deutschland, 1995/1996, Seyhan C. Derin, 88 min.) Dealer (Deutschland, 1998/1999, Thomas Arslan, 71 min.) Die Kümmeltürkin geht (BR Deutschland, 1984/1985, Jeanine Meerapfel, 88 min.) Eine andere Liga (Deutschland, 2004/2005, Buket Alakuș, 103 min.) En Garde (Deutschland, 2003/2004, Ayșe Polat, 94 min.) Gastarbeiter aus der Türkei (BR Deutschland, 1969, Kenan Ormanlar, 13 min.) Gegen die Wand (Deutschland, 2003/2004, Fatih Akın, 121 min.) Ich gehe jetzt rein (Deutschland, 2008, Aysun Bademsoy, 75 min.) Kadir (BR Deutschland, 1976/1977, Peter Lilienthal, 75 min.) Katzelmacher (BR Deutschland, 1969, Rainer Werner Fassbinder, 88 min.) Kurz und schmerzlos (Deutschland, 1997/1998, Fatih Akın, 99 min.) Lola und Bilidikid (Deutschland, 1997/1998, Kutluğ Ataman, 91 min.)

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Monika Riedel

Mädchen am Ball (Deutschland, 1995, Aysun Bademsoy, 43 min.) Männerrecht – Frauenleid: Türkinnen in Deutschland (BR Deutschland, 1981, Mehrangis Montazami-Dabui, 43 min.) Mehmet Turan oder Noch ein Jahr, noch ein Jahr... (BR Deutschland, 1977, Hans-Dieter Grabe, 45 min.) Nach dem Spiel (Deutschland, 1997, Aysun Bademsoy, 60 min.) Shirins Hochzeit (BR Deutschland, 1975/1976, Helma Sanders-Brahms, 120 min.) Töchter zweier Welten (Deutschland, 1990/1991, Serap Berrakkarasu, 60 min.) Winterblume (Deutschland, 1996/1997, Kadir Sözen, 107 min.) Wir haben vergessen zurückzukehren (Deutschland, 2000, Fatih Akın, 59 min.) Yara (Deutschland/Türkei/Schweiz, 1998, Yılmaz Arslan, 99 min.) Yasemin (BR Deutschland, 1987/1988, Hark Bohm, 83 min.) Zwischen den Sternen (Deutschland, 2001/2002, Seyhan C. Derin, 86 min.)

Online-Quellen Bayrak, Mehmet/Alkın, Ömer: Kritik von Fortschrittsnarrativen im deutschtürkischen Migrationskontext – Migrationskino und Diasporamoscheen im Integrationsdispositiv, in: Global Media Journal. German Edition. 1/2018. https://www.db-thueringen.de/servlets/MCRFileNodeServlet/dbt_derivate_00041206/GMJ15_Bayrak_Alkın.pdf (Abruf am 28. 02.2019). Foroutan, Naika: Neue Deutsche, Postmigranten und Bindungs-Identitäten. Wer gehört zum neuen Deutschland? www.bpb.de/apuz/32367/neuedeutsche-postmigranten-und-bindungs-identitäten-wer-gehört-zumneuen-deutschland?p=all (Abruf am 12.03.2019). Halft, Stefan: Wandel deutsch-türkischer Konstellationen im filmischen Migrationsdiskurs, in: German as a foreign Language 3/2010. www.gfl-journal.de/3-2010/Halft.pdf (28.02.2019). Irrgang, Ulrike: Von despotischen Türken und kaltherzigen Deutschen. Zur Inszenierung und Destruktion kultureller Stereotype in der Komödie, in: Global Media Journal. German Edition. 2/2013. https://www.dbthueringen.de/servlets/MCRFileNodeServlet/dbt_derivate_00028718/GJ6_Irrgang_final.pdf (Abruf am 28.02.2019).

Von den wehrlosen Türkinnen zu den neuen Deutschen

Seeßlen, Georg: Menschenbilder der Migration im Film. Wie das Kino das Leben in zwei Kulturen zugleich beschreibt, in: Der Überblick. 3/2002, S. 73-78. www.derueberblick.de/ueberblick.archiv/one.ueberblick.article/ueberblick6d50.html?entry=page.200203.073 (Abruf am 28.02.2019).

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Das gefallene Märchen. Zur filmischen Narration und Semiotik transkultureller Missverständnisse Klaus Schenk

Abstract. While cultural misunderstandings in the genre of German-Turkish film can now be successfully addressed, the 1970s and 1980s saw several occasions of vehement confrontations that revealed differing cultural perspectives of cinematic reception. Little research has been done to date on the cultural differences in cinematic narration and semiotics that lead to such contradictory perceptions. This applies not only to the German-Turkish genre, but also to films that are in the broadest sense located between cultures or explicitly deal with interor transcultural themes. A particularly impressive example from the German-Turkish perspective is the film Shirins Hochzeit (Shirin’s Wedding). This film was produced in 1975, directed by Helma Sanders-Brahms (1940-2014), who also wrote the screenplay. Based on narratological and semiotic considerations the reception history of this film will serve to discuss which divergent perspectives had been introduced and how these provoked mutual conflict.

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Zur Rezeptionsgeschichte des Films

Was von dem Film Shirins Hochzeit in Erinnerung blieb, ist vor allem seine kontroverse Rezeptionsgeschichte. Der Film wurde zunächst mit großen Erwartungen angekündigt, wenn z.B. Klaus Umbach im SPIEGEL vom 19.01.1976 unter dem Titel Viel schlimmes Land versprach: Der Film ist aggressiv. Seine geholperten Dialoge, keine glatten Wortwechsel, erzwingen Zeit zum Nachdenken; das originale Türkisch, in Untertiteln übersetzt, macht die Sprachbarrieren auch sichtbar. Kauderwelsch (»viel

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Klaus Schenk

schlimmes Land«) trifft oft tiefer als geschliffene Pointen. Der Film ist aber auch weich. In seinem altmodischen Schwarzweiß, das die Kontraste, erstaunlich genug, mehr mildert als schärft, in seiner kargen Kameraführung ohne die Mätzchen der Routiniers, mit seinen vielen in der Türkei aufgenommenen Standphotos beansprucht und erfüllt er die Schmucklosigkeit eines Dokumentarberichts. So ein Leben ist nicht bunt.1 Mit einer Szenen-Collage wurde Shirins Hochzeit auch in der HÖRZU vorgestellt: Emanzipation auf anatolisch. Nach altem Brauch soll das Mädchen Shirin verheiratet werden, um versorgt zu sein. Aber Shirin liebt Mahmud, einen Mann aus ihrem Dorf, der als Gastarbeiter nach Deutschland ging. Auf der Suche nach ihm flieht sie zunächst nach Istanbul, um sich von dort nach Köln anwerben zu lassen, wo Mahmud lebt. Doch das türkische Mädchen ahnt nicht, welche Probleme in der fremden Welt auf sie zukommen…2

Abb. 1: Aus HÖRZU, Nr. 3, 1976, S. 42

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Klaus Umbach: Viel schlimmes Land, in: Der Spiegel, Nr. 4, 1976, S. 120. Shirins Hochzeit. Erfahrungen eines Mädchens aus Anatolien, in: Hörzu: Deutschlands erstes TV-Magazin (Programm vom 17.-23. Januar), Nr. 3, 1976, S. 42.

Zur filmischen Narration und Semiotik transkultureller Missverständnisse

Der provokative Zusatz »Emanzipation auf anatolisch« sowie der fragwürdige Untertitel »Erfahrungen eines Mädchens aus Anatolien« bereiteten ähnlich wie der Hinweis auf einen »Dokumentarbericht« im SPIEGEL ein Missverständnis vor, das sich nach der Ausstrahlung fatal manifestierte. In unterschiedlichen türkischen Gruppierungen, vor allem aber in türkisch-konservativen Kreisen erhob sich ein bedrohlicher Protest gegenüber dem vom WDR produzierten und am 20.01.1976 im ARD-Fernsehen als Teil einer deutsch-türkischen Reihe gesendeten Film. Demonstrationen vor der Kölner Sendeanstalt führen zu einer von der Zeitung Tercüman vorangetriebenen Konfliktsituation, die mit massiven Drohungen gegen die Regisseurin sowie die Hauptdarstellerin verbunden war und eine zweite Ausstrahlung verhindern wollte.3 Allerdings stieß der türkische Protest von deutscher Seite auf Unverständnis, wie Karin Hunn bemerkt: »Während die Türken den Film teilweise als Affront auffassten, konnten die Deutschen die mitunter heftigen Reaktionen, die der Film unter den Türken auslöste, kaum nachvollziehen.«4 Selbst Vertreter, die »mit den unter den türkischen Migranten verbreiteten Moralvorstellungen und politischen Auseinandersetzungen vertraut gewesen sein […]« dürften, sahen die Entrüstung mit Befremden. »[…] schließlich kämen die Deutschen in dem Film ›viel schlechter weg‹.«5 Auf der Ebene der Figuren wurde das kriminelle Milieu zweifellos auf die deutsche Seite verlagert, nur dass es in dieser Hinsicht zu keiner Betroffenheit kam. Positiv bewertet wurde das Fernsehspiel in der HÖRZU mit folgendem Text: Shirin kann auch fröhlich sein: wenn sie unter ihresgleichen ist. Aber sonst sind ihre Augen voll Angst vor all dem Fremden in Deutschland. Und voller Sehnsucht. Ein packender Bericht vom Schicksal eines Mädchens aus der Türkei, für das sich Deutschland aus einem gelobten in ein schlimmes Land wandelt. Einfach dahinerzählt, eindringlich, ergreifend.6

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Hunn, Karin: »Nächstes Jahr kehren wir zurück …«. Die Geschichte der türkischen »Gastarbeiter« in der Bundesrepublik. Göttingen: Wallstein 2005, S. 430. Hunn, »Nächstes Jahr kehren wir zurück …«, S. 430. Ebd., S. 430, zitiert wird hier in Fn. 85 eine Aktennotiz von Karl Goebel (Abteilung Ausländische Arbeitnehmer beim DGB-Bundesvorstand) zu Shirins Hochzeit vom 06.02.1976. Auf der Seite: Bv: Kritisch. Fernsehen im Urteil der Hörzu-Experten, in: Hörzu: Deutschlands erstes TV-Magazin, (Programm vom 7.-13. Februar), Nr. 6, 1976, S. 37.

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Als Fernsehspiel des Monats wurde Shirins Hochzeit am 28.02.1976 erneut ausgestrahlt mit einer anschließenden Diskussion über die Proteste,7 worauf im Programmheft der HÖRZU mit dem lapidaren Zusatz hingewiesen wurde: »Dieses stieß freilich auch auf Widerspruch.«8 Für die zweite Ausstrahlung hatte die HÖRZU mit einem Szenenbild geworben, das die mythopoetische Ebene des Films als Märchen hervorhob:

Abb. 2: Aus: HÖRZU Nr. 9, 1976, S. 50

Während vor der ersten Ausstrahlung das Dokumentarische des Films in den Mittelpunkt gerückt wurde, trat so seine märchenhafte Erzählweise in den Vordergrund. Inzwischen waren aber die Angriffe in der Tageszeitung Tercüman derart eskaliert, dass auch DIE ZEIT vom 30.01.1976 darauf mit dem Artikel Nachspiel zu WDR-Film: Kein Recht mehr zu leben reagierte:

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Laut der Auskunft des WDR-Unternehmensarchivs existiert keine Aufzeichnung der Live-Sendung mehr. In: Hörzu. Deutschlands erstes TV-Magazin (Programm vom 28. Februar-5. März), Nr. 9, 1976, S. 50.

Zur filmischen Narration und Semiotik transkultureller Missverständnisse

Seit letztem Donnerstag veröffentlicht das Blatt Protestbriefe und Interviews mit Türken, die den Film als Schande für die türkischen Gastarbeiter empfinden. Sie wollen nicht als arm und unterdrückt gezeigt werden, sondern als starke und stolze Nation; sie würden bunte Folklore-Bilder vorziehen, die für ihr Land als Reiseziel werben, statt ihre graue Realität so beklemmend vorgeführt zu sehen.9 Betont wurden die lebensbedrohlichen Folgen für die Darstellerin selbst, die sich »telephonischen Morddrohungen ausgesetzt« sah.10 Offensichtlich ist der Film zu einem politischen, aber auch zu einem kulturellen Kampffeld geworden, was auch aus seiner zwiespältigen Machart zwischen dokumentarischer und mythopoetischer Inszenierung resultieren mag. In der Filmgeschichte findet der Film nur verhalten Anerkennung, wie etwa im Lexikon des internationalen Films mit folgendem Kommentar: Als sie in ihrer Heimat an einen reichen Brautwerber verkauft werden soll, flieht eine junge Türkin nach Deutschland und sucht hier den Mann, den sie wirklich liebt. Sie findet Arbeit in einer Fabrik, wird aber bald entlassen und sinkt, als sie keine Arbeit mehr findet, zur ausgebeuteten Prostituierten ab. Im ersten Teil eine atmosphärisch stimmige, später etwas zu dick aufgetragene Schilderung des harten Lebens von Gastarbeiterinnen in einer ihnen feindlich gesinnten Gesellschaft. Ein Film, der zur Auseinandersetzung anregt.11 Beiträge zur Geschichte des transkulturellen Films können dem Film lediglich ein Misslingen der angestrebten Bemühungen bescheinigen. In der Geschichte des deutsch-türkischen Films wird der Versuch von Helma SandersBrahms zumeist gänzlich verworfen. Mehrere Perspektiven werden in dieser Bestandsaufnahme der Rezeptionsgeschichte des Films ersichtlich. Einerseits wird er eingereiht in das Genre des Problemfilms, wie später auch 40 QM Deutschland (1985) und insbeson-

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Jeanine Ebner-Meerapfel: Nachspiel zu WDR-Film: Kein Recht mehr zu leben, in: Die Zeit vom 30.01.1976, Nr. 6, Jg. 31, S. 38. Schließlich hatte ein türkischer Geistlicher öffentlich eine Tötungsaufforderung in Tercüman vom 23. Januar 1976 verkündet »Wer die Ehre einer türkischen Frau berührt, muß mit dem Leben büßen.« Vgl. Ebner-Meerapfel: Nachspiel zu WDR-Film, S. 38. Lexikon des Internationalen Films. https://www.filmdienst.de/film/details/39686/shirins-hochzeit (Letzter Abruf am 15.01.2020).

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dere Abschied vom falschen Paradies (1989),12 deren Machart sich in Anlehnung an Saliha Scheinhardts Frauen, die sterben, bevor sie gelebt hätten (1983) als Genre der »geschundenen Suleika«13 bezeichnen lässt.14 Andererseits nähert sich Shirins Hochzeit einem von der Filmförderung gewünschten »cinema of duty«,15 in dem, wie Özkan Ezli formuliert, auch »Autor/innen und Regisseur/innen ausländischer Herkunft in ihren Drehbüchern und Filmen häufig Klischees über die ›eigene‹ Kultur und deren archaische Sitten und Bräuche«16 reproduzierten. Ezli zählt Shirins Hochzeit mit Yasemin (1987) von Hark Bohm zu den Beispielen für die »Dominanz einer essentialistischen Kulturvorstellung, einer monokulturellen Unterscheidung zwischen deutscher und türkischer Kultur, die wir ebenso in deutschen Filmproduktionen zum Thema türkische Migranten in Deutschland finden.«17 Shirins Hochzeit kann, wie Jochen Neubauer in seiner Arbeit Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer. Identität und Fremdwahrnehmung in Film und Literatur bemerkt, »als doppelte Anklage verstanden werden: zum einen gegen die Kälte und den Rassismus in Deutschland, zum anderen gegen die patriarchalischen Strukturen der türki-

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Özkan Ezli: Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz. Fatih Akıns globalisiertes Kino, in: Ders./Dorothee Kimmich/Annette Werberger (Hg.): Wider den Kulturenzwang: Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur. Bielefeld 2009, S. 207-230, hier S. 209. Vgl. auch die Einordnung in den »Neuen deutschen Film: als »deutschen feministischen Film«, in: Hülya Özsari: »Der Türke«. Die Konstruktion des Fremden in den Medien. Berlin: Universitätsverlag der TU Berlin 2010, S. 44-46, hier S. 44. Vgl. Karin E. Yeşilada: Die geschundene Suleika − Das Bild der Türkin in der deutschsprachigen Literatur türkischer Autorinnen, in: Mary Howard (Hg.): Interkulturelle Konfigurationen. Zur deutschsprachigen Erzählliteratur von Autoren nichtdeutscher Herkunft. München: Iudicium 1997, S. 95-114. Vgl. Nanna Heidenreich: V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration. Bielefeld: transcript 2015, S. 108f. Deniz Göktürk: Migration und Kino − Subnationale Mitleidskultur oder transnationale Rollenspiele, in: Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. 329-347, hier S. 333. Vgl. Sarita Malik: Beyond ›the cinema of duty‹? The pleasures of hybridity: Black British film of the 1980s and 1990s, in: Andrew Higson (Hg.): Dissolving Views: Key Writings on British Cinema. London: Cassell 1996, S. 202-215, hier S. 204. Ezli, Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz, S. 209. Ebd., S. 208.

Zur filmischen Narration und Semiotik transkultureller Missverständnisse

schen sowie der deutschen Gesellschaft.«18 Vernichtend lautet daher das Urteil von Neubauer: »Bei Sanders-Brahmsʼ Film handelt es sich um ein Lehrbeispiel für die Tradierung stereotyper und klischeehafter Muster im deutschen Film der 70er Jahre.«19 Als Beispiel »einer ›projektiven Übermalung‹«20 im »Betroffenheitskino der 1970er – Gastarbeiter_innenfilme«21 reihte kürzlich Ömer Alkın in seiner Arbeit Die visuelle Kultur der Migration den Film ein. Offensichtlich scheint der Film Shirins Hochzeit weder in der Behandlung seiner transkulturellen Problematik noch in filmästhetischer Hinsicht zu überzeugen. Dennoch kann gerade die Ablehnung, die der Film erfuhr, aufschlussreich sein für die Praxis von missverständlichen semiotischen Kodierungen deutsch-türkischer Inszenierungen, für die er geradezu als Modellfall22 gelten kann.

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Figur und Person

Schon durch seinen Titel, aber auch in seiner Erzählweise fokussiert der Film Shirins Hochzeit die Protagonistin als Figur und Stimme. Im thematischen Zentrum des Konfliktes stand daher auch die Rolle des ›gefallenen‹ Mädchens, wenn z.B. in der Rubrik Religiöses Gespräch unter dem Titel Die Türkische Frau wurde schwer getroffen am 23.01.1976 in der Tageszeitung Tercüman zu lesen war: »[…] daß die türkische Frau ihre Unbescholtenheit (Keuschheit) mehr schätzt als der türkische Mann. Sie wird sich niemals scheuen, für ihre Un-

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Jochen Neubauer: Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer. Identität und Fremdwahrnehmung in Film und Literatur: Fatih Akın, Thomas Arslan, Emine Sevgi Özdamar, Zafer Şenocak und Feridun Zaimoğlu. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 176. Neubauer, Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer, S. 180. Ömer Alkın: Die visuelle Kultur der Migration: Geschichte, Ästhetik und Polyzentrierung des Migrationskinos. Bielefeld: transcript 2019, S. 78 Alkın, Die visuelle Kultur der Migration S. 76ff. Dass Shirin Hochzeit zu einem Modellfall für kulturelle Betroffenheit wurde, zeigt auch die Argumentation anderer Intendanten, wie z.B. die Absetzung der Verfilmung von Gustav Freytags Soll und Haben durch Friedrich Wilhelm von Sell im Jahr 1977, vgl. Raphael (Kommentar: Reininghaus: bitte Namen, wenn möglich, nicht trennen, ist im PDF der Fall) Rauch »Visuelle Integration«?: Juden in westdeutschen Fernsehserien nach »Holocaust«. Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht 2018, S. 69.

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bescholtenheit zu sterben.«23 Nicht nur der Verstoß gegen das traditionelle Frauenbild, sondern auch die türkische Herkunft der Darstellerin gaben Anlass zum Ärgernis, wie es der Kommentar am 24.01.1976 lebensbedrohlich formulierte: »Die Shirin hat sich in dem Film gerettet, indem sie starb, aber Ayten Erten wird mit dem Haß der ganzen Nation leben.«24 Die Verwechselung von Figur und Schauspielerin setzt sich in zahlreichen Kommentaren fort, wovon auch die zweite Hauptrolle, besetzt durch Aras Ören, nicht verschont blieb: »Zwei Türken spielten die Hauptrolle.«25 Oder: Die Regisseurin des Films ›Shirins Hochzeit‹, Helma Sanders, und der türkische Schauspieler Aras Ören haben durch ihre bisherige Taten und durch die Ereignisse, in die sie verwickelt waren, haben gezeigt, welche Ziele sie verfolgen und welche Ideologie sie vertreten.26 Verstärkt wird dieser Effekt noch dadurch, dass auch die griechische Migration durch griechische Schauspieler dargestellt wurde. Die griechischen Figuren Janis und Maria, die sich zudem mit Shirin anfreunden und ihr helfen, könnten als Adjuvanten in der türkischnationalen Erzähllogik keinen Platz einnehmen, sondern lediglich als politisch verhasste Opponenten. So werden kulturelle Identitäten herausbeschworen, die sich mit der Rollenbesetzung in die Realität verdoppeln. Der doppelte Angriff auf Rolle und Person trifft auch die Filmautorin, die sich als Voice-over-Sprecherin auf der extradiegetischen Ebene einschaltet. Gerade aber die doppelte Stimmgebung auf der diegetischen und der extradiegetischen Ebene erleichtert eine Identifikation von Rolle und Figur. Indem derart Sprechstimmen, Rollen und darstellende Akteure miteinander verwechselt werden, folgt die missverständliche Rezeption einer Essentialisierung, die alle Beteiligten auf der Ebene ihrer kulturellen Herkunft identifiziert. Erst aus dieser Sicht kann der politisch-ideologische Angriff verfangen, die linksgerichtete Autorin und der linksgerichtete Schauspieler hätten sich in dem Film personifiziert. Die Verwechslungen von 23

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Religiöses Gespräch. Die Türkische Frau Wurde schwer getroffen, in: Tercüman vom 23.01.1976, in: Helma Sanders: Shirins Hochzeit, hg. v. Claus Neugebauer. Freiburg i.Br.: Panta Rhei Filmverlag 1980, S. 159. Kommentar, in: Tercüman vom 24.01.1976, in: Sanders, Shirins Hochzeit, S. 162-163, hier S. 163. Was der Tag bringt. Deutsches Fernsehen und Shirins Hochzeit, in: Tercüman vom 23.01.1976, in: Sanders, Shirins Hochzeit, S. 159-162, hier S. 160. Kommentar, in: Tercüman vom 24.01.1976, in: Sanders, Shirins Hochzeit, S. 163-164, hier S. 164.

Zur filmischen Narration und Semiotik transkultureller Missverständnisse

Rolle und Person basiert aber ebenso auf einer Faktizität, die auch in der Entstehung des Films angelegt war, hatte doch Aras Ören bereits zur filmischen Dramaturgie beigetragen und war nicht nur als Schauspieler am Film beteiligt.27 Aus der Sicht einer Medienwertung lässt sich dies wie folgt erfassen: »Ist eine fiktionale Geschichte nicht ›wirklich so passiert‹, so verbürgt auch ein genaues Sach-, Fach- oder Milieustudium ihre Faktizität: Shirins Hochzeit beruht auf Recherchen, also auf Wirklichkeit‹.«28 Gewissermaßen inszeniert der Film Shirins Hochzeit eine »Illusionsfalle«,29 indem auf das »in politischen Wertungskontroversen«30 und bei der »Erschließung neuer Wirklichkeitsbereiche«31 überdurchschnittlich hoch vertretene Qualitätsmerkmal des Realitätsbezugs gesetzt wird. Zudem suchte Helma Sanders-Brahms explizit nach einer Darstellerin, die die Rolle als »ideale Shirin«32 verkörperte: Daß sie das war, sah ich bei den Proben an einer Sache. […] Ayten aber machte etwas, wofür ich sie sofort liebte, weil es ganz und gar meinem Stil zu inszenieren, überhaupt eine Szene anzulegen, entspricht. Sie leckte vor dem Schreiben an ihrem Bleistift. Ich fragte: »Warum machst du das?« Sie antwortete: »In Anatolien muß man immer den Stift anlecken, denn die liegen da so lange in den kleinen Läden und die Luft ist so trocken. Und eine Frau, die von da kommt, macht das auch in Deutschland am Anfang ganz automatisch.33 Bereits die Besetzung der Rolle war darauf ausgerichtet, den Film kulturell anzureichern, was in der rechtskonservativen türkischen Presse tatsächlich das »saubere anatolische Mädchen« evozierte. In dieser fatalen Verflechtung von filmischer Dramaturgie und authentischen Details konnte der nationalkonservative Angriff sowohl auf die Rolle wie auch auf die Person besonders vehement geführt werden. Ein Film, der mit Verfahren der Verfremdung arbeitet, hätte diese Identifikation vermutlich weniger zugelassen. 27 28

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Helma Sanders (Zum Film), in: Sanders, Shirins Hochzeit, S. 107-127, hier S. 125. Sibylle Bolik: Inhaltliche Wertung, in: Dies./Helmut Schanze (Hg.): Medienwertung. München: Wilhelm Fink 2001, S. 61-134, hier S. 116, das Zitat stammt aus der Rezension: Shirin kommt nach Köln, in: Frankfurter Rundschau vom 20.01.1976. Sibylle Bolik: Die Illusionsfalle. Glaubwürdigkeit als Qualitätsmerkmal filmischer Fiktionen, in: Dies./Manfred Kammer/Thomas Kind/Susanne Pütz (Hg.): Medienfiktionen. Illusion – Inszenierung – Simulation. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 1999, S. 205211. Bolik, Inhaltliche Wertung, S. 108. Ebd., S. 109. Sanders (Zum Film), in: Sanders, Shirins Hochzeit, S. 121. Ebd., S. 122.

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Geschichte und Diskurs

Die Beiträge in der Zeitung Tercüman lassen nicht nur eine politisch-ideologische Radikalität erkennen, sondern auch eine formale Divergenz in der Wahrnehmung des Films. So fasst der Artikel Was der Tag bringt. Deutsches Fernsehen und Shirins Hochzeit vom 23.01.1976 den »Inhalt« des Films wie folgt zusammen: »Ein türkisches Mädchen entflieht der Unterdrückung der türkischen Agas (Großgrundbesitzers). Sie wird von Griechen behütet. Später gerät das Mädchen in ihrer Einsamkeit auf die schiefe Bahn und wird ermordet.«34 Oder: »In der besten Sendezeit zeigen sie, wie ein türkisches Mädchen von den Deutschen ausgenützt und auf die schiefe Bahn gebracht wird.«35 Auch andere Bemerkungen zeigen, dass der Film so vor allem als Geschichte wahrgenommen wird. Erst aus dieser Sicht wird es möglich, den Film auf ein vermeintliches Geschehen zu projizieren, dessen Provokation als real verstanden wird. Der Film wird so reduziert auf eine mögliche Geschichte, deren Konstruktionscharakter als Diskurs in der aggressiven Publizistik keine Rolle mehr spielt. Doch nicht nur die erzählte Geschichte, sondern auch die diskursive Struktur des Films bot Anlässe für seine Ablehnung. Wenngleich der Film die Lebensgeschichte einer Frau in den Mittelpunkt rückt und zunächst als sogenannter ›Frauenfilm‹ bewertet wurde,36 zeigte sich auch in der feministischen Rezeption ein deutliches Befremden. Noch zwanzig Jahre nach seiner Ausstrahlung hat Annette Brauerhoch in ihrem Beitrag Die Heimat des Geschlechts – oder mit der fremden Geschichte die eigene erzählen dem Film aus medienwissenschaftlicher Perspektive eine deutliche Absage erteilt. In ihrer Analyse orientiert sich Brauerhoch vor allem an der Unterteilung zwischen discours und histoire, die sie in der Nachfolge der lacanianischen Filmtheorie37 verstanden wissen möchte: 34 35 36

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Was der Tag bringt. Deutsches Fernsehen und Shirins Hochzeit, in: Tercüman vom 23.01.1976, in: Sanders, Shirins Hochzeit, S. 160. Was der Tag bringt. Wir fragen unsere deutschen Freunde, in: Tercüman vom 24.01.1976, in: Sanders, Shirins Hochzeit, S. 165. Bolik, Inhaltliche Wertung, S. 75 mit dem Hinweis auf die Rezension: Thomas Thieringer (Kommentar: Reininghaus, s. Fußnote oben zu Trennungen bei Namen): Engagierter Film, in: Frankfurter Rundschau vom 22.01.1976, Nr. 18, Jg. 32, S. 8, und Bolik, Inhaltliche Wertung, S. 120 mit dem Hinweis auf die Rezension: JH: Bloß Tiefen eines Lebens, in: Münchner Merkur vom 22.01.1976. Vgl. Annette Brauerhoch: Die Heimat des Geschlechts – oder mit der fremden Geschichte die eigene erzählen. Zu »Shirins Hochzeit« von Helma Sanders-Brahms, in: Ernst Karpf/Doron Kiesel/Karsten Visarius (Hg.): Getürkte Bilder. Zur Inszenierung von

Zur filmischen Narration und Semiotik transkultureller Missverständnisse

Discours ist Sprechakt, in dem sich eine Person artikuliert und erkennbar zum Vorschein kommt. Histoire hingegen ist mit dem auktorialen Erzähler eines Romans vergleichbar, der von einem allwissenden Standpunkt aus eine vergangene Geschichte erzählt, ohne dabei selbst in Erscheinung zu treten. Discours impliziert eine dialogische, meist in der Gegenwart angesiedelte Situation, es gibt ein entschiedenes Ich des Sprechakts und ein angesprochenes Du, die Subjektivität des Sprechers wird betont. Histoire kennt kein Ich und bleibt unpersönlich, neutral, quasi objektiv.38 Tatsächlich hatte sich die Unterscheidung von histoire und discours bei Émile Benveniste an der Relation von einem Subjekt des Aussagens zum Subjekt der Aussage orientiert.39 Längst ist mit Tzvetan Todorov und besonders seit Gérard Genette die Terminologie zu einem festen Bestandteil narratologischer Filmanalysen geworden, mit der veränderten begrifflichen Systematik allerdings, dass nun bei Genette sowohl der Diskurs der Erzählung (récit) als auch die Geschichte (histoire) durch die Narration hervorbracht werden.40 Daher kann die Unterscheidung von Diskurs und Geschichte nicht auf ein Subjekt des Aussagens begründet werden, da beide eine Beziehung zur Narration voraussetzen.41 Die feministische Kritik von Brauerhoch hat vor allem die Voice-overNarration42 als problematische »Kolonisierung«43 der Figur durch die Regisseurin verstanden: In Gegenwart der fremden Frau, nimmt die Stimme der Filmemacherin die Stelle und den Platz eines männlichen auktorialen Erzählers an. Sie bezieht den Platz der allwissenden Neutralität und unterminiert damit das von der Frauenbewegung angestrebte Projekt der Vermittlung subjektiver

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Fremden im Film. Marburg: Schüren Presseverlag 1995, S. 109-115. (=Arnoldshainer Filmgespräche, Bd. 12). Hingewiesen wird, ebd., S. 110, auf die filmtheoretischen Arbeiten von Christian Metz. Brauerhoch, Die Heimat des Geschlechts, S. 109. Émile Benveniste: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft. Übers. v. Wilhelm Bolle. München: List Verlag 1974, S. 283. Gérard Genette: Die Erzählung. Übers. v. Andreas Knop. München: Fink Verlag, 3. Aufl., 2010, S. 13: »Narrativ ist die Erzählung durch den Bezug auf die Geschichte, und ein Diskurs ist sie durch den Bezug auf die Narration.« Genette, Die Erzählung, S. 15. Brauerhoch, Die Heimat des Geschlechts, S. 109. Ebd., S. 115.

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Erfahrung. Ins Verhältnis zu Shirins Discours setzt Helma Sanders-Brahms ihre Histoire.44 Offensichtlich ist, dass Brauerhoch die Off-Rolle mit der Autorin identifiziert, die dieser Voice-over-Narration als KOMMENTAR HELMA aber lediglich ihre Stimme geliehen hat, wenngleich im Autorenfilm eine enge Verbindung naheliegt: Dieses Muster, wonach die Autorin ihre erklärende, beschützende (man könnte auch sagen: besitzergreifende) Hand über die Protagonistin hält, setzt sich durch den ganzen Film historisch fort. Nicht immer sind es nur politisch-soziologische Zurechtrückungen, manchmal entfaltet die Filmemacherin aus dem Off das Innenleben ihrer Figur, das sie besser zu kennen scheint als diese selbst.45 Mit einem Hinweis auf Brauerhoch bezeichnet auch Göktürk den Film als »elegisch kommentiert von Helma Sandersʼ Stimme aus dem Off, welche die Fremdheit Shirins in die Universalität weiblichen Leidens eingemeindet«.46 Tatsächlich kann die Voice Off-Stimme dazu dienen, in der zweiten Person ihr Gegenüber intern zu fokalisieren,47 wodurch sich allerdings auch eine Dialogizität eröffnet, in der die Stimme KOMMENTAR SHIRIN sogar als Überlegene erscheinen kann:48 KOMMENTAR HELMA Du hättest in Istanbul bleiben können.   KOMMENTAR SHIRIN Ja, aber hat gesehen Shirin in groß Bazar Hochzeit. Hat gedacht, muß zu Mahmud gehen.   KOMMENTAR HELMA Dann hast du meine Sprache gelernt. 44 45 46 47

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Ebd., S. 111. Vgl. auch Alkın, Die visuelle Kultur der Migration, S. 79. Brauerhoch, Die Heimat des Geschlechts, S. 112. Göktürk, Migration und Kino, S. 333. Vgl. Markus Kuhn: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin, New York: De Gruyter 2011, S. 164f. u. S. 187f.; Kuhn, ebd., S. 189, unterscheidet zwischen Voice-over und Voice-off, bei dem die Quelle in der Diegese identifizierbar ist. Helma Sanders: Shirins Hochzeit (Drehbuch), in: Sanders, Shirins Hochzeit, S. 12-101, hier S. 32f.

Zur filmischen Narration und Semiotik transkultureller Missverständnisse

KOMMENTAR SHIRIN Du kannst nicht mein Sprache sprechen.   KOMMENTAR HELMA Nein.   KOMMENTAR SHIRIN Bist du mehr dumm als Shirin   KOMMENTAR HELMA Ja. Die Macht des Sprechens ist daher keineswegs derart polar auf die extradiegetischen Stimmen verteilt. Zudem ist die Stimme Shirins in gebrochenem Deutsch auch auf der diegetischen Ebene vernehmbar und verleiht dieser Rolle eine grenzüberschreitende Funktion. Anders als bei Brauerhoch gilt es, in die Relation von Geschichte und Diskurs die gesamte Struktur des Films einzubeziehen. Auch die Rahmung durch eine Märchenerzählung am Anfang und die Traumszene gegen Ende ist als diskursive Strukturierung des Films zu berücksichtigen, sonst bliebe seine mythopoetische Dimension verdeckt. Der Versuch einer Entlarvung von Hierarchien und Machtverhältnissen führte selbst zu einer Verwerfung des Films, ohne seine Spannungen zwischen Geschichte und Diskurs zu erfassen, die kulturelle Missverständnisse allererst provoziert.

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Syntagma und Märchen

Mit 125 Minuten Spielzeit entwickelt der Film freilich eine epische Länge, die kaum von einer syntagmatischen Kohärenz gedeckt ist. Auch Brauerhoch konstatiert nach dem im Off erzählten »Mythos vom eisernen Berg« am Anfang des Films: »Schon da wissen wir: mit diesem Film haben wir einen langen, schweren Weg vor uns.«49 Bereits Umbach hatte in seiner Rezension im SPIEGEL dem ersten Teil eine »atmosphärisch stimmige« Umsetzung zugestanden, der zweite Teil entgleite aber in eine »zu dick aufgetragene« Breite.50 Folgt man dieser Kritik, so wäre vor allem auf der syntagmatischen Ebene des 49 50

Brauerhoch, Die Heimat des Geschlechts, S. 109. Umbach, Viel schlimmes Land, S. 120.

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Films ein Qualitätsverslust zu verorten. Tatsächlich aber wurde dieser Kontrast anscheinend von der Regisseurin selbst so angelegt, wenn sie bemerkt: Wenn also Shirin am Ende des Films schließlich auf den Strich geht, ist das insofern konsequent, als durch die Vergewaltigung ihr Leben, aber auch ihre Ehre nach konservativer türkischer Auffassung ohnehin schon verwirkt sind. […] Hierin denkt und funktioniert Shirin eben selbst wie eine konservative Türkin, und so verurteilt sie sich.51 Dass der Film als Melodram ausklingt, resultiert damit aus dem Konflikt unterschiedlicher Wertesysteme, die kaum in eine syntagmatische Abfolge zu bringen sind, wenn auch die Hauptdarstellerin hinzufügt: Was den oftmals kritisierten Schluß des Films anbelangt, so muß ich dazu bemerken, daß er natürlich hätte ganz anders ausfallen können. Schließlich ist jeder Schluß variabel. Dennoch gab ich ihm eine persönliche Note, um ein gewisses Gefühl an eine »Hoffnung« aufrechtzuerhalten, denn der Glaube an eine »Hoffnung« ist ein wesentliches Prinzip für mich. Deshalb sagte ich am Schluß nicht »lebewohl«, sondern »Auf Wiedersehen«.52 Offensichtlich ist, dass sehr unterschiedliche Genres den Film strukturieren. So bildet zunächst ein Märchen den Vorspann des Films, dessen Titel »auf die Liebesgeschichte ›Ferhat und Sirin‹ aus dem Epos Hüsrev und Sirin des persischen Dichters Nizami«53 anspielt. Sanders-Brahms dreht die Relation in der mittelalterlichen Liebesgeschichte um, wenn es nun Shirin ist, die Mahmud durch viel Hindernisse hindurch zu finden sucht, deren Liebe aber nicht erwidert wird.54 Nachdem eingangs in das Bild von einem steinbedeckten Berg das Gesicht Shirins eingeblendet wird, während sie das Märchen aus dem Off erzählt, wird im weiteren Verlauf nach Detailaufnahmen eine karge Ackerlandschaft mit einer weiten Einstellung gezeigt, in der sich die einzelnen Menschen zu verlieren scheinen.55 Das Märchenmotiv korrespondiert so

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Brauerhoch, Die Heimat des Geschlechts, S. 119. Ayten Erten (Zum Film) in: Sanders, Shirins Hochzeit, S. 102-105, hier S. 104. Neubauer, Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer, S. 175. Vgl. Nazire Akbulut (s. Kommentar Reininghaus; Trennung im Namen ungünstig): Das Türkenbild in der neueren deutschen Literatur 1970-1990. Berlin: Köster 1993, S. 115. Vgl. auch Neubauer, Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer, S. 176. Zu den Kategorien der Beschreibung filmischer Bilder, vgl. Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart, Weimar: Metzler, 3. Aufl., 2001, S. 55-70, hier S. 57ff. unterscheidet Hickethier acht Einstellungsgrößen.

Zur filmischen Narration und Semiotik transkultureller Missverständnisse

eingangs mit einer mythisierten Landschaft, in der noch nicht einzelne Figuren fokussiert werden, bis der Vater Shirins nach seinem Steinwurf auf den Verwalter des Aga von der Polizei abgeholt wird und die Handlung des Films auf der diegetischen Ebene einsetzt. Mit der Flucht Shirins vor der Verheiratung mit dem Verwalter des Aga entspinnt sich eine Migrationsgeschichte, die mit der eindrücklich inszenierten medizinischen Selektion und der Zugfahrt zum Hauptbahnhof Köln genretypische Stationen aufruft; anders als im Drehbuch vorgesehen wird die Anreise nach Düsseldorf im Flugzeug allerdings nicht gedreht.56 Verstärkt wird dieser Eindruck durch Materialien wie z.B. die gezeigten Schilder, die das Dokumentarische der Auswanderung akzentuieren. Auch die eingeblendeten Standphotos inszenieren einen Effekt des Authentischen. Wie Heidenreich bemerkt, trägt der Film »die ›Spur des Realen‹ in den Fotos und Beschreibungen aus den Anfängen der Gastarbeiterzeit«.57

Abb. 3a: Aus: Shirins Hochzeit. Zweitausendeins Edition Deutscher Film 5 /1976.

56 57

Sanders, Shirins Hochzeit (Drehbuch), S. 38ff. Heidenreich, V/Erkennungsdienste, S. 110, Fn. 93, mit dem Hinweis, dass der Kritik von Braunhoch dieser Aspekt zu entgehen scheint.

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Abb. 3b: Aus: Shirins Hochzeit. Zweitausendeins Edition Deutscher Film 5 /1976.

Dem Realitätseffekt des Films steht seine märchenhafte Erzählweise gegenüber. Während der Prostitutionsszene mit Mahmud kehrt das Märchenmotiv kurz vor dem Ende als Traumgeschehen wieder, wenn Mahmud Shirin aus der Erde gräbt. Die Repräsentation der Prostitution wird im Traum von der Imagination Shirins überlagert, wobei sie ihr Ziel auf traurige Weise erreicht zu haben scheint.58 Das Gruppenbild und die in die Totale zoomende Kamera erinnern an das Ackerfeld zu Beginn des Films und bilden in dieser Hinsicht einen visuellen Bezug zur Märchenerzählung. Das Ende wiederum resultiert in Versatzstücken aus einem Krimi-Plot, wenngleich Daniela Müller zu Recht bemerkt. Ein inhaltlicher Bezug dieser Story zum Kriminalgenre ist abgesehen von dem Gewaltverbrechen am Ende nicht gegeben. Dennoch wurde die Sendung vor dem Wertungshintergrund des Kriminalgenres gesehen.59 58

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Zur Traumszene vgl. Danielle Hipkins/Kate Taylor-Jones (Hg.): Prostitution and Sex Work in Global Cinema: New Takes on Fallen Women. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2017, S. 166. Daniela Müller: Sendeformate und Genres als Qualitätsmerkmale fiktionaler Fernsehsendungen, in: Bolik/Schanze (Hg.): Medienwertung, S. 293-363, hier S. 339; verwiesen wird auf die Rezension: Brigitte Kaps: Leben in Bedrängnis, in: Vorwärts vom

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Abb. 4: Aus: Shirins Hochzeit. Zweitausendeins Edition Deutscher Film 5 /1976.

Aus dem Paradigma des Kriminalfilms werden lediglich einzelne Elemente zur Darstellung gebracht, die sich in der Kleidung der Kriminellen, ihren Waffen, ihrer Gewaltbereitschaft, aber auch im doppelten Mord zur Geltung bringen, ohne das Kriminalschema zu erfüllen. Neben der Mischung unterschiedlicher Genres konkurrieren so auch analytische und synthetische Muster des Erzählens, die einerseits Fälle voraussetzen, wenn von einer ermordeten Prostituierten die Rede ist, und andererseits weitere Fälle generieren, da Shirin in der Autoszene am Schluss das nächste Opfer wird. Das Gruppenbild aus dem Traum Shirins erscheint wieder, nachdem sie erschossen wurde und führt auf die Anfangsszene und ein mythisches Wiedersehen mit Mahmud zurück. Als integrierendes Moment treten im Syntagma des Films so mehrere Male Bezüge zur Märchenebene auf. Auch im gesprochenen Text wird das Märchenmotiv explizit aufgerufen, etwa wenn die Stimme Kommentar HELMA aus dem Off bemerkt »Aber als du zufuhrst auf meine Stadt Köln, da hattest du plötzlich Angst, daß dies erst der eiserne Berg wäre, von dem du glaubtest, er läge schon hinter dir.«60 HELMAS Stimme aus dem Off wird in

60

29.01.1976: »den beschwerlichen und enttäuschungsreichen Weg der arbeitswilligen Ausländerin bis zu diesem Krimihöhepunkt«. Sanders, Shirins Hochzeit (Drehbuch), S. 45.

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der Rezension Das Märchen vom eisernen Berg in den Nürnberger Nachrichten auf die Märchenebene verbucht, wenn sie kommentierend, beschreibend und mit sanfter Stimme – aber selbst nie im Bild auftauchend – mit ihrer Heldin Zwiesprache hält, sie anspricht und sie – einer Märchenerzählerin gleich, auf ihrem schweren Weg begleitet.61 Das Märchen hat sich auf der syntagmatischen Ebene wohl als stärkstes Strukturierungsprinzip erwiesen, wenn Möhrmann feststellt: Ganz bewußt verzichtet Sanders-Brahms in diesem Film auf alle ästhetischen Experimente und erzählt die Geschichte des türkischen Mädchens Shirin […] in der geradlinigen Art alter Volksmärchen.62 Zur syntagmatischen Integration dient sicherlich auch die durchgängige Schwarz-Weiss-Gestaltung des Films, in der Bauerhoch Bezüge zum »Cinéma-verité-Verfahren«63 erkennt. Zu Recht gilt es aber einzuwenden, dass der Film bereits mit einer Analepse beginnt, die das Paradigma des Märchens rückläufig aufhebt, wenn im KOMMENTAR SHIRIN erklärt wird: »Jetzt bin ich tot. Tot wie der eiserne Berg, der zwischen Shirin und Ferhad ist. Ferhad muß mit bloßen Händen einen Weg durch eisernen Berg zu Shirin graben, und gräbt, und kommt an, eine Geschichte sagt: zu spät – eine andere Geschichte sagt: noch gerade zur rechten Zeit.«64 Die Handlung kondensiert sich dadurch in einem Flashback,65 der vereitelt, dass der Film seine Märchenaufgabe im Verlauf der Darstellung jemals rechtzeitig einlösen könnte.

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63 64 65

F.J. Bröder: Das Märchen vom eisernen Berg, in: Nürnberger Nachrichten vom 22.01.1976, in: Sanders, Shirins Hochzeit, S. 143-145, hier S. 143. Renate Möhrmann: Shirins Hochzeit, in: Verband der Filmarbeiterinnen e.V. (Hg.): Frauen Film Handbuch. Berlin: Selbstverlag, 1984, S. S11, zit.n. Gisela Ladwig (s. Kommentar Reininghaus zur Trennung bei Namen)/Konrad Scherfer: Film- und fernsehästhetische Wirkung, in: Bolik/Schanze (Hg.), Medienwertung, S. 248-292, hier S. 270. Brauerhoch, Die Heimat des Geschlechts, S. 109. Sanders, Shirins Hochzeit (Drehbuch), S. 13. Brauerhoch, Die Heimat des Geschlechts, S. 110.

Zur filmischen Narration und Semiotik transkultureller Missverständnisse

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Transkulturelle Relevanzkriterien

Die »schwere Last«, die der Film Shirins Hochzeit zweifellos zu tragen hat, liegt nicht nur im Versuch, »das allgemeine, soziale Leid biologischer Frauen und das spezifische nationale Glück wie Unglück türkischer Frauen zu repräsentieren«,66 sondern resultiert über seine Frauenthematik hinaus auch aus seinen Polarisierungen und gegenläufigen Deutbarkeiten. Besonders seine Raumkonstruktionen geben Auskunft über die Stereotypen und Gegensätze, die der Film inszeniert. Zu Recht hat Neubauer bemerkt, dass Shirins Hochzeit in dieser Hinsicht dichotomisch verfährt: Der Film zeigt Deutsche überwiegend als vereinzelte Figuren in kalten und leeren Räumen: […]. Die türkischen Männer versammeln sich am Bahnhof, die türkischen Frauen im Wohnheim verbinden sich in einer fürsorglichen und herzlichen Solidarität, welche die Kälte des Lebens in der Bundesrepublik erträglicher macht.67 Die Raumstruktur und Raumsemantik des Films inszeniert so eine Gegensätzlichkeit, die die transkulturellen Problemlagen verstärkt. Die Heuristik der Filmsemiotik geht zudem davon aus, dass sich in Filmen Relevanzsignale finden, die zur Analyse genutzt werden können: »Relevante Textdaten sind immer funktionalisiert, d.h. sie erfüllen im Textganzen eine spezifische Funktion, welche in Kongruenz zu den dominanten Aussagestrukturen und Bedeutungen steht.«68 Neben Rekurrenz, Fokussierung, explizite und potenzielle, thematische Relevanzsetzung sowie syntagmatische Exponiertheit zählt zu den »zentralen Relevanzkriterien« auch die »Abweichung vom (textuell oder kulturell) Erwartbaren (z.B. durch abweichende Dresscodes, Sprache etc., aber auch durch Verstöße gegen Genrekonventionen/den filmischen Kontrakt)«. Auf mehreren Ebenen werden solche Abweichungen als Relevanzkriterien im Film markiert. So weicht die Protagonistin Shirin z.B. schon durch ihre Sprechweise von der grammatikalischen Norm ab und zeigt sich auch in ihrer Haltung naiv inszeniert. Auch die Kleidung gehört als normierender Code zu den Relevanzkriterien, die transkulturell 66 67 68

Ebd., S. 115. Neubauer, Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer, S. 176, vgl. bereits Brauerhoch, Die Heimat des Geschlechts, S. 114. Dennis Gräf/Stephanie Großmann/Peter Klimczak/Hans Krah/Marietheres Wagner (Hg.): Filmsemiotik: Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate. Marburg: Schüren, 2. Aufl., 2017, S. 396.

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perspektiviert sein können. In ihrer Kleidung wechselt die Figur Shirin im Verlauf des Films von einem traditionellen Gewand zur Arbeitskleidung der Fabrikarbeiterin bis hin zur leichten Bekleidung einer Prostituierten, die sich andererseits aber einen teueren Mantel leisten kann. Nach Brauerhoch führen die Veränderungen Shirins, ihr Haar blond zu färben, »ein kurzes Kleid zu tragen und ihre Lippen zu schminken«, »unmittelbar zur Vergewaltigung«,69 was aber auf der Handlungsebene des Films nicht ganz zutrifft, da Shirin als Putzfrau attackiert wird. Vielmehr zeigt sich in der Abweichung des Dresscodes, wie Shirin, angeleitet durch eine Mitbewohnerin im Wohnheim, eine trügerische Mimikry als Farce der Assimilation durchläuft. Vor allem das über die längste Zeit des Films getragene Kopftuch markiert als Kollektivsymbol, nachdem die Protagonisten in der Tanzbar ihr Haar gezeigt hat, dass sich der weitere Verlauf der Handlung gegen die kulturellen Wertmaßstäbe der Figur entwickeln wird. In der Tanzszene streift der Zuhälter Aida Shirins Kopftuch gewaltsam ab und setzt damit einen Verstoß um, den sie nicht mehr korrigieren kann.

Abb. 5: Aus: Shirins Hochzeit. Zweitausendeins Edition Deutscher Film 5 /1976.

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Gräf/Großmann/Klimczak/Krah/Wagner (Hg.), Filmsemiotik, S. 396.

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Heidenreich versteht das Kopftuch als einen »der wohl präsentesten visuellen marker des Ausländerdiskurses«.70 Dabei fungiert die Stigmatisierung in unterschiedliche Richtungen, wie es sich auch am Beispiel des Films zeigt, wenn sich während der Dreharbeiten am Düsseldorfer Flughafen ein Konflikt mit türkischen Migranten ergab: »[…] als sie erfuhren, daß ein Film über eine türkische Arbeiterin für das Deutsche Fernsehen gedreht wurde, reagierten sie aggressiv auf das Mädchen, das sich in Bauerntracht durch die Menge drückte.«71 Ayten Erten bemerkt in ihrem Interview mit Volker Canaris: Sie waren böse, daß ich als Shirin ein Kopftuch getragen habe. Und sie waren böse, daß die Deutschen sehen sollten, wie die Türken sind. Sie waren böse, daß eine Türkin diese Rolle spielt und die Schwierigkeiten zeigt, die wir haben. […] Sie wollten im Kino keine Frauen sehen, wie sie wirklich sind. Ich war so wirklich.72 Für »türkische (wie deutsche) Zuschauer«73 sollte die Medialität der Bilder eine Fiktion schaffen, in der der Durchbruch des Realen nicht geduldet werden kann. Zu Recht bemerkt Heidenreich allerdings eine Differenz zwischen den Reaktionen türkischer Migranten am Düsseldorfer Flughafen und den Attacken rechtsnationaler Kreise auf den Film: Im Fluss der Darstellung der Rezeptionsgeschichte von Shirins Hochzeit wird jedoch beides zusammengefasst. Erst die Re-Lektüre eröffnet den Blick auf die Irritation, den Widerspruch in der Beschreibung der Standpunkte von Film, Regisseurin, Schauspielerin und der »Wirklichkeit«, die die türkischen Migrant_innen angeblich »nicht sehen wollten«.74 Zu den transkulturellen Relevanzkriterien des Films zählen offensichtlich konfliktträchtige Abweichungen, die aus gegenläufigen Deutbarkeiten resultieren. So mag auch die Nacktszene während des Zusammentreffens mit Mahmud Anlass zur Fehldeutung des Films als »pornographisch«75 gegeben haben. Angelehnt an die Methodik der Forschung zur Interkulturellen Kom-

70 71 72 73 74 75

Heidenreich, V/Erkennungsdienste, S. 171. Ayten Erten/Volker Canaris: »Ich war so wirklich.« Aus einem Gespräch mit Ayten Erten der Darstellerin der Shirin, in: Sanders, Shirins Hochzeit, S. 128-131, hier S. 130. Erten/Canaris, »Ich war so wirklich«, in: Sanders, Shirins Hochzeit, S. 130f. Ebd. vgl. Heidenreich, V/Erkennungsdienste, S. 107. Heidenreich, V/Erkennungsdienste, S. 177. Vgl. den Hinweis von Ebner-Meerapfel, Nachspiel zu WDR-Film, S. 38.

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munikation ließen sich Critical Incidents76 beschreiben, die als kulturelle Normverstöße über den Film ausgestreut sind und als Provokationen in der Rezeption wahrgenommen werden können. Doch könnten damit die narrativen und semiotischen Verwerfungen in der filmischen Struktur noch nicht untersucht werden. Es wäre die Aufgabe einer transkulturellen Filmsemiotik, den Fehldeutungen von Relevanzkriterien weiter nachzugehen.

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Schlussbemerkung

Wie kaum ein anderer Film der 1970er-Jahre ist Shirins Hochzeit zu einem Meilenstein im öffentlichen Umgang mit transkulturellen Konfliktlagen geworden. Unter den Filmen des deutsch-türkischen Genres nimmt er jedoch zumeist nur eine Randstellung ein. Ausgangspunkt der Überlegungen war es daher, gerade die Ablehnung, die der Film erfuhr, zum Anlass für seine narrative und semiotische Analyse zu nehmen. Shirins Hochzeit erweist sich als ein exponierter Schauplatz von kulturellen Missverständnissen, wohl nicht zuletzt, weil der Film selbst seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden kann. Im Nachruf auf den Tod der Regisseurin im Jahr 2014 hat Susan Vahabzadeh in der Süddeutschen Zeitung bemerkt »Helma Sanders-Brahms wollte Archetypen des Lebens schaffen, an denen sie verhandeln konnte, was die Zeit bewegte.«77 Mit den gewählten filmischen Mitteln konnte der Film Shirins Hochzeit im politisch-kulturellen Klima der 1970er-Jahre seine Widersprüche offensichtlich noch nicht zum Ausgangspunkt von Verhandlungen machen. Dennoch aber entspinnt sich ein filmisches Märchen, das noch in seinen Unzulänglichkeiten zeigt, »was die Zeit bewegte.«

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Vgl. z.B. Hans Jürgen Heringer: Interkulturelle Kommunikation. Tübingen: Narr, Francke, Attempto, 3. Aufl., 2010, S. 213-236, vgl. auch Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation: Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer. Stuttgart, Weimar: Metzler, 4. Aufl., 2016, S. 38-39. Susan Vahabzadeh: Mutter der Archetypen, in: Süddeutsche Zeitung. Magazin vom 27.05.2014. https://www.sueddeutsche.de/kultur/helma-sanders-brahms-ist-totmutter-der-archetypen-1.1977758 (Letzter Abruf am 15.01.2020).

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Zur filmischen Narration und Semiotik transkultureller Missverständnisse

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Film Shirins Hochzeit (D, 1976, Helma Sanders-Brahms, 120 min.)

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Rezeption des Spielfilms Shirins Hochzeit (1976) aus der Perspektive der türkischen Musikproduktion in Deutschland Ali Osman Öztürk & Derya Canbolat

Abstract. Shirin’s Wedding is one of the first Turkish-German films of 1976. It narrates the story of a young Turkish woman, deceived and exploited by the cruel and dishonest men both in Turkey and Germany. As known, the first publication of Shirin’s Wedding by WDR in Germany caused an intense reaction of the extreme right in Turkey as well as a protest by the Turkish nationalists in front of the WDR-building. Ayten Erten, who acted as the »Shirin« character, has received death threats and her acting career is completely ended after this movie. There has been almost no information about her since the 80s.1 The protests did not only take place in public but also appeared in the Turkish music industry of immigrants in Germany. It will be discussed how the mentioned film is interpreted in the popular folk song producers (such as Adnan Varveren and Metin Türköz) in this paper. The authors and poets of the products are men and can be seen as representatives of a society with a patriarchal mentality. The language used is in such a style and constantly degrades women. For this purpose, three popular folk song texts were chosen as research materials from 1977. The problematic perception of women and the loveless and double standardized social order was discussed in these texts. They are important since they can be used as a course material as well as having a simple language, with a feature that contains symbolic elements.

1

Wikipedia: »Ayten Erten«. https://de.wikipedia.org/wiki/Ayten_Erten (10.08.2019).

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Ali Osman Öztürk & Derya Canbolat

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Einleitung: Zum Werdegang und Inhalt des Spielfilms Shirins Hochzeit

Der Film Shirins Hochzeit wurde unter Helma Sanders-Brahms Regieführung von Volker Canaris in Deutschland gedreht bzw. produziert und am 20. Januar 1976 erstmalig ausgestrahlt. Der Film schildert das Leben der von Ayten Erten dargestellten jungen Türkin Shirin Özgül. Sie ist bereits als Kind Mahmut versprochen, der nach Deutschland ausgewandert ist und sie schon vergessen hat. Eines Tages wirft ihr Vater mit einem Stein nach dem Landbesitzer, für den sie arbeiten, und wird verhaftet. Der Landverwalter hält bei ihren Onkeln um die Hand von Shirin an und bekommt sie gegen Geld. Shirin liebt ihn jedoch nicht und sehnt sich nach Mahmut, der in Köln lebt und arbeitet. Sie flieht nach Deutschland, um ihn zu suchen. Danach wird sie zunächst als Fabrikarbeiterin angestellt und lernt die Griechin Maria kennen, die ihre Freundin wird. Als sie von Entlassungen betroffen ist, erlebt sie das schwere »Gastarbeiterinnen«-Leben in »einer ihnen feindlich gesinnten Gesellschaft« (Lexikon des internationalen Films, Buchausgabe 1995)2 . Dennoch schickt Shirin regelmäßig Geld nach Hause. Schließlich arbeitet sie als Putzfrau und verliert nach einer Vergewaltigung auch diesen Job. Auf Arbeitssuche gerät sie an einen deutschen Zuhälter, der sie in Gastarbeiterunterkünften verkauft. Dort begegnet sie dem lange gesuchten Verlobten Mahmut, der sie jedoch nachts nicht erkennt. Schließlich wird ihr Zuhälter von Kumpanen erstochen, was sie beobachtet. Als sie kurz darauf aus Sehnsucht nach ihrer Heimat von diesen davon gehen will, wird sie hinterrücks erschossen.

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Zur Rezeption des Films

Wir können mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass der Film Shirins Hochzeit auf zwei verschiedene Weisen rezipiert wurde. Während er auf deutscher Seite als

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Zitiert nach Heidi Rösch: Deutschunterricht in der Migrationsgesellschaft: Eine Einführung. Stuttgart: Springer-Verlag, 2017, S. 87. Vgl. dazu die Darstellung der »Frauen als Opfer am Rande der Gesellschaft«; in: Schäffler, Diana: Deutscher Film mit türkischer Seele: Entwicklungen und Tendenzen der deutsch-türkischen Filme von den 70er Jahren bis zur Gegenwart. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller, 2007, S. 21-22.

Der Spielfilm Shirins Hochzeit aus der Perspektive der türkischen Musikproduktion

ein Spielfilm, der die völlig fiktive, sehr persönliche Geschichte einer jungen Türkin in einer, allerdings authentischen, typischen Situation thematisiert, wahrgenommen wurde3 , ist er auf türkischer Seite als Dokumentation bzw. Information über und für die in der Bundesrepublik lebenden GastarbeiterInnen missverstanden worden, obwohl der schwarzweiß gedrehte Spielfilm bestimmt keine Aufklärung für GastarbeiterInnen leisten wollte. »Die Erstsendung des Spielfilms Shirins Hochzeit im WDR-Fernsehen löste dennoch massive Proteste rechtsextremistischer Kreise in der Türkei aus und führte auch zu einer kleinen Protestkundgebung türkischer Nationalisten vor dem WDR-Funkhaus in Köln. Ayten Erten, die Darstellerin der Shirin, wurde massiv bedroht und ihre Schauspielkarriere war nach dem Film quasi beendet. Seit den 1980er Jahren ist kaum mehr etwas über sie bekannt.«4 Auch Die Regisseurin Helma Sanders-Brahms, die in Shirins Hochzeit als erste das Thema Zwangsheirat aufgriff, musste monatelang unter Polizeischutz leben.5 Eine andere Form der protestierenden Rezeption war diejenige der ästhetisch volkstümlichen LiedermacherInnen türkischer Herkunft, die (aus vielerlei Gründen) in Deutschland wohnten und dort den MusikantInnenberuf ausübten. Schon seit Anfang der 1970er Jahre sind Hunderte solcher Musikstücke bekannt, die das türkische MigrantInnenleben und seine Probleme thematisieren. Ihre Sprache blieb bis zum Ende der 1990er Jahren türkisch; nur selten bedienten sie sich des deutschen Wortschatzes, um ihren Text zu würzen. Ihr Duktus ist satirisch und sarkastisch geprägt und den Deutschen gegenüber hegt man den Verdacht, sie seien darauf erpicht, GastarbeiterInnen zu unterdrücken und auszubeuten. Daher tauchen in den Liedtexten immer wieder Schimpfwörter erniedrigender Art auf, die meist ausdrücklich die Nazivergangenheit der Deutschen in Erinnerung rufen. Drei dieser Deutschlandlieder sind offenbar als Reaktion auf den Film Shirins Hochzeit entstanden, weil sie sich unmittelbar auf den Titel beziehen: Shirins Geburt, Shirin, du hast uns befleckt, Shirins Hochzeit.6 3 4 5 6

Helma Sanders-Brahms erhielt 1976 den Fernsehfilmpreis der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Wikipedia: »Shirins Hochzeit«. https://de.wikipedia.org/wiki/Shirins_Hochzeit (27.10. 2016). Wikipedia: »Shirins Hochzeit«. https://www.welt.de/print/die_welt/kultur/article128480636/Unbekannte-Beruehmtheit.html (10.11.2017). Vgl. Ali Osman Öztürk: Alamanya Türküleri. Türk Göçmen Edebiyatının Sözlü/Öncü Kolu, Ankara: Kültür Bakanlığı Yayınları, 2001, S. 102.

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Ali Osman Öztürk & Derya Canbolat

In diesem Beitrag soll folgenden Fragen nachgegangen werden: Wie wurde der Film Shirins Hochzeit durch die türkischen Liedermacher in Deutschland (sowie in der Türkei) rezipiert? Kann man heute die damalige Rezeption und Wirkung befürworten oder nicht? Genauer gesagt, wie können wir die damalige Rezeption heute rezipieren? Der Beitrag will die damalige Rezeption bzw. die als Protestreaktion entstandenen Lieder kritisch untersuchen und miteinander vergleichen. Damit möchten wir uns mit der in der Türkei immer noch aktuellen, patriarchalisch geprägten Doppelmoral der Männerwelt auseinandersetzen.

3

Zur Charakteristik der türkischsprachigen Deutschlandlieder

Die Autoren der uns vorliegenden Liedtexte (Metin Türköz7 und Adnan Varveren) nennen sich (im Zuge der volkstümlichen Dichtung üblich) in der allerletzten Strophe8 und sehen sich als volkstümliche Aşıks (sog. »Minnesänger«). Sie begleiten sich musikalisch mit ihrem eigenen volkstümlichen Saiteninstrument und bedienen sich wiederum einer auf türkische Liedtradition zurückzuführenden Art und Weise im Gesangstil. In den Liedern wird eine recht einfache und leicht verständliche Sprache verwendet. Die Verse reimen sich. In dem Lied Shirins Hochzeit kommen nach jeder Strophe Refrainzeilen vor, die auch typisch für die türkische Volksdichtung sind. Zeitlich sind die Lieder in der zweiten Phase des MigrantInnen-Daseins in Deutschland, also zwischen 1976 und 1979, entstanden.9 Während es sich in der ersten Phase um den Erstkontakt mit daher rührenden Problemen wie Heimweh, Anpassungsschwierigkeiten, entzweite Familien usw. handelt, begegnen sich in der zweiten Phase zwei fremde Kulturen, in Folge dessen nun Vergleiche angestellt werden. Dieses Aufeinanderprallen der Kulturen spiegelt sich auch in den Liedern wider, die wir im Folgenden anführen möch7

8

9

Siehe zu seiner Biografie Huhn, Karin: »Nächstes Jahr kehren wir zurück«: Die Geschichte der türkischen »Gastarbeiter« in der Bundesrepublik. Göttingen: Wallstein Verlag, 2005, S. 73; Kemper, Anna: »Gastarbeiter: Familie Türköz wird deutsch«, Die Zeit, Nr. 34, 18. August 2011. https://www.zeit.de/2011/34/DOS-Tuerken (17.06.2019). »Hakiki Şirin’in düğünü« (»Es ist wahrlich Shirins Hochzeit«); »Aşık Türköz’ün ürünü« (»Das ist des Sängers Türköz Werk«); »Dinle de ver kendin karar« (»Hör zu und entscheide dich selbst«); »Türköz söyler daha neler« (»Was Türköz noch zu sagen hat«). Vgl. Öztürk, Alamanya Türküleri. Türk Göçmen Edebiyatının Sözlü/Öncü Kolu, S. 83 und 128.

Der Spielfilm Shirins Hochzeit aus der Perspektive der türkischen Musikproduktion

ten. Die schon während der ersten Phase entstandene Enttäuschung und Wut werden in der zweiten Phase durch den Film Shirins Hochzeit auf die Spitze getrieben. In dem Film geht es zwar um eine türkische Frau, die in Deutschland auf die schiefe Bahn gerät. Aber in den als Reaktion entstandenen drei Liedern, in denen den türkischen Frauen ihr angeblich »wahrer« Platz zugewiesen wird, wird im Hintergrund ein gnadenloser Hass auf Deutschland geäußert. Der Sprache der Lieder ist auch abzulesen, dass sie hauptsächlich die türkischen GastarbeiterInnen ansprechen wollen. Utanıyoruz adından      Türk kadını kötü olmaz     

4 4.1

Wir schämen uns deinetwegen Türkische Frauen sind nicht schlecht10

Zur Thematik der Liedtexte Şirin’in Düğünü – Shirins Hochzeit

Im gleichbetitelten Liedtext werden einzelne Szenen aus dem Film (beispielsweise Shirins Unterfangen, nach Deutschland zu kommen, ihre Freundschaft mit GriechInnen und ihre Prostitution) gnadenlos auf- und angegriffen. Shirin wird als eine geldgierige Blamage dargestellt und verflucht und direkt als »Pissnelke«, als eine »Scheißfrau« und »Hündin« beschimpft. Damah ettin paraya       Geldin Alamanya’ya      Evin yıkılsın Şirin           Rezil ettin dünyaya     

Du giertest nach Geld Kamst nach Deutschland Geh zugrunde, Shirin Du hast uns vor der Welt blamiert

Der Autor geht mit der Ausgrenzung soweit, dass er nicht nur an ihrer Nationalität zweifelt, sondern auch ihr den Namen Helga, anstatt Ayten, zuschreibt. Türklüğünden şüphem var      Vallahi kanın bozuk      (Billahi kanın bozuk)     Ayten ismi yakışmaz    

10

Ich zweifle an deinem Türkentum Ich schwör‹, dein Blut ist schlecht   (Bei Gott, du bist charakterlos)  Der Name Ayten passt dir nicht

Siehe das Lied Shirin Bize Leke Sürdün im Anhang (Strophe 6, Zeile 3-4). Die Liedzitate hier und im Folgenden stammen aus den entsprechenden Texten im Anhang, die von Derya Canbolat ins Deutsche übersetzt worden sind.

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Helga’dır senin adın      Sonntag Montag Donnerstag Nerden çıktı bu manyak      Türklüğü lekeledi      Ayten denen bu kaltak      Hayatımda duymadım      Böyle scheisse Kadın      Senin gibi köpeğe     

Helga ist dein Name Sonntag Montag Donnerstag Woher ist diese Irre aufgetaucht Befleckt hat sie das Türkentum Diese Nutte namens Ayten Nie im Leben habe ich gehört (gesehen) Solch eine Scheißfrau […] Eine Hündin wie dich

In der vorletzten Strophe spricht der Autor die schlimmste Verwünschung aus, die es in der türkischen Sprache gibt. Sie möge auf ein bisschen Brot angewiesen sein und der Tod sei für sie nicht genug. Interessant ist, dass der Autor zwischen der Protagonistin Shirin und der Darstellerin Ayten überhaupt nicht unterscheidet; sie sind in seinem Auge identisch, mal beschimpft er Shirin, mal Ayten. Der Grund ist auf der einen Seite, dass Shirin nach Deutschland gekommen und mit einer griechischen Familie befreundet ist, und auf der anderen Seite, dass Ayten in ihrer Rolle aufgetreten ist. Ohne Ayten wäre ja Shirin nicht da oder umgekehrt. Deswegen vielleicht soll ihr alles Lebensnotwendige abgenommen werden und sie wird metaphorisch einfach als »Straßenhündin« bezeichnet. Sie ist eine »Scheißfrau« (eines von wenigen deutschen Wörtern im Text!). Şirin muhtaç olasın      Bir lokmacık ekmeğe      Ölüm bile az gelir      Senin gibi köpeğe     

Shirin, seiest du angewiesen Auf ein bisschen Brot Selbst der Tod ist zu wenig Für eine Hündin wie dich

Trotzdem wendet sich der Autor nach der letzten Strophe seines Hassliedes unentwegt/unverschämt seinen ZuhörerInnen zu und tröstet sie, dass das letztendlich nichts anderes als ein fiktiver Film sei. Man kann davon ausgehen, dass er sich dessen von vorneherein bewusst ist; doch sein irrsinniges Vorgehen, die ZuhörerInnen zunächst empört zu hetzen und danach zu beruhigen, ließe sich vielleicht erst durch Aktualität des behandelten Themas erklären, das man sich nicht entgehen lassen möchte. Alamanya’da çalışan      Sayın Türk kardeşlerim      Kafanızı bozmayın      Gözünüzden öperim     

Meine sehr geehrten türkischen Geschwister Die in Deutschland arbeiten Dreht nicht durch Seid gegrüßt

Der Spielfilm Shirins Hochzeit aus der Perspektive der türkischen Musikproduktion

Aslı yok astarı yok      Bu nihayet bir film     

4.2

Es ist nicht wahr Und letztendlich nur ein Film

Şirin’in Doğumu – Shirins Geburt

Der Liedtext Shirins Geburt ist wie eine Fortsetzung des vorangehenden Textes (damit auch des Films) Shirins Hochzeit konzipiert, wie der Autor selber angibt: »Sayın dinleyicilerime Şirin’in düğününün devamını sunuyorum« [»Ich präsentiere meinen sehr geehrten Zuhörern die Fortsetzung von Shirins Hochzeit!«]. Dies müsste also ein Zeichen dafür sein, dass die Reaktionen auf den Film noch weiter anhalten, sodass der Autor sich dazu gezwungen sieht, einen neuen Text zu verfassen. Im Text wendet sich der Autor zuerst an seine ZuhörerInnen und will sie selbst über die Geschehnisse »entscheiden« lassen. Im Großen und Ganzen werden hier dieselben Schwerpunkte des ersten Liedes (Auswanderung, Freundschaft mit Griechinnen und Prostitution) mit einem schärferen Ton wieder aufgegriffen und die potenzielle Schwangerschaft von Shirin (infolge der Vergewaltigung) in den Mittelpunkt aller Äußerungen gesetzt. Diesmal wird nur Shirin zur Zielscheibe gemacht und die Stärke und Dichte des pejorativen Sprachgebrauchs nehmen zu. Der Autor ist sich sicher, dass diese Auswahl seinen ZuhörerInnen gefallen wird. Hakiki Şirin’in düğünü      Aşık Türköz’ün ürünü      Dinle de ver kendin karar    Türköz söyler daha neler     

Es ist wahrlich Shirins Hochzeit Des Sängers Türköz Werk   Hör zu und entscheide dich selbst Was Türköz noch zu sagen hat

Im Lied werden vom Anfang bis zum Ende verschiedene Beleidigungen über Shirin geäußert, weil sie angeblich einen »Bastard« auf die Welt bringen würde. Dafür verflucht der Autor sie gleich in der ersten Strophe mit bösen Schimpfworten: Çeşit çeşit babalı      Die verschiedenen Väter Sana olsun vebali      Mögen dein Untergang sein Adını ne koymalı      Wie soll man das Kind nennen Şirin piç doğuracak Alamanya’da     Shirin wird einen Bastard gebären in Deutschland Hasan’a benziyecek      Er wird Hasan ähneln Bak sana benziyecek      Er wird dir ähneln […] […]     

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Vuracaktır dizini      […]     Banyodaki oyunu      Sayıyoruz ayını      Ölçecektir boyunu     […]     Yunanlı’dan dost olmaz      Be Allah’tan utanmaz     […]     Bilmem kimle yaşıyor    Heimler dolaşıyor      Kaç posta çalışıyor      […]    Geldin geçtin buradan      Herkes baktı oradan      […]     Baktım ki burnu şişti    […]    

Bitter bereuen wird sie […]   Das Spiel im Badezimmer Wir zählen die Monate  Messen wird sie die Größe  […] Aus Griechen werden keine Freunde  Du gottlose Unverschämte  […]   Ich weiß nicht, mit wem sie lebt In welchen Heimen sie streunt Wie viele Schichten sie arbeitet   […] Vorbei bist du hier gekommen Jeder hat zugeschaut  […]   Ich sah, dass ihr(e) Nase (= Bauch) anschwoll  […]

Er behauptet selbsturteilend, dass aus GriechInnen keine FreundInnen werden könnten, dass sich Shirin blamiert habe und dass ihr Bauch gewachsen sei. Zuletzt werden noch diverse Voraussagungen und Ungewissheiten über ihre Reue geäußert, über das Heranwachsen des vermeintlichen Kindes, ihre Arbeit und wo und mit wem sie promiskuitiv lebe.

4.3

Şirin Bize Leke Sürdün – Shirin, du hast uns befleckt

Erst im dritten Liedtext wird Shirins Absicht ihrer Flucht nach Deutschland preisgegeben. Sie möchte ihren Verlobten Mahmut finden. Doch leider sei sie dabei in die Falle getappt, habe sich in den Nachtclubs blamieren lassen und sich der Mode schnell angepasst. Des Weiteren wird sie der Befleckung der Ehre der türkischen MigrantInnen beschuldigt. Geldin Almanya’ya      Nach Deutschland bist du gekommen Mahmut’u aramaya      Um nach Mahmut zu suchen Çabuk uydun modaya      Schnell hast du dich der Mode angepasst Nasıl geldin tufaya […]      Wie bist du bloß lackiert worden Pavyon Pavyon gezdirmişler      Geführt in den Casinos Orlarda rezil etmişler […]      Hast du dich dort blamiert

Der Spielfilm Shirins Hochzeit aus der Perspektive der türkischen Musikproduktion

Şirin bize leke sürdün […]      Şerefimizi öldürdün…    

Shirin, du hast uns befleckt   Unsere Ehre zunichte gemacht

Der Autor stellt Shirin als geldgierig dar. Dies macht er jedoch in Form der Frage »Würde eine ehrenhafte Frau ihre Ehre verkaufen?« und beantwortet sie selbst: Die Ehre sei nicht auf dem Markt zu verkaufen; sie hätte nämlich in diesem Film nicht mitspielen müssen. Namuslu olan kadın      Bu filmde oynar mı   Şerefini kendini     Para için satar mı […]      Namus için yaşayan     Cephede mermi taşıyan      Gavura meydan okuyan     Türk kadını kötü olmaz    

Würde eine ehrenhafte Frau    in diesem Film mitspielen  Ihre Ehre und sich selbst für Geld verkaufen  Die für die Ehre lebenden im Krieg Munition tragenden und  die Heiden herausfordernden  türkischen Frauen sind nicht schlecht

Die ideale türkische Frau wird hier als ehrenhaft, gut und kämpferisch dargestellt; ein ideales Bild, das von Shirin zunichte gemacht werde und weswegen sie verflucht wird (»Evin yıkılsın Şirin = »Du sollst zugrunde gehen, Shirin«). Letztendlich werden noch die Reaktionen der türkischen MigrantInnen geschildert, die Shirin ausgrenzen.11 Shirins Taten seien beschämend und unvergesslich. Böyle kadın bizden çıkmaz      […]     Sürdüğün bu lekeyi   Hiç bir kadın unutmaz    Utanıyoruz adından      […]    Senin bu yaptığını     Duyunca çok utandık   

11

Solch eine Frau entstammt nicht von uns  […]    Das Mal, mit dem du uns befleckt hast   Kann keine Frau vergessen Wir schämen uns deinetwegen   […]  Als wir hörten, was du gemacht hast   haben wir uns zutiefst geschämt

Posener meint diesbezüglich Folgendes: »Wie unter Linken üblich, sah die Regisseurin ihre Protagonistin als Opfer der Verhältnisse; meine [türkischen] SchülerInnen aber sahen sie als Frau, die noch im Elend Stolz und Würde behalten könne und müsse. Shirins Hochzeit war nicht antitürkisch; der Film war einfach pessimistisch und paternalistisch.« Posener, Alan: »So multikulti kann eine Hochzeit auf Türkisch sein. »Dügün« – »Hochzeit auf Türkisch« in Duisburg-Marxloh«; in: Welt u. N24, (Kultur), 08.09.2016. https://www.welt.de/157988285 (11.11.2017).

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Bütün Türk kadınları      Seni lanetle andık     

Alle türkischen Frauen haben dich verflucht

Nicht nur Shirins Verhalten wird mit den türkischen Idealen verglichen, sondern auch das Gastland. Alles Schlechte passiert in Deutschland, während die Darstellung der türkischen Heimat vor Ehre strotzt (!). Niye kaçtın vatanından     Namus akar toprağından     […]     

 Wieso bist du von deiner Heimat geflüchtet Ehrgefühl   liegt in ihrer Luft […]

Der Inhalt der Lieder besteht aus zwei Bestandteilen, und zwar aus der kritisch-sarkastischen Wiedergabe der Szenen aus dem Film und der Denunziation der Protagonistin und Schauspielerin. Es wird zwischen Ayten Erten, die im Film die Rolle der Shirin darstellt, und Shirin, der Protagonistin, nicht unterschieden; sie werden identisch behandelt. Hauptsache für die Liedverfasser ist, dass sie (Ayten und Shirin) die türkische Frau vertreten. Einer der Autoren kommt im Text namentlich (»Türköz« = »Echttürke«) vor. Türköz beschuldigt Shirin bzw. Ayten der Ehrlosigkeit und Missachtung türkischer Verhaltensnormen. Er macht die Reaktion der TürkInnen auf die Schauspielerin deutlich. Türk milleti olarak      Namus için yaşarız    Bize leke sürenin      Anasını satarız     

5

Wir als türkische Gesellschaft   leben für unsere Ehre All jene, die uns entführen werden bestraft werden

Frauenbild und Männerbild der Liedermacher

In den vorliegenden Liedtexten hat der Mann die Rolle des Patriarchen. Er hat das Recht, als Richter zu agieren. Die Frau wird von ihm zurechtgewiesen, verflucht, beleidigt und als Ausreißerin gebrandmarkt. Außerdem misst er sie an den Idealen für türkische Frauen und macht Voraussagungen über ein außereheliches Kind und ihr misslungenes Leben. Bu iş yanına kalmaz      Mit dieser Sache kommst du nicht davon Be Allah’tan utanmaz      Du gottlose Unverschämte Şirin piç doğuracak Alamanya’da     Shirin wird einen Bastard in Deutschland gebären

Der Spielfilm Shirins Hochzeit aus der Perspektive der türkischen Musikproduktion

Hasan’a benziyecek      Bak sana benziyecek   

Er wird Hasan ähneln   Er wird dir ähneln

Das Frauenbild des Autors entspricht den traditionellen Erwartungen. Hier muss erwähnt werden, dass es danach zwei Arten von Imaginationen von Frauen gibt, nämlich eine gute und eine schlechte. Die gute Frau hat zu Hause zu bleiben, ehrenhaft zu sein und auf ihre männlichen Vormünder zu hören, sich für »schlechte« Frauen zu schämen und diese zu verdammen, anstatt sich griechische FreundInnen anzueignen. Yunanlı’dan dost olmaz      Namus için yaşayan     Cephede mermi taşıyan     Gavura meydan okuyan    Türk kadını kötü olmaz     

Aus Griechen werden keine Freunde  Die für die Ehre lebenden  im Krieg Munition tragenden und   die Heiden herausfordernden türkischen Frauen sind nicht schlecht

Die angeblich schlechte Frau wird hier, wie schon erwähnt, als Ausreißerin bezeichnet. Sie freundet sich mit GriechInnen an, ist ehrlos, geldgierig, passt sich der Mode an, anstatt traditionell zu leben. Sie zieht von Heim zu Heim, lebt in wilder Ehe, zeugt ein uneheliches Kind und wird als Schande für die Türkinnen bezeichnet. Der Autor zweifelt daran, ob sie eine echte Türkin sein könne. Schließlich meint er, dass ihr Name nicht Ayten, sondern doch Helga sein könnte.12 Ayten ismi yakışmaz      Helga’dır senin adın      Hayatımda duymadım      Böyle scheisse kadın     

6

Der Name Ayten passt dir nicht Helga soll dein Name sein Nie im Leben habe ich gehört/gesehen Solch eine Scheißfrau

Moralvorstellung

Man kann hier auf keinen Fall von Gleichberechtigung beider Geschlechter sprechen. Es herrschen strenge Maßstäbe für Frauen. Das Bild der idealen türkischen Frau ist das der ehrenhaften und gehorsamen Frau, während der Mann mehr Freiraum und Macht hat. Am Beispiel von Mahmut, dem Geliebten der Protagonistin, sehen wir, dass er fremdgehen darf, was für die männlichen Liedermacher nicht anstößig zu sein scheint. Da die Moralvorstellung 12

Vgl. Öztürk, Alamanya Türküleri. Türk Göçmen Edebiyatının Sözlü/Öncü Kolu, S. 118.

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der Liedermacher patriarchalisch geprägt ist, sind sie nur darauf fixiert, die Fehler bei Frauen zu entdecken. Alle Schuld wird in die Schuhe von Frauen geschoben. Dafür wird aber kein Wort über den Onkel, den geliebten Mahmut und den Vergewaltiger verloren. Die Leben von Shirin und Ayten weisen Parallelen auf. Auch in den Liedern werden die zwei Frauen gleichgesetzt. Shirin und Ayten sind starke Frauen, die sich trauen, nach Deutschland auszuwandern. Beide scheitern jedoch an den männerdominierten Konventionen der türkischen Gesellschaft. Bak atalar ne demişler      Türk kadını kötü olmaz   

Sieh, was unsere Vorfahren gesag haben   Türkische Frauen sind nicht schlecht

Diese primitive Wahrnehmung des Anderen lässt sich auch bei Fremdbildern der Liedermacher feststellen: Deutsche, mit denen sie miteinander/nebeneinander leben, werden interessanterweise als ehrlos und ohne Verhaltenskodex dargestellt. Bemerkenswert ist noch, dass die Autoren die EuropäerInnen als »ungläubig« sehen und glauben, dass aus GriechInnen keine wahren FreundInnen werden können.13 Sie scheinen mit ihren übertrieben geäußerten Meinungen über andere Nationalitäten selbstsüchtig zu sein und wollen nicht mit Fremden konfrontiert werden. Wenn sie in ihrem Lied »das möglicherweise uneheliche Kind« als »Bastard« schmähen, so gilt dies eben auch als Verunglimpfung des Anderen. Obwohl die Deutschen nicht direkt angesprochen werden, werden sie doch mit der Erwähnung des Frauennamens »Helga« beschimpft; dies bedeutet, dass die Autoren Menschen ihrer Nationalität zufolge undifferenziert und stereotyp wahrnehmen.

7

Thematischer Vergleich der Lieder mit dem Film

Die Lieder schildern inhaltlich und halbwegs chronologisch die einzelnen Szenen des Films. Sie haben jedoch inhaltlich je einen eigenen Schwerpunkt. Im ersten Lied wird das Thema vor allem auf die angeblich »ehrenlose« Shirin reduziert, die vor dem Kontrast der propagierten »ehrenhaften« türkischen

13

Derselbe Autor bezeichnet in einem anderen Lied die Griechen ausdrücklich als Bastarde: »Duyduk ayaklandı yunan piçleri« [»Wir haben gehört, die griechischen Bastarde revoltieren«]«. Aşık Metin Türköz: »Kıbrıs Destanı« Lied: 09 (Türküola, Compact Cassette, Best. Nr. 336).

Der Spielfilm Shirins Hochzeit aus der Perspektive der türkischen Musikproduktion

Frauen dargestellt wird. Im zweiten Lied wird neben der geschilderten Handlung das vermeintlich uneheliche Kind im Refrain betont. Im dritten Lied wird die Protagonistin hauptsächlich ihrer türkischen Identität enteignet. Eigentlich sagen die Titel der Lieder schon etwas über den Inhalt aus. Şirin’in Düğünü (Shirins Hochzeit), in der Shirin endgültig ausgegrenzt wird. Tatsächlich ist eine Hochzeit in der traditionellen türkischen Kultur ein vollständiger Umzug. Die Braut nimmt den Nachnamen, die Familie, den Wohnort usw. des Mannes an. Auch Shirin nimmt diese Veränderungen an. Allerdings heiratet sie (metaphorisch gemeint) den schlechten Bräutigam »Deutschland« und passte sich der dortigen Lebensweise an. Sie lebt in Deutschland und bekommt auch angeblich einen deutschen Namen (Helga) als Zeichen der endgültigen Ausgrenzung vom Autor. Aus dieser falschen Ehe bekommt Shirin im Lied Şirin’in doğumu ein uneheliches Kind. Und hiermit wird Shirin im Şirin bize leke sürdün letztendlich beschuldigt, die türkische Ehre befleckt zu haben. Sowohl im Film als auch in den Liedern nimmt die emotionale Reaktion der RezipientInnen stufenweise zu, im Film aber in erster Linie die Trauer und in den Liedern die Wut. Formal gesehen handelt es sich im Film um die Dramatisierung der Lebensgeschichte einer jungen türkischen Frau, die einer (nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland) männlich dominierten Moralvorstellung zum Opfer gefallen ist. Die hilf- und trostlose Situation der Frauen wird in den Liedern offenbar nur aus der Sicht des jeweiligen Autors nach seinem männlichen und patriarchalischen Empfinden geschildert und die Verantwortung dafür allein den Frauen selbst zugeschrieben. In drei Liedtexten wird kein Wort über die Männer geäußert, die am Scheitern der Protagonistin Shirin beteiligt sind; weder der Onkel oder Verwalter noch der Geliebte oder Vergewaltiger und Zuhälter werden ein einziges Mal beschuldigt.

8

Schlussfolgerungen

Der Film entlarvt eine Tragödie, die durch die herrschende Doppelmoral entstanden ist. In den Liedern bringt der jeweilige Autor nicht nur seine Wut und seinen Hass zum Ausdruck, er beabsichtigt auch eine Rechtfertigung gegenüber dem Film. Durch die türkischen Werte geblendet erkennt der Autor seine Doppelmoral nicht an und sieht sich selbst und gleichgesinnte TürkInnen. Wie schon oben erwähnt hatten türkische MigrantInnen schon schlechte Erfahrungen beim Erstkontakt mit Deutschland gemacht. Auch nach dem

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Film Shirins Hochzeit sind weiterhin Filme mit einem schlechten TürkInnenbild entstanden. Während sie die Deutschen in ihren Liedern kritisierten, wurden sie zum ersten Mal so öffentlich und negativ in Filmen dargestellt. Vermutlich hat die unglückliche Situation der auch von ihren Landsleuten ausgebeuteten Migrantinnen, die Metz und Seessle als »das doppelte Elend der Frauen«14 bezeichnen, sie daran gehindert, den Film als etwas Künstlerisches oder eine unpersönliche Gesellschaftskritik zu sehen oder sogar sich auf die hoffnungslose Situation der betroffenen Frauen zu besinnen. Jedenfalls herrscht sowohl im Film als auch in der Welt der türkischen MigrantenInnen eine männliche Doppelmoral, der Shirin zum Opfer fällt. Diese patriarchalisch geprägte Sichtweise verzerrt sogar Shirins Absichten. Sie ist in Deutschland auf der Suche nach Hoffnung und ihrem Geliebten und nicht, wie in einem der Lieder behauptet wird, nach einem modernen westlichen Leben. Shirin ist anfangs ein starkes Mädchen, das ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen versucht. Leider scheitert sie dabei kläglich. Die Autoren sind sehr hart und gnadenlos. Ihr Ton in den Liedertexten ist lieblos und kritisch und nimmt immer mehr an Härte zu. Interessant ist auch die zwiespältige Einstellung der Autoren. Einerseits fühlen sie sich beleidigt, andererseits aber behaupten sie, dass dieser Film nicht ernst zu nehmen sei. Während es bei der Rezeption des Films durch die türkischen Liedermacher an Kunstverständnis mangelt, fehlt es bei den Liedern an Mitleid und Güte.

Literatur Huhn, Karin: »Nächstes Jahr kehren wir zurück«: Die Geschichte der türkischen »Gastarbeiter« in der Bundesrepublik, Göttingen: Wallstein Verlag, 2005. Öztürk, Ali Osman: Alamanya Türküleri. Türk Göçmen Edebiyatının Sözlü/Öncü Kolu. Ankara: Kültür Bakanlığı Yayınları, 2001. Rösch, Heidi: Deutschunterricht in der Migrationsgesellschaft: Eine Einführung. Stuttgart: Springer-Verlag, 2017.

14

Markus Metz und Georg Seeßlen: »Fucking Identity«, taz am Wochenende vom 7. 1. 2006, S. 21f. www.taz.de/!492840/(10.11.2017).

Der Spielfilm Shirins Hochzeit aus der Perspektive der türkischen Musikproduktion

Schäffler, Diana: »Deutscher Film mit türkischer Seele«: Entwicklungen und Tendenzen der deutsch-türkischen Filme von den 70er Jahren bis zur Gegenwart. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller, 2007. Türköz, Âşık Metin: Kıbrıs Destanı, (Türküola, Compact Cassette, Best. Nr. 336).

Film Shirins Hochzeit (D, 1976, Helma Sanders-Brahms, 120 min.)

Online-Quellen Arsenal-Berlin: Shirins Hochzeit. www.arsenal-berlin.de/berlinale-forum/archiv/…/action/…/shirins-hochzeit.html (30.10.2016). Attia, Iman (2009): Diskurse des Orientalismus und antimuslimischen Rassismus in Deutschland. In: Melter, Claus/Mecheril, Paul (Hg.) (2009): Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und -forschung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau, S. 146-162. http://wochenendseminar. blogsport.de/images/DiskursedesOrientalismusundantimuslimischenRas sismusinDeutschland.pdf (30.10.2016). Kemper, Anna (2011): Gastarbeiter: Familie Türköz wird deutsch. In: Die Zeit, Nr. 34, 18. August 2011. https://www.zeit.de/2011/34/DOS-Tuerken (17.06.2019). Kölner Frauengeschichtsverein Online (2016): http://frauengeschichtsverein.de/home/shirins-hochzeit/ (29.10.2016). Metz, Markus und Seeßlen, Georg (2006): »Fucking Identity«. In: taz.am Wochenende vom 7. Januar 2006, S. 21-22. www.taz.de/!492840/ (10.11.2017). Neue Deutsche Filme: Shirins Hochzeit. file:///C:/Users/ay/Downloads/1976_NeueDeutscheFilmeShirinsHochzeit_10%20(1).pdf (25.11.2016). Posener, Alan (2016): »So multikulti kann eine Hochzeit auf Türkisch sein. Dokufilm Dügün in Duisburg-Marxloh«. In: Welt u. N24, (Kultur), 08.09.2016. https://www.welt.de/157988285 (11.11.2017). Türköz, Âşık Metin: Kıbrıs Destanı, (Türküola, Compact Cassette, Best. Nr. 336). Welt Kultur Online (2014): Unbekannte Berühmtheit: Zum Tod der deutschen Filmemacherin Helma Sanders-Brahms. https://www.welt.

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Ali Osman Öztürk & Derya Canbolat

de/print/die_welt/kultur/article128480636/Unbekannte-Beruehmtheit.ht ml (15.09.2020). Wikipedia: »Ayten Erten«. https://de.wikipedia.org/wiki/Ayten_Erten, (27.10. 2016). Wikipedia: »Shirins Hochzeit«. https://de.wikipedia.org/wiki/Shirins_Hochzeit (27.10.2016).

Der Spielfilm Shirins Hochzeit aus der Perspektive der türkischen Musikproduktion

Anhang

Şirin’in Doğumu (Öztürk 2001: 208-210)

Übersetzung von D. Canbolat

Hakiki Şirin’in düğünü Aşık Türköz’ün ürünü Dinle de ver kendin karar Türköz söyler daha neler

Es ist wahrlich Shirins Hochzeit Des Sängers Türköz Werk Hör zu und entscheide dich selbst Was Türköz noch zu sagen hat

1. Çeşit Çeşit babalı Sana olsun vebali Adını ne koymalı Şirin piç doğuracak Alamanya’da Hasan’a benziyecek Bak sana benziyecek

1. Verschiedene Väter Mögen dein Untergang sein Wie soll man es nennen Shirin wird einen Bastard in Deutschland gebären Er wird Hasan ähneln Er wird dir ähneln

2. Tastan yuyor yüzünü Duymuyorum sözünü Vuracaktır dizini Şirin piç doğuracak Alamanya’da Hasan’a benziyecek Basana benziyecek

2. Aus der Schüssel wäscht sie sich das Gesicht Ich kann sie nicht hören Bitter bereuen wird sie Shirin wird einen Bastard in Deutschland gebären Er wird Hasan ähneln Er wird dir ähneln

3. Banyodaki oyunu Sayıyoruz ayını Ölçecektir boyunu Şirin piç doğuracak Alamanya’da Hasan’a benziyecek Bak sana benziyecek

3. Das Spiel im Badezimmer Wir zählen die Monate Messen wird sie die Größe Shirin wird einen Bastard in Deutschland gebären Er wird Hasan ähneln Er wird dir ähneln

4. Yunanlı’dan dost olmaz Bu iş yanına kalmaz Be Allah’tan utanmaz Şirin piç doğuracak Alamanya’da Hasan’a benziyecek Bak sana benziyecek

4. Aus Griechen werden keine Freunde Mit dieser Sache kommst du nicht davon Du gottlose Unverschämte Shirin wird einen Bastard in Deutschland gebären Er wird Hasan ähneln Er wird dir ähneln

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Ali Osman Öztürk & Derya Canbolat

  5.Bilmem kimle yaşıyor Heimler dolaşıyor Kaç posta çalışıyor Şirin piç doğuracak Alamanya’da Hasan’a benziyecek Bak sana benziyecek

5. Ich weiß nicht, mit wem sie lebt In welchen Heimen sie streunt Wie viele Schichten sie arbeitet Shirin wird einen Bastard in Deutschland gebären Er wird Hasan ähneln Er wird dir ähneln

6. Geldin geçtin buradan Herkes baktı oradan Melez verdi Yaradan Şirin piç doğuracak Alamanya’da Hasan’a benziyecek Bak sana benziyecek

6. Vorbei bist du gekommen Jeder hat zugeschaut Einen Mischling gab dir Gott Shirin wird einen Bastard in Deutschland gebären Er wird Hasan ähneln Er wird dir ähneln

7. Baktım ki burnu şişti Aman Allah ne işti Şimdi iş işten geçti Şirin piç doğuracak Alamanya’da Hasan’a benziyecek Bak sana benziyecek

7. Ich sah, dass ihre Nase (= Bauch) anschwoll Oh mein Gott, was für ein Erlebnis Shirin wird einen Bastard in Deutschland gebären Er wird Hasan ähneln Er wird dir ähneln

Şhirin Bize Leke Sürdün (Öztürk 2001: 210-211)

Übersetzung von D. Canbolat

1. Geldin Alamanya’ya Mahmut’u aramaya Çabuk uydun modaya Nasıl geldin tufaya Evin yıkılsın Şirin

1. Nach Deutschland bist du gekommen um Mahmut zu suchen Schnell hast du dich der Mode angepasst Wie bist du bloß lackiert worden Geh zugrunde, Shirin

2. Şirin bize leke sürdün Böyle kadın bizden çıkmaz Şerefimizi öldürdün Türk kadını kötü olmaz

2. Shirin, du hast uns befleckt Solch eine Frau enstammt nicht von uns Unsere Ehre zunichte gemacht Türkische Frauen sind nicht schlecht

Der Spielfilm Shirins Hochzeit aus der Perspektive der türkischen Musikproduktion

  3. Namuslu olan kadın Bu filmde oynar mı? Şerefini kendini Para için satar mı?

3. Würde eine ehrenhafte Frau in diesem Film mitspielen Ihre Ehre und sich selbst gegen Geld verkaufen

4. Pavyon pavyon gezdirmişler Oralarda rezil etmişler Bak atalar ne demişler Türk kadını kötü olmaz

4. Geführt in den Casinos haben sie dich blamiert Sieh, was unsere Vorfahren gesagt haben Türkische Frauen sind nicht schlecht

5. Şeref namus haysiyet Pazarlarda satılmaz Sürdüğün bu lekeyi Hiç bir kadın unutmaz

5. Ansehen, Ehre, Würde kann man nicht auf dem Markt kaufen Deinen Schandfleck kann keine Frau vergessen

6. Niye kaçtın vatanından Namus akar toprağından Utanıyoruz adından Türk kadını kötü olmaz

6.Wieso bist du von deiner Heimat geflüchtet Ehrgefühl liegt in der Luft Wir schämen uns deinetwegen Türkische Frauen sind nicht schlecht

7. Senin bu yaptığını Duyunca cok utandık Bütün Türk kadınları Seni lanetle andık

7. Als wir hörten, was du gemacht hast haben wir uns zutiefst geschämt Alle türkischen Frauen haben dich verflucht

8. Namus için yasayan Cephede mermi taşıyan Gavura meydan okuyan Türk kadını kötü olmaz

8. Die für Ehre lebenden und im Krieg Munition tragenden und die Heiden herausfordernden türkischen Frauen sind nicht schlecht

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Ali Osman Öztürk & Derya Canbolat

Şirin’in Düğünü (Öztürk 2001: 211-212)

Übersetzung von D. Canbolat

1. Damah ettin paraya Geldin Alamanya’ya Evin yıkılsın Şirin Rezil ettin dünyaya Yazık Şirin çok yazık Kendine attın kazık Türklüğünden süphem var Vallahi kanın bozuk (Billahi kanın bozuk)

1. Du giertest nach Geld kamst nach Deutschland Geh zugrunde, Shirin Vor allen hast du uns blamiert Schade, Shirin, wie schade Du hast dich veräppelt Ich zweifle an deinem Türkentum Ich schwöre, du bist charakterlos Bei Gott, du bist charakterlos

2. Sonntag Montag Donnerstag Nerden çıktı bu manyak Türklüğü lekeledi Ayten denen bu kaltak (-Kavustak-)

2. Sonntag Montag Donnerstag Woher kommt diese Irre Sie hat den Türkentum befleckt Diese Nutte, genannt Ayten (Refrain)

3. Tük milleti olarak Namus için yaşarız Bize leke sürenin Anasını satarız (-Kavustak-)

3. Wir, die Türken Leben für unsere Ehre All jene, die uns beflecken, werden wir bestrafen (Refrain)

4. Sığındın Yunanlıya Geldin ettin halıya Bin defa lanet olsun Senin gibi karıya Yazık Şirin cok yazık Kendine attın kazık Billahi süphem vardır Senin kanın çok bozuk

4. Du hast dich dem Griechen zugeflüchtet bist gekommen und hast den Teppich beschmutzt Tausendmal sei verflucht so ein Weib wie du Schade, Shirin, wie schade Du hast dich selbst veräppelt Bei Gott, ich zweifle Du bist charakterlos

5. Ayten ismi yakışmaz Helga’dır senin adın Hayatımda duymadım Böyle scheisse kadın (-Kavustak-)

5. Der Name Ayten passt dir nicht Helga ist dein Name Nie im Leben habe ich gehört Solch eine Scheißfrau (Refrain)

Der Spielfilm Shirins Hochzeit aus der Perspektive der türkischen Musikproduktion

  6. Şirin muhtaç olasın Bir lokmacık ekmeğe Ölüm bile az gelir Senin gibi köpeğe (-Kavustak-)

6. Shirin, seiest du angewiesen auf ein bisschen Brot Selbst der Tod ist zu wenig Solch einer Hündin wie dir (Refrain)

7. Alamanya’da çalışan Sayın Türk kardeşlerim Kafanızı bozmayın Gözünüzden öperim Aslı yok astarı yok Bu nihayet bir film (-Kavustak-)

7. Meine sehr geehrten türkischen Landsleute Die in Deutschland arbeiten Dreht nicht durch Seid gegrüßt Es ist nicht wahr Das ist letztendlich nur ein Film (Refrain)

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»Ist doch alles getürkt«. Stereotype Darstellung von ZuwanderInnen in den Medien und ihr Einfluss auf kulturelle Teilhabe Hacı-Halil Uslucan

Abstract. The article shows which stereotypes are used in the media to portray immigrants. It discusses why the cultural and artistic participation of immigrants is significantly lower than their social share and provides central reasons for this representation gap. The question is raised what role stereotypical representations (of immigrants) play in media discourse, which in turn have an inhibiting effect on art and culture industry. Using an exemplary description of a stereotypical reappraisal of German-Turkish relations in the film Wut, the implications for cultural participation are described.

1

Kulturell-künstlerische Teilhabe von ZuwanderInnen

Die gesellschaftliche Teilhabe von ZuwanderInnen an zentralen Dimensionen des Lebens wie etwa Arbeit, Bildung, Politik etc. ist Gegenstand einer Vielzahl von integrationswissenschaftlichen Studien und Monitorings; zuletzt bspw. auch der Jahresgutachten des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Migration und Integration.1 Zwar wird bei Integrationsfragen vielfach auf die sogenannten »harten Felder« wie Arbeit und Bildung fokussiert, bei denen Teilhabelücken individuell wie gesellschaftlich deutlich gravierendere Auswirkungen haben (so etwa vielfach in Armut münden), ist die kulturell-künstlerische Teilhabelücke, womit die geringere Teilhabe an etablierten Kunst- und Kulturbetrieben gemeint ist, nicht minder gravierend; denn sie verhindert 1

Vgl. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Bewegte Zeiten: Rückblick auf die Integrations- und Migrationspolitik der letzten Jahre. Berlin 2019.

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Hacı-Halil Uslucan

sowohl die Entwicklung/ Förderung als auch die Wahrnehmung der künstlerisch-kreativen Potenziale von ZuwanderInnen und ihrer Artikulation im gesellschaftlichen Diskurs. Schaut man sich die Praxis des Kulturbetriebs genauer an, so ist ein ernüchterndes Bild unausweichlich: So zeigen etwa die Besucherstudien, dass der Anteil von ZuwanderInnen, die sich für kulturelle Angebote interessieren bzw. diese nachfragen, je nach Kultursparte deutlich unter 10 % der deutschen Bevölkerung liegt; und umgekehrt liegt die Rate der Nicht-NutzerInnen von Kulturangeboten, also jenen, die nie oder selten solche nachfragen bzw. sich dafür interessieren, bei über 50 % der Bevölkerung2 . Zwar werden seit einiger Zeit diverse Strategien entwickelt, um auch Personen mit Migrationshintergrund bzw. Zugewanderte als Kulturpublikum zu erreichen, aber dennoch scheint trotz der steigenden Anzahl ihre Repräsentation und Teilhabe in vielen Großstädten im Kulturbetrieb nach wie vor geringer zu sein3 . Eine Ausnahme hiervon stellt aber das Kino dar: Nur etwa ein Viertel (ca. 26 %) besuchen nie oder nur wenig das Kino; hingegen besuchen 18 % sehr stark und etwa 25 % häufig das Kino4 . In das Kino gehen ZuwanderInnen vergleichsweise gerne; insofern spielt die Gattung des Filmes eine besondere Rolle. Woran liegt jedoch die allgemeine geringe Beteiligung? Sind die Angebote zu wenig? Ist die Nachfrage zu gering? Sind die Angebote auch zielgruppenspezifisch, d.h. treffen sie auf die Bedürfnisse der ZuwanderInnen zu? Werden Zugewanderte an der Ermittlung ihrer (kulturell-künstlerischen) Bedürfnisse beteiligt? Werden sie in die Durchführung und auch Evaluation kultureller Projekte angemessen eingebunden? Um diese Fragen angemessen 2

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4

Vgl. Vera Allmanritter: Migranten als Publikum in öffentlichen deutschen Kulturinstitutionen. Der aktuelle Status Quo aus Sicht der Angebotsseite. Eine Untersuchung des Zentrums für Audience Development (ZAD) am Institut für Kultur- und Medienmanagement der Freien Universität Berlin. Berlin: Zentrum für Audience Development 2009; Thomas Renz: Nicht-Besucherforschung. Die Förderung kultureller Teilhabe durch Audience Development. Bielefeld: transcript 2015. Vgl. Status Quo aus Sicht der Angebotsseite. Eine Untersuchung des Zentrums für Audience Development (ZAD) am Institut für Kultur- und Medienmanagement der Freien Universität Berlin. Vera Allmanritter: Migranten als Publikum in öffentlichen deutschen Kulturinstitutionen. Der aktuelle für Kultur- und Medienmanagement der Freien Universität Berlin. Berlin: Zentrum für Audience Development 2009. Vgl. K. Reuband: Kulturelle Partizipation: Verbreitung, Struktur und Wandel. Eine Bestandsaufnahme auf der Basis repräsentativer Bevölkerungsumfragen für die Kulturpolitische Gesellschaft – Landeskulturbericht Nordrhein Westfalen: Düsseldorf 2017.

Stereotype Darstellung von ZuwanderInnen und ihr Einfluss auf kulturelle Teilhabe

zu beantworten, müssten zunächst zentrale Bedingungen von Kunst- und Kulturrezeption reflektiert werden, die für alle gelten und auf die ich nur skizzenhaft aus der eigenen Profession – der Psychologie – eine Antwort geben möchte. Nicht vergessen werden darf dabei die elementare und banale Einsicht, dass die Rezeption insbesondere von hochkulturellen Erzeugnissen (Museum/Theater/Oper etc.) mit soziodemographischen Merkmalen wie Alter und Bildung korreliert ist: So sind Ältere und besser gebildete häufigere Kultur- und KunstkonsumentInnen und mit Blick auf Zugewanderte lässt sich festhalten: Zugewanderte sind im Schnitt deutlich jünger als die einheimische Bevölkerung (Türkeistämmige etwa 11 Jahre jünger als die deutsche Bevölkerung) und sie haben in Deutschland im Schnitt auch eine geringere Bildung. Ein Teil der Teilhabelücke lässt sich also allein aus soziodemographisch unterschiedlichen Merkmalen der Gruppen heraus erklären.5 Darüber hinaus sind jedoch auch psychologische Merkmale wirksam, für deren Erklärung sich die Maslow’sche Bedürfnispyramide aus der Motivationspsychologie gut eignet6 : Zunächst ist hierbei die Frage zu stellen: Welche Bedürfnisse sind vordringlich? Welche müssen befriedigt worden sein, um überhaupt Kunst und Kultur rezipieren zu können? Zunächst müssen physiologische Bedürfnisse befriedigt werden. Diese sind die stärksten Bedürfnisse und ohne die Befriedigung dieser elementaren Bedürfnisse wäre der Mensch nicht fähig, andere Bedürfnisse vernünftig zu artikulieren. Wenn bspw. der Hunger stark genug ist, ist der Drang, Gedichte zu schreiben, höchstens nur zweitrangig. Dann sind Bedürfnisse nach Sicherheit, Schutz und Pflege relevant; darunter ist auch der Wunsch nach räumlicher Geborgenheit, aber auch nach Bindungen zu verstehen. Die allerstärkste Form des Sicherheitsbedürfnisses drückt sich in der Zwangsneurose aus: der Zwangsneurotiker versucht, seine persönliche Welt so sehr in Ordnung zu bringen und zu stabilisieren, dass ihn nichts erschüttern kann und keine Gefahren und keine unvertrauten Aspekte auftreten können. Er sichert sich bspw. durch Rituale, Regeln, Formen und Zeremonien gegen jeden Zufall und Vorfall ab. Die nächsthöhere Form bilden Bedürfnisse nach Geselligkeit, Zuneigung und Liebe: Darin sind sowohl die Nähe geliebter Menschen als auch

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Vgl. K. Reuband: Kulturelle Partizipation: Verbreitung, Struktur und Wandel. Eine Bestandsaufnahme auf der Basis repräsentativer Bevölkerungsumfragen für die Kulturpolitische Gesellschaft – Landeskulturbericht Nordrhein-Westfalen: Düsseldorf 2017. Vgl. A. H Maslow.: Motivation und Persönlichkeit. Hamburg: Rowohlt 1981.

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Aspekte wie Ortsbindung, etwa Heimat, gemeint, oder auch die Tendenz, vertraute Gegenden, Orte und Menschen aufzusuchen und dadurch Einsamkeit, Fremdheit und Verlassenheit zu überwinden. Die nächsthöhere Hierarchie bilden Bedürfnisse nach Achtung, Position und Status; der Wunsch nach einem guten Ruf, nach Wertschätzung in den Augen relevanter Anderer. Die höchste Form in dieser Hierarchie bilden Bedürfnisse nach Selbstachtung, Selbstverwirklichung und Selbsterfüllung, so etwa der künstlerische Selbstausdruck oder die Rezeption künstlerischer Objekte. Die elementaren Bedürfnisse aller menschlichen Wesen, so Maslow, zeigen keine so große Varianz wie ihre bewussten alltäglichen Wünsche; verschiedene Kulturen haben dabei verschiedene Wege zur Befriedigung eines Bedürfnisses gefunden. Maslow macht das am folgenden Beispiel klar: Wir würden nie ein Verlangen danach haben, Musik zu komponieren oder mathematische Rätsel zu lösen, wenn wir fast vor Hunger oder Durst sterben, d.h. wenn deutlich elementarere Bedürfnisse nicht befriedigt worden sind. Insofern hängt die Wahrscheinlichkeit eines Bedürfnisses, im Bewusstsein repräsentiert zu werden, von der Befriedigung darunter liegender Bedürfnisse ab. Mit Blick auf ZuwanderInnen lässt sich insofern festhalten: Solange ihre elementaren Sicherheitsbedürfnisse oder gesellschaftliche Anerkennung (wie etwa Aufenthalt, gesicherte Arbeit oder alltägliche anerkennende Wahrnehmung) nicht gesichert sind, ist – von Einzelfällen abgesehen – kaum an die Etablierung eines Kunstgeschmacks zu denken. Über die Befriedigung psychologischer Bedürfnisse hinaus ist des Weiteren an historisch-biographische Habitualisierungen des Kunstgeschmacks zu denken: Westliche Kunst- und Kulturerzeugnisse (insbesondere auch Musik) sind bspw. bei ZuwanderInnen nicht im Kanon ihrer klassischen schulischen Ausbildung gewesen. So sind bspw. Menschen in der Türkei, wenn überhaupt, in ihrer Biografie eher mit der türkischen Kunstmusik und Volksmusik aufgewachsen; und in Deutschland ist diese Traditionskette durch Migration unterbrochen worden. Und nicht zuletzt ist bei der Erklärung der geringeren Teilhabe von ZuwanderInnen die zentrale Frage zu stellen: Wie weit adressieren die Programme der etablierten, an der Hochkultur orientierten Einrichtungen die Bedürfnisse der ZuwanderInnen? Welche Stücke werden in den Theaterhäusern gezeigt, in den Museen ausgestellt, die an ihre Lebenswelt anknüpfen? »Wird hier auch meine Geschichte erzählt?«, wäre die zentrale Frage aus migrantischer Sicht.

Stereotype Darstellung von ZuwanderInnen und ihr Einfluss auf kulturelle Teilhabe

Auf der anderen Seite ist – aus Sicht von ZuwanderInnen – auch eine starke Ignoranz vorhandener künstlerisch-kultureller Praktiken seitens der Mehrheitsgesellschaft zu beobachten: Die Orientierung an der Hochkultur führt dazu, dass alles, was unterhalb dieses Radars liegt, weniger oder gar nicht wahrgenommen sowie weniger vom öffentlichen Kulturbetrieb gefördert wird und dadurch bspw. eine geringere Chance hat, Virtuosität auszubilden, insbesondere wenn es sich dabei um Praktiken handelt, die in ihrer künstlerischen Güte und Exzellenz nicht angemessen eingeschätzt werden können, so etwa die Fähigkeiten türkischer Saz-VirtuosInnen (Langhalslaute) oder außergewöhnlicher TänzerInnen (wie etwa beim Tanz Kolbastı) etc. Die Performance dieser Künste findet oft an Orten statt, in denen nur wenige Einheimische sind, so etwa bei türkischen Hochzeiten, im engen Freundeskreis etc. Dadurch bleibt der Bekanntheitsgrad dieser Kunstformen und der jeweiligen KünstlerInnen begrenzt.

2

Welche Rolle spielen stereotype Darstellungen in den Medien?

Wenn wir den öffentlichen Diskurs über Türkeistämmige in Deutschland anschauen, so werden wir vielfach ZeugInnen eines »Untergangsszenarios«: Die Jungen bzw. Männer werden oft in Kombination mit Gewalt, Devianz, Schulversagen, die Mädchen/Frauen oft mit Unterdrückung, Zwangsheirat und Unmündigkeit assoziiert dargestellt. Diese verzerrte Wahrnehmung der »Türken« geht auf eine lange Geschichte der Konstruktion von verzerrten Bildern zurück, die ihren Anfang vermutlich in den »Türkenkriegen« hatte, die sich aber in den letzten sechzig Jahren, also seit der Zuwanderung der Türkeistämmigen zu Beginn der 1960er Jahre (offiziell seit 1961) nach Deutschland nicht wesentlich geändert hat, gleichwohl es doch anzunehmen wäre, dass sich durch wechselseitige Wahrnehmung und alltäglichen Kontakt diese Zerrbilder normalisiert hätten. Nein, wir finden immer noch stereotype und unangemessene Darstellungen. Und wenn diese verzerrte Darstellung erst einmal bspw. auch in den Schulbüchern verankert ist, also sehr früh schon in der kognitiven Sozialisation das Individuum begleitet und einen essenziellen Bestandteil seiner Konstruktion der Welt bzw. des »Anderen« bildet, bleibt diese Fehlwahrnehmung weder folgenlos für das Individuum, noch folgenlos für Zugewanderte. Fragen wir uns selbstkritisch, woher gegenwärtig diese Vorstellungen entspringen, so sind diese selten Implikationen belastbarer eigener Erfahrun-

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gen, sondern vielfach Ergebnis ihrer medialen Darstellung. So zeigt bspw. eine Fülle von Inhaltsanalysen, dass Zugewanderte in den deutschen Medien überwiegend negativ oder recht verzerrt gezeigt werden. Deutlich häufiger tauchen sie in eher belasteten als in positiven Kontexten auf, so etwa als Kriminelle bzw. als Problemgruppen etc.7 Exemplarisch wurde bspw. schon vor einiger Zeit herausgearbeitet, als welche »Figuren« Zugewanderte (und hier in erster Linie Frauen) in der deutschen Presse am stärksten vertreten waren: Es zeigte sich bei dieser Analyse, dass die ersten Plätze von der Darstellung der Zuwanderin als »Opfer«, das unter Zwang steht, dem häusliche, staatliche oder religiöse Gewalt angetan wurde, sowie als »Integrationsbedürftige«, die einer speziellen Förderung bedarf, belegt wurden.8 Diese stereotype Sicht – die die Vielfalt der Lebensentwürfe von ZuwanderInnen nicht zur Kenntnis nimmt – beeinflusst auch unsere Haltung als KonsumentInnen gegenüber ZuwanderInnen. Denn gleichwohl Stereotype zwar die kognitive Dimension unserer Wahrnehmung des Anderen bilden, bleibt es vielfach nicht dabei, sondern diese Wahrnehmung berührt oft auch das Verhalten gegenüber dieser Gruppe: die Wahrscheinlichkeit ihrer sozialen Diskriminierung wird gesteigert; die Verweigerung/Erschwerung ihrer Teilhabe am sozialen, kulturellen und künstlerischen Leben wird erhöht. Und da die deutsche Bevölkerung kaum Ethnomedien, also Medien von und für ZuwanderInnen, im Alltag nutzt, sind die gängigen Mehrheitsmedien oft die einzige Informationsquelle über die mehr oder weniger dargestellte Vielfalt der Lebenswelten von MigrantInnen. Es gibt eine Vielzahl von sozialpsychologischen Studien, die zeigen, dass es eine kulturelle Übertragung von Stereotypen durch die Massenmedien gibt. Wird jemand Vorurteilen (in den Medien) ausgesetzt, so werden auch die persönlichen rassischen Vorurteile größer; und diese Vorurteile prägen weitestgehend unser Handeln und unser Denken9 . Was zeigt hingegen die außermediale Wirklichkeit? Die Migrationsforschung zeigt eindrücklich, dass die Heterogenität bzw. die Vielfalt von

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Vgl. H. Bonfadelli: Die Darstellung ethnischer Minderheiten in den Massenmedien, in: H. Bonfadelli & H. Moser (Hg.): Medien und Migration. Wiesbaden: V + S Verlag 2007, S. 95-116. Vgl. M. Lünenborg, K. Fritsche & A. Bach: Migrantinnen in den Medien. Darstellungen in der Presse und ihre Rezeption. Bielefeld: transcript 2011. Vgl. J. Bargh: Vor dem Denken. Wie das Unbewußte uns steuert. München: Droemer Verlag 2017.

Stereotype Darstellung von ZuwanderInnen und ihr Einfluss auf kulturelle Teilhabe

Lebensstilen, sprachlichen, religiösen Variationen innerhalb der ZuwanderInnen, aber auch innerhalb einer einzelnen Zuwanderergruppe, wie etwa der türkeistämmigen Bevölkerung, deutlich größer ist als in der deutschen Population10 . Die häufig vorgenommene naive Annahme einer Einheit von kultureller und ethnischer Identität zeigt sich als unangemessen; so lässt sich bspw. nicht verallgemeinernd einfach von »den Türken« reden: Denn Fremdzuschreibungen und Selbstzuschreibungen sind oft nicht deckungsgleich, so etwa, wenn ZuwanderInnen von Deutschen als »Türken« wahrgenommen werden, sie selber sich jedoch aus einer Innenperspektive als »Kurden« verstehen, oder Jugendliche, die hier geboren sind (manchmal sogar auch schon ihre Eltern), sich also vielfach als dazugehörig begreifen, aber doch ethnisiert bzw. zum »Anderen« gemacht werden. Zusammenfassend kann man sagen: Selbst- und Fremdbilder klaffen weit auseinander. So, wie sie gesehen werden, sehen sich ZuwanderInnen selbst nicht; und die einheimische Bevölkerung sieht vieles nicht, was ZuwanderInnen wiederum für ihr Selbstbild essenziell ist. Bei einer psychologischen Analyse lassen sich bei der Bildung von Stereotypen folgende kognitive Prozesse identifizieren: Zunächst sind Stereotype als ein Ergebnis der Bemühung zu verstehen, die Reizvielfalt der sozialen Umwelt zu ordnen und sie für den Einzelnen handhabbar zu machen. Dabei findet eine Kategorisierung statt, bei der ähnliche Dinge und Personen nicht mehr weiter differenziert, sondern als gleich betrachtet werden. Es findet also eine Reduktion der Komplexität statt. Ferner tritt eine kognitive Aufwandsersparnis auf; d.h. ein »Problem«, eine Zuordnung wird mittels Stereotype ohne viel Nachdenken gelöst: man »weiß« sofort, worum es geht und um wen es geht. Als zweiten Schritt findet bei Stereotypisierungen eine Generalisierung statt: Es wird also erwartet, dass sich Mitglieder einer Kategorie so verhalten bzw. dieselben Eigenschaften wie diejenigen zeigen, die man aus seinem bisherigen lebensweltlichen Kontext hatte; d.h. bspw. der Türke im Film entspricht dem Türken in meiner Nachbarschaft. Und zuletzt findet bei Prozessen der Stereotypbildung eine Akzentuierung statt, in der es zu einer Überschätzung der Ähnlichkeiten innerhalb einer

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Vgl. H.–H. Uslucan: Die Lebenswelten von (Türkeistämmigen) Zuwanderern: Von sinnvollen und negativen Kontakten zu Einheimischen. Der Bürger im Staat, 66, Heft 2-3, 2016, S. 150-157.

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Kategorie (z.B. zwischen den »Türken« oder den »Muslimen« etc.) sowie zu einer Überschätzung der Unterschiede zwischen den Kategorien (z.B. zwischen »Deutschen« und »Türken«) kommt11 , was letztlich zu einer Distanzmaximierung zwischen den Gruppen führt. Sie werden als einander unähnlicher und fremder wahrgenommen. Natürlich sind dies psychische Prozesse, die auch wirksam werden bei den Stereotypen von ZuwanderInnen die Mehrheitsgesellschaft betreffend und nicht nur der Mehrheit gegenüber ZuwanderInnen. Es ist kein Privileg der Mehrheitsgesellschaft, stereotype Bilder über Zugewanderte zu streuen; ZuwanderInnen haben nicht nur Stereotype über Einheimische, sondern auch über ihre eigene Herkunftsgruppe, wie es im nächsten Kapitel anhand von Medienschaffenden bzw. des Regisseurs des Films Wut deutlich werden wird.

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Exemplarische Beschreibung von Stereotypen am Beispiel des Films Wut

Beschreiben Einheimische Lebensverhältnisse von ZuwanderInnen in Medien bzw. Filmen, kann die eventuell verkürzte, vereinfachte und stereotypisierende Sicht auf Unkenntnis und Unvertrautheit zurückgeführt werden, was zwar die Darstellung nicht entschuldigt, aber zumindest verständlich macht. Doch diese Stereotypisierung endet nicht, wie man zunächst annehmen könnte, wenn integrationsrelevante Themen von RegisseurInnen/AutorInnen mit eigenem Migrationshintergrund bearbeitet werden. Hier ist bspw. – und auch in diesem Band – mehrfach auf den Film Gegen die Wand von Fatih Akın eingegangen worden, der äußerst repressive Erziehungsformen bei türkischmuslimischen Familien suggeriert, denen dann – mit der Volljährigkeit – mit exzesshaftem Ausleben unterdrückter Triebe begegnet wird. Sexuelle Unterdrückung der Frau – einer der Klassiker von Stereotypen gegenüber Türkinnen/Muslima – ist hier das Kernthema. Ich will jedoch im Folgenden auf die Darstellung eines männlichen Protagonisten eingehen, bei dem ein anderes – nicht minder zentrales – Stereotyp im Mittelpunkt steht: die Brutalität und Gewalt des türkischen (jungen) Mannes, am Beispiel des Films Wut von Züli Aladağ, einem türkeistämmigen

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Vgl. K. H. Stapf, W.Stroebe & K. Jonas: Amerikaner über Deutschland und die Deutschen. Urteile und Vorurteile. Opladen: Westdeutscher Verlag 1986.

Stereotype Darstellung von ZuwanderInnen und ihr Einfluss auf kulturelle Teilhabe

Regisseur. Der Film wurde 2005 gedreht und auch mehrfach ausgezeichnet (unter anderem mit dem Adolf-Grimme-Preis). Wir haben gerade in diesem Film eine Darstellung von deutsch-türkischen Lebensverhältnissen, die antagonistischer und kontrastierender nicht sein kann. Die Darstellung des türkischen Jungen und seiner Familie folgt sehr klaren Linien: Sie sind alle ästhetisch wenig ansprechend und der junge Mann, die Hauptfigur Can, erscheint oft ungepflegt. Er ist in seinen Verhaltensweisen recht eintönig und leicht berechenbar; er ist fast durchgehend aggressiv und hinterlistig; boshaft könnte man sagen: »Halt ein einfach gestrickter Türke«. Seine Familie wirkt archaisch und rückschrittlich. Man sieht einen brummigen, sprachlich einsilbigen Vater, eine Mutter, die servil ist und oft beim Teekochen und Servieren desselben gesehen wird. Ihre Wohnung wirkt heruntergekommen, so dass die Straße für den Jungen Can als der einzig probate Sozialisationsraum erscheint. Auf der anderen Seite erleben wir seinen deutschen Freund Felix, nicht wissend, wie die überhaupt eine Freundschaft haben schließen können: Ein smarter, ansehnlicher Junge aus einem gutbürgerlichen Elternhaus, der Cello spielt, der mit seiner ästhetisch sehr ansprechenden und verständigen Mutter (eine Immobilienmaklerin) in einem guten Dialog ist. Sein Vater ist ein angehender Literaturprofessor und sie wohnen in einem großen, schönen Einfamilienhaus mit einem eigenen Swimmingpool. Gleichwohl hier also die sozialen Hintergründe nicht extremer sein können und der Film eigentlich eine sozialkritische, jenseits von Migration und Integration die gesellschaftliche Ungleichheit anprangernde Perspektive bieten könnte, suggeriert er stets die Gewalt, die von Can ausgeht, als ein kulturelles bzw. ethnisch bedingtes Phänomen. Die Hauptbeschäftigung des türkischen Jungen Can wird als Drogendealen, andere Jungs »Abziehen« und Verprügeln dargestellt. Auch Felix ist gelegentlich sein Opfer; gleichwohl Felix hin und wieder bewundernd zu Can aufblickt. Can fällt nur mit Machosprüchen auf (»Schwuchtel«, »Opfer« etc.), hat sehr klare Vorstellungen von Geschlechterordnungen (»Männer haben was zu sagen und Frauen nicht«) und macht die angeblich egalitäre Geschlechterordnung in der Familie von Felix verächtlich. Es ist nicht allein die Darstellung des »Fremden« als »Gefahr, die hier irritiert, sondern die sehr schemenhafte und mit zwei bis drei Charakterzügen grobschlächtige Skizzierung der Hauptfigur. Als Can sich an einer Stelle mit mehr oder weniger Gewalt Zutritt zu Felix’ Wohnung verschafft (er passt ihn ab und geht mit ihm zusammen hin-

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ein), kommt es zu einem interessanten Wortwechsel, der als paradigmatisch für die Behandlung von ZuwanderInnen gedeutet werden kann. Can, mit einer Flasche Alkohol in der Hand, will die Schuhe zurückgeben, die er Felix »abgezogen« hat: »Bei uns Türken stößt man nach einem Streit an«. Darauf antwortet der Vater von Felix seinerseits: »Ich denke, bei euch Muslimen trinkt man nicht.« Can seinerseits brüllt ihn: »Was weißt du von Muslimen?« und lässt ahnen, dass das Gegenüber kaum Wissen über ihn, seine Herkunft, seine Lebensverhältnisse hat. Es findet zum einen eine Selbstethnisierung von Can (»Wir Türken«) und die Gleichsetzung von TürkInnen mit MuslimInnen statt; der Blick auf die Gruppe ist auf beiden Seiten totalisierend; das Individuum ist eine Marionette seiner Herkunft bzw. Religion. Zumindest könnte man aber hier von einem angehenden Germanistikprofessor erwarten, dass er zwischen Religion und ethnischer Herkunft differenzieren kann. Als die gewalttätigen Übergriffe von Can zunehmen und er insbesondere auch eine außereheliche Affäre des Professors mit einer seiner Studentinnen aufdeckt, steigert sich das Gewaltpotential des deutschen Vaters. Am Ende des Films dringt Can – als Rache für eine von Felix’ Vater erstattete Anzeige – in die Wohnung der deutschen Familie ein; und der sonst sehr elaborierte, eloquente, sich auf die Kraft des Wortes und des Geistes verlassende deutsche Vater bringt am Ende vor Wut und Verzweiflung diesen unausstehlichen türkischen Jungen um. Gleichwohl die Dramaturgie des Films gelungen ist und er als Spielfilm die ZuschauerInnen in seinen Bann zu ziehen vermag, ließe sich doch fragen, warum diese enorme Distanz zwischen »Deutschen« und »Türken« geschaffen wird? Als eine etwas ketzerische Deutung schlage ich Folgendes vor: Kunstschaffende mit Migrationshintergrund sehen sich genötigt, Exotismen zu bedienen, um Rang und Anerkennung in der mehrheitsgesellschaftlichen Kunst- und Kulturszene zu finden. Sie bedienen sich dabei der Extreme aus der vermeintlich eigenen »Kultur«, sind KronzeugInnen derer und daher der kritischen, skeptischen Nachfrage ob des Wahrheitsgehaltes enthoben. So können sie das Marginale in der eigenen Kultur als das Normale darstellen und haben sich gefälligst von den lediglich den Etablierten zustehenden allgemeinen Themen fernzuhalten. Türkischstämmigen ZuschauerInnen wird bei Filmen wie Wut und Gegen die Wand klar, dass diese keine repräsentative, geschweige denn in der Herkunftskultur akzeptierte Form des Umgangs mit Familie und sozialer Umwelt ist; doch dieses Bild ist für weniger Eingeweihte bestens geeignet, eventu-

Stereotype Darstellung von ZuwanderInnen und ihr Einfluss auf kulturelle Teilhabe

ell vorhandenes Halbwissen, das womöglich durch BILDerreiche Medien gespeist ist, zu komplettieren. Das ist das Einfallstor für Stereotype, die sich dann verfestigen und eine Art Wissensreservoir über die »Anderen« bilden. Daher erscheint es höchst problematisch, wenn solche Filme unkommentiert in Bildungskontexten bzw. Schulen eingesetzt werden. Denn Vorurteilsabbau setzt nicht nur Begegnung voraus, sondern insbesondere muss die Gruppe, der man begegnet, dem Stereotyp widersprechen12 . Der Soziologe Norbert Elias hat sehr schön gezeigt, dass Selbst- und Fremdwahrnehmungen stets von Machtasymmetrien gekennzeichnet sind13 : Wenn wir uns selbst mit dem eigenen Kollektiv, mit der eigenen Kultur identifizieren, ziehen wir die »besten« Exemplare als Identifikationsquelle heran; aber bei der Identifikation/Bezeichnung des Anderen wird auf die »schlechtesten« Exemplare seiner Herkunft rekurriert. Etwas vereinfacht gesprochen: In sich sieht »der Deutsche« einen Thomas Mann oder Goethe bzw. identifiziert sich mit ihm, sieht aber in »dem Polen« einen Autodieb. Der Film Wut folgt genau dieser Logik: Der höchst kultivierte Deutsche (Professor/modern) auf der einen Seite und der Türke, archaisch, zurückgeblieben und auf primitive Körperlichkeit reduziert auf der anderen Seite. Der »Türke« zieht am Ende so viel Wut auf sich, dass man auch als ZuschauerInnen wütend auf diesen frechen, grenzenlosen, sarkastischen und verachtenswerten Can ist, der es »schafft«, dass dieser höchst gebildete Mensch dermaßen regrediert, dass auch er seinen Ausweg nur noch in der brutalsten Form der Gewalt, und zwar der Tötung des Anderen, findet. Wenn wir künftig diesen Stereotypen entkommen wollen und Filme tatsächlich nicht nur uns in Spannung versetzen, sondern auch einen Bildungsauftrag implizieren sollen, dann scheint es unerlässlich zu sein, dass die gesamte Bandbreite der Kunst und Kultur der Zugewanderten als Teil des kollektiven Gedächtnisses in die gemeinsame Erinnerungskultur in Deutschland eingeht, und nicht nur ihre vermeintlich exotischen Anteile. Dies kann in erster Linie durch die Implementierung in das Curriculum in Schulen, Universitäten, aber auch in kulturellen Einrichtungen erfolgen, in denen jedoch die Konstruktion eines inkludierenden »Wir« im Vordergrund steht und keine Exotisierung des Anderen.

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Vgl. K. Jonas: Die Kontakthypothese: Abbau von Vorurteilen durch Kontakt mit Fremden, in: M. Oswald & U. Steinvorth (Hg.): Die offene Gesellschaft und ihre Fremden. Bern: Huber Verlag 1998, S. 129-154. Vgl. N. Elias, J. L. Scotson: Etablierte und Außenseiter. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2002.

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Hacı-Halil Uslucan

Literatur Allmanritter, Vera: Migranten als Publikum in öffentlichen deutschen Kulturinstitutionen. Der aktuelle Status Quo aus Sicht der Angebotsseite. Eine Untersuchung des Zentrums für Audience Development (ZAD) am Institut für Kultur- und Medienmanagement der Freien Universität Berlin. Berlin: Zentrum für Audience Development, 2009. Bargh, J.: Vor dem Denken. Wie das Unbewußte uns steuert. München: Droemer Verlag 2017. Bonfadelli, H.: Die Darstellung ethnischer Minderheiten in den Massenmedien, in: H. Bonfadelli & H. Moser (Hg.): Medien und Migration. Wiesbaden: V + S Verlag 2007, S. 95-116. Elias, N., Scotson, J. L.: Etablierte und Außenseiter. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2002. Jonas, K.: Die Kontakthypothese: Abbau von Vorurteilen durch Kontakt mit Fremden, in: M. Oswald & U. Steinvorth (Hg.): Die offene Gesellschaft und ihre Fremden. Bern: Huber Verlag 1998, S. 129-154. Lünenborg, M. Fritsche, K. & Bach, A.: Migrantinnen in den Medien. Darstellungen in der Presse und ihre Rezeption. Bielefeld: transcript 2011. Maslow, A. H.: Motivation und Persönlichkeit. Hamburg: Rowohlt 1981. Renz, Thomas: Nicht-Besucherforschung. Die Förderung kultureller Teilhabe durch Audience Development. Bielefeld: transcript 2015. Reuband, K.: Kulturelle Partizipation: Verbreitung, Struktur und Wandel. Eine Bestandsaufnahme auf der Basis repräsentativer Bevölkerungsumfragen für die Kulturpolitische Gesellschaft – Landeskulturbericht Nordrhein-Westfalen: Düsseldorf 2017. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration: Bewegte Zeiten: Rückblick auf die Integrations- und Migrationspolitik der letzten Jahre. Berlin 2019. Stapf, K. H., Stroebe, W. & Jonas, K.: Amerikaner über Deutschland und die Deutschen. Urteile und Vorurteile. Opladen: Westdeutscher Verlag 1986. Uslucan, H. – H.: Die Lebenswelten von (türkeistämmigen) Zuwanderern: Von sinnvollen und negativen Kontakten zu Einheimischen. Der Bürger im Staat, 66, Heft 2-3, 2016, S. 150-157.

Stereotype Darstellung von ZuwanderInnen und ihr Einfluss auf kulturelle Teilhabe

Film Wut (D, 2006, Züli Aladağ, 90 min.)

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Ermitteln ohne Türkisch und als »Kanake« beschimpft: Happy Birthday, Türke! (1992) Gudrun Marci-Boehncke

Abstract. One does not really know how to watch this film today: Doris Dörrie’s film Happy Birthday, Türke! from the 1990s based on Jakob Arjouni’s novel oscillates between German TV crime thriller in the style of Ein Fall für Zwei and modern soaps, between the »New German Cinema« and old classics of the well-known US-American film adaptations by Raymond Chandler’s private detective Philip Marlowe. Depending on one’s own media-cultural wealth of experience, one constructs parallels, sees ironic allusions and exaggerations. The plot itself supports this dual perspective as well as the cinematic style: Mise en Scène, setting sizes, constellations of figures and dialogues give a reason for this enigmatic reading of the film. Dörrie not only stages the original novel of Arjouni as an allusion to the US classic but also ironically transforms her cinematic adaptation in the style of the »New German Film« – which was already history in the 1990s. The cultural curiosity that the protagonist in both the novel and the film, the private detective Kemal Kayankaya, is constructed as a Turk without speaking Turkish himself, provides a supposedly humorous view of the cultural reality of the third generation of Turkish citizens in Germany at the latest. In the following article the film will be used as a starting point for excursions into various areas of (international) film and literary history. It should arouse the curiosity of »film readers« for literary and film historical knowledge by a detective figure in Frankfurt’s drug milieu who seems to be close to the intercultural rapper scene and youth culture. Besides, the contribution intends to problematize the artistic and scientific way of reproducing and dealing with cultural stereotypes.

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Gudrun Marci-Boehncke

1

Einleitung

Man weiß nicht so recht, wie man heute diesen Film anschauen soll: Zwischen TV-Krimi im Stil des Ein Fall für zwei und modernen Soaps, zwischen dem Neuen Deutschen Film und alten Klassikern der bekannten USamerikanischen Verfilmungen von Raymond Chandlers Privatdetektiv Philip Marlowe oszilliert der Film von Doris Dörrie aus den 1990er Jahren, basierend auf Jakob Arjounis 1985 erschienenen Roman Happy Birthday, Türke! Je nach eigenem medienkulturellem Erfahrungsschatz konstruiert man Parallelen, sieht ironische Anspielungen und Überzeichnungen. Der Plot selbst unterstützt diese Perspektive ebenso wie die filmische Machart: Mise en Scène, Einstellungsgrößen, Figurenkonstellationen und Dialoge geben begründeten Anlass für diese doppelte filmische Lesart. Dörrie inszeniert dabei die Vorlage eben nicht nur als Anspielung auf den US-Klassiker, sondern überformt dessen Verfilmungen ironisierend im Stil des Neuen Deutschen Films – der bereits in den 1990er Jahren Geschichte war. Die kulturelle Kuriosität, dass der Protagonist im Roman wie im Film, der Privatdetektiv Kemal Kayankaya, als Türke gedeutet wird, ohne selbst türkisch zu sprechen, gibt dabei einen vermeintlich humoristischen Ausblick auf die kulturelle Wirklichkeit spätestens der dritten Generation türkischer MitbürgerInnen in Deutschland. Im folgenden Beitrag sollen ausgehend vom Film Exkurse in verschiedene Bereiche der (internationalen) Film- und Literatur-Geschichte geführt werden, die »Filmlesende« auf literatur- und filmhistorisches Wissen über eine gerade heute, nicht nur angesichts der interkulturellen Rapper-Szene, auch als jugendkulturelle Identifikationsfigur gezeichnete Detektivfigur im Frankfurter Drogenmilieu neugierig machen soll.

2

Vom Buch zum Film

Der Krimi Happy Birthday, Türke! ist das Erstlingswerk des deutschen Schriftstellers Jakob Arjouni, eigentlich Jacob Benjamin Bothe, Sohn des Dramatikers Hans Günter Michelsen, dessen Texte mit denen Gerhard Hauptmanns und Samuel Becketts verglichen werden. Arjouni lässt die Lesenden unterschiedlicher Erfahrung »irritiert« zurück: Die einen, weil sie in Arjounis Text eine gelungene Inszenierung der gesuchten Irritation wie im »third space«1 1

Homi K. Bhabha: The Location of Culture. London. New York: Routledge 1994, S. 37.

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oder »dritten Raum« entdecken2 , die anderen, weil sie hier eine institutionelle Irritation erfahren: Dieser Text war Schullektüre seit Anfang der 2000er Jahre und hat als solcher in Blogs – wie auch immer diese Notierungen motiviert waren – Spuren hinterlassen, wie die von »suessemaus« am 12.12.2004 um 12:15:27 auf krimi-couch.de: […] [W]ir haben dieses Buch in der Schule gelesen, es war auch interessant, doch für die eigentlich normale Schulsprache war dieses Buch nicht geeignet. […] es war trotz allem sehr interessant für uns, das Buch zu lesen.3 Statt elaborierter Sprache und komplexer Versmaße von Goethe und Schiller findet man hier jetzt plötzlich hessischen Dialekt und derbe Schilderungen aus dem Drogen- und Rotlichtmilieu der Main-Metropole. Den meisten SchülerInnen zwischen 9. Klasse und Oberstufe scheint es gefallen zu haben. Schreiber Henrik P. attestiert dem Buch sogar seine Anerkennung jenseits der Lektürepflicht – ein hohes Schülerlob: »Ich muss wirklich sagen: Ich würde das Buch auch irgendwann lesen, wenn wir es nicht in der Schule lesen müssten!!!«4 Subversiv ist dieser Text, provokant – und eine Eulenspiegelei, und zwar nicht nur die Schriftfassung von Arjouni, dessen Name sich anhört, als sei er »Ausländer«, aber der in Wirklichkeit jemand ist, der den Namen seiner marokkanischen Frau angenommen hat5 . Auch die Adaption von Doris Dörrie von 1992, zwei Jahre nach der deutschen Einigung, wollte irritieren – und ihr Film verdient 28 Jahre nach seiner Entstehung eine neue Betrachtung. In der Zeitversetztheit schockiert der Film heute noch viel stärker als die Buchlektüre, denn er dekuvriert – wenn auch in der Überzeichnung – die fremdenfeindliche Kleinbürgerlichkeit und Kriminalität sogar innerhalb deutscher Behörden und macht damit nachdenklich in Bezug auf viele Ereignisse auch in Zeiten der Kriegsmigration nach 2015. Film als Medium zur politischen Meinungsbildung war und ist von großer Bedeutung: natürlich in medial verfassten Demokratien, aber vor allem und genau dort in indoktrinatorischer Absicht unter den Bedingungen diktatorischer Regimes. Ob die Filmpropaganda unter den Nationalsozialisten und 2 3 4 5

Vgl. Thorben Päthe: Vom Gastarbeiter zum Kanaken. Zur Frage der Identität in der deutschen Gegenwartsliteratur. München: Iudicium Verlag 2013, S. 94. https://www.krimi-couch.de/titel/741-happy-birthday-tuerke/ Vgl. https://www.krimi-couch.de/titel/741-happy-birthday-tuerke/ Vgl. Spiegel (2013): Gestorben [Nachruf auf Jakob Arjouni]. Der Spiegel, 4/2013, 21.3.2013. Online: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-90638355.html

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ihrem Minister Joseph Goebbels, der damit ein ideales Mittel zur Emotionalisierung und ideologischen Beeinflussung des Volkes sah6 , oder die sozialistisch-kommunistischen Produktionen unter anfangs vor allem sowjetischer Prägung vom Panzerkreuzer Potemkin (1925) bis zu den DDR-Filmproduktionen Die Legende von Paul und Paula (1973) oder Spur der Steine (1966), wobei letzterer zumindest als systemstabilisierend gedacht war, dann aber nicht zuletzt aufgrund der Schauspielkunst eines Manfred Krug unter Verschluss geriet. Aber auch US-amerikanische Actionfilme wie Top Gun (1986) oder die Verfilmung von Betty Mahmoodys irankritischem Melodram Nicht ohne meine Tochter (1991) lassen sich bequem als Instrumente der politisch-ideologischen Beeinflussung verstehen. Als Filme erreichen sie breitere Rezeption als vergleichbare Lektüren, die kollektive Produktion scheint für den naiven Betrachtenden zunächst eine Multiperspektivität wahrscheinlicher zu machen7 . Dennoch erfolgt gerade in unserer visuellen Kultur über die Leinwände bzw. Plasmabildschirme der Zugang zur Meinungsbildung fast unbemerkt. Die »öffentliche Kommunikation«, die solche Medien anzubieten vorgeben, bleibt häufig eine Einbahnstraße der Rezeption. Netflix, Amazon Prime und andere Portale erreichen ihre ökonomischen Interessen dabei aber immer über inhaltliche Angebote. Sie mögen hier vielfältige Positionen bedienen – im grundsätzlich nachfrageorientierten Kapitalismus ermöglichen diese Zugangsmöglichkeiten jedoch eine vermeintliche Egalität aller Optionen. Die ökonomische Basis für einen medialen Naturzustand – wie er gesellschaftlich in Filmen wie The Purge bereits entworfen wird – ist filmisch leichter zu legen als mit literarischen Texten – und mögen sie noch so umgangssprachlich geschrieben sein. Dörries Film von 1992 gehört nur oberflächlich zur leichten Unterhaltungskost. Die Covergestaltung der DVD von 2005 inszeniert den Verweis auf das Türkische prominent: zum einen durch das Wort »Türke« in dominant gelber Schrift, zum anderen durch den Mondstern und das Konterfei des deutschen Schauspielers Hansa Czypionka, der für diese Rolle 1991 den Bayerischen Filmpreis als »bester Nachwuchsdarsteller« erhalten hat und heute jugendliche Rezipienten an Elyas M’Barek denken lässt. Dunkle Haare, dunkle Augen und Brauen, mit vorgehaltener Pistole zielt er auf den Betrachter. Das

6 7

Vgl. Gerd Albrecht: Nationalsozialistische Filmpolitik. Eine soziologische Untersuchung über die Spielfilme des Dritten Reiches. Stuttgart: Enke 1969. Vgl. Thomas Wiedemann: Filmregisseurinnen und Filmregisseure in Deutschland. Strukturen und Logik eines heteronomen Berufsfeldes. Publizistik 2019, 64, S. 208. https://doi.org/10.1007/s11616-019-00501-6.

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überbelichtete Portrait des Privatdetektivs Kemal Kanankaya, den Cypionka hier verkörpert, erinnert in historischer Perspektive allerdings auch an die Tatort-Serie, in der Cypionka selbst häufig auftritt, als auch an internationale Filmhelden der 1940er und 1950er Jahre von Humphrey Bogart über Elvis Presley bis zu Horst Buchholz.

Abb. 1: C over Happy Birthday, Türke! (2005)

Ist es Zufall, dass wir auf dem Cover die Farben schwarz-rot-gold finden sowie eine Mondsichel? Allerdings entsprechen die Maße der Mondsichel nicht denen auf der offiziellen türkischen Flagge, die nicht frei genutzt werden. Der Mond ist schmaler und leicht nach links geneigt, die Proportionen sind verändert. Und auch der Stern steht in anderer Position. Rot und weiß erinnern an die türkische Flagge, das Blau, wenn man mit der Symbolik der Heraldik argumentiert, lehnt sich an die Europa-Farbe »Pantone Reflex

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Blue« an. Und irgendwie ist natürlich ein gelber Stern, wie der Stern neben der Mondsichel gezeichnet ist, auch eine Erinnerung an den Stern, den die Nationalsozialisten den Juden aufgezwungen haben zu tragen – auch wenn dieser hier nicht sechszackig ist wie der Davidstern. Filme und ihre Sprache – bis hin in die Vermarktung – sind kein Zufall. Sie wollen und sollen zur Interpretation durch die Rezipierenden anregen und stellen selbst Interpretationen dar. Ohne Anspruch auf eine feste Bedeutung bieten sie zusätzliche Leerstellen jenseits des Plots in den Bildern und in der Musik – sowohl im Symbolsystem (also der Geschichte selbst) als auch im Handlungssystem (zu dem auch die Vermarktung gehört). Dörries Film bietet viel davon – und weil es sich fast schon um einen historischen Film handelt, sollen im Folgenden einige mögliche Verweise entfaltet werden, die Zuschauenden heute eine distanzierte, aber hoffentlich auch gewinnbringende Rezeption ermöglichen können, die über eine realitätsnahe Bebilderung der Krimivorlage Arjounis hinaus gehen. Schauen wir dazu zunächst auf die Regisseurin Doris Dörrie, die auch auf der Rückseite der DVD mit Verweis auf den Film, der sie berühmt machte, vorgestellt wird: Männer, mit dem sie 1985 bekannt und erfolgreich wurde. Gespielt von Heiner Lauterbach und Uwe Ochsenknecht, wurden stereotyp agierende »Männer« in der Komödie in ihrer Selbstherrlichkeit und Eitelkeit dekuvriert, mit der sie als ganz unterschiedliche Typen die Dominanz in einer heterosexuellen Beziehung beanspruchen. Zusammen mit Grönemeyers Song Männer von 1984 begleitete dieser Film populärkulturell eine kritischere Betrachtung der Geschlechterverhältnisse in weiten Bereichen der deutschen Gesellschaft und Wissenschaft8 . Dörrie selbst prägt der Kampf um die Gleichberechtigung als Frau auch in der Filmbranche9 . »Filmemacherinnen in Deutschland sind unterrepräsentiert, erhalten geringere Fördersummen, arbeiten mit niedrigeren Budgets und müssen sich mit kleineren Filmstarts begnügen«10 .

8 9

10

Ilse Lenz: Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Wiesbaden: Springer VS 2010. Elizabeth Prommer & Skadi Loist (2015): Wer dreht deutsche Kinofilme? Rostock: Institut für Medienforschung der Universität Rostock. www.filmfestival-studien.de/wpcontent/uploads/Gender-Report-Deutscher_Kinofilm_2015_01.pdf. Thomas Wiedemann: Filmregiesseurinnen und Filmregisseure in Deutschland. Strukturen und Logik eines heteronemen Berufsfeldes. Publizistik, 64, 2019, S. 205-223, hier S. 217, https://doi.org/10.1007/s11616-019-00501-6.

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Dörries Filme, von Männer (1985) über Keiner liebt mich (1994) bis zu Bin ich schön? (1998) spitzen das Thema der Geschlechterverhältnisse immer wieder zu – von der Komödie bis zum Drama mit bestenfalls tragikomischen Zügen. Sie schreibt und erzählt episodisch, viele Schnipsel lassen eine oft groteske Collage entstehen, die sich gegen eine vereindeutigende Lesart sperrt. Dieses Erzählprinzip wendet sie auch bei ihrem Film, basierend auf Arjounis Kriminalroman, an. Das Großstadtmilieu der Frankfurter Metropole greift sie offensichtlich mit filmischem Vergnügen auf, Bilder von Hochhaussiedlungen und Autobahnen, von Wegen durch Rotlicht-Milieu und Altbauwohnungen machen die Nähe zum expressionistischen Film ebenso wie zum »Neuen Deutschen Film« deutlich. Aber anders als Wenders in seinem Großstadtfilm Himmel über Berlin (1987) bricht Dörrie immer wieder aus in die Komödie. Die Vorlage Arjounis fordert dies auch, aber es entspricht offensichtlich ihrer präferierten Erzählform. So ist es denn weniger der Krimi, auf den sich die folgenden Betrachtungen konzentrieren, sondern die komödienhafte, bis ins Groteske überzeichnete Darstellung von absurden gesellschaftlichen Machtverhältnissen – wie eben die der Geschlechter in Männer. In diesem Fall aber geht es auch um kulturelle Verhältnisse. Beide Perspektiven sind heute genauso aktuell wie vor knapp 30 Jahren.

3

Happy Birthday, Türke! Diskurse über Sprache, Kultur und Identität

In Arjounis Text geht es um den Privatdetektiv Kemal Kayankaya, der zwar im Buch als Kind türkischer Eltern gezeichnet wird, aber seine Mutter bei seiner Geburt in der Türkei verloren hat und den Vater wenige Jahre später bei einem Unfall als Mitarbeiter in den städtischen Abfallbetrieben in Frankfurt. Er wurde nach einer Zeit im Kinderheim von einer deutschen Familie adoptiert, Vater Lehrer, Mutter Erzieherin, und er hatte einen ebenfalls adoptierten Bruder. Wichtig: Er »erhielt die deutsche Staatsbürgerschaft«11 . Mit mittelmäßigem Abitur begann er ein Studium, das er jedoch nicht zu Ende

11

Jakob Arjouni: Happy Birthday, Türke! Hamburg: Buntbuch-Verlag 1985, zitiert nach 31. Aufl. 2012, Zürich: Diogenes Verlag 2012, S. 10.

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führte, danach besuchte er die Polizeischule, die er aber ebenfalls nicht beendete, und machte sich danach als Privatdetektiv selbstständig. An dieser fiktionalisierten bürgerlich-mittelständischen Biographie ist vor allem auffällig ist, dass Kemal Kayankaya kein Türkisch spricht, gleichzeitig aber seinen türkischen Namen behalten hat, obwohl er adoptiert wurde und seine deutschen Eltern »Holzheim« genannt wurden. Diese Informationen bekommt der Zuschauer des Films ähnlich, die Adoption wird zur »Pflegefamilie«. Zusätzlich kommentiert Kemal noch sein Aussehen: »Das einzig Türkische ist mein Gesicht«. Sozialisation, Enkulturation und Personalisation gehören zu den zentralen Aufgaben in der Entwicklung eines Menschen vom Kind zum Erwachsenen12 . Vor allem der Spracherwerb entscheidet dabei über die kulturelle Zugehörigkeit13 . Die Figur des Privatdetektivs Kemal Kayankaya hat nur in ihrer äußeren Erscheinung türkische Wurzeln. Er entstammt zwar einer türkischen Elternschaft, aber seine Enkulturation scheint dominant Deutsch zu sein – nicht ganz stimmig und bis zum Tod seines Vaters im Alter von drei Jahren muss Kemal Türkisch gehört haben, denn es ist unwahrscheinlich, dass sein Vater als Türke der ersten Migrationsgeneration mit ihm bereits fließend Deutsch gesprochen hat. Primäre Spracherfahrungen müsste bei einer realistisch gestalteten Figur der junge Kemal also auf Türkisch gemacht haben – nicht so, dass er sich als erwachsener Mann unbedingt noch an alles erinnert, aber zumindest mit Grundkenntnissen. Denn im Alter von drei Jahren können Kinder i.d.R. bereits in vollständigen Sätzen sprechen. Seltsam ist an der Konstruktion der Adoption, dass die deutschen Adoptiveltern ihm nicht ihren deutschen Nachnamen gegeben haben. Mit den äußeren Insignien des »Ausländers« – Name und Aussehen – und ohne die dazugehörigen kulturellen Kompetenzen durchkreuzt Kemal die Erwartungen der nicht nur ausländerfeindlichen, sondern auch selbst türkischen MitbürgerInnen der Geschichte. Der Text ist deshalb heute besonders interessant, weil wir inzwischen viele Menschen in Deutschland haben, deren Vorfahren irgendwann aus anderen Ländern kamen, die aber selbst in der dritten oder vierten Generation in

12

13

Vgl. Gerhard Wurzbacher: Sozialisation, Enkulturation, Personalisation, in: Wurzbacher, Gerhard (Hg.): Sozialisation und Personalisation. Beiträge zu Begriff und Theorie der Sozialisation. 3. erw. Aufl. Stuttgart: Enke 1968, S. 1-36. Vgl. Jürgen Raithel, Bernd Dollinger & Georg Hörmann: Einführung Pädagogik. Begriffe, Strömungen, Klassiker, Fachrichtungen. Wiesbaden: Springer VS 2009, S. 59.

Ein Kult-Krimi mit kulturellen Stereotypen

unserer Gesellschaft leben und sprachlich wie kulturell in den familialen Herkunftsländern nicht mehr zurecht kämen. Ihre kulturelle Identität wird mit »Transmigration« beschrieben14 . Die diskriminierende Behandlung, ja, sogar Verfolgung dieser MitbürgerInnen durch einzelne radikalisierte Gruppen – wie kürzlich erst beim Politiker Cem Özdemir bekannt geworden – erfolgt genau auf der Basis dieser Argumentation: Aussehen und Name reichen, damit rechtfertigt sich Rassismus. Die deutsche Rechtsprechung bietet dabei bis heute unterschiedliche Rechte für Menschen mit langer familialer Herkunft in Deutschland und solchen, die »nur« die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen15 . »Das Fundament des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts ist das Abstammungsprinzip«16 . Die humoristische Erzählweise kaschiert, dass bei Kemal nicht im Fehlen der »Voraussetzungen« das Besondere liegt, was die Situation komisch macht, sondern dass Rassismus nie gerechtfertigt sein kann. Kemal lernt türkisch erst über das deutsch-türkische Wörterbuch und ein Audiosprachprogramm sprechen, das seine türkische Klientin ihm schenkt. »Privatdetektiv war ich seit drei Jahren, Türke von Geburt«, lässt Arjouni17 seinen Ich-Erzähler Kayankaya im Roman kommentieren. Das erste, der Beruf als Privatdetektiv, ist Ergebnis seiner Sozialisation nach Abitur und abgebrochener Polizeischule, das andere kein Ergebnis aktiver Kulturvermittlung, sondern »genetisch« bedingt – im Text erscheint es fast wie die Beschreibung einer physischen Besonderheit. Und so lässt ihn Dörrie seine Identität beschreiben als: »Das einzig Türkische ist mein Gesicht« – damit vertritt Kayankaya selbst ein rassistisches Dispositiv18 . Dörrie hat in ihrem Vorspann, der als eine Art Ouvertüre wesentliche Elemente des Films verdichtet vorstellt, die Figur charakterlich etwas erweitert.

14

15 16 17 18

Vgl. Annette Treibel: Von der exotischen Person zur gesellschaftlichen Normalität, in: Hentges. Gudrun/Hinnekamp, Volker/Zwengel, Almut (Hg.): Migrations- und Integrationsforschung in der Diskussion. 2. Aktualisierte Auflage. Wiesbaden: Springer VS 2010, S. 143-166. Nanna Heidenreich: V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration. Bielefeld: transcript 2015, S. 23-61. Ebd. S. 44. Jakob Arjouni: Happy Birthday, Türke! Hamburg: Buntbuch-Verlag 1985, zitiert nach 31. Aufl. 2012, Zürich: Diogenes Verlag 2012, S. 9. Vgl. Margarete Jäger & Siegfried Jäger: Das Dispositive des Institutionellen Rassismus. Eine diskurstheoretische Annäherung an einen umstrittenen Begriff, in Jäger, Margarete, & Jäger, Siegfried, Deutungskämpfe. Theorie und Praxis Kritischer Diskursanalyse. Wiesbaden: Springer 2007, S. 95-108.

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In fünf verschiedenen kleinen Episoden – im Treppenhaus von Kemals Wohnung, in seinem Schlafzimmer, wieder im Treppenhaus, dann im Aufzug und auf der Fahrt zum Büro – wird nicht nur der Heldentypus des Detektivs ein wenig in Richtung des charmanten Vorbilds Philip Marlowe erweitert, sondern auch die skurrile Doppelbödigkeit der Story angedeutet: Zunächst ermittelt der hessische Hausmeister im Treppenhaus und sucht den Beschmutzer des Bodens, den er in Kemal Kayankaya zu finden glaubt. Die filmisch als Indizienüberführung inszenierte Detektion charakterisiert bereits den vorurteilsvollen Diskurs, der sich in vielen folgenden Szenen zwischen Kayankaya und deutschen Ordnungshütern amtlicher oder selbsternannter Art fortsetzen wird und ironisiert das Krimimotiv der Geschichte. •





• •

Die zweite Szene während des Vorspanns zeigt Kayankayas unaufgeräumte Wohnung, die eine blonde Frau nach offensichtlich gemeinsam verbrachter Nacht am Morgen verlässt. Sie findet beim Anziehen seinen Revolver, wirft ihn in die Wäschetonne und wünscht seinem Besitzer im Aufbruch noch »Alles Gute zum Geburtstag!«, während sie sich gleichzeitig eine Tablette einwirft. An der Wand des Zimmers zeigt die Kamera ein Bild eines türkischen Mannes, bei dem es sich offensichtlich aber nicht um den nächtlichen Abenteurer und Wohnungsmieter handelt. Diese Mise en Scène erlaubt es Dörrie, ihrem Kayankaya doch Reste türkischer Wohnkultur zu unterstellen – nicht ganz stimmig. Als Kayankaya schließlich aufgestanden und angezogen in Szene drei die Wohnung verlässt, stellt ihn der Hausmeister und ruft ihm auf Hessisch Anschuldigungen hinterher, die Kemal ebenfalls wenig freundlich – aber dafür in akzentfreiem Deutsch – erwidert, wofür er sich im Aufzug, den er betritt, bei der dort mitfahrenden älteren Dame entschuldigt. Diese – und hier wird es nun Bond-mäßig absurd – wird von ihm um Feuer für seine Zigarette gebeten und sie entzündet ein Feuerzeug aus ihrer Armbanduhr. Rauchend fährt Kemal aus seiner Hochhaussiedlung bei Frankfurt weg und öffnet eine Bierflasche. Das Verhalten des Detektivs weist sprachlich und sozial zwar eine Bandbreite auf, die anderen Figuren agieren aber nur als Stereotype. Kayankaya kann sich verschiedener Register bedienen, er kann sowohl elaboriert als auch vulgär kommunizieren. Im Verlauf der Geschichte erleben

Ein Kult-Krimi mit kulturellen Stereotypen

ihn die Zuschauenden auch in inszenierter »Kanak Sprak«19 oder distinguiert als vermeintlich türkischer Botschafter. Er hat dazu nicht nur das sprachliche, sondern auch das verhaltensmäßige Repertoire. Er verkörpert jedoch keinesfalls Recht und Gesetz oder das moralisch Gute. Seine sexistische Haltung gegenüber seiner Klientin, die ihn mit einem türkischen Geburtstagsessen bekocht, zeigt ihn als selbstgefälligen Macho. Als Iter Hamul, die Klientin, ihm die Bedeutung seines Namens übersetzt – »Kemal heißt »Die Vollkommenheit« – kommentiert er, dass er dazu nur in den Spiegel zu schauen brauche, um das zu wissen. Während sie in seiner Wohnung kocht, schaut er fern und er schickt sie rüde aus dem Bild, als sie das Essen bringt. Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Vorteilsnahme, Bestechlichkeit, Rechtsbeugung – der Film wie das Buch haben alles zu bieten. Türkische Figuren können kleinbürgerlich (der Bruder von Iter ist Koch im hessischen Rundfunk) und korrupt sein (ihr Mann und ihr Vater waren in Drogenhandel und Prostitution verwickelt), oder anfällig (die Schwester Aishe ist selbst drogensüchtig), aber eben auch ehrlich und fürsorglich (Iter). Türkisch-Sein bedingt keine grundsätzlich andere Moral. Es scheint sich eben nicht zu bestätigen, was Iter vermutet, als sie sagt: »Ich dachte, sie wären Türke und verstehen mich!« Verständnis sieht auch sie ethnisch bedingt. Parallel zu den türkischen Figuren der Familie Hamul bleiben auch die nicht-türkischen Figuren Klischees und dies milieuunabhängig – egal, ob im Rotlicht- und Drogenviertel, als Hausmeister und vor allem in allen Chargen der Polizei bis hinauf zum Staatsanwalt. Die Behandlung, die Kemal erfährt, soll literarisch deshalb »komisch« sein, weil sie auf ihn gar nicht passt. Es gibt keinen Grund, mit ihm nicht normale deutsche Alltagssprache zu sprechen und ihn als Kunden wie jeden anderen zu behandeln – ob auf der Polizeiwache, im Restaurant oder im Rotlichtbezirk. Die Sprüche, mit denen Kemal durch sein Umfeld konfrontiert wird, sind derart entwürdigend und rassistisch, dass sich das Lachen der Rezipierenden bestenfalls aus Fremdscham und Entsetzen speist.

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Vgl. Feridun Zaimoğlu: Kanak Sprak – 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Hamburg: Rotbuch 1995.

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Das verwendete Dispositiv des impliziten Autors20 ist Rassismus – es bleibt nicht bei Ausländerfeindlichkeit. »Ausländer in Deutschland sind alle Nicht-Deutschen.«21 Die meisten »Nicht-Expert(inn)en«22 operieren hingegen »terminologisch mit einer anderen Definition. Für sie ist der Pass nachrangig und so etwas wie die ›Erscheinung‹ vorrangig. Und diese Erscheinung muss fremd sein, damit jemand zur Ausländerin oder zum Ausländer erklärt wird.«23 Auch der Erzähler selbst entpuppt sich im Buch als Chauvinist. Bei Dörrie kann im Film diese Erzählhaltung distanziert und verändert werden, weil die Kamera eben nicht nur aus dem Blick Kemals aufzeichnet, sondern den Rezipierenden eine kritische Betrachtung des türkischen Protagonisten ermöglicht. Die Erscheinung der türkischen Klientin Frau Hamul etwa wird im Buch mit »etwas Schwarzes huschte herein« beschrieben. Dörrie wählt eine selbstbewusste, attraktive Darstellerin mittleren Alters (Özay Fecht) für die Rolle, bei der sich eine solche Interpretation nicht plausibilisieren lässt.

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Türkische Figuren in Doris Dörries Verfilmung Happy Birthday, Türke! nach einem Roman von Jakob Arjouni – Resümee einer schwierigen Rezeption

Ein deutscher Autor mit einem mittelhochdeutschen Berufsnamen als Familiennamen legt sich ein nordafrikanisch, vielleicht arabisch oder mit dem Vornamen Jakob vielleicht sogar jüdisch anmutendes Pseudonym zu, das bei den LeserInnen seiner Kayankaya-Krimis auch einen zumindest nicht-deutschen »impliziten Autor« konstruieren lässt. Als solcher darf er, was andere Autoren nicht so einfach können: ironisierend rassistisch schreiben. Gerade darüber, was für wen sagbar oder unsagbar ist, gibt es noch heute politisch sehr ambivalente Debatten. Hier im Text scheut ein Autor nicht vor der Darstellung eines ungeheuerlichen Rassismus gegen Menschen mit wirklichem 20 21

22 23

Vgl. Mario Gotterbarm: Impliziter Autor, Intention und narrative Persuasion. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 49, 2019, S. 89-105. Annette Treibel: Von der exotischen Person zur gesellschaftlichen Normalität, in: Hentges, Gudrun/Hinnekamp, Volker/Zwengel, Almut (Hg.): Migrations- und Integrationsforschung in der Diskussion. 2. Aktualisierte Auflage. Wiesbaden: Springer VS 2010, S. 157. Ebd. Ebd.

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oder vermeintlichem Migrationshintergrund zurück – ja, kritisch gemeint, aber vermeintlich witzig. Ein Rassismus, der seine literarische Parallele auf niedrigster Stufe bei Minderheitenwitzen hat, literarisch anspruchsvoller in Texten von Gustav Freytag (Soll und Haben), Wilhelm Raabe (Der Hungerpastor) oder noch weit übleren Texten, wahren Hetzschriften wie Die Sünde wider das Blut von Artur Dinter oder die Protokolle der Weisen von Zion. Da Arjouni als Autor jedoch in Wirklichkeit eben kein Migrant ist, kann seine Verkleidungskunst auch selbst als Rassismus bezeichnet werden, wie dies Teraoka (1999) sehr zugespitzt formuliert: The real problem is not identity per se, but rather the rigid way in which it is understood: the issue is not Arjouni (or Kayankaya) being German or Turkish, but the habit of thought that conceives of identity according to categories presented as mutually exclusive. This issue is not identity but, in a word, racism.24 Bei Jakob Arjounis Witz werden die Rezipierenden nachsichtiger sein als bei Jacob Bothe. Die Verquickungen scheinen unauflöslich. Was darf in Bezug auf Rassismus literarisch geäußert werden? Wem gegenüber darf es geäußert werden? Und wer sind Täter, wer die Opfer? Welche Rolle spielt die Position der Erzählenden, der realen AutorInnen, der impliziten AutorInnen? Wäre der Rassismus akzeptabler gewesen, wenn Kemal Kayankaya nun kein Deutscher gewesen wäre? Wird man dann so was »wohl noch sagen dürfen«25 ? Wie viel Anti-Political-Correctness dürfen sich SchriftstellerInnen und Comedians leisten? Wo wird die Freiheit der Demokratie überstrapaziert? Das Buch und der Film sind aktuell, weil sie literarische Beispiele für eine derzeit wieder stattfindende gesellschaftliche Debatte darstellen. Aber sie sind beide kompliziert in der angemessenen Rezeption – und die Autorin dieses Beitrags vermag keine verallgemeinernde Empfehlung für oder gegen Text und Film zu geben. Sie sind beide nicht so eindimensional, wie sie häufig diskutiert werden. Es genügt nicht, nur den Krimi zu betrachten, Arjounis Figur mit Philip Marlowe zu vergleichen und in Stammtischmanier die Ironie schenkelklopfend lachend zu gratifizieren. Natürlich gibt es Unterschiede

24 25

Alerne A.Teraoka: Detecting Ethnicity. Jakob Arjouni and the Case of the Missing German Detective Novel. The German Quarterly, 72(3), 1999, S. 265-289. Vgl. Leoni Linek, Lilian Hümmler & Sandra Čajić: »Das wird man doch wohl noch sagen dürfen!« Zum Stand der Anti-Political Correctness Bewegung in Deutschland. Feministische Studien, 36(2), 2018, S. 416-420.

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zwischen dem, was rechtlich erlaubt ist, und dem, was sich moralisch gehört. Und es gibt viele, die sich gerade heute gegen moralische Bevormundung wehren. Privat kann man keine Lektüren verbieten, die Nachfrage regelt das Angebot und die Satire darf alles. Aber die Satire als solche zu erkennen, setzt kritische Dispositive voraus – was keine Selbstverständlichkeit darstellt. Sonst kann Satirisches affirmativ verstanden werden und seine Intention verfehlen. Letztlich ist jedoch nicht das Für-wahr-Halten der Fiktion im Blick auf die Inszenierungen des deutschen Ausländerdiskurses im Kino das Problem, sondern die vom deutschen Ausländerdiskurs behauptete und erzeugte Realität, wonach es »Ausländer« gibt, die über gemeinsame, beschreibbare und wiedererkennbare Merkmale verfügen, und die komplette Synchronisierung von Realität und Fiktion in jener Projektion, die den Begriff des »Ausländers« kennzeichnet: das voraussetzungsvolle Wissen der Rassisierungsprozesse, die sich selbst bestätigen und »Ausländer« beständig wieder-/erkennen, im Realen ebenso wie in der Fiktion, mit dem Ergebnis der Verwechslung der juridischen und auf der Idee des Nationalstaats gründenden Idee des »Ausländers« mit einer sozialen Realität – und deren Wiedererkennung in der sozialen Fiktion der Filme.26 Schulisch verlangt die Lektüre eines solchen Textes m.E. neben erhöhter sprachlicher Sensibilität ein kriteriengestütztes ethisches Bewusstsein der Lehrkraft27 und den Mut sowie die Fähigkeit, dieses transparent zu machen – gerade in Zeiten, in denen man über Diffamierungen wie etwa Cyber-Mobbing unter Jugendlichen klagt. Einfache Sprache hin oder her, auch Vulgäres hat seine Grenzen. SchülerInnen können mit diesem Text und diesem Film viel lernen, aber sie brauchen dazu ein Verständnis verschiedener, sich widersprechender Dispositive und Textsorten – ein Verständnis auch von Filmsprache und Erzähltechnik und ein Verständnis von nicht nur deutscher Geschichte. Sicher wird man durch ein Buch oder einen Film noch nicht rassistisch. Aber wir finden selbst in der Wissenschaft offensichtlich nicht immer solche Formulierungen, die keine Missverständnisse 26 27

Nanna Heidrenreich: V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migraiton. Bielefeld: transcript 2015, S. 292-293. Reinhard Wilczek: Von Sherlock Holmes bis Kemal Kayankaya. Kriminalromane im Deutschunterricht, Seelze: Kallmeyer 2005; Gudrun Marci-Boehncke: »Sibirische Erziehung« als Modell? Axiologische Überlegungen zur interkulturellen Jugendliteratur, in: Revue Luxembourgeoise de Littérature Générale et Comparée 2013-2014: Littératur et Jeunesse. Hg. v. Marie-Anne Hansen-Pauly. Sllgc/Luxembourg 2016, S. 188-207.

Ein Kult-Krimi mit kulturellen Stereotypen

mehr ermöglichen. So formuliert Thorben Päthe28 im Fazit seiner an vielen Stellen sehr gewinnbringenden kulturkritischen Analyse Vom Gastarbeiter zum Kanaken. Zur Frage der Identität in der deutschen Gegenwartsliteratur das Wort »Kanake« ebenso wie »Gastarbeiter« im Titel ohne Anführungszeichen, so, als ob man diese Bezeichnung alltagssprachlich problemlos verwenden könne, zur Beschreibung von (Trans-)Migrationsidentitäten – dass »Achtzehn Jahre nachdem der ›Kanake‹ [jetzt in Anführungszeichen, GMB] die literarische Bühne geentert hat«29 , – wie ein Pirat, der widerrechtlich ein Schiff überfällt. Päthe meint dies sicherlich selbst ironisch – ebenso wie allen Unkenrufen zum Trotz haben sie [die »Kanakster«; Ausdruck von ihm wenig höher im Text, mit Anführungszeichen als Zitat von Zaimoğlu ausgewiesen, GMB] es geschafft, ›sich den fremdländer aus der fresse zu wischen‹ [Kleinschreibung im Original, ebenfalls als Zitat von Zaimoğlu ausgewiesen, GMB] und sind – auch mithilfe von Kanak Sprak [kursiv im Original, damit wohl Hinweis auf das gleichnamige Buch von Zaimoğlu, GMB] – zunehmend dort gelandet, wo sie hingehören: inmitten der deutschen Gesellschaft und der deutschen Literatur30 . So sehr dem Inhalt zuzustimmen ist, so bedenklich sind in einem wissenschaftlichen Text diese sprachlichen Formen, die selbst mit Erwartungen in der Phraseologie spielen. »Bleiben, wo man hingehört« ist sprachlich eine Zuschreibung, die in bedrohlichen und diskriminierenden Kontexten verwendet wird. Im Film wird »bleiben, wo der Pfeffer wächst« vom Kommissar im Gespräch mit Kemal genutzt. Die ironische Abwandlung »dort landen, wo man hingehört« – diese Phrase spielt mit der Diskriminierung und ähnelt damit im Duktus – absichtlich oder unabsichtlich – dem Verwirrspiel des Autors Arjouni. Dies ist zumindest nicht unproblematisch. Aber dazu, über solche und andere Formulierungen in unserer Alltagssprache nachzudenken, rufen auch Buch und Film der Krimigeschichte um Kemal Kayankaya auf.

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Thorben Päthe: Vom Gastarbeiter zum Kanaken. Zur Frage der Identität in der deutschen Gegenwartsliteratur. München: Iudicium Verlag 2013. Ebd. S. 170. Ebd. S. 171

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Literatur Albrecht, Gerd: Nationalsozialistische Filmpolitik. Eine soziologische Untersuchung über die Spielfilme des Dritten Reiches. Stuttgart: Enke 1969. Arjouni, Jakob: Happy Birthday, Türke! Hamburg: Buntbuch-Verlag 1985, zitiert nach 31. Aufl. 2012, Zürich: Diogenes Verlag 2012. Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London. New York: Routledge 1994. Gotterbarm, Mario: Impliziter Autor, Intention und narrative Persuasion. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 49, 2019 S. 89-105. doi:10.1007/s41244-019-00125-3 Heidenreich, Nanna: V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration. Bielefeld: transcript 2015. Jäger, Margarete, & Jäger, Siegfried: Das Dispositive des Institutionellen Rassismus. Eine diskurstheoretische Annäherung an einen umstrittenen Begriff, in Jäger, Margarete, & Jäger, Siegfried, Deutungskämpfe. Theorie und Praxis Kritischer Diskursanalyse. Wiesbaden: Springer 2007, S. 95108. Lenz, Ilse: Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Wiesbaden 2009. Linek, Leoni, Hümmler, Lilian, & Čajić, Sandra: »Das wird man doch wohl noch sagen dürfen!« Zum Stand der Anti-Political Correctness Bewegung in Deutschland. Feministische Studien, 36(2), 2018, S. 416-420. doi:10.1515/fs-2018-0043. Marci-Boehncke, Gudrun: »Sibirische Erziehung« als Modell? Axiologische Überlegungen zur interkulturellen Jugendliteratur, in: Revue Luxembourgeoise de Littérature Générale et Comparée 2013-2014: Littératur et Jeunesse. Hg. v. Marie-Anne Hansen-Pauly. Sllgc/Luxembourg 2016, S. 188207. Päthe, Thorben: Vom Gastarbeiter zum Kanaken. Zur Frage der Identität in der deutschen Gegenwartsliteratur. München: Iudicium Verlag 2013. Raithel, Jürgen, Dollinger, Bernd, & Hörmann Georg: Einführung Pädagogik. Begriffe, Strömungen, Klassiker, Fachrichtungen. Wiesbaden: Springer VS 2009. Ruffing, Jeanne: Identität ermitteln. Ethnische und postkoloniale Kriminalromane zwischen Popularität und Subversion. Würzburg: Könighausen & Neumann 2011.

Ein Kult-Krimi mit kulturellen Stereotypen

Teraoka, Alerne A.: Detecting Ethnicity. Jakob Arjouni and the Case of the Missing German Detective Novel. The German Quarterly, 72(3), 1999, S. 265-289. Treibel, Annette: Von der exotischen Person zur gesellschaftlichen Normalität, in: Hentges. Gudrun/Hinnekamp, Volker/Zwengel, Almut (Hg.): Migrations- und Integrationsforschung in der Diskussion. 2. Aktualisierte Auflage. Wiesbaden: Springer VS 2010, S. 143-166. Wilczek, Reinhard: Von Sherlock Holmes bis Kemal Kayankaya. Kriminalromane im Deutschunterricht, Seelze: Kallmeyer 2005. Wurzbacher, Gerhard: Sozialisation, Enkulturation, Personalisation, in: Wurzbacher, Gerhard (Hg.): Sozialisation und Personalisation. Beiträge zu Begriff und Theorie der Sozialisation. 3. erw. Aufl. Stuttgart: Enke 1968, S. 1-36. Zaimoğlu, Feridun: Kanak Sprak – 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Hamburg: Rotbuch 1995.

Film Happy Birthday, Türke! (D, 1992, Dorris Dörrie, 109 min.)

Online-Quellen Aust, Robin-M.: Grenzüberschreitungen: Jakob Arjounis Kayankaya-Romane zwischen Hardboiled Detective und Migrationsthematik. Germania, 58, 2016, pp. 199-210. https://www.carin.info/revue-germanica-2016-1-page199.htm Prinzler, Hans Helmut (1966): Politischer Kino-Spuk in Ostberlin. Die überraschende Absetzung eines DEFA-Films und ihre Vorgeschichte. Die Zeit, 31/1966, 29.6.1966. https://www.zeit.de/1966/31/politischer-kino-spuk-inostberlin Prommer, Elizabeth, & Loist, Skadi: Wer dreht deutsche Kinofilme? Rostock: Institut für Medienforschung der Universität Rostock 2015. www.filmfestival-studien.de/wp-content/uploads/Gender-Report-Deutscher_Kinofilm_2015_01.pdf Spiegel: Gestorben [Nachruf auf Jakob Arjouni]. Der Spiegel, 4/2013, 21.3.2013. https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-90638355.html

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Wiedemann, Thomas: Filmregisseurinnen und Filmregisseure in Deutschland. Strukturen und Logik eines heteronomen Berufsfeldes. Publizistik, 64, 2019, S. 205-223. https://doi.org/10.1007/s11616-019-00501-6

Interkulturelle Identität und enantiomorphe Existenz. Asymmetrische Spiegelungen in Kutluğ Atamans Lola und Bilidikid (1999) Nils Jablonski

Abstract. Through a neoformalistic close reading of Kutluğ Ataman’s Lola und Bilidikid (FRG 1999), this article examines the film’s use of the narrative device of asymmetrical mirroring in order to reflect on the constructedness of both masculinity and identity. The film is set in the late 1990s in the subcultural milieu of Turkish homosexuals in Berlin where its main characters struggle to find their way by performing as drag queens, working as prostitutes or just getting along as petty criminals. The filmic depiction of these marginalized existences portrays different means of coming to terms with queer intercultural identities in a heteronormative and patriarchal society. Referring to Judith Butler, I argue that the film can be understood as a narration of subjectification. Moreover, the device of asymmetrical mirroring is as necessary as it is crucial for the film’s linear story telling which visualizes events from the characters’ pasts even as it abstains from deploying of flashbacks.

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Verortung(en)

Kutluğ Atamans Film Lola und Bilidikid erzählt eine doppelte Geschichte: vom Mord an dem Drag-Künstler Lola und von der Rache, die sein Liebhaber Bili und sein jüngerer Bruder Murat an den vermeintlichen Tätern nehmen. Die Handlung des Films »spielt in der Szene türkischstämmiger […] Schwuler im Berlin der 1990er Jahre«1 , wobei die »Darstellung einer doppelt marginali-

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Wenzel Bilger: Der postethnische Homosexuelle. Zur Identität »schwuler Deutschtürken«. Bielefeld: transcript 2012, S. 236.

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sierten, also migrantischen und sexuell-abweichenden Erfahrung«2 , nicht auf die filmische Zurschaustellung »homosexuell[er] Spektakularität«3 reduziert werden kann. Vielmehr reflektiert der Film anhand der verschiedenartigen Beziehungen zwischen seinen Haupt- und Nebenfiguren über »multiple models of queer sexuality«4 , um durch ein derartiges »disclosure of queer desire and homophobia«5 zur nachgerade tragisch erscheinenden Narration einer »transgenerational transmission of shameful and traumatic family secrets«6 zu avancieren. In diesem Sinn erscheint Lola und Bilidikid als eine Saga, wenn man darunter mit Umberto Eco die narrative Präsentation einer »Abfolge scheinbar immer neuer Ereignisse«7 versteht, »die […] den ›historischen‹ Werdegang einer Person oder besser noch einer Personenfamilie betreffen«8 . Während die Saga im Allgemeinen mit ›epischer Breite‹ konnotiert wird, weil der erzählerisch präsentierte Zeitraum mithin das gesamte Leben nicht nur einer Person, sondern ganzer Generationen von Personen einer Familie umfassen kann, weist Atamans Film dieses Merkmal nicht auf: In seinem nicht einmal 90 Minuten dauernden Film zeigt er narrativ konzentriert die komplexe Familiengeschichte der zwei Geschwister Lola und Murat als Saga im Kleinen, indem schrittweise die Vergangenheit der beiden mit ihren sich in der Gegenwart zeitigenden Konsequenzen in Form von Lolas Ermordung und Murats Coming-Out aufgedeckt wird. Aufgrund seiner Homosexualität und seines Transvestismus hat Lola nicht dem heteronormativen Männlichkeitsbild entsprochen, wie es sein inzwischen verstorbener Vater und sein älterer Bruder Osman repräsentieren

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Ebd., S. 235. Christopher Treiblmayr: »Ein Mann ist ein Mann, und ein Loch ist ein Loch.« Männlichkeit, Homosexualität und Migration in Kutluğ Atamans Lola und Bilidikid (Deutschland 1998)«, in: Bettina Dennerlein/Elke Frietsch (Hg.): Identitäten in Bewegung. Migration im Film. Bielefeld: transcript 2001, S. 191-225, hier S. 193. Christopher Clark: Transculturation, Transe Sexuality, and Turkish Germany: Kutluğ Ataman’s Lola und Bilidikid, in: German Life and Letters 59,4/2006, S. 555-572, hier S. 571. Daniela Berghan: Far-Flung Families in Film. The Diasporic Family in Contemporary European Cinema. Edinburgh: Edinburgh UP 2013, S. 108. Ebd. Umberto Eco: Über Spiegel und andere Phänomene [1983]. Übers. von Burkhart Kroeber. München: dtv 7 2002, S. 161. Ebd., S. 161f.

Interkulturelle Identität und enantiomorphe Existenz

und propagieren9 . Deshalb wurde er aus der Familie verstoßen, wo Murat schließlich als männliches ›Wunschkind‹ an Lolas Stelle treten soll – ohne dass beide später etwas von der Existenz des jeweils anderen wissen10 . Die erste Hälfte des Films fokussiert erzählerisch insbesondere auf Lola und seine Liebesbeziehung zu Bili. Dieser will ihn zu einer Geschlechtsumwandlung drängen11 , damit beide als – wie Bili es formuliert – »ganz normale Familie«12 in der Türkei leben können. Nach Lolas Tod liegt der Fokus der filmischen Narration dann vor allem auf Murat, der als Jugendlicher gerade seine eigene Homosexualität entdeckt und mehr über seinen ihm bislang unbekannten Bruder erfahren will. Als er nach Lolas Tod Bili kennenlernt, drängt dieser ihn dazu, an seinem Racheplan mitzuwirken: Bili glaubt, in einer Gruppe junger Neonazis Lolas mutmaßlichen Mörder ausfindig gemacht zu haben. Indem Murat sich durch das Anlegen von Lolas Drag als der Verstorbene ausgibt, können er und Bili die Neonazi-Gruppe in einen Hinterhalt locken. Jedoch misslingt dieses Manöver: Bili stirbt und Murat erfährt, dass Lola nicht von den Neonazis, sondern von seinem älteren Bruder Osman ermordet wurde. Diese Saga, die der Film als doppelte Geschichte einerseits von Lola und andererseits von Murat erzählt, erweist sich letztlich als eine. Es ist die Geschichte einer interkulturellen Identität, die filmisch über die enantiomorphe

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Während beispielsweise Maha El Hissy in ihrer Untersuchung konsequent mit der Dopplung weiblicher und männlicher Pronomina auf Lola verweist oder Christopher Clark sich für eine weibliche Genderung entscheidet, wird hier eine männliche verwendet. Dies trägt dem Selbstverständnis der Figur insofern Rechnung, als Lola – wie später noch gezeigt wird – sich trotz seines Transvestismus sowie seiner DragPerformances eine Identität als (homosexueller) Mann zuschreibt: So wie Lola über sich selbst als Mann spricht, gebrauchen auch die anderen Figuren des Films, wenn sie Deutsch sprechen, das männliche Genus, um Lola zu adressieren oder über ihn zu sprechen. »Mutter sagt, ich bin da, um dich zu ersetzen«, berichtet Murat, als er das erste Mal die Gelegenheit hat, nach einem Auftritt von Lola in einer Bar länger mit ihm zu reden (Lola und Bilidikid, Regie: Kutluğ Ataman. BRD 1999, hier 00:44:08). Im Fall von Bilis Forderung an Lola wird der Begriff ›Geschlechtsumwandlung‹ anstelle von ›Geschlechtsangleichung‹ verwendet, weil ›Umwandlung‹ erstens jene – patriarchale – Gewalt impliziert, die Bili hier sprachlich auf Lola ausübt, und weil der Begriff zweitens zum Ausdruck bringt, dass Lola seinerseits nicht den Wunsch hegt, sein biologisches Geschlecht zu ändern. Anders im Fall von Lolas Freund*in Kalipso, die ihrerseits selbst den Wunsch nach einer Geschlechtsangleichung äußert, damit ihr biologisches Geschlecht ihrer Trans-Identität entspricht. Lola und Bilidikid, 00:15:44.

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Existenz der beiden Geschwister vermittelt wird: Lola und Murat erscheinen auf der figuralen Ebene des Films als »symmetrisch[e], aber einander entgegengesetzt[e] Elemente«13 , weil die Vergangenheit des älteren Bruders Auswirkungen auf die Gegenwart und Zukunft des jüngeren Bruders hat. Er führt Lolas Schicksal gewissermaßen in variierter Wiederholung fort, denn »[d]urch Murat wird im Film […] eine Struktur des Wiederholens, Nachahmens und der Substitution aufgebaut«14 . Die beiden Hauptfiguren des Films bilden daher eine besondere Form der Spiegelung und zwar im Sinn der von Michel Serres in seiner Analyse von Honoré de Balzacs Novelle Sarrasine beschriebenen »nicht symmetrisch[en] Symmetrie, bei der sich die Identität in einem eigenartigen Paradoxon verstrickt«15 , das »man als Enantiomorphie bezeichnet«16 . In derartig asymmetrischen Spiegelungen liegt das konstruktive Strukturprinzip von Lola und Bilidikid, das gleichermaßen die Ebene der figuralen Konstellationen wie auch die Ebene der narrativen Darstellung betrifft: Die filmische Erzählung zeichnet sich nämlich gerade dadurch aus, dass sie Vergangenes ohne Flashbacks zur Anschauung bringt. Das auffällige Fehlen dieses filmnarrativen Verfahrens kompensieren die Spiegelungen aufgrund ihrer Asymmetrie: Sie strukturieren den Film und linearisieren seine immer wieder auf die Vergangenheit Bezug nehmende Handlung, sodass die präsentierten Ereignisse um die beiden Geschwister Lola und Murat in dem Maße als eine Geschichte erscheinen, wie sich die zwei Protagonisten durch ihr (auf-)geteiltes Schicksal als eine Kollektivfigur begreifen lassen17 .

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Michel Serres: Der Hermaphrodit [1987]. Übers. von Reinhard Kaiser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 60. Maha El Hissy: Getürkte Türken. Karnevaleske Stilmittel im Theater, Kabarett und Film deutsch-türkischer Künstlerinnen und Künstler. Bielefeld: transcript 2012, S. 254. Serres, Der Hermaphrodit, S. 57. Ebd. In Bezug auf Lola und Murat lässt sich nicht nur deshalb von einer Kollektivfigur sprechen, weil der Fokus der filmischen Narration bis zu Lolas Tod zunächst alternierend auf den beiden Geschwistern liegt und dann insbesondere auf Murat, sondern vor allem deshalb, weil der Film eine Ineinssetzung der beiden Geschwister inszenatorisch forciert. Geleistet wird das durch Lolas rote Perücke, die er beim Coming-Out vor seiner Familie getragen hat, bevor er von dieser verstoßen wurde, und die Murat dann im Kleiderschrank seiner Mutter findet. Als »ein Erbstück, das über zwei Generationen unter den Familienmitgliedern zirkuliert« (El Hissy, Getürkte Türken, S. 261), avanciert sie im Film zu einem Quasi-Objekt: Die Perücke wandert und wechselt ihre Besitzer – von Lola gelangt sie zu Murat, von ihm wieder zurück zu seinem Bruder und schließ-

Interkulturelle Identität und enantiomorphe Existenz

Angesichts der Verkopplung von »Subkultur und Alterität«18 , wie sie die Filmfiguren repräsentieren, wird in Lola und Bilidikid »Männlichkeit jenseits ihrer normativen Grenzen«19 dargestellt. Damit lässt sich Atamans Film laut Maha El Hissy der späten Phase des deutsch-türkischen Kinos zuordnen, in der über ein neues »Verständnis von Männlichkeit«20 reflektiert wird: Anders als »das ›Gastarbeiterkino‹ der siebziger und achtziger Jahre, welches ArbeitsmigrantInnen als Opfer darstellte«21 , thematisieren die seit den 1990er Jahren »von Migranten der zweiten und dritten Generation in Deutschland gedreht[en] Filme«22 gerade die »Erfahrung von Urbanität, besonders die junger Männer«23 , um dadurch »eine minoritäre und maskuline Subjektivität«24 aus der migrantisch-interkulturellen Perspektive zu artikulieren. Hierfür werden filmische Figuren präsentiert, deren »Identitätszuschreibungen und sozial[e] Kategorisierung[en] […] immer schon gebrochen oder rekontextualisiert«25 erscheinen. Insofern stehen auch diese Filme der späten Phase des deutsch-türkischen Kinos, gerade wenn sie über Männlichkeit unter dem Aspekt von Homosexualität in migrantisch-interkulturellen Kontexten reflektieren, in der Tradition des sog. New Queer Cinema, das »sich von der Vorstellung einer exklusiven und klar definierten Sexualität abgrenz[t], die sowohl das Konzept von Hetero- als auch von Homosexualität bestimmt«26 .

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lich buchstäblich auf Murats Kopf, damit er für Bilis Racheplan an den Neonazis als Lola auftreten kann. Wie Serres feststellt, wissen wir durch Quasi-Objekte, »wie und wann wir Subjekte sind, wann und wie wir es nicht mehr sind« (Michel Serres: Der Parasit [1980]. Übers. von Michael Bischoff. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 6 2016, S. 349). In diesem Sinn macht die rote Perücke Lola wie auch Murat zu ihren jeweiligen Stellvertretern und damit abwechselnd zum jeweiligen Subjekt der Filmhandlung. Die zwei Geschwister erscheinen somit als Kollektivfigur, denn derartige »Stellvertretungen des Subjekts«, wie sie von der Perücke markiert werden, »weben das Kollektiv« (ebd.). El Hissy, Getürkte Türken, S. 240. Ebd., S. 241. Ebd., S. 210. Barbara Mennel: Globales Migrationskino, der Ghetto-Flâneur und Thomas Arslans Geschwister, in: Lydia Potts/Jan Kühnemund (Hg.): Mann wird man. Geschlechtliche Identitäten im Spannungsfeld von Migration und Islam. Bielefeld: transcript 2008, S. 53-62, hier S. 53. Ebd. Ebd. Ebd. Bilger, Der postethnische Homosexuelle, S. 237. Treiblmayr, Männlichkeit, S. 198.

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Inwiefern Lola und Bilidikid zu jenen Filmen gehört, die eine »neue Sichtbarkeit homosexueller Identitätsentwürfe«27 vermitteln, ist in der Forschung insbesondere mit Bezug auf die Frage nach der Genrezuordnung von Atamans Film diskutiert worden: Einerseits wird Lola und Bilidikid als »ein sehr konventionelles Melodrama«28 aufgefasst; andererseits als eine Mischung aus »Komödie, Familiendrama, Gang-Film, Thriller, Milieuschilderung und vor allem Liebesgeschichte«29 . Diese Liste ließe sich erweitern: Die Auftaktsequenz des Films – die als Parallelmontage zwischen einem Auftritt von Lola sowie von Murats nächtlichem Besuch im Tiergarten gestaltet ist – scheint angesichts der sinisteren Stimmung, mit der das ›Treiben‹ an Berlins bekanntestem Ort zum sog. Cruising präsentiert wird, insofern augenzwinkernd auf den Horrorfilm zu verweisen, als sie nachgerade klischeehaft die inszenatorischen und kinematographischen Charakteristika dieses Genres herausstellt (angefangen beim flackernden Laternenlicht über das Filmen mit einer hand-heldKamera aus der Verfolgerperspektive hinter der Figur bis zum jump-scare). Aus derartigen Bezügen, die vielmehr Anspielungen auf verschiedene Genres darstellen als Anleihen bei ihnen zu nehmen, leitet Christopher Clark die subversive Hybridität des Films ab: »[T]he film itself is a hybrid, combining genres that usually are not mixed in mainstream cinema«30 . Clarks Fazit, das er aus dieser Beobachtung zieht, verweist auf ein Forschungsdesiderat zu Lola und Bilidikid, das in der Fokussierung auf die Konstruktion der filmischen Narration und deren Verfahren besteht:

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Ebd., S. 194. Bilger, Der postethnische Homosexuelle, S. 239. Treiblmayr, Männlichkeit, S. 200. Clark, Transculturation, S. 561. Allerdings erscheint der Begriff des Hybriden, dem seinerseits etymologisch das Konzept einer Dualität eingeschrieben ist, als Prädikation einer nicht zu fassenden Genrezugehörigkeit des Films ungeeignet, weil dieser genau solche kategorialen Grenzziehungen herausfordert: »In Ataman’s film we find a number of blurred boundaries: male/female, gay/straight, transvestite/transsexual, and, perhaps most significantly, Turkish/German. In each case the boundary is transgressed in such a way that the unity of each term in the opposition is called into question […]«. (Ebd.) In Bezug auf das Genre des Films wäre daher zu fragen, inwieweit er aufgrund seiner zahlreichen und beständig wechselnden, meist aber nur oberflächlichen Anspielungen selbst als filmisch performierter Drag gewertet könnte.

Interkulturelle Identität und enantiomorphe Existenz

Ataman effectively echoes the content of the film – queer sexualities and transcultured identities – at the level of genre, queerly challenging the audience’s expectations of genre conformity.31 Was Clark zwar korrekt herausstellt, aber – wie überhaupt die gesamte Forschung zu Atamans Film – nicht anhand konkreter Szenen- und Sequenzanalysen zu belegen vermag, ist eine – wenig überraschende – Wechselbeziehung zwischen Form und Inhalt, denn der Gegenstand einer filmischen Narration wird stets durch die spezifischen Verfahren des Films vermittelt, die ihrerseits dessen mögliche Genrezugehörigkeit bestimmen. Insofern sollen im Folgenden die asymmetrischen Spiegelungen als konstruktives Strukturprinzip von Lola und Bilidikid in den analytischen Blick genommen werden, um zu erörtern, wie die »Identitätsentwürfe im Film«32 durch die darin aufgezeigte »Konstruiertheit von Männlichkeit«33 anhand der Kollektivfigur Lola/Murat vermittelt sind. Dazu werden zunächst zentrale Filmszenen mikroanalytisch auf ihre Spiegelungsstrukturen hin untersucht. Die gewonnenen Ergebnisse werden abschließend in einer semiotischen Perspektive auf das in Lola und Bilidikid dargestellte Verhältnis von Identität und Existenz bezogen, um den Film letztlich als Narration einer Subjektbildung zu lesen.

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Asymmetrische Spiegelungen

Die dem Film als konstruktives Strukturprinzip zugrundeliegenden asymmetrischen Spiegelungen stellt dieser bereits zu Beginn selbstreflexiv heraus und zwar durch die rahmende Korrespondenz zwischen seiner ersten und letzten Einstellung. Lola und Bilidikid eröffnet mit der Einblendung der Titelei auf einem schwarzen Hintergrund, bei dem es sich um den Berliner Nachthimmel handelt. Das zeigt die nach kurzer Zeit durch einen Kameraschwenk von rechts nach links im Bild sichtbar werdende Victoria-Statue auf der Siegessäule an (Abb. 1). Diese Landmarke dient als architektonischer Orientierungspunkt – und das in mehrfacher Hinsicht: Indem die Siegessäule metonymisch auf Berlin verweist, wird die Bundeshauptstadt als Handlungsraum des Films ausgewiesen; zugleich erhält die Eröffnungseinstellung damit die 31 32 33

Ebd., S. 563. Treiblmayr, Männlichkeit, S. 210. Ebd., S. 211.

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Funktion eines establishing shot. Des Weiteren steht die ›Goldelse‹ implizit für das Thema des Films: Einerseits aufgrund ihres Standortes im Bezirk Tiergarten, dessen namensgebende Parkanlage einer der bekanntesten Berliner Cruising-Plätze ist, und andererseits, weil Berlins auflagenstärkstes schwullesbisches Stadtmagazin, das seit 1984 erscheint, den Titel Siegessäule trägt.

Abb.1

Die Victoria markiert darüber hinaus die intertextuelle Anlage von Lola und Bilidikid, weil sie auf den wohl bekanntesten Berlin-Film der Nachkriegszeit verweist: Als bevorzugter Aufenthaltsort für Engel bildet die Statue auf der Spitze der Siegessäule einen der wiederkehrenden Schauplätze in Wim Wenders Der Himmel über Berlin (BRD/F 1987). Auch die allerletzte Einstellung in Lola und Bilidikid zeigt noch einmal die Siegessäule, wodurch sich Anfang und Ende des Films spiegeln – das allerdings asymmetrisch, denn das Bauwerk erscheint abschließend in variierter Wiederholung bei Tag und nicht bei Nacht sowie nun in Rückansicht aus der Totalen und nicht in einer auf die Victoria fokussierenden Nahaufnahme in Frontansicht (Abb. 2). Mit dieser von der Siegessäule gebildeten Rahmung stellt der Film sein Strukturprinzip auch auf der inszenatorischen Ebene heraus und reflektiert zugleich über eines seiner spezifischen Narrationsverfahren: So wie diese asymmetrische Spiegelung zwischen Filmanfang und -ende erzähllogisch erst nachträglich, also zum Abschluss der Handlung mit der finalen Einstellung des Films ersichtlich werden kann, erschließen sich auch die narrativen Zusammenhänge der doppelten Geschichte um das als Kollektivfigur erscheinende Geschwisterpaar Lola und Murat erst durch sukzessive Retrospektiven.

Interkulturelle Identität und enantiomorphe Existenz

Abb. 2

Sie gestaltet der Film aber nicht mittels Flashbacks, die chronologisch vor der Handlungsgegenwart liegende Ereignisse der Story-Ebene als Teil des filmischen Plot zur Anschauung bringen, sondern erstens durch Analepsen in der Rede der Figuren und zweitens durch weitere, mit Serres als Enantiomorphien zu bezeichnende asymmetrische Spiegelungen in der Beziehung von Lola und Murat zu den übrigen Figuren und Figurengruppen des Films. Auch die oben bereits kurz thematisierte Eröffnungssequenz ist nach dem Prinzip der Enantiomorphie gestaltet: Die Parallelmontage, durch die zunächst Murat beim Cruising im Tiergarten und dann Lola bei seiner DragPerformance als Protagonisten des Films eingeführt werden, verbindet beide insofern durch eine asymmetrische Spiegelung, als Murat sein Coming-Out noch vor sich hat und anders als Lola seinen Platz in der queeren Community erst finden muss. Zentral dafür wird später Murats Begegnung mit Lolas Geliebtem Bili, der ihn zunächst ins ›Strichermilieu‹ am Neuköllner Hermannplatz bringt und dann für seinen Racheplan einspannt. Auch Bili wird in der Eröffnungssequenz eingeführt: Zunächst wohnt er an der Theke in der Bar, wo Lola auftritt, dessen Performance bei und zieht sich dann mit einem Freier auf die Toiletten in dieser Lokalität zurück. Die folgenden Einstellungen wechseln dann zwischen »Lola’s performance and Bili’s sexual ›performance‹ in the men’s room«34 .

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Clark, Transculturation, S. 565.

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Als dritte Hauptfigur steht auch Bili in einer enantiomorphen Beziehung zu Lola und Murat. Anders als sein Geliebter, der offen zu seiner Homosexualität wie auch zu seinem Drag steht (und letzteren nutzt, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten)35 , ist Bili seinem Selbstverständnis nach kein Schwuler: Lola nimmt er als Frau wahr, zu der er ihn durch eine operative Geschlechtsumwandlung auch physisch ›machen‹ (lassen) will, um mit ihm bzw. ihr in einer patriarchal dominierten heterosexuellen Beziehung zusammenzuleben. Sein gelegentliches Anschaffen ist für Bili lediglich ein Mittel zum leichten Gelderwerb – und als aktiver Part bei diesen körperlichen Dienstleistungen kann er sein Bild von Männlichkeit gegenüber sich selbst aufrechterhalten. Entsprechendes stellt er später in einem Gespräch mit Murat heraus: »Solange du ihnen nicht deinen Arsch hinhältst, ist alles okay. […] Ein Mann ist ein Mann und ein Loch ist ein Loch – egal wo man’s reinsteckt.«36 Angesichts dieser filmischen Einführung von Lola und Bili in der Eröffnungssequenz weist Clark den beiden Figuren mit Bezug auf Murat eine rahmende Funktion zu: In these opening scenes, Lola’s glamour and sorrow, as well as Bili’s virility and violence, frame Murat’s initial exploration of his (homo)sexuality and thus establish two possible poles of queer Turkish-German identity between which he must navigate.37 Clarks Beobachtung erfasst zwar die Spanne der vom Film gemachten Identitätsentwürfe korrekt, der filmischen Darstellung in der Eröffnungssequenz wird sie allerdings nicht gerecht, weshalb seine Schlussfolgerung falsch ist. Inszenatorisch sind es nämlich nicht Lola und Bili, die hier eine rahmende Funktion haben. Diese kommt Murat zu: Die Eröffnungssequenz beginnt mit seinem nächtlichen Besuch im Tiergarten und endet mit seiner Flucht

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Der Begriff ›Drag‹ ist im Duden nicht als eigenständiges Lemma gelistet, sondern taucht nur in Komposita auf (vgl. Duden – Deutsches Universalwörterbuch, Berlin: Dudenverlag8 2015; Duden – Das große Fremdwörterbuch, Berlin: Dudenverlag4 2007; Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin: Dudenverlag42 012). In diesem Aufsatz wird der Begriff im Maskulinum verwendet, so wie ihn bspw. auch das »Queer Lexikon« im Berliner Tagesspiegel gebraucht (vgl. https://www.tagesspiegel.de/berlin/queerspiegel/das-queer-lexikonwas-ist-eine-drag-queen/14541366.html, letzter Zugriff am 07.12.2018). Lola und Bilidikid, 00:59:23. Clark, Transculturation, S. 566.

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aus einem Gebüsch, wo ihn ein Mann zu küssen versucht38 . Die Metapher der Rahmung mag zwar die filmische Exposition der drei Hauptfiguren erfassen, ihre Beziehung zueinander – die ihrerseits dann die weitergehende Handlung des Films strukturiert – wird erst durch das enantiomorphe Prinzip der asymmetrischen Spiegelungen genauer beschreib- und analysierbar. Wie einleitend gezeigt, lassen sich Lola und Murat als Kollektivfigur begreifen, weil durch die Verkopplung des Schicksals der beiden Geschwister die doppelte Geschichte des Films zu einer integrierbar wird. Diese ›Verbindung‹ zwischen den beiden ist in der Forschung zwar erkannt und auch in Bezug auf ihre jeweilige Beziehung zu Bili hin reflektiert worden – das allerdings recht unpräzise, wie es Daniela Berghahns Feststellung verdeutlicht: »After Lola’s death, Murat quite literally repeats her story, taking her place in the relationship with Bilidikid […].«39 Lolas und Murats Beziehung zueinander ist weitaus komplexer, weshalb sie nicht einfach als eine Wiederholung charakterisiert werden kann. Ihre Komplexität erschließt sich zudem aus dem Verhältnis, in dem die beiden Geschwister jeweils zu Bili stehen. Bili fungiert als ein zentraler Spiegelungspunkt der Asymmetrie, die die repetitive Struktur der enantiomorphen Beziehung zwischen Lola und Murat kennzeichnet. So verweist etwa die initiale Klo-Szene, durch die Bili als gewaltbereiter Stricher eingeführt wird, auf Murats ersten Versuch im Anschaffen. Dafür erhält er von Bili konkrete Anweisungen, wie die körperliche Dienstleistung auf der öffentlichen Toilette an der U-Bahn-Station am Hermannplatz auszuführen sei: »Geh mit ihm runter zu den Klos und lass dir einen blasen. Das kostet 50 Mark. Bezahlt wird im Voraus. Wenn er fertig ist, dann gehst du. Und lass dich nicht küssen oder so ’ne Scheiße, okay?«40 Murat befolgt das ihm mit auf den Weg Gegebene mit verunsicherter Höflichkeit. Darin unterscheidet er sich diametral von Bili, denn während dieser – wie es die Eröffnungssequenz zeigt – seinen zahlungsunfähigen Freier verprügelt, bittet Murat seinen entschuldigend um die Bezahlung im Voraus. Er erhält sie, als der ältere, gut gekleidete Geschäftsmann mit Trenchcoat und Aktentasche sich in der Toilettenkabine bereits kniend daran macht, Murat zu fellationieren. Zwar zeigt der Film diese sexuelle Handlung nicht, er verweist aber gleich doppelt indirekt auf sie: Während Murat in einer Halbnahen zu sehen ist, hört man, wie der im Bild nun nicht mehr sichtbare Freier

38 39 40

Vgl. Lola und Bilidikid, 00:00:00-00:07:17. Berghahn, Far-Flung Families, S. 108, Hervorhebungen N.J. Lola und Bilidikid, 00:59:29.

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nach Murats Namen fragt. Durch das dabei deutlich vernehmbare Schmatzen stellt der Film zumindest auf der auditiven Ebene eindeutig dar, womit der Fragende gerade eigentlich beschäftigt ist. Diese gewissermaßen ›verdeckte‹ Inszenierung dient dem Film zur mehrfachen komischen Brechung der Szene: Das Schmatzen des Freiers erweist sich als Verstoß gegen die Benimmregel, der zufolge man mit vollem Mund nicht sprechen solle. Bekanntermaßen betrifft diese Empfehlung die Tischmanieren in Gesellschaft anderer Personen und bezieht sich nicht auf mögliche Gepflogenheiten beim Oralverkehr. Murats nachfolgende Handlung macht dann deutlich, dass es genau dieser Knigge-Ratschlag ist41 , den die Inszenierung hier anzitiert und angesichts der Verschiebung des Kontexts in eine komische Inkongruenz überführt: Während Murat dem Freier zu Diensten ist, verspeist er seinen zuvor an einer Imbissbude gekauften Hotdog (Abb. 3). Durch eine komisierende Verschiebung auf die symbolische Ebene ›zeigt‹ der Film also die hier verdeckte Handlung – und inszenatorisch vermittelt wird das von einer asymmetrischen Spiegelung: Sowohl Murat als auch der Freier sind dabei, sich etwas durch den Mund einzuverleiben – Murats Nahrungsaufnahme erscheint allerdings als eine ganz und gar existenzielle, das Fellationieren durch den Freier hingegen als eine rein hedonistische Triebbefriedigung. Diese letzte entzieht sich zwar aufgrund der Einstellungsmodalitäten der Sichtbarkeit, wird aber durch die symbolische Lesbarkeit von Murats Handlung – die in komischer Brechung asymmetrisch spiegelt, was der vor ihm kniende Freier macht – trotzdem indirekt zur Anschauung gebracht. Das konstruktive Strukturprinzip von Lola und Bilidikid lässt sich also auch auf der Mikroebene der filmischen Inszenierung einzelner Szenen nachweisen. Murats erste Erfahrungen als Stricher auf der U-Bahn-Toilette am Hermannplatz sind gerahmt von zwei anderen Klo-Szenen, die im Plot des Films ihrerseits eine Enantiomorphie bilden: Während eines Schulausflugs in das Olympia-Stadion macht Murat auf den dortigen Klos seine erste gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrung – und das ausgerechnet mit einem der drei Neonazis, die ihn zuvor schon verbal angegangen sind und die Bili später als Lolas vermeintliche Mörder identifiziert. Im Stadion folgt Murat Walter, dem neuesten Mitglied der Neonazi-Gang, aufs Klo. Dieser erleichtert sich gerade am Urinal, als Murat an ihm vorbei und in eine der dahinterliegenden Toilettenkabinen geht. Dorthin folgt Walter – nach kurzem Zögern und 41

Vgl. u.a. www.knigge.de/archiv/ihre-fragen/tischsitten---bitte-nicht-mit-vollem-mund---11356.htm, letzter Zugriff am 30.11.2018.

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Abb. 3

der Versicherung, dass niemand sonst auf dem Klo ist – nun Murat und küssend beginnt die erste Annäherung zwischen den beiden. Deren Intimität vermittelt der Film durch ein extremes Close-up von Murat und Walter (Abb. 4). Allerdings wird ihr Zusammensein jäh unterbrochen: Die beiden anderen Neonazis stürmen die Kabine und prügeln auf Murat ein. Um vor seinen ›Kameraden‹ Rudy und Hendryk zu verschleiern, was Murat und er tatsächlich in der Toilettenkabine gemacht haben, uriniert Walter kurzerhand auf den am Boden liegenden Murat. Hendryk kommentiert dieses Geschehen mit den Worten: »Die will’s doch, die Sau, die schwule.«42 Gegen Ende des Films wird diese Klo-Szene in einer asymmetrischen Spiegelung wieder aufgegriffen: Als Bili und Murat die drei Neonazis für ihren vermeintlichen Mord an Lola in einer Fabrikruine stellen wollen, eskaliert die Situation: Nachdem Bili Rudy in einen Hinterhalt gelockt und brutal mit einem Klappmesser kastriert hat, will er sich auf Walter stürzen. Vergeblich versucht Murat, den in einen regelrechten Rausch verfallenen Bili an seiner nächsten Bluttat zu hindern. Dieser lässt jedoch erst von Walter ab, als Hendryk hinzukommt, eine Pistole zieht und auf Bili schießt. Die Ablenkung nutzt Murat, um mit Walter durch die labyrinthischen Gänge der Fabrikruine zu fliehen. Wie schon im Stadion landen die beiden auch hier wieder zusammen in einer Toilettenkabine, die erneut zum Ort einer Offenbarung avanciert. Nachdem sich Walter und Murat in einer solchen Kabine durch ihre kurze körperliche Annäherung gegenseitig nonverbal zu 42

Lola und Bilidikid, 00:32:24.

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Abb. 4

ihrer Homosexualität bekannt haben, klärt sich hier nun das Missverständnis über Lolas Tod, und zwar implizit durch einen kurzen Dialog zwischen den beiden: Walter: Ich hab’ totale Scheiße gebaut. Ich weiß echt nicht, was passiert ist. Murat: Was hat Lola euch getan, du Arschloch? Walter: Wovon redest du?43 Die aus einer einzigen langen Einstellung bestehende Dialog-Szene, in der Walter und Murat in einer aus niedriger Kameraperspektive gefilmten Halbnahen in Frontansicht auf dem Boden der Kabine kauernd gezeigt werden, endet damit, dass Murat auf Walters letzte Frage verwundert seinen Kopf zu ihm dreht (Abb. 5). Mit dem anschließenden Szenenwechsel in die im Film bereits zuvor gezeigte Küche in der Wohnung, wo Murat mit seiner Mutter und seinem älteren Bruder Osman lebt, wird in Bezug auf Walters unbeantwortet bleibende letzte Frage eine narrative Ellipse inszeniert. Erzähllogisch deutet sie an, dass Bilis Annahme falsch ist und die Neonazis nicht für den Mord an Lola verantwortlich sind. An dieser Stelle verweist die filmische Inszenierung enantiomorph zurück auf die vorangehende Darstellung der Andeutung von Lolas Ermordung, wodurch die Neonazis als vermeintliche Täter erscheinen. Der Grund dafür

43

Ebd., 01:22:47.

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Abb. 5

liegt in einer, hier ebenfalls durch einen Szenenwechsel erzeugten, narrativen Ellipse: Zuletzt war Lola auf der Flucht vor den Neonazis, die ihm nachts aufgelauert haben, dabei zu sehen, wie er auf offener Straße ein auf ihn zufahrendes Taxi anzuhalten versucht. Der Film lässt danach insgesamt vier Szenenfolgen lang offen, was mit Lola passiert ist44 . Die so aufgebaute Spannung wird zudem durch Murats Suche nach seinem Bruder verstärkt: Sowohl Bili als auch Lolas Freundin, die Imbissbudenbetreiberin Hella, haben seit zwei Tagen nichts mehr von ihm gehört45 . Nachdem Murat diese Information erhalten hat, löst der Film Lolas Schicksal auf: Die Szene wechselt von einer Totalen aus der Vogelperspektive vom nächtlichen Hermannplatz, wo Murat in Hellas Imbiss sein Schlafquartier bezieht, zu einer Totalen, die – augenscheinlich bei Tag – zunächst die Oberbaumbrücke zwischen den Berliner Stadtbezirken Friedrichshain und Kreuzberg aus der Frontansicht zeigt. Durch einen Kameraschwenk von der Brücke auf die sich darunter befindliche Wasserfläche wechselt die Größe dieser Einstellung ohne Schnitt zu einer Halbnahen: Zu sehen ist Lola, dessen

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Innerhalb der Erzählzeit des Plots umfasst dies eine knapp zehnminütige Szenenfolge: İskender – ein Freund von Lola und Bili – kauft Blumen für seinen Liebhaber Friedrich; Murat begegnet Bili und wird von ihm ins Strichermilieu eingeführt; İskender isst mit Friedrich in einem Restaurant; Murat sucht einen Schlafplatz auf der Straße (vgl. Lola und Bilidikid, 00:53:09-01:03:02). Vgl. Lola und Bilidikid, 01:01:46.

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lebloser Körper mit ausgestreckten Armen und dem Gesicht nach oben in der Spree treibt (Abb. 6).46

Abb. 6

Es stimmt also, dass der Film nach Lolas Flucht vor den Neonazis »the action unresolved«47 lässt, allerdings ist Clarks Behauptung, dass dies »the film’s one moment of narrative ellipsis«48 sei, falsch. Von diesen Ellipsen gibt es nämlich gleich zwei: Die erste, die das inszenatorische ›Verschweigen‹ der Umstände von Lolas Ermordung erzeugt, wird durch den Abbruch des Dialogs zwischen Murat und Walter in der Toilettenkabine der Fabrikruine aufgegriffen und gleich doppelt asymmetrisch gespiegelt: Erstens, weil in diesem Fall keine ›Handlung‹, sondern eine Information ausgespart wird, und zweitens weil das vorherige ›Opfer‹ – Lola – hier durch Murat, der den Drag seines Bruders trägt, nicht nur gewissermaßen inkarniert erscheint, sondern nun in fraternaler Stellvertreterschaft handlungsmächtig wird. Dieses scheinbare Paradoxon gründet auf der Figurenebene in der enantiomorphen Beziehung zwischen den Geschwistern Murat und Lola; auf der inszenatorischen Ebene betont der Film den Zusammenhang zwischen den Szenen im Klo der Fabrikruine und in der Küche durch Murats Kleidung, die

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Die Forschung hat vielfach auf diese intertextuelle Inszenierung von Lola als Wasserleiche in der Tradition des Ophelia-Motivs hingewiesen (vgl. u.a. Clark, Transculturation, S. 567; El Hissy, Getürkte Türken, S. 257). Clark, Transculturation, S. 566. Ebd., Hervorhebung N.J.

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ihrerseits seine Übernahme der Position des Bruders anzeigt. In beiden Szenen trägt Murat nämlich Lolas Drag, gekennzeichnet durch eine schwarze Netzstrumpfhose, eine hellblaue Wolljacke und die rote Perücke. Sie ermöglicht Murat außerdem, Osman als Lolas Mörder zu überführen. Auf Murats Frage, ob ihm seine Haare gefallen, antwortet Osman nämlich gereizt: »Man hätte sie mit ihm begraben sollen.«49 Das Wissen um Lolas Tod entlarvt Osman als Täter. Die Konfrontation zwischen Murat und Osman erweist sich nicht nur deshalb als inhaltliche Klimax des Films, weil einerseits die Identität von Lolas Mörder geklärt wird und dies andererseits mit Murats implizitem Bekenntnis zu seiner sexuellen Identität durch einen in Lolas Drag erfolgenden »›coming out‹ in front of his mother and brother Osman in the kitchen«50 verkoppelt ist. Auch auf der konstruktiven Ebene der Narration bildet die Küchen-Szene eine Klimax, weil hier ein selbstreflexiv auf das enantiomorphe Strukturprinzip des Films verweisender Übergang vom Bewegungs-Bild zum Zeit-Bild inszeniert wird: Nach Gilles Deleuze ist der Typus des Zeit-Bildes dadurch gekennzeichnet, dass »sich die Situation nicht direkt in Aktion um[setzt]«51 , sondern eine im Bild gezeigte »optische Situation oder […] visuelle Beschreibung die motorische Handlung«52 , die für das Bewegungs-Bild charakteristisch ist, ersetzt. Trotz ihrer emotiven Intensität ist die Konfrontation insofern ruhig, als zwar Murat wie auch Osman lautstark gegeneinander die Stimmen erheben, dabei aber körperlich weitgehend unbewegt bleiben: Murat verharrt stehend vor seinem Bruder, der bloß kurz vom Esstisch aufsteht, um dann angesichts der entlarvenden Fragen zu Lolas Tod eingeschüchtert auf seinen Platz zurückzusinken. Murats kommunikative Überlegenheit wird in dieser Szene durch die Veränderung des Kamerawinkels in dem durch eine Schuss/Gegenschuss-Montage gefilmten Dialog zwischen den Brüdern inszenatorisch vermittelt: Während Osman im over-the-shoulder-view aus Murats Perspektive aus einem high-angle gefilmt wird und gegenüber dem jüngeren und körperlich deutlich schmächtigeren Bruder nun nachgerade

49 50 51 52

Lola und Bilidikid, 01:23:29. Berghahn, Far-Flung Families, S. 108. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2 [1985]. Übers. von Klaus Englert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 15. Ebd., S. 19.

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klein und angesichts des Mordvorwurfs schuldig wirkt, verweist die im Dialog Osmans Position markierende low-angle-Perspektive der Kamera dagegen auf Murats – hier buchstäblich zu nehmende – Überlegenheit (Abb. 7).

Abb. 7

Eine derartige Reduktion der motorischen Handlung belegt den hier inszenierten Übergang vom Bewegungs-Bild zum Zeit-Bild, weil sich die filmisch so zur Anschauung gebrachte »rein optische und akustische Situation […] nicht in Bewegung fortsetzt, sondern mit einem virtuellen Bild verkettet«53 , das seinerseits das Zeit-Bild kennzeichnet. Deleuze betont, dass jedes »aktuelle Bild ein virtuelles besitzt, das ihm wie ein Double oder ein Reflex entspricht«54 . In der Küchen-Szene wird dieses Aktuelle von Murat figuriert, der durch seinen Lola-Drag den toten Bruder als sein Virtuelles mit ins Bild bringt. Insofern trifft hier auf Murat das zu, was Deleuze in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Aktuellem und Virtuellem am Beispiel des Schauspielers erläutert: »[D]as virtuelle Bild der Rolle«, die der Schauspieler darstellt, »wandelt er zu einem virtuellen, das daraufhin sichtbar […] wird«55 . Plakativer als durch Murats Auftritt in Lolas Drag in der Küchen-Szene könnte der Film die Verkopplung von Aktuellem und Virtuellem kaum zur Anschauung bringen. Bemerkenswert ist allerdings, dass hier der Zusammenhang zwischen Aktuellem (Murat) und Virtuellem (Lola) die zuvor bereits herausgestellte 53 54 55

Deleuze, Das Zeit-Bild, S. 68, Hervorhebung N.J. Ebd., S. 95. Ebd., S. 99.

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Funktion des Geschwisterpaars als Kollektivfigur auch inszenatorisch evident macht, und zwar durch den Übergang von einem Bewegungs- zum Zeit-Bild. Zudem erweist sich diese Inszenierung als hochgradig selbstreflexiv, weil die konfrontative Überführung Osmans, die ihrerseits an Lolas Coming-Out vor seiner Familie erinnert, auf das konstruktive Strukturprinzip des Films zurückverweist: Die asymmetrischen Spiegelungen dienen in Lola und Bilidikid nämlich dazu, innerhalb der filmischen Narration auf Flashbacks und die mit ihnen erzeugten Erinnerungsbilder verzichten zu können. Die Notwendigkeit zum Gebrauch filmischer Rückblenden erklärt Deleuze durch ihre narrative Funktionalität: »Es muß ausgeschlossen sein, daß man die Geschichte in der Gegenwart erzählen könnte.«56 Entsprechend konstituieren Flashbacks also »eine Geschichte, die nur in der Vergangenheit erzählt werden kann«57 . Im Umkehrschluss daraus dienen Enantiomorphien dem Film dann dazu, eine vergangene Geschichte in der Gegenwart bzw. als eine (ver)gegenwärtig(t)e zu erzählen. Die vielfach gebrauchten asymmetrischen Spiegelungen in Lola und Bilidikid ermöglichen also eine Aktualisierung des Virtuellen, denn Vergangenes und Gegenwärtiges erscheinen – um es in Deleuz’scher Terminologie zu sagen – koaleszent. In Lolas Drag figuriert Murat dieses ›Zusammenwachsen‹ von sowohl Aktuellem als auch Gegenwärtigem und Virtuellem sowie Vergangenem, das der Film in der Küchen-Szene zur Anschauung bringt. Dieser Effekt ist in der Forschung zwar durchaus als ein Spezifikum des Films erkannt, bislang aber stets unpräzise beschrieben worden – sei es als ›Wiederholung‹ (Clark), als ›déjà vu‹ (Berghahn) oder als ›Fortsetzung‹: »Die Auseinandersetzung zwischen Murat und Osman gegen Ende des Films scheint zunächst die Konfrontation zwischen Osman und Lola fortzusetzen«, denn »Murat vergegenwärtigt […] die Begegnung zwischen Lola und Osman in der Vergangenheit, als Lola als Transvestit erscheint.«58 Was El Hissy beiläufig als ›Vergegenwärtigung‹ umschreibt, erweist sich als ein zentrales narratives Verfahren des Films. Mit der Küchen-Szene stellt dieser nämlich durch eine asymmetrische Spiegelung und daher in variierter Wiederholung des Vergangenen in der filmischen Handlungsgegenwart dar, wovon zuvor lediglich berichtet wurde: Lolas Coming-Out, bevor sein Bruder und Vater ihn aus der Familie verstoßen haben. Murats ›Auftritt‹ kann also keinesfalls als »replay of the moment

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Ebd., S. 69. Ebd., S. 72. El Hissy, Getürkte Türken, S. 255, Hervorhebung N.J.

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seventeen years before when Lola wore the wig before her family« begriffen werden59 , denn dieses Ereignis wurde im Film gar nicht gezeigt. Die Küchen-Szene liefert somit also eine nachträgliche Bebilderung dessen, was Murats Mutter ihm zuvor über Lolas Verstoß aus der Familie berichtet hat: Nach dem Vorfall auf der Toilette im Olympiastadion während des Schulausflugs wäscht die Mutter ihren Sohn in einem Zuber in der Küche ihrer Wohnung60 . Diese befremdliche, da angesichts der sanitären Situation seltsam anachronistisch anmutende Wasch-Szene bedeutet für Murat eine körperliche wie auch geistig-seelische Reinigung61 : Von der Mutter erfährt er nämlich nicht nur etwas über seinen ihm bislang unbekannten Bruder, sondern auch den Grund für seine eigene Existenz bzw. ›Rolle‹ innerhalb der Familie. Insofern lässt sich der dargestellte Vorgang nicht nur aufgrund der Konstellation von Mutter und Sohn symbolisch als ›Geburt‹ deuten62 . Die Wasch-Szene eröffnet mit einer lange unverändert bleibenden Einstellung, die durch den Rahmen der zur Küche führenden Tür gefilmt ist und so dem durch allerlei andere Gegenstände vollgestellten Raum eine große Tiefenwirkung verleiht. Entsprechend sind Murat und seine Mutter im bzw. am Waschzuber aus der Frontansicht in einer Totalen zu sehen, wobei der komplett entkleidete und auf einem im Zuber stehenden Hocker sitzende Murat in diesem Bildaufbau das kompositorische Zentrum bildet (Abb. 8). Auf Türkisch klagt die Mutter über das dem Sohn während des Schulausflugs Widerfahrene und verflucht die Täter: »Wie konnten sie es nur wagen, meinen Jungen zu schlagen. Ihre Hände mögen brechen, ihre Augen sollen ihnen ausfallen. Gott soll ihre Saat austrocknen!«63 Murat nutzt diesen intimen Moment der 59 60

61 62

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Clark, Transculturation, S. 569. Vgl. Lola und Bilidikid, 00:33:09-00:36:21. Hier wie im Folgenden werden Zitate aus zuvor angegeben längeren Szenen bzw. Sequenzen nicht nochmals zusätzlich mit der Angabe des Zeitindex in einer Fußnote belegt. Vgl. Stichwort »Wasser«, in: Uwe Becker: Lexikon der Symbole [1998]. Freiburg i.Br., Basel, Wien: Herder 72006, S. 323-327. Der Film legitimiert diese Lesart nachträglich durch das Treiben von Lolas Leichnam im Wasser der Spree; zudem stellt sich über das aufgrund seiner Fluidität alles verbindende Element Wasser ein Bezug des Geschwisterpaars zu Bili ein: Dieser fällt, von Hendryks letzter Kugel tödlich getroffen, ins Wasser. Das zeigt der Film zwar nicht, macht es aber auf der auditiven Ebene durch ein platschendes Geräusch, das das Aufschlagen von Bilis Körper im Wasser anzeigt, deutlich hörbar (vgl. Lola und Bilidikid, 01:21:58-01:22:33). Hier wie im Folgenden danke ich Burak Ergin für die wortgenauen Übersetzungen, da in der deutschen Untertitelung des Films der 2002 bei absolut Medien erschienenen

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mütterlichen Zuwendung für eine Frage über Lola – er ist ihm das erste Mal am Abend zuvor begegnet, als er die Familie besucht, um von Osman den unterschlagenen Erbschaftsanteil einzufordern64 .

Abb. 8

Murats auf Deutsch gestellte Frage danach, warum sein anderer Bruder weggegangen sei, beantwortet die Mutter nach kurzem Zögern auf Türkisch zunächst mit der Gegenfrage, welchen anderen Bruder er meine. Daraufhin erhebt sich Murat, geht in einen an die Küche grenzenden Raum und kommt mit einer schwarzen Schachtel zurück, die er nun statt der Hände vor seinem Intimbereich hält. Die Einstellungsgröße bleibt weiterhin unverändert, nur die Position der Figuren im Raum hat sich insofern geändert, als die Mutter inzwischen aufgestanden ist und auf einem der Küchenstühle hinter dem Waschzuber sitzt, während Murat – nach seiner Rückkehr aus dem anderen Zimmer – sich nun vor diesem befindet und stehend von der Seite im Bild zu sehen ist. Aus der schwarzen Schachtel nimmt er eine rote Perücke und reicht sie der Mutter mit dem Kommentar: »Als ich als Kind mit deinen Sachen gespielt habe, hab’ ich das hier gefunden. Erzähl mir nicht, dass sie dir gehört.«

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DVD-Version die türkischen Dialoge sowohl verfälschend unvollständig als auch fehlerhaft sind. In den hier gebrauchten Zitaten sind einige Begriffe sowie die Syntax ans Deutsche angepasst. Vgl. Lola und Bilidikid, 00:22:18-00:24:08.

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Nachdem die Mutter die Perücke genommen und ein paar Mal darüber gestreichelt hat, wechselt die Einstellung zu einem Close-up auf Murats Gesicht. Er fragt weiter nach, weshalb sein Bruder weggegangen und die Familie danach umgezogen sei. Mit der auf Türkisch an ihren Sohn gerichteten Aufforderung, sich wieder auf den Hocker im Zuber zu setzen, beginnt die Erzählung der Mutter über Lola: Er war ein guter Sohn. Aber eines Nachts verlor er den Verstand. Dein Vater – Gott möge ihm Frieden schenken – hat damals noch gelebt. Wir aßen gemeinsam am Tisch, als er [d.i. Lola] plötzlich hereinkam. Er trug die Perücke auf seinem Kopf und ich lachte, als ich ihn so sah. Dass er weinte, habe ich erst später bemerkt. Er redete nicht. Er hat nicht ein einziges Wort von sich gegeben. In dieser Nacht warf Osman ihn aus dem Haus. Und dein Vater verlangte, dass alles, was ihm gehört hat, auch weggeworfen werden soll, damit keine Spur von ihm zurückbleibt. Ich habe einen Sohn verloren, sagte dein Vater dann. Er wolle nun einen neuen haben. So bist du entstanden. Ich habe dazu geschwiegen. Was weiß ich einfältiges Weib schon, dachte ich.65 Während die Mutter erzählt, ist sie weiterhin damit beschäftigt, ihren Sohn zu waschen. Die beiden sind abwechselnd in Nahaufnahme zu sehen und in ihren Gesichtern zeigt sich jeweils die emotionale Anspannung. Diese versucht die Mutter dadurch zu lösen, dass sie den Kopf ihres Sohnes zärtlich an ihren Körper drückt. Dabei beschwichtigt sie auch verbal, indem sie ihr damaliges Schweigen und Osmans Verhalten gegenüber Murat erklärend verteidigt: Betrachte Osman und uns nicht als deine Feinde. Er ist das Oberhaupt unserer Familie. Auch wenn er nicht immer sehr nett zu dir ist, so trägt er doch

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Bemerkenswert ist der hier im Türkischen gebrauchte Ausdruck ›karı‹ anstelle von ›kadın‹ (›Frau‹), der ähnlich pejorativ und im hochsprachlichen Diskurs genauso unangemessen erscheint wie das Deutsche ›Weib‹. Während ›karı‹ im Fall der Mutter als eine Selbstabwertung verstanden werden kann, ist die vielfache Verwendung des Wortes durch Lolas ebenfalls als Drag-Künstler*innen arbeitende Freund*innen eine subversiv-ironische Aneignung, wenn diese über sich selbst als »karılar« sprechen. Dies ist in etwa vergleichbar mit der Selbstbezeichnung Homosexueller als ›Schwule‹ oder ›Schwuchteln‹, um mittels einer solch sprachlich performierten Appropriation dieser hate speech-Ausdrücke deren diskursive Wirkmächtigkeit in ironischer Brechung auszuhebeln.

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keine Boshaftigkeit im Herzen. Schließlich versuchen wir doch nur, irgendwie in diesem Land zu leben. Lass uns deinem Bruder folgen und auf ihn hören. Er ist unser Wegweiser in der Fremde. Murats Konfrontation von Osman und seine vorangehende mütterliche Waschung in der Küche stehen in der narrativen Logik des Films also in einer enantiomorphen Beziehung zueinander. Inszenatorisch erweisen sich die Analepse des mündlichen Berichts der Mutter über Lolas Verbannung aus der Familie und Murats Überführung des Bruders als Mörder nicht als Wiederholung, ›déjà vu‹ oder Fortsetzung, sondern als asymmetrische Spiegelungen: Statt Lola tritt nun Murat vor die (verbliebene) Familie, das allerdings in Lolas Drag, weshalb dieses aktuelle Geschehen das Vergangene als Virtuelles aufruft. Den Zuschauer*innen wird dieser Bezug dadurch evident, dass Murat zuvor durch seine Mutter von Lolas Schicksal erfahren hat. Das Gespräch während der Waschung in der Küche ist allerdings nur die erste von insgesamt zwei Aufklärungsszenen. In einem Gespräch mit Lolas Freund*innen Şehrazat und Kalipso wird für Murat die zuvor noch von der Mutter begründete und verteidigte patriarchale Dominanz Osmans innerhalb der Familie endgültig fragwürdig: Nach Lolas Beerdigung berichten die beiden Drag-Künstler*innen Murat über die Beweggründe für Osmans Verhalten gegenüber Lola, das aufgrund seiner Vergewaltigung des Bruders in dessen Verstoß aus der Familie gegipfelt ist66 . Wie deutlich wird, war Osmans Reaktion also eine kompensierende Übersprungshandlung, um seine eigene Homosexualität geheim zu halten. Şehrazat erklärt Murat dies so: Als dein Bruder Osman von irgendeinem Trottel erfuhr, dass Lola eine Schwuchtel ist, hat er [d.i. Osman] ihn [d.i. Lola] auch noch einmal ›zurechtgerückt‹67 . Ich will dich nicht quälen, mein Kleiner, aber du musst die Wahrheit kennen. Osman hat Lola mehrfach … Lautstark schreiend unterbricht Murat den analeptischen Bericht über die vergangenen Ereignisse zwischen Lola und Osman. Şehrazat versucht, den sich wie ein Kleinkind gebärdenden Murat zu beruhigen, um dann fortzufahren:

66 67

Vgl. Lola und Bilidikid, 01:14:19-01:16:33. Aufgrund eines im Türkischen nicht vorhandenen grammatischen Geschlechts und entsprechender Pronomina wird hier in der Übersetzung, wie schon zuvor im gesamten Text, von Lola – mit einer Ausnahme – in der männlichen Form gesprochen.

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Hör zu! Glaubst du etwa, dass es für mich einfach ist? Aber zu deinem eigenen Wohl musst Du die ganze Geschichte erfahren. Lola hat sich seit diesem Ereignis in Osmans Anwesenheit wertlos gefühlt. Eines Tages hat er dann die Perücke aufgesetzt und sich so eurem Bruder und euren Eltern gezeigt. Die Dummheit der Jugend und eine echte Dramaqueen, unsere Lola68 : Er dachte, dass er Osman mit seinem Auftritt beschämen könne und er von ihm ablassen würde. Stattdessen hat er sich dann auf der Straße wiedergefunden. Mittels dieser weiteren Informationen, die Murat ergänzend zu denen aus dem Waschungs-Gespräch mit seiner Mutter erhält, kann er Osman später als Mörder seines Bruders überführen und ihn mit seinem Tatmotiv konfrontieren: Murat: Du hast meinen Bruder ermordet! Du hast es getan, weil du Angst hattest, dass die Wahrheit herauskommt. Du hast ihn zum Teufel gejagt. Aber nicht, weil er eine Schwuchtel war, sondern weil du es bist. […] Ich werde Mutter alles erzählen. Osman: Bitte halt Mutter da raus. Halt sie da raus! Murat: Sie hat das Recht, alles zu erfahren. Das schuld’ ich ihr. Und Lola schulde ich es auch. Osman: Bitte! Ich flehe dich an. Murat: Also gut. Du wirst es ihr sagen. Du wirst ihr sagen, wer ihren Sohn ermordet hat. Und warum69 . Dazu besteht allerdings keine Notwendigkeit mehr: Zwar hat Osman die Mutter zuvor aus der Küche geschickt, allerdings kann sie aus dem Flur der Wohnung das Gespräch ihrer beiden Söhne hören. Mit dem Ausdruck tiefer Enttäuschung im Gesicht kehrt sie danach in die Küche zurück, ohrfeigt den in einer um Vergebung bittenden Geste auf sie zukommenden Osman und verlässt die Wohnung. Die nächste Einstellung aus der Totalen zeigt, wie die Mutter von rechts ins Bild kommt, eine belebte Straße betritt, sich nach rechts wendet und diese – mit dem Rücken zur Kamera gewandt – entlang geht, um schließlich ihr Kopftuch abzunehmen und es auf den Boden zu werfen.

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Der im Deutschen geläufige Anglizismus ›Dramaqueen‹ ist eine behelfsmäßige Umschreibung für die hier im Türkischen gebrauchte Anspielung auf die aus zahlreichen Filmen bekannte Schauspielerin Türkan Şoray. Mit dieser Referenz verweist Şehrazat metonymisch auf die melodramatische Qualität von Lolas Coming-Out vor der Familie. Lola und Bilidikid, 01:24:29-01:25:38.

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Clark deutet dies als »visuel synecdoche for the mother’s liberation«70 , sieht die Inszenierung dieser Befreiungsgeste aber gleichsam dadurch konterkariert, dass auf der auditiven Ebene ein nicht innerhalb der Diegese verortbares »Nein« zu hören ist. Wollte man, wie Clark, so weit gehen und dieses akusmatische Element als »the voice of the film itself« deuten71 , scheint es jedoch nicht auf die hier durch das Herunterreißen des Kopftuchs symbolisierte Geste der Befreiung bezogen zu sein, sondern vielmehr selbstreferenziell auf die Struktur der filmischen Narration: Mit dieser Szene endet zwar die Story um Murat und Lola, sie markiert allerdings nicht das Ende des Plots. Das erkennt auch Clark, wenn er die abschließende Handlung dieser vermeintlich finalen Szene zusammenfasst: »Murat picks up her headscarf and walks alongside his mother as the screen fades black, suggesting that with the family drama resolved, we have reached the end of the film.«72 Nach dem Abschluss der Familiensaga um Lola und Murat endet der Film de facto mit einer »comic coda«73 : Lolas Freund*innen Kalipso und Şehrazat begeben sich auf die Suche nach einem zuvor verlorenen Schmuckstück. Sie finden es am Straßenrand im Berliner Tiergarten und angesichts des enormen Werts dieser antiken Brosche sehen die beiden ihre Zukunft – zumindest für geraume Zeit – finanziell gesichert. Wie El Hissy herausstellt, stehen die zwei Figuren »für das Camp als homosexuellen männlichen Stil«74 , was sie als ein »karnevaleskes Ausdrucksmittel«75 in Atamans Film deutet: Entsprechend erhält dieser in Ergänzung zu der ›tragischen‹ Geschichte um das Schicksal des Geschwisterpaars Lola und Murat »auch eine Dimension der Komik […], so dass Kalipso und Şehrazat als Figuren des Comic Relief ein Gegengewicht zur tragischen Figur Lola bilden«76 . Indem vom Ende des Films aus nun die weiteren Figuren(gruppen) in die Analyse der asymmetrischen Spiegelungen mit einbezogen sind, können abschließend die filmischen Darstellungen interkultureller Identitäten in Lola und Bilidikid in Bezug auf das konstruktive Strukturprinzip des Films genauer untersucht werden.

70 71 72 73 74 75 76

Clark, Transculturation, S. 570. Ebd., Hervorhebungen im Original. Ebd., Hervorhebung N.J. Ebd. El Hissy, Getürkte Türken, S. 263, Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd., Hervorhebungen im Original.

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Interkulturelle Identität – Enantiomorphe Existenz

Mit Blick auf den gesamten Film bildet die Geschichte um die Nebenfiguren Kalipso und Şehrazat also auf der dramaturgischen Ebene insofern eine asymmetrische Spiegelung der Geschichte um Murat und Lola, als sie deren Tragik die Komik eines »picaresque subplot«77 entgegengesetzt. Das verweist auf die weitergehende Funktion von Enantiomorphien im Film: Asymmetrische Spiegelungen bilden nicht nur sein konstruktives Strukturprinzip, sie ermöglichen ihm auch die Reflexion über die von den verschiedenen Hauptund Nebenfiguren dargestellten interkulturellen Identitäten. Wie El Hissy betont, stehen etwa Kalipso und Şehrazat für eine Möglichkeit, wie das Geschick von homosexuellen deutsch-türkischen Männern auch verlaufen kann: Im Gegensatz zu Lola träumt Kalipso z.B. von einer operativen Geschlechtsänderung78 , die sie dank der wiedergefundenen Brosche nun finanzieren kann. Auch der zweite ›Subplot‹ des Films spiegelt den Hauptstrang der Handlung um Lola und Murat asymmetrisch: Während keinem der Geschwister eine glückliche Beziehung vergönnt ist – Lola stirbt genauso wie Bili, der sie zuvor in eine heteronormative Beziehung zwängen wollte; Murat verliebt sich ausgerechnet in einen Neonazi und ob und wie diese Beziehung möglicherweise weitergeht, lässt der Film offen –, nimmt die Romanze von İskender und dessen Freier Friedrich ein glückliches Ende: Das Paar, das sich beim anonymen, nächtlichen Geschlechtsverkehr im Tiergarten kennenlernt«79 , zeichnet sich nicht nur durch die Oppositionen türkisch/deutsch sowie jung/alt aus, sondern auch durch den gesellschaftlichen ›Klassenunterschied‹ zwischen dem gebildeten Architekten und dem rüpelhaften Stricher. Die Interaktion dieses ungleichen Paars »führt in vielen Szenen zu einer Situationskomik80 , die den tragischen Ernst der Geschichte um Lola und Murat mit einem ebensolchen comic relief ausgleicht wie der ›Subplot‹ um Kalipso und Şehrazat.

77 78 79 80

Clark, Transculturation, S. 571. El Hissy, Getürkte Türken, S. 263f. Ebd., S. 265. Ebd.

Interkulturelle Identität und enantiomorphe Existenz

Mit Friedrich und İskender zeigt der Filme eine »cross-ethnische Beziehung«, in der Homosexualität jedoch nicht als Symptom für die »Unterlegenheit des kulturell Anderen« steht – vielmehr zeichnet sich, wie El Hissy herausstellt, gerade Friedrich durch seine »Abhängigkeit von İskender aus«81 . Während es zunächst so wirkt, als würde Iskender Friedrich bloß ausnutzen, beginnt er dessen Gefühle nach und nach zu erwidern. Der Film inszeniert das schrittweise: Zuerst schenkt İskender Friedrich einen gestohlenen Strauß Calla-Lilien als Entschuldigung dafür, dass er ungefragt Friedrichs Cabriolet »ausgeborgt«82 hat, und nach Lolas Beerdigung gesteht er ihm in einem kurzen Telefonat schließlich seine Gefühle.83 Als İskender dann auf Friedrichs Bitte dessen Mutter in die Familienvilla zum Wannsee fährt, spricht er ihr gegenüber offen von seiner Liebe zu Friedrich, die mehr sei als eine kurzfristige Affäre84 . İskenders sukzessives Eingeständnis seiner Gefühle – nachdem er Friedrich bei ihrem ersten, rein ›geschäftlichen‹ Treffen noch deutlich vermittelt hat, dass er sich niemals in seine Freier verliebe85 – bedeutet für ihn somit keine Effemination und damit ›Abwertung‹ seines eigenen Männlichkeitsbildes. Vielmehr gelingt es ihm, die aus seiner Machismo-Perspektive unvereinbare Opposition von (für ihn weiblich konnotierter) Emotionalität und (vermeintlich affektionsloser) Maskulinität miteinander konform zu machen. In Bezug auf den Ausgang der tragisch verlaufenden Geschichte um das Geschwisterpaar Murat und Lola sowie deren Liebhaber Bili stellen die beiden ›Subplots‹ um Kalipso und Şehrazat sowie um İskender und Friedrich zwei andere Schicksale dar, mit denen der Film über verschiedene Entwürfe interkultureller und sexueller Identitäten sowie über die gesellschaftlich hegemonialen Diskurse und Ideologeme reflektiert, die deren Formierungen bedingen: Bili dies, but İskender falls in love, becoming a kinder, gentler macho. Lola dies, but Kalıpso und Şehrazat triumph, their future security guaranteed. The critical thrust of the film is not against machismo or gender role division in sexuality, but rather the homophobic logic that makes such divisions com-

81 82 83 84 85

El Hissy, Getürkte Türken, S. 265f. Vgl. Lola und Bilidikid, 00:53:09-00:53:37; 01:00:44-01:01:42. Vgl. ebd., 01:03:19-01:05:32. Vgl. ebd., 01:10:09-01:12:33. Vgl. ebd., 00:11:26-00:14:42.

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pulsory […] and ultimately of the patriarchy undergirding that logic. Multiple models of queer sexuality thus thrive at the film’s conclusion.86 Durch die verschiedenen Figuren und Figurengruppen sowie ihre jeweiligen Beziehungen präsentiert der Film also »unterschiedliche Modelle nicht-heterosexueller migrantischer Identität«87 , die im Spannungsfeld von »Männlichkeit, Weiblichkeit, Passivität, Affirmation und Verdrängung/Homophobie«88 stehen. Lola und Bilidikid verhandelt daher letztlich das Verhältnis von Existenz zu Identität, weil im Film verschiedene »Existenzmodi«89 dargestellt werden, »in denen sich die Identität eines Subjekts ausbildet«90 . Existenz meint das bloße Da- bzw. Vorhandensein und in der Umgangssprache bezeichnet der Begriff einen Menschen bzw. eine Person91 , wohingegen unter Identität die »Existenz als etwas Bestimmtes, als j[e]m[an]d Bestimmter« zu verstehen ist92 . Die Differenz zwischen Existenz und Identität liegt also darin, dass die eine als intransitiv, die andere als transitiv aufgefasst werden kann. Identität erweist sich dergestalt als die mit Bedeutung versehene und deshalb semantisierte Existenz. Erst aus diesem Signifikationsprozess geht ein Subjekt dieser zur Identität gewordenen Existenz hervor. Insofern gilt mit Judith Butler für ein solches Subjekt, dass es »geformt [wird], genauer noch formuliert durch seine diskursiv konstituierte ›Identität‹«93 . Dies zeigt der Film anhand seiner Figuren, die zu einer semantisierten Existenz gelangen, wie etwa Murat, als er nach der Überführung von Osman seine ›Lola-Verkleidung‹ ablegt. Clark deutet diese Szene wie folgt: »As Osman’s power slips away, Murat removes the clothes and makeup, transforming himself from a copy of Lola to a fledgling gay identity of his own […].«94

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Clark, Transculturation, S. 572. Clark entscheidet sich konsequent für die Schreibweise ›Kalıpso‹, was angesichts der Phonetik im Türkischen keinen Sinn macht. Bilger, Der postethnische Homosexuelle, S. 237. Ebd. Maria E. Brunner: Filmisch erzählte Achsen der Ungleichheit. Verfremdungseffekt, Heterotopie, Deterritorialisierung, Diaspora, in: Testi e Linguaggi 6/2012, S. 73-96, hier S. 76. Ebd. Vgl. Stichwort »Existenz«; in: Wahrig. Deutsches Wörterbuch [1966]. Hg. von Renate Wahrig-Burfeind. Gütersloh, München: Wissen Media Verlag8 2006, S. 486. Stichwort »Identität«, in: Wahrig, S. 757. Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung [1997]. Übers. von Reiner Ansén. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 92017, S. 81. Clark, Transculturation, S. 570, Hervorhebungen N.J.

Interkulturelle Identität und enantiomorphe Existenz

Für Murat ist Lolas Drag schlicht eine Maskerade, um kurzzeitig die Identität des Bruders anzunehmen. Indem er sich nun der Perücke und des Makeups entledigt, weil Lolas Schicksal aufgeklärt ist, erhält seine Existenz eine eigene Identität: Sie ist nicht diejenige des Bruders, die Bili Murat für seinen Racheplan an den Neonazis zugewiesen hat, und auch nicht diejenige, die ihm Osman zuschreiben will, weil Murat ihm weiterhin als »der Stolz und das Glück dieser Familie«95 gilt. Angesichts dieser finalen Szene, mit der die Geschichte um Murat (und auch Lola) endet, erweist sich der Film als »Narration der Subjektbildung«96 . Darunter versteht Butler mit Michel Foucault den Prozess von »Unterordnung und Werden des Subjekts«97 durch verschiedene, äußerliche »Bedingungen, die dem Subjekt vorhergehen«98 . Während Butler die Machtstrukturen einer solchen ›Subjektivation‹ interessieren, lässt sich dieses Konzept auf die in Atamans Film dargestellte Verschaltung von Existenz und Identität des Subjekts übertragen: Laut Butler ist das Subjekt stets »genötigt, nach Anerkennung seiner eigenen Existenz in Kategorien, Begriffen und Namen zu trachten, die es selbst nicht hervorgebracht hat«99 , sodass es seine – stets diskursiv konstituierte – Identität als »das Zeichen seiner eigenen Existenz außerhalb seiner selbst«100 sucht. Begreift man Lola und Bilidikid dergestalt als »Narration, die die Entstehung des Subjekts darzulegen sucht«101 , dann steht der Film vor jenem grundlegenden Problem, auf das Butler hinweist: Die »Erzählung der Konstitutionsgeschichte des Subjekts«, das heißt, die Narration von der Semantisierung der Existenz als Identität des Subjekts, setzt »diese Konstitution bereits voraus«102 . Wie Butler weiter ausführt, besteht in diesem Paradoxon die »nicht narrativierbare Vorgeschichte des Subjekts«103 . In der filmischen Veranschaulichung eines solch nicht Narrativierbaren liegt der Einsatz von Atamans Film – und die Funktion der Kollektivfigur Lola/Murat: Die Geschichte des verstorbenen Bruders erscheint als die Vorgeschichte des jüngeren Bruders, denn »[d]ie Grammatik der Narration von der Subjektbildung setzt vor-

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Lola und Bilidikid, 01:24:59. Butler, Psyche der Macht, S. 106. Ebd., S. 18. Ebd. Ebd., S. 25. Ebd. Ebd., S. 106. Ebd., S. 16. Ebd., S. 106.

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aus, daß es den grammatischen Platz des Subjekts bereits gibt.«104 Das trifft in Lola und Bilidikid auf das Geschwisterpaar zu: Wie Murat bei der Waschung von seiner Mutter erfährt – und wie Osman es ihm später bestätigt –, ist ihm seine Identität als heterosexueller Sohn in der Familie schon vor seiner Geburt zugewiesen. Murats Existenz erscheint bereits pränatal semantisiert, damit er die von Lola hinterlassene Position ausfüllen kann. Lola figuriert also Murats Vorgeschichte – und der Film narrativiert genau das, was laut Butler letztlich nicht narrativierbar sein soll, durch seine mittels asymmetrischer Spiegelungen gestaltete Struktur als Erzählung von Murats Subjektbildung. Sie besteht darin, dass er seine Existenz mit einer Identität in Deckung bringt, die nicht diejenige des Bruders ist: Murats identitäre Bedeutung liegt also nicht länger darin, den verstoßenen und dann verstorbenen Lola als Sohn innerhalb der Familie zu ersetzen. Sein Aufbegehren dagegen führt ihn in der Konfrontation mit Osman schließlich zu einer eigenen Identität. Während Butler das Werden des Subjekts – die Semantisierung seiner Existenz – aus dessen Unterwerfung unter bestehende Regeln, Bedingungen, Forderungen (die dem Subjekt vorangehen) begreift, lässt der Film die meisten seiner Figuren beständig dagegen aufbegehren. Murat ist hierfür nicht das einzige Beispiel. Lolas Aufbegehren zeigt sich performativ beispielsweise daran, dass er auch außerhalb der Kabarett-Bühne seinen Drag trägt, ohne hierdurch jedoch – anders als etwa Kalipso – eine transsexuelle Identität anzustreben: Er lehnt die von Bili geforderte Geschlechtsumwandlung ab, um so ihre Beziehung weiterhin als eine homosexuelle weiterzuführen. In einem Gespräch mit Bili während der Geburtstagsfeier – kurz vor seiner Ermordung – legt Lola, unter Tränen und immer wieder von Bili, der ihn zum Schweigen bringen will, unterbrochen, seinen Grund hierfür dar. In Form einer durch die sprachliche Darstellung als Märchen markierten Erzählung antizipiert Lola, wie sich seine Beziehung zu Bili nach einer Operation gestalten und schließlich scheitern würde: Es war einmal ein Mann namens Lola und ein Mann namens Bili. Am Anfang waren sie überglücklich. Sie waren wahnsinnig verliebt. Aber weil Bili so ein Macho-Typ war, hatte er bald keine Lust mehr, als Schwuler mit einem Schwulen zu leben. […] Also bat er Lola, sich den Schwanz abschneiden zu lassen und eine Frau zu werden, damit sie heiraten und ein Leben

104 Ebd., S. 117.

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führen könnten wie die anderen auch. […] Lola tat es, weil sie ihn liebte. Da stand sie nun in ihrer Schürze und putzte jeden Tag die Wohnung und backte Plätzchen, aber eines Tages kam Bili nicht mehr nach Hause. Lola wartete. Die ganze Nacht. Und die Nacht darauf und die Nacht darauf. Aber Bili kam nicht. Sie wartete wie die Heldin in einem Kitschroman. Sie wartete und fing an, ihn zu hassen. Aber Bili kam nicht mehr zurück. Warum, glaubst du, hat Bili Lola verlassen? Weil die Frau, die er geheiratet hat, nicht mehr der Mann war, in den er sich verliebt hatte.105 Lolas Erzählung bildet eine asymmetrische Spiegelung zu seiner momentanen Beziehung mit Bili. Diese hat der Film zuvor als eine homosexuelle zwischen zwei Männern veranschaulicht, als Lola und Bili nach dem Geschlechtsverkehr im Bett ihrer Wohnung gezeigt worden sind. In dieser intimen Zweisamkeit äußert Bili gegenüber Lola erstmalig seine Forderung nach einer Geschlechtsumwandlung und begründet sie durch den imaginierten Entwurf ihres danach ermöglichten Zusammenlebens: Was hältst du davon, wenn wir in die Türkei zurückgehen? Du könntest dich dort operieren lassen. […] Schau mal, wir könnten an die Küste gehen. Eine Bar aufmachen. Und eine Riesenhochzeitsparty feiern. […] Ich hab’ darüber nachgedacht. Wir werden verheiratet sein. So wie diese deutschen Schwuchteln können wir nicht zusammenleben. Wir müssen wie ganz normale Leute leben, wie Mann und Frau. Eben eine ganz normale Familie. Ich komm’ nach Hause und du bist da. […] Wir werden in die Türkei gehen, du bezahlst 3000 Mark und schon ist die Sache erledigt. Keiner stellt irgendwelche blöden Fragen. […] Warte mal ab, wenn wir verheiratet sind, wird dich jeder beneiden. Ich schwöre. Wo wärst du denn in zwanzig Jahren ohne mich? Ohne eine eigene Familie?106 Mit dieser Erzählung während der Geburtstagsfeier antwortet Lola also verspätet auf Bilis zuvor im Bett gestellte Fragen: Ihre jeweiligen Zukunftsvisionen spiegeln einander asymmetrisch, denn während Bili sich eine Utopie für die beiden ausmalt, gestaltet Lola mit seinem Märchen eine dystopische Vision. Als konstruktives Strukturprinzip des Films lassen sich Enantiomorphien also nicht nur auf der darstellerischen, sondern auch auf der Ebene der Figurenrede nachweisen.

105 Lola und Bilidikid, 00:48:44. 106 Ebd., 00:15:00.

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Anders als er es in seiner Erzählung beschrieben hat, ist Lola keine Heldin eines Kitschromans, denn dieser hätte ihn für sein stoisches Ausharren in Erwartung der Rückkehr des Geliebten mit einem Happy End belohnt. Der Film hält für ihn und auch für Bili ein anderes Schicksal bereit: Beide Figuren sterben und der Grund für dieses tragische Ende liegt – strukturell betrachtet – sowohl in der Inkompatibilität ihrer Zukunftsvisionen als auch in den darin anschaulich werdenden Erwartungen an ihre Beziehung zu- bzw. miteinander. Zugleich ist damit eine Inkompatibilität ihrer jeweiligen Identitätsentwürfe verkoppelt: Während Bili sich eine ›echte‹ Frau wünscht, um in einer heterosexuellen Beziehung die Position des Mannes zu besetzen, ist Lola nicht bereit, ihm das Zugeständnis einer Geschlechtsumwandlung zu machen – zumal er keine Trans-Identität anstrebt und seinerseits ein homosexueller Mann und Transvestit bleiben will. Dies äußert er gegenüber Bili klar und deutlich während ihres Gesprächs im Bett: »Ich habe überhaupt kein Problem, für den Rest meines Lebens ’ne Perücke zu tragen. Aber mehr ist nicht drin!«107 Lolas Identität spiegelt damit diejenige von Kalipso asymmetrisch, denn während Lolas Freund*in ihren Lebensunterhalt ebenfalls als DragKünstler*in bestreitet, ist sie kein Transvestit. Kalipso ist eine Trans-Frau, was der Film inszenatorisch dadurch veranschaulicht, dass sie unter den drei Drag-Künstler*innen die einzige ist, die kein einziges Mal in Männerkleidung gezeigt wird. Außerdem äußert sie – beispielsweise gegenüber İskender und Şehrazat – ihren Wunsch nach einer Geschlechtsangleichung108 . Dafür fehlen ihr bislang allerdings die finanziellen Mittel. Diese erhält sie schließlich durch die Brosche, deren Fund am Ende des Films gezeigt wird. Mit dem Schmuckstück steht für Kalipso die Möglichkeit in Aussicht, ihre biologischgeschlechtliche Existenz mit ihrer Gender-Identität in Übereinstimmung zu bringen. Damit verkörpert sie letztlich das Verfahren, mit dem der Film konsequent über das Verhältnis zwischen Existenz und Identität reflektiert: Als prä-operative Trans-Frau avanciert Kalipso zur filmischen Figuration der Enantiomorphie, weil sie ihre biologisch-geschlechtliche Existenz als Mann und nicht ihren Transvestismus, der ihr vor einer geschlechtsangleichenden Operation zum äußerlichen Ausdruck ihrer Identität als Frau gereicht, als die wahre Maskerade ausgibt.

107 Ebd., 00:16:09. 108 Vgl.ebd., 00:51:34. Zur semantischen Differenz zwischen ›Geschlechtsumwandlung‹ (im Fall von Lola bzw. Bilis Forderung an Lola) und ›Geschlechtsangleichung‹ (im Fall von Kalipso) vgl. Anmerkung 11.

Interkulturelle Identität und enantiomorphe Existenz

Der Film vermittelt das mit subtiler Ironie bei Kalipsos Auszug aus ihrer alten Wohnung durch ein auf Türkisch gestaltetes Gespräch mit einer Nachbarin. Diese ist vollkommen überrascht, als sie die ihr bislang nur als Mann mit dem Namen Fikret bekannte Kalipso erstmalig in Frauenkleidern erblickt109 . Tatsächlich scheint die Nachbarin Kalipso für eine Frau zu halten, denn sie bemerkt empört: »Du hast uns also die ganze Zeit an der Nase herumgeführt und so getan, als seist Du ein Mann!« Ihr vermeintliches Täuschungsmanöver begründet Kalipso gegenüber der Nachbarin dadurch, dass sie als Frau unter lauter Männern in diesem Haus nur als Mann unbelästigt habe leben können: Überleg doch mal, Schwester. Was hätte ich denn sonst tun sollen? Eine alleinstehende Frau wie ich und eure notgeilen Männer mit mir Arsch an Arsch? […] Da habe ich zu mir selbst gesagt: Schau, mein Mädchen, diese Welt ist eine Welt der Männer. Wenn du deine Würde als Frau schützen willst, hast Du keine andere Möglichkeit, als dich den Männern anzupassen! […] Ich musste meine Unschuld schützen, meine Würde und meinen Stolz und meine Selbstachtung und mein Ansehen. Dem indirekten und auf entsprechende Klischees verweisenden Vorwurf, dass die türkischen Männer hier in diesem Haus – das metonymisch für die Community der Deutsch-Türken steht, in der Kalipso und ihre Freund*innen in Berlin leben – allesamt triebgesteuert seien und ihr Begehren nicht kontrollieren können, widerspricht die Nachbarin nicht. Dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass Kalipso am Ende eine ganze Litanei konservativreaktionärer Konnotationen für sich geltend macht, die mit dem Konzept von ›Ehre‹ und ›Ehrbarkeit‹ verbunden scheinen und die – so vermittelt es der Kontext dieses Gesprächs – in der (deutsch-)türkischen Community als Werte für ›Weiblichkeit‹ erachtet würden. Die Nachbarin, die offenbar keine Vorstellung von alternativen Lebensentwürfen jenseits heteronormativ-patriarchalischer Normen besitzt, lässt sich von dieser Argumentation überzeugen: Sie glaubt, dass Kalipso eine Frau und ihr – im Film niemals gezeigtes – Auftreten als Mann bloß Maskerade gewesen ist. Dass diese sie aber keinesfalls vor den »notgeilen« Männern im Haus geschützt hat, bringt Kalipso zum Abschluss des Gesprächs mit einer ironischen Andeutung bei der Verabschiedung von der Nachbarin zum Ausdruck: »Ich werde dich

109 Vgl. ebd., 00:18:48-00:19:53.

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vermissen, Schwester. Gott ist mein Zeuge: Du warst immer sehr gut zu mir. Aber dein Mann, der war noch besser zu mir…« In der Forschung ist die im Film durch die verschiedenen Figuren und Figurengruppen vermittelte Dynamik des Verhältnisses zwischen Existenz und Identität bei der Subjektbildung immer wieder durch das Moment der Fluidität erklärt worden: »Lola[] […] chooses the fluid identity of a gay transvestite over that of a male-to-female transsexual«110 und insofern verkörpere sie »this notion of fluidity.«111 Eine solche Fluidität, die das Gegenteil einer »unified, stable identity«112 bedeute, verweise insbesondere auf die performative Dimension von Identität, wie sie im Film gerade durch die Drag-Künstler*innen Lola, Kalipso und Şehrazat sowie durch den ebenfalls zeitweise im Drag seines Bruders auftretenden Murat veranschaulicht werde: The fluidity is achieved by the emplotment of artistic performance (e.g. belly dancing), but also by the performance of gender, the fact that the dancers [Lola, Kalipso, and Şehrazat] are transvestites.113 Auf der rein inhaltlichen Ebene mag das auf die Figuren bezogene Konzept der Fluidität zwar durchaus korrekt erfassen, dass der Film statt »scheinbar konstant[er] sexuell[er], geschlechtlich[er] und sogar körperlich[er] Identitä[en]« durch Inszenierung (Bili benennt sich nach einem Westernhelden), Travestie (Lola und ihre Freund*innen bestreiten als Drag-Künstler*innen ihren Lebensunterhalt bei Kabarett-Auftritten) und Maskerade (Murat verkleidet sich zeitweise als sein Bruder) vielmehr »ganz differente und befristete Identitätskonstellationen und -konstruktionen« vermittelt114 . Die spezifisch filmische Darstellung des »Zusammenhangs zwischen personalen und sozialen Identitäten«115 , gerade wenn diese sich – wie im Fall der Hauptfiguren des Films – »intersektional überschneiden«116 , erfasst das Fluiditäts-Konzept allerdings nicht.

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Berghahn, Far-Flung Families, S. 109. Ebd. Ebd. Vgl. Roger Hillman: Lola and Billy the Kid (1999): A Turkish Director’s Western Showdown in Berlin, in: Post Script 25,2/2006, S. 44-55, hier S. 49. Brunner, Achsen der Ungleichheit, S. 87. Bilger, Der postethnische Homosexuelle, S. 234. Ebd.

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Im Gegenteil: Der Film ist weniger fluide als nachgerade konservativ linear in seiner Erzählweise, auch wenn er durch »frequent cutting«117 beständig zwischen den verschiedenen Haupt- und Nebenhandlungssträngen wechselt. Seine Komplexität als Narration einer Subjektbildung erhält er durch asymmetrische Spiegelungen, die das narrative Paradoxon einer retrospektiven Progression konstituieren, denn, wie gezeigt, die Enantiomorphien treten im Film an die Stelle von Flashbacks. Dabei aktualisieren sie in der Handlungsgegenwart für diese relevante Ereignisse aus der Vergangenheit, ohne dabei die kontinuierliche Linearität der filmischen Narration zu unterbrechen. Somit erweist sich Atamans Lola und Bilidikid als geradezu paradigmatisches Beispiel für ein filmisches Erzählen in der, wie man sagen könnte, ›retrospektiven Gegenwart‹. Das narrative Verfahren, das der Film hierfür verwendet, ist nun allerdings nicht das der erwartbaren Flashbacks des klassischen Erzählkinos, sondern das der asymmetrischen Spiegelungen. Sie strukturieren den Film auf allen seinen Ebenen und ermöglichen es zudem, Lola und Bilidikid als Narration einer Subjektbildung zu lesen, die sich ihrerseits in der filmischen Darstellung als Erzählung einer zur Identität transformierten Existenz erweist.

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Literatur

Becker, Uwe: Lexikon der Symbole [1998]. Freiburg i.Br., Basel, Wien: Herder7 2006. Berghan, Daniela: Far-Flung Families in Film. The Diasporic Family in Contemporary European Cinema. Edinburgh: Edinburgh UP 2013. Bilger, Wenzel: Der postethnische Homosexuelle. Zur Identität »schwuler Deutschtürken«. Bielefeld: transcript 2012. Brunner, Maria E.: »Filmisch erzählte Achsen der Ungleichheit. Verfremdungseffekt, Heterotopie, Deterritorialisierung, Diaspora«, in: Testie Linguaggi 6/2012, S. 73-96. Burns, Rob: »Picturing the New Berlin. Filmic Representations of the Postunification Capital«, in: German Politics and Society 33,1-2/2015, S. 159-171. Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung [1997]. Übers. von Reiner Ansén. Frankfurt a.M.: Suhrkamp9 2017.

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Clark, Transculturation, S. 562.

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Clark, Christopher: »Transculturation, Transe Sexuality, and Turkish Germany: Kutluğ Ataman’s Lola und Bilidikid«, in: German Life and Letters 59,4/2006, S. 555-572. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2 [1985]. Übers. von Klaus Englert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Duden – Das große Fremdwörterbuch. Berlin: Dudenverlag4 2007. Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin: Dudenverlag4 2012. Duden – Deutsches Universalwörterbuch. Berlin: Dudenverlag8 2015. Eco, Umberto: Über Spiegel und andere Phänomene [1983]. Übers. von Burkhart Kroeber. München: dtv7 2002. El Hissy, Maha: Getürkte Türken. Karnevaleske Stilmittel im Theater, Kabarett und Film deutsch-türkischer Künstlerinnen und Künstler. Bielefeld: transcript 2012. Göktürk, Deniz: »Strangers in Disguise: Role-Play beyond Identity Politics in Anarchic Film Comedy«, in: New German Critique 92/2004, S. 100-122. Hillman, Roger: »Lola and Billy the Kid (1999): A Turkish Director’s Western Showdon in Berlin«, in: Post Script 25,2/2006, S. 44-55. Kılıçbay, Barış: »Impossible crossings: Gender melancholy in Lola + Bilidikid and Auslandstournee«, in: New Cinemas. Journal of Contemporary Film 4,2/2006, S. 105-115. Mennel, Barbara: »Globales Migrationskino, der Ghetto-Flâneur und Thomas Arslans ›Geschwister‹«, in: Lydia Potts/Jan Kühnemund (Hg.): Mann wird man. Geschlechtliche Identitäten im Spannungsfeld von Migration und Islam. Bielefeld: transcript 2008, S. 53-62. Serres, Michel/Farouki, Nayla (Hg.): Thesaurus der exakten Wissenschaften [1997]. Übers. von Michael Bischoff und Ulrike Bischoff. Frankfurt a.M: Zweitausendeins3 2004. Serres, Michel: Der Hermaphrodit [1987]. Übers. von Reinhard Kaiser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. Serres, Michel: Der Parasit [1980]. Übers. von Michael Bischoff. Frankfurt a.M.: Suhrkamp6 2016. Treiblmayr, Christopher: »›Ein Mann ist ein Mann, und ein Loch ist ein Loch‹. Männlichkeit, Homosexualität und Migration in Kutluğ Atamans ›Lola und Bilidikid‹ (Deutschland 1998)«. In: Bettina Dennerlein/Elke Frietsch (Hg.): Identitäten in Bewegung. Migration im Film. Bielefeld: transcript 2001, S. 191-225.

Interkulturelle Identität und enantiomorphe Existenz

Wahrig. Deutsches Wörterbuch [1966]. Hg. von Renate Wahrig-Burfeind. Gütersloh, München: Wissen Media Verlag8 2006.

Filme Der Himmel über Berlin (D/F, 1987, Wim Wenders, 130 min.) Lola und Bilidikid (D, 1999, Kutluğ Ataman, 97 min.)

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Wenn einem der Naturalismus kommt: Zwei Literaturverfilmungen von Nuran David Calis – Frühlings Erwachen (2009) und Woyzeck (2013) Stefan Schroeder

Abstract. In his movie adaptations of Frank Wedekind’s Frühlings Erwachen (2009) and Georg Büchner’s Woyzeck (2013) author, movie and stage director Nuran David Calis creates images of our contemporary society and thereby examines the relevance of the original dramatic works from a 21st century’s perspective. This concerns plot as well as characters and their psychology and it comes along with some dramaturgic changes of the characters’ contextualisation in their current environment. In both movies Calis uses a combination of realistic acting and presentation with artistic defamiliarization by aesthetic means such as colour, light and sound. While in Woyzeck furthermore documentary aspects are combined with original text passages from Büchner’s play, in Frühlings Erwachen defamiliarization especially is due to the cast, for actors about twenty embody much younger, adolescent protagonists. Thus both movies generate a contrariness between realism and defamiliarization which provokes a reflective view on identificational matters and also creates unique aesthetics. Moreover it also mirrors historic unusual characteristics of the original plays which combine artificial and realistic attributes as well. In a didactic context a comparative approach to the movies in respect of their original texts is recommendable, because the adaptations suggest a discussible interpretation of present which becomes even more visible by striking changes, omissions and additions the director makes. And on the whole both movies bring up the question how much present-day realism adaptations of classic pieces need or bear.

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Einleitung

»[A]lles in meiner Biographie ist brüchig und durchsetzt von Wendepunkten« resümiert der Autor, Theaterregisseur und Filmemacher Nuran David Calis in einer als Glaubensbekenntnis übertitelten Selbstbeschreibung und fügt im Rückblick auf seine Erfahrungen als junger Mann in Deutschland hinzu: »[I]ch war auch so wütend in dieser Zeit, wütend auf die Gesellschaft, die mich so lange nicht wollte, die mir das Ankommen so schwer gemacht hat.«1 Calis, der 1976 als Sohn aus der Türkei immigrierter armenisch-jüdischer Eltern in Bielefeld zur Welt kam,2 mit seiner Familie kurz darauf zurück in die Türkei und nach dem Militärputsch 1980 wieder nach Deutschland zog, ging in Köln zur Schule, studierte in München Regie und arbeitete parallel als Türsteher:3 »Meine frühen Theater-Arbeiten sind deshalb auch Pamphlete, Anklagen, Zeugnisse dieser Wut.«4 Hatten viele seiner frühen Theatertexte und Theaterprojekte, wie etwa Homestories (2006) oder die Heimattrilogie (20032006), sich ebenso wie sein Filmdebüt Meine Mutter, mein Bruder und ich! aus dem Jahr 2008 noch insbesondere mit der Thematik inter- und transkultureller Identitäten auseinandergesetzt,5 folgten 2009 mit dem Film Frühlings Erwachen6 nach Frank Wedekind, dem Theaterinszenierungen in Hannover, Essen und Düsseldorf vorausgingen,7 und 2013 mit Woyzeck8 nach Georg Büchner zwei filmische Adaptionen kanonischer Theatertexte in Zusammenarbeit mit »arte« und »ZDFkultur«. Vom unmittelbaren biographischen Kontext abstrahiert liest sich die zitierte Passage aus Calis’ Glaubensbekenntnis wie das auslösende Moment seines Interesses an gebrochenen Figuren wie Woyzeck und den verlorenen Ju-

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Nuran David Calis: Glaubensbekenntnis. Protokolliert von Hannes Vollmuth, in: Süddeutsche Zeitung, 10.3.2017, www.sueddeutsche.de/leben/glaubens bekenntnisnuran-david-calis1.3411959. Biographische Information auf munzinger.de. https://www.munzinger.de/search/portrait/Nuran+ David+Calis/0/28215.html. Vgl. Calis: Glaubensbekenntnis. Ebd. https://www.munzinger.de/search/portrait/Nuran+David+Calis/0/28215.html. Nuran David Calis (Regie): Frühlings Erwachen (2009), DVD, Bel Air Edition GmbH und Friedrich Berlin Verlagsgesellschaft mbH 2010. Biographische Information auf nachtkritik.de, https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_seoglossary&view=glossary&catid=78&id=277&Itemid=0. Nuran David Calis (Regie): Woyzeck (2013), DVD, Mitschnitt der Erstausstrahlung bei arte vom 14.10.2013, ZDF-Zuschauerservice 2016.

Zwei Literaturverfilmungen von Nuran David Calis

gendlichen aus Frühlings Erwachen: Denn sowohl Woyzeck und Marie als auch Wendla, Melchior, Moritz und all die anderen suchenden und kämpfenden Individuen scheinen in ihrem Ringen um Identität und Selbstbehauptung angesichts allseitig wirkender Zwänge und Anforderungen einer unflexiblen, auf Selbsterhalt gebauten Gesellschaftsordnung eng miteinander verwandt. Von jenen, die sie auf der Bühne und im Film verkörpern und inszenieren, fordern sie das tiefe und empathische psychologische Verständnis ein, das sie von den Antagonisten ihres Dramas und von der realen Gesellschaft ihrer Entstehungszeit nicht bekommen. Was Büchners unvollendetes Fragment Woyzeck von 1837, das auch bei Frank Wedekind besonderen Eindruck hinterließ,9 mit dem als Skandalstück10 verschrienen Drama Frühlings Erwachen von 1891 verbindet, ist nicht zuletzt die Kunst der authentischen, wirklichkeitsnahen Menschendarstellung in Verbindung mit ästhetisch aufgeladenen Formen der Verfremdung. Wo Büchner auf einer zu seiner Zeit absolut ungewöhnlichen, naturalistischen Grundanlage Vorgriffe auf die expressionistische11 Versprachlichung menschlicher Innenschau gelingen, schafft Wedekind eine dramatische Verbindung von »Phantastik« und »Realistik«,12 die symbolistische Züge mit der Diktion und Charakterzeichnung naturalistischer Wirklichkeitsabbildung verknüpft. Die außergewöhnlichen Umstände der Entstehung und Uraufführung beider Texte haben ihre spätere Kanonisierung in Theater, Wissenschaft und Unterricht nicht aufgehalten, sie wohl eher befördert, betrachtet man doch heute beide Texte als ihrer jeweiligen Zeit weit voraus. Allerdings haben SchülerInnen erfahrungsgemäß trotz ihrer Nähe zum jungen Lebensalter sowohl der Autoren als auch ihrer ProtagonistInnen bis über das Studierendenalter hinaus selten ein gutes Wort für die Stücke übrig. Die vergleichende Berücksichtigung der zeitgenössischen, die Stücke aus ihren historischen Rahmenbedingungen lösenden Adaptionen von Nuran David

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Günther Hartung: Literatur und Welt. Leipzig 2002, S. 233. Barbara Hoiß/Sandra Unterweger: Ein Lokalaugenschein in Tirol 1900-1950, in: Stefan Neuhaus/Johann Holzner: Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 314-343, hier S. 322f. Nora Eckert: Wilson inszeniert Büchner oder Was ist unter der Oberfläche? In: Burghard Dedner/Matthias Gröbel/Eva-Maria Vering: Georg Büchner Jahrbuch 11 (2005-08), Tübingen: Niemeyer 2008, S. 207-220, hier S. 219. Olga Plümacher: Frühlings Erwachen. Für Väter und Erzieher, in: Sphinx 8/1893, Bd. 16, S. 76-80, hier: S. 80, zit.n.: Vinçon, Hartmut: Frank Wedekind. Stuttgart: J. B. Metzler 1987, S. 174.

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Calis im (hoch-)schulischen Kontext könnte dagegen Abhilfe schaffen. Im Folgenden soll daher insbesondere der Aspekt der filmischen Adaption des literarischen Werks in den Fokus rücken, der die Medienkompetenz im Deutschunterricht aus der Meta-Perspektive bereichern soll – denn mit Blick auf die der Drehbuchadaption vordergründig verwandte dramatische Ursprungsgattung scheint hier ein Sonderfall des an sich schon nicht unproblematischen Begriffs der Literaturverfilmung vorzuliegen.13

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Woyzeck im Wedding

Naturalistische, wie abgefilmte Alltagsrealität erscheinende Berliner Straßenaufnahmen14 verleihen ausgewählten Einstellungen einen dokumentarischen Charakter (W 00:09:10, 00:20:30, 00:43:25) und die detailgenau in Szene gesetzte Darstellung von Woyzecks Berliner Hinterhofwohnung etabliert den sozialen Rahmen des Transfers eines fast 200 Jahre alten Textes in die Gegenwart (W 00:19:40, 00:21:30, 1:07:22). Nicht nur Kinderstuhl (W 00:22:00), Billigmilchtüten (W 00:20:28) und schlecht verputzte Wände (W 00:23:58) geben dem Film den Anschein einer realitätsgetreuen Milieudarstellung, auch die reale, künstlerisch unverklärte Präsenz des gemeinsamen Babys (W 00:22:00), das auf einer Theaterbühne kaum erscheinen dürfte, unterstützt die Authentizitätsbehauptung und deutet zugleich auf die existentielle Relevanz des Gezeigten voraus.15 Anstelle Stöcke mit Andres zu sammeln reinigt Woyzeck gemeinsam mit zwei Freunden die finsteren Berliner U-Bahn-Schächte und schlägt dort mit großer Emphase Ratten tot (W 00:07:30), was sich leicht metaphorisch mit der hier abgebildeten sozialen Skala zusammendenken lässt. Dem Woyzeck des 21. Jahrhunderts werden statt einer Erbsendiät mysteriöse Tabletten verordnet (W 00:04:30), deren Wirkung auf Woyzecks Konstitution ein nicht nä13 14

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Zur Definitionsproblematik vgl. Anne Bohnenkamp: Vorwort, in: Dies.: Literaturverfilmungen. Stuttgart: Reclam 2012, S. 9-40, hier S. 13-16. Wer die Straßenzüge des darüber hinaus nicht im Film benannten Stadtteils nicht erkennt, kann sich an die Informationen in zahlreichen Paratexten halten, z.B. https://taz.de/Theaterfilm-bei-Arte/!5057270/ Vgl.: Schon Werner Herzog setzte bei seiner Woyzeck-Verfilmung 1978 auf die existentielle Authentizität schaffende Präsenz des gemeinsamen, hier allerdings etwas älteren, Sohnes: Werner Herzog (Regie): Woyzeck (1978), DVD, Arthaus 2004, 00:13:36; 00:32:25.

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her definierter Doktor bemerkenswert rücksichtslos überprüft (W 00:05:40). Einen Hauptmann gibt es hier nicht zu rasieren, denn diesen Rollennamen trägt stattdessen der türkische Inhaber eines Dönerrestaurants (W 00:27:08), das, wie es ein Foto aus früheren Tagen suggeriert, einmal Woyzecks eigener Existenzgründungsversuch gewesen sein muss und den fehlerhaften Namen »Die Garnision« trug (W 00:03:40, 00:30:20). Gemeinsam mit unkommentierten Fernsehbildern eines Soldatenbegräbnisses (W 01:02:30) bleibt dies einer von wenigen Verweisen auf Woyzecks literarischen Soldatenstatus. Auch der Tambourmajor findet seine zeitgenössische Neuausrichtung als die zitathafte Darstellung einer Kiezgröße mit teurem Auto, dunklem Anzug und treuer Gefolgschaft (W 00:09:38). Hinter dem Konzept der Adaption des Dramas in das heutige Medium Film steht unverkennbar der Transfer der historischen Motive in eine authentische und vertraute gegenwärtige Gesellschaft, wenn er auch nicht durchgehend naturalistisch verfolgt wird: Grotesk erscheint etwa die Ausstaffierung des »Hauptmann«-Darstellers mit einem offensichtlich falschen muslimischen Bart (W 00:26:46), der wohl am ehesten als ironischer Verweis auf das im Film nicht mehr vorhandene Motiv des Rasierens durchgeht, obwohl sich diese Figur schon aufgrund ihrer häufigeren Präsenz und ihrer großen Relevanz für die Filmhandlung deutlich weniger als Büchners Hauptmann als Karikatur erklären lässt. Wie ein zugespitztes gesellschaftskritisches Zitat bildet sich in Woyzecks verlorenem Schnitzelimbiss »Die Garnision« ebenso wie in einer angedeutet rechtsradikalen Gesinnung unter Woyzecks Freunden (W 00:11:06, 00:56:01, 01:55:00) die rechtsnational geprägte Wahrnehmung ab, man werde durch MigrantInnen aus der »Heimat« verdrängt – während der sogenannte »Kanake Hauptmann« (W 00:11:05) den deutschen Bettler vor seiner Tür verjagt (W 00:26:40), Woyzeck für sich arbeiten lässt und über Moral, Frömmigkeit und das Heiraten philosophiert (W 00:28:05). Freilich spricht die falsche Namensgebung »Die Garnision« ebenso wenig für einen durchdachten Existenzgründungsplan wie die implizit »typisch deutsch« erscheinende, jedoch sehr unvernünftige Idee (W 01:05:47) eines Schnitzellokals im Wedding. Der bei Büchner angelegte Konflikt zwischen den verschiedenen sozialen Schichten wird bei Calis also im zeitgenössischen Sinne um die Ebene der Migration und des kulturellen Zusammenpralls erweitert, die darüber hinaus jedoch nur unterschwellig, häufig durch innerszenische oder aus dem Off eingespielte Filmmusik miterzählt wird, ohne einen thematischen Schwerpunkt des Films zu bilden. Die provozierende Eindimensionalität der Figurenzeichnung, mit der der Film hier teilweise agiert, ist darüber hinaus gewiss diskutierbar.

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Wie Büchners Drama ergreift der Film deutlich Partei für die sozial Schwachen, erzählt er doch nicht zuletzt auch vom schichtenspezifischen Zusammenhalt zwischen Woyzeck und seinen Freunden, denen er bei ihren alltäglichen, ebenso anstrengenden wie deprimierenden Verrichtungen folgt, welche sie akribisch und trotzig vollziehen (W 00:30:33, 00:51:30). Derweil illustrieren der gut gefüllte Tresor des »Hauptmanns« (W 00:48:12) oder das Auto und die Kleidung des »Tambourmajors«, wie andere erfolgreich für ihren eigenen Vorteil arbeiten. Wenngleich auch Woyzeck bekennt, er könne sich Moral »nicht leisten«, versuchen Woyzeck und seine Freundin Marie wie bei Büchner die Anforderungen eines Alltags in sozialer Armut zu bewältigen und dabei den Ansprüchen an Treue und Verantwortung gerecht zu werden (W 00:30:02). Calis gewährt Marie mehr Raum und charakterliche Ausgestaltung als der Autor Büchner, zeichnet sie zudem positiver und unschuldiger als eine treue und verantwortungsvolle Mutter und Lebensgefährtin, die ihrem dreisten Verehrer gar eine Ohrfeige erteilt (W 00:34:30), anstelle ihn wie Büchners Marie erst herauszufordern16 , und der man ihren einmaligen Ausbruch aus dem ernüchternden Alltag kaum übelnehmen wird (W 00:54:57).17 So wird Marie sowohl zum Opfer der Umstände als auch ihres eigenen Wertebegriffs und des Verantwortungsgefühls für ihre Kleinfamilie, aus deren ausweglosen Rahmenbedingungen auszubrechen ihr möglich geworden wäre, hätte ihr Gewissen es ihr gestattet. Woyzecks düstere Ahnungen von Maries Betrug verdeutlicht Calis zum einen durch die Montage der Annäherung des »Tambourmajors« an Marie mit der gleichzeitigen Großaufnahme Woyzecks, der auf dem Laufband des Doktors seinen Eindrücken und Gedanken ausgeliefert ist (W 00:18:05), wobei die Texte Maries und des »Tambourmajors« das Bild Woyzecks überlagern; und zum anderen durch Woyzecks Visionen im Zustand von Übermüdung und eingeschränkter Zurechnungsfähigkeit (W 00:37:00): Realität und Halluzination scheinen hier jeweils fließend ineinander überzugehen, schildern Woyzeck als nachdenklichen und in sich gekehrten Charakter mit fragiler Urteilsfähigkeit. Wenn Woyzeck Marie wegen der geschenkten Ohrringe zur Rede stellt, findet der Dialog des Originals, in dem Woyzeck Marie direkt auf den

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Vgl. Büchner, Georg: Woyzeck. Hg. v. Heike Wirthwein. Stuttgart: Reclam 2013, S. 18. Es sei an dieser Stelle unterstellt, dass es sich bei der betreffenden Szene um keine bloße Vision Woyzecks handelt, was den filmischen Mitteln der Überbelichtung, der Zeitlupe und der musikalischen Gestaltung nach durchaus so sein könnte, im Mindesten aber eine übersteigerte Wahrnehmung des Geschehens durch Woyzeck suggeriert.

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Tambourmajor anspricht,18 im Film nicht statt, wohl aber ein Weinkrampf Maries (W 00:25:10): Wo Büchners Marie Woyzeck abkanzelt und belügt, zeigt Calis’ Marie deutliche Verzweiflung und Schuldgefühle und erscheint als verantwortungs- und problembewusste Figur. Woyzeck hingegen, der seinen inneren Zustand bei Büchner bildstark in eine literarische Sprache kleidet, erscheint im Film durch eine Fülle stummer Aufnahmen wesentlich sprachloser, was der naturalistischen Darstellung des 21. Jahrhunderts freilich weitere Glaubwürdigkeit verleiht. Entsprechend der medialen Spezifizität von Drama und Film wird (neben der Schauspielerei) durch visuelle und akustische filmische Mittel wie Großaufnahme, Musik, Farbe und Licht jene Innenschau wortlos inszeniert, die das Drama durch wörtliche Rede erzählt. In den daraus folgenden vielen Momenten des regungsarmen und stummen Spiels ist allerdings auffällig, dass Woyzecks charakteristische Gehetztheit19 nur selten spürbar wird, denn die langsame Erzählweise des Films drückt vordergründig eher Monotonie und Handlungsunfähigkeit aus und sensibilisiert vor allem für die Statik und Sinnlosigkeit des hier gezeigten Lebensentwurfs. Man mag das Gedankenkarussell Woyzecks (W 00:37:00) an die Stelle dieser äußerlichen Rastlosigkeit setzen, doch in seinem täglichen Tun sichtbar wird die ständige Hektik einzig während seiner Arbeit in der Restaurantküche des »Hauptmanns«, den Woyzecks Anblick Büchners Text folgend angeblich »schwindlig« macht (W 00:27:15)20 . Sieht man Woyzeck auch bei verschiedenen Tätigkeiten zu, so läuft seine Darstellung dennoch dem Eindruck zuwider, sein Zustand könne einer steten Überarbeitung geschuldet sein,21 deuten doch stattdessen zahlreiche Verweise darauf hin, dass es vor allem die Tabletten und die Behandlung des Doktors sind, die Woyzecks Gesundheit angreifen, zu Schlafmangel (W 01:02:30) und Impotenz (W 00:11:32) führen, durch völlige Erschöpfung Sehstörungen verursachen (W 00:51:37) und schließlich Entzugserscheinungen und Abhängigkeit hervorrufen (W 01:13:30). Angesichts des naturalistischen Rahmens erscheint dies dramaturgisch fragwürdig, ist doch der Handlungsstrang um den Doktor und die Tabletten der am wenigsten in ein heutiges realitätsnahes Szenario eingebettete. Während die Umstände es Woyzeck unmöglich machen, seiner Verantwortung zu entsprechen, so dass sich das Missverhältnis 18 19 20 21

Vgl. Georg Büchner: Woyzeck. Hg. v. Heike Wirthwein. Stuttgart: Reclam 2013, S. 18. Vgl. ebd., S. 16; S. 22f. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. Alfons Glück: Woyzeck. Ein Mensch als Objekt, in: Interpretationen. Georg Büchner. Stuttgart: Reclam 1990, S. 179-220, hier S. 184.

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zwischen Aufwand und Ertrag – im beruflichen wie im privaten Sinne – in Nervosität und Aggression entlädt (W 00:30:30, 00:56:57), ist die Flucht ins Phantastische sein letzter Ausweg, um der Frustration standzuhalten: Dabei wird Woyzecks Sehnsucht nach einem anderen Leben durch eine ausgeschnittene und sorgsam gehütete Immobilienanzeige in einem geheimen Versteck in den unterirdischen U-Bahn-Schächten visualisiert (W 00:17:00). Der Film steigert Woyzecks subjektive Wahrnehmung bis zur offenbaren Verkennung der Realität im unerfüllbaren Traum vom Eigenheim und in Visionen von einem glücklicheren Leben, die durch verfremdende Mittel wie Überbelichtung, Unschärfe und eine deutlich vom deprimierenden, naturalistischen Grundton der übrigen Szenen abweichende Spielweise als irreal gekennzeichnet sind (W 00:17:11, 00:17:30, 00:58:26). Die Schere zwischen Arm und Reich, dem »Leben in der Gosse« und den »scheißfeinen Leuten« (W 00:33:20), die bereits in den Authentizität zitierenden Straßenaufnahmen angedeutet wurde (W 00:19:30), spiegelt sich umso deutlicher in dieser überhöhten Gegenüberstellung von Realität und Träumerei. Allerdings denkt Calis die Geschichte weiter und bleibt bei dieser Bestandsaufnahme keineswegs stehen. Seine Figuren emanzipieren sich deutlich von Büchner, wenn Woyzeck im letzten Drittel des Films den »Hauptmann« niederschlägt und dessen Tresor plündert (W 01:14:43), um sogleich Rache an seinen Feinden zu nehmen: Wo Büchners Woyzeck die untreue Marie wie stellvertretend für seine unerreichbaren Gegner ersticht,22 lässt sich ein Woyzeck der Gegenwart in der zeitgenössischen Logik des Films nicht daran hindern, sowohl den »Hauptmann« als auch den Doktor als Ziele eines sich in Aggression und Gewalt entladenden, paranoischen Welthasses zu verprügeln (W 01:13:16). Waren Hauptmann und Doktor in der starren Hierarchie der Büchner’schen Welt auch den psychologischen Abhängigkeiten nach für Woyzecks Rache unerreichbar, erscheinen die Strukturen unter den Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts zunächst aufgeweichter, Woyzeck in seinem Selbstverständnis beweglicher. Dass Woyzeck allerdings seine Genugtuung dennoch nicht bekommt, ist einem verschwörerisch anmutenden Zusammenhalt seiner Antagonisten geschuldet, der keineswegs auf Büchners Text basiert, da er sich aus den wenigen Begegnungen des Dok-

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Vgl. Arnd Beise: Einführung in das Werk Georg Büchners. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010, S. 115.

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tors und des Hauptmanns in Büchners Entwürfen kaum ableiten lässt.23 Bei Calis besucht der Doktor den »Hauptmann« in seinem Restaurant nicht nur zum Essen, sondern auch zur ärztlichen Behandlung (W 00:47:25) und tauscht sich mit ihm über Woyzeck aus (W 00:45:30); der »Tambourmajor« besucht den Doktor verstohlen in seinem Labor (W 01:03:16); das türkische Restaurant ist ein Treffpunkt für alle drei und am Ende versammeln sie sich gar in einer finsteren Werkstatthalle, wo sie Woyzeck nahezu totschlagen lassen (W 01:18:33). Dass man all dies trotz Woyzecks psychischer Disposition nicht dem schon bei Büchner angelegten Verfolgungswahn des Protagonisten anlasten kann, zeigt sich bereits daran, dass jenseits von Woyzecks gebrochener Perspektive auch seine Freunde diese Merkwürdigkeiten irritiert wahrnehmen (W 0:39:06, 1:02:08). Eine solche Verschwörungstheorie zu entwerfen erscheint letztlich nur durch abstrakte Deutungsmuster tragfähig, die die Figuren als surreal ins Groteske verzerrte Systemvertreter anlegen und in zugespitzter Form ein fiktionales Weltbild zur Diskussion stellen, das sich zum sozialen Realismus des Films jedoch widersprüchlich verhält. Ob hinter diesem Geflecht tatsächlich der heimliche Handel mit eigenartigen Tabletten stecken könnte, der assoziativ an die Verbreitung von Crystal Meth oder Ecstasy denken lässt, ist angesichts weniger, zaghafter Andeutungen kaum mehr als spekulativ (W 01:16:45); ebenso wenig hilfreich für das Verständnis sind im Labor des Doktors ablaufende Fernsehbilder deutscher Soldaten (W 01:02:30), die zwar durch den Vergleich mit Büchners Text zitathaft eingeordnet werden mögen und einen den historischen Umständen des Originals24 ähnlichen staatlichen Forschungsauftrag suggerieren könnten, darüber hinaus aber kaum zur Sinnkonstitution beitragen. Der im Film nur angedeutete Mord an Marie erscheint nach gescheiterter Rache als letzter Ausweg, um eine für Woyzeck unerträgliche Situation zu beenden, wobei die filmische Erzählung, die keinen Gewaltakt Woyzecks gegen Marie zeigt, sondern als letzte Einstellung vor der Tat seinen verträumtverliebten Blick abbildet (W 01:26:4), eher einen erweiterten Suizid antizipieren lässt. Denn Woyzeck führt Marie und das gemeinsame Kind zu seinem

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Vgl. Georg Büchner: Woyzeck. Hg. v. Heike Wirthwein. Stuttgart: Reclam 2013, S. 21-23. Vgl. auch die weiteren, nicht in dieser Ausgabe enthaltenen Entstehungsstufen: Georg Büchner: Woyzeck. Hg. v. Henri Poschmann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 63-65; S. 77f. Vgl. Burghard Dedner: Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner: Woyzeck. Stuttgart: Reclam 2000, S. 183-188.

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im geheimen Versteck halluzinierten zukünftigen Glück, das durch das Foto des vermeintlichen Traumhauses verbildlicht wird (W 01:26:19), und das, da es unerreichbar ist, nur noch die Option des gemeinsamen Todes zuzulassen scheint. Doch ganz so, als werde die Darstellung des Undarstellbaren bewusst ausgelassen, ersetzt der Regisseur hier die eigentliche Tat durch einen 15-sekündigen schwarzen Bildschirm, um nach einem anschließenden Ortswechsel und Zeitsprung nur noch zu zeigen, wie Woyzeck das schon bei Büchner als Requisit mit großer Bedeutung aufgeladene, jetzt blutige Messer in der letzten Einstellung des Films zitathaft fallen lässt (W 01:27:27). Ob man sich in Kenntnis oder Unkenntnis des Büchner’schen Schlusses befindet, wird sich angesichts der Offenheit des Endes umso stärker auf die Rezeption auswirken und mag durchaus eine gewisse Frustration hervorrufen. Dass die letzte Szene Woyzeck ohne sein Kind zeigt, macht dabei die schreckliche Deutung wahrscheinlich, dass in der Adaption neben Marie auch das sonst so präsente Kind seiner Rache zum Opfer gefallen ist, während er selbst jedoch am Leben bleibt, was die Erwartung des erweiterten Suizids widerlegt und sich aus der Filmhandlung nur schwer begründen lässt; allerdings verweist der schwarze Bildschirm auch hier jeglichen Deutungsversuch in den Bereich der Spekulation. Ebenso müßig ist die Überlegung, Woyzeck könnten Zweifel an seiner Vaterschaft gekommen sein, da das Kind, das die Rolle verkörpert, beiden Eltern auffällig wenig ähnelt; denn der Film legt diesen Gedanken durch keinerlei Andeutung nahe. Natürlich ist unbestritten, dass es Calis als Regisseur überlassen ist, mit den zahlreichen Andeutungen, losen Enden und nicht auserzählten Situationen aus Büchners unvollendetem Drama nach eigenem Ermessen zu verfahren, Lücken aus gegenwärtiger Perspektive zu füllen und wiederum neue offene Fragen auf zeitgenössischer Basis zu generieren; nur muss in der Gesamtbetrachtung die Frage gestellt werden, ob und inwieweit dieser Umgang mit dem Werk zur Sinnstiftung und zur Eröffnung eines qualitativen Diskurses beitragen kann, was letztlich auch wiederum das Medium selbst in den Fokus rückt und im Folgenden die Analyse der gewählten ästhetischen Mittel einfordert. Erscheint der Film zuweilen auch wie eine hyperrealistische Milieustudie, erfährt er dennoch wiederkehrend seine ästhetische Brechung: So zeigen sich Woyzecks Phantasien vom Glück durch die unscharfe Optik der inszenierten Halluzinationen von überbelichteten Sommertagen, nutzt der Regisseur verfremdende Mittel wie rote Färbung, atmosphärische Klänge und Stimmen aus dem Off zur Illustration der psychischen Disposition, was bereits in der vierminütigen Anfangssequenz besonders eindrücklich geschieht

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(W 00:00:01-00:04:05) und sich danach an vielen Stellen in unterschiedlicher Intensität wiederholt: Indem der Film Woyzecks Sehstörungen durch die Unschärfe des Bildes visualisiert (W 00:59:16, 01:00:00), die Stimmen in seinem Kopf akustisch hörbar macht (W 00:03:55, 00:53:00) und die Übermüdung, Überreizung und Überhitzung durchgehend im detailliert naturalistischen Spiel Tom Schillings abbildet, sorgt er vor allem für die sinnliche Übertragung des inneren Zustandes, für das performative Erschaffen von Atmosphäre und nicht zuletzt für die Identifikation mit der fiktionalen Figur, in deren Innerstes das Publikum blickt. Auch Woyzecks heutzutage noch stärker als zur Entstehungszeit des Stücks irritierender Verfolgungswahn vor den »Freimaurern« (W 01:08:08) lässt sich damals wie heute als Produkt seiner Psyche erklären und aus gegenwärtiger Sicht zugleich als eine verfremdende Reminiszenz an das Original verstehen, die außerdem beispielhaft für den Umgang der Adaption mit Büchners Text ist: Denn durch zahlreiche aus dem Original übernommene Textfragmente wird hier eine verfremdende und irritierende Wirkung erzeugt, die sich meistens – wenn auch nicht immer, wie im Falle des von Marie erzählten Sterntaler-Märchens zu sehen ist (W 00:21:45) – aus Woyzecks Psyche heraus begründen lässt und durch die der Film vom realitätsnahen und in seiner bruchstückhaften Art mitunter gar wie improvisiert wirkenden Dialog (W 00:09:28) immer wieder formalästhetisch abweicht. Zwei Varianten einer verfremdenden Abbildung psychischer Auffälligkeiten scheinen demnach miteinander zu konkurrieren, von denen nur eine genuin filmisch geprägt ist, da sie mit Farbe, Belichtung, Kameraführung und Musik arbeitet, während die andere auf die Irritation durch einen 200 Jahre alten Dramentext innerhalb eines filmrealistischen Ambientes setzt. Während die Inszenierung den Protagonisten als glaubwürdig in seinen Visionen und Ahnungen gefangen zeigt, werden Woyzecks Halluzinationen, Wahngedanken und anachronistische Äußerungen durch sein Umfeld dabei konsequenterweise entweder ironisch kommentiert (W 00:08:08, 00:10:30) oder gefürchtet (W 01:23:50). Calis fügt seiner realistisch grundierten Erzählung durch filmische Gestaltungsmittel und den Einbezug originaler Textfragmente also auf zweierlei Weise die Ebene der deutlichen Zurschaustellung von Woyzecks Psyche hinzu, deren eine als sinnliches Rezeptionsangebot zu verstehen ist, während die andere zur Metaebenen-Betrachtung herausfordert, indem sie Distanz zum Protagonisten schafft: Durch diesen Kunstgriff wird Woyzeck sowohl durch die Vermittlung der Innen- als auch durch die Betrachtung aus der Außenperspektive zum Zentrum der Handlung. Dass das Identifikations-

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angebot der Titelfigur somit der Aufforderung zur Reflexion gegenübersteht, ist eine der größten konzeptionellen Eigenarten des Films. 35 Jahre vor Calis nutzte der Regisseur Werner Herzog in seiner Woyzeck-Adaption extrem stilisierte Bilder, durch die er Büchners Errungenschaft realistischer und expressionistischer Vorgriffe, welche 150 Jahre nach Büchner in einem gänzlich anderen Verhältnis zur zeitgenössischen Kunst gesehen werden mussten als zur Entstehungszeit des Textes, durch Verfremdung umdefinierte und das gleiche wie Büchner in umgekehrter Richtung tat: Eine etablierte mediale Form zu durchbrechen.25 Erst mit der Zeit setzte sich die Erkenntnis durch, dass Herzogs Werk mehr ist als ein »theaterhafter« Film, der mit seiner Formentscheidung nicht etwa vor der Vorlage kapituliert, sondern mit ihr konsequent verfährt.26 Was Calis’ Film von Werner Herzogs Woyzeck von 1978 deutlich unterscheidet ist die Konzentration auf ein stärker phänomenologisch geprägtes Rezeptionsangebot, wo Herzogs abstrakte, statische Bilder und das stilisierende Spiel seines Ensembles vor allem zur reflektierten Betrachtung aus der Distanz herausfordern.27 Calis wiederum wählt durch seine filmrealistische Grundierung einen gänzlich anderen Umgang als Herzog für die aus heutiger Sicht extrem artifizielle Form Büchners, der er sich teils in ironischer (W 00:08:08) und teils in zitathafter Weise nähert (W 00:21:45), die er mitunter durch eine stumme, genuin filmische, atmosphärische Erzählung ersetzt oder die er in Dialogfetzen und schwer verständliches Flüstern auflöst. Dabei erweckt Calis’ Woyzeck allerdings mitunter den Eindruck, dass die filmische Inszenierung und der Transfer in die Gegenwart sich mit der sprachlichen Substanz des Ursprungstextes nicht vertragen. Dass Calis abgesehen von der irritierenden Wirkung, die Büchners Originaltext in dieser Umgebung entfaltet, auch optische und akustische Verfahrensweisen der Verfremdung anwendet, vermag diesen Widerspruch nicht aufzulösen (sofern dies denn überhaupt gewollt wäre): Denn all die Anachronismen in Woyzecks Sprache mögen zwar als ein Symptom seiner psychischen Absonderlichkeit begriffen werden, doch 25 26

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Anschaulich erschlossen und herausgestellt in: Wolfgang Gast/Barbara Deiker: Film und Literatur 2. Frankfurt a.M.: Diesterweg 1993, S. 64. Vgl. Peter Schott/Thomas Bleicher: Woyzeck (Georg Büchner – Werner Herzog). Zwischen Film und Theater, in: Anne Bohnenkamp: Literaturverfilmungen. Stuttgart: Reclam 2012, S. 95-103, hier S. 102f. Vgl. hierzu Werner Herzog im Interview: Peter Buchka (Regie): Bis ans Ende … und dann noch weiter. Die ekstatische Welt des Filmemachers Werner Herzog (1989), DVD, Werner Herzog Film/Goethe-Institut 2010, 0:11:30-0:12:05.

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was Büchners nicht nur unvollendetem, sondern ohnehin stationenhaftem28 Stück durch seine Lückenhaftigkeit, seinen fragmentarischen Charakter, seine losen Enden und ungeklärten Andeutungen seine surreale Rätselhaftigkeit verleiht, fängt Calis’ Film als ein in sich geschlossenes, filmrealistisch grundiertes Werk nicht ein. Zwar fordern einige unaufgelöste Irritationen zur Deutung heraus, erscheinen gegenüber der naturalistischen, in einzelnen Ausschnitten gar dokumentarischen Anlage allerdings eher gewollt als aus der Konstruktion schlüssig begründbar. Um diese Verschiebungen als Mechanismen einer surrealen Erzählweise zu charakterisieren, die das konzeptionelle Mittel der Irritation aus der Meta-Betrachtung verständlich machen würde, erscheint der Film wiederum seiner naturalistischen Basis nach nicht eklektisch genug aufgebaut zu sein. Im vom Realismus abgekehrten, in vielen Spielarten abstraktionsgeschulten Theater des 21. Jahrhunderts hingegen finden die inhaltlichen Rätsel des Stücks ihre Entsprechung in den formalen Charakteristika des Fragments: So bildet die sprachliche und strukturelle Form des bereits durch seine Unfertigkeit zum Musterbeispiel eines offenen Dramas erklärten Textes29 den zerrütteten psychischen Zustand und das unsichere Welterleben des Protagonisten ab, indem Form und Inhalt eine Korrespondenz eingehen, welche Büchner, noch vor der Vollendung verstorben, kaum im Sinn gehabt haben dürfte. Nun mag man Calis nicht vorhalten, dass das, was Büchner durch das ungewollt Fragmentarische an Geniestreich »passierte«30 in der strukturell viel zielgerichteter zu organisierenden Kunstform Film keine Entsprechung findet. Wird aber der Film als isoliertes, eigenständiges Werk ohne Rückbezug auf das Büchner’sche Drama in seiner Wirkung und Aussage untersucht, so erscheinen seine ästhetischen und inhaltlichen Widersprüchlichkeiten sich einer schlüssigen Lesart letztlich zu verweigern. Wenn hier für die vergleichende Analyse des Films mit dem Originaltext eingetreten wird, so soll damit nicht in Zeiten zurück gefallen sein, in denen die Literaturverfilmung als eigenständige Gattung gegenüber der literarischen Quelle grundsätzlich als zweitrangig galt (womit die Adaption im

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Vgl. Theo Elm: Der Fall Woyzeck und die »Möglichkeit des Daseins«, in: Ders.: Das soziale Drama. Von Lenz bis Kroetz. Stuttgart: Reclam 2004, S. 109-138, hier: S. 119; S. 135. Vgl. Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. München: Carl Hanser Verlag 14 1999 [1960]. Heiner Müller zit.n. Burghard Dedner: Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner: Woyzeck Stuttgart: Reclam 2000, S. 281.

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Vergleich zumeist den Kürzeren zog).31 Doch der Vergleich verspricht sowohl in inhaltlicher als auch in formalästhetischer Hinsicht einiges an Erkenntnispotential, das einer unterrichtlichen Verwendung entgegen kommt. Calis’ Woyzeck schlägt eine Gegenwartsdeutung vor, die durch ihre Emanzipation vom Büchner’schen Original zur Diskussion herausfordert: So entwirft Calis durch den verschwörerischen Zusammenhalt der Antagonisten eine Atmosphäre des Undurchschaubaren und Ungeklärten, des Ausgeliefertseins, des Bedrohlichen und der Gefährdung durch ein übermächtig interaktives System, dem das Individuum auch bei heftigster Gegenwehr nicht beikommen kann, da sich das System mit seinen bodenständigen, strukturimmanenten Mechanismen als stärker erweist als der einzelne Mensch. Dies geschieht extremer als bei Büchner, dessen Stück die Figuren nicht zuletzt aufgrund des fragmentarischen Charakters stark individualisiert und voneinander isoliert,32 während bei Calis das System als von sich zuarbeitenden Personen getragen hervorsticht. Der »Geringste«, in dessen Leben man sich Büchners Worten gemäß hier vertieft,33 ist an »unterst Stuf von menschliche Geschlecht«34 von selbstbestimmter Mitwirkung ausgeschlossen, sein Versuch der Teilhabe scheitert durch die Einwirkung der höher Gestellten und sein beharrliches Ringen um Selbsterhaltung führt zu seiner Demontage. So findet Büchners Gesellschaftskritik letztlich ihre Überführung in eine zeitgenössische Abbildung, die detailreicher, zugespitzter und abgelöst vom Original ihre eigene, gegenwärtige Weltdeutung behauptet. Calis’ Abwandlungen und seine psychologisch-realistische, auf das sinnliche Erleben konzentrierte Narration scheinen die Konsequenz einer heutigen Wirklichkeitsbetrachtung und Erzählweise zu sein, basierend auf der Psychologie und der Logik der in die Gegenwart transponierten Figuren. Der Eindruck, dass die in die Gegenwart verlegte Filmerzählung ihrer schlichten Vorhersehbarkeit geschuldet dabei wenig tragfähig wäre, reduzierte man sie um

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32 33 34

Vgl. Anne Bohnenkamp: Literaturverfilmungen. Stuttgart: Reclam 2012, S. 9-12. Vgl. Franz-Josef Albersmeier: Einleitung: Von der Literatur zum Film. Zur Geschichte der Adaptionsproblematik, in: Ders./Volker Roloff: Literaturverfilmungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 15-37. Vgl. Theo Elm: Der Fall Woyzeck und die »Möglichkeit des Daseins«, in: Ders.: Das soziale Drama. Von Lenz bis Kroetz. Stuttgart: Reclam 2004, S. 109-138, hier: S. 122. Georg Büchner: Lenz, in: Ders.: Lenz. Der Hessische Landbote. Stuttgart: Reclam 1957, S. 335, hier S. 14. Vgl. Georg Büchner: Woyzeck. Hg. v. Heike Wirthwein. Stuttgart: Reclam 2013, S. 12.

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die verfremdenden Originalzitate, die die Assoziation an Büchner’sche Tiefenstrukturen erhalten, scheint indes nicht von der Hand zu weisen.35 Doch ist die wiederkehrende Abweichung vom teils dokumentarisch anmutenden Naturalismus eine konzeptionelle Eigenart des Films, die ihre Entsprechung auch in Calis’ Adaption von Wedekinds Frühlings Erwachen findet. Die vergleichende Betrachtung beider Filme mag also geeignet sein, um diesbezüglich die Perspektive zu erweitern.

3

Melchior rappt und Wendla gibbelt

Bei seinem Transfer des Wedekind’schen Stoffes in die Gegenwart konzentriert sich der Regisseur auf den unmittelbaren jugendlichen Lebensraum, indem er die meisten der vielen erwachsenen Nebenfiguren des Originals entfernt und die Interaktion der jungen Figuren in den Mittelpunkt rückt. Den symbolistischen Gehalt des Dramas verringert er durch die Auslassung des vermummten Herrn und die Verkürzung des Auftritts von Moritz’ Geist (FE 01:19:22). Indem der Regisseur von Beginn an die Wimperntusche, langgewachsenen Fingernägel und aknegeplagten Gesichter der Jugendlichen per Großaufnahme ins Bild setzt (FE 00:00:01, 00:01:15, 00:01:48), etabliert auch Frühlings Erwachen eine naturalistische Gesamtästhetik mit Interesse am authentischen Detail, wobei aber insbesondere durch Atmosphäre schaffende Beleuchtung, Bildgestaltung und Musik durchgehend auf eine phänomenologisch geprägte Rezeption gesetzt wird, der keinerlei dokumentarische Ästhetik anhaftet wie etwa den Berliner Straßenszenen in Woyzeck. Während sich Wendla schminkt, fahren die Jungs Fahrrad auf einem mit Graffiti übersäten Parcours (FE 00:01:50) und das durch Farbe und Licht eindeutig sommerliche Ambiente ermöglicht vor allem die Sexualisierung der Körper durch knappe Kostüme (FE 00:03:57) – ins Extrem gesteigert, wenn sich Melchior gar vollkommen der Kleidung entledigt (FE 00:15:03). Thematisch wird das gegen die eigentümlich infantile Behandlung Wendlas durch ihre Mutter (FE 00:03:40) gesetzte adoleszente Geschlechterbewusstsein durch solche Zeichen eindeutig etabliert, und schon dies wäre mit Jugendlichen im bei Wedekind vorgesehen Alter von 14 Jahren36 kaum vor die Kamera zu bringen. So

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Vgl. Nina Pauer: Büchner zum Einschlafen, in: Die Zeit, 17.10.2013, www.zeit.de/2013/43/film-woyzeck-georg-buechner. Frank Wedekind: Frühlings Erwachen. Stuttgart: Reclam 1971, S. 5, S. 51f.

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muss also das Filmpublikum von vornherein akzeptieren, dass Calis’ Besetzung durchgehend fünf bis acht Jahre zu alt für die jungen Rollen ist – dächte man sie sich naturalistisch, was durch den filmrealistischen Rahmen, in dem die Jungs rappen und die Mädchen gibbeln (FE 00:11:00), schwer zu umgehen ist. Calis, der seine hier als Drehbuch adaptierte Überschreibung von Wedekinds Text 2007 und 2008 in Hannover, Essen und Düsseldorf zunächst auf die Theaterbühne brachte,37 entscheidet sich auch in seiner filmischen Umsetzung »nach Motiven von Frank Wedekind«38 für ein Profi-Ensemble junger SchauspielerInnen. Was mit Blick auf die schauspielerischen Anforderungen unmittelbar einleuchtet, läuft dennoch dem Bemühen um Authentizität zuwider, kann man doch die Naivität und Unbedarftheit der Wedekind’schen Figuren, die dem Publikum filmrealistisch näher kommen als in der abstrakteren Kunstform Theater, kaum glaubwürdig in diesen jungen Erwachsenen behaupten. Die Verfremdung, die freilich durchaus gewollt sein kann und ihre irritierende Eigendynamik entwickelt, erzeugt eine der WoyzeckVerfilmung nicht unähnliche Atmosphäre des Widersprüchlichen, die umso deutlicher durch die Naivität im virtuos realistischen Spiel der Figuren unterstützt wird, sodass gefragt werden kann, ob nicht gerade dieses Besetzungskonzept dafür geeignet ist, ein Angebot der Metaebenen-Reflexion zu schaffen. Wie in Woyzeck werden die realistischen Szenen, Orte und Darstellungsmittel durch einzelne Versatzstücke der Sprache Wedekinds konterkariert (FE 00:05:32, 00:07:00, 00:46:40), die jeweils den inneren Zustand der Figuren hinter der vermeintlich coolen Äußerlichkeit in literarische Worte fassen. Kann dies in Woyzeck als Ausdruck psychischer Deformation durchaus Schlüssigkeit entwickeln, so erscheinen die vorgetragenen Weisheiten der zu alt geratenen Jugendlichen eher wie eine verfremdete Abbildung nihilistischer Weltdeutung der Adoleszenzzeit.39 Im größtenteils neu geschriebenen, einen jugendlichen Duktus authentisch abbildenden Text von Nuran David Calis wirken die Originaltexte, wenngleich sie weniger zum Einsatz kommen

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https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_seoglossary&view=glossary&catid=78&id=27 7&Itemid=0. Nuran David Calis: Frühlings Erwachen, DVD-Cover. Vgl. hierzu etwa die Ausführungen von Reinhard Göllner über Phasen der Identitätsfindung im Jugendalter: Reinhard Göllner: Kindliche Todesvorstellungen und Trauerreaktionen begleiten. Eine Thanatagogik für Kinder, in: Ders.: Mitten im Leben umfangen vom Tod. Tod und Sterben als individuelle und gesellschaftliche Herausforderung. Berlin: LIT 2010, S. 135-164, hier: S. 149f.

Zwei Literaturverfilmungen von Nuran David Calis

als in Woyzeck, gleichwohl wie Fremdkörper, die zur älteren Besetzung wiederum besser passen als das realistische, jugendliche Spiel. Was als Abstraktion in einer Theaterinszenierung weniger überraschen würde, durchbricht im Film, wenn auch nur an wenigen Stellen, die darüber hinaus behauptete filmische Illusion, die die Problematik der Jugendlichen, die Ambivalenzen gegenüber dem anderen Geschlecht (FE 00:10:42), die Probleme mit Eltern und Schule (FE 00:44:00, 00:48:50), die Diskrepanz zwischen Kind- und Erwachsensein und die jugendlichen Weltdeutungsversuche durchaus souverän authentisch abbildet und erlebbar macht: Nahezu permanent wird exzessiv geraucht und Alkohol getrunken (FE 00:00:10, 00:02:20, 00:08:49, 00:25:27, 00:27:48, 00:46:13, 01:14:48) und es wird darüber hinaus auch Rauschgift konsumiert (FE 00:35:27), was jugendliche Unbedarftheit ebenso zeigt wie das Ende der Kindheit, aber auch als Rebellion gegen die Gängelung durch die Eltern verstanden werden kann und nicht zuletzt als Zeichen der Verdrängung von Realitäten durch Sucht und Drogen. Einzelne Abweichungen vom naturalistischen Spiel fallen dadurch umso mehr auf: Moritz’ Sehnsucht nach Amerika etwa, die als Parallele zu Woyzecks Sehnsucht nach dem Traumhaus gesehen werden kann, entlehnt Calis bei Wedekind und ergänzt sie mit Originaltexten des Amerika-Auswanderers John Muir (FE 00:13:20). Moritz’ Traum wird wie Woyzecks Sehnsucht als fantastisch entlarvt, was sowohl durch die ausgestellte Künstlichkeit in der Rede Moritz’ deutlich wird als auch durch Moritz’ Konflikt mit dem autoritären Vater, der den Sohn – als das gestrenge Äquivalent zur »hibbeligen« Mutter Wendlas – aus seinem Verfügungsbereich nicht entlassen möchte und sein Nicht-Funktionieren damit bestraft, sein Recht auf Selbstbestimmung einzuschränken. In der Gegenüberstellung von Realismus und Verfremdung zeigt sich, was auch Wedekind, graduell unterschiedlich, anprangert: die Diskrepanz zwischen der Notwendigkeit und dem Bewusstsein der Eigenverantwortung der Jugendlichen einerseits und der Fremdbestimmung durch das System der Erwachsenen andererseits. Die emotionale Verwirrung der Heranwachsenden offenbart sich wie bei Wedekind im Motiv des Schlagens und Geschlagenwerdens40 (FE 00:26:30), im Wunsch nach dem (Sich-)Spüren, der Identitätskonstituierung und dem Erfahrungsgewinn, sei es doch »besser[,] eine schlechte Erfahrung« zu machen »als gar keine« (FE 00:44:28); im Falle Melchiors zeigen sich dabei zudem das Aggressionspotential und die maskuline Körperkraft, die altersbedingt stärker zunimmt als der junge Mann es selbst reflektiert. In vielerlei Hinsicht 40

Frank Wedekind: Frühlings Erwachen. Stuttgart: Reclam 1971, S. 22.

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illustriert Calis’ Film die Hilflosigkeit des Umgangs der jungen Leute mit ihrer durch die erwachende Körperlichkeit neu definierten Lebenssituation.41 Dass Calis die Geschichte vor zeitgenössischem Hintergrund anders erzählen muss als Wedekind, zeigt sich dabei in der starken Reduktion der den Jugendlichen ursprünglich zugeschriebenen Naivität gegenüber der eigenen Sexualität und Geschlechtlichkeit vor dem Hintergrund der schulisch wie elterlich längst etablierten sexuellen Aufklärung. So findet der zurückhaltend visualisierte Geschlechtsverkehr zwischen Wendla und Melchior im Film in gegenseitiger Übereinkunft statt (FE 00:55:00), während Wedekind, der die Szene mit wenigen Worten versprachlicht und das Intime darüber hinaus wie stets durch aneinandergereihte Gedankenstriche überdeckt, Wendlas Gegenwehr erkennen lässt.42 Merkwürdig mutet es hingegen an, wenn eine Frage wie die von Moritz – »Hast du schon einmal ein Mädchen gesehen?«43 (FE 00:15:30) – im Dialog der erwachsenen Darsteller verbleibt, erscheint sie doch auch vor pubertärem Hintergrund in einer durch und durch medial geprägten Wirklichkeit erstaunlich weltfremd. Konsequent ist indes, dass eine zeitgemäß aufgeklärte Wendla, die bei Wedekind noch Opfer einer durch die Mutter initiierten Abtreibung wird, sich bei Calis zunächst bewusst für ihr Kind entscheidet (FE 01:11:20). Erst fehlende familiäre Vorbilder, die Verunsicherung durch den eigenen Mangel an Erfahrung und Urteilsfähigkeit und letztlich auch die Entscheidungs- und Handlungsunfähigkeit des Kindsvaters Melchior (FE 01:22:00) bringen sie dazu, den Schwangerschaftsabbruch in einer stark affektgesteuerten Szene durch Gewalt gegen sich selbst herbeizuführen, was die Überforderung aller Beteiligten mit allen Konsequenzen deutlich macht (FE 01:24:45). Vom Ursprungstext unabhängig betrachtet lässt Calis’ Film sich als Kaleidoskop verschiedener Probleme der Pubertätszeit verstehen, da er durch seine diversen Figurenkonstellationen und Handlungsstränge Spannungsfelder um Liebe, Schule, Eltern und Freundschaft miteinander in Beziehung setzt. Calis interessiert sich für die Innenperspektive und die soziale Interaktion der Jugendlichen offenbar mehr als für ihre Position im gesamtgesellschaftlichen Konstrukt und gerade deswegen fällt besonders auf, wie sehr die Jugendlichen in ihren Zwängen, Nöten und ihrem Bedarf nach qualifizierter Hilfestellung

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Vgl. Calis: Frühlings Erwachen, 00:44:23: »Dein Inneres ist nicht so schnell wie dein Äußeres.« Frank Wedekind: Frühlings Erwachen. Stuttgart: Reclam 1971, S. 34. Ebd., S. 12.

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sich selbst überlassen sind. Das pubertäre Gefühl des Alleingelassenseins mit bislang unbekannten Sorgen und Problemen wird durch die Reduktion des Films auf den Mikrokosmos der jugendlichen Welt zwischen Kindheit und Erwachsensein konsequent spürbar; die Perspektive der Jugendlichen prägt die auf Authentizität abzielende Erzählweise des Films. Dabei ist es vor allem die weitreichende Kürzung und Neuschreibung der erwachsenen Figuren, mit der sich die Handlungsstruktur von Calis’ Film deutlich von Wedekind emanzipiert, sodass eine vergleichende Analyse wie im Falle Woyzecks vielversprechend ist: Wo die Jugendlichen bei Wedekind zu Opfern eines von Verdrängung geprägten, autoritären und wirklichkeitsfremden Systems werden,44 das ihnen keinen Spielraum eigener Erfahrung und Entscheidung gestattet, reduziert Calis die Funktion der Erwachsenen ebenso wie das Motiv der sexuellen Naivität, da seine Jugendlichen zeitgemäß aufgeklärter als Wedekinds Figuren sind; was ihnen aber stattdessen fehlt, sind Reflexionsfähigkeit und die Souveränität im Umgang mit den eigenen Gefühlen und der sexuellen Reife. Was Woyzeck durch eine nicht näher definierte psychische Erkrankung an Reflexions-, Urteils- und Bewertungsfähigkeit fehlt, fehlt den von der hormonellen Umstellung der Jugendzeit herausgeforderten Figuren altersbedingt durch einen Mangel an Lebenserfahrung. Der Vergleich zwischen Ursprungstext und Adaption macht darauf aufmerksam, wie sehr sich die Auslassung der Erwachsenen auf die Dramaturgie auswirkt, denn während bei Wedekind die destruktive Einwirkung der Erwachsenen zur Katastrophe führt, macht Calis umso stärker auf das Fehlen von qualifizierter Anleitung und Verständnis durch erwachsene Vorbilder und somit auf die Problematik der Jugendlichen mit der eigenen Lebensphase aufmerksam. Insofern verortet Calis die Geschichte glaubwürdig in einem zeitgenössischen Rahmen, der die Selbständigkeit der Jugendlichen aufwertet und das autoritäre Konstrukt der ursprünglich historischen Umgebung an den Rand drängt. In der heutigen Zeit vorhandene Beratungsangebote spielen im Film keine Rolle, Lehrpersonen treten nicht auf und die wenigen Elternfiguren, deren Inszenierung man eine gewisse Eindimensionalität durchaus vorwerfen kann, erweisen sich in ihren unlogischen und kontraproduktiven Reaktionen als verständnislos und überfordert (FE 00:48:00, 01:11:00, 01:17:00). Die Art, wie Calis die wenigen Auftritte von Eltern im Vergleich zu Wedekind umschreibt, lässt sie wie das Produkt eigener Traumata 44

Vgl. Hans-Jochen Irmer: Der Theaterdichter Frank Wedekind. Werk und Wirkung. Berlin: Henschel 1979, S. 111f.

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ihres früheren adoleszenten Welterlebens wirken, welches sie so wenig verwunden haben, dass ihre Wahrnehmung paralleler Probleme bei den eigenen Kindern in Angst und Aggression umschlägt (FE 01:11:23, 1:12:20). Die Lage der Jugendlichen erscheint dadurch tatsächlich beunruhigend hoffnungslos und die Frage nach Handlungsalternativen erhält im Film keinen Raum; sie wird auch durch den surrealen Auftritt des toten Moritz, der gegen Melchiors Todessehnsucht argumentiert, kaum gestreift (FE 01:29:22). Sie bedürfte der qualifizierten Nachbereitung, sofern der Film Unterrichtsgegenstand werden soll, denn eine kritische Distanz zum Gezeigten, wie sie bei der Rezeption von Wedekinds Originaltext aus heutiger Sicht durch die Zeichnung historischer Normen und die sprachliche Qualität entsteht, baut sich bei Calis nicht auf, wird durch den Transfer in die Gegenwart ja gerade überbrückt: Durchgehender als in Woyzeck ist das Rezeptionsangebot hier sinnlich geprägt, fordert Empathie, Identifikation und Perspektivübernahme ein und nutzt dafür künstlerische Mittel, die aus Woyzeck vertraut sind: Durch den Umgang mit Farben, Überbelichtung und atmosphärischer Musik zum Zwecke der Abbildung innerer Zustände und einer verzerrten und unsicheren Sicht auf die Welt erzählt der Regisseur den Film konsequent aus der Sicht jugendlichen Erlebens. Gerade das Identifikationspotential für das junge Publikum, das sich im Gezeigten stärker abgebildet finden dürfte, als es zielgruppenspezifisch bei Woyzeck zu erwarten ist, bedarf indes auch der notwendigen Reflexion, denn die bloße Abbildung der Problematik jugendlichen Welterlebens einschließlich des tragischen Ausgangs wäre für ein junges Publikum extrem kritisch zu sehen – was sich in der FSK16-Beschränkung des Films widerspiegelt. In dieser Hinsicht scheint der Film Frühlings Erwachen – wie schon Wedekinds Drama – trotz der virtuosen schauspielerischen Darstellung adoleszenten Welterlebens stärker eine Botschaft für Eltern und LehrerInnen als für Jugendliche bereitzuhalten, scheint er doch um Verständnis zu werben für eine problematische Lebenslage. Nur in geringem Maße – und entsprechend weniger als bei Woyzeck – verweist der Einsatz verfremdender Mittel als ästhetisches Element der Brechung innerhalb der performativ das affektive Erleben ansprechenden Erzählweise auf Reflexionspotentiale: Nur vereinzelt nutzt auch Frühlings Erwachen den Verfremdungseffekt der den Originaltexten entnommenen, keineswegs jugendlichen Sprache und durchbricht so die naturalistische Grundierung, was mit der Besetzung der Jugendlichen durch junge Erwachsene korrespondiert. Dabei ist zudem festzuhalten, dass Frühlings Erwachen anders als Woyzeck nie einen dokumentarischen Charakter behauptet, die Schere der ästhetischen Mittel hier also weniger weit aus-

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einanderklafft. Die Frage allerdings, inwieweit durch die Gegenüberstellung naturalistischer und einzelner verfremdender Mittel das zielgruppenspezifische Rezeptionserlebnis eher problematisch wird oder aber dazugewinnt, dürfte sich dabei am ehesten durch Filmscreenings mit Jugendlichen im Rahmen des Unterrichts untersuchen lassen, die indes klar kontextualisiert und begleitet sein müssen.45

4

Zwischen Interpretation und Kreation

Die Auseinandersetzung mit der Adaption als filmischem Phänomen beginnt bereits Mitte des 20. Jahrhunderts mit André Bazin und George Bluestone, die sich uneins darüber sind, ob die Literaturverfilmung sich der »Werktreue« gegenüber dem Original verschreiben46 oder vielmehr als eigenständiges, künstlerisches Werk gelten solle.47 Das umfangreiche und aufgrund zahlreicher Begriffsüberlagerungen sehr unübersichtliche Feld der meist angloamerikanisch geprägten »adaptation studies« bietet ein Inventar an, mit dem sich auch Nuran David Calis’ Vorgehensweise und die Merkmale von Woyzeck und Frühlings Erwachen beschreiben lassen. Mit Linda Hutcheon kann zunächst festgehalten werden, dass jegliche Literaturverfilmung eine Form der Intertextualität darstellt,48 die als kreative Interpretation ebenso wie als interpretierende Kreation49 vermittels sehr verschiedener filmischer Mittel das erzählerische Prinzip des »telling« in die filmische Verfahrensweise des »showing« überführt.50 Die in der deutschsprachigen Forschung verbreitete Kategorisierung von Adaptionstypen nach Helmut Kreuzer hilft nur eingeschränkt weiter, um beide Filme zwischen der ihre Ursprungstexte in visuelle

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Zu den rechtlichen Grundlagen des Umgangs mit der FSK16-Beschränkung im Schulunterricht vgl. https://www.bundespruefstelle.de/blob/144554/4d2baa6e1eeaefbf943fc99cf130f9c7/flyer-der-einsatz-von-filmen-und-computerspielen-im-schulunterricht-data.pdf. Vgl. JuSchG § 14. André Bazin: Für ein »unreines« Kino – Plädoyer für die Adaption, in: Ders.: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films. Köln: DuMont Schauberg 1975, S. 45-67. George Bluestone: Novels into Film. Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press 1957. Linda Hutcheon: A Theory of Adaptation. London: Routledge 2008, S. 21. Ebd., S. 8. Ebd., S. 38.

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Mittel kleidenden »Adaption als Illustration«51 und der darüber hinaus freier mit dem Stoff verfahrenden »Aneignung von literarischem Rohstoff«52 einzuordnen. Noch problematischer erscheint Helmut Schanzes Kategorisierungsvorschlag, der hier gar zu einer Mischung aus drei von vier vorgeschlagenen Varianten führt: Im Sinne der sogenannten »Adaption«53 nach Schanze versuchen die Filme in ihrer Eigenart, Realismus mit Verfremdung zu verbinden, eine strukturelle Äquivalenz zum Ursprungstext herzustellen, was in Calis’ Falle fließend in die sogenannte »filmische Transformation«54 übergeht, die die künstlerische Eigenart des Mediums Film gegenüber dem literarischen Original hervorhebt und sich schließlich als »Transfiguration«55 immer stärker vom Original emanzipiert. Auch Julie Sanders’ Unterscheidung zwischen »adaptation« und »appropriation« hat mit Calis’ Eigenart zu kämpfen, sich einerseits deutlich erkennbar auf den literarischen Ursprungstext zu beziehen, wie es im Begriff der »adaptation«56 festgehalten ist, sich aber andererseits den Stoff soweit im Sinne der »appropriation«57 anzueignen, dass die Ablösung vom Original erreicht wird und unverkennbar ein eigenständiges, künstlerisches Werk entsteht. Zur Klärung kann hier die bei Sanders zitierte Unterscheidung dreier Varianten von »adaptation« nach Cartmell und Whelehan beitragen, die speziell den kulturellen, geographischen und historischen Transfer des Ursprungstextes, wie er sich in Calis’ Filmen unzweifelhaft ereignet, mit dem Begriff der »transposition« belegt.58 Durch ihre Abweichungen vom Original kommentieren Calis’ Adaptionen zugleich ihren Ursprungstext, was freilich die Kenntnis der Originalwerke für das Verständnis voraussetzt, und lassen sich daher mit Sanders, Cartmell und Whelehan als »commentary«

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Helmut Kreuzer: Arten der Literaturadaption, in: Wolfgang Gast: Literaturverfilmung, Bamberg: C. C. Buchner 1999, S. 27-31, hier S. 27. Ebd. Helmut Schanze: Fernsehgeschichte der Literatur. München: Wilhelm Fink 1966, S. 86f. Ebd., S. 87f. Ebd., S. 88. Julie Sanders: Adaptation and Appropriation. New York: Routledge 2006, S. 18. Ebd., S. 26. Ebd., S. 20. Vgl. Deborah Cartmell/Imelda Whelehan: Adaptations. From Text to Screen, Screen to Text. London: Routledge 1999, S. 24. Die Autorinnen beziehen sich hier auf Geoffrey Atheling Wagner: The Novel and the Cinema. Rutherford: Fairleigh Dickinson University Press 1974, S. 222.

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klassifizieren.59 Eine die Adaption ungleich weiter aus ihrem Ursprungstext lösende Literaturverfilmung würde der als »analogue«60 bezeichneten dritten Kategorie zuzuordnen sein, welche im Falle von Woyzeck und Frühlings Erwachen allerdings nicht vorliegt. Stärker auf die Verfahrensweise als auf die Kategorisierung blickt schließlich Brian McFarlane, dessen Unterscheidung zwischen »transfer« und »adaptation proper« als die Gegenüberstellung jener literarischen Komponenten zu verstehen ist, die in filmischer Weise leicht abbildbar sind oder die eine komplexere formale Entscheidung erfordern, um als filmische Entsprechung der literarischen Substanz gelten zu können.61 Um dies untersuchen zu können, unterscheidet McFarlane »narrative« und »enunciation«: In Anlehnung an Todorov und Genette setzt er »histoire« und »discours« voneinander ab, unterscheidet also inhaltliche Elemente der Erzählung und formale Elemente der Erzählweise, wie es sich auch in der vorliegenden Analyse formaler Mittel und ihrer inhaltlichen Aussagepotentiale als relevant ergeben hat. Die genannten Begriffe erweisen sich somit als nutzbar für die Untersuchung der Verfilmungen von Woyzeck und Frühlings Erwachen, in denen sich das Zusammenspiel und die Widersprüchlichkeit von Inhalt und Form als strukturbildend herausgestellt haben. Auch um jenen aussagekräftigen Freiheiten beizukommen, die sich der Regisseur bei der Ablösung seiner Adaptionen von den Ursprungstexten nimmt, machen die »adaptation studies« einen Vorschlag, der – Dunja Brötz folgend – McFarlanes Unterscheidung zwischen »transfer« und »adaptation proper« durch die Kategorie der Erfindungen, der »innovations«, ergänzt.62

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Julie Sanders: Adaptation and Appropriation. New York: Routledge 2006, S. 22. Vgl. Deborah Cartmell/Imelda Whelehan: Adaptations. From Text to Screen, Screen to Text. London: Routledge 1999, S. 24. Julie Sanders: Adaptation and Appropriation. New York: Routledge 2006, S. 22f. Vgl. Deborah Cartmell/Imelda Whelehan: Adaptations. From Text to Screen, Screen to Text. London: Routledge 1999, S. 24. Sanders nennt als Beispiel die Adaption von Joseph Conrads Heart of Darkness durch Francis Ford Coppolas Apocalypse Now. Brian McFarlane: Novel to Film. An Introduction to the Theory of Adaptation. Oxford: Clarendon Press 1996, S. 23-30. Dunja Brötz: Fürst Myškin auf Hokkaido: Ein intermedialer Vergleich zwischen Fëdor Dostoevskijs Roman »Der Idiot« (1868/69) und Akiro Kurosawas Film »Hakuchi« (1951), in: Stefan Neuhaus: Literatur im Film. Beispiele einer Medienbeziehung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 87-106, hier S. 91.

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Zusammenfassung: Wieviel Realismus verträgt der Klassiker?

»Aber Herr Doktor, wenn einem die Natur kommt«,63 versucht Büchners Woyzeck sich zu behaupten, bevor ihm der Doktor das Wort abschneidet. Metaphorisch aufgeladen und in vielfältiger Hinsicht zitiert und benannt spielt die Natur als Bild für die menschliche »Kreatürlichkeit«64 im Spannungsfeld von Autonomie und Determination sowohl bei Büchners als auch bei Wedekinds Menschendarstellungen eine zentrale Rolle. In Nuran David Calis’ Überführung der Fabeln in einen gegenwärtigen Kontext findet der Blick in die innersten Zustände und Antriebe des Menschen durch die konzeptionelle Grundentscheidung für eine naturalistische Ästhetik ihre konsequente filmische Realisation. Dass Calis auf die filmrealistische Grundierung seiner zwei Sozialdramen setzt, unterscheidet freilich das Medium Film grundsätzlich vom zeitgenössischen Regietheater, das bei aller gegenwärtigen Vielfalt der Formen doch zumindest den »Bühnennaturalismus« als uninteressant ad acta gelegt hat,65 während realitätsgetreue Wirklichkeitsabbildung filmisch umso besser und glaubwürdiger realisierbar ist. Setzt man Calis’ filmische Inszenierung zu den meist viel stärkeren Abstraktionen zeitgenössischen Regietheaters in Bezug, so fällt allerdings auf, dass aktualisierende Veränderungen im Theater weniger Widersprüchlichkeiten hervorrufen als im realismusnahen Film und dass der Transfer der historisch verankerten Psychologie in die Gegenwart in den Filmen mit Glaubwürdigkeitsproblemen zu kämpfen hat. In beiden Filmen entwirft Nuran David Calis zeitgenössische Gesellschaftsbilder, die seine ProtagonistInnen authentisch innerhalb ihrer Zwangslagen aus Abhängigkeiten, Sehnsüchten, unerreichten und unerreichbaren Zielen, wirtschaftlichen und emotionalen Drucksituationen und letztendlicher Handlungsunfähigkeit zeigen. Auf diese Weise spürt er der individuellen zeitgenössischen Relevanz der Ursprungswerke aus der Perspektive des frühen 21. Jahrhunderts nach, was dramaturgische Umdeutungen hinsichtlich der Verortung der ProtagonistInnen in der sie umgebenden Zeit geradezu erzwingt: So muss Woyzecks Zwangslage innerhalb eines hierarchischen und absolutistischen Systems anderen, zeitgenössisch begründeten Abhängigkeiten weichen, während die Jugendlichen um Wendla

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Vgl. Georg Büchner: Woyzeck. Hg. v. Heike Wirthwein. Stuttgart: Reclam 2013, S. 19. Theo Elm: Der bürgerliche Komment und die Anarchie des Lebens, in: ders.: Das soziale Drama. Von Lenz bis Kroetz. Stuttgart: Reclam 2004, S. 186-208, hier: S. 196f. Vgl. Andreas Englhart: Das Theater der Gegenwart. München: C. H. Beck 2013, S. 7-10.

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und Melchior im 21. Jahrhundert aufgeklärter und deutlich weniger naiv mit ihrer Sexualität umgehen als im deutschen Kaiserreich. Beim Transfer in die Gegenwart folgt Calis in beiden Fällen zunächst in unterschiedlich groben Zügen der Handlung der Originaltexte, bevor er sich mit fortschreitender Handlung immer weiter vom Original emanzipiert und die im zeitgenössischen Rahmen neu etablierten Figuren und ihre Handlungsweisen ihrem neuen Umfeld gemäß quasi fortschreibt, wodurch er letztlich seine vom Ursprungstext immer unabhängiger werdenden, eigenen Werke schafft. So abstrahiert Calis vom individuellen Fall und sucht für die abstraktionsfähige Substanz der Erzählung eine zeitgenössische Entsprechung, sowohl hinsichtlich der Figuren und des Handlungszusammenhangs als auch der Psychologie, was andere Verhaltensweisen der Figuren hervorruft als im Original. Durch die Verortung in einem dezidiert zeitgenössischen Kontext halten auch Aspekte interkultureller Gesellschaften und hybrider Lebensentwürfe wie selbstverständlich Einzug in die ursprünglich aus dem 19. Jahrhundert adaptierten Gesellschaftsbilder, ohne jedoch auffallend in den Fokus gerückt zu werden. Während die Diversität der zeitgenössischen Gesellschaft in Frühlings Erwachen nur in Andeutungen, etwa durch die darüber hinaus nicht thematisierte Besetzung der Jugendlichen, insbesondere der Figur Otto durch Kais Setti, visualisiert ist, dabei aber auf die Filmhandlung keinen Einfluss nimmt, ist ihr thematischer Stellenwert in Woyzeck durch zahlreiche Abbildungen des interkulturellen Wedding, durch die offensichtlich international besetzte Restaurantküche des »Hauptmanns« (W 00:26:28) und insbesondere durch die Umdeutung der Figur des »Hauptmanns« selbst deutlich höher. In der Gesamtbetrachtung erzählen beide Filme Interkulturalität, Diversität und Migration als eine die Realität prägende Normalität, wozu in Woyzeck auch die teils negative und plakative Darstellung einzelner Figuren gehört, in der Klischees zitathaft überhöht und ausgestellt werden. Dass Letzteres indes dem durch den Film etablierten Authentizitätskonzept zuwiderläuft, ist eine Beobachtung, die mit der schon benannten Problematisierung der inszenierten Verfremdungen innerhalb beider Filme einhergeht. Fasst man die Beobachtungen zum sozialen Ort in beiden Adaptionen zusammen und vergleicht sie außerdem mit ihren Ursprungstexten, so lassen sich Wirkungspotentiale einer zeitgenössischen Lesart herausstellen, durch die Neuinszenierungen kanonischer Texte Gegenwartsthemen und -probleme erfahrbar und reflektierbar machen. Die interessantesten Aspekte, so legt es die Analyse nahe, ergeben sich aus der vergleichenden Gegenüberstellung der Adaptionen mit ihren Ursprungs-

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texten, was im Unterrichtskontext besonders vielversprechend ist. Gerade Woyzeck und Frühlings Erwachen erweitern in der Gegenüberstellung von Original und Adaption das Bewusstsein für die gesellschaftliche Veränderung und für neue Schwerpunktsetzungen des Transfers der sozial definierten Thematik samt ihrer psychologischen Folgen für das Individuum in die Gegenwart. Dies zeigt sich vor allem durch die Adaption einer von Zwängen, Anforderungen und gesellschaftlicher Eigendynamik geprägten alltäglichen Überforderung, unter der letztlich die ProtagonistInnen beider Filme, ihrer spezifischen Lebensphase und ihrem sozialen Kontext entsprechend, zu leiden haben und an der das Unverständnis der Umwelt für die individuelle Lage ihren Anteil hat. Dabei scheint sozialer Realismus in beiden Filmen erkennbar gewollt, während zugleich mit der Diskrepanz zwischen Realismus und Verfremdung gearbeitet wird, die immer wieder zur reflektierten Betrachtung der identifikatorischen Vorgänge herausfordert und eine außergewöhnliche Filmästhetik generiert. Obwohl Calis es mit Texten zu tun hat, die bereits für eine szenische Realisation geschrieben wurden, deren Übertragbarkeit in das Medium Film also grundsätzlich naheliegend erscheint, verfasst er den größten Teil des Drehbuchs in seinem Sinne neu. Angesichts des intendierten Transfers in eine naturalistisch grundierte, filmische Gegenwart scheint dieses Vorgehen schlüssig und geradezu unvermeidlich, unterscheiden sich doch nicht zuletzt auch grundsätzlich die Vorstellungen, die sich verschiedene historische Phasen von inhaltlichem und ästhetischem Realismus machen. Dabei spiegelt der spezielle, zwischen Naturalismus und Verfremdung pendelnde Regiezugriff auch die literaturhistorische Besonderheit der Ursprungstexte wider, welche durch ihre zur jeweiligen Entstehungszeit unkonventionelle Verbindung von artifiziellen und realistischen Merkmalen ästhetische Verwandtschaften aufweisen. Wieviel Realismus also die ihrer Substanz nach als zeitlos geltenden, kanonischen Klassiker heute zum Zwecke ihrer Anbindung an zeitgenössische Interessen, Perspektiven und Sehgewohnheiten vertragen können – oder, aus der anderen Richtung betrachtet, wie viel sie erfordern; und, wiederum anders gefragt, wie viel Verfremdung eine naturalistisch grundierte Adaption klassischer Stoffe verkraftet oder wieviel ihr nutzt – dies sind Fragen, über die sich am Beispiel von Calis’ Filmen streiten lässt.

Zwei Literaturverfilmungen von Nuran David Calis

Literatur Albersmeier, Franz-Josef: Einleitung: Von der Literatur zum Film. Zur Geschichte der Adaptionsproblematik, in: Ders./Volker Roloff: Literaturverfilmungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 15-37. Bazin, André: Für ein »unreines« Kino – Plädoyer für die Adaption, in: Ders.: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films. Köln: DuMont Schauberg 1975, S. 45-67. Beise, Arnd: Einführung in das Werk Georg Büchners. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010. Bluestone, George: Novels into Film. Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press 1957. Bohnenkamp, Anne: Vorwort, in: Dies.: Literaturverfilmungen. Stuttgart: Reclam 2012, S. 9-40. Brötz, Dunja: Fürst Myškin auf Hokkaido: Ein intermedialer Vergleich zwischen Fëdor Dostoevskijs Roman »Der Idiot« (1868/69) und Akiro Kurosawas Film »Hakuchi« (1951), in: Neuhaus, Stefan: Literatur im Film. Beispiele einer Medienbeziehung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 87-106. Büchner, Georg: Lenz, in: Ders.: Lenz. Der Hessische Landbote. Stuttgart: Reclam 1957, S. 3-35. Büchner, Georg: Woyzeck, hg. v. Henri Poschmann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. Büchner, Georg: Woyzeck. Hg. v. Heike Wirthwein. Stuttgart: Reclam 2013. Cartmell, Deborah/Whelehan, Imelda: Adaptations. From Text to Screen, Screen to Text, London: Routledge 1999. Dedner, Burghard: Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner: Woyzeck. Stuttgart: Reclam 2000. Eckert, Nora: Wilson inszeniert Büchner oder Was ist unter der Oberfläche?, in: Dedner, Burghard/Gröbel, Matthias/Vering, Eva-Maria: Georg Büchner Jahrbuch 11 (2005-08). Tübingen: Niemeyer 2008, S. 207-220. Elm, Theo: Der bürgerliche Komment und die Anarchie des Lebens, in: Ders.: Das soziale Drama. Von Lenz bis Kroetz. Stuttgart: Reclam 2004, S. 186208. Elm, Theo: Der Fall Woyzeck und die »Möglichkeit des Daseins«, in: Ders.: Das soziale Drama. Von Lenz bis Kroetz. Stuttgart: Reclam 2004, S. 109-138. Englhart, Andreas: Das Theater der Gegenwart, München: C. H. Beck 2013.

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Stefan Schroeder

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Filme Bis ans Ende… und dann noch weiter. Die ekstatische Welt des Filmemachers Werner Herzog (D, 1989, Peter Buchka, 59 min.)

Zwei Literaturverfilmungen von Nuran David Calis

Frühlings Erwachen (D, 2009, Nuran David Calis, 95 min.) Woyzeck (D, 1978, Werner Herzog, 82 min.) Woyzeck (D, 2013, Nuran David Calis, 90 min.)

Online-Quellen bundespruefstelle.de. https://www.bundespruefstelle.de/blob/144554/4d2baa6e1eeaefbf943fc99cf130f9c7/flyer-der-einsatz-von-filmen-undcomputerspielen-im-schulunterricht-data.pdf (20.3.2018). Calis, Nuran David: Glaubensbekenntnis. Protokolliert von Hannes Vollmuth, in: Süddeutsche Zeitung, 10.3.2017. www.sueddeutsche.de/leben/glaubensbekenntnis-nuran-david-calis1.3411959 (20.3.2018). munzinger.de. https://www.munzinger.de/search/portrait/Nuran+David+Calis/0/28215.html (20.3.2018). nachtkritik.de. https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_seoglossary&view=glossary&catid=78&id=277&Itemid=0 (20.3.2018). Pauer, Nina: Büchner zum Einschlafen, in: Die Zeit, 17.10.2013. www.zeit.de/2013/43/film-woyzeck-georg-buechner (20.3.2018). taz.de. https://taz.de/Theaterfilm-bei-Arte/!5057270/ (20.3.2018).

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Städtische Räume und Regionalität in Tatorten von Züli Aladağ und Umut Dağ Deniz Bayrak & Sarah Reininghaus

Abstract. Deniz Bayrak and Sarah Reininghaus analyse two episodes of Tatort with regard to the filmic realisation of urban, rural and regional spaces. Only since 2003 can one identify film-makers with German-Turkish background who participate in the success of this German TV-production. By choosing Mutterliebe and Rebecca the authors intentionally avoid episodes dealing with the topics of migration and integration. In Rebecca, there is a minor GermanTurkish character whose migration background is neither problematized nor does it have an effect on the plot. In this context, the article is a plea for a predominantly filmaesthetic focus on the works of German-Turkish artists without considering biographical aspects in the process of reception an interpretation. Instead, the work itself is emphasised by applying a space theoretical approach.

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Einleitung

Der »Mord zum Sonntag«1 , dem sich ein deutsches Publikum seit 1970 allwöchentlich hingibt, kann als Teil des deutschen kulturellen Gedächtnisses erachtet werden2 , da er sich als Abbild und Speicher deutscher Sozial- und Gesellschaftsgeschichte erwiesen hat und somit deutsche gesellschaftspolitische

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Alfred Phabigan: Mord zum Sonntag. Tatortphilosophie. Salzburg/Wien: Residenz Verlag 2016. Zur gesellschaftlichen Bedeutung und Reichweite der Tatort-Reihe vgl. Dennis Gräf: Tatort. Ein populäres Medium als kultureller Speicher. Marburg: Schüren 2010, S. 1128.

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Deniz Bayrak & Sarah Reininghaus

Themen umfasst3 . Hinsichtlich der Provenienz der Regisseure und auch der wenigen Regisseurinnen unter ihnen lässt sich bis in die 2000er Jahre sagen, dass auch die Gruppe der Kreativen, die den Tatort kreieren, eine vorwiegend deutsche ohne Zuwanderungsgeschichte zu sein scheint. Erst ab Mitte der 1990er Jahre lassen sich auch deutsche RegisseurInnen mit Zuwanderungsgeschichte identifizieren. Von 2003 bis heute4 blickt die Tatort-Geschichte auf lediglich zehn Folgen dreier deutsch-türkischer Regisseure zurück5 , wobei diese inhaltlich differieren: Zum Teil werden die Themen Migration und Integration berücksichtigt und erfüllen damit eine häufig zu beobachtende Erwartungshaltung an deutsch-türkische FilmemacherInnen, zum Teil werden diese Themen aber komplett außen vorgelassen. Der vorliegende Beitrag widmet sich bewusst zwei Tatort-Folgen deutsch-türkischer Regisseure, die das weite Thema der Migration unberücksichtigt lassen. Dies ist verbunden mit der Absicht, gerade nicht, wie oftmals erwartet, bei der Analyse der Werke vornehmlich auf einer inhaltlichen Ebene zu verhaften, womöglich noch mit biografischem Bezug. Der Beitrag versteht sich damit als ein dem Poststrukturalismus verpflichteter, der der Annahme vom Tod des Autors6 und damit einer Abkehr von nurmehr biographischen Bezügen folgt. Viel eher soll eine Fokussierung auf das filmästhetische Schaffen der Künstler gelegt werden; dabei liegt das Hauptinteresse vornehmlich auf der räumlichen Inszenierung, die sich für den Tatort in aller Regel als eine urbane darstellt. Mit den beiden betrachteten Folgen liegen zwei Tatorte vor, die entgegen dieser Majorität urban inszenierter Tatorte Anteile ihrer Handlung im ländlichen Raum verorten und sich daher für einen Vergleich miteinander als auch für eine Analyse ihrer jeweiligen Nutzung urbaner und provinzieller Räume als geeignet erweisen.

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Vgl. Jürg Häusermann: Synchronisierte Heimat. Die Deutsche Schweiz als Bundesland der ARD, in: Eike Wenzel (Hg.): Ermittlungen in Sachen Tatort. Recherchen und Verhöre, Protokolle und Beweisfotos. Berlin: Bertz 2000, S. 225-234, hier S. 226. Stand: 17.04.2020. Die bisher erschienenen Tatorte wurden von Züli Aladağ, Umut Dağ und Özgür Yıldırım verantwortet. Für den 10.05.2020 wird die Ausstrahlung des Tatorts eines deutsch-kurdischen Regisseurs, Hüseyin Tabak, angekündigt (vgl. Chudzicki, Martina: Regisseur Hüseyin Tabak aus Enger dreht seinen ersten Tatort, Neue Westfälische Online, 24.08.2019, https://www.nw.de.lokalkreis_herford/enger/22542187_Borowskiund-der-Regisseur-aus-Enger.html). Vgl. Roland Barthes: Der Tod des Autors, in: Roland Barthes: Das Rauschen der Sprache. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 57-63.

Städtische Räume und Regionalität in Tatorten

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Urbanität und Regionalität im Tatort

Die Stadt spielt im Tatort eine grundlegende Rolle, vor deren Hintergrund die Handlungsstränge und die jeweiligen Figuren, allen voran die Kommissarinnen und Kommissare, inszeniert werden. Nicht zuletzt trägt die Zugehörigkeit zum Kriminalgenre dazu bei, dass der Darstellung der Stadt als Ort des Verbrechens besonderer Raum zugestanden wird. Denn zum einen suggeriert die Anonymität der Großstadt die Möglichkeit, mit einem Verbrechen ungestraft davonzukommen, was selbstredend die Tatort-KommissarInnen (fast) immer durch ihre Ermittlungsarbeit zu verhindern wissen. Zum anderen stellt sie ein ideales Setting für Leichenfundorte, wie Industriebrachen, Grünanlagen und Großwohnsiedlungen dar und bietet TäterInnen sowie Verdächtigen Verstecke in Form von ungenutzten Fabrikanlagen oder heruntergekommenen Wohnvierteln7 . Im Sinne einer Authentizitätsbehauptung werden lokale Bezüge hergestellt, um die Welt des Films mit der der Rezipientinnen und Rezipienten zu verknüpfen und die Illusion entstehen zu lassen, die präsentierte Stadt sei ein Abbild der real existierenden. Zu diesem Zwecke werden häufig regionale Wahrzeichen gezeigt, die die Identifizierbarkeit der jeweiligen Stadt sichern sollen. Da aus produktionstechnischen Gründen durchschnittlich nur zehn bis fünfzehn Minuten des fertigen Films tatsächlich in der jeweiligen TatortStadt gedreht werden, »müssen in dieser relativ kurzen Zeit klare Zeichen gesetzt werden, die die jeweilige Stadt eindeutig lesbar machen. Daher beziehen sich diese Zeichen oft auf markante Orte«.8 Bedenkt man die Spielfilmlänge eines Tatorts, wird schnell deutlich, wie groß der Anteil derjenigen Szenen ist, die nicht in der jeweiligen Stadt produziert werden. Um dennoch authentisch zu wirken, werden zum einen Hinweise auf die Stadt durch Veranstaltungshinweise, Nummernschilder9 etc. gegeben, zum anderen wird ganz allgemein der Schein von Urbanität gewahrt, indem großstädtische Bilder allgemeiner 7 8

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Vgl. Björn Bollhöfer: Geographien des Fernsehens. Der Kölner Tatort als mediale Verortung kultureller Praktiken. Bielefeld: transcript 2007, S. 130f. Klaus-Peter Platten: Der markante Ort: Zur Gestaltung von Räumen im Tatort, in: Julika Griem/Sebastian Scholz (Hg.): Tatort Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers. Frankfurt: Campus 2010, S. 319-326, hier S. 323. Vgl. Rolf Parr: Vehikel, Charakter-Pendant und Mittel zur Raumerkundung, in: Christian Hißnauer/Stefan Scherer/Claudia Stockinger (Hg.): Zwischen Serie und Werk. Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im Tatort. Bielefeld: transcript 2014, S. 129-144, hier S. 130.

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Art, wie beispielsweise vorbeiziehende Menschenmassen in der Innenstadt, Stadtverkehr o.Ä. gezeigt werden. Entgegen dieser Suggestion eines Realitätsabbilds muss jedoch festgehalten werden, dass »der Film die Stadt durch seine spezifischen Darstellungsund Ausdrucksmittel neu entstehen [lässt]«10 . Wie dies filmästhetisch erfolgt, wird die folgende exemplarische Analyse der Tatorte Mutterliebe (2003, Regie: Züli Aladaḡ) und Rebecca (2016, Regie: Umut Dağ) zeigen, wobei die raumtheoretische Betrachtung einen besonderen Fokus auf die Inszenierung von Urbanität im Allgemeinen, auch in Abgrenzung zum Ländlichen, aber auch auf die Darstellung regionaler Besonderheiten der jeweils spezifischen Stadt legt.

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Mutterliebe (2003)

Im Tatort Mutterliebe werden u.a. die so genannten Babyklappen und ihre moralischen, gesellschaftlichen sowie sozialen Dimensionen aufgegriffen: Maria Wagner, Teil einer gut situierten Unternehmerfamilie, entbindet heimlich ein Kind im Landhaus ihrer Schwiegereltern und bringt es zur Babyklappe eines Kölner Krankenhauses. Wie sich später herausstellt, handelt es sich bei dem Vater des Kindes um Marias Schwiegervater Heinrich Wagner, der patriarchisch über seine Familie regiert. Die diensthabende Schwester wird tot aufgefunden, das Kind ist verschwunden. Schnell fällt der Verdacht auf Maria Wagner bzw. ihren Ehemann Andreas. Dieser wird kurze Zeit später ebenfalls tot im Landhaus seiner Eltern aufgefunden, wobei sich sein Tod als inszenierter Suizid entpuppt, bei dem der Verdacht auf seinen Vater fallen sollte. Schließlich gibt es am Ende des Films noch eine dritte Leiche: Heinrich Wagner schwimmt tot in seinem Pool. Letztlich stellt sich heraus, dass die Krankenschwester von Heinrich Wagners Tochter Julia bei dem Versuch getötet wurde, das Baby an sich zu nehmen – ein Resultat ihrer traumatischen Vergangenheit, in der sie ihr eigenes Kind bei einem Unfall verloren hat. Der Mord an dem Vater scheint ebenfalls von Julia Wagner begangen worden zu

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Björn Bollhöfer: Tatort Deutschland – Auf geographischer Spurensuche zwischen Sylt und Konstanz, Aachen und Dresden, in: Julika Griem/Sebastian Scholz (Hg.): Tatort Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers. Frankfurt a.M.: Campus 2010, S. 31-50, hier S. 48.

Städtische Räume und Regionalität in Tatorten

sein, wobei das konkrete Motiv offenbleibt, jedoch über Missbrauch spekuliert werden kann. Bei seiner Untersuchung von Kölner Tatorten stellt Björn Bollhöfer Folgendes fest, was auch für den Köln-Tatort Mutterliebe zutreffend ist: Die typische Struktur von Gut und Böse, von Mord und Aufklärung ist entsprechend gebunden an eine fundamentale räumliche Ordnung und ordnet sich ihr funktional zu. In diesem Sinne fungieren Schauplätze und soziale Milieus auch nicht als bloßer, tendenziell austauschbarer Hintergrund einer Handlung, sondern Räume markieren symbolische Felder, die normativ besetzt sind und narrativ entsprechend genutzt werden. […] An der Basis der internen Organisation der Kriminalgeschichte findet sich in der Regel ein Prinzip binärer semantischer Opposition, das mit sozialen und räumlichen Realisierungen korreliert.11 Mit Blick auf diese Feststellung, die stark auf die raumtheoretischen Überlegungen von Jurij M. Lotman und Hans Krah referiert, kann festgehalten werden, dass zwar Köln als urbanes Setting des Films zu nennen ist, jedoch auch dessen Peripherie bzw. ein etwas ländlicher Vorort. Somit bilden sich die semantischen Teilräume Stadt vs. Land12 heraus, wobei Fahle Exkurse aufs Land eher als Ausnahme für das Tatort-Format sieht und betont: »Der Raum der Stadt ist vielmehr ein anderer als der des Landes.«13 Diesen Teilräumen können bestimmte Orte zugeordnet werden, die entsprechend ebenfalls als distinktive Räume betrachtet werden können. Hier sind beispielsweise das Polizeipräsidium, das Krankenhaus und die Wohnung von Ballaufs Ex-Geliebter in Abgrenzung zum Landhaus der Familie Wagner zu nennen. Insbesondere das Landhaus wird in Abgrenzung zu städtischen Settings so semantisiert, dass das (Un)heimliche, Verborgene, aber auch das Spirituelle und Mystische, fast im Sinne eines haunted house14 , dominiert, wie noch zu zeigen sein wird. Dem gegenüber können den oben exemplarisch genann-

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Björn Bollhöfer: Geographien des Fernsehens. Der Kölner Tatort als mediale Verortung kultureller Praktiken. Bielefeld: transcript 2007, S. 133. Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München: Fink 1972, S. 311-329. Oliver Fahle: Die Nicht-Stadt im Tatort, in: Julika Griem/Sebastian Scholz (Hg.): Tatort Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers. Frankfurt a.M.: Campus 2010, S. 69-80, hier S. 78. Vgl. zum Motiv des haunted house: Peter Hutchings: The Horror Film. London/New York: Routledge 2004.

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Deniz Bayrak & Sarah Reininghaus

ten Orten semantische Attribute wie »pragmatisch«, »aufdeckend«, »transparent« sowie »offenbar« zugeschrieben werden.

3.1

Landhaus

Als Einstieg in die raumtheoretische Analyse soll das Landhaus der Familie Wagner eine nähere Betrachtung erfahren. Insbesondere zu Beginn am Abend der Geburt erscheint das Haus sehr unheimlich und unüberschaubar; Einblicke werden den ZuschauerInnen lediglich in den Essbereich, in das Badezimmer als Ort der Entbindung und in den Flur sowie auf die steinerne Treppe gewährt. Dabei gibt es nur eine indirekte Beleuchtung, insgesamt ist die Inszenierung eher dunkel, nicht zuletzt durch die schwere, braune Holzvertäfelung, die die Wände ziert. Auch akustisch erinnert die Darstellung des Hauses an ein aus dem gothic novel bekanntes haunted house: Das Knarren der schweren Holztüren und Böden, das Schallen der Besteckgeräusche beim Essen sowie der Schritte sind als entsprechende Merkmale nennenswert15 . Insbesondere das Badezimmer, in dem Maria ihr Kind bekommt, ist durch den schwarzen Granit und die schwache Beleuchtung sehr dunkel, als müsse etwas verheimlicht werden. Der Eindruck des Verborgenen und des Heimlichen spiegelt sich auch in der Geburt wider, die noch nicht einmal ansatzweise gezeigt wird. Stattdessen deutet ein leises Stöhnen auf den Geburtsvorgang hin, die Kamera zeigt lediglich den Flur und die Tür zum Badezimmer sowie Schatten, als gebe es einen heimlichen Beobachter vor dieser16 . Im Flur vor dem Badezimmer dominieren Detailaufnahmen, beispielsweise vom Rundbogen des Eingangs, so dass der Überblick über die architektonischen Gegebenheiten erschwert wird. Erst als die Geburt vollbracht ist und Maria – bereits der Name der Mutter deutet auf die christlich-religiösen Anspielungen hin, die der Film aufweist17 – das Kind in den Armen hält, erhält der Zuschauer durch einen extreme high angle shot einen Überblick über das gesamte Badezimmer und einen Blick auf das Kind, ganz in der Rolle eines 15 16 17

0:05:00 0:06:00 Als weitere Aspekte von Religiosität und Mystik sind die Folgenden zu nennen, die aber im Rahmen dieses Beitrags nicht weiter analysiert werden können: Die Kette mit dem Kreuzanhänger, die Maria ihrem Kind mit in die Babyklappe legt (0:11:31), die Krähe als Symbol des Todes, das Kreuz an der Wand in Marias Krankenzimmer (0:31:25) und Ornamente an den Türzargen, die optisch an die Abtrennung eines Beichtstuhls erinnern (1:14:25).

Städtische Räume und Regionalität in Tatorten

Schöpfers, der sein vollbrachtes Werk betrachtet18 . Im Anschluss gilt es wieder das Kind zu verbergen, Maria verlässt das Haus scheinbar durch die Hintertür, draußen erwarten sie die Dunkelheit und Krähenschreie19 . Der inszenierte Selbstmord von Andreas Wagner und der zuvor gescheiterte Versuch der Ermordung von Heinrich Wagner erfolgen ebenfalls im Landhaus. Auch bei dieser Inszenierung des Landhauses und insbesondere des Zimmers, das man wohl antiquiert als Herrenzimmer bezeichnen könnte und das auf das herrschende Patriarchat verweist, dominiert das Unheimliche. Ein intensiver Spannungsaufbau wird dadurch evoziert, dass sich die Kamera Heinrich Wagner von hinten nähert, so als würde er jeden Moment rücklings ermordet20 . Entgegen der Erwartung schließt sich die Tür jedoch wieder, was man bereits als Andeutung von Andreas’ endgültiger Niederlage gegenüber dem übermächtigen Vater deuten könnte, da er nicht in der Lage ist, ihn zu töten. Indes versucht Maria Wagner scheinbar in einer Vorahnung vergeblich, im Landhaus der Schwiegereltern anzurufen. Das schrille Geräusch und die Nahaufnahme des alten schwarzen Telefons21 erinnern an bekannte Giallo-Elemente22 . Nachdem Andreas erneut den Raum betritt und mit der Waffe auf seinen Vater zielt, nähert sich nicht er dem Vater, sondern der Vater nähert sich der Waffe, die Andreas in Händen hält, und demonstriert somit abermals seine Macht und Überlegenheit23 . Hier erfolgt ein Schnitt, Heinrich Wagner meldet der Polizei telefonisch den Tod seines Sohnes, so dass nicht klar ist, was konkret passiert ist. Die Kamera zoomt sich bei der Mitteilung an das starre, gefühlskalte Gesicht des Vaters heran, seine langsame und ruhige Sprache wirkt angesichts des Todes des eigenen Sohnes merkwürdig und surreal24 . Auch hier wird deutlich, dass die 18 19 20 21 22

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0:08:00 0:08:23 0:37:08 Zum Telefon als Motiv im Giallo vgl. Antonio Bruschini/Antonio Tentori: Italian Giallo Movies. Rom: Profondo Rosso 2013, S. 27. Unter Gialli sind Thriller zu verstehen, die ab 1962 in Italien entstanden und aus einer Reihe literarischer Vorbilder hervorgingen, die in einer gelben (ital.: giallo = dt.: gelb) Reihe des Verlagshauses Mondadori herausgegeben wurden. Neben seinen für das Genrekino typischen formelhaften Plots sind es vor allem besondere filmästhetische Mittel, die den Giallo kennzeichnen und ihn hochgradig formalisiert ästhetisieren. (Vgl. Mikel Koven: La Dolce Morte. Vernacular Cinema and the Italian Giallo Film. Lanham: Scarecrow Press 2006, S. 2ff). 0:45:14 0:46:22

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BewohnerInnen des Landhauses als seltsam zu bezeichnen sind, genau wie das Landhaus selbst, das nach Bollhöfer als Beispiel für »isolierte Räume« genannt werden kann, die – wie in diesem Fall auch – »meist an den Stadtrand verwiesen [sind]« und »an denen das Außergewöhnliche und Rätselhafte zur Entfaltung kommt«25 . Auch das Einschussloch in den Kopf des Vaters auf dem Portrait, das an der Wand des Herrenzimmers hängt, kann erneut als vergeblicher Mordversuch an Wagner Senior verstanden werden, hier spielt das Motiv des Doppelgängers und des Spiegels, wie vielfach in diesem Tatort, eine entscheidende Rolle26 . Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Attribute des Unheimlichen, Verborgenen, Mystischen, aber bisweilen auch Surrealen die räumliche Inszenierung des Landhauses dominieren. Da die Parallelen zur Inszenierung von Häusern in Gialli auffallend sind und sowohl bei Gialli als auch bei Tatorten Detektivgeschichten als historische Vorläufer zu nennen sind, soll an dieser Stelle hierzu ein kurzer analytischer Exkurs gewagt werden. Selbstverständlich handelt es sich bei dem bundesdeutschen Tatort Mutterliebe um keinen dezidierten Giallo, jedoch muss konstatiert werden, dass im Zuge der internationalen Rezeption dieser italienischen Filme ab den späten 1960er Jahren viele internationale RegisseurInnen durch Gialli inspiriert wurden, so dass viele Produktionen weltweit als durch sie beeinflusst bezeichnet werden können. Marcus Stiglegger schlägt den Terminus des global giallo vor, um derartige Filme trotz ihrer ausgeprägten Heterogenität subsumieren zu können27 . Mutterliebe nutzt in gialloesker Manier einen düsteren Ort mitsamt seiner Architektur als Raum der Bedrohung28 , nutzt Aufnahmen einer voyeuristischen Kamera, spannungserzeugende Detailaufnahmen sowie ungewöhnliche, atmosphärische Soundeffekte29 . Auf inhaltlicher Ebene sind es insbesondere die zahlreichen wie unerwarteten

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Björn Bollhöfer: Geographien des Fernsehens. Der Kölner Tatort als mediale Verortung kultureller Praktiken. Bielefeld: transcript 2007, S. 132f. 0:46:49 Vgl. Marcus Stiglegger: Grenzüberschreitungen. Exkursionen in den Abgrund der Filmgeschichte. Berlin: Martin Schmitz Verlag 2018, S. 138ff. Vgl. Antonio Bruschini/Antonio Tentori: Italian Giallo Movies. Rom: Profondo Rosso 2013, S. 27. Vgl. Kai Naumann: Reinkarnation des Giallo-Thrillers. Blick und Körperbild in H. Cattets und B. Forzanis AMER, in: Ivo Ritzer/Marcus Stiglegger (Hg.): Film I Körper. Beiträge zu einer somatischen Medientheorie. NaviGationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften. Jg. 12, H. I 2012, S. 34-44, hier S. 38.

Städtische Räume und Regionalität in Tatorten

plot-twists und Ereignisse aus der Vergangenheit, die die Morde der Gegenwart motivieren sowie die Konzentration auf ein tabuisiertes Thema (in diesem Fall der wahrscheinliche Missbrauch innerhalb der Familie), die in Kombination mit der filmästhetischen Gestaltung der mise en scène stark als Reminiszenz an den Giallo erscheinen. Hervorzuheben ist, dass das Landhaus als gialloesker Raum der Bedrohung sich am Schluss grundlegend verwandelt: Die semantischen Räume »(un)heimlich« und »verborgen«, die dem Landhaus zugeschrieben werden können, vermögen sich mit dem Tod von Heinrich Wagner aufzulösen. Die bedrückende Stimmung dieses Ortes scheint von der Präsenz dieser Figur abhängig zu sein. Denn wie auch Bollhöfer betont: Filmische Räume sind dann nicht nur Orte der Handlung, indem sie ganz konkrete Bedingungsrahmen für die handelnden Figuren setzen. Raumentwürfe werden immer auch funktionalisiert, um Stimmungen und Gemütszustände der Figuren zu untermalen.30 Nach dem Tod von Heinrich Wagner erscheint das Landhaus von der Belastung dieser Figur befreit und erscheint – im wahrsten Sinne des Wortes – in einem neuen Licht, in dem zum einen die Räume wesentlich heller inszeniert werden und zum anderen auch Überblicke über die baulichen Gegebenheiten ermöglicht werden. Damit verbunden ist auch die Tatsache, dass das Landhaus nicht mehr als unheimlicher Ort erscheint. Direkt nach dem Mord von Wagner, als sich die Kommissare dem Landhaus nähern, wird erstmalig ein Blick auf die Hausfassade im Hellen gewährt, die Natur herum wirkt nicht bedrohlich, sondern eher idyllisch, die bereits zuvor erwähnten Krähenschreie werden ersetzt durch friedliches Vogelgezwitscher31 . Auch die Flure und das Treppenhaus des Hauses sind nun hell inszeniert, genauso wie das lichtdurchflutete Bad im Obergeschoss, so dass sich die Darstellung deutlich von der Inszenierungsweise der Flure und des Badezimmers im Erdgeschoss zu Beginn unterscheidet32 . Das Böse scheint entfernt zu sein. Auch als Maria Wagner wieder Zutritt zum Landhaus und somit auch zu ihrem Kind gewährt wird, wird das Wohnzimmer, in dem sich die drei Frauen und das Baby befinden, hell inszeniert: Künstliche Beleuchtung ist nicht

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Björn Bollhöfer: Geographien des Fernsehens. Der Kölner Tatort als mediale Verortung kultureller Praktiken. Bielefeld: transcript 2007, S. 132. 1:20:00 1:22:48

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notwendig, Sonnenstrahlen fallen in den Raum und zeigen deutlich die Gefühlsregungen in den Gesichtern der Frauen33 . Durch eine Halbtotale wird auch das Wohnzimmer, in dem sich die Figuren befinden, ganz gezeigt, der Blick auf die offene Tür nimmt dem Landhaus im Gegensatz zu bisherigen Darstellungsweisen das einengende und bedrückende Moment34 . Während das Landhaus in diesem Tatort als pars pro toto für das Land betrachtet werden kann, das auch in diesem Fall atmosphärisch aufgeladen und scheinbar mit einem Fluch belegt ist, wie Stockinger und Scherer als Charakteristik für die Darstellung des Landes im Tatort hervorheben35 , werden in Mutterliebe urbanen Räumen eher Attribute wie »pragmatisch«, »transparent«, »offenbar« und »aufdeckend« zugeschrieben, da sich hier der Großteil der polizeilichen Ermittlungsarbeit abspielt.

3.2

Urbane und regionale Räume

Als städtische Räume der Polizeiarbeit sind u.a. das Polizeipräsidium, die Gerichtsmedizin, der Bio-Laden und das Krankenhaus zu nennen. Zu Beginn wird das Krankenhaus, zumindest von außen, im Sinne von Marc Augé als für die Übermoderne prototypischer Nicht-Ort36 dargestellt: Eine Fassade aus Glas und Stahl, ein menschenleerer Vorplatz und die Beschilderung lassen das Krankenhaus kalt und anonym wirken37 . Emotional aufgeladen und somit als Ort inszeniert wird der Bereich der Babyklappe durch die Szene, in der sich Maria Wagner von ihrem Kind verabschiedet38 . Auch das Schwesternzimmer wird bei der Vernehmung einer Krankenschwester, die die erste Tote aufgefunden hat, als Ort inszeniert: Erinnerungsfotos und Zeitungsausschnitte an der Glaswand dokumentieren Vergangenes, Ballauf und Schenk stöbern bei der Vernehmung der Zeugin in der Vergangenheit der Toten, um mögliche Tatmotive ausfindig zu machen. Symbolischen Charakter hat dabei die räumliche Inszenierung des Schwesternzimmers, spiegeln die Glaswände doch die

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1:29:14 1:29:32 Vgl. Claudia Stockinger/Stefan Scherer: »Unsere kleine Stadt«: München im Tatort, in: Julika Griem/Sebastian Scholz (Hg.): Tatort Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers. Frankfurt a.M.: Campus 2010, S. 179-198, hier S. 190. Vgl. zu Nicht-Orten Marc Augé: Nicht-Orte. München: C.H. Beck 2010, S. 79-114. 0:09:05 0:11:03

Städtische Räume und Regionalität in Tatorten

Transparenz wider, die die Kommissare durch ihre Befragung in den Fall bringen möchten39 . Auch Dr. Oliver Peter, Freund der Toten, der sich in einem Raum aus Glaswänden verschanzt hat, um sich mit dem Tod der Krankenschwester auseinanderzusetzen, gerät für Ballauf und Schenk im wahrsten Sinne des Wortes in den Blick der Ermittlungen. Er gewährt den Kommissaren durch das Öffnen einer Glastür Zugang zu dem Raum und ermöglicht ihnen eine Befragung und somit den Zugang zu weiteren Informationen, die für die Ermittlungsarbeit notwendig sind40 . Gleiches gilt für die Darstellung des Büros im Polizeipräsidium: Glaswände und -türen geben Einblicke in die Ermittlungsarbeit, alle polizeilich Ermittelnden können ihre Kolleginnen und Kolleginnen bei ihrer Arbeit beobachten41 . Ballauf rekonstruiert den Tathergang des fingierten Selbstmordes von Andreas Wagner, indem er sich in die Rolle von Wagner begibt und den Selbstmord versucht nachzustellen. Interessant ist, dass ausgerechnet Schenks Blick auf die Glaswand, in der sich sein Gesicht spiegelt, die Aufklärung des Tathergangs ermöglicht: Wagner muss sich selbst von hinten mit Blick in einen Spiegel erschossen haben42 . Dass das Büro der Ermittler semantisch durch die Attribute »Transparenz« und »Aufdeckung« aufgeladen ist, wird auch durch die Tatsache unterstrichen, dass im Hintergrund der Kölner Stadtplan zu sehen ist, der sozusagen einen Überblick über die Topographie ermöglicht und somit eine gewisse Kontrolle über das Geschehen suggeriert. Im Sinne von de Certeaus Die Kunst des Handelns liegt das Charakteristische der Karte in der Statik der darauf verzeichneten Orte. Die Ermittler als Voyeure im Sinne von de Certeau erlangen einen Überblick, was ihnen ihre Arbeit und die damit verbundene Machtausübung als Teil der Exekutiven erleichtert43 . Als weiterer Ort der Ermittlungsarbeit der Kommissare ist der Bio-Laden des Verdächtigen Schiffer zu nennen, der ganz offensichtlich in einem städtischen Szenario zu verorten ist. Als Hintergrund dient das Schaufenster des Geschäfts, das Blicke auf eine urbane Einkaufsstraße erlaubt: Reger Autoverkehr ist zu sehen und zu hören, Fußgänger bewegen sich geschäftig die Straße entlang und andere Ladenlokale sind identifizierbar, wenn auch lediglich

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0:15:18 0:16:26 1:00:42 1:01:50 Vgl. Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns. Berlin: Merve 1988, S. 215-238.

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tiefenunscharf präsentiert. Somit wird im Hintergrund das städtische Setting deutlich, ohne dass konkrete regionale Bezüge hergestellt werden können44 . Technisch ähnlich ist der Hintergrund inszeniert, als Andreas Wagner nach der Nachricht, dass seine Frau ein Kind entbunden hat, in dem Wissen, dass es aufgrund seiner Unfruchtbarkeit nicht seines sein kann, orientierungslos durch die Menschenmassen der Stadt irrt. Durch die vorbeigehenden PassantInnen und ein unscharfes Fußgängerzonen-Schild wird der Eindruck von Urbanität inszeniert, quasi als »globaler Raum«45 , der in nahezu jeder Großstadt verortbar sein könnte46 . Dabei wird dieser städtische Raum als ein anonymer präsentiert, in dem der einzelne Mensch keine Beachtung findet, was daran sichtbar wird, dass sich keine der PassantInnen um Andreas Wagner kümmert, der in seiner Verzweiflung schließlich zusammengekauert auf dem Bürgersteig sitzt47 . Gleichzeitig geht das Eintreten in den städtischen Raum einher mit einem Gewahrwerden der misslichen Situation, in der sich Andreas befindet. Dies wird auch symbolisch deutlich durch das Sonnenlicht, das in sein Gesicht strahlt, als er aus dem Krankenhaus heraustritt. Hier wird somit der urbane Raum mit »Offenbarung« und »Aufdeckung« gleichgesetzt. Diese Suggestion wird noch durch die hier verwendete Parallelmontage verstärkt: Während Andreas in der Hoffnung auf einen klaren Gedanken durch die Stadt irrt, wird gleichzeitig der Versuch unternommen, das Rätsel vom Verbleib des verschwundenen Babys aufzudecken. Großmülltonnen vor dem Krankenhaus werden durchsucht, Kanäle werden untersucht und Spürhunde kommen zum Einsatz48 .

3.3

Autofahrten

Die in Mutterliebe inszenierten Autofahrten, insbesondere zwischen Stadt und Land, sind nicht konkret verortbar, eine beliebige Schnellstraße wird präsentiert, die ein urbanes Setting unscharf im Hintergrund ohne regionale Besonderheiten wie beispielsweise den Kölner Dom zeigt, was eine typische urbane

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0:26:25 Claudia Stockinger/Stefan Scherer: »Unsere kleine Stadt«: München im Tatort, in: Julika Griem/Sebastian Scholz (Hg.): Tatort Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers. Frankfurt a.M.: Campus 2010, S. 179-198, hier S. 182. 0:25:28 0:16:17 0:25:23

Städtische Räume und Regionalität in Tatorten

Inszenierungsweise im Tatort ist, wie Bollhöfer konstatiert49 , auch wenn Regionalität, wie bereits erläutert, in anderer Weise mehrfach betont wird. Ballaufs und Schenks Autofahrten führen bei diesem Mordfall häufig vom Land in die Stadt und andersherum. In erster Linie erfüllen die Autofahrten aus dramaturgischer Sicht die Funktion des Rekapitulierens und Zusammenfassens bisheriger Ermittlungserkenntnisse. Aber nicht nur der Fall wird besprochen, sondern auch private Dinge, wie beispielsweise Ballaufs von Schenk unterstellte Beziehungsunfähigkeit, oder auch die sozialkritische und moralische Brisanz des Themas Babyklappe geraten in den Gesprächen zwischen Ballauf und Schenk in den Fokus. Da während der Fahrten ein intensiver Austausch bzw. echte Kommunikation zwischen den Kommissaren stattfindet, wird der Dienstwagen im Sinne von Marc Augé als (anthropologischer) Ort inszeniert50 . Beispielhaft hierfür kann darüber hinaus das Verhör von Julia Wagner im Auto genannt werden: Die Ermittler erhalten Einblicke in ihr Inneres und es entsteht ein sehr intimer Moment. Filmästhetisch wird dieser intime Raum insbesondere inszeniert durch den auf das Auto prasselnden Regen, vor dem der Wagen den InsassInnen Schutz gewährt51 . Eine ähnliche Inszenierungsweise des Autos als Ort erfolgt bereits am Anfang, als Maria Wagner vor Abgabe des Kindes einen – wenn auch kurzen – innigen Moment erlebt52 . Abschließend kann festgehalten werden, dass Autofahrten im Tatort Mutterliebe vornehmlich zwei Funktionen erfüllen: Zum einen können sie als exterritorial in dem Sinne verstanden werden, als dass sie unabhängig von der Ermittlungsarbeit Möglichkeiten für echte Kommunikation bieten, beispielweise mit Blick auf Ballaufs Privatleben, aber auch mit Blick auf allgemeine gesellschaftskritische Themen, die typischerweise ihren festen Platz in Tatorten haben. Zum anderen werden sie für die Rekonstruktion und das Lösen des Falls genutzt und nähern sich damit dem semantisch distinktiven Raum des Urbanen.

49 50 51 52

Björn Bollhöfer: Geographien des Fernsehens. Der Kölner Tatort als mediale Verortung kultureller Praktiken. Bielefeld: transcript 2007, S. 143. Vgl. Marc Augé: Nicht-Orte. München: C.H. Beck 2010, S. 49-77. 1:32:27 00:09:38

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4

Rebecca (2016)

Umut Dağs Tatort Rebecca thematisiert die Gefangenhaltung des Mädchens Rebecca durch einen Entführer, der das Kind als Zweijährige in seine Gefangenschaft brachte und in seinem Wohnhaus über 16 Jahre hinweg missbrauchte und sie zudem in einer sich von der Außenwelt völlig unterscheidenden Weltansicht ideologisch maximal manipulierte. Die Handlung des Films setzt mit der Befreiung des Mädchens im Vorort ein: Aufgrund einer Erkrankung wird der Entführer Olaf Reuter bewusstlos, Rebecca setzt seinen leblosen Körper, so wie sie es von ihm beigebracht bekommen hat, um den begangenen Missbrauch zu vertuschen, in Flammen und steht kurz davor, auch sich den über Jahre eingeschliffenen Befehlen entsprechend anzuzünden, als sie von der eintreffenden Feuerwehr gerettet wird53 . Im Anschluss an Rebeccas Identifizierung ist es die Zeit in der Gefangenschaft, die im Fokus der Narration steht und für deren Aufklärung die Mitarbeit der psychisch höchst instabilen Rebecca vonnöten ist. Die PolizeibeamtInnen möchten das Mädchen behutsam behandeln, sind jedoch auch auf ihre Aussagen angewiesen. In einem Landhaus erfolgt die Therapie des Kindes. Ins Zentrum der Ermittlungen gerät dabei neben der Suche nach potentiellen MittäterInnen und MitwisserInnen ein weiterer Fall von Kindesentführung. Schließlich stellt sich heraus, dass für eine kurze Zeit mit der dreijährigen Aylin ein weiteres Mädchen mit Rebecca zusammen gefangen gehalten wurde. Es kommt zu Unstimmigkeiten mit der Therapeutin des Mädchens, als die Polizeiarbeit unter Zeitnot gerät, weil man annehmen muss, dass Aylins Leben noch zu retten sei. Letztlich stellt sich heraus, dass der Tote vom Anfang des Films das »Werk« seines mittlerweile im Pflegeheim lebenden Vaters weitergeführt hat; er hatte Rebecca entführt, bevor der Sohn mit Aylin ein weiteres Kind dazu holte. Aylin wurde allerdings nach kurzer Zeit getötet, man redete Rebecca überdies ein, sie getötet zu haben54 . Am Ende des Tatorts wird Rebecca, die mittlerweile ihre Mutter getroffen hat, in eine sich ihr gänzlich neu darbietende Welt entlassen. Rebecca fügt sich in die Reihe jener Tatorte ein, die aktuelle gesellschaftliche Probleme oder Phänomene anhand von Kriminalfällen aufzeigen55 , indem er 53 54 55

0:00:32 1:20:41 Vgl. Andreas Blödorn: Raum als Metapher. Exemplarisches und Exzentrisches am Beispiel des Münster-Tatort. Münster als Raum exzessiver Selbstreflexion des TatortFormats, in: Christian Hißnauer/Stefan Scherer/Claudia Stockinger (Hg.): Zwischen

Städtische Räume und Regionalität in Tatorten

inspiriert scheint durch diverse bekannt gewordene Fälle von langjährigen Kindesentführungen mit sich anschließendem Missbrauch in den Jahren vor seiner Entstehung. Zu nennen wären hier neben der Aufdeckung des sich in den USA ereigneten Verbrechens an Jaycee Lee Dugard (aufgedeckt 2009) vor allem die Fälle in Österreich um Natascha Kampusch (2006 entkommen) und Elisabeth Fritzl (2008 enthüllt). Somit kann die Folge Rebecca in ihrer Wirkung als Manifestation dessen beschrieben werden, was Gräf als einen kulturellen Speicher unserer Gegenwartskultur beschreibt, wenn er die Tatort-Reihe als Archiv im erinnerungskulturellen Kontext betrachtet56 . Wie bei den genannten realen Verbrechen weitestgehend auch, so ist der Ort des Verbrechens in Rebecca ein (vor-)städtischer. Während die anfängliche Ermittlungsarbeit im ebenfalls städtisch gelegenen Konstanzer Kommissariat stattfindet, so gedeiht diese auf einem peripher gelegenen Bauernhof weiter, um schlussendlich erneut ins Urbane und Vorstädtische zurückzukehren. Die semantischen Teilräume Stadt vs. Land werden somit auch in diesem Tatort erkennbar und manifestieren sich anhand entsprechender bestimmter Orte.

4.1

Das (Klein-)Städtische

Es handelt sich bei Rebecca um eine Tatort-Folge aus der Reihe des ErmittlerInnenTeams aus Konstanz, das mit seinen gut 84.000 EinwohnerInnen faktisch zwar nicht genuin als Metropole bezeichnet werden kann, zumeist aber dennoch – neben vereinzelten naturnahen Aufnahmen – städtisch inszeniert wird, insbesondere in Abhängigkeit seiner Lage inmitten von nur noch kleineren Städten und Orten. Auch für Rebecca gilt, obwohl ein abgelegenes Bauernhaus einen wichtigen Schauplatz des Plots ausmacht, dass »der dominante Handlungsraum doch an Urbanität gebunden«57 bleibt. So ist das Kommissariat, das insbesondere anfangs den Kern der Ermittlungsarbeit darstellt und später zunehmend in den Hintergrund rückt, städtisch wie zentral in Konstanz verortet und wird durch Büro-Arbeitsplätze, Laptops und Beamer sowie durch Videochats und

56 57

Serie und Werk. Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im Tatort. Bielefeld: transcript 2014, S. 259-282, hier S. 259. Vgl. Dennis Gräf: Tatort. Ein populäres Medium als kultureller Speicher. Marburg: Schüren 2010, S. 11-28. Oliver Fahle: Die Nicht-Stadt im Tatort, in: Julika Griem/Sebastian Scholz (Hg.): Tatort Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers. Frankfurt a.M.: Campus 2010, S. 69-80, hier S. 70.

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die Online-Vermisstenkartei und damit durch moderne Medien und Technologien charakterisiert58 . Ein weiterer urbaner Schauplatz ist in der Konstanzer Fußgängerzone zu sehen. Perlmann fährt mit Rebecca in die Innenstadt, um in einem Café erstmalig nach der 16 Jahre andauernden Entführung ein Zusammentreffen mit Rebeccas Mutter zu arrangieren. Der Weg durch die Stadt zum Café ist durch unscharfe Aufnahmen aus Rebeccas Sicht gekennzeichnet, die einerseits Tatort-typisch verhindern, den genauen Schauplatz identifizieren zu können, andererseits die zahlreichen ungewohnten Einflüsse verdeutlichen, die die verhältnismäßig vielen Menschen und Geräusche bei Rebecca auslösen und von ihr nicht zugeordnet werden können. Diese Perspektive wird aufgrund der Kameraeinstellung auf die ZuschauerInnen übertragen. Dumpfe und verzerrte Geräusche wiederum sollen Rebeccas akustische Eindrücke auch dem Publikum vermitteln und zeigen, wie der Lärm des städtischen Alltagstrubels das Mädchen verunsichert59 . Die Richtigkeit der Entscheidung, das Mädchen zu ihrem Besten auf dem Bauernhof unterzubringen, scheint durch diese Szene untermauert werden zu sollen. Bei einem zweiten Treffen in der Stadt wird nur das Café ersichtlich, nicht mehr die Stadt, deren einschüchternde Wirkung damit zurückgenommen wird60 . Das hat zur Folge, dass die RezipientInnen Rebeccas Gewöhnung an die Normalität unbewusst wahrnehmen, die sich in stärkerer Akzeptanz der audiovisuellen Eindrücke zeigt, auch wird hier auf das filmische Mittel der Unschärfe verzichtet. Im Kaffeehaus wird schließlich die Diskrepanz zwischen der Gesellschaft und Rebeccas Sozialisation deutlich, wenn das Mädchen an diesem Ort, der längst eine multidisziplinäre Untersuchung61 ob seiner Bedeutung für verschiedene Gesellschaften unterschiedlicher Dekaden erfahren hat, völlig deplatziert wirkt62 . Oftmals als Ort der Zusammenkunft von Fremden, aber auch FreundInnen konnotiert, ist das Café nun der Ort, an dem das ehemals isolierte Mädchen auf Menschen trifft und den ersten Kakao ihres Lebens trinken

58 59 60 61

62

0:08:09 und 0:09:30 0:41:05 1:15:17 Vgl. zum Kaffeehaus beispielsweise Markman Ellis: The Coffee House. A Cultural History. London: Weidenfeld Nicolson Illustrated 2004; Ralph S. Hattox: Coffee and Coffeehouses. The Origins of a Social Beverage in the Medieval Near East. Washington: University of Washington Press 1988 und Brian William Cowan: The Social Life of Coffee. The Emergence of the British Coffee House. New Haven: Yale University Press 2005. 0:42:45

Städtische Räume und Regionalität in Tatorten

darf63 . Zudem zeigt sich, dass die 18jährige an diesem öffentlichen Ort, der insbesondere seit dem 17. Jahrhundert als Treffpunkt Intellektueller und kreativer KünstlerInnen und damit der Kultur galt, aber auch heute das Einhalten zumindest grober Verhaltensregeln erfordert, nicht zurechtkommt. Ihre sogenannte Erziehung durch den Entführer ist dahingehend als unbrauchbar zu bezeichnen, erreicht damit aber eindeutig dessen Absicht, Rebecca anders zu erziehen: Indem sie ausschließlich auf den privaten Raum geprägt wurde, findet sie sich in der zivilisierten Gesellschaft nicht zurecht und bleibt nach dem Tod ihres Peinigers gehemmt und isoliert. Die sich von der Mehrheitsgesellschaft grundlegend absetzende Beurteilung und Wertung der Oppositionen »Zivilisation/Erziehung« vs. »Natur/Wildnis« durch die Täter wird ersichtlich, wenn die von Reuter als »Erziehung« bezeichneten Maßnahmen dahingehend erfolgten, das Mädchen bewusst exkludieren und isolieren zu wollen. Den wichtigsten Handlungsort schließlich stellt das Haus des Kindesentführers in einem dicht besiedelten Ort bzw. Vorort dar, in dem man von einem Fenster in den Eingangsbereich der NachbarInnen gegenüber schauen kann64 . Der Ort der Kriminalität ist damit nicht der Moloch Stadt, sondern der stereotyp beschauliche wie gepflegte (Vor-)Ort – ein Faktum, das die davon ausgehende Beunruhigung geradezu verstärkt, erwartet man dort dem Klischee nach nachbarschaftliche Fürsorge, aber auch Aufmerksamkeit und Neugier. Obwohl man sich also nicht in der, so die weit verbreitete Meinung, angeblich durch Anonymität und Gleichgültigkeit geprägten Großstadt befindet, hat niemand die dort begangenen Verbrechen mitbekommen (wollen). Ihren makabren Höhepunkt erreicht diese Tatsache, als der Entführer in seinem Hauseingang bewusstlos zu liegen kommt und seine Tötung durch Rebecca von der Nachbarschaft rasch bemerkt wird65 , die Haft und der Missbrauch des Mädchens hingegen jahrelang unentdeckt blieben. Das Wohnhaus des Entführers entpuppt sich entgegen seines gewöhnlichen Erscheinungsbildes und aufgrund seiner Lage im Vorort als Ort der gefährlichen Ideologie und Lügen. Reuter erzog Rebecca dort in völliger Unmündigkeit, indem er den Alltag durch strenge Regeln66 strukturierte, die nicht hinterfragbar waren und zudem keinerlei Bezüge zu möglichen

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Erziehungszielen in einer »normalen« Gesellschaft aufweisen. Schließlich ist das Haus der Ort des Prügelns als Bestrafung und des sexuellen Missbrauchs. Die Tatsache, dass Rebecca dort im Glauben an Gespenster67 sowie die Erhabenheit ihres Peinigers68 aufwuchs, macht den Tatort Wohnhaus zudem zum Ort, dem (zumindest für Rebecca und die RezipientInnen69 ) die semantischen Eigenschaften des Spirituellen oder Irrationalen in Form eines gänzlich anderen Weltbildes zukommt. Somit bildet das Wohnhaus eine eigene abgeschirmte Einheit inmitten des gewöhnlichen Wohnviertels, so dass seine vorstädtische Lage für Rebeccas Abgeschirmtheit keinerlei Relevanz besitzt, man sie dort ebenso isolieren kann wie es in einem abgelegenen Verlies der Fall gewesen wäre. Das Entsetzen der RezipientInnen hingegen wächst durch die Tatsache, dass das Verbrechen in jener Lebenswirklichkeit verortet wird, die viele für sicher und geborgen erachten. Doch auch das Haus selbst kann noch einmal eine Aufteilung in verschiedene Bereiche erfahren: So befand sich Rebeccas Raum im Keller70 , was einerseits die geringe Wertschätzung widerspiegelt, die man ihr zusprach, andererseits auch den Raum im Raum darstellt, der weiter von der Straße und PassantInnen entfernt ist als es beispielsweise das Erdgeschoss ist und zudem in der Tiefe liegt. Kultur- wie filmwissenschaftlich bieten sich für den Nukleus-Raum Keller zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten an, die sich vom Keller als Ort, welcher Vergangenheit akkumuliert oder Obsessionen beherbergt, über das Oben und Unten innerhalb der Gesellschaftsordnung bis hin zu Platons Höhlengleichnis und darüber hinaus erstrecken. Ein weiterer Raum, den es von anderen abzugrenzen gilt, ist das Arbeitszimmer Reuters, in dem dessen Bücher und Computer standen71 und das von Rebecca nicht betreten werden durfte, weil sie mittels dieser Medien eine Form von »Aufklärung« und Wissen hätte erlangen können. Auch hätte sie beim Entdecken des Druckers Reuter enttarnen können, der dem Mädchen gedruckte Textseiten, von denen er behauptete, sie mit der Hand geschrieben zu haben, überreichte und von ihr wiederum abschreiben ließ, damit Rebecca eine ebenmäßige Handschrift entwickeln72 und vor allem Disziplin und Demut lernen sollte. 67 68 69 70 71 72

0:06:20 0:06:50 Reuter selbst glaubt nicht an die Inhalte, die er Rebecca vorgaukelte, so dass sein manipulatives Vorgehen als besonders perfide zu bezeichnen ist. 1:03:55 0:06:36 0:08:13

Städtische Räume und Regionalität in Tatorten

In diesem Sinne war Rebeccas Lebensrealität auch eine altmodische, die moderne Errungenschaft und technologischen Fortschritt verneinte. Aus diesem Grund war also der Ort im Haus, an dem Rebecca potentiell Freiheit im Denken und Handeln hätte erlangen können, stets verriegelt, während ihr eigentliches Gefängnis quasi halb geöffnet war, Türen und Fenster des Hauses sogar offen standen73 , von dem verunsicherten Mädchen jedoch nicht zur Flucht genutzt wurden. Die Tatsache, dass Rebecca nicht gefesselt war und sich im Haus relativ frei bewegen konnte sowie Zugang zum abgeschirmten Hintergarten hatte74 , verstärkt den Eindruck der durch Rebecca als unausweichlich wahrgenommenen Situation. Ihrer Autonomie beraubt machte sie nicht einmal den Versuch, auf sich aufmerksam zu machen oder wegzulaufen. Faktisch also nicht abgeriegelt ist das Haus dennoch gleichzeitig ein absolutes Gefängnis und kann somit als Heterotopie im Sinne Foucaults75 bezeichnet werden. Die faktische Gefangenhaltung des Mädchens im häuslichen Raum erweist sich insbesondere zum Ende des Films auch als eine, die dem Erhalt eines archaischen und antiquierten Frauenbildes76 dienen soll, welches durch Reuters vollends pervertiert wurde. Neben seiner Pädophilie liegt die Motivation für seine Tat in der Absicht, sich eine »richtige« Frau zu schaffen, die er in der Gesellschaft derart nicht vorfand. Seinen Umgang mit Rebecca bezeichnet der Vater Reuters als »Investition«, die er auf sich genommen habe, da das Gebiet der Frau schließlich das Haus sei. Eine weitere räumliche Opposition wird dadurch zum Außenraum geschaffen, indem Reuter diesen zur Bedrohung des heteronormativen häuslichen Ideals des Hausinneren erklärt.

4.2

Bauernhaus und der Raum des Ländlichen

Zur Analyse des ländlichen Raums ist es von Bedeutung, diesen in der Reihenfolge zu betrachten, in der er in seiner Gestaltung und Funktionsweise auftaucht. Rebeccas Behandlung bei der Therapeutin soll direkt nach ihrer Befreiung in einem ländlich gelegenen Haus stattfinden. Dieses wird als Teil eines »Bauernhofs« bezeichnet und durch das Vorhandensein von Nutztieren und landwirtschaftlichem Gerät77 auch als solcher inszeniert, auch wenn der 73 74 75 76 77

0:08:00 0:06:02 Michel Foucault: Andere Räume, in: Karlheinz Barck (et al.) (Hg.): Aisthesis Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam 1990, S. 34-46. 0:06:30 0:53:51

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Betrieb eines Hofes durch LandarbeiterInnen zu keinem Zeitpunkt ernsthaft ersichtlich wird. Umgeben ist das Fachwerkhaus von einer Scheune, einem Waldstück und Wiesen78 . Die Abgeschiedenheit des Ortes in der Natur soll dabei helfen, Rebecca genesen zu lassen, aber auch zum Reden zu bringen. Insofern wird das bekannte Narrativ von den heilenden Kräften der abgeschiedenen Natur aufgerufen. Hinzu kommt das Faktum, dass man annimmt, dass Rebecca, die die Anwesenheit und Gesellschaft von Menschen nicht gewöhnt ist, in einer Klinik überfordert wäre. Insbesondere in der Anfangszeit gelingt die Kontaktaufnahme mit dem Mädchen allerdings kaum, wenn Rebecca sich aufgrund der für sie ungewohnten neuen Kontakte bedrängt fühlt. Im rustikalen Bauernhaus79 , das als Ausgangspunkt ihren Weg in die Freiheit markieren soll, wirkt sie zunächst gefangener als im Haus ihres Entführers, was die unlösbare Problematik zum Umgang mit dem Mädchen dem Publikum erneut vor Augen führt. Doch gilt es auch Momente des Fortschritts auf dem Hof und in dessen weiterer ländlicher Umgebung festzustellen: Der in der Nähe gelegene Bodensee, zu dem Rebecca einen Ausflug mit Perlmann unternimmt, soll, ähnlich wie das in der Natur gelegene Haus, die Funktion des Therapierens übernehmen: Von Perlmann motiviert schreit sie ihre Emotionen aus sich heraus80 , entwickelt erstmalig im Leben Kontakt zu Tieren, in diesem Fall einer Taube81 , um sich anschließend dem Kommissar gegenüber erfolgreich öffnen zu können. Auch der traurigste Moment der Ermittlungsarbeit, das Ausgraben der Leiche der kleinen Aylin im Wald82 , findet im ländlichen Raum statt, und auch wenn damit die Hoffnung auf deren Überleben enttäuscht wird, so ist es noch immer ein Moment der Gewissheit. Der Raum der Natur erfährt damit erneut eine Zuordnung zur Kategorie der Aufdeckung und Aufklärung. Das Ende des Films zeigt Rebecca in der Scheune des Hofs beim Verbrennen der schriftlich verfassten Regeln des Täters83 , die damit ihre Gültigkeit für immer verlieren. Damit setzt der Eintritt des Mädchens in ihr neues emanzipiertes Leben auf dem Schauplatz des Ländlichen ein. Zusammenfassend kann also konstatiert werden, dass die Schauplätze im semantischen Raum der Natur als Orte der Heilung angedacht werden, diese 78 79 80 81 82 83

0:16:38 0:17:01 0:34:28 0:35:10 1:21:55 1:26:48

Städtische Räume und Regionalität in Tatorten

dort allerdings nur teilweise gelingt. Es zeigt sich nämlich, dass das Landhaus allein nicht ausreicht, um Rebecca zum Reden zu bringen. Es braucht ebenso die Fahrten und Ausflüge in die Stadt, wo Erfahrungen mit dem Alltagsleben gemacht werden können und sie andere Menschen kennenlernt, die ihr freundlich gesonnen sind, etwa ihre Mutter. Zudem muss der Ort des Verbrechens, also das Wohnhaus im Vorort, hinzutreten, um alle Details in Erfahrung bringen zu können84 . Erst dort hat Rebecca ausreichend Flashbacks an die Zeit in der Gefangenschaft85 , so dass festzuhalten ist, dass der alternierende Aufenthalt in beiden Räumen für die Aufklärung notwendig ist86 . Wenn schließlich der alte Reuter in das Bauernhaus kommt, um Rebecca zu sehen, verkehrt sich das Verhältnis der beiden scheinbar (auch) aufgrund der räumlichen Ordnung und (Nicht-)Zugehörigkeit zum Teilraum Landhaus. Reuter als Vertreter des Vorortes gelangt nämlich in den ländlichen Raum, der nun als ein Rebecca eigener zuzuordnen ist. Obwohl er direkt wieder versucht sie zu manipulieren und die KommissarInnen sowie die Therapeutin als ihr böse gesonnen dastehen zu lassen, kann das Mädchen ihm widerstehen87 . Sie wirkt gegen Ende der Handlung im Landhaus aufgeklärt und gesundet in dem Sinne, dass der kriminelle Mann ihr nichts mehr anhaben kann88 .

4.3

Autofahrten

In Umut Dağs Tatort erfährt der regionale Aspekt, wenn dieser nicht in Dialoge eingebaut wird, wozu etwa die Nennung der großen Kreisstadt Überlingen gerechnet werden kann, vor allem während der Autofahrten Beachtung. So zeigen unscharfe Bilder, die aus dem Autofenster während der Fahrt gefilmt wurden, das Ufer des Bodensees und markieren somit den (angeblichen) Schauplatz des Films. Denn auch wenn die Story eine überregionale ist, sich also dergestalt auch anderswo ereignen könnte89 , beabsichtigt man

84 85 86 87 88 89

0:51:19 1:04:21 1:03:10 1:18:08 1:27:34 Vgl. Jürg Häusermann: Synchronisierte Heimat. Die Deutsche Schweiz als Bundesland der ARD, in: Eike Wenzel (Hg.): Ermittlungen in Sachen Tatort. Recherchen und Verhöre, Protokolle und Beweisfotos. Berlin: Bertz 2000, S. 225-234, hier S. 226.

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»wiedererkennbare ›landmarks‹«90 , in diesem Fall den »most famous view point«91 Bodensee92 , zu präsentieren. In diesem Sinne muss auch die Platzierung des (BWL-)Kennzeichens an den Polizeiwagen93 betrachtet werden, das als Ortsangabe der regionalen Verankerung dient94 und seit den 1970er Jahren im Tatort verwendet wird95 . Über die ungefähre Lage hinaus sind die Autofahrten nicht präzise verortbar. Die Inszenierung des regionalen Aspekts geschieht in diesem Tatort somit vorwiegend anhand der Autofahrten. Auf der Ebene des Handlungsfortgangs befördert das Auto Rebecca und das ErmittlerInnenteam iterativ von der Vorstadt auf das Land und andersherum und konstruiert somit die beiden Räume in Abhängigkeit voneinander96 . Das Publikum deutet Bäume und Traktoren sowie Stallungen und Fachwerkhäuser am Ankunftsort des Bauernhofs als Marker für ein ländliches Setting, das bereits aus der Perspektive des Autoinneren ersichtlich wird97 . Rebeccas erste Fahrt in die ländliche Region nutzt auf filmästhetischer Ebene Unschärfen98 und spiegelt damit die Geschwindigkeit der Fahrt wider, die für das der jahrelangen Gefangenschaft entkommene Mädchen eine mehr als ungewohnte ist. Jenseits ihres gewohnten Gartens kennt sie keinerlei Umgebung und vor allem auch keine Fahrzeuge. Wenn das Auto Rebecca in die Stadt bringt, so erhält es zusätzliche Bedeutung als eine Instanz, die sie auf ihrem

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Rolf Parr: Vehikel, Charakter-Pendant und Mittel zur Raumerkundung, in: Christian Hißnauer/Stefan Scherer/Claudia Stockinger (Hg.): Zwischen Serie und Werk. Fernsehund Gesellschaftsgeschichte im Tatort. Bielefeld: transcript 2014, S. 129-144, hier S. 138. Rolf Parr: Vehikel, Charakter-Pendant und Mittel zur Raumerkundung, in: Christian Hißnauer/Stefan Scherer/Claudia Stockinger (Hg.): Zwischen Serie und Werk. Fernsehund Gesellschaftsgeschichte im Tatort. Bielefeld: transcript 2014, S. 129-144, hier S. 137. 0:41:00 1:21:35 Vgl. Rolf Parr: Vehikel, Charakter-Pendant und Mittel zur Raumerkundung, in: Christian Hißnauer/Stefan Scherer/Claudia Stockinger (Hg.): Zwischen Serie und Werk. Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im Tatort. Bielefeld: transcript 2014, S. 129-144, hier S. 130. Vgl. Rolf Parr: Vehikel, Charakter-Pendant und Mittel zur Raumerkundung, in: Christian Hißnauer/Stefan Scherer/Claudia Stockinger (Hg.): Zwischen Serie und Werk. Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im Tatort. Bielefeld: transcript 2014, S. 129-144, hier S. 137. 0:27:10 0:16:39 0:16:32

Städtische Räume und Regionalität in Tatorten

Weg in ein neues Leben unterstützt und ihr eine bisher unbekannte Mobilität im Wortsinn ermöglicht, welche ihr jahrelang vorenthalten wurde99 . Dramaturgisch werden die Autofahrten genutzt zur Fortentwicklung einer inoffiziellen Ermittlungsarbeit, indem Rebecca sich im Auto anvertraut und auf diese Weise ganz nebensächlich basale Informationen für den Fortgang der Fallaufklärung liefert. Das sprachliche Handlungsmuster der Vernehmung wird so in eine scheinbar spielerische Variation im PKW transferiert und macht diesen damit dem semantischen Raum der Stadt bzw. des Kommissariats zugehörig. Insbesondere zeigt sich im Wagen auch das Erstarken eines Vertrauensverhältnisses der Protagonistin zu Kommissar Perlmann. Dieser Kontakt verkompliziert sich letztlich, indem Rebecca gemäß ihrer »Erziehung zur Frau« vom Beifahrersitz aus versucht, den Kommissar als Substitut für ihren Peiniger sexuell zu befriedigen100 .

4.4

Exkurs – Ambiguität(en) der Wirklichkeit

Die Tatort-Folge Rebecca präsentiert auf der Inhaltsebene Aspekte verzerrter oder verschobener (Welt-)Ordnungen und Perspektiven sowie bewusst konstruierte Lügen, die aber nicht jederzeit von jeder und jedem als solche entlarvt werden können. Insbesondere zeigt sich dies im Ideologie-Konstrukt des Entführers Reuter, welches er in seinem Wohnhaus ersann, das aber nach seinem Ableben nach draußen fortgetragen wird in Form der stark traumatisierten Rebecca. Neben anderen Zeiteinheiten, die einen eigenen Kalender zur Folge hatten, und neuen Namen, die er seinen Opfern gab und die dabei keine Namen im eigentlichen Sinne sind101 , ist es vor allem die Erziehung dahingehend, dass jedes Mädchen einen Erzieher haben müsse, der es verletzen müsse102 , die Rebeccas Weltwahrnehmung strukturiert. Insbesondere Kommissar Perlmann muss erfahren, wie sehr er sich anfangs auf die manipulative Ideologie einlassen muss103 , um das Vertrauen des Mädchens gewinnen zu können und wie schwierig es gleichermaßen ist, ihr die gewohnten Sicherheiten allmählich nehmen zu müssen, etwa wenn sie sich ihm sexuell und schließlich emotional zu sehr annähert und der Kommissar zumindest kurzzeitig unfreiwillig die Rolle des Entführers übernimmt. Perlmann hält 99 100 101 102 103

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Rebecca solange in der Unwissenheit gefangen, wie er es als geboten erachtet, um an Informationen zu gelangen und dadurch die Entführung Aylins104 aufklären zu können, so dass auch er Rebecca zwischenzeitlich instrumentalisiert. Das Thema der Beeinflussung und Manipulation spiegelt sich somit auf einer Metaebene wider. Doch das Spiel mit Perspektiven und damit einhergehend der Diskurs um Wahrheit und Lüge, Schuld und Unschuld zeigt sich nicht ausschließlich auf der Ebene der story, sondern auch in der formalästhetischen Gestaltung des Films: Rebecca nutzt Momente der Uneindeutigkeit und des vorübergehenden Unwissens des Publikums, so etwa, wenn die Exposition des Films das Mädchen beim Anzünden eines Mannes zeigt105 , der bis dato noch nicht als Täter eingeführt wurde und so anfänglich ein Spiel um das Rätsel nach Täter- und Opferschaft entfacht. Das direkt danach einsetzende voice-over aus Rebeccas Perspektive, welches erläutert, dass sie nur getan habe, was Reuter ihr beigebracht habe, stellt RezipientInnen vor weitere Fragen, ist doch nicht ersichtlich, warum jemand ein solches Verhalten vermittelt haben sollte. Wie bereits erwähnt, werden Szenen aus der Perspektive Rebeccas gefilmt und inszeniert, auch sind Flashbacks der Entführten106 zu konstatieren, deren Wahrheitsgehalt und Genauigkeit zumindest Zweifel lassen. Darüber hinaus sind Darstellungen vorzufinden, bei denen nicht direkt ersichtlich ist, aus wessen Perspektive sie erfolgen, und zudem, ob sie sich überhaupt dergestalt ereignet haben und damit dem Komplex des unzuverlässigen Erzählens107 zuzurechnen sind. Als ein solcher Moment ist beispielsweise das letzte Aufbäumen des brennenden Täters zu nennen, das man aufgrund des psychischen Zustands von Rebecca auch als Angstvorstellung oder Halluzination des Mädchens deuten könnte, von dem man später aber erfährt, dass es real war, da Reuter zum Zeitpunkt des Anzündens lediglich bewusstlos war und an den Verbrennungen starb108 . Die Thematisierung der Frage nach Schuld und Unschuld und danach, wie verantwortlich man für diese ist, wird erneut deutlich, wenn zu einem späteren Zeitpunkt der Handlung erneut evoziert wird, dass Rebecca auch eine Täterin sein und sie selbst Aylin ermordet haben könnte. Während die Entführer ihr einredeten, dass sie es gewesen sei und so ihr Selbstbewusstsein durch das Hervorrufen von 104 105 106 107

0:31:14 0:02:33 0:03:02 Vgl. Thomas Elsässer: The Mind Game Film, in: Warren Buckland (Hg.): Puzzle Films. Complex Storytelling in Contemporary Cinema. Malden: Wiley 2009, S. 13-41. 108 0:12:22

Städtische Räume und Regionalität in Tatorten

Schuldgefühlen weiter unterdrückten, erklärt Perlmann Rebecca, dass nur ein Mann von kräftiger Statur Aylin getötet haben könne, sie also unschuldig sei. Da diese Information jedoch zuvor nicht zum internen Gesprächsgegenstand zwischen den KommissarInnen gemacht wurde, kann aufgrund dieser filmischen Leerstelle hier weiterhin angezweifelt werden, ob man Rebecca nicht nur das schlechte Gewissen nehmen wollte ob einer Tat, die sie nur aus Zwang und Angst beging. Für eine solche Deutung der Leerstelle spricht auch, dass man Rebecca anlügt, was Reuters Tod betrifft: Niemand erklärt ihr, dass Reuter nur bewusstlos war und sie für seinen Tod schlussendlich verantwortlich ist, da man sie aufgrund der von ihr durchgestandenen Qualen strafrechtlich nicht dafür verfolgen wird und ihre Psyche nicht zusätzlich unnötig belasten möchte109 . Schließlich bleiben auch einige Fragen zum Ende der Episode ungeklärt, etwa die Frage danach, ob Reuter Rebecca auch anderen Männern zum sexuellen Missbrauch anbot, wie etwa eine Aussage über Autos mit fremden Kennzeichen110 es andeutet. Entsprechend der aufgezeigten Verunsicherungen, Perspektivwechsel und der Thematisierung dieser auch auf einer Meta-Ebene wird ersichtlich, dass Rebecca ein Tatort ist, der aufzuzeigen versucht, was Manipulation bedeuten kann, dass nicht immer alle Bestandteile eines Kriminalverbrechens aufgeklärt werden können und endgültige Antworten oft unmöglich oder nicht ratsam sind, es manchmal bei einer partiellen Aufklärung bleiben muss. Dies steht in offensichtlicher Verbindung zur Ausgestaltung der semantischen Räume im untersuchten Film. Alle von ihnen werden zur möglichst weitreichenden Aufklärung des Falls benötigt, denn, dies wird deutlich, ohne den Wechsel der Orte und die zurückgelegten Wege zwischen diesen gelingt die Ermittlungsarbeit nicht. Umut Dağs Tatort präsentiert somit eine sehr differenzierte Aufteilung und Nutzbarmachung von Räumen, die von Momenten der Überraschung und (anfänglicher) Verunsicherung profitiert und damit vorschnelle Zuordnungen und scheinbar Offensichtliches infrage stellt. Binär codierte Raumkonzeptionen werden anfangs lediglich in Aussicht gestellt, um schließlich enttäuscht zu werden.

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Fazit

Seit dem Jahr 2000 muss ein verstärktes Aufkommen eher ländlich orientierter Tatort-Schauplätze konstatiert werden, welches durch die Ausweitung der Ermittlungsstandorte begründet werden kann111 , so dass es angemessen ist, von einer »Provinzialisierung der Reihe seit der Jahrtausendwende«112 zu sprechen. Trotz dieser Veränderungen in der Tatortlandschaft in den letzten Jahren kann noch immer die Regel geltend gemacht werden, dass Tatorte mehrheitlich ein urbanes Setting nutzen. Insbesondere der Kölner Tatort, hier repräsentiert durch Mutterliebe, ist zumeist ein ausgewiesen großstädtischer Schauplatz. Die Reihe aus Konstanz, der Rebecca zuzurechnen ist, weist einen städtischen Rahmen auf, der jedoch im direkten Vergleich zum GroßstadtTatort Köln provinzieller wirkt. Auffällig an der Folge Mutterliebe ist die Tatsache, dass als Gegenfolie zur gewohnt urbanen Inszenierung ein ländlicher Schauplatz gewählt wird und dies somit dem Trend ab der Jahrtausendwende entspricht, das Außerstädtische stärker in den Fokus zu nehmen. Für Mutterliebe kann festgehalten werden, dass die Räume Stadt und Land in Opposition zueinander inszeniert werden und semantisch mit den Attributen »gut vs. böse«, »transparent vs. verborgen« aufgeladen werden. Die Autofahrten zwischen Stadt und Land sind semantisch eher dem städtischen Raum zuzuordnen, da während dieser Fahrten schwerpunktmäßig Ermittlungsgespräche geführt werden, die der Aufklärung des Falls dienen. Sind private Themen Gegenstand der Diskussion, so dienen die Inhalte in erster Linie dazu, Einblicke ins Privatleben und in die Psyche der Ermittler, in diesem Fall insbesondere Ballaufs, zu ermöglichen. Entgegen der aus räumlicher Perspektive zunächst simpel dichotom wirkenden Inszenierung muss betont werden, dass aus filmästhetischer Sicht der Film in anderer Weise zu bestechen weiß: So wird die dichotome Darstellung insbesondere nutzbar gemacht für das Spiel mit verschiedenen (Sub-)Genres. Zum einen rekurriert der Film auf den italienischen Giallo, et-

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Vgl. Claudia Stockinger/Stefan Scherer: »Unsere kleine Stadt«: München im Tatort, in: Julika Griem/Sebastian Scholz (Hg.): Tatort Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers. Frankfurt a.M.: Campus 2010, S. 179-198, hier S. 184. Claudia Stockinger/Stefan Scherer: »Unsere kleine Stadt«: München im Tatort, in: Julika Griem/Sebastian Scholz (Hg.): Tatort Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers. Frankfurt a.M.: Campus 2010, S. 179-198, hier S. 185.

Städtische Räume und Regionalität in Tatorten

wa indem er auf einer inhaltlichen Ebene an sexuelle Tabus113 114 rührt, die Familie als Kern des Schreckens begangener Gräuel115 inszeniert und der sich zu Beginn der Handlung ereignende Mord erst den Auftakt bildet für das Offenlegen weiterer menschlicher Abgründe116 . Auch in seiner ausgeprägten Akzentuierung von Hintergrundgeräuschen erinnert Aladağs Tatort an die gialloeske Tradition. Zum anderen nimmt Mutterliebe das Motiv des haunted house aus der gothic novel auf. Das Familienhaus verliert erst nach dem Tod von Wagner Senior seine unheilvolle Aura. In der Regel mit Übernatürlichem verbunden, wird das Motiv des haunted house in diesem Tatort letzten Endes nicht voll entfaltet, da es für die Kriminalfilmreihe Tatort-typisch ist, dass es (fast) immer zu einer Aufklärung und rationalen Herleitung des Verbrechens kommt. Mit den Referenzen auf den Giallo sowie auf Gothic-Horror-Motive117 , die ZuschauerInnen aufgrund ihres internalisierten Genrewissens zu lesen wissen, kann somit eine Anlehnung des Kriminalfilm-Genres an Subgenres des Horrorfilms118 attestiert werden, die ihrerseits oftmals ebenfalls durch die Nutzung dichotomer Deutungsansätze geprägt sind. Komplizierter als Mutterliebe hinsichtlich der räumlichen Inszenierung gestaltet sich der Konstanzer Tatort Rebecca. Als Ort des Verbrechens wird vornehmlich das Wohnhaus im Vorort dargestellt, das auf den ersten Blick prototypisch provinziell wirkt, schnell jedoch die stereotypen Erwartungen der ZuschauerInnen enttäuscht. Es funktioniert nicht als Ort der sozialen Kontrolle, denn der Täter konnte unbehelligt in direkter Nachbarschaft zu anderen Einfamilienhäusern sein Opfer im eigenen Haus und Garten gefangen halten, ohne dass AnwohnerInnen Verdacht schöpften. Als Ort der Aufklärung des

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Vgl. Mikel Koven: La Dolce Morte. Vernacular Cinema and the Italian Giallo Film. Lanham: Scarecrow Press 2006, S. 69. In Mutterliebe ist hierzu das sexuelle Verhältnis Wagners zu seiner Schwiegertochter zu zählen. Zudem bleibt die Frage danach ungeklärt, ob das Familienoberhaupt auch inzestuös seine Tochter sexuell missbrauchte. Vgl. zur Rolle der Familie im Giallo das Kapitel »Anything, and more, for the family« in: Richard Dyer: Lethal Repetition. Serial Killing in European Cinema. London: British Film Institute 2015, S. 181-204. Vgl. Mikel Koven: La Dolce Morte. Vernacular Cinema and the Italian Giallo Film. Lanham: Scarecrow Press 2006, S. 67. Vermengungen von Gothic Horror- und Giallo-Elementen sind durchaus üblich und finden sich recht früh, vgl. Antonio Bruschini/Antonio Tentori: Italian Giallo Movies. Rom: Profondo Rosso 2013, S. 30f. Vgl. zu Subgenres des Horrorfilms Brigid Cherry: Horror. London: Routledge 2009, S. 5f.

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Verbrechens wird im Gegensatz dazu das ländlich gelegene Bauernhaus skizziert. Die Notwendigkeit, die Ermittlungen vom städtischen Kommissariat in das ländliche Bauernhaus zu verlagern, ergibt sich aus der Tatsache, dass das Opfer vor dem ihm unbekannten städtischen Setting geschützt werden muss. Das Bauernhaus bietet somit einen Schutzraum für das Opfer, indem man sich auf dessen Psyche fokussieren und schrittweise Vertrauen gewinnen kann. Es ermöglicht also die sonst städtisch inszenierten Ermittlungen in einem privaten wie ländlichen Setting. Die Inszenierung auf dem Land ermöglicht folglich eine Isolation von störenden städtischen Einflüssen und somit die Möglichkeit einer behutsamen und sukzessiven Genesung beziehungsweise Befreiung. Dennoch wird das Bauernhaus nicht durchweg mit positiven Attributen aufgeladen, als dass durch die Ermittlungsarbeit dort die Entlarvung der schrecklichen Hintergründe und damit des Ausmaßes des Übels möglich wird. Die Autofahrten dienen dazu, zum einen das Regionale und dabei insbesondere das Ländliche und die Natur zu inszenieren und damit die Distanz zur Stadt zu betonen, zum anderen entfalten sie aber ebenfalls Räume für die Ermittlungsarbeit, so dass hinsichtlich ihrer Semantisierung eine Parallele zum Bauernhaus erkennbar ist. Man könnte sogar so weit gehen, zu konstatieren, dass die Autofahrt mit Blick auf die Ermittlungen und mit Blick auf das Vertrauensverhältnis zwischen Kommissar und Opfer als Extremraum zu bezeichnen ist. Festzuhalten ist, dass die beiden untersuchten Tatorte hinsichtlich der Komplexität ihrer Inszenierung sehr unterschiedlich sind. Dennoch lassen sich Gemeinsamkeiten identifizieren, beispielsweise mit Blick auf das Landhaus und das Wohnhaus, die beide als Orte des Verbrechens inszeniert werden, erschreckender Weise aber auch gleichzeitig als Orte des Familiären und Bekannten, wie bereits ausführlich dargestellt wurde. Auch auf der Figurenebene werden ähnliche Konstellationen sichtbar: In beiden Fällen dominiert ein Patriarch, der seinen eigenen Mikrokosmos in Form des Wohnhauses oder Landhauses schafft, indem er die Fäden in der Hand hält und Personen manipuliert und beherrscht. Während Reuter mit der Kindesentführung und -misshandlung ein besonders unmenschliches Verbrechen begeht, wird Wagner dennoch als skrupelloser und mächtiger dargestellt. Er manipuliert nicht nur ein Kind auf begrenztem Raum, sondern grundsätzlich mündige wie erwachsene Kinder und seine Schwiegertochter, um welche zu dominieren es noch nicht einmal einer räumlichen Begrenzung dazu bedarf. Die dunkle Figur von Wagner spiegelt sich wie bereits erwähnt in der Inszenierung des Landhauses wider, das, und hier ist ein Unterschied

Städtische Räume und Regionalität in Tatorten

zum Bauernhaus in Rebecca hervorzuheben, ausschließlich als Ort des Bösen dargestellt wird. Das Bauernhaus hingegen wird zum einen als Ort der Genesung inszeniert und somit positiv aufgeladen, zum anderen lässt es durch das dortige Entlarven des Verbrechens auch negative Attribute zu. Die Autofahrten schließlich erfüllen in beiden Filmen durch ihre Inszenierung eine einander ähnelnde Funktion: Sie zeigen das Regionale, ermöglichen die Ermittlungsarbeit und bieten Einblicke in Privates beziehungsweise Intimes. Als grundlegender Unterschied bleibt festzuhalten, dass in Mutterliebe eine dichotome Inszenierung von Gut und Böse und den damit verbundenen Räumen erfolgt. Rebecca hingegen setzt zum einen weniger auf eine derartige Schwarz-Weiß-Inszenierung des Städtischen und Ländlichen. Zum anderen erfolgt auch die Inszenierung von Realität in multiperspektiver Weise, nicht zuletzt dadurch, dass die Erzählung bisweilen in der Mitsicht der Protagonistin erfolgt. Ihre anerzogene verkehrte Weltsicht tritt in Konkurrenz mit für sicher erachteten Werten der Gesellschaft.

Literatur Augé, Marc: Nicht-Orte. München: C.H. Beck 2010. Barthes, Roland: Der Tod des Autors, in: Barthes, Roland: Das Rauschen der Sprache. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 57-63. Blödorn, Andreas: Raum als Metapher. Exemplarisches und Exzentrisches am Beispiel des Münster-Tatort. Münster als Raum exzessiver Selbstreflexion des Tatort-Formats, in: Hißnauer, Christian/Scherer, Stefan/Stockinger, Claudia (Hg.): Zwischen Serie und Werk. Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im Tatort. Bielefeld: transcript 2014, S. 259-282. Bollhöfer, Björn: Geographien des Fernsehens. Der Kölner Tatort als mediale Verortung kultureller Praktiken. Bielefeld: transcript 2007. Bollhöfer, Björn: Tatort Deutschland – Auf geographischer Spurensuche zwischen Sylt und Konstanz, Aachen und Dresden, in: Griem, Julika/Scholz, Sebastian: Tatort Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers. Frankfurt a.M.: Campus 2010, S. 31-50. Bruschini, Antonio/Tentori, Antonio: Italian Giallo Movies. Rom: Profondo Rosso 2013. Cherry, Brigid: Horror. London: Routledge 2009. Cowan, Brian William: The Social Life of Coffee. The Emergence of the British Coffee House. News Haven: Yale University Press 2005.

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Städtische Räume und Regionalität in Tatorten

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Filme Mutterliebe (D, 2003, Züli Aladağ, 86 min.) Rebecca (D, 2016, Umut Dağ, 89 min.)

Online-Quellen Chudzicki, Martina: Regisseur Hüseyin Tabak aus Enger dreht seinen ersten Tatort, Neue Westfälische Online, 24.08.2019. https://www.nw.de/lokal/kreis_herford/enger/22542187_Borowski-und-der-Regisseur-aus-Enger.html.

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Vom anatolischen Heimatfilm zur modernen Familiengeschichte. Die Darstellung der deutschtürkischen Kultur in Almanya – Willkommen in Deutschland (2011) Hilal Keskin

Abstract. In the last couple of years, the impact of intercultural phenomena in literature and film have mainly focused on questions of migration, language and the difficulties of being »different« in a foreign society. For a long time, German-Turkish cinema has been only considered as »migrant-cinema« as depicted by Deniz Göktürk. The Turkish migrant as a »helpless« and »speechless« »victim« of society was their main representation in films since the beginning of the 1960’s, which dealt with problems of so-called »guest workers« in Germany. Nowadays, it is insufficient however to solely view GermanTurkish films from the perspective of a »guest worker«. Films of younger generations of German-Turkish film makers such as Yasemin Şamdereli show that there is more to German-Turkish cinema than topics of migration. More recent German-Turkish films contribute to a new perspective on not only German-Turkish cinema but also on perspectives on culture and its cinematic enactment. Therefore, in this article I will analyse the German-Turkish film Almanya – Willkommen in Deutschland (2011) considering its intercultural aspects and also its impact on cultural hybridity on different levels (e.g. language, metaphorical perspective etc.).

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Einleitung

Die Darstellung der deutsch-türkischen Kultur im Film hat in den letzten Jahrzehnten einen starken Wandel durchgemacht, der nicht nur die Entwicklung der deutsch-türkischen Gesellschaft widerspiegelt, sondern

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Hilal Keskin

ebenso deren Wahrnehmung in Deutschland. Deniz Göktürk erklärt, dass sich [d]as »Migrationskino« als sozial-realistisches Genre, das sich seit den 1960er Jahren im Gefolge der Masseneinwanderung von Arbeitsmigrant/innen in Deutschland etabliert hat, […] allerdings völlig abseits fröhlicher Vermischung [gedieh].1 Filme, die sich vor allen Dingen mit der sogenannten »GastarbeiterInnengeneration« beschäftigten, waren also zumeist Darstellungen von »Migranten als Opfer am Rande der Gesellschaft und den TürkInnen als »stumme Figuren«, die von »Sprachlosigkeit«2 gekennzeichnet waren. Der Film Almanya – Willkommen in Deutschland3 der beiden Schwestern Yasemin und Nesrin Şamdereli befasst sich mit eben diesen Fragen der deutschtürkischen Interkulturalität und den damit einhergehenden alltäglichen Problemen. Dabei sind die Figuren jedoch weder sprachlos noch werden sie gesellschaftlich ausgeschlossen, weshalb dies eine eindeutige Weiterentwicklung des deutsch-türkischen Kinos darstellt. Auf humoristische Weise wird die Geschichte der Familie Yılmaz erzählt, die nun zwar schon in der dritten Generation in Deutschland lebt, sich aber dennoch täglich mit Fragen der (kulturellen) Positionierung konfrontiert sieht. Das Familienoberhaupt Hüseyin Yılmaz, der als Vater und Großvater sehr besorgt ist, dass seine Kinder und sein Enkel vergessen, wo ihre Wurzeln liegen, eröffnet ihnen beim Familienessen, dass sie einen gemeinsamen Urlaub im Heimatdorf im Süd-Osten der Türkei verbringen werden. Während die erwachsenen Kinder noch darüber diskutieren, dass sie weder Zeit noch Lust auf diese Reise haben, ist es der kleine Cenk, der mit seiner Frage »Was sind wir denn jetzt? Türken oder Deutsche?«4 nicht nur eine grundlegende Diskussion in der Familie auslöst, sondern ebenso den Ausschlag dazu gibt, die Reise doch zu unternehmen. Was zunächst als simple Frage eines Kindes erscheint, fasst auf eine sehr präzise Weise die Diskussionen der Interkulturalitätsforschung zusammen. Denn eine Kategorisierung, die Kulturen als in sich geschlossene Einheiten betrachtet, ist weder möglich noch korrekt. Die Darstellung von kulturellen 1

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Deniz Göktürk: »Migration und Kino – Subnationale Mitleidskultur oder transnationale Rollenspiele?« In: Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland – Ein Handbuch. Sonderausgabe mit 77 Abbildungen. Stuttgart u. Weimar: J.B. Metzler 2007, S. 330. Ebd. Almanya – Willkommen in Deutschland (D, 2011, Yasemin Şamderelli, 101 min.). 0:12:54

Vom anatolischen Heimatfilm zur modernen Familiengeschichte

Gegebenheiten sowohl in Filmen als auch in der Literatur ist nicht nur ausschlaggebend dafür, wie die jeweilige Kultur wahrgenommen wird, sondern trägt auch dazu bei, dass neue kulturelle Perspektiven eröffnet werden, die eine neue Betrachtungsweise für die verschiedenen Phänomene erlauben. So beschränkt sich eine kulturelle Vermischung nicht nur auf die sprachliche Ebene, die besonders im Film thematisiert wird, sondern es entstehen ebenso kulturell bedeutsame Metaphern und Bilder, die neue Kulturperspektiven tradieren und vor allem die kulturelle Hybridität in den Vordergrund rücken. Somit spielen die verschiedenen Nuancen und Perspektivierungen von Kultur eine große Rolle bei der filmischen Inszenierung von Interkulturalität, die auf unterschiedlichen Ebenen analysiert werden muss. In diesem Beitrag wird der Film Almanya – Willkommen in Deutschland aus diesem Grund im Hinblick auf die Inszenierung der deutsch-türkischen Kultur betrachtet. Hierbei werden nicht nur die sprachlichen Aspekte berücksichtigt, die vor allem durch ihre Sprachvermischung sowie Verfremdungseffekte besonders auffallen. Es werden ebenso auf der bildlich-metaphorischen Ebene zahlreiche Elemente dargeboten, die diesen Film aus interkultureller Perspektive als sehr dicht kennzeichnen.

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Interkulturalität und kulturelle Hybridität als Konzept

Hofmann erklärt, dass mit dem Begriff der »Interkulturalität« der […] Austausch zwischen den Kulturen [bezeichnet wird] und die Tatsache, dass kulturelle Identität nur in diesem Austausch und in der Mischung zwischen Eigenem und Fremdem begriffen werden kann. Einzelne Kulturen sind nicht in sich homogen, und es lassen sich zahlreiche Bezugsgrößen finden, die Kulturen untereinander als ähnlich erscheinen.5 Demnach können Kulturen als solche nur im Zusammenhang zu anderen Kulturen wahrgenommen werden. Denn »Interkulturalität verweist zurück auf Kulturalität«6 und sie entsteht dann, wenn Handlungsprozesse zwischen 5

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Michael Hofmann & Iulia-Karin Patrut: Einführung in die interkulturelle Literatur. Einführungen Germanistik. Hg. Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015, S. 7. Emil Angehrn: »Kultur als Grundlage und Grenze des Sinns«, in: Jammal, Elias (Hg.): Kultur und Interkulturalität – Interdisziplinäre Zugänge. Perspectives of the Other. Studies on Intercultural Communication. Wiesbaden: Springer VS 2014, S. 15.

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mehreren Kulturen stattfinden. Zugleich »[…] steht [die Interkulturalität] für eine Dimension der Existenz, worin sich die Erfahrung von Differenz mit der Überschreitung von Grenzen verschränkt«.7 Daraus ergeben sich schließlich Mischkulturen, deren Phänomene (literarisch, künstlerisch, medial) als »interkulturell« bezeichnet werden. Einen weiteren wichtigen Aspekt der Interkulturalität stellt die kulturelle Hybridität dar, die damit einhergeht und Einfluss auf ihre Inszenierungsformen hat. Kulturelle Hybride können auf unterschiedlichen Ebenen entstehen. Oftmals bezieht sich der Begriff der kulturellen Hybridität auf die Sprache des jeweiligen Werks. Die Vermischung von einer oder mehrerer Sprachen wird als Ausdruck der kulturell hybriden Figuren betrachtet, die dadurch nicht nur die interkulturellen Handlungsprozesse in Gang setzen, sondern diese inszenieren. Es sind oftmals die Figuren selbst, die zu Kulturhybriden werden und ein Resultat des Kulturkontaktes darstellen. So erklären Zymner und Hölter beispielsweise, dass […] [a]us der Perspektive des Hybriditätskonzepts [...] der literarische Text nämlich nicht als Repräsentant eines in sich geschlossenen, sprach- oder nationalkulturellen Bedingungsgefüges konzipiert [ist], sondern als Ausdruck komplexer kultureller Grenzüberschreitungen und transkultureller Verflechtungen.8 Betrachtet man dies nun also aus der Perspektive der kulturellen Hybridität, so wird ersichtlich, dass sie sich auf viele unterschiedliche Aspekte eines literarischen aber auch filmischen Werks beziehen kann. Es wäre also unzureichend, kulturelle Hybridität nur als Vermischung zu betrachten. Einen noch viel wichtigeren Aspekt stellen die daraus entstehenden neuen kulturellen Bilder dar, die sich als literarische, filmische und künstlerische Stilmittel äußern. Denn […] [k]ulturelle Hybridität, also die unlösbare Verflechtung von Kulturen, wird demnach als komplexes intertextuelles Phänomen beschreibbar, das für neue, hybride Erzählweisen und Gattungskonventionen sorgt. So verstanden, eröffnet das Konzept der Hybridität nicht nur neue Perspektive auf den Bereich der Stoff-, Motiv- und Einflussforschung. Es erlaubt auch neue Perspektiven auf Weltliteratur, nämlich als Literatur, die auf die zunehmend 7 8

Ebd. Rüdiger Zymner & Achim Hölter (Hg.): Handbuch Komparatistik – Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis. Stuttgart u. Weimar: J.B. Metzler 2013, S. 166.

Vom anatolischen Heimatfilm zur modernen Familiengeschichte

vernetzte Welt bezogen ist, sich durch permanentes Überschreiten kultureller Grenzen auszeichnet und dabei doch von lokalen Traditionen geprägt ist.9 Zymner und Hölter beziehen sich zwar insbesondere auf die Auswirkungen auf die Literatur und die Perspektive der Komparatistik, doch gilt dieses Konzept ebenso für die filmische Inszenierung von Interkulturalität und kultureller Hybridität.

3

Inszenierung der Interkulturalität und kulturellen Hybridität im deutsch-türkischen Kino

So, wie auch die literarische Inszenierung der Interkulturalität und somit auch der deutsch-türkischen Kultur in den letzten Jahrzehnten einen starken Wandel durchgemacht hat, können genau die gleichen Entwicklungen ebenfalls im sogenannten »Migrantenkino«10 , wie es von Göktürk bezeichnet wird, beobachtet werden. Interessant sind dabei die Parallelen hinsichtlich der Wahrnehmung der Begriffe, die sich im Zuge dieser Entwicklungen etabliert haben. So kann festgestellt werden, dass im Rahmen der Interkulturalitätsforschungen stets ein Rückbezug zu Homi K. Bhabas Hybriditäts-Begriff besteht, der »das kreative und erneuernde Potential von kultureller Hybridität«11 hervorhebt und dieses Konzept für die »Kulturtheorie fruchtbar macht, indem er es auf interkulturelle Kontaktsituationen im (post-)kolonialen Umfeld anwendet.«12 Der Aspekt des »kreativen Potentials«13 ist an dieser Stelle besonders hervorzuheben, da auch der Fokus des migrantischen bzw. deutsch-türkischen Kinos nicht mehr auf der Rolle des Migranten als »Opfer« oder »Problemfall« liegt, sondern vielmehr auf der künstlerisch-filmischen Darstellung von

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Ebd. Göktürk, 2007, S. 330. Martina Moeller: »Aktuelle literarische und filmische Darstellungen von kultureller Hybridität und Mehrsprachigkeit im DaF-/DaZ-Unterricht«, in: German as a Foreign Language, 2016, Heft 3, S. 1-5. Theresa Specht: Transkultureller Humor in der türkisch-deutschen Literatur. Studien zur deutsch-türkischen Literatur und Kultur. Band 3. Michael Hofmann (Hg.). Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 73. Moeller, 2016, S. 2.

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kultureller Vielfalt und ihren Auswirkungen auf das gesellschaftliche Kulturverständnis. Diesbezüglich erklärt Ömer Alkın deshalb, dass sich »das Kino über die Migrant_innen zu einem Kino der Migrant_innen«14 weiterentwickelt hat, […] in denen sie also selbst ihre Repräsentationen und Geschichten filmisch umsetzten – und das mit einigem künstlerischen und kommerziellen Erfolg.15 Hierbei sollte berücksichtigt werden, dass es nicht nur um die Repräsentation der MigrantInnen geht, sondern vielmehr die daraus entstehenden filmisch-künstlerischen Aspekte, die eine neue Perspektive auf die verschiedenen Kulturen eröffnen. Der deutsch-türkische Film sollte somit also nicht nur als Begegnung zwischen der deutschen und der türkischen Kultur betrachtet werden. Es sind die daraus entstehenden Phänomene und Dynamiken, die die Realitäten der verschiedenen Kulturen aus einem künstlerischen Blickwinkel entwerfen und inszenieren.

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Almanya – Willkommen in Deutschland: Eine Mischung aus Heimatfilm und Familiendrama

In einem Filmheft von kinostart.de wird die Geschichte der Familie Yılmaz unter anderem mit folgenden Worten beschrieben: »Fremdsein wird in Almanya – Willkommen in Deutschland als Herausforderung betrachtet. Der Film würdigt, wie der nachziehenden Familie ihre Assimilation gelingt.«16 Wenn auch diese Beschreibung zunächst unproblematisch erscheint, so spiegelt sie genau die Wahrnehmung von Filmen wider, die sich mit interkulturellen Themen beschäftigen. So werden zwar natürlich die Herausforderungen dargestellt, die die sogenannten »Gastarbeiter« bei ihrer ersten Ankunft in Deutschland überwinden mussten, dennoch geht es in dem Film nicht darum, wie der Familie Yılmaz »die Assimilation gelingt«17 , sondern vielmehr darum, eine Brücke 14 15 16

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Ömer Alkın: »Einleitung«, in: Alkın, Ömer (Hg.): Deutsch-türkische Filmkultur im Migrationskontext. Wiesbaden: Springer VS 2017, S. 2. Ebd. Cristina Moles Kaupp: »Almanya – Willkommen in Deutschland«, Filmheft des Monats März, 23.02.2011, unter: https://www.kinofenster.de/almanya-willkommen-indeutschland-film (zuletzt aufgerufen am 08.05.2020). Ebd.

Vom anatolischen Heimatfilm zur modernen Familiengeschichte

zwischen der deutschen und türkischen Kultur zu schlagen, die eine NeuPerspektivierung des Kulturverständnisses bewirken soll. Aus diesem Grund ist Assimilation als Begriff an dieser Stelle problematisch und nicht korrekt, da sich dieser Begriff vor allen Dingen auf »ältere« bzw. veraltete »Migrationstheorien« beziehen, die die […] kulturelle Anpassung als eine unabdingbare Voraussetzung für die soziostrukturelle Eingliederung von Migrantinnen und Migranten in die Einwanderungsgesellschaften18 betrachten. Denn […] [e]in populäres Verständnis von Assimilation setzt eine kulturelle und ethnische Homogenität von Gesellschaft voraus, die in den europäischen Staaten der Neuzeit als ein Ideal kultiviert wurde, real aber nie existiert hat.19 Das bedeutet, eine Assimilation ist nicht notwendig, damit eine »Eingliederung«20 in die Gesellschaft funktioniert, was man in Almanya – Willkommen in Deutschland besonders gut beobachten kann. Es ist vielmehr ein Zusammenspiel aus der Integration beider Kulturen in den Alltag, der die Ankunft der Familie Yılmaz erleichtert sowie der humorvolle Umgang mit den Schwierigkeiten, denen sie begegnen. Diese Perspektive geht auch aus dem Interview der Drehbuchautorin Yasemin Şamdereli hervor, die erklärt, dass sie gemeinsam mit ihrer Schwester einen »Gegenentwurf« zu deutsch-türkischen Filmen machen wollte, die sich stets mit Themen wie beispielsweise »Jugendkriminalität«21 oder Ähnlichem beschäftigen: Auf jeden Fall wollte ich mit meiner Schwester Nesrin, mit der ich auch das Drehbuch geschrieben habe, sehr bewusst einen Film machen, der eine andere Sichtweise auf die Dinge hat. Denn ich hatte immer das Gefühl, was uns von den Anfängen unserer Familie in Deutschland erzählt wurde, war 18

19

20 21

Anna Amelina: »Transnationale Migration jenseits von Assimilation und Akkulturation – Transnationale Inklusion und hybride Wissensordnungen als konzeptionelle Alternativen zur Assimilations- und Akkulturationsdebatte«, in: Berliner Journal für Soziologie, 2010, Heft 20, S. 258. Jutta Aumüller: Assimilation – Kontroversen um ein migrationspolitisches Konzept. Bielefeld: transcript 2009, S. 40. Aumüller, Jutta: Assimilation – Kontroversen um ein migrationspolitisches Konzept. Bielefeld: transcript 2009, S. 40. Amelina, 2010, S. 258. Moles Kaupp, 2011, https://www.kinofenster.de/almanya-willkommen-in-deutschland-film (zuletzt aufgerufen am 08.05.2020).

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nicht so düster, wie man es oft wahrnimmt. Wir wollten auch dieses Gefühl unserer Kindheit wiedergeben.22 An dieser Stelle wird ein besonderer Aspekt hervorgehoben, der sich als roter Faden durch den ganzen Film zieht: Denn im Gegensatz zu vielen anderen deutsch-türkischen Filmen, die sich hauptsächlich mit Migrationsproblematiken beschäftigen, kristallisiert sich Almanya – Willkommen in Deutschland als Film heraus, der den Mehrwert der Interkulturalität und der damit verbundenen kulturellen Hybridität hervorhebt. Aus diesem Grund werden im Folgenden verschiedene ausgesuchte Szenen aus dem Film analysiert, die nicht nur einen neuen Blickwinkel auf die deutsch-türkische Kultur eröffnen, sondern ebenso dazu beitragen, dass kulturell hybride Phänomene entstehen, wie beispielsweise neue Metaphoriken, sprachliche Stilmittel und (Kultur-)Bilder.

4.1

Die Liebesgeschichte der Großeltern: Ein inszenierter deutsch-türkischer Heimatfilm

Almanya – Willkommen in Deutschland kann in drei große Handlungsstränge eingeteilt werden: Die Liebesgeschichte der Großeltern, die Türkei-Reise der gesamten Familie sowie die kindlich-naive Perspektive des sechsjährigen Cenk, der die Zuschauer durch die gesamte Familiengeschichte navigiert. Als Cenk nachfragt, warum denn die Großeltern in Deutschland seien, wenn sie doch Türken sind, beginnt Canan, die ältere Cousine und Tochter von Leyla, ihm die Geschichte kindgerecht zu erzählen23 . Sie ist zugleich die Off-Stimme des Films, die die Handlung kommentiert und weitere Informationen zu ihrer Familiengeschichte sowie den damit verbundenen historischen Ereignissen gibt. Die Liebesgeschichte der Großeltern wird hierbei in Form von märchenhaft anmutenden Rückblenden dargestellt. So wird die erste Begegnung zwischen Hüseyin und Fatma als typisch anatolische Geschichte dargestellt. Sie laufen sich über den Weg, als Fatma mit ihren Freundinnen auf dem Nachhauseweg ist. Dabei begegnet sie kichernd dem Blick von Hüseyin.24 Beschämt dreht sie danach ihren Kopf zur Seite und lacht, als Hüseyin sich

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Vom anatolischen Heimatfilm zur modernen Familiengeschichte

unbehelligt wieder zurückziehen möchte und doch von einer kleinen Ziege verjagt wird, sodass alle doch noch mitbekommen, wie er sie beobachtet hat25 . Was zunächst als kitschig-humorvolle Darstellung einer Dorfliebesgeschichte wirkt, hat bei näherem Hinsehen jedoch interessante Details. So kann die kleine Ziege tatsächlich als humorvolle Anspielung auf die türkische Redewendung »keçileri kaçırmak« interpretiert werden. Während in der deutschen Redewendung »die Pferde mit einem durchgehen«, man also verrückt wird und die Nerven verliert, sind es im Türkischen »die Ziegen, die mit einem durchgehen« bzw. es sind wörtlich »die Ziegen, die man verliert«, weshalb die kleine entflohene Ziege tatsächlich als Anspielung darauf verstanden werden kann, dass Hüseyin nicht nur verrückt vor Liebe ist, sondern ebenso die Nerven verliert, als alle mitbekommen, wie er Fatma aus der Ferne anschmachtet. Zugleich ist es ebenso eine Form von »Foreshadowing«, also eine Vorausdeutung dahingehend, dass Fatmas Vater einer Ehe zwischen den beiden nicht zustimmen wird und er sie in einer Kurzschlussreaktion »entführt«26 , was zur nächsten sprachlichen Anspielung führt. Während im Film die ganze Zeit davon die Rede ist, dass Fatma von Hüseyin »entführt« worden ist und die Übersetzung des Worts »kaçırmak« wörtlich aus dem Türkischen übernommen wird, wäre jedoch »durchbrennen« eine passendere Übersetzung, da damit gemeint ist, dass beide ohne die Zustimmung der Familie geheiratet haben. Denn es wird zu einem späteren Zeitpunkt des Films ersichtlich, dass Fatma nicht unfreiwillig mit Hüseyin mitgegangen ist, was durch das Wort »entführen« suggeriert wird. Sie gesteht ein, dass sie zu dem Zeitpunkt, als sie »entführt« worden ist, unehelich von ihm schwanger war, sodass sie keine andere Wahl hatten, als ohne die Familienerlaubnis zu heiraten27 , weshalb die beiden somit »durchgebrannt« sind. Müzeyyen Ege erklärt, dass der Film von der Presse zum Zeitpunkt der Erscheinung als »Integrationsmärchen«28 bezeichnet worden ist. Dabei sei die […] Benennung »Märchen« hier nicht im Sinne einer unglaubhaften Ge-

25 26 27 28

0:15:12 0:16:08 1:18:28 Müzeyyen Ege: »Hyperkulturalität und/oder Transdifferenz: Inszenierungen postmoderner Identitäten im interkulturellen Film am Beispiel von Yasemin Samderelis Almanya – Willkommen in Deutschland«, in: Dialog: interkulturelle Zeitschrift für Germanistik, 2014, Heft 2, S. 37.

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schichte zu verstehen, sondern rühr[e] von der spielerischen Erzählsprache des Films selbst.29 Das »Märchenhafte« liegt zuletzt nicht nur daran, dass das anatolische Dorf durch die weiten Landschaftsaufnahmen besonders malerisch in Szene gesetzt wird. Es liegt ebenso an den versteckten Anspielungen auf türkische Redewendungen und der verfremdeten Sprache. So wirkt es fast absurdkomisch, wenn der junge Hüseyin seine beiden Söhne als »die Söhne eines Esels«30 beschimpft, was natürlich vom Türkischen »eşek oğlu eşek« übersetzt worden ist. Die Verfremdung der Sprache, insbesondere in den Rückblenden, zeigt zudem die Wahrnehmung der türkischen GastarbeiterInnen, die diese zu diesem Zeitpunkt für sie fremde deutsche Sprache nicht verstehen31 . Somit können auch die deutschen MuttersprachlerInnen ein Gefühl für den Sprachrhythmus entwickeln, den Nicht-MuttersprachlerInnen wahrnehmen. Denn […] [d]ie spezifisch metaphorische Leistung der Sprache besteht […] darin, unmittelbare materielle Verhältnisse zwischen Mensch und Welt indirektideell darzustellen, und zwar so, dass diese Verhältnisse in der vermittelten Einheit des sprechenden Subjekts allererst erscheinen.32 Das heißt, die unmittelbare Welt, die die Figuren erfahren, kann nur durch eine metaphorische Darstellung der Sprachwahrnehmung vermittelt werden. Die Verfremdung muss als Metapher gedeutet werden, die durch Gestik, Mimik und Klang inszeniert wird. Besonders deutlich wird dieses Spiel mit den Sprachen, als das Ehepaar Yılmaz in einer Rückblende ihre Kinder dabei beobachtet, wie sie in der verfremdeten deutschen Sprache miteinander sprechen33 und sie sich plötzlich damit konfrontiert sehen, dass ihre Kinder sich, zumindest sprachlich, aus ihrer Perspektive, von der alten Heimat in der Türkei langsam entfernen. Denn als sie bei einem Heimaturlaub im alten Dorf ankommen, merken sie schnell, dass nichts mehr beim Alten ist, wie auch Canan erzählt34 . Das bedeutet, dass nicht nur bei den Kindern bereits zu diesem Zeitpunkt eine Art 29 30 31 32 33 34

Ebd. 0:17:51 0:20:35 Jörg Zimmer: Metapher. Bibliothek dialektischer Grundbegriffe herausgegeben von Andreas Hüllinghorst. Band 5. Bielefeld: transcript 2003, S. 40. 1:07:22 1:10:05

Vom anatolischen Heimatfilm zur modernen Familiengeschichte

»Hybridisierungsprozess« begonnen hat. Auch die Elterngeneration beginnt sich zu verändern. Aus diesem Grund kann man die Rückblenden einerseits als Erzählung der Liebesgeschichte zwischen den Großeltern betrachten und andererseits als eine Art humoristisch angelegten »anatolischen Heimatfilm«, was sowohl strukturell als auch ästhetisch an die früheren Yeşilçam-Filme35 erinnert. Somit wird eine weitere Brücke zwischen Deutschland und der Türkei geschlagen.

4.2

Ein deutsch-türkisches Familiendrama

Wenn auch Almanya – Willkommen in Deutschland zum größten Teil als Komödie angelegt ist, endet der Film durch den Tod Hüseyins eher wie ein Familiendrama. Doch warum ist dieser Aspekt als wichtig anzumerken? Betrachtet man die Geschichte der Familie Yılmaz, kann festgestellt werden, dass tatsächlich viele türkische Familiengeschichten in Deutschland ähnlich klingen, in denen ein Eltern- bzw. Großelternteil genau zum Zeitpunkt der Rückkehr in die alte Heimat oftmals gestorben ist, ohne seinen Ruhestand ausleben zu können. Besonders auffallend ist die Wirkung von Hüseyins Tod auf die anderen Figuren. Wenn auch seine Kinder zu dem Zeitpunkt bereits alle erwachsen sind und eigene Schicksalsschläge verkraften müssen, wie Scheidung, Arbeitslosigkeit (u.Ä.), ist der Tod des Vaters bzw. Großvaters ein einschneidendes Ereignis, das sie alle mit einem Schlag erwachsen werden lässt36 . Die Metaphorik, die mit dem Tod Hüseyins einhergeht, kann auf zwei unterschiedliche Arten gedeutet werden. Einerseits geht mit seinem Tod ein neuer Lebensabschnitt für die Familie Yılmaz einher und andererseits wird hier eine muslimische Beerdigungsszene37 dargestellt, die ebenso eine bildliche Bedeutung hat. Wenn berücksichtigt wird, dass Hüseyin diese Reise mit seiner Familie angetreten hat, um ihnen nicht nur das Ferienhaus zu zeigen, dass er gekauft hat (und das, wie die Familie feststellt, eigentlich nur eine Ruine ist), 35

36 37

Ausführliche Analysen zum türkischen Film und Migration mit einem spezifischen Blick auf die Yeşilçam-Filme sowie deren Rezeption siehe: Alkın, Ömer: Die visuelle Kultur der Migration – Geschichte, Ästhetik und Polyzentrierung des Migrationskinos. Postmigrantische Studien Band 5. Herausgegeben von Marc Hill und Erol Yıldız. Bielefeld: transcript 2019. 1:12:40 1:26:50

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sondern ihnen ebenso zu zeigen, wo ihre Wurzeln liegen, so hat seine Beerdigung eben diese Wirkung. Er wird nämlich in seinem Heimatdorf beerdigt, dort, wo auch das alte Haus ist. Hüseyin findet also in der alten Heimat seine letzte Ruhe, sodass der Ort wortwörtlich zum »Vaterland« wird. Die türkische Übersetzung dafür ist »ana vatan« also wörtlich »Mutterland«. Jedoch gibt es im Türkischen ebenso die Bezeichnung »ata toprakları«, was »Land der Ahnen« bedeutet. Zugleich ist »toprak« das Wort für »Erde«. Das heißt, dadurch wird dieser Ort für seine Kinder und Enkel im wahrsten Sinne des Wortes zum »Vaterland«, da ihre Wurzeln metaphorisch betrachtet, durch den Tod des Vaters bzw. Großvaters, wieder in der ursprünglichen Heimaterde begraben werden. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die Kinder und seine Ehefrau während der Beerdigung jeweils ihre eigene Kindheit und Jugend metaphorisch umarmen38 . So kann man sehen, wie sie alle gemeinsam am Grab weinen, wodurch die Vergangenheit und die Gegenwart miteinander in einer Szene verschmelzen. Eine ähnliche Montage kann man ganz zum Schluss beobachten, in der die Figuren gemeinsam sowohl mit ihren jüngeren Ichs als auch ihren gegenwärtigen Ichs und sogar mit dem toten Vater an eben diesem Abhang, wo er beerdigt wurde, gemeinsam picknicken39 . Bildlich betrachtet verschmelzen Vergangenheit, Gegenwart und die Zukunft ineinander. Aus interkultureller Perspektive kann dabei beobachtet werden, dass die Figuren nicht nur traditionell türkisches Essen vor sich liegen haben, sondern ebenso einen »deutschen« Picknickkorb40 , weshalb am Ende eine Brücke geschlagen wird zwischen Deutschland und der Türkei, und durch Canans Schwangerschaft sogar mit England. Das heißt, die Figuren müssen sich nicht entscheiden, welche Kultur zu ihnen gehört. Vielmehr wird hervorgehoben, so wie die Vergangenheit zu ihnen gehört, gehört auch alles, was in der Gegenwart und Zukunft liegt, zu ihnen.

5

Schlusswort

Die Betrachtung von deutsch-türkischen Filmen zeigt, dass sie insbesondere aus der künstlerischen Perspektive einen großen Beitrag zur Interkulturalität

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leisten. So kann man bei Almanya – Willkommen in Deutschland feststellen, dass er nicht nur die Geschichte einer »typischen Gastarbeiterfamilie« darstellt, sondern ebenso eine neue Perspektive auf die Inszenierung von Interkulturalität eröffnet. Die Geschichte wird zwar auf Deutsch erzählt, jedoch wird sie mit türkischen (Sprach-)Bildern verschränkt, wodurch nicht nur eine Brücke zwischen dem deutschen und türkischen Kulturraum entsteht. Vielmehr entwickeln sich dadurch kulturelle Bilder, die verschiedene Les- und Darstellungsarten erlauben. Am Ende des Films wird zudem ersichtlich, dass die Geschichte der Familie Yılmaz ebenso in anderen kulturellen Räumen funktionieren würden, da Themen wie Familie, Selbstfindung oder Tod universell sind und keine spezifisch interkulturellen Themen darstellen, weshalb es umso wichtiger ist, auch deutsch-türkische Filme nicht nur als »migrantische Filme« zu betrachten, sondern als individuelle Kunstwerke, die einen Beitrag zur kulturellen Wahrnehmung leisten.

Literatur Alkın, Ömer: Die visuelle Kultur der Migration – Geschichte, Ästhetik und Polyzentrierung des Migrationskinos. Postmigrantische Studien Band 5. Herausgegeben von Marc Hill und Erol Yıldız. Bielefeld: transcript 2019. Alkın, Ömer: Einleitung, in: Alkın, Ömer (Hg.): Deutsch-türkische Filmkultur im Migrationskontext. Wiesbaden: Springer VS 2017, S. 1-24. Amelina, Anna: »Transnationale Migration jenseits von Assimilation und Akkulturation – Transnationale Inklusion und hybride Wissensordnungen als konzeptionelle Alternativen zur Assimilations- und Akkulturationsdebatte«, in: Berliner Journal für Soziologie, 2010, Heft 20, S. 257-279. Angehrn, Emil: Kultur als Grundlage und Grenze des Sinns, in: Jammal, Elias (Hg.): Kultur und Interkulturalität – Interdisziplinäre Zugänge. Perspectives of the Other. Studies on Intercultural Communication. Wiesbaden: Springer VS 2014, S. 15-30. Aumüller, Jutta: Assimilation – Kontroversen um ein migrationspolitisches Konzept. Bielefeld: transcript 2009. Ege, Müzeyyen: Hyperkulturalität und/oder Transdifferenz: Inszenierungen postmoderner Identitäten im interkulturellen Film am Beispiel von Yasemin Samderelis Almanya – Willkommen in Deutschland, in: Dialog: interkulturelle Zeitschrift für Germanistik, 2014, Heft 2, S. 29-45.

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Göktürk, Deniz: Migration und Kino – Subnationale Mitleidskultur oder transnationale Rollenspiele?, in: Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland – Ein Handbuch. Sonderausgabe mit 77 Abbildungen. Stuttgart u. Weimar: J.B. Metzler 2007, S. 329-347. Hofmann, Michael & Patrut, Iulia-Karin: Einführung in die interkulturelle Literatur. Einführungen Germanistik. Herausgegeben von Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015. Moeller, Martina: Aktuelle literarische und filmische Darstellungen von kultureller Hybridität und Mehrsprachigkeit im DaF-/DaZ-Unterricht, in: German as a Foreign Language, 2016, Heft 3, S. 1-5. Specht, Theresa: Transkultureller Humor in der türkisch-deutschen Literatur. Studien zur deutsch-türkischen Literatur und Kultur. Band 3. Herausgegeben von Michael Hofmann. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011. Zimmer, Jörg: Metapher. Bibliothek dialektischer Grundbegriffe. Herausgegeben von Andreas Hüllinghorst. Band 5. Bielefeld: transcript 2003. Zymner, Rüdiger & Hölter, Achim (Hg.): Handbuch Komparatistik – Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis. Stuttgart u. Weimar: J.B. Metzler 2013.

Film Almanya – Willkommen in Deutschland (D, 2011, Yasemin Şamdereli, 101 min.)

Online-Quellen Moles Kaupp, Cristina: Almanya – Willkommen in Deutschland, Filmheft des Monats März, 23.02.2011. https://www.kinofenster.de/almanya-willkommen (29.05.2020).

B Sprachwissenschaftliche Perspektiven

Mehrsprachiges Handeln im Film: Am Beispiel von Gegen die Wand (2004) von Fatih Akın Ludger Hoffmann

Abstract. Functional analyses of spoken or written language can be used in the examination of films. They can capture scenes, characters and their development as well as their emotions, attitudes and mental processes. In this paper a linguistic analysis is given, in which language functions, language choice and language change are put into relation with the different characteristics of speech action shown in the multilingual film Gegen die Wand (2004), directed by Fatih Akın. Language choice serves to formulate thoughts, emotions and positioning that are bound to constellations of a certain language. The first language, for example, is used to express closeness, familiarity and origin and it can be used to express distance to the world of the second language. The choice of the second language can mark formality, distance, the perspective of institutions. Switching to simple English (only in scene 128) establishes a strong distance to the own emotions. All this would apply if, at the same time, the first language was available to the interlocutors as an alternative. Multilingualism allows for much more flexible and differentiated communication – as in Gegen die Wand.

1

Einleitung

In Filmen dominieren sequenzierte Bilder. Sie zeigen eine artifizielle Wirklichkeit, die montiert ist durch Schnitte, Kameraausschnitte, Kameraperspektiven (Normal, Aufsicht, Untersicht, Vogel etc.), Einstellungsgrößen (Totale, Amerikanisch etc.), die sich vom natürlichen Sehen unterscheiden können. Auf diese Kamerasicht sind die Betrachter festgelegt. Die Sequenzen setzen an Konstellationen an, die sprachlich und nonverbal handelnd verändert werden. Filme zeigen Totalitäten, die vielfältig zu deuten sind. Sie verbinden sich

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mit Tönen, Klängen und Melodien, die über Dialoge hinaus eine eigene Ebene der Emotion schaffen können. Bilder geben ganzheitliche Anschauung, in sprachlicher Form wird die sichtbare Welt gegliedert, werden Strukturen kommuniziert, die RezipientInnen unmittelbar übernehmen und mit den kommunizierten Bewertungen im Wissen verarbeiten können. Um die Wahrnehmung zu unterstützen, nutzen Filme formale Konventionen wie Farben, Perspektiven und Kamerafahrten; SchauspielerInnen gehen in ihrer Rolle auf, spielen distanziert oder kommentieren die Darstellung. Off-Kommentare (vor allem in LiteraturVerfilmungen) stützen das Verständnis, werden aber gegenwärtig oft als zu explizit und dem Medium nicht angemessen eingestuft. Szenen zeigen Handlungskonstellationen, die durch ihre Form von den Zuschauern verstanden und mit Erwartungen aufgeladen werden. Insofern haben Filme eine komplexe Bild- und Tonsprache, der analytisch nicht leicht beizukommen ist, wenn Details und Ganzes sinnvoll verbunden sein sollen. Es gilt, die Funktionalität der Mittel verschiedener analytisch zugänglicher Ebenen im Blick auf das, was der Film durch ihren Einsatz rezeptiv auslöst, zu untersuchen und immer wieder methodische Grenzen zu überschreiten, um den Innovationen in der Kunst gerecht zu werden. Funktionsanalysen von gesprochener oder geschriebener Sprache sind vergleichsweise gut entwickelt und in der Untersuchung von Filmen einsetzbar, um Narration und Dialogizität der Figuren sinnvoll zu erfassen. Die zentralen Momente von Filmen, die eine konsistente Geschichte mit prägnanten Figuren erzählen, lassen sich so gut herausarbeiten. Daher wird in diesem Beitrag eine sprachliche Analyse gegeben, in der Sprachfunktionen, Sprachenwahl und Sprachenwechsel mit den unterschiedlichen Konstellationen, die der Film zeigt, ins Verhältnis gesetzt werden. Solche Analysen sind am Material auch im Unterricht Fortgeschrittener gut durchführbar. Der Film Gegen die Wand enthält einige Schockmomente und Wendungen, die nach erster Sichtung erklärungsbedürftig sind. Zugleich aber transportiert er nicht nur eine »gebastelte« neue kulturelle Praxis am Rande der Gesellschaft, sondern setzt sich auch mit traditionellen Lebensweisen in Zuwandererfamilien und dem oft konfliktträchtigen Verhältnis der Generationen bei wichtigen Lebensentscheidungen auseinander. Der Film zeigt Handlungspraktiken, Befreiungsversuche, das Schaffen von Freiräumen in einem starren Rahmen, aber auch wie schwer es ist, sich in neue Formen einzuleben.

Mehrsprachiges Handeln im Film

2

Migration im Film

Migrationserfahrungen werden von Einzelnen gemacht. Sie werden beschrieben oder biographisch weitererzählt, literarisch oder filmisch fiktionalisiert. Die gesellschaftlichen Bedingungen der Migration sind nicht einfach den Migranten zuzurechnen, wie es gegenwärtig oft geschieht. Die Aufnahme- und Bewegungsfähigkeit der Gesellschaft ist entscheidend dafür, ob das Leben im neuen Land gelingen kann, in Isolation verbracht wird oder als Scheitern erfahren wird. Auch im deutschen Ghetto lebt es sich anders als am Schwarzen Meer, weil viele Praktiken nur noch in der Form, als Ritual aufrechterhalten werden können, aber nicht länger funktional sind. Die sprachlichen Möglichkeiten, Spracherfahrungen und Zugänge zu einer Verständigung in den kommunikativen Welten, in denen sich MigrantInnen bewegen, sind schließlich entscheidend dafür, wie die eigenen Lebensentwürfe umzusetzen sind. Die gelungene Fiktion abstrahiert zur Kenntlichkeit für alle, die solche Fremdheits- und Brucherfahrungen schon gemacht haben oder kennen, und Verstehen kann Empathie auslösen, Identifikation, produktive Auseinandersetzung, Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen erzeugen, die über Zahlen und Fakten, Aufrufen von (zu erbringenden oder gesellschaftlich beanspruchten, oft unzureichenden) Integrationsbemühungen nicht zu bekommen sind, wohl aber durch Narration, filmisches Zeigen, emotionalen Zugang. Migration bewegt nicht nur Menschen über Grenzen, sondern transportiert Erfahrungen, die unter neuen Bedingungen und in der Folge von Generationen fragwürdig oder obsolet werden können und mindestens bearbeitet werden müssen, um etwas Neues, Taugliches zusammensetzen zu können. Die subjektive Seite des Erlebens und Handelns können Filme zeigen; sie können in der Sprache ihrer Figuren das Reden über vergleichbare Erfahrungen anregen, aber auch Sprachlosigkeit, Vergeblichkeit, Scheitern und ihre Gründe nachvollziehbar machen. Das Sprechen migrantischer Figuren verkörpert die Auseinandersetzung mit den kommunikativen Welten, in die sie eingebunden sind, aus denen sie sich möglicherweise zu lösen versuchen, um Zukunft zu gewinnen, zwischen denen sie sich bewegen müssen, um ein Maximum der Handlungsfreiheit zu haben, mit der sie ein selbstbestimmtes Leben gestalten können. Wichtig ist, dass diese Sprachen nicht schlicht wegsynchronisiert, sondern in ihrem konstellationsangemessenen Gebrauch und Wechsel gezeigt werden. Im Film Gegen die Wand wird genau das versucht. Wir finden nicht ausgebautes oder umgangssprachliches oder standardnäheres bis Standard-Türkisch neben Szenedeutsch, nicht

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ausgebautes, formelhaftes Deutsch der ersten Generation, alltagstaugliches Deutsch der zweiten Generation neben erstsprachlichem Deutsch und formelhaften institutionellen Praktiken. In einer zentralen Szene kommt – als Kunstgriff – Englisch vor, um besonders markiert das Innere nach außen zu setzen und die eigene Identität zum Ausdruck zu bringen.

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Gegen die Wand

Der Film Gegen die Wand von Fatih Akın und seine DarstellerInnen sind 2004 berühmt geworden, als Publikumserfolg, durch den Gewinn des »Silbernen Bären« der Berlinale und den Gewinn des europäischen Filmpreises. Der Film eröffnet die Trilogie Liebe, Tod und Teufel, 2007 erschien Auf der anderen Seite, 2014 The Cut. Auf diese Filme der Trilogie, in denen anders gelagerte Geschichten erzählt werden, kann hier nicht eingegangen werden.

Gegen die Wand1 erzählt die Geschichte eines Scheiterns. Vorgeschichte: Sibel geht eine Scheinehe ein, um der Enge ihrer Familie zu entkommen und Freiheit auch für wechselnde Beziehungen zu gewinnen. Sie ist in einer verzweifelten Situation, deutlich an ihrem Selbstmordversuch, dem ersten einer Reihe. Ihr für die Scheinehe gewählter Mann Cahit ist nach einem Trauma durch den Unfalltod seiner ersten Frau und als Alkoholiker zunächst beziehungsunfähig, neigt zu selbstzerstörerischem Handeln (vergleichbar manchen RockmusikerInnen; er selbst hat in einer Band gespielt) und hat gerade einen Selbstmordversuch hinter sich. Beide treffen in der Psychiatrie aufeinander. Cahit lässt sich schließlich zur Scheinehe überreden. Bei der Eheanbahnung hilft ihm sein Freund Şeref, der sich als sein Onkel ausgibt. Die Werbung ist eine Farce. In der Scheinehe nutzt Sibel die neu gewonnen Freiheiten, während Cahit langsam wieder in eine gewisse Normalität zurückkehrt. Es entsteht Konstellation I: Sie ist durch Zusammenleben in Distanz gekennzeichnet und instabil. Cahit und Sibel entwickeln im Zusammenleben Sympathie für

1

Verweise auf den Film nutzen die Nummerierung im Drehbuch (vgl. Akın 2004). Allerdings weicht der Film öfter vom Drehbuch ab, viele Szenen oder Szenenteile sind dem Schnitt zum Opfer gefallen, die Schauspieler trugen nicht nur eigene Kleidung, sondern konnten die Äußerungen sprachlich modifizieren, um sie realistischer zu machen – soweit sie in einem Film realistisch sein können.

Mehrsprachiges Handeln im Film

einander, sogar ein Gefühl der Nähe und Verliebtheitsgefühle stellen sich ein. Sibel wehrt sie ab, um trotz ihres Status ihre Freiheit zu behalten. Sie hält ihre Fassade auch in der Verwandtschaft weiter aufrecht. Das ist die riskante Konstellation II: Die ProtagonistInnen bauen eine erste Nähe, ein Verständnis füreinander auf, ohne den nächsten Schritt – hin zu einer Liebesbeziehung – gehen zu können. Beide sind gesellschaftlich angreifbar. Cahit zeigt noch immer eine gefährdete Persönlichkeit, verliebt sich aber allmählich. Sibel öffnet sich langsam, aber spürbar für ihn, sie blockt den Liebesversuch aber noch ab. Bruch und Wendung: Cahit wird im Bekanntenkreis mit der merkwürdigen Beziehung aufgezogen, schließlich wird er von Niko, einem ihrer früheren Liebhaber, hart beleidigt. Auf die Beleidigungen reagiert Cahit szenetypisch, aber auch im Sinne seiner Tradition mit Gewalt, um seine Ehre zu verteidigen. Er erschlägt in der Wut Niko mit einem Aschenbecher. Mit seiner Inhaftierung ist die zwischen Cahit und Sibel entstandene Liebesbeziehung unterbrochen. Konstellation III: Die getrennten Verliebten werden von Sibels Familie ausgestoßen, die ihre Ehre verletzt sieht. Sibel verspricht Cahit zu warten (projiziert eine Rückkehr zur und die Fortführung von Konstellation II) und geht zu ihrer Cousine Selma in die Türkei, dem einzigen Menschen, der ihr geblieben ist. Nach einigen Abstürzen (Drogen, provozierte Schlägerei) wird sie in einer neuen Beziehung zu ihrem Retter, dem Istanbuler Taxifahrer Cem, bürgerlich und bekommt eine Tochter (Details übergeht der Film). Konstellation IV: Die Trennung stabilisiert sich in den folgenden Jahren nicht nur räumlich, sondern durch die neue Beziehung von Sibel zu Mann und Kind. Konstellation V: Cahit wird aus der Haft entlassen und kommt schließlich nach Istanbul, er möchte seine Liebe verwirklichen und mit Sibel leben, hat dem Alkohol abgeschworen, wirkt jünger. Die Konstellation ist offen für eine Veränderung, in der Schlüsselszene mit Selma macht Cahit seine Wandlung und seine Liebe eindrucksvoll deutlich. Sibel trifft sich mit Cahit, sie lieben sich. Aber eine definitive Entscheidung für Cahit kann Sibel nicht mehr treffen, Cahit reist allein weiter nach Mersin. Die Beziehung zwischen den ProtagonistInnen Sibel und Cahit ist gescheitert – weniger an kultureller Differenz im Wissen und Handeln, als an der schwer überwindbaren Konstellation I, einer Scheinehe mit unklaren Verpflichtungen, die Sibel eine Freiheit verschafft, die sie von Cahit entfernt. Zwei instabile Persönlichkeiten, die mit dem Leben fast abgeschlossen hatten (Sibel: Enge der Familie, Bewegungsun-

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fähigkeit; Cahit: Verlust der Ehefrau, Alkohol) müssen viele Hürden überwinden, um die Vertrauensbasis einer Beziehung aufzubauen. Ein solches Vertrauen erfordert eine Kommunikation der Nähe sowie wechselseitiger und synchroner Empathie. Im Rhythmus der Geschichte Distanz – vorsichtige Nähe – Distanz – stellt sich Vertrauen kaum ein, erst in Istanbul, wo Cahit sich in jeder Weise öffnet und nun auch erstmals die Geschichte vom Tod seiner ersten Frau erzählt, was er zuvor auf Kosten schwerer Konflikte mehrfach abgelehnt hatte. Das Scheitern hat also viele Gründe, angefangen damit, dass Sibel, um der Enge der Familienkonventionen aus ländlicher Schwarzmeertradition zu entkommen, sich neue Freiheiten nimmt und instabile Beziehungen in ihrem Bekanntenkreis aufbaut. Da die Basis eine Lüge ist, sind alle vom Scheitern bedroht. Sibel ist nicht frei für eine neue Nähe zu ihrem Scheinehemann. Das Scheitern ist auch mangelhafter Nähekommunikation geschuldet. Die Probleme, die sich im Fortgang der Geschichte stellen, wären durch Verständigungshandeln und vertrauensvolle Kommunikation, die aber beiden neue Verpflichtungen einbrächten, zu überwinden gewesen.

4

Sprachen, Sprachenwahl, Ausdruck

Die sprachlichen Ressourcen von Sibel und Cahit sind: a) Sibel: Erstsprache Türkisch bzw. umgangssprachliches Türkisch und deutsche regionale Umgangssprache; b) Cahit: Erstsprache Türkisch bzw. umgangssprachliches, nicht ausgebautes Türkisch und deutsche Umgangssprache (mit Kiez2 -Einschlag), schließlich Englisch3 .

Wir können die ProtagonistInnen als weitgehend gleichgerichtet mehrsprachig bezeichnen: Ihre Ressourcen sind hinreichend ähnlich, sodass sie im Prinzip verständigungsorientiert kommunizieren und auch zur jeweils thematischeren Sprache wechseln können; Code-Switching wäre zu erwarten, 2

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Gemeint ist nicht, was Heike Wiese 2012 als »Kiezdeutsch« und als neuen Dialekt des Deutschen beschrieben hat, sondern eher ein Deutsch, das in alternativen Szenen deutscher Großstädte anzutreffen ist. Den Umfang der Englischkenntnisse kann man aufgrund einer einzigen Äußerungskette in einer Situation äußerster Anspannung schwer bestimmen; es scheint kein sehr gutes Englisch zu sein, die Aussprache ist stark deutsch geprägt.

Mehrsprachiges Handeln im Film

ist aber anders als in der Wirklichkeit selten zu finden, vermutlich, weil die Rezeption solcher Äußerungen im Film erschwert wäre. Weitere Figuren des Films sind: c) Şeref (Freund von Cahit; »şeref« bedeutet auf Deutsch »Ehre«): Erstsprache Türkisch bzw. standardnäheres Türkisch und deutsche Umgangssprache; d) Maren (Freundin von Cahit, gibt Sibel einen Job): Erstsprache Deutsch/deutsche Umgangssprache; e) Birsen und Yunus Güner (Eltern von Sibel): Erstsprache/Familiensprache Türkisch (Dialekt der Schwarzmeerküste, Zonguldak), Deutsch der ersten Generation (nicht im Film); f) Yılmaz Güner (Bruder von Sibel): Erstsprache Türkisch bzw. standardnäheres Türkisch und deutsche Umgangssprache; g) Selma (Cousine von Sibel): Erstsprache standardnahes Türkisch (lebt in Istanbul, guter Job im Hotel-Management), kein Deutsch, Englisch.

Die Sprachenwahl dient unterschiedlichen Zwecken: •





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Formulieren von Gedanken, die an Konstellationen einer bestimmten Sprache gebunden sind, erstmals in ihr rezipiert oder gesagt wurden, deren Bezeichnungen sich auf Institutionen beziehen (z.B. Sprache deutscher Behörden oder Schulen), die in dieser Sprache verfasst sind – das lässt sich institutionsgebundene Sprache – I-Sprache – nennen; Die Wahl der Erstsprache kann Distanz zur Welt der Zweitsprache und Nähe, Verbundenheit mit sprachlich ähnlich kompetenten GesprächspartnerInnen oder den Mitgliedern der eigenen Familie ausdrücken, sie kann Vertrautheit, Nähe, Zugehörigkeit zu einer kleineren gesellschaftlichen Gruppe symbolisieren und für Verständigungshandeln über persönliche oder familiäre Themen oder einfach das Aufrechterhalten eines Redekanals (Phatik) dienen – die gewählte Sprache ist die der Verbundenheit, die V-Sprache; Die Wahl einer Sprache kann obligatorisch sein, weil nur sie (etwa in der Familienkommunikation mit Eltern der ersten Generation oder in der monolingual-deutschsprachigen Umwelt) verstanden wird; hier ist sie gruppenbedingt; das ist die G-Sprache4 ; Eine Sprachwahl kann zugleich V-Sprache und G-Sprache adressieren.

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Die Wahl der Zweitsprache kann Formalität, Distanz, Unvertrautheit markieren, wenn zugleich die Erstsprache den GesprächspartnerInnen als Alternative zur Verfügung stände – das ist die Distanzsprache, die D-Sprache; Die bewusste Wahl der Zweit- anstelle der möglichen Erstsprache kann Konfliktbereitschaft ausdrücken und im expliziten (argumentativen) Streit verwenden werden als Konfliktsprache – die gewählte Sprache ist die K-Sprache; Auf die dem/der GesprächspartnerIn zugängliche Erstsprache kann zurückgegriffen werden, um GesprächspartnerInnen zu demütigen oder zu beleidigen; markiert Vertrautheit, geteilte kommunikative Welt; Zugänge zu Traditionen können genutzt werden, um spezifisch mit Sprache herabzusetzen; hier handelt es sich um die Herabsetzungssprache, die HSprache; Sprachlosigkeit, Schweigen, wo Kommunikation zu erwarten wäre (z.B. nach einer Beleidigung), macht Verständigung unmöglich oder blockiert sie bis zum dauerhaften Abbruch der Kommunikation; das kann Gewalt vorbereiten (im Drehbuch die Regieanweisung: »Cahit spannt seine Faust an, sodass das Weiße unter den Knöcheln hervortritt.« [Szene 5, 85]) – Null-Sprache, N-Sprache.

Im Folgenden werden beispielhaft Szenen im Blick auf die Sprachenwahl untersucht.

4.1

Scheitern der Kommunikation: Sprachlosigkeit

Der einfache Fall ist, dass keine kommunikative Beziehung hergestellt wird, dass jemand sich auf einen Kommunikationsversuch des anderen nicht einlässt, nicht die im Handlungsmuster folgende Position besetzt. Ein komplexerer ist derjenige, dass Kommunikation nur auf einem sehr basalen Niveau, ohne auf die eigentlich thematischen Dinge einzugehen, zugelassen wird. Statt über einen neuen Anfang im Leben, spricht man über Banales. In Szene 3, am Tresen der Hamburger »Fabrik«, ist die Bestellkommunikation Deutsch. Sein Freund Şeref startet parallel Kommunikationsversuche mit dem angetrunkenen Cahit auf Türkisch in der V-Sprache, Cahit reagiert nur rudimentär, unverständlich, scheint fertig, Şeref beschreibt hilflos Cahits Zustand: »susadın« (»Du hast Durst«). Auch mit der V-Sprache kann man scheitern – wenn der Partner kaum aufnahmefähig ist oder verzweifelt ab-

Mehrsprachiges Handeln im Film

blockt. Ganz ähnlich ergeht es Maren in der Szene 5, in der die G-Sprache genutzt wird. Auf Sprachlosigkeit – der »Italiener« beschwert sich, dass Cahit auf Maren kommunikativ nicht reagiert und sie aus der Kneipe vertreibt – folgt unvermittelt Gewalt (Cahit gegen den »Italiener«). In Szene 9 in der Psychiatrie Ochsenzoll (nach Cahits Suizidversuch) scheitert die I-Sprache Deutsch, die Belehrung durch den Psychiater wird durch eine problematisierende Gegenfrage abgeblockt, ebenso geschieht es mit der Frage nach der Bedeutung des Namens von Cahit. Und so geht es weiter:   B1: Psychiatrie: Sprechzimmer; Cahit, Psychiater Dr. Schiller Schiller: Die Namen haben doch alle so eine schöne Bedeutung↓ Viel mehr als bei uns↓ Zumindest von den Vornamen weiß ich das↓ Cahit: ((schaut irritiert)) Schiller: Wenn Sie Ihr Leben beenden wollen, dann beenden Sie doch Ihr Leben→ 6 Aber dafür müssen Sie doch nicht sterben↓ 7 Beenden Sie Ihr Leben hier und gehen weg↓ 8 Machen Sie doch was Sinnvolles↓ 9 Tun Sie was↓ 10 Gehen Sie nach Afrika↓ 11 Helfen Sie Menschen↓ 12 Cahit: ((unwillig, lässt Luft raus)) psch 1 2 3 4 5

Der Appell des Psychiaters stößt auf völliges Unverständnis, Cahit ist am Boden; er ist so verzweifelt, dass er über solche Vorschläge nicht nachdenken kann. Minimalkommunikation bringt der Psychiater nur zustande, als er sich auf einen bekannten Popsong bezieht. Dann aber verlässt Cahit, der zu keinem inhaltlichen Gespräch bereit ist, mit einer rollentauschenden Beleidigung (»Sie haben doch voll den Knall!«) den Sprechraum. Auf dem Flur (Szene 9) spricht Sibel Cahit auf Türkisch an; für ihr überraschendes Anliegen, einen Heiratsantrag, wählt Sibel die V-Sprache. Nach der verständnislosen Frage »Was?« wiederholt Sibel ihr Anliegen auf Deutsch, in der D-Sprache, denn ihr Anliegen rechtfertigt auch Formalität. Sie wird mit einem derben türkischen Fluch abgewiesen.

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In Szene 10 – Sibel hat in der Psychiatrie Besuch von ihrer Familie – ist die Kommunikation überwiegend türkisch (G-Sprache), es kommt aber nicht zu einer Verständigung. Der Vater gibt eine traditionell-religiöse Belehrung, die die Tochter zweifellos gut kennt und auf die sie nicht mehr anspricht. Nach seinem Statement sieht er nur die Möglichkeit, die Kommunikation zu verlassen, eine Flucht aus Sprachlosigkeit. Sibels Mutter Birsen versucht dann eine empathischere Kommunikation, übernimmt auch selbst Schuld und normalisiert die Verhältnisse in der Klinik, dies in der Familiensprache, die Nähe als V-Sprache schaffen soll. Der Bruder hingegen wählt für seine rüde, empathielose Attacke das Deutsche, distanziert sich von Schwester und Familie (D-Sprache). Wir sehen, dass die Sprachenwahl allein noch nicht zu verständigungsorientierter Kommunikation führt. Sie muss der Konstellation, den Handlungen und ihrem Zweck entsprechen. Der Sprachwechsel kann wie in Szene 9 ein Insistieren ausdrücken (Antrag zweisprachig), er kann auch eine Zurückweisung verstärken, er ist aber nur in einer solchen Konfiguration möglich. Auffällig im Film Gegen die Wand sind die häufigen Fälle von Inkohärenz: Auf das Gesagte folgt keine mustergerechte Reaktion, vielmehr wird nichts gesagt oder ein neues Muster, was einzügig sein kann, eröffnet. Sprachlosigkeit durchzieht den Film ebenso wie Formen der Gewalt, weil Sprechen oder lautes Denken nicht zu einem Ergebnis führt oder von den Figuren kein Ergebnis erwartet wird.

4.2

Gelingende Verständigung, Nähe, Empathie

Gemeint ist, dass man sich im Rahmen des initiierten Musters wechselseitig zu verstehen sucht, auf das Gesprächsangebot einer anderen Person inhaltlich und weiterführend einlässt, das Gesagte im Wissen aufnimmt und verarbeitet, in Beziehungsgesprächen eine gemeinsame Klärung anstrebt, nicht gleich persönlich nimmt, was der andere sagt. Bei gleicher Sprachenwahl kann man sich verständigen (in der zweiten Generation Deutsch bei ernsthafterem, auch formalem Thema, mit punktuellem Code-Switching5 in die Erstsprache, was aber im Film nur stilisiert erscheint, in Gegen die Wand nur

5

Dieses Phänomen kann hier nicht diskutiert werden; aus der umfangreichen Literatur: Auer 1998, Bullock/Toribio 2009, Gardner-Chloros, 2009, Meyers-Scotton 1993, Poplack 2004, besonders Özdil 2010.

Mehrsprachiges Handeln im Film

selten); wenn es familiär, rituell im Sinne traditioneller Praktiken wird, kann zur Erstsprache (hier einer Türkisch-Variante) übergegangen werden. Das erste Beispiel gelingender Kommunikation bringt erst Szene 11, die sich im Garten der Klinik abspielt. Die nötige Gesprächsarbeit leistet Sibel:   B2: Psychiatrie Ochsenzoll, Park; Cahit; Sibel kommt gejoggt6 1 2 3 4 5 6

Sibel: ((türk.7 )) »Hey Cahit, wie geht’s« ((5.7 Sek.)) Cahit: ((sieht ihre Schnitte am Handgelenk)) So stirbt man nicht↓ Sibel: Wie stirbt man nicht↑ Cahit: Senkrecht↓ Sibel: Was senkrecht↑ Cahit: Du musst senkrecht schneiden↓

Nicht waagerecht 7 8 9 10 11 12 13 14 15 17 18

Waagerecht ist Scheiße↓ Sibel: Ach sò→ ((7,4 Sek.)) Cahit: Hast ma_n Bier→ Digger↑8 ((2.0 Sek.)) Sibel: Wenn du mich heiratest→ ((3.3 Sek.)) Cahit: Ich fick nur Männer↓ Sibel: Echt ↑ ((7.1 Sek.)) Weißt du was↑ Ich besorg dir n_Bier↓ Cahit: ((schaut sie an)) Sibel: Heute Nacht um zwölf vor der Klinik↓ Okáy ((joggt weiter))

Sibel steigt locker und freundlich, mit einer türkischen Begrüßungsformel, in das Gespräch ein; dem kann sich Cahit schwer entziehen, braucht aber lange fünf Sekunden. Der Blick auf Sibels Schnitte veranlasst ihn zu einer noch unkonkreten Belehrung unter Gleichgesinnten (Suizidalen), hier ist der Ansatz

6 7 8

Hier wie im Folgenden nach dem Film retranskribiert. Äußerungen in türkischer Sprache werden (nach Überprüfung) in der Regel mit den Untertiteln des Films wiedergegeben. »Digger« gehört zur Norddeutsch-Hamburgischen Szenesprache, < »Dicker«; Sonorisierung des Plosivs [k]→[g].

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von verständigendem Austausch auf Deutsch. Sibel greift den Hinweis mit einer interessierten Nachfrage auf. Sie erfährt, wie man sicher schneiden muss und drückt ihr augenblickliches Verstehen mit der Interjektion »Ach sò« aus (8). Cahit überlegt und bringt dann sein zuvor (Szene in der Kantine) unerfülltes Bedürfnis nach Bier zur Sprache. Das nutzt Sibel, um eines zu versprechen unter der Bedingung, dass er sie heiratet. Die Unangemessenheit einer solchen Verknüpfung und der Tonfall heben die Ernsthaftigkeit auf und Cahit schließt mit seiner vorgeblichen Präferenz für Männer daran an (11). Sibel hält mit ihrem Echo echt die Kommunikation weiter in der Schwebe, ohne Commitment. Nach längerer Pause kommt ein deutlich epistemisch gerahmtes Angebot, das Cahit überrascht, und sie verabreden sich für Mitternacht. Diese Szene hat eine für jüngere Leute typischen Rhythmus zwischen Ernst und Frotzelei, wobei Sibels Hintergrund kein Spaß ist. Sie will heiraten, aber nicht wie üblich (insofern wäre eine andere sexuelle Präferenz von Cahit kein Problem) und so kommt es mit der Verabredung erstmalig zu einer geteilten Verpflichtung auf künftiges Handeln. In Szene 14, nachts in einem Club, setzt sich dieser vorsichtige Verständigungsprozess ernsthafter fort. Sibel stellt die übliche Frage nach seiner Herkunft, Cahit antwortet, Sibel setzt höflich fort: »Mersin? Das soll schön sein«. Später sagt sie, dass ihre Familie aus Zonguldak (Schwarzmeerregion) kommt. Cahit kommt nun mit der ernsthaften Frage nach dem Grund ihres Selbstmordversuchs, erhält aber keine Antwort und insistiert »Hey, ich hab dich was gefragt«; so tritt ein Bruch in der Vertrauenskommunikation ein. Sibel wechselt das Thema und thematisiert ihre Nase, dann ihre Brüste, bietet sich gewissermaßen an, bevor sie zum für sie relevanten Punkt kommt. Sie verkündet ihren Plan für die Zukunft, der an die Scheinehe gebunden ist:   B3: Cahit, Sibel in einem Club, nachts 1 2 3 4

Sibel: Ich will leben, Cahit↓ Ich will leben, ich will tanzen↓ Ich will ficken↓ und nicht nur mit einem Typen↓ Verstehst du mich↑

Dieses ist für eine traditionelle Familie und herkömmliche Verhaltensmaßstäbe, schon gar für eine junge Frau, die durch eine ehrbare Familie sozialisiert ist, ein unerhörtes Programm. Es ist aber ernsthaft Sibels Plan, es musste so

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drastisch gesagt werden, wenn der Weg dorthin über eine Scheinehe mit Cahit beschritten werden soll. Das ist nur möglich, wenn er Verständnis zeigt und sich darauf einlässt; dazu gehört, auf die üblichen Ehe-Konditionen und eine eigene, zweite Heirat zu verzichten. Insofern ist dies eine große Bitte (nicht aus einer existenziellen Not heraus, um ein Aufenthaltsrecht zu bekommen), geäußert vielleicht, weil Sibel Cahit einen bürgerlichen Weg ohnehin nicht mehr zutraut; Cahit muss ihr (wie anderen) als gescheiterte Existenz, dem Alkohol verfallen, erscheinen. Die Sache ist so bedeutungsvoll für sie, dass seine Reaktion »Ich bin ja nicht taub« ihre Empörung weckt – so scheint Verständigung lokal nicht mehr möglich (»Ein’ Scheiß verstehst du«), es folgt sprachloses Schweigen. Sibel macht einen neuen Anlauf. Als er scheitert zeigt sie nonverbal, dass ihr Leben an der Frage hängt und wie ernst sie es meint; sie will ihre Freiheit erzwingen oder sterben:   B4: Cahit, Sibel in einem Club, nachts 1 2 3 4 5

Sibel: Heiratest du mich jetzt, Cahit↑ Cahit: Vergiss es↓ Sibel: ((2.3 Sek.)) ((zerschlägt Cahits Bierflasche, schneidet sich die Pulsadern auf)) Bar ((Schreie, Chaos)) Cahit: ((verbindet den Schnitt))

Cahit erfüllt ihr später den Wunsch und sie heiraten. Erst später, im Auto bei der Rückfahrt von Sibels Bruder (Szene 62), kommt es zu einer heftigen Umarmung zwischen Sibel und Cahit, zum ersten beiderseitigen Liebeseingeständnis. Dabei weiß sie nicht einmal, dass er in der Männerrunde in Yılmaz‹ Wohnung im Grunde Sibels Ehre und eine klassische Liebesbeziehung verteidigt hat (vgl. B 11). Die nächste Szene, in der Nähe gezeigt wird, ist diejenige als Sibel Cahit am Eingang des »Schlachthof« (Hamburger Szenelokal) rettet: Die Türsteher wollten ihn nicht hereinlassen. Sibel kommt und identifiziert ihn den Fremden gegenüber: »Das ist mein Mann«. Sie steht nun zu ihm. Vor dem Hintergrund der Scheinehe bedeutet es einen qualitativen Umschlag der Beziehung, als Sibel sagt »Das ist mein Mann«. Es könnte zwar noch auf den formalen Status bezogen sein, ist hier aber nonverbal anders markiert und bringt Cahit nicht nur den Einlass.

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Auf dem Weg ins Lokal entschuldigt sich Cahit bei Sibel für sein vorheriges Verhalten (er wollte zuvor nicht mit ihr gemeinsam in einen bestimmten Club gehen).   B5: Sibel und Cahit auf dem Weg ins Lokal 1 2 3 4 5

((Sibel und Cahit bleiben stehen, wenden sich dem anderen zu, schauen sich direkt an)) Cahit: Es tut mir leid dass ich vorhin weggelaufen bin↓Okáy Sibel: Is schon okay↓ Cahit: Ich hab o:’n ((zeigt Größe)) Kn[o]ll wusstu↑9 Sibel: Hat doch jeder↓ ((küsst ihn))

Die Szene auf dem Weg ins Lokal bestätigt das: Cahit ist es wichtig, nun sein Verhalten mit einer expliziten Entschuldigung zu bereinigen, Sibel akzeptiert sie und quittiert seine Selbsterniedrigung (4), ausgesprochen in spielerisch (norddeutsch) regionalsprachlich verfremdeter Form (Lippenrundung), mit einer solidarischen Reaktion. Sie begegnen sich wieder als Gleiche. Kurz darauf macht Cahit ihr Komplimente, aber sie wehrt ab (»Verlieb dich nicht in mich«), um ihren mühsam erkämpften Freiheitsstatus aufrechtzuerhalten. Cahit fragt sofort nach dem Grund, aber es interveniert eine Anmache durch einen Fremden, die in Streit und Gewalt mündet. In der Schlägerei hilft Sibel Cahit. Als es vorbei ist, bemüht sich die von seinem Einsatz beeindruckte Sibel um Nähe. Er fordert sie heraus, er sucht ja Nähe:   B6: Sternstraße 1 2

Sibel: Ich weiß so wenig von dir↓ Cahit: ((14.3 Sek.)) Lern mich doch kennen↓

Ein Liebesversuch wird dann aber in letzter Sekunde von Sibel blockiert (»Wenn wir es tun, bin ich deine Frau und du bist mein Mann ((1 Sek.)). Verstehst du«, Szene 76). In der Haft besucht Sibel Cahit, bevor sie nach Istanbul fährt. Es fällt unter dem Stress der Situation nur eine Äußerung: Sibel sagt auf Türkisch, in

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»Ich hab‹ einen Knall«.

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einer Sprache großer Nähe und familialer Vertrautheit, dass sie auf ihn warten wird. Erstmals bekundet sie nun, nonverbal deutlich gerahmt (unterstützt durch Großaufnahmen), ihre Liebe, die nun wechselseitig ist.

4.3

Kommunikativer Konflikt, Streit, Antagonismus

Im kooperativen Rahmen, den Sprache bietet, können auch Konflikt und Streit ausgetragen werden. Im kontroversen Austausch der Positionen zu einem Sachverhalt kann Klarheit über Uneinigkeit hergestellt werden. Man kann versuchen, nach gemeinsamen Hintergrundannahmen oder Werten zu suchen, um verständigungsorientiert einen Punkt der Einigkeit zu suchen (Argumentation). Oder es kommt zu verbalen Übergriffen in die Integritätssphäre des anderen, zu die Ehre verletzenden Beleidigungen, die in einem nicht mehr aus eigener Kraft behebbaren Dissens münden. In der Szene 15 (im Nachtbus, angeschlossen an B4) gibt es einen Streit um Sibels Vorschlag, eine Scheinehe einzugehen.   B7: Im Bus, auf gegenüberliegenden Seiten sitzend; schnell, erregt, laut, gestikulierend gesprochen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 10

Cahit: ((schreiend)) ((unverständl. Türk.)) Sama Mädchen→ bist du bekloppt oder was↓ Das is doch kein Kinderspiel↓ Sibel: ((schreiend, schnell)) Wir tun doch nur so, als wär’n wir verheiratet→ Verstehst Cahit: Nee. Versteh ich nich↓ Sibel: Es is doch nur n Alibi für meine El[d]ern10 , damit ich nich zu Hause leben muss↓ Okay wir wohnen zusammen↓ Aber ich versprech dir→ ich bin ne gute Mitbewohnerin↓ Ich räum auf→ ich koch→ ich geh einkaufen→ ich putze_s Klo↓ Wir haben getrennte Zimmer→ wir ficken nich→ wir ham überhaupt nix miteinander Cahit: Und deine Eltern↑ Sibel: Das sind deine Schwiegereltern↓ So viel hast du doch mit denen doch nicht zu tun→ Norddeutsch t>d (stimmlos → stimmhaft).

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Cahit: Ja, was hab ich denn mit denen zu tun↓ Was hab ich mit denen zu tun↓ Sibel: Naja, von Zeit zu Zeit kommen die zu uns und wir gehen zu denen↓ Cahit: Und dann tun wir so, als ob wir Mann und Frau wären oder was↓ Oder wie hast du dir das vorgestellt↓ ((Türk.)) Mädchen bist du wahninnig? Wieso gerade ich↑ ((leise)) Ich bin n Penner↓ Sibel: Weil meine Eltern dich als Schwiegersohn akzeptieren würden↓ Du bist Türke Mann↓ ((plötzlich Disput mit dem Fahrer, der beide aus dem Bus weist)) Cahit: ((humpelt Sibel hinterher)) Warte mal↓

Der Erregungszustand der beiden ist nach Sibels erneutem Suizidversuch verständlich. Dass sie streiten wird bereits durch Lautstärke, Gestik und Tempo markiert; inhaltlich geht es um den Sinn von Sibels Bitte, Cahit möge sie heiraten, damit sie endlich leben könne. Sibel erklärt, wie sie sich diese Scheinehe vorgestellt hat und versucht, Cahits Unverständnis eine realistische Projektion entgegenzusetzen. Zur Begründung, die sein Verständnis fördern könnte, gehört ihr Angebot, Hausarbeit etc. zu übernehmen, keinen Sex haben zu wollen und die Schwiegereltern, denen man etwas vorspielen muss, selten sehen zu müssen. Sibel liefert Begründungen, die Cahits Wissensübergang stützen könnten. Cahit tut sich schwer mit dem Gedanken einer Scheinehe und bringt sein schärfstes Argument, indem er ausspricht, wie er sich selbst momentan sieht, nämlich als Penner. Diese Selbstherabsetzung soll Sibel abschrecken. Die setzt das aus ihrer Sicht wichtigste Argument dagegen: Egal, was Cahit sonst ist, er ist Türke, er würde schon deshalb von der Familie (als einer aus der Wir-Gruppe) akzeptiert. Der Streit um Sibels Plan endet ergebnislos, der Busfahrer interveniert. Was Cahit sagt, wissen wir nicht; die Zwischenmusik (Selim Sesler11 spielt vor der bekannten Istanbul-Kulisse; die Musik rahmt und segmentiert den Film, indem das Geschehen durch Musik in vergleichbaren oder kontrastierenden Emotionen kommentiert und in eine gleichfalls nicht-türkische Tradition eingeordnet wird; zugleich schafft die Musik in den Härten der Auseinandersetzungen Ruhepunkte und erlaubt Distanz.). 11

Der Musiker Sesler (1957-2014) aus der Provinz Edirne kommt aus einer Roma-Familie, spielte virtuos Roma-Musik. Der »Guardian« nannte den international bekannten Klarinettisten »the Coltrane of the clarinet« (n. Wikipedia: »Selim Sesler«).

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Dass Cahit sich bewegt hat, zeigt eine Szene, in der er einen alten Festtagsanzug aus einer Kiste holt. Als er in der Fabrik mit seinem Freund Şeref in der Nähesprache/V-Sprache Türkisch spricht, muss er den erst einmal überzeugen. Seine Argumente sind: a. Sibel steckt in Schwierigkeiten. R1: implizite Moral-Regel: Wenn jemand Probleme hat, muss man helfen. Şeref kontert, dass das nur gilt, wenn es einen angeht, man verbunden ist mit der Person etc. R2: implizite Regel: Man ist nicht unterschiedslos für jeden verantwortlich. b. Sibel will sich umbringen. R3: Implizite Moral-Regel: Wenn jemand sich umbringen will, ist man verantwortlich. Şeref: Frauen erfinden für ihre Ziele Geschichten. R4: Implizite Regel: Wenn das für alle Frauen gilt, dann auch für Sibel. Şeref bekräftigt R2 für sich. Weshalb er nie geheiratet habe. c. Cahit bestreitet, dass Şeref nicht geheiratet habe. Şeref gibt c. zu und behauptet, eine Scheinehe für das Aufenthaltsrecht sei ein anderer Fall. R5: implizite Regel: Scheinehen sind nur zu legitimieren, wenn es um eigene existentielle Probleme geht (Notwehr etc.). d. Cahit behauptet, Scheinehen folgten einem identischen Prinzip. R6: Wenn Scheinehen sich moralisch gleichen, gilt das auch für seine Ehe mit Sibel.

Şeref lenkt ein, er komme zur Hochzeit des Freundes und werde tanzen (sprichwörtlich). Sicher trägt neben der Argumentation auch die Freundschaft zum Ergebnis bei. Immer wieder entstehen Konflikte, wenn Sibel nach Cahits Schwester oder seiner verstorbenen Frau fragt, von der sie erst auf dem Standesamt erfährt. Cahit behandelt seine Familie als Tabu, in der Scheinehe will er sie komplett raushalten, während Sibel gerne Informationen möchte, obwohl sie selbst noch länger an der Ehefiktion festhält. So kommt es zu Streit und Rauswurf in der Hochzeitsnacht.

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B8: Wohnung von Cahit, Hochzeitsnacht 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Sibel: War das ein Tag↓ Sibel: Darf ich dich was fragen↑ Cahit: ((leise)) Jà Sibel: ((5.4 Sek.)) Wie hieß denn deine Frau↓ Cahit: ((dreht sich um, Augen funkeln, wirft Bierdose auf Sibel)) Sibel: ((schreit)) Was soll das↓ Cahit: ((öffnet die Wohnungstür)) ((schreit)) Raus Verpiss dich verdammte Scheiße↓ Sibel: ((verlässt die Wohnung))

Konflikthaft ist eine Passage aus Szene 24 (Wohnung von Sibels Eltern, Brautwerbung, vgl. B12), in der Yılmaz, der Bruder von Sibel, plötzlich ins Deutsche wechselt, um Cahit wegen seiner als unzulänglich erachteten Türkischkompetenz anzugreifen, hier ist nach Themenwechsel die Zweitsprache Deutsch Distanzsprache in Opposition zum sonst in der familiären Situation gesprochenen Türkisch (Erstsprache ist hier V-Sprache, Sprache der Nähe).   B9: Wohnung von Sibels Eltern, Brautwerbung 1 2 3 4 5

((Cahit erzählt auf Türkisch von seiner Schwester, die in Frankfurt lebe; auf Nachfrage: Er sehe sie hin und wieder)) Yılmaz: Dein Türkisch ist ganz schön im Arsch, Mann↓ Was hast du mit deinem Türkisch gemacht↓ Cahit: Weggeworfen↓ Yılmaz: ((blickt irritiert)) Şeref : ((lacht; türk.: ›Das war ein Witz.‹))

Der Angriff auf Deutsch erfolgt unvermittelt und Cahit reagiert aggressiv (mit Deutbarkeit zwischen ›freiwillig aufgegeben‹ oder ›wie Müll entsorgt‹, also ohne Respekt für das Türkische, das hier die Familiensprache ist). Şeref bemerkt die Irritation und rettet die Situation – wie ein wahrer Onkel –, indem er die Äußerung als nicht ernsthaft deklariert. Sibels Vater setzt mit einem Themenwechsel (Pralinen mit Alkohol) fort und deeskaliert damit seinerseits. Er scheint bereit, über alle Auffälligkeiten hinwegzusehen, wenn nur Sibel den richtigen Weg einschlägt.

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Schließlich sei Szene 59 genannt: Sibel und Cahit besuchen Yılmaz, ihren Bruder, in dessen Wohnung, wo sich eine Gruppe der jüngeren Männer und – traditionell getrennt – eine Gruppe der jüngeren Frauen bildet. In beiden Gruppen wird sehr anzüglich kommuniziert. Die Freunde von Yılmaz prahlen mit ihren Bordellbesuchen und werten Frauen ab. Cahit bleibt still und scheint nachdenklich. Die Szene setzt ein mit einem Brettspiel der Männer. Plötzlich werden Yılmaz und seine Familie von Shane mit Wechsel ins Türkische attackiert; der Sprachenwechsel markiert das aggressive Persönlichwerden des Sprechers, welches zugleich die traditionelle Praxis markiert: Es ist die Familie, es sind die Eltern, die eine Tochter vergeben.   B10: Wohnung von Yılmaz, Brettspiel: Cahit scheint keinen guten Zug gemacht zu haben 1 2 3

Shane: ((wechselt vom Deutschen ins Türkische)) Wie konntet ihr dem bloß euer Mädchen geben? Yılmaz: Misch dich nicht in unsere Familienangelegenheiten↓ Sly: ((Wechsel ins Deutsche)) Ey Jungs↓. Ich war letzte Woche im Pascha↓ ((Hamburger Bordell))

Die Attacke richtet sich gruppenöffentlich gegen die Familienehre, daher muss Yılmaz als Sibels Bruder den Sprecher deutlich zurückweisen, Einmischung ist nicht akzeptabel. Sly sieht, dass ein großer Streit droht, und rettet die Situation, indem er Sprache und Thema wechselt. Shane wendet sich später direkt an Cahit.   B11: Wohnung von Yılmaz [47:45] 1 2 3 4 5 6 7 8

Shane: Enişte (›Schwager‹) → Du musst mal mitkommen, Digger↓ Cahit: ((2.2 Sek.)) Wohin↑ Shane: Puff↑ Cahit: Was soll ich denn im Puff↑ Shane: ((unverständiges Grinsen)) Soruya bak↓ (›Was für eine Frage.‹) Sly: ((zu Cahit)) Digger, kennst du nicht den Bruder von Michael Jackson↑Siki.ceksin↓ ((sikişmek ficken‹; »du wirst ficken‹)) ((außer Cahit lachen alle)) Shane: Wo haste den denn her↓ ((Abklatschen Sly, Shane))

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Cahit: Warum fickt ihr eigentlich nicht eure eigenen Frauen↓ ((Erschrecken, Entsetzen in der Runde, Schweigen)) Shane: Was hast du gesagt Digger↑ Cahit: ((2 Sek.)) ((langsam)) Warum ihr nicht eure eigenen Frauen fickt↓ Shane: ((erhebt den Zeigefinger)) Erwähn das Wort ficken nie wieder im Zusammenhang mit unseren Frauen↓ ((1.5 Sek.)) 14 Anladın mı lan:↑ ›Hast du mich verstanden, Mann?‹ 15 ((Springt auf, wird laut)) Anladın mı lan:↑ ›Hast du mich verstanden, Mann?‹ 16 ((vor einer Eskalation öffnet sich die Tür, Hatice kommt herein,Themenwechsel zum Fußballklub Galatasaray Istanbul; Hatice fragt (türkisch) nach Getränkewünschen; als sie gegangen ist, kann Shane nur mühsam von Gewalt gegen Cahit abgehalten werden)) 9 10 11 12 13

Cahit will sich auf die frotzelnd-obszöne Kommunikation der Freunde von Sibels Bruder nicht einlassen. Es deutet sich an, dass er mittlerweile – nach einem halben Jahr Zusammenwohnen – in Sibel verliebt ist, Respekt ihr gegenüber entwickelt hat und eine solche Kommunikationsweise ablehnt. Die Einladung in den Puff, das Thema überhaupt, weist er zurück, und als Sly ein obszönes Sprachspiel macht, startet er einen harten Gegenangriff (9) auf die Beziehungen der anderen, auf dem er auch nach Shanes drohend geäußerter Verständnisfrage insistiert. Mit dem Angriff auf die gewohnte Kommunikationsform dieser jungen Männer untereinander, die der Tradition folgen, aber sich (quasi pubertär) einen Freiraum zu schaffen pflegen, eskaliert er. Shane reagiert mit einer strengen Belehrung, die die traditionelle Trennung Familie, Ehrbarkeit, Respekt versus nicht-ehrbare Frauen, die man auch sprachlich nicht respektieren muss, geltend machen will und verlangt laut und drohend eine Bestätigung. Gewalt liegt in der Luft und kann nur mühsam vermieden werden. In der Abfahrtsszene, vor dem Haus von Yılmaz, gesteht Cahit Yılmaz, dass er Sibel liebt. Auf der anschließenden Autofahrt kommt es zu einer heftigen Umarmung der beiden, die als erstes Liebeseingeständnis erscheint.

4.4

Scheinkommunikation

Gemeint ist eine Kommunikation, bei der einige nicht die sind, die zu sein sie vorgeben (fingierte Rollen), und nicht authentisch sprachlich handeln; der anderen Seite wird etwas vorgespielt, um bestimmte Ziele zu erreichen. Die Kommunikation ist Ausdruck einer verdeckten Taktik. Sie baut eine Fassa-

Mehrsprachiges Handeln im Film

de auf, die in der Nachgeschichte stets einstürzen kann, wenn sich zeigt, wie es sich in Wirklichkeit mit den Identitäten verhält. Eine derartig große Täuschung wird als ein Delikt betrachtet und dort, wo sie nicht als Betrug rechtlich verfolgt werden kann, kann sie andere schwerwiegende Konsequenzen (soziale Ächtung, Gewalt etc.) nach sich ziehen. Wenn sie im geschützten Raum einer Familie erfolgt und die Verwandtschaft einbezieht, so dass die Getäuschten selbst in ihrem Umfeld unter Respekt- und Ehrverlust leiden müssen, macht das die Täuschung noch schlimmer. Für die Täuscher bedeutet es normalerweise den Ausstoß aus dem Familienverband, den Verlust familiärer Solidarität. Das gilt schon unabhängig von der Vorgeschichte und den in dieser liegenden Erklärungen und Begründungen. Ein Beispiel ist Szene 24 in der Wohnung von Sibels Eltern. Hier wird die erste Begegnung zwischen Cahit und Sibels Familie im Rahmen einer Brautwerbung, an der sich Cahits Freund Şeref beteiligt, vorgeführt. Es wird gezeigt, wie Şeref Cahits Onkel spielt. Für Sibels traditionell eingestellte Familie ist wichtig, dass ein Verwandter des Bräutigams präsent ist und stellvertretend die entscheidende Frage an den Brautvater stellt (Szene 24).   B12: Wohnung von Sibels Eltern; Yunus: Sibels Vater; Birsen: Sibels Mutter, Cahit, Şeref; Sprache: türkisch, Wiedergabe der deutschen Übersetzung (Untertitel/Drehbuch) 1 2 3 4 5 6

Yunus: Sie sind also der Onkel von Cahit↑? Şeref : Ja, ich bin der Jüngste↓. Yunus: Wieviel Geschwister seid ihr denn? Şeref : Äh. Sekunde. wir sind so viele→ äh sieben↑ Yunus: Maschallah12 Birsen: Sie sehen ihrem Neffen ähnlich ((Cahit und Şeref schauen sich kurz irritiert an))

Auf die Frage von Sibels Vater reagiert Şeref mit einer typischen Einordnung in das fingierte Familiengefüge, ohne an die kommunikativen Folgen zu denken. Auf die Nachfrage von Yunus folgt eine von Pausen durchsetzte Antwort, die in ihrer Unsicherheit bei diesem Thema die Fiktion erkennbar machen könnte. Sibels Mutter trifft einen ebenso problematischen Punkt. Das gilt auch für Şerefs Antwort auf die Frage nach der Herkunft (Malatya), die von 12

Arab.: »So wie Gott es will«, Ausdruck von Ergebenheit, Erstaunen oder Bewunderung.

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Cahit verbessert wird (Mersin). Daraufhin setzt Şeref zu einer weitschweifigen Erklärung an (ein Teil der Familie aus Mersin, ein anderer aus Malatya, Umzug, Verwandte in beiden Städten). Wacklig sind auch die Antworten auf die Frage nach dem Kennenlernen und dem aktuellen Job. Allgemein haben solche Gesprächseröffnungen in vielen Gesellschaften die wichtige Funktion, eine Wissensbalance anzubahnen und Anschlusspunkte zu liefern. Die Höflichkeit gebietet, dies an jedem Gesprächsanfang zu tun, so ist es u.a. in Äthiopien, wie der Roman von Melandri 2018 zeigt: Von Kindesbeinen an hatte ihr Großvater sie gelehrt, dass man sich bei der Begrüßung nach dem Wohlergehen der Angehörigen erkundigte, nach den Kranken und Gesunden, den Neugeborenen und Alten, dass man ohne Eile nach allen einzeln fragte, denn nur so, indem man alle Blutsbande aufzählt, können zwei Bekannte, die sich auf der Straße die Hand drücken, begreifen, dass sie etwas Größeres sind als nur sie selbst. Ihre Leute waren nicht wie die Weißen, die bei einem Treffen fragten: »Wie geht’s?«, und lediglich mit »Ganz gut, danke« antworteten, wie Steine, die vom Abhang des Lebens rollen, jeder für sich allein. […] Nun, wo sie niemanden mehr auf der Welt hatte, würde sie nur noch gefragt werden, wie es ihr und ihrem Kind gehe. (Melandri 2018: 297f.) In dem Gespräch steht die aufgebaute Fassade mehrfach kurz vor dem Einsturz und Sibels Bruder mag die Sache schon verdächtig erscheinen – vielleicht will er Cahit deshalb an seinem Arbeitsplatz (er hat sich als Boss des Kulturzentrums dargestellt) besuchen. Hier lässt sich ahnen, dass die Lügengeschichten irgendwann in sich zusammenbrechen werden. Doch in dieser Szene geht die Fiktion bis zum Ende, dem eigentlichen Antrag, den Şeref als Verwandter vorbringt, der Frage des Vaters an die herbeigerufene Sibel und ihrer Antwort (›Evet, baba‹, ›Ja, Vater‹).

4.5

Institutionelle Kommunikation

Diese Kommunikationsform ist für institutionelle Zwecke ausgeprägt, so kann – z.B. in einer Gerichtsverhandlung die Verlesung der Anklage oder die Urteilsformel – in Teilen sprachlich vorgegeben sein. Aber sie hat immer auch Slots, die von denen, die nicht der Institution angehören, zu füllen sind, damit die notwendige Wissensakkumulation, Bestätigung institutionellen Wissens etc. vorankommen kann. Die Sprache ist die der Institutionen, in Deutschland das Deutsche (das ggf. übersetzt werden muss). Im Film gehört

Mehrsprachiges Handeln im Film

dazu die deutschsprachige Kommunikation des Paares mit dem Standesbeamten oder das Schaltergespräch am Istanbuler Busbahnhof, das Cahit auf Türkisch führt.   B13: Standesamt Altona/Büro 1 2 3 3 4 5

Beamter: Sibel Güner→ geboren am 16.6.1983 in Hamburg→ Familienstand >ledigdeutschverwitwet ebenfalls deutscher Staatsbürgerverwitwet< führt bei Sibel zur Irritation, aber ihn anzusprechen, würde den Rahmen sprengen. Daher macht sie das anschließend auf dem Flur.   B14: Standesamt Altona/Sibel und Cahit gehen über einen Flur 1 2 3

Sibel: Wie ist deine Frau gestorben Cahit↓ Cahit: Halt die Schnauze Ist das klar↑ ((Şeref, Selma wundern sich))

Die Frage bleibt mit der barschen Zurückweisung offen und sorgt später für einen massiven Streit in der Hochzeitsnacht (B5). Erst viel später, in Istanbul, als es klar ist, dass sie einander lieben, erzählt Cahit die Geschichte vom Tod seiner ersten Frau durch einen Verkehrsunfall (Szene 139). Institutionell geprägt ist auch die Kommunikation in einem therapeutischen Gespräch wie in (B1), dafür öffnet die Institution aber thematische Freiräume, so dass alles gesagt werden kann, was therapeutisch förderlich ist.

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Ludger Hoffmann

4.6

Sein Inneres nach außen setzen und sich damit jemandem öffnen

Das Konzept der »Exothese« bezieht sich auf »das Äußern […] einer unveränderten Abbildung des mentalen Elements D in den Interaktionsraum […]« (Ehlich/Rehbein, 1986: 102). Ein komplexer Fall liegt vor, wenn die Exothese nicht in der Erstsprache, sondern einer weiteren Sprache erfolgt (hier Englisch wohl als dritte, Cahit hat früher in einer Band gespielt). Im folgenden Beispiel ist Cahit nach seiner Haftentlassung in Istanbul eingetroffen und will seine Liebe Sibel treffen. Er bittet ihre Cousine Selma, die im Marmara-Hotel in Istanbul arbeitet, ihn zu ihr zu bringen (Szene 128). Das lehnt Selma ab und verweist darauf, dass ihre Ehe ja nur aus Sibels Zwangslage heraus zustande kam.   B15: Cahit, Selma; Marmara-Hotel in Istanbul; Gesprächsrahmen in türkischer Sprache 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 13

Cahit: ›Warum nicht?‹ Selma: ›Weil sie glücklich ist. Sie hat ein neues Leben. Sie ist glücklich. Sie hat einen Freund und eine Tochter. Sie braucht dich nicht.‹ Cahit: ((wirkt betroffen)) ((29.6 Sek.)) Cahit: How do you know that↓ Sibel: ((13.4 Sek.)) Cahit: When I met Sibel first time I was dead↓ I was even dead even long time before I met her↓ ((8.3 Sek,) Then she came and gave me life back↓ ((Türk.:))›Ich hatte mich vor langer Zeit verloren.‹ ((6.5 Sek.)) Then she come and drop in my life↓ ((3.7 Sek.)) She gives me love↓ ((3.7 Sek.)) And she gives me power↓ ((13.6 Sek.)) (Ahu (›schöne Frau‹)13 ↑ ((2.8 Sek.)) Do you understand that↑ ((6.3 Sek.)) How strong you are Selma↓ ((1.6 Sek.)) Are you strong enough to stand between me and her↑ ((6.1 Sek.)) Selma: Are you strong enough to destroy her life↑ ((6.9 Sek.)) Türk. »schöne Frau, Gazelle«. Im Drehbuch stand »anladınmı«: »Hast du mich verstanden?« Die mental gerichtete Verstehensfrage erscheint im Film nicht mehr verdoppelt, sondern nur noch auf Englisch.

Mehrsprachiges Handeln im Film

18 Cahit: Hayır↓ (›Nein‹) ((2.8 Sek.)) Deǧilim↓ (›Bin ich nicht‹) 19 ((steht auf, geht hinaus)) ((Großaufnahme auf die nun unsichere Selma))

Dies ist die vielleicht beeindruckendste Szene des Films. Selma und Cahit erscheinen jeweils in Großaufnahme des Gesichts. Die Denkpausen sind lang, große Ernsthaftigkeit und Nachdenken spiegelt sich auf den Gesichtern. Die Grundsprache, die sie verbindende Sprache, ist Türkisch. Selma macht Cahit deutlich, dass Sibel in ihrem neuen Leben ihr Glück gefunden hat, sie hat eine Tochter und einen Freund. Als Anwältin ihres Glücks ist Selma nicht bereit, die beiden wieder zusammenzubringen. Cahit sieht, wie kritisch die Situation ist (3: fast 30 Sekunden Pause) und setzt noch einmal neu an. Er wechselt vom Türkischen in eine andere Sprache, in der er zunächst nach dem Grund von Selmas Aussage fragt. Dann, nach einer längeren Pause, wählt er einen nach außen gesetzten inneren Monolog, an dem er Selma teilhaben lässt; er macht längere Denkpausen und ist sehr ernst und kontrolliert. Im Englischen kann er mit der ihm eigenen Distanz zu inneren Gefühlsregungen seine Emotionen ausdrücken. Es ist ein einfaches Englisch, eine lingua franca, aber für Cahits Zwecke macht es seine Gefühle glaubhaft. Er redet um sein Leben, das an seiner Liebe hängt. Mit der Verstehensfrage verlässt er den inneren Monolog. Anschließend wendet er sich mit einer direkten Frage an Selma, die nun sie unmittelbar ins Spiel bringt. Wird sie die Kraft haben, zwischen ihnen zu stehen und eine Kommunikation zu unterbinden, wo Cahit und (möglicherweise) Sibel doch Liebende sind? Selma reagiert wieder und verdeutlicht ihre Rolle als Beschützerin von Sibel, die nicht zulassen will, dass deren Leben zerstört wird, und sie fragt nach seiner Kraft. Cahit räumt seine Schwäche ein und geht schließlich, hat aber Selma zum Nachdenken gebracht. Tatsächlich sagt sie Sibel, in welchem Hotel Cahit ist und es kommt zu weiteren Begegnungen, nunmehr von Liebe und Vergeblichkeit geprägt. Sie verabreden sich zum Bus nach Mersin, Sibel aber, die zunächst den Koffer packen wollte, entscheidet sich für ihren Freund und ihre Tochter. Sie lässt Cahit mit dem letzten Bus allein nach Mersin fahren. Aus einer pragmatischen Scheinehe, die Sibel zu der ersehnten Freiheit von ihrer traditionellen Familie führen sollte und Cahit, der ganz unten, deprimiert und Alkoholiker war, zu einer neuen Perspektive verholfen hat, ist eine Liebe und damit ein Konflikt, der nur tragisch scheitern kann, entstanden. Die aufkeimende Liebe wird durch schwierige Konstellationen überdeckt

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und kann sich erst langsam entfalten, zuerst bei Cahit, dann bei Sibel. Aber es fällt beiden zu schwer, sich aus den Umständen zu lösen; sie bleiben ihrer Geschichte noch verhaftet und Cahits aggressiver Ausfall folgt seiner gegenwärtigen Lebenslogik. Die Haft ist dann eine neue Hürde und macht den Neuanfang, der nötig gewesen wäre, nahezu unmöglich. So endet der Film damit, dass beide ProtagonistInnen Verlierer sind.

5

Didaktische Hinweise

Der Film ist didaktisch geeignet für fortgeschrittene, ältere Lernende, insbesondere wenn sie mehrsprachig sind. Er veranschaulicht Traditionen, die als Hürden für die persönliche Freiheit gesehen werden, kulturelle Konflikte und die Funktionen der Sprachen darin. Die folgenden Schritte könnten in einem Unterricht, der Mehrsprachigkeit systematisch berücksichtigt, gewählt werden:   • Film sehen; • erste Auseinandersetzung mit dem Film; • einzelne Szenen im Blick aufs Ganze erarbeiten; • Sprachenwahl in den Konstellationen untersuchen und zu begründen versuchen; • Sprachfunktionen bestimmen; • Kulturelle Praktiken in Familie und Umwelt diskutieren und die Rollen/ • Handlungsmöglichkeiten der Individuen herausarbeiten; • filmische Mittel (Sprachen und Varietäten, Musik in den Rahmungen (Sesler) und in den Szenen, Bilder, Kameraführung und Perspektive) untersuchen und in ihrer Funktionalität für den Film befragen; • den Sinn des Films diskutieren, abschließende Deutungen vorschlagen; • eigene Spielszenen entwerfen (Drehbuchskizze) und darstellen. Das ist nur eine Denkrichtung, andere sind möglich; das Material liegt vor.

Mehrsprachiges Handeln im Film

6

Schluss

Mehrsprachigkeit erlaubt es, flexibler und differenzierter zu kommunizieren, Nähe und Vertrautheit, aber auch Distanz, Rekurs auf Traditionen und Übergänge in den Praktiken zu zeigen. So wird sie in diesem Film gezeigt und genutzt. Der Wechsel ins Türkische kann gegenüber der ersten Generation notwendig sein, um sie zu beteiligen und zu respektieren; er kann Nähe ausdrücken, aber auch am Übergang zu großer Emotion, zu Distanz und Streit stehen. Das Türkische kann in bestimmten Bereichen alleinige Kommunikationsmöglichkeit sein, so in den Gesprächen mit Selma und überhaupt im zweiten Teil, der in Istanbul spielt. Etwas überraschend erscheint im Film ein einfaches Englisch als Sprache, in der Cahit, der sonst niemandem seine Gefühle zeigt, Emotionen versprachlichen kann. Deutsch ist im ersten Teil des Films die Sprache der Öffentlichkeit, der Institutionen und ihrer Themen, höflicher Distanz und Formalität und notwendig gegenüber monolingualen Deutschen. Unter Angehörigen der zweiten Generation kann Deutsch auch Nähe ausdrücken. Schließlich müssen wir berücksichtigen, dass Deutsch auch gewählt werden kann, weil es sich um einen deutschsprachigen, in Deutschland gezeigten Film handelt. Aber der häufige Wechsel ins Türkische (mit Untertiteln) ist funktional, insbesondere im Übergang. Es wurde gezeigt, wie komplex Sprachenwahl und Sprachenwechsel mit Konstellationen unterschiedlicher Art verschränkt sind und dass einfache Gleichungen sich verbieten. Selbstverständlich spielen nonverbale, gestische und mimische Kommunikation in einem Film eine große Rolle und insbesondere die Schlüsselszene mit Cahit und Selma zeigt einen beeindruckenden Einsatz solcher Mittel. Das gilt auch für die Musik. Multimodalität bleibt eine Aufgabe.

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Transkriptionszeichen

↑     Intonation: steigender Tonverlauf (am Äußerungsende) ↓     Intonation: fallender Tonverlauf (am Äußerungsende) →     Intonation: gleichbleibender, leicht ansteigender oder fallender Tonverlauf .      Kurze, wahrnehmbare Pause

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(…)      Unverständlich (abc)       Rekonstruiert, unsicher ((x Sek.))     Pause in Sekunden ((xxx))       Kommentar, nonverbale Handlung /      Abbruch xxx       Gewichtung durch Akzent (Deutsch: Druck, Intensität; Türkisch: Tonbewegung)

Literatur Akin, F. (2004) Gegen die Wand. Das Buch zum Film. Drehbuch/Materialien/Interviews. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Auer, P. (Hg.) (1998) Code-Switching in Conversation. London: Routledge. Bullock, B./Toribio, A. J. (2009) The Cambridge Handbook of Linguistic Codeswitching. Cambridge: Cambridge University Press. Ehlich, K./Rehbein, J. (1986) Muster und Institution. Tübingen: Narr. Gardner-Chloros, P. (2009) Code-switching. Cambridge: Cambridge University Press. Heller, M. (Hg.) (1988) Code-Switching. Berlin: Mouton de Gruyter. Hoffmann, L. (2016) Deutsche Grammatik. Berlin: Erich Schmidt.(3. Auflage) Melandri, F. (2018) Alle außer mir. Berlin: Wagenbach. Meyers-Scotton, C. (1993) Duelling. Languages Grammatical Structure in Code-Switchimg. Oxford: University Press. Muysken, P. (2000) Bilingual Speech: A Typology of Code-Mixing. Cambridge: Cambridge University Press. Özdil, E. (2010) Code-Switching im zweitsprachlichen Handeln. Münster: Waxmann. Poplack, S. (2004) Code-Switching. In: U. Ammon et al. (Hg.) Sociolinguistics. HSK 3.1 Berlin: de Gruyter, 589-596. Wiese, H. (2010) Kiezdeutsch: Ein neuer Dialekt entsteht. München: Beck.

Film Gegen die Wand (D/TR, 2004, Fatih Akın, 121 min.)

Mehrsprachiges Handeln im Film

Online-Quelle Wikipedia: »Selim Sesler«, https://en.wikipedia.org/wiki/Selim_Sesler (01.08.2019).

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Zur Rolle und Funktion der Sprache im Film Solino (2002) von Fatih Akın Pembe Şahiner

Abstract. The following article deals with the role of language and its effects on film characters focussing on a German variety of the (river) Ruhr area as a regional dialect, which is inflected in Fatih Akıns film Solino (2002). The language of a film is an important element creating special effects by linguistic and non-verbal structures. Fatih Akın before was well-known for using the Hanseatic dialect in his films in Hamburg/Germany. Solino tells the story of an Italian guest worker family moving from the village Solino to the German Ruhr area in the 70s, that fails in working at the coal mines and opening the first pizzeria in Germany. Dealing with a foreign language in exile has been a typical theme of the Migrant literature and film. Language becomes an element of the foreign having difficulties in getting an access to it and its users of the majority. Speechlessness can be understood as a characteristic of the identity that is pushed back due to failing communicative skills. The experience of learning a new language or playing with it can reflect cultural approaches. Gigi and Giancarlo become part of the new homeland and also its language becomes a part of their identity. This relationship is forced to be broken up for Gigi when he is forced to go back to Solino and starts learning Italian from the point where he stopped being Italian.

1

Gegenstand und Ziel

Im vorliegenden Beitrag soll die Rolle und Funktion der Sprache am Beispiel des Ruhrdeutschen als Regiolekt im Film Solino1 (2002) von Fatih Akın cha1

Solino (2002): Produktion: Wüste Filmproduktion/Wüste Film West, Regie: Fatih Akın, Drehbuch: Ruth Toma, Besetzung: Barnaby Metschurat (Gigi), Moritz Bleibtreu (Gi-

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Pembe Şahiner

rakterisiert werden. Der sogenannte Migrantenfilm reflektiert unterschiedliche individuelle Auseinandersetzungen mit der Sprache der Heimat und der Fremde. Sie kann zum Ausdruck bringen wie die Heimat zur Fremde oder die Fremde zur Heimat, also ein Teil der Identität werden kann. Im Migrantenfilm der 1970er Jahre ist die Sprache ein Merkmal der Fremde, zur der man keinen Zugang findet, ebenso wenig zu den Menschen, die diese beherrschen. Erfahrungen in der Fremde wie Unmündigkeit können als Merkmal der Zurückdrängung der eigenen Identität aufgefasst werden. Aber auch die Freude im Umgang mit (einer neu zu erwerbenden) Sprache sowie kulturelle Annäherungen bzw. Auseinandersetzungen können erlebt werden.

2

Einleitung

Welche Rolle spielt die Sprache im Film? Die Sprache kann auf die Gesamtwirkung des Films Einfluss nehmen. Sie bewirkt auch nonverbale Aussagen, die mit einem Bild, einer Situation, einem Augenblick, durch Musik oder wiederkehrende Elemente erzeugt werden können. Der Regiolekt, die Sprache einer Stadt oder einer Region, ist Teil der gesprochenen Sprache. Die Sprache der Region ist auch öffentlich in Form von Straßenschildern oder Reklametafeln präsent, die auch als historische Relikte eingestuft werden.2 Sogenannte »linguistic landscapes« gelten als schriftliche Sprachvorkommen3 und setzen sich aus sprachlichen Belegen innerhalb eines bestimmten Gebietes zusammen.4 Bisweilen sind vorwiegend Städte mit dem Fokus auf ihre mehrsprachige Situation, die in den »linguistic landscapes«

2

3

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ancarlo), Antonella Attili (Rosa), Gigi Savoia (Romano), Tiziana Lodato (Ada), Patryzia Ziolkowska (Johanna), Hermann Lause (Herr Klasen), Nicola Cutrignelli (Gigi), Michele Ranieri (Giancarlo), Vincent Schiavelli (Filmemacher). Vgl. Carolin Jürgens: Regionale Identität per Einkaufstüte. Eine Fallstudie zum Enregisterment des Niederdeutschen in Hamburg, in: Deppermann, Arnulf/Linke, Angelika (Hg.) 2016, S. 308. Vgl. Peter Auer: Sprachliche Landschaften. Die Strukturierung des öffentlichen Raumes durch die geschriebene Sprache, in: Deppermann, Arnulf/Linke, Angelika (Hg.): Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton. Berlin/New York: Jahrbuch 2010. Institut für Deutsche Sprache; Jg. 2009, S. 272. Vgl. Carolin Jürgens: Regionale Identität per Einkaufstüte. Eine Fallstudie zum Enregisterment des Niederdeutschen in Hamburg, in: Deppermann, Arnulf/Linke, Angelika (Hg.), 2016, S. 307.

Zur Rolle und Funktion der Sprache im Film Solino (2002) von Fatih Akın

sichtbar wird, daraufhin untersucht worden, wie öffentliche Räume sprachlich konstituiert werden. Im Zuge der Regionalsprachenforschung stellen Bieberstedt/Ruge/Schröder am Beispiel des Niederdeutschen fest, dass in ganz Norddeutschland, insbesondere aber in dessen Städten, infolge von Urbanisierungsprozessen ein forcierter sprachlicher Umbau festzustellen ist, der zu einer zunehmenden Verdrängung des Niederdeutschen aus dem Sprachgebrauch und infolge dessen zu einem Abbau dialektaler Kompetenzen führt.5 Auf der anderen Seite werden sprachliche Kontakt- und Mischformen hervorgebracht, die eine Annäherung des Hochdeutschen und Niederdeutschen bedingen. Es ist nicht mehr von einer klaren bipolaren Gegenüberstellung von Hochdeutsch und Niederdeutsch auszugehen, sondern vielmehr von einem Geflecht an Varietäten, deren Merkmale aufgrund von Konvergenzen ggf. nicht mehr klar voneinander abgegrenzt werden können.6 Welche Wirkung erzeugt die regionale Varietät des Ruhrdeutschen und inwiefern trägt sie zur Aussagekraft des Filmes bei?

3

Migration und ihre Folgen im Film: Von der Betroffenheit zur Emanzipation

Infolge der GastarbeiterInnenmigration reflektieren die GastarbeiterInnen und das Gastarbeiterdeutsche eine weitere deutsche Varietät und Gemeinschaft im Film. MigrantenInnen nehmen jedoch nicht erst seit der GastarbeiterInnenmigration eine besondere Rolle im deutschen Film ein. Persönlichkeiten wie Asta Nielsen (Der fremde Vogel, 1911), der erste große Star der Stummfilmzeit aus Dänemark, oder die in Kairo geborene und in Budapest aufgewachsene Marika Rökk, ein Star des deutschen Revuefilms der 1930er bis 1950er Jahre, zeigen, dass MigrantInnen keine Seltenheit im deutschen Kino sind. Hierzu gehören auch berühmte Persönlichkeiten wie die ehemaligen Besatzungssoldaten Bill Ramsay und Chris Howland sowie die italienische Sängerin und Schauspielerin Caterina Valente, die in den 1950er 5

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Vgl. Andreas Bieberstedt/Jürgen Ruge/Ingrid Schröder: Kontaktinduzierte sprachliche Variation in der Hamburger Peripherie. Ein Modell zur Messung sprachlicher Konvergenz, in: Deppermann, Arnulf/Linke, Angelika (Hg.) 2016, S. 21. Vgl. Andreas Bieberstedt/Jürgen Ruge/Ingrid Schröder: Kontaktinduzierte sprachliche Variation in der Hamburger Peripherie. Ein Modell zur Messung sprachlicher Konvergenz, in: Deppermann, Arnulf/Linke, Angelika (Hg.) 2016. S. 21f.

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Jahren die deutschen Kinobesucher begeisterte.7 »Das ›Migrantenkino‹ als sozialistisch-realistisches Genre […] gedieh allerdings völlig abseits fröhlicher Vermischung«.8 Die Arbeitsmigration nach Deutschland führte auf einer anderen Ebene zur künstlerischen Auseinandersetzung mit den Schicksalen von ArbeitsmigrantInnen und deren Rahmenbedingungen, mit Migration und deren Folgephänomenen. Das Medium Film wurde von deutsch-türkischen RegisseurInnen als eine geeignete Ausdrucksform genutzt, um von (einer Darstellung) der Migration und einem Leben in verschiedenen Kulturen zu erzählen. Die Literatur der türkischen MigrantInnen in Deutschland drückt die dichterische Reflexion der Einwanderung aus.9 Einige RegisseurInnen stellten mit ihren Filmen in den 1970er und 1980er Jahren auf künstlerischer Ebene das Sprachrohr der MigrantInnen als gesellschaftliche Randgruppe dar. Die Filme gelten als Versuche, die soziale Realität der Einwanderergesellschaft anzuerkennen und eine Bildsprache dafür zu finden.10 Hierunter fallen Themen wie das Leben in zwei Kulturen bzw. die Gratwanderung zwischen beiden, das Leben bzw. Scheitern in der Fremde, die Entwicklung einer Randgesellschaft, Generationskonflikte, Unfähigkeit des Selbstausdrucks, Selbstfindung und die Rolle bzw. Unterdrückung der Frau. Die Werke deutscher FilmemacherInnen (z.B. Helma Sanders-Brahms Shirins Hochzeit 1973; Rainer Werner Fassbinder Angst essen Seele auf, 1975/76) wirken wie melodramatische Appelle an die deutsche Kultur – ein Kino der sozialen Anklage –, die das Ziel verfolgen, Kritik an dem gesellschaftspolitischen Zustand zu verdeutlichen. Unterschwellig wird der Eindruck vermittelt, dass die abweichenden Lebensformen und Erwartungen der MigrantInnen gegenüber den westlich orientierten Ländern Konflikte entstehen lassen. Die authentische Darstellung der Migration selbst gelingt nur selten.11 7

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Vgl. Deniz Göktürk: Migration und Kino – Subnationale Mitleidkultur oder transnationale Rollenspiele? In: Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler 2007, S. 329. Deniz Göktürk: Migration und Kino – Subnationale Mitleidkultur oder transnationale Rollenspiele? In: Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler 2007, S. 330. Vgl. Sargut Şölçün: Literatur der türkischen Minderheit, in: Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart: J.B.Metzler 2007, S. 135. Vgl. Diana Schäffler: »Deutscher Film mit türkischer Seele«. Entwicklungen und Tendenzen der deutsch-türkischen Filme von den 70er Jahren bis zur Gegenwart. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller 2007. S. 19ff. Vgl. ebd.

Zur Rolle und Funktion der Sprache im Film Solino (2002) von Fatih Akın

Der deutsch-türkische Film entwickelte sich in den 1970er Jahren aus dem »Migrantenkino«. Zu den bedeutenden Filmen der Gastarbeiterphase gehören u.a. Shirins Hochzeit (1975) von Helma Sanders-Brahms, 40qm Deutschland (1985) von Tevfik Başer und der Jugendfilm Yasemin (1988) von Hark Bohm. Auch in einem weiteren Genre, dem Dokumentarfilm, erscheinen in den 1980er Jahren die Konflikte in Deutschland lebender MigrantInnen (z.B. Abdullah Yakupoğlu: Warum habe ich meine Tochter getötet? (1986) von Hans-Dieter Grabe). Abdullah Yakupoğlu kommt 1964 als Arbeiter in die Bundesrepublik. Am 22. März 1983 tötet der Vater seine Tochter, die gegen die Tradition der Eltern mit ihrem Freund lebt, auf einem Parkplatz bei Andernach.12 Im Dokumentarfilm berichtet Yakupoğlu über sein Leben mit seiner Familie in Deutschland, seine inneren Konflikte, sein Scheitern, die Familie in der Fremde zu beschützen und den Mord an seiner Tochter. Die Dokumentarfilme der 1990er Jahre beschäftigen sich infolge rassistisch begründeter Übergriffe gegenüber MigrantInnen mit Totschlag mit dem Thema Rassismus. Beispielhaft hierfür ist das Schicksal der Familie Genç aus Solingen, die bei einem Anschlag auf ihr Wohnhaus durch Neonazis fünf Familienmitglieder verlor.13 Odabaşı interviewt Mutter Genç, die über die Tat und das Leben danach spricht sowie MusikerInnen und SchauspielerInnen mit türkischen Wurzeln, die über diese Zeit und ihre Erfahrungen des AusländerInnenseins bzw. den Darstellungen als AusländerInnen, formiert durch Dritte, in Deutschland berichten. Die Sprache der Mutter wird in den sozialen Netzwerken thematisiert, als sie zum 25. Jahrestag der Tragödie vor der Bundeskanzlerin und deren MinisterInnen ihre Rede auf Türkisch hält. Dies wird ihr, die aus einer Generation stammt, in der nicht Integration, sondern Rückkehr ein Thema war, seitens einzelner als Defizit und Zeichen mangelnder Integration angerechnet. Die Sprache, obwohl sie niemand hat Deutsch sprechen hören, wird als Mangelerscheinung durch Dritte bewertet. Im Schatten der Mordanschläge mit rechtsextremem Hintergrund in Mölln 1992 und in Solingen 1993 wird in Sinan Çetins Berlin in Berlin (1993) weiterhin die Frau zwischen Tradition und Moderne sowie das Leben in einer Parallelgesellschaft fokussiert. Neben der Kunstform des Films reagiert in den 1990er Jahren auch die Musik auf die Gewalttaten gegen MigrantInnen. Eine besondere Form des Aufstandes und Zusammenhalts von Gastarbeiterkindern der zweiten Migrantengeneration findet im Rap 12 13

Vgl. ehrenmord.de Vgl. Dokumentation 93/13 – zwanzig Jahre nach Solingen von Mirza Odabaşı, 2013.

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ihren Ausdruck. Die Rappergruppe Cartel mit der gleichnamigen Single (1995) wird zum Sprachrohr. Das »Betroffenheitskino« der 1970er und 1980er Jahre, das GastarbeiterInnen und ihre Familien als Opfer der Gesellschaft, als unmündig und von der deutschen Gesellschaft isoliert lebend portraitiert, wird abgelöst durch Figuren der zweiten Generation, deren Kinder, die neben der Schauspielerei die eigene Regieführung von deutschen ProduzentInnen übernehmen und nun ihre Konflikte, Träume und Hoffnungen selbst darstellen.14 Im Fokus steht weiterhin die traditionell erzogene Frau, die sich diesmal den Erwartungen der Familie widersetzt. Frauen stellen selbstbewusste Figuren dar, die nach Selbstbestimmung, Freiheit und Emanzipation streben und somit von der Familie als Außenseiterinnen bzw. »verdeutscht« betrachtet werden.15 Abgelöst von der Opferrolle der Frau in den Filmen der 1970er und 1980er Jahre sind es nun positive Identifikationsfiguren, deren Handeln von Energie und Lebenslust geprägt ist:16 Anders als in den Migrationsfilmen der 70er und 80er Jahre, die immer wieder klar abgegrenzte Kulturen aufeinander prallen ließen, stehen im Zentrum vieler dieser neuen Filme offene Formen des Zusammenlebens in einer hybriden, urbanen Gesellschaft.17 »Migranten/innen, die im Kino lange Zeit als Objekt in Erscheinung traten, agieren jetzt -vor und hinter der Kamera – selbstbewusst als Subjekte und wissen sich rhetorisch zu behaupten«.18

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Vgl. Diana Schäffler: »Deutscher Film mit türkischer Seele«. Entwicklungen und Tendenzen der deutsch-türkischen Filme von den 70er Jahren bis zur Gegenwart. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller 2007, S. 19ff. Vgl. Anam, 2001 (Buket Alakuş), Gegen die Wand, 2004 (Fatih Akın), Einmal Hans mit scharfer Soße, 2013 (Buket Alakuş). Vgl. Diana Schäffler : »Deutscher Film mit türkischer Seele«. Entwicklungen und Tendenzen der deutsch-türkischen Filme von den 70er Jahren bis zur Gegenwart. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller 2007, S. 32. filmportal.de; zit.n. Schäffler, Diana: »Deutscher Film mit türkischer Seele«. Entwicklungen und Tendenzen der deutsch-türkischen Filme von den 70er Jahren bis zur Gegenwart. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller 2007, S. 31. Diana Schäffler : »Deutscher Film mit türkischer Seele«. Entwicklungen und Tendenzen der deutsch-türkischen Filme von den 70er Jahren bis zur Gegenwart. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller 2007, S. 32; zit.n. Göktürk 2000, S. 344.

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Funktion von Sprache und Regiolekt

Tophinke betont die Rolle der Sprache als Medium der Beziehungsherstellung und -ausgestaltung sowie die Vermittlung sozialer Sinnschemata und Ordnungsstrukturen.19 Diese übergeordneten Rahmenbedingungen wie bestimmte lebensgeschichtliche Erfahrungen, z.B. die Migration, besitzen eine besondere sprachbiografische Relevanz, die mit der Schwierigkeit verbunden sein kann, sich in einer Lebenswelt zurechtzufinden, deren Sprache man nicht oder nur teilweise beherrscht.20 Sprache ist jedoch das Medium eines Verständigungshandelns zwischen Angehörigen einer Gemeinschaft. In der Sprache können Gedanken, Gefühle, Normen, Werte, Gegenstände und Orientierungen kommunikativ aufbereitet, vermittelt, aufbewahrt und für Zwecke der Kooperation genutzt werden. […] Kommunikativ entstehen Welten geteilten Wissens, die Normen, Werte, Wahrheiten, Geschichten enthalten […].21 So findet das Individuum aufgrund von Verständigungsschwierigkeiten zunächst keinen Zugang zu dieser Gemeinschaft und kann daran weder partizipieren noch Wissen und Erfahrungen austauschen. Auf der anderen Seite macht das Individuum als »sprachlicher Außenseiter« andere Erfahrungen mit Sprache und Sprachdivergenzerfahrungen im Abgleich mit seiner Muttersprache. Zu den regionalen Varietäten des Deutschen tauchen im Diskurs verschiedene Begriffsbestimmungen wie Mundart, Dialekt, Regiolekt oder Soziolekt auf. Die Bezeichnung »Regiolekt« ist nach Cornelissen eine Analogiebildung zu »Dialekt«. Die Übergänge zwischen Hochdeutsch und Regiolekt sind flie-

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Vgl. Doris Tophinke: Lebensgeschichte und Sprache. Zum Konzept der Sprachbiographie aus linguistischer Sicht. VALS-ASLA (Vereinigung für angewandte Linguistik in der Schweiz) 76, Institut de linguisitique Université de Neuchatel, 2002, S. 4. Vgl. Doris Tophinke: Lebensgeschichte und Sprache. Zum Konzept der Sprachbiographie aus linguistischer Sicht. VALS-ASLA (Vereinigung für angewandte Linguistik in der Schweiz) 76, Institut de linguisitique Université de Neuchatel, 2002, S. 3. Ludger Hoffmann: Eine Sprache beschreiben, Beispiel: Deutsch, in: Hoffmann, Ludger/Kameyama, Shinichi, Riedel, Monika/Şahiner, Pembe/Wulff, Nadja (Hg.), 2017, S. 15.

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ßend, während der Dialekt eine uralte Sprachform mit eigenem Wortschatz, eigener Grammatik und eigener Phonetik ist.22 Die Sprache hat zunächst eine kommunikative Funktion und gilt als Identitätsträger. Als zentrales Element der Gemeinschaft unterliegt der Status einer Sprache bzw. einer Varietät in vielen Fällen politischen Interessen, wodurch Sprache degradiert werden kann. Extremes Beispiel sind Sprachverbote. Eine sozialsymbolische Funktion übernimmt Sprache, wenn ihr eine soziale Bedeutung zugeschrieben wird. Es lassen sich Aussagen über SprecherInnen und ihre sprachliche sowie (intra)kulturelle Zugehörigkeit treffen. In den Theorien der Semiotik wird die soziale Bedeutung sprachlicher Merkmale dynamisch konzipiert. Es wird davon ausgegangen, dass soziale Zuschreibungen gegenüber sprachlichen Merkmalen innerhalb einer Sprachgemeinschaft von den AkteurInnen selbst etabliert werden, stets veränderbar sind und über die einzelnen Individuen hinweg variieren. Sozialsymbolische Zuschreibungen gehören zum sprachbezogenen Alltagswissen, das in Verbindung mit einer Bewertung als Spracheinstellung gespeichert wird und sowohl durch eigene Erfahrungen als auch durch gesellschaftlich geteilte Wissensbestände beeinflusst ist.23 Am Beispiel des Hamburger Dialekts wird infolge von Urbanisierungsprozessen von einem fortschreitenden Abbau der niederdeutschen Varietät ausgegangen. Auf der pragmatischen Ebene werden eine sinkende Dialektkompetenz und eine rückläufige Verwendung des Niederdeutschen als Mittel der Alltagskommunikation erwartet, denen als gegenläufige Entwicklung eine zunehmende Relevanz seiner sozial-symbolischen Funktion gegenüberstehe.24 Der Abbau der Dialektalität unterliegt dem Generationswandel. Einen Wandel durchlaufen die Dialekte nicht nur in der Struktur, sondern auch in den Sprecherzahlen sowie den Einstellungen zur Sprache bzw. Varietät. Bei den älteren Sprechergruppen ist von einer hohen Dialektalität auszugehen. Erklärungsansätze bilden die Sprachbiografien und die in den Haus-

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Vgl. Georg Cornelissen: Kleine Sprachgeschichte von Nordrhein-Westfalen. Köln: Greven Verlag 2015, S. 135. Vgl. Carolin Jürgens: Regionale Identität per Einkaufstüte. Eine Fallstudie zum Enregisterment des Niederdeutschen in Hamburg, in: Deppermann, Arnulf/Linke, Angelika (Hg.), 2016, S. 310ff. Vgl. Andreas Bieberstedt/Jürgen Ruge/Ingrid Schröder: Kontaktinduzierte sprachliche Variation in der Hamburger Peripherie. Ein Modell zur Messung sprachlicher Konvergenz, in: Deppermann, Arnulf/Linke, Angelika (Hg.) 2016, S. 23.

Zur Rolle und Funktion der Sprache im Film Solino (2002) von Fatih Akın

halten dominierenden Sprachen bzw. Varietäten.25 Die Sprachbiografie zeigt Menschen in ihrem Verhältnis zu ihren Sprachen im Rahmen eines lebensgeschichtlichen Entwicklungsprozesses.26 AutorInnen der interkulturellen Literatur wie Aras Ören und Franco Biondi (u.a.) zeigen anstelle eines einzigen Ichs oder gespaltenen Ichs eine Vielfalt und Gleichzeitigkeit auf.27 »Interkulturelle« Lebensläufe ereignen sich in unterschiedlichen Kulturräumen und rekonstruieren dennoch die Vollständigkeit des Ichs. Seine Vollständigkeit sei darin zu erkennen, dass jedes Ich im Roman über eine autonome und abgeschlossene Entwicklung im Einklang mit der freigelegten Herkunft verfügt.28 Bei der näheren Betrachtung von Sprachbiografien wird deutlich, wie sehr Varietäten der Standardsprache, regionale Varietäten und Migrantensprachen sowie die Mischung von Deutsch mit Migrantensprachen (»Codeswitching«) eine bedeutende Rolle im alltäglichen Gebrauch auch unter der jungen Generation spielen.29 Dieser Umgang kann Aussagen über Gruppenzugehörigkeiten bzw. über eine »Sprachidentität« treffen lassen. Durch den Erwerb der Muttersprache im Migrationskontext ist dieses Sprach-vermögen restriktiv und das Deutsche bei bilingualen SchülerInnen, die in Deutschland aufgewachsen sind, in vielen Fällen die dominante Sprache.30

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Vgl. Andreas Bieberstedt: Dialektalität im Generationsvergleich. Eine dialektometrische Analyse der Dialektalität sprachlicher Äußerungen niederdeutscher Dialektsprecher, aus: Kirchwerder (Hamburg), in: Deppermann, Arnulf/Linke, Angelika (Hg.) (2016), S. 91ff. Vgl. Doris Tophinke: Lebensgeschichte und Sprache. Zum Konzept der Sprachbiographie aus linguistischer Sicht. VALS-ASLA (Vereinigung für angewandte Linguistik in der Schweiz) 76, Institut de linguisitique Université de Neuchatel, 2002, S. 1. Vgl. Sprachportraits n. Krumm (2010). Vgl. Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler 2007, S. 61. Vgl. PembeŞahiner: Sprachbiographien, in: Hoffmann, Ludger/Kameyama, Shinichi, Riedel, Monika/Şahiner, Pembe (Hg.): Deutsch als Zweitsprache. Ein Handbuch für die Lehrerausbildung. Berlin: ESV, 2017, S. 297. Vgl. Pembe Şahiner: Vokalschreibung bei bilingual deutsch-türkischen Grundschüler/innen. Eine Fallstudie. Studien Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Erich Schmidt Verlag 2018, S. 187.

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Pembe Şahiner

5

Zum Ruhrdeutschen

Schauplatz des Films Solino ist neben dem gleichnamigen italienischen Dorf das Ruhrgebiet. Die Dialekte NRWs gliedern sich mit Hilfe der Benrather Linie und der Einheitsplurallinie in drei Sprachräume: Westfälisch (Essen, Bocholt, Dortmund), Niederfränkisch (Kleve, Duisburg, Düsseldorf) und Mitteldeutsch (Köln, Aachen, Siegburg). Essen grenzt an das Niederfränkische bzw. Ostbergische. Das Ruhrdeutsche weist Einflüsse der alten niederdeutschen Mundarten am Niederrhein und in Westfalen auf. Cornelissen definiert es als »eine sich ans Hochdeutsche anlehnende Sprachform, die auffällig von regionalen (ursprünglich dialektalen) Elementen geprägt wird und als Medium der mündlichen Kommunikation dient«.31 Nach Hallenberger ist das um 1850 einsetzende Aufblühen des Kohlenbergbaus der Wendepunkt für die Sprachentwicklung im Ruhrgebiet, da die vielen technischen Ausdrücke und Wörter der Industrie einen Einfluss auf das einheitliche Gefüge der Sprache genommen hat.32 Zu den ArbeitsmigrantInnen, die vor und nach 1900 im Ruhrgebiet heimisch wurden, gehörten auch Menschen mit polnischer oder masurischer Muttersprache (polnische Mundart Südostpreußens). Deren Anteil an den ZuwanderInnen aus dem Osten war allerdings weitaus geringer als angenommen. Die polnisch oder masurisch sprechenden ArbeitsmigrantInnen bzw. deren Kinder und Enkelkinder haben auf die Dauer ihre Muttersprachen aufgegeben. Im Ruhrdeutschen gibt es heute nur vergleichsweise wenige Lehnwörter aus dem Slawischen, weil sie kein Prestige hatten.33 Fast alle Abweichungen der Ruhrgebietssprache vom Hochdeutschen werden als Relikte aus den alten plattdeutschen Dialekten gesehen. Einige Ausdrücke zeugen vom industriellen Erbe der Region.34

31 32 33 34

Georg Cornelissen: Kleine Sprachgeschichte von Nordrhein-Westfalen. Köln: Greven Verlag 2015, S. 13ff. Vgl. ruhrgebietssprache.de. Vgl. Georg Cornelissen : Kleine Sprachgeschichte von Nordrhein-Westfalen. Köln: Greven Verlag 2015, S. 133ff. Bsp. »Schicht im Schacht« (Schluss!) oder »Kumpel« (urspr.: »Bergmann«, heute: »guter Freund«). Begriffe wie »malochen« (arbeiten) entstammen ursprünglich aus dem Jiddischen und sind über das Polnische bzw. Rotwelsche ins Ruhrgebiet gekommen (dw.com).

Zur Rolle und Funktion der Sprache im Film Solino (2002) von Fatih Akın

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Zum Film Solino

Fatih Akıns dritter Kinofilm schmückt sich mit dem italienischen Titel Solino in Anlehnung an das gleichnamige Heimatdorf der italienischen Gastarbeiterfamilie Amato. Parallelen zu Akıns eigener Biographie bestehen insofern, dass auch seine Eltern Mitte der 1960er Jahre nach Deutschland ausgewandert sind und zwei Söhne in Hamburg-Altona großgezogen haben. Die italienische Familie Amato verlässt 1964 ihr Heimatdorf Solino und zieht nach Duisburg, wo sie die erste Pizzeria im Ruhrgebiet eröffnet. Inspirieren ließ sich die Drebuchautorin Ruth Toma von der Familie ihres Mannes, dessen Eltern eine Pizzeria in Oberhausen betrieben.35 Während Gigi (gespielt von Barnaby Metschurat), der jüngere Sohn des Geschwisterpaares, sich für seine neue Umgebung und die Kunst, insbesondere den Film, interessiert, läuft der ältere Bruder Giancarlo (gespielt von Moritz Bleibtreu) mit dem Kopf durch die Wand. Die Geschwister konkurrieren miteinander: erst um die Zuneigung der Eltern, dann um die erste Liebe.36 Dem Stress in der Pizzeria ausgesetzt wird die Mutter Rosa mit den Liebeleien ihres Mannes Romano konfrontiert. Nach ihrer Erkrankung kehrt sie nach Solino zurück. Während Giancarlo sich der Verantwortung entzieht kümmert Gigi sich um seine Mutter und lässt seine erste Liebe in Deutschland zurück. Als er sie in Deutschland aufsucht findet er sie in den Armen seines Bruders. Gigi kehrt Deutschland endgültig seinen Rücken und gründet in Solino eine Familie. Der Vater bleibt alleine im finanziellen Ruin zurück. Der Film spiegelt ein Generationenportrait einer italienischen Gastarbeiterfamilie, die sich in sich zerrissen, zwischen Solino und Duisburg spaltet und zurück in der Heimat erneut erblüht.37 Typisches Merkmal des GastarbeiterInnenfilms ist auch hier der Zerfall einer Familie, die in Deutschland keinen Halt findet. In der Heimat schließlich wendet sich das Schicksal zum Guten.

7

Zur Sprache des Films Solino

Nach Emine Sevgi Özdamar sind »die ersten Gesichter, die zwischen den Ländern ausgetauscht worden sind, die Filmgesichter«. Özdamar bezeichnet

35 36 37

Vgl. stern.de. Vgl. stern.de. Vgl. faz.net.

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die Filme als einzige gemeinsame Sprache der Welt.38 Die Figuren stellen eine italienische Gastarbeiterfamilie dar, die hauptsächlich Italienisch spricht. Dieses wird filmtechnisch ins Deutsche synchronisiert. Als Kind lernt Gigi von der Nachbarstochter Johanna Deutsch. Als Herangewachsener spricht der nette und höfliche Gigi Umgangssprache und Giancarlo als Draufgänger und Rebell, der immer wieder die Beherrschung verliert und Gigi in schwierige Situationen bringt, Ruhrdeutsch. Die Brüder reflektieren nicht nur charakteristisch, sondern auch sprachlich ein unterschiedliches Geschwisterpaar. Hier scheint die sozialsymbolische Funktion der Sprache zu greifen, wenn sich im spezifischen Gebrauch eines Sprachregisters, Aussagen über die SprecherInnen und deren sprachliche und (intra)kulturelle Zugehörigkeit bzw. Identität treffen lassen. Der Sprachgebrauch spiegelt nicht nur eine regionale Zugehörigkeit wider, sondern ist ein Identitätsmerkmal. Dass dieses innerhalb der Mitglieder einer Familie variieren kann, verdeutlicht, wie sehr Wissenswelten und Wahrnehmungsräume (unterschiedliches Wissen, Werte, Wahrheiten) innerhalb einer Gemeinschaft differieren können.39 Das Kiezdeutsche gehört zu den sprachlichen Varietäten, die Akın in seinen Filmen vorrangig verwendet. Handlungsorte sind u.a. seine Heimat Hamburg (z.B. in Kurz und Schmerzlos, Im Juli, Gegen die Wand oder Soul Kitchen). Nach Auer/Dirim hat das moderne Kiezdeutsche seine Wurzeln im Gastarbeiterdeutschen.40 Jedoch trugen auch Jugendliche mit deutschen Wurzeln, die in multikulturellen Vierteln wohnten, zur sprachlichen Kreativität des Kiezdeutschen bei. Die GastarbeiterInnen entwickelten beim (ungesteuerten) Erwerb des Deutschen von ihren ArbeitskollegInnen und Nachbarn eine neue Sprachform, das Gastarbeiterdeutsche, welches sich durch den Effekt zwischen den Medien und jüngeren Generationen zu jugendspezifischen Sprachkontaktvarietäten weiter entwickelt hat. Diese Variante verwendet Akın in Solino zwar nicht, aber es zeigen sich Parallelen in der Funktion des Kiez- und Ruhrgebietsdeutschen. Das Kiezdeutsche gilt als Varietät der Großstadt, weil sie insbesondere in gemischtethnischen 38

39

40

Diana Schäffler: »Deutscher Film mit türkischer Seele«. Entwicklungen und Tendenzen der deutsch-türkischen Filme von den 70er Jahren bis zur Gegenwart. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller 2007, S. 5. Vgl. Ludger Hoffmann: Eine Sprache beschreiben, Beispiel: Deutsch, in: Hoffmann, Ludger/Kameyama, Shinichi, Riedel, Monika/Şahiner, Pembe/Wulff, Nadja (Hg.), 2017, S. 15. Vgl. Peter Auer/İnci Dirim: Türkisch sprechen nicht nur die Türken: über die Unschärfebeziehung zwischen Sprache und Ethnie in Deutschland. Berlin: de Gryter 2004, S. 214f.

Zur Rolle und Funktion der Sprache im Film Solino (2002) von Fatih Akın

Territorien von Großstädten angesiedelt ist. Canoǧlu stellt fest, dass die Jugendlichen ihr Sprachverständnis kulturspezifisch realisieren, was zur Entstehung transkultureller Zwischenräume in der interkulturellen Kommunikation, basierend auf transnationaler Mobilität, führt. Diese Varietät scheint Emotionalität besonders gut übertragen zu können.41 Dialogausschnitt 1: Filmvorführung in Solino Vater: Dat is vom MSV. Dat is dat Auto. Nja. Dat is jetz wech. Dat is dat Eisen un dat bin ich und dat is meine Johanna. Die is jetz au‹ wech. Johanna: Das ist mein Vater. Da drüben, wo der Hochofen gestanden hat. Da hat er gearbeitet. Als ich klein war, hab‹ ich immer gedacht, mein Vater wär‹ was ganz Besonderes, weil er mitten in die Hölle gegangen ist und heil wieder rausgekommen und was ist er jetzt, ohne Hölle? Ein armer Teufel […]. Die Kurzfilmszenen bilden den Rahmen des Films. Sie werden zu Beginn und vor dem Ende des Films eingeblendet. Kontrastiert wird dabei die Vergangenheit zur Gegenwart durch den Schwarzweiß-Kurzfilm im gesamten Farbfilm. Dialogausschnitt 2: Romano will sich nicht mehr die Hände schmutzig machen. Rosa ist fassungslos und will zurück nach Solino Rosa (am Esstisch): Wieso sind wir hergekommen? Ich dachte, wir sind hier, weil es hier Arbeit gibt! Im Bergwerk! […] Hier gibt es keine Auberginen, Artischocken. Die Zwiebeln sind nur sooo klein. Romano: Ich kann nicht wieder zurück. Rosa (packt Koffer): Wir gehören nicht hierher. Wir können nicht verstehen, was die Leute sagen. Romano: Lass es uns versuchen. […] Hilf mir Rosa plagt das Heimweh. Die Wohnung, die Sprache sind ihr fremd. Sie fühlt, dass sie nicht nach Deutschland gehört. Als Romano sich weigert, im Bergwerk zu arbeiten, sieht sie keinen Grund mehr, dort zu bleiben. Die ihr unzugängliche Sprache trägt zum Fremdheitsgefühl bei. Dialogausschnitt 3: Gigi übersetzt Gigi (liest eine Anzeige vor und schlägt im Wörterbuch nach): »Schweißer«. Rosa: Da unten steht auf einem Schild »zu vermiäten«. Gigi: Das heisst »zu vermie:ten« […]. 41

Vgl. Hatice Deniz Canoǧlu: Kanak Sprak versus Kiezdeutsch – Sprachverfall oder sprachlicher Spezialfall? Eine ethnolinguistische Untersuchung. Berlin: Frank & Timme 2012, S. 11ff.

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Johannas Vater (ruft aus dem Fenster): Johannaa, hols mir mal Kippän?! […] (Rosa und Romano stehen vor dem Lokal): Na dann mal viel Glück mit dem Laden! Rosa (zu Gigi): Was sagt er?? Gigi: Buona fortuna. Der kleine Gigi fungiert als Übersetzer und verschafft den Eltern (auch sprachlich) einen Zugang zum Alltag in Deutschland. Das Filmmanuskript befreit die Kinder von der Schulpflicht. Sie lernen von Johanna, dem Nachbarsmädchen, Deutsch. Einen Halt in Deutschland findet Rosa mit der Eröffnung des Lokals. Sie findet eine Aufgabe (»Es gibt niemanden, der für sie [die italienischen Gastarbeiter] kocht«). Durch die viele Arbeit erkrankt sie. Dialogausschnitt 4: Herr Klasen repariert Gigis Spielzeugfernseher Herr Klasen: So. Getz hasse dein Dorf wieder. Gigi: Aber es ist … Handbewegung). Herr Klasen: Umgekehrt. Ja. Wat schwarz wa ist weiß und wat weiß war is schwarz. Gigi: Aber, aber … warum?! Herr Klasen: Dat Umkehrpapier is alle. Verstehse, in nem Fotoapparat is normalerweise n Neggativfilm, verstehse. NeGGativfilm. Gigi (schüttelt den Kopf). Herr Klasen: Dat wird nich einfach. Da brauchn wa maln Lexikon. Gigi: Ich habe eins! Herr Klasen: Halt! Wenne die Tür aufmachs is dat Bild kaputt! Mittels des Ruhrdeutschen erfolgt eine regionale Verknüpfung. Die Figur Klasen, sprachliches Vorbild des Ruhrdeutschen, verkörpert einen gestandenen Fotografen aus dem Ruhrpott, der für Gigi ein Vorbild ist. Dialogausschnitt 5. Herr Klasen repariert das kaputte Gitter Gigi (betrübt): Herr Klasen. Herr Klasen: Wat is?! Gigi: Es tut mir leid. Herr Klasen: Du bisn Blödmann. N selten dämlicher aaschgesichtiger Oberblödmann! Ich krich dat Gitter nich mehr zu, weil ihr dämlichen aaschgesichtigen Oberblödmänner meint, dat, wat man will, muss man sich unbedingt mit der Brechstange holn! Und glaub bloß nich, dat ich nicht weiß, wer dat zweite dämliche Aaschgesicht war! Gigi (überreicht Geld): Mein Anteil.

Zur Rolle und Funktion der Sprache im Film Solino (2002) von Fatih Akın

Herr Klasen (ruft Gigi in den Laden): Komm mal. Wat ham se dir denn aufgebrummt? Gigi: Ich bin gut weggekommen. Ich muss paar Mal im Park den Müll aufsammeln. Herr Klasen: Un has immer noch keine Kamera. (holt einen Koffer hervor) und ich hab‹ auch keine Kamera mehr. Wenigstens keine Super 8. Dat is ne Rolex. Nich mehr die Jüngste, aber sie tut et. […] (schiebt den Koffer zu Gigi herüber). Gigi (verlegen, schiebt den Koffer zurück): Herr Klasen. Herr Klasen (schiebt den Koffer erneut zu Gigi): Halt bloß die Klappe! (Gigi umarmt ihn). Das Ruhrdeutsche verleiht der Wut besonderen Ausdruck. Es lässt sich zwar gut mithilfe der Sprache schimpfen, aber letzten Endes evoziert sie als sprachliches Mittel auch die Versöhnung sowie das besondere Verhältnis zwischen den Sprechern. Filmausschnitt 6: Kurzfilm am Ende Vater: Da is dat Auto. Dat is jetz wech. Un dat is meine Johanna. Die is jetz au wech. Allet is wech. Publikum (Beifall). Am Ende des Films führt Gigi dem Kinopublikum in Solino zwei Kurzfilme vor. Zunächst den Film aus Duisburg, der nicht nur an Gigis Vergangenheit erinnert, sondern auch auf das industrielle Ende der Bergwerksregion hindeutet. Ein fröhliches Ende nimmt der Film mit dem letzten kurzen Stummfilmbeitrag, in dem die DorfbewohnerInnen in Solino nacheinander mit dem ersten Verkehrsschild in Solino spielen.

8

Abschließende Bemerkungen

Teile des Films werden auf Italienisch versprachlicht und ins Deutsche synchronisiert. So kann man Solino in sprachlicher und lokaler Hinsicht vorrangig als italienischen Film verstehen, der im Genre des hauptsächlich deutschsprachigen Migrantenfilms anzusiedeln ist. Eine sprachlich-identitäre Wende nimmt der Film, als die Reise nach Deutschland beginnt und die Familie zu einer Gastarbeiterfamilie wird. Symbolisch für den Anfang und das Ende der Reise, die Rückkehr, ist Solino die letzte Haltestelle ohne Weiterfahrt. Ab-

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gesehen von der deutschen Synchronisation sind viele Begrüßungen, Verabschiedungen, Schimpfwörter und nonverbale Bewegungen auf Italienisch. In der Kirche vor der Abreise nach Deutschland betet die Mutter, die ihre Heimat schweren Herzens verlässt. Im Hintergrund ein Chorgesang auf Italienisch. Der Abschied am Bahnhof und die Tristesse wird von einer italienischen Arie untermalt. Die Sprache fungiert nicht nur in der Entwicklung zwischenmenschlicher Beziehungen, sondern zeichnet sich in der Sprachauswahl und im Sprachgebrauch als Teil der Auseinandersetzung des Individuums mit sich selbst und seiner Umgebung aus, welches von Annäherung oder Ablehnung (der Sprache), Aus- und Abgrenzung, Fusion oder durch Neuentstehung (Neubildung) geprägt sein kann. Das Italienische und Ruhrdeutsche verleihen als Elemente im Film dem Heimatverständnis und der Identität der Figuren Ausdruck, um Gedanken und Emotionalität auch in Bezug auf Lebensräume zu artikulieren. Die Brüder Gigi und Giancarlo charakterisieren ungleiche Figuren, die zu Individuen der deutschen Gesellschaft heranwachsen und die Sprache Teil ihrer Identität wird. Dieses Geflecht wird für Gigi zerstört als er gezwungen ist nach Solino zurückzukehren. Nach einer Phase der (auch sprachlichen) Ablehnung bzw. des Nichtbeherrschens freundet er sich mit seiner Muttersprache ab dem Punkt wieder an, an dem er als Kind aufgehört hatte Italienisch zu denken.

Literatur Auer, Peter/Dirim, İnci: Türkisch sprechen nicht nur die Türken: über die Unschärfebeziehung zwischen Sprache und Ethnie in Deutschland. Berlin: de Gryter 2004. Auer, Peter: Sprachliche Landschaften. Die Strukturierung des öffentlichen Raumes durch die geschriebene Sprache, in: Deppermann, Arnulf/Linke, Angelika (Hg.): Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton. Berlin/New York: Jahrbuch 2010. Institut für Deutsche Sprache; Jg. 2009, S. 271-298. Bieberstedt, Andreas/Ruge, Jürgen/Schröder, Ingrid: Kontakt-induzierte sprachliche Variation in der Hamburger Peripherie. Ein Modell zur Messung sprachlicher Konvergenz, in: Deppermann, Arnulf/Linke, Angelika (Hg.) 2016, S. 21-66.

Zur Rolle und Funktion der Sprache im Film Solino (2002) von Fatih Akın

Bieberstedt, Andreas: Dialektalität im Generationsvergleich. Eine dialektometrische Analyse der Dialektalität sprachlicher Äußerungen niederdeutscher Dialektsprecher. Aus: Kirchwerder (Hamburg), in: Deppermann, Arnulf/Linke, Angelika (Hg.) 2016, S. 91-136. Canoǧlu, Hatice Deniz: Kanak Sprak versus Kiezdeutsch – Sprachverfall oder sprachlicher Spezialfall? Eine ethnolinguistische Untersuchung. Berlin: Frank & Timme 2012. Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler 2007. Cornelissen, Georg: Kleine Sprachgeschichte von Nordrhein-Westfalen. Köln: Greven Verlag 2015. Göktürk, Deniz: Migration und Kino – Subnationale Mitleidkultur oder transnationale Rollenspiele? In: Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler 2007, S. 329347. Hoffmann, Ludger: Eine Sprache beschreiben, Beispiel: Deutsch, in: Hoffmann, Ludger/Kameyama, Shinichi, Riedel, Monika/Şahiner, Pembe/Wulff, Nadja (Hg.), 2017, S. 15-53. Johnstone, Barbara/Andrus, Jennifer/Danielson, Andrew E.: Mobility, Indexicality, and the Enregisterment of »Pittsburghese«, in: Journal of English Linguistics 34 (2006), S. 77-104. Jürgens, Carolin: Regionale Identität per Einkaufstüte. Eine Fallstudie zum Enregisterment des Niederdeutschen in Hamburg, in: Deppermann, Arnulf/Linke, Angelika (Hg.), 2016, S. 307-343. Krumm, Hans-Jürgen: Kinder und ihre Sprachen. Lebendige Mehrsprachigkeit: Sprachporträts. Eviva 2001. Şahiner, Pembe: Sprachbiographien, in: Hoffmann, Ludger/Kameyama, Shinichi, Riedel, Monika/Şahiner, Pembe (Hg.): Deutsch als Zweitsprache. Ein Handbuch für die Lehrerausbildung. Berlin: ESV, 2017, S. 297-306. Şahiner, Pembe: Vokalschreibung bei bilingual deutsch-türkischen Grundschüler/innen. Eine Fallstudie. Studien Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Erich Schmidt Verlag 2018. Schäffler, Diana: »Deutscher Film mit türkischer Seele«. Entwicklungen und Tendenzen der deutsch-türkischen Filme von den 70er Jahren bis zur Gegenwart. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller 2007. Şölçün, Sargut: Literatur der türkischen Minderheit, in: Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart: J.B.Metzler 2007, S. 135-152.

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Tophinke, Doris: Lebensgeschichte und Sprache. Zum Konzept der Sprachbiographie aus linguistischer Sicht. VALS-ASLA (Vereinigung für angewandte Linguistik in der Schweiz) 76, Institut de linguisitique Université de Neuchatel, 2002, S. 1-14.

Filme 40 Quadratmeter Deutschland (D, 1985/86, Tevfik Başer, 80 min.) 93/13 20 Jahre nach Solingen (D, 2013, Dokumentarfilm von Mirza Odabaşı im Auftrag des Landesintegrationsrat NRW) Abdullah Yakupoğlu: Warum habe ich meine Tochter getötet (D, 1986, HansDieter Grabe, 45 min.) Anam (D, 2001, Buket Alakuş, 86 min.) Angst essen Seele auf (D, 1973, Rainer Werner Fassbinder, 93 min.) Berlin in Berlin (D, 1993, Sinan Çetin, 117 min.) Einmal Hans mit scharfer Soße (D, 2013, Buket Alakuş, 96 min.) Gegen die Wand (D/TUR, 2004, Fatih Akın,121 min.) Im Juli (D/HUN/TUR, 2000, Fatih Akın, 95 min.) Kurz und Schmerzlos (D, 1998, Fatih Akın, 100 min.) Shirins Hochzeit (D, 1975/76, Helma Sanders-Brahms, 125 min.) Soul Kitchen (D, 2009, Fatih Akın, 100 min.) Yasemin (D, 1988, Hark Bohm; 86 min.)

Online-Quellen Deutsches Filminstitut & Filmmuseum e.V. https://www.filmportal.de (12.03.18). Ehrenmord.de. https://www.ehrenmord.de/doku/biszwei/1983_Perihan.php (21.03.18). Ern, Elena: Hasse, bisse, kannse: Dem Ruhrpott seine Sprache, in DW, 2018. https://www.dw.com/de/hasse-bisse-kannse-dem-ruhrpott-seinesprache/a-4248678 (23.01.18). Kapels, Anke: Solino. Geschichten um eine Pizzeria, in: Stern, 2.11.2002. https://www.stern.de/kultur/film/-solino–geschichten-um-eine-pizzeria-3900294.html (23.01.18). Kilb, Andreas: Vorsicht, frisch gestrichen: Der Gastarbeiter-Film »Solino«, in FaZ, 6.11.2002. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/film-der-woche-

Zur Rolle und Funktion der Sprache im Film Solino (2002) von Fatih Akın

vorsicht-frisch-gestrichen-der-gastarbeiter-film-solino-179904.html (25.05.18). Verlag Henselowsky Boschmann. https://www.ruhrgebietssprache.de (15.03.18).

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C Didaktische Perspektiven

Interkulturelle Begegnung in fiktionalen Welten Tuncer Cabadağ & Stephan Holz

Abstract. In this article we describe a concept of cross-cultural education suitable for students during their last two years before leaving school for university. Theoretically, the concept is based on H. Bhabha’s ideas about hybrid identities and on P. Bourdieu’s ideas on split habitus; moreover, links to postcolonial studies are given (G. Spivak). For everyday school life, the concept is based on giving literature and sociology courses for groups of 40-50 bicultural students, two teachers being permanently present, one of them with a bicultural background, the other without a migration background; the two authors are examples for this constellation. First, we analyse and criticize the usual concept of »intercultural literature«, followed by a critique of »intercultural identity«. Then, we sketch a pedagogical-sociological frame of »third space«-courses (based on Bhabha’s ideas) which we realize concretely in our course room, and which we make visible for the students by giving examples of 3rd-space literature, movies (cf. this text for six examples) and elements of sociological literature, and by representing continuously a bicultural view by the bicultural teachersʼ team. Finally, we give hints for applying this cross-cultural framework to higher cultural education in general.

1

Einleitung

Es geht um eine Pädagogik interkulturellen Unterrichts in der Oberstufe, der fächerübergreifend für Kurse mit den Leitfächern Literatur oder Soziologie angelegt ist. Die pädagogische Idee besteht darin, dass zwei Kulturen von zwei Lehrpersonen repräsentiert werden – in unserem Fall repräsentieren sie die Pole Okzident/Orient. Den didaktisch-methodischen Rahmen stellen wir erst in Abschnitt 2 dar; vorher skizzieren wir die literaturtheoretischen und

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Tuncer Cabadağ & Stephan Holz

bildungssoziologischen Grundlagen, auf denen wir uns bewegen (Abschnitt 2), die ein (wörtliches, nicht metaphorisch gemeintes) Raumkonzept und ein Raum- und Lehrpersonen-Konzept beinhalten, das wir inzwischen als conditio sine qua non für erfolgreiche Arbeit bei interkulturellem Unterricht ansehen (Abschnitt 4-4.3).

2

Interkulturelle Literatur

Interkulturalität ist heute ein weitverbreiteter Begriff, dem man fast in allen Lebensbereichen begegnet. Häufig spricht man in diesem Zusammenhang von interkulturellen Handlungskompetenzen, interkulturellem Management oder von interkultureller Rhetorik. Dieser Begriff rückt sukzessive in vielen Fachdisziplinen ins Zentrum der Forschungen. Auch die Literaturwissenschaft beschäftigt sich seit Jahren stark mit Interkulturalität. Hofmann zufolge bezieht sich die interkulturelle Literatur auf Konzepte von Fremdheit und Alterität1 . Was beinhaltet hier der Begriff »Fremdheit«? Was heißt in diesem Kontext »Alterität«? Inwiefern ist das, was wir für »das Eigene« halten, selbst konstruiert? Könnte denn die Begegnung mit einer literarisch dargestellten Kultur, die z.B. aus dem bayerischen bzw. sächsischen Leben, oder aber aus dem Leben eines deutschsprachigen Landes wie Österreich erzählt wird, für die RezipientInnen aus Norddeutschland (auch umgekehrt selbstverständlich) in der Rezeption mit der Auseinandersetzung von und mit der Literatur (k)eine Fremdheit bedeuten? Oder hat überhaupt, und wenn ja, inwiefern, eine dargestellte Kultur mit der Alterität einer Rezipientin beziehungsweise eines Rezipienten zu tun? Die Frage etwas provokanter gestellt: Basiert die Interkulturalität in der Literaturwissenschaft auf dem Konzept des Zusammenkommens von zwei Kulturen, also z.B. vom Abendländischen (dem Eigenen) und vom Morgenländischen (dem Fremden)? Die literarischen Diskurse, die seit den 1980er Jahren geführt werden, zeigen, dass der Begriff der »Fremde« ein Grundbegriff der interkulturellen Literatur geworden ist. Hat die Literaturwissenschaft eine konstante Kohärenz2 , die sich in eine kon1 2

Vgl. Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft: Eine Einführung, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2006, S. 9-26. Pierre Bourdieu beschreibt mit der Hypothese der Kohärenz, »dass es eine konstante Kohärenz des Werkes gibt, die einer konstanten Intention entspricht«. Vgl. hierzu Pierre Bourdieu: Manet: Eine symbolische Revolution. Vorlesungen am Collège de France 1998-2000. Berlin: Suhrkamp 2015, S. 112.

Interkulturelle Begegnung in fiktionalen Welten

stante Intention von Kulturwissenschaften einordnet? Bedient sich die Literaturwissenschaft kulturwissenschaftlicher Diskursivierung von Themen, die starke öffentliche Relevanz haben – wie Mythologie oder Ritual und Macht und Politik oder kultureller Konstrukte von Ethnie, Geschlecht, nationaler oder sozialer Identität? Ist es angemessen, wenn man deutschsprachige literarische Erzählungen auf die Biografie der Autorin oder des Autors bzw. auf ihre/seine Ethnie reduziert? Die Debatte scheint in gewisser Weise einen willkürlichen Charakter zu haben. All dies sind mögliche Fragen, die auch im Rahmen unseres Unterrichtskonzepts gestellt werden, indem sie im Dritten Raum reflektierend erörtert werden (vgl. 4.1). Der im deutschsprachigen Raum geführte Diskurs über interkulturelle Literatur, der sich selbst eine kulturwissenschaftliche Intention gibt, verläuft häufig auf einer konfrontativen Ebene, in der versucht wird, eine präzise Definition aufzustellen, die zum einen die Zugehörigkeit und den Status dieser Literatur bestimmt und sie zum anderen von der Literatur des »Eigenen« unterscheidet. Laut Bourdieu findet die »gewöhnliche Praxis«3 auf der Grundlage eines »Ausfindigmachens von Konstanten«4 der eigenen Praxis und »von Differenzen«5 gegenüber anderen statt. Tatsache ist, dass die Autorinnen und Autoren, die Nachkommen in zweiter oder bereits in dritter Generation z.B. türkischer, maghrebinischer, italienischer oder portugiesischer Einwandererfamilien sind und oft in zwei bzw. mehreren Kulturen sozialisiert sind, literarische Texte produzieren, die Teil der deutschsprachigen Literatur sind, und dass viele von ihnen darauf bestehen, deutsche AutorInnen ohne Wenn und Aber zu sein. Auf die Frage »Was versteht man eigentlich unter »interkultureller Literatur«? vermeidet es daher auch der Literatursoziologe C.G. Chiellino in einem Interview mit Sandro Abbate, eine Definition von interkultureller Literatur zu formulieren, geschweige denn zu präzisieren. Er betrachtet jede inhaltliche Definition als sehr problematisch, und sagt: […] daher habe ich immer vorgezogen, ihren Auslöser in den Mittelpunkt meines Verständnisses von interkultureller Literatur zu stellen. Interkulturelle Literatur kann in folgenden sozio-politischen und kulturellen Kontexten entstehen: Exil, postkoloniale oder einfache Einwanderung, Homophobie oder kontextlos und zwar als eigenes Lebensprojekt. Kann, aber es muss

3 4 5

Bourdieu, Manet: Eine symbolische Revolution, S. 113. Ebd., S. 113. Ebd., S. 113.

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nicht sein, denn interkulturelle Literatur entsteht nur in jenen Werken, in denen die zwei Sprachen des Schriftstellers in einem dialogischen Austausch von Informationen treten. Daher kann sich als interkulturell kompetenter Leser nur derjenige betrachten, der, während er die Sprache des Romans, der Erzählung oder des Gedichtes liest, die andere hört. Anders gesagt, derjenige, der aufgrund seiner spezifischen Sprach- und Kulturkompetenzen den dialogischen Austausch zwischen den Sprachen im Werk nachspüren, verfolgen kann.6 Nach dieser knappen Einführung in die literaturwissenschaftliche Diskursivierung und in die daraus resultierende Definitionsproblematik von interkultureller Literatur werden wir daher hier keine weitere begriffliche Präzisierung für interkulturelle Literatur vornehmen. Denn anhand dieses Exkurses mag deutlich geworden sein, wie virulent es ist, eine Definition von etwas zu konstituieren, das ein sozio-kulturelles Konstrukt ist, dem möglicherweise ungenannte konstante Dispositionen immanent sind. Jeglicher Versuch in Richtung einer präzisen Definition von interkultureller Literatur würde unseres Erachtens zu einer unterschwelligen Separierung berechtigen; in dieser Art gibt es in deutschsprachigen Feuilletons oder in wissenschaftlichen (!) Abhandlungen zu lesende Abgrenzungen interkultureller Literatur von der Gesamtheit der »genuin« deutschsprachigen Literatur. Kategorisierungen wie »Gastarbeiter-literatur«, »Betroffenheits-Literatur« oder später »Migrantenliteratur«, nun »interkulturelle Literatur«7 suggerieren nämlich Durchhalte-Parolen einer germano-ethnozentrischen Politik, die sich u.E. seit einigen Jahrzehnten der bestehenden Realität entzieht; die SprecherInnen dieser Politik sagen: »Deutschland ist kein Einwanderungsland«, woraus folgt: »Einwanderungs-Literatur lehnen »wir« ab!« In sehr vielen Werken interkultureller Autorinnen und Autoren8 geht es aber zunächst nur darum, die spezifische Lebens- und Erfahrungslage zu verarbeiten, in der BRD zweisprachig aufgewachsen zu sein und ein Familienleben erlebt und geführt zu haben, das häufig von Fremdheit zur BRD-Gesellschaft und von divergenten Bindungs- und Bildungsansprüchen geprägt war und ist. Das schafft besondere Erfahrungen, Ambivalenzen und Widersprüche 6 7 8

Carmine Gino Chiellino 2015, abrufbar unter http://novelero.de/literatur-zwischenden-kulturen/(letzter Zugriff am 24.01.2017). Franco Biondi: Die Unversöhnlichen oder Im Labyrinth der Herkunft, Tübingen: Heliopolis Verlag 1991. Wir meinen damit selbstverständlich nicht zwangsläufig bei allen AutorInnen.

Interkulturelle Begegnung in fiktionalen Welten

und erzeugt Vorstellungen von einem zukünftigen Leben und einen Blick auf die erlebte Vergangenheit, die typischerweise nicht in einer deutschen Mittelstandsfamilie entstehen. Diese Vielfalt von Unterschieden regt natürlicherweise eine literarische Produktion an, die auf die dahinterliegenden spezifischen Lebenserfahrungen reagiert. Das ist bei jeder literarischen Produktion der Fall, und man kann bei allen SchriftstellerInnen ihr Herkommen, die jeweiligen Familien- und Lebenserfahrungen als prägend für seine oder ihre Literaturproduktion anerkennen – oder zum Diskriminieren verwenden (das letztere ist – auch in nicht-interkulturellen Zusammenhängen – vielfach geschehen in Form von Betitelungen wie »Arbeiterliteratur« in den 60ern, »Emigrantenliteratur« während und nach der Hitlerzeit, »Frauenliteratur« in den 1970ern etc.). Ein Kriterium für die Qualität von Literatur ist das nicht, weder im Positiven noch im Negativen. Deshalb ist es nötig, auf nichtdiskriminierende Kriterien zu achten bzw. sie zu entwickeln. Auch darum geht es uns hier; Anhaltspunkte dafür, Literaturkritik besser zu verstehen, haben wir u.a. bei Bourdieu in seiner Kunst-Soziologie und bei Spivak in ihrer postkolonialen Kulturkritik gefunden (vgl. hierzu Absatz 3.1). Eine weitere Vermutung unsererseits, weshalb künstlerische oder wissenschaftliche Debatten über interkulturelle Literatur oft auf einer konfrontativen Ebene stattfinden und stark auf Konzepten von »Fremdheit« und »Alterität« basieren, ist, dass diese Debatten oft bei Kultur- und LiteraturwissenschaftlerInnen und FeuilletonistInnen in mehr oder weniger aktuellen sozialen Debatten und zusätzlich in habituellen Diskursen verwurzelt sind, die sagen, viele dieser Autorinnen und Autoren seien häufig von niedriger sozialer Herkunft und verfügten nicht über das für »angemessenes Befassen« mit interkultureller Literatur passende soziale oder symbolische Kapital, somit auch nicht »über akademische, akademisch beglaubigte Kompetenz«9 . Betrachten wir Bourdieus Auffassung von symbolischem Kapital näher, so sehen wir, dass er festhält, dass eine vollendete und überlieferte symbolische Ordnung innerhalb ihrer Struktur Anderssein und Andershandeln nicht duldet10 . Die entscheidende »Lösung« ist in solchen Situationen die Kategorisierung. Folglich wird literarische Produktion mit interkulturellem Hintergrund als »interkulturelle Literatur« abgewertet. Denn das ist ein Begriff, der definitorisch einer unentwegten Nuancierung ausgesetzt ist, nicht deshalb,

9 10

Vgl. Bourdieu, Manet: Eine symbolische Revolution, S. 24ff. Vgl. Ebd., S. 22.

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weil die Gesellschaft bzw. die LeserInnen dies für erforderlich hielten, sondern nur deshalb, weil die Entstehung der Begriffe und deren Definitionsnuancen elitaristisch verwurzelt sind. Bourdieu zufolge ist Habitus auf sozialisierte und sozialisierende Weise in die immanenten Strukturen der sozialen Welt inkorporiert. Auf dieser Grundlage organisiert und strukturiert der Habitus als aktives Prinzip nicht nur die Wahrnehmung der Realität und das Handeln in dieser Realität, sondern auch die Vereinheitlichung der Praktiken und Vorstellungen des Subjekts. In jeder Handlung werden die inkorporierten sozialen Strukturen wirksam.11 Der Bourdieusche Habitusbegriff ist mit seinem Praxisbegriff kohärent – modus operandi12 . Sein Konzept der Dispositionen führt Bourdieu zusammen mit seinem Habitusbegriff aus, so dass Dispositionen die dem Subjekt immanenten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen sind, die die Praxis unbewusst steuern, aber nicht vollständig determinieren13 . Analysen interkultureller Literatur beziehen sich auf variierende Begriffe von Identität, so dass dieses notwendigerweise umstrittene und komplexe Konzept auf einem lose gekoppelten Begriffs- und Weltwahrnehmungszusammenhang beruht, der wiederum eine Frage der Praxis und des Habitus ist, d.h. in hohem Maße unbewusst ist. In der Skizzierung von Identitäten manifestieren sich Begriffe wie »individuelle«, »kollektive« und »hybride« Identität. Leider herrscht in vielen literaturwissenschaftlichen Beiträgen, auch in solchen in Feuilletons, die Auffassung, dass interkulturelle Literatur ausschließlich auf dem historischen und sozialen Hintergrund der jeweiligen AutorInnen interpretiert werden solle, und dieser Interpretationsrahmen wird unseres Erachtens zur Norm erhoben. Es entsteht bei uns der Eindruck, dass zusätzlich zu dieser Norm eine weitere Norm signalisiert wird: Wenn sich die AutorInnen als zugehörig zu den »echten« fühlen wollen, mögen sie sich vollständig von ihrem historischen und sozialen Hintergrund loslösen. Das ist aber – rational betrachtet – unmöglich, auch wenn viele der AutorInnen bereits in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Insofern bilden diese beiden Normen, zusammengenommen, eine unausweichliche logische Falle. Wir fragen uns, ob sich nicht

11 12 13

Vgl. Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft: Zur Theorie des Handelns. Frankfurt a.M: Suhrkamp 2008. Vgl. Bourdieu, Manet: Eine symbolische Revolution, S. 114. Vgl. Bourdieu, Manet: Eine symbolische Revolution und Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn: Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987.

Interkulturelle Begegnung in fiktionalen Welten

in solchen Auffassungen dem KritikerInnen-Subjekt immanente habituelle Dispositionen (im Sinn von Bourdieu, s.o.) manifestieren. Wir sind der Auffassung, dass Literatur in der heutigen zunehmend globalisierten Gesellschaft nicht unmittelbar und lediglich auf die Biografien der Autorinnen und Autoren oder auf deren Ethnie reduziert werden darf. Für die literarische Kategorisierung sollte primär die Sprache, in der die Erzähltexte entstanden sind, entscheidend sein. Was man aber nicht vermeiden kann, ist, dass die literarische Produktion im Zusammenhang mit ihren kulturellen Hintergründen gelesen und reflektiert wird. Fakt ist, dass die Erzähltexte der interkulturellen Literatur sich auf spezifisch literarische Weise mit aktuellen, soziologischen, politischen, sozialen oder soziokulturellen Problemen, Gegebenheiten bzw. Begegnungen innerhalb moderner multikultureller Gesellschaften befassen. Die Handlungen einer literarischen Figur spielen sich dementsprechend oft (nicht zwangsläufig) in interkulturellen Kontexten ab, und ihre fast gesamten sozio-politischen sowie sozio-kulturellen Interaktionen finden in mindestens bikulturellen Konstrukten statt; die Beziehungen und Interaktionen sind von dynamischem Charakter. Für die Reflexion eines dieser sozio-politischen Aspekte können (Vor-)Kenntnisse über die in der Literatur wirksam werdenden Kulturen eventuell aber auch sehr hilfreich sein. Trotzdem geht es hier nicht in erster Linie darum, gewisse Autorinnen und Autoren oder ihre literarische Produktion nationalphilologisch zu kategorisieren, sondern es geht uns darum, wie man interkulturelle Texte oder Werke im Unterricht mit einer kulturell und sprachlich heterogenen Gruppe in der gymnasialen Oberstufe behandeln kann. Hierfür gibt es mehrere literaturwissenschaftlich-interpretative Kategorien, deren für uns in unserem Zusammenhang überzeugendste die der »symbolischen Aufladung« ist, da sie ein Mittel darstellt, mit einer neutralen, distanz-erzeugenden Methode in literarischen Texten Elemente von Identitätsaufladung und deren Symboliken formal aufzusuchen14 . Das Ziel ist, den Blick dafür zu schärfen und mögliche Schwierigkeiten durch literaturwissenschaftlich bewährte Methoden aufzudecken, Schwierigkeiten, die die RezipientInnen beim Verstehen von sich selbst eventuell zu nah und zu eng betreffenden sozio-politischen oder soziokulturellen Fragestellungen haben. Unsere Absicht ist, Auftrag, Aufgabe und Verantwortung einer Kursleiterin oder eines Kursleiters klar zu definieren

14

Vgl. Peter von Matt: Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur. München: Hanser 2017, S. 10 und S. 11-14.

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und Wege und praktische Erfahrung mit interkultureller Literatur im Unterricht aufzuzeigen, um plausiblere Interpretationsmethoden und -wege anzuleiten und um Identität mit Interkulturalität verständlich zu machen. Um die verwirrenden Definitionen zu vermeiden, deren Genese offensichtlich in habituellen Dispositionen wurzelt, wird unter dem Begriff »interkulturelle Literatur« im Folgenden deutschsprachige Literatur von Autorinnen und Autoren verstanden, deren literarische Produktion bi- oder multikulturell spezifische Züge aufweist und eventuell einen Einblick in deren literarisch konzipierte Kulturen ermöglicht; folglich eine Perspektive, mit der man die gesellschaftlichen Konstruktionen, Geschlechterrollen, das Familienleben und das all dem zugrundeliegende Kulturverständnis von Innen erfahren kann.

3 3.1

Didaktisch-methodische Implikationen Was ist Kultur?

Dies ist ein komplexes Thema auf mehreren Ebenen: Es hat, historisch betrachtet, weltweit kein Reich gegeben, dessen Gemeinschaft monokulturelle und monolinguale Strukturen hatte. Bi- oder Multikulturalität sowie Bi- oder Multilingualität ist die Realität aller Gemeinschaften seit Jahrhunderten, zum Teil Jahrtausenden. Die sogenannten multikulturellen und multilingualen Gesellschaftsformen sind eo ipso nichts Neues; was neu ist, ist die Benennung dieser Gesellschaftsformen. Auch in diesem Text ist es nicht das Ziel, eine dezidierte und differenzierte Beschreibung eines Kulturbegriffes herauszuarbeiten, ebenso wenig ist es aber auch das Ziel, eine Diskussion im Hinblick auf eine ethnisch-kulturelle Herkunft von Autorinnen und Autoren und die Wirkung dieser Herkunft auf literarische Produktionen zu entfachen, d.h. es ist nicht das Ziel, einen »Kampf der Kulturen« heraufzubeschwören. Denn zu Recht weist MüllerFunk auf die Problematik des holistisch verstandenen bzw. umfassenden Kulturbegriffes hin, »der nur zwei Unterscheidungen kennt: Natur und Kultur«15 . Kultur bedeutet immer, dass es auch mehrere Kulturen, mehrere Sprachen

15

Wolfgang Müller-Funk: Kulturtheorie. Einführung in Schlüsseltexte der Kulturwissenschaft. Stuttgart: UTB 2006, S. 7ff.

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und mehrere Religionen gibt, die man kontrastiv oder auch konfrontativ vergleichen kann.16 Anstatt eines verwirrenden und vergeblichen Versuches, eine Definition von Kultur vorzuschreiben, wird in unserer unterrichtlichen Arbeitspraxis der Kulturbegriff als ein identitätsbildender Faktor methodischunterrichtlich an die Idee des Dritten Raumes nach Bhabha17 und an HabitusAnalysen nach Bourdieu18 angeknüpft. In diesem Dritten Raum stehen gleichwertig verschiedene kulturelle Strömungen mit all ihren Ebenen, und sie können kontrastiert oder konfrontiert werden, ohne dass eine Kultur die andere aufhebt, da man Kultur, obwohl sie doch nicht alles ist, überall als Gesamtheit symbolischer Formen und habitueller Praktiken vorfindet. Kultur kann also als ein System von Dispositionen verstanden werden. Hierbei stellen die TeilnehmerInnen fest, wie schwierig es ist, überhaupt ohne Wertung »eigene« und »fremde« Kulturen und Identitätsbildungen zu reflektieren.

3.2

Interkulturalität im Unterricht

Oft findet in der Literatur eine Reflexion von politischen und sozialen Verhältnissen ihrer Zeit statt, deshalb bietet Literatur im Unterricht eine beispielhafte Plattform an, auf der die sozialen und politischen Probleme, die ästhetisch und künstlerisch dargestellt sind, diskutiert und behandelt werden können. Im Literaturunterricht stehen die Kulturen mit ihren unterschiedlichen Ebenen (das heißt die gesamte Lebensweise von Menschen, die Gestaltung der alltäglichen Umwelt, aber auch Kunst und Folklore) mit entsprechenden literarischen Texten ohne Wertungen im Dritten Raum. Zu Beginn des Unterrichts darf keine Expertise diktiert werden. Die von uns angewandte Methode ist, Kulturen beziehungsweise Begebenheiten, die in dem gelesenen Text dargestellt werden, kontrastiv oder konfrontativ zu analysieren. Es geht hier um das Verstehen von bekannten oder zum Teil auch unbekannten Informationen bzw. Fragestellungen und Problemen, mit denen sich der im Unterricht vorgelegte Text auseinandersetzt. Die literarischen Erzähltexte bieten im Unterricht nicht nur gute Möglichkeiten für Perspektivwechsel, für das Verstehen von interkulturellen Prozessen und für die Einübung von Multiperspektivität, sondern bieten auch Möglichkeiten für die Schaffung eines

16 17 18

Vgl. ebd. Vgl. Homi K. Bhabha: Vorne vom Golf, hinten aus Soho. Interview mit Harald Staun in der FAS vom 31.1.2010, S. 22. Vgl. Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns.

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Bewusstseins für eigene Schwierigkeiten, Projektionen und Konstruktionen. Auch hier muss aber von der Voraussetzung ausgegangen werden (und diese Voraussetzung ist notwendiger Teil des expliziten Reflexionsprozesses), dass die RezipientInnen, ganz im Sinne von Bourdieu19 , grundsätzlich innerhalb des Möglichkeitsraumes ihrer habituellen Grenzen handeln werden, d.h. innerhalb der Dialektik von Bewusstsein und innerhalb ihrer inkorporierten Handlungsdispositionen. Es ist daher auch nicht die Absicht und das Ziel des Unterrichts, derartiges Handeln im Sinne einer Anklage in Frage zu stellen oder aktiv (direkt) zu verändern.

3.3

Das Problem der Identitätsdefinition

Unser interkultureller Unterricht beginnt mit einer Reihe von Hypothesenbildungen zum jeweiligen kulturspezifisch geprägten Begriff der männlichen Ehre. Anhand von mehreren Textquellen wird erst der türkisch/islamisch geprägte Ehrbegriff mit einer verdichteten Darstellung vorgestellt. Zum Vergleich folgt die Darstellung eines in der wilhelminischen Kaiserzeit verwurzelten deutsch-nationalen Ehrbegriffs, schließlich werden einige formale Parallelen gezogen. Für beide Kulturen wird deutlich, in welch hohem Ausmaß Männer, nachdem sie sich dem jeweiligen Ehrbegriff verschrieben haben, zur Opferung ihrer selbst und/oder ihrer Familien bereit sind und auch in diesem Sinne handeln. Zu Beginn der Unterrichtssequenz findet in mehreren Sitzungen eine analytische Auseinandersetzung anhand von soziologischen Texten in Bezug auf soziologische und kulturwissenschaftliche Definitionen von individuellen, kollektiven und hybriden Identitäten statt. Der Begriff der »kollektiven Identität« wird politisch und soziologisch auf solche Weise analysiert, dass deutlich wird, dass Identität ein kulturelles Konstrukt für jeweils situativ feststellbare politische Zwecke ist, und dass – daraus folgend – die politischfunktionale Verwendbarkeit des identitär definierten Menschen belegbar wird. Es fragt sich in einem naheliegenden Analogieschluss, ob der Begriff der »hybriden Identität«, der für Menschen mit bikulturellem Hintergrund modern ist, nicht auch ein Produkt oder Konstrukt ist, das für politische Zwecke konstruiert ist; auch damit befassen sich die TeilnehmerInnen anhand einiger soziologischer Texte im sequenzierten Literaturunterricht. Der

19

Vgl. ebd.

Interkulturelle Begegnung in fiktionalen Welten

Begriff der Hybridität nach Bhabha20 führte in unserem Unterricht durch Analogien zur Technik (»Hybridmotor«) zu einer anregenden MetaphernDebatte: Ein Teilnehmer stellte mit einer karikierenden Gestik die folgende Frage in den (Unterrichts-)Raum (dem das Konzept des Dritten Raums zugrunde liegt – das Konzept erklärt sich durch die Wirkung und das Handeln der Lehrkräfte, die einen Dritten Raum miteinander im Unterricht erzeugen): »Wie ist es möglich, dass eine Person, ein Individuum zwei Mechanismen, die autonom voneinander als Antrieb eines Wagens (bzw. Harddisc eines Rechners) agieren, in sich tragen kann? Wann fahre ich [hier war Fahren im Sinne von Handeln gemeint, oder wann speichere ich etwas auf welche Ebene] mit einem und wann mit dem anderen? Habe ich denn eine gespaltene Identität oder eine Identität, die aufgrund ihrer Spezifikation allein mir gehört?« Diese auf einer technischen Metaphorisierung beruhende Frage mag auf den ersten Blick einen persiflierenden Charakter haben, aber sie ist im Hinblick auf die Suche nach einer gehaltvollen, fairen und passenden Antwort ernst zu nehmen. Auch für diese Diskussion gibt es Literaturbeispiele, die diese problematische Klassifizierung des Identitätsbegriffs veranschaulichen; in dem Roman Wieso Heimat? Ich wohne zur Miete von Selim Özdoğan beschreibt der Protagonist seine eigene Identität folgenderweise: Vielleicht ist das ja Identität, sage ich. Man findet sich normal und manchmal ist man irgendwo, wo die anderen einen auch normal finden, dann muss man die Identität nicht suchen. Manchmal ist man aber irgendwo, wo die anderen einen nicht normal finden, dann sagen sie, man soll eine Identität suchen. Wahrscheinlich damit man normal wird. Dabei ist man die ganze Zeit über normal. Aber es reicht eben nicht, wenn man nur für sich normal ist, man muss auch für die anderen normal sein.21 Diese Darstellung des Ich-Erzählers spiegelt die Art der oft im Unterricht geführten Diskussion über die Klassifizierung der Identität gut wider. Die in der Diskussion gestellte Frage stellt nämlich einerseits die Sinnhaftigkeit der hybriden Identitätsdefinition und anderseits die dahinterliegende politische Botschaft der soziologisch und psychologisch formulierten beziehungsweise konstituierten Definition als solche in Frage. Es ist dabei offenkundig, dass es um die Akzeptanz der Identitätsbildungen bei den KursteilnehmerInnen 20 21

Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2000. Selim Özdoğan: Wieso Heimat, ich wohne zur Miete. Innsbruck/Wien: Haymon Verlag 2016, S. 145.

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geht, so, wie sie gelebt, erfahren, empfunden bzw. gefunden wird, wie jede andere, »normale« Identitätsbildung, ohne Klassifizierung und ohne hierarchisierende Kategorisierung, aber mit Unterscheidungen. Im Laufe der danach geführten Diskussionen im Unterricht und auch außerhalb des Unterrichtraums plädierten einige Diskutierende für einen Begriff der interkulturellen Identität anstelle von hybrider Identität. Wir sind der Auffassung, dass ein Identitätsbegriff wie »interkulturelle Identität«, obgleich er in der Wahrnehmung der Betroffenen als angemessen und ihrerseits zufriedenstellend erscheinen mag, unter politischen Aspekten und in Betracht der habituell gefärbten Definitionsnuancierungen erneuter Reflexion unter der Fragestellung »Was ist gespaltener Habitus?« bedarf22 .

4

Planungshilfen für den Unterricht

Im Folgenden wird ein Begriffsrahmen entwickelt, bei dem deutlich wird, wie sich zwei kulturelle Hintergrund-Räume neutral in einem Dritten Raum begegnen können und darin sowohl Beispielerzählungen wie auch abstrahierende Begriffssysteme gemeinsam befasst, interpretiert und weiterentwickelt werden können.

4.1

Das Konzept des Dritten Raumes

Das Konzept des Dritten Raums wurde von dem Kultursoziologen Bhabha entwickelt23 . In unserem Unterrichtskonzept bedienen wir uns dieses Konzepts von Bhabha mit einer unterrichtspraktischen Erweiterung durch TeamTeaching. Die Lehrkräfte sollten verschiedene kulturelle Biografien haben. Zwischen den Lehrkräften und auch zwischen den einzelnen Mitgliedern der Kursgruppe entsteht dann im Laufe der Kurseinheiten der Dritte Raum, der zum Verhandlungsort für kulturelle Differenzen wird. Dieser Dritte Raum – in unserem Unterrichtsbeispiel zwischen der türkischen und der deutschen Kultur und, noch spezifischer, zwischen den jeweiligen Männlichkeitskulturen – ist für alle zunächst leer. Die Lehrkräfte repräsentieren zunächst nur 22

23

Vgl. Bourdieu 2015: Hier wird die revolutionäre Wirkung von Manets Bildern in der Pariser Gesellschaft des späten 19. Jahrhundert. auf dessen Fähigkeit zurückgeführt, in zwei Habitus, das heißt »mit gespaltenem Habitus«, zu agieren und zu kommunizieren. Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur.Tübingen: Stauffenburg 2000.

Interkulturelle Begegnung in fiktionalen Welten

die Leitbilder für männliche Identitäten in ihrer jeweiligen Kultur und stellen deren historisch-soziologische Bedingtheiten und einige literarisch auffindbare Entfaltungen der Männlichkeitsbegriffe dar. Durch Beschreibungen einiger dieser Themen wie »Leitbilder für männliche Identitäten«, »Ehrbegriff in der deutschen und in der türkischen Gesellschaft«, »Migration« oder »Kulturen und Identitäten« in diesem Dritten Raum entsteht die Möglichkeit einer sorgfältigen, unaufgeregten, nicht-verurteilenden Wahrnehmung der eigenen Identitäten und der Identitäten des kulturellen Gegenübers. Es entsteht die Möglichkeit einer Abwägung der Seiten von Identität oder, in unserem Fall spezifischer, von Männlichkeit, die man selbst bewahren oder die man aber eventuell in die Hintergrund-Kultur zurückgeben möchte.

4.2

Der Dritte Raum als realer Ort des Dialogs

Wir haben in unseren Kursen und Seminaren mehrere Jahre lang einen Dritten Raum (neben dem ersten und zweiten Raum der durch die beiden Lehrpersonen repräsentierten »Heimat«-Identitäten) erzeugt, indem wir alle Kurse zu zweit angeboten haben, um die für die Fragestellung notwendigen verschiedenen kulturellen Hintergründe (türkisch/deutsch, muslimisch/christlich, linguistisch, soziologisch/mathematisch-naturwissenschaftlich) sichtbar zu vertreten und um eine hohe Differenz, d.h. auch einen räumlich sichtbaren Abstand zu erzeugen. Jede/r soll die Gewissheit darüber haben, dass der Dritte Raum ein wertneutraler Ort ist, wo viele kulturelle Praktiken, die man (un-)bewusst inkorporiert hat, Haltungen und Gefühlsausdrücke, die man adaptiert hat, eventuell etwas verstärkt indiziert werden und ohne jegliche Wertung ausgesprochen, angesprochen, eventuell auch dekonstruiert werden dürfen. Denn der Dritte Raum ist kein Ort, in dem man kulturelle Praktiken als gut oder schlecht, als akzeptabel oder inakzeptabel und als annehmbar oder unannehmbar diskutieren darf, sondern er sollte der Ort sein, in dem man seine eigenen oder fremden kulturellen Praktiken reflektierend im strukturalistischen und dekonstruktiven Sinne zu verstehen und evtl. zu erklären versucht. Eine mögliche erkenntnisleitende Frage war beispielsweise, was männliche Identität sei (jeweils aus dem kulturellen Hintergrund gefragt); es wurden auch literarische Texte und Filme in diesem Raum interpretiert, die männliche Identitäten in fremdkulturellem und irritierendem Umfeld nutzen oder die die Irritationen für männliche Identität im eigenen kulturellen Umfeld darstellen, um durch die Interpretation von literarisch dargestellten

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Fremdheits- und Irritationserfahrungen zu verstehen, was männliche Identität für die jeweiligen Protagonisten ausmacht, diese eventuell gefährdet oder in Re-Stabilisierungs- oder Modernisierungsprozesse bringt. Für uns als Lehrende war die Frage, wie wir die SchülerInnen in unseren Kursen anregen könnten, ihre eigenen Positionen zu der Frage »Was ist männliche Identität?« zu verstehen und auszusprechen. Die methodisch-didaktischen Wege dahin beschreiben wir in Kapitel 4.2. Im Vorfeld dazu möchten wir zunächst einige Fragen aussprechen, die auf uns selbst als Leiter von Kursen mit dem Thema »Was ist männliche Identität?« zurückführen: Inwiefern dient Unterricht solcher Art zur Stabilisierung der männlichen Identität (und zum Teil zur modernisierten Neu-Konstitution derselben) der Veranstalter, indem wir als Männer mit Erkenntnis-Vorsprung vor den Schülerinnen und Schülern den Rahmen dieses Diskurses entwerfen und bestimmen? Inwiefern unterstützen wir das doppelte Verstummen der muslimischen Frau angesichts der Dominanz der Männer der eigenen Kultur und der Männer der »fremden« Kultur, indem wir (als Männer des Okzidents und Orients mit westlicher Bildung) den Diskurs als Rettungsdiskurs inszenieren (»Wir retten die muslimische Frau vor dem muslimischen Mann ohne westliche Bildung.«) – in Analogie zu der von G. Spivak in »Can the subaltern speak?«24 formulierten, zutiefst ironischen Beschreibung »Weiße Männer retten braune Frauen vor braunen Männern.«25 ? Was für uns ansteht, ist, unsere eigene Position gleichfalls zum Untersuchungsgegenstand des identitätsanalysierenden Projekts zu machen. Es besteht nämlich »das Problem des europäischen Subjekts […], das einen anderen zu produzieren sucht, der […] den eigenen Subjektstatus zu festigen erlaubt«26 . Spivak erkennt in diesem frühen Text, im Original 1988 erschienen, positiv Derridas Versuch an, dass »im Zuge der Kritik an der Produktion des kolonialen Subjekts […] dieser unaussprechliche, nicht-transzendentale (»historische«) Ort durch das subalterne Subjekt besetzt«27 wird. Wir stellen, an Derrida und Spivak inhaltlich anschließend, fest: Der Ort des dritten Raumes,

24 25 26 27

Vgl. Gayatri C. Spivak: Can the Subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia und Kant 2014. Spivak, Can the Subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, S. 74. Ebd., S. 70. Ebd., S. 70.

Interkulturelle Begegnung in fiktionalen Welten

den wir erzeugt haben, ist gleichfalls nicht-transzendental, er ist historisierend und daher historisch, und er wird als solcher nicht benannt, sondern nur erzeugt. Insofern gibt er Subalternen die Möglichkeit zu sprechen.

4.3

Interkultureller Unterricht als Dritter Raum zur Analyse von Leitbegriffen für Männlichkeiten in deutscher und türkischer Kultur

Ein interkultureller Dialog, der aus Migration entsteht, ist landläufig (das heißt sowieso immer) mit gegenseitigen Bildern, Vorurteilen, Hoffnungen und Misstrauen aufgeladen. Was wir an Vera Kings Ideen28 zusätzlich bereichernd fanden und finden, ist, dass es auch innerhalb der jeweiligen Kulturen ein intergenerationales Erwartungsprojekt ist, mit dem unvermeidlich Chancen und Risiken verbunden sind, zum Beispiel, dass die ältere Generation von MigrantInnen große Hoffnungen in die jüngere setzt in Bezug auf Verdienst, Fürsorge für die ältere Generation, Geldüberweisungen ins Herkunftsland, Belebung und Modernisierung der Herkunftskultur etc. Wir veranschaulichen die von King aufgestellte These »Migration ist ein intergenerationales Erwartungsprojekt« mittels des unten eingefügten Schemas:

Abb.1: Identitätskonstrukt im Migrationsprozess

28

Vgl. Vera King: Bildung, Adoleszenz und Familiendynamik – Transgenerationale Folgen der Migration, in: Psychotherapeut Bd. 62, Heft 5 2017.

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Jeder Migration ist unter anderem auch ein Entscheidungskonflikt zwischen einer »alten« und einer »neuen« Kultur inhärent, und daher ist eine Revision bzw. sind neue Identitätskonstruktionen gefordert: Migration ist verbunden mit einer Abtrennung vom bisherigen, dem Individuum vertrauten kulturellen Umfeld, mit einer Umgestaltung der persönlichen Identität, die Brüche, Ambivalenzen oder Distanzierungen sowohl in Richtung des alten als auch in Richtung des neuen kulturellen Umfeldes zu bewältigen hat; und sie ist verbunden mit Neuschöpfungen (auch: Neu-Identitätskonstruktionen), die unausweichlich dem Einfluss der neuen kulturellen Umgebung ausgesetzt sind. Diese Brüche, Ambivalenzen und Distanzierungen sind an vielen literarischen und filmischen Figuren bezüglich ihrer Ansichten und Auffassungen über Gleichstellung der Geschlechter im Beruf, über geschlechtsspezifische Rollenaufteilung in der Familie sowie zwischen modernen und traditionellen Frauen- und Männerbildern zu beobachten. Wir erachten es als produktiv, diesen Erwartungskonflikt sowohl anhand der Leitfiguren aus literarischen Texten als auch an denen aus Filmen sichtbar werden zu lassen; gerade daran, dass diese Figuren fiktiv sind, lassen sich Distanzierungen und Verbalisierungen erzeugen, die ein sorgfältigeres und mehr entfaltetes Verstehen der Konflikte ermöglichen.

4.4

4.4.1

Beispiele für die Anwendung des Dritten-Raum-Konzeptes aus Literatur und Film Literatur

Unser Literaturunterricht ist fächerübergreifend sequenziert konzipiert, so dass regelmäßig neben den ausgewählten literarischen Erzähltexten soziologische und sozialwissenschaftliche Texte zur Sozialisation der Männer, zur Männerforschung und zu Leitbildern für männliche Identitäten berücksichtigt werden. Als literarische Erzähltexte werden in unserem Unterricht Werke von deutschsprachigen Autorinnen und Autoren interpretiert: Von Selim Özdoğan (Wieso Heimat, ich wohne zur Miete), Kerim Pamuk (Kurzgeschichten), Emine Sevgi Özdamar (Der Hof im Spiegel), Feridun Zaimoğlu (Kanak Sprak), sowie von Max Frisch (Homo Faber) und von Martin Suter (Business Class. [Neue] Geschichten aus der Welt des Managements) interpretiert. Für einen interkulturellen Dialog im Literaturunterricht eignen sich alle genannten Texte, ferner eignen sich der Roman Ehre (2014) von Elif Shafak sowie der Roman Schnee

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(2007) von Orhan Pamuk, auch wenn die zuletzt genannte Autorin und der zuletzt genannte Autor ursprünglich nicht auf Deutsch geschrieben haben. Für unsere LeserInnen vielleicht unerwartet, behandeln wir in unserem Konzept hauptsächlich literarische Werke, die nicht unmittelbar und in jedem Fall typischen Erzählwerken der als »interkulturell« klassifizierten und kategorisierten Literatur zuzuordnen sind. Unserem Konzept liegt nicht die Idee einer interkulturellen Literatur zugrunde, die fachspezifisch unterrichtet werden soll, sondern es werden »Interkulturalität« und »männliche Sozialisation« in patriarchal konstruierten Gesellschaften mit und in der Literatur zum Unterrichtsgegenstand gemacht. Nichtsdestoweniger werden Interkulturalität und Identität in diesen Werken pointiert und nuanciert behandelt. Ein weiterer Grund, weshalb wir nicht ausschließlich AutorInnen, deren Erzählwerke explizit zur interkulturellen Literatur gerechnet werden, verwenden, ist, dass wir uns von jeglicher Klassifizierung und Kategorisierung von Literatur und Kunst in »interkulturell« und »nicht-interkulturell« distanzieren. Das Augenmerk im sequenzierten Literaturunterricht richtet sich auf die oben genannten Werke, denn die beiden Erzählungen von Shafak und Pamuk bieten beispielsweise einen sehr guten Kontrast zu Max Frischs Erzählung insofern, dass die Protagonisten all dieser Erzählungen folgende Gemeinsamkeit haben: Sie leben und arbeiten nicht in derselben Umgebung und in denselben Kulturen wie ihre Autorin. Ein zusätzlicher Aspekt ist, dass Interkulturalität mit den Beiträgen dieser drei AutorInnen nicht ausschließlich im Sinne der klassisch definierten interkulturellen Literatur thematisiert wird (s.u.). Wir gehen daher im Folgenden auf Werke dieser drei AutorInnen genauer ein. Der 50-jährige Protagonist Walter Faber in Max Frischs Roman Homo Faber29 arbeitet als Ingenieur im Auftrag der UNESCO30 in verschiedenen Entwicklungsländern und wohnt in New York. Er berichtet nicht nur über Erfahrungen mit seiner Tochter Elisabeth und seine frühere Beziehung mit Hanna oder über seine Affäre mit Ivy in New York, sondern auch über seine Erfahrungen mit anderen Kulturen und deren Angehörigen, denen er durch seine beruflichen Reisen begegnet beziehungsweise die er dabei kennenlernt. Faber ist ein rational denkender Mann, er glaubt nicht an Fügung und Schicksal. Er ist es gewohnt mit Wahrscheinlichkeitsformeln zu rechnen. Er 29 30

Vgl. Max Frisch: Homo Faber. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1957. Kurzwort für United Nations Educational Scientific and Cultural Organization« – Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur.

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braucht keine Mystik, um das Unwahrscheinliche gelten zu lassen; ihm genügt hierzu die Mathematik. Seinen Beruf betrachtet Faber nicht als beliebigen Job, sondern er steht auf dem Standpunkt, dass »der Beruf des Technikers, der mit Tatsachen fertig wird, immerhin ein männlicher Beruf ist, wenn nicht der einzig männliche überhaupt«31 . Ein Leben außerhalb des beruflichen Bereichs kann er sich nicht vorstellen: »Ich lebe, wie jeder wirkliche Mann, in meiner Arbeit«32 . Faber sieht in der Technik offenbar mehr als ein mechanisches Hilfsmittel. Bewusst überpointiert stellt er die Funktionsweise der Technik als vorbildlich für den Menschen dar. So findet Faber Menschen anstrengend, sogar auch Männer. Er stellt sich persönlich nur denjenigen Personen vor, die sich auch für Technik interessieren. Faber ist Techniker; er unterhält sich gern mit Menschen, die sich auch für Technik und technische Dinge interessieren. In diesem Gebiet kennt er sich am besten aus. Das ist sein Beruf und seine Welt, in der er die Gespräche steuern kann. In diesem Gebiet geht es nicht um Emotionalität; Rationalität ist gefragt. »Richtige« Männer reden über Technik und Ingenieurswesen, wenn nicht darüber, dann schweigen sie lieber und spielen Schach. Faber glaubt auch nicht an Fügung. Selbst Zufall ist für ihn eine rationalisierte und quantifizierte, rein statistische Größe. Mit diesem Roman können die Männeridentität, geschlechterspezifische Rollenaufteilungen und die patriarchale Praxis in der Gesellschaft und im Berufsleben in der Mitte der 1950er Jahre thematisiert werden. Der Schauplatz von Shafaks Roman ist ein Vorort in London. Viele MigrantInnen unterschiedlicher Kulturen und Herkunft leben seit Jahren mit ihren Nachkommen in zweiter oder dritter Generation in diesem Vorort. Die erzählte Geschichte findet in den 1970er Jahren statt. Die Protagonistin Pembe lebt mit ihren drei Kindern in London allein, da ihr Mann sie wegen der Liebe zu einer anderen Frau verlassen hat. Ihre ihr zum Verwechseln ähnlich aussehende Zwillingsschwester Jamila aber lebt in einem türkisch-kurdischen kleinen Dorf im Osten der Türkei. Pembe und Jamila pflegen ihre sehr innige Beziehung durch Briefwechsel aus der Ferne. Pembes älterer Sohn İskender (genannt Alex) ist ein pubertierender junger Mann, der sich nun, nach dem Weggang des Vaters, als Familienoberhaupt fühlt, er holt sich Rat, wenn nötig, von seinem Onkel Tarık, der mit seiner Familie in dem gleichen Vorort lebt und einen kleinen Lebensmittelladen betreibt. Die Wirkung der Migration bzw. der Einfluss der Migration auf die Identität wird in dieser literari31 32

Frisch, Homo Faber S. 83. Ebd., S. 98.

Interkulturelle Begegnung in fiktionalen Welten

schen Erzählung evident; Zerrissenheiten und damit auch Konflikte zwischen Tradition und Moderne werden im Verlauf der Erzählung lebhaft dargestellt. Ehre wird hier als soziales Kapital sichtbar, das im kulturellen, ökonomischen und symbolischen Feld im Sinne von Bourdieu eine entscheidende Rolle spielt (insofern veranschaulicht Shafaks Roman Bourdieus Kapitalsorten und seinen Feldbegriff – ohne dies bewusst zu beabsichtigen). Shafak reflektiert in ihrem Roman die Migration und die durch Migration veranlassten Identitätsbrüche und -änderungen sowie die Identitätskrise des Protagonisten und die gesellschaftliche und politische Situation der Betroffenen und zuletzt das Familienleben in einer für sie fremden Umgebung. Die Konflikte zwischen Moderne und Tradition sowie zwischen Moral und gesellschaftlichem Urteil entfalten sich hier plausibel und anschaulich. Pamuks Roman Schnee33 spielt teilweise in Deutschland, teilweise in der Türkei. Er ist ein politischer Roman, in dem politisiertes Religionsverständnis, politisches Exil, Armut sowie die Zerrissenheit eines Mannes zwischen Moderne und Tradition behandelt werden. Durch den Militärputsch im Jahr 1980 ist der Protagonist Kerim Alakuşoğlu (Alias Ka) gezwungen, das Land zu verlassen und ins zu Exil zu gehen, da er während seines Studiums an der Universität in Istanbul linkspolitisch aktiv war. Nach einigen Exiljahren kehrt er anlässlich des Todes seiner Mutter aus Frankfurt nach Istanbul zurück. Nach der Beerdigung seiner Mutter bekommt er von seinem alten Studienfreund, der für die Istanbuler Zeitung »Cumhuriyet« (»Die Republik«) arbeitet, den Auftrag, nach Kars (in Ostanatolien an der Grenze der ehemaligen Sowjetunion) zu fahren und für die Zeitung über junge religiöse Mädchen dort zu recherchieren, weil einige von ihnen Selbstmord begingen. Nebenbei erfährt Ka von seinem Freund auch, dass İpek, Kas frühere Kommilitonin, in die er damals verliebt war, inzwischen mit ihrem Vater in Kars lebt und sich von ihrem Mann Muhtar, der auch ein Kommilitone von Ka war, getrennt hat, beziehungsweise sich hat scheiden lassen. Ka entscheidet sich spontan für den Job und – auch von seinem heimlichen Motiv getrieben – fährt er nach Kars, um zu versuchen, seine große Liebe zu heiraten und sie mit nach Frankfurt zu nehmen. Als er in Kars ankommt ist die Stadt nach kurzer Zeit durch einen nicht enden wollenden Schneefall von der Außenwelt abgeschlossen. In Kars herrschen Armut und Arbeitslosigkeit und der Kontrast zu der Welt, in der Ka lebt, könnte nicht größer sein. Doch statt in die Kindheit und in eine glückliche Zukunft gerät Ka in eine von Zerrissenheit, Verzweiflung 33

Vgl. Orhan Pamuk: Schnee. Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 2007.

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und Angst um İpeks Liebe übervolle Welt. Der Roman veranschaulicht nicht nur die Zerrissenheit und Verzweiflung des Protagonisten Ka, sondern auch die starke soziopolitische Polarisierung der türkischen Gesellschaft. Auf der einen Seite stehen die säkular nach Europa orientierten LaizistInnen, die Religion von Staat und Politik trennen wollen. Auf der anderen Seite gibt es die muslimischen Gläubigen, die ihre Religion als Teil ihrer Lebensweise und ihres politischen Handelns betrachten. Dieser Roman eignet sich besonders gut für den Literaturunterricht, indem ein heute noch brisantes und aktuelles Thema behandelt wird – als ein Thema, das im Unterrichtsrahmen mit Hilfe des Konzepts des dritten Raums ohne Wertung besprochen werden kann. Es erweist sich dabei unter anderem auch, dass die Polarisierung unter den MigrantInnen in Deutschland und in ganz Europa sowohl innerhalb der eigenen Community als auch der Aufnahmegesellschaft gegenüber zunehmend stark vorhanden ist. Die Suche nach Identität ist bei den jungen erwachsenen Jugendlichen mit oder ohne Migrations-geschichte in den letzten Jahren auf drastische Weise wichtiger geworden als in den Jahrzehnten zuvor; unsere über vierzehn Jahre gehende Unterrichtserfahrung mit Kursen dieser Art (und mit einer jährlichen Stichprobe von ca. 50 SchülerInnen) ließ und lässt uns diese Tendenz feststellen. Hier liegt sowohl ein Ursache- als auch ein Folgeprinzip vor. Denn es ist eine Tatsache, dass die pauschale Ablehnung und die daraus folgende Ausgrenzung dem politisierten Islam gegenüber innerhalb Europas sukzessive deutlicher und schärfer geworden ist. Diese politische Haltung löst bei den betroffenen Personen, die diese Fremdheitserfahrung erleben, oftmals die folgende Reaktion aus: Sie suchen eine Ankerstelle bei der Kultur ihrer Großeltern. Das ersehnte Zugehörigkeitsgefühl während der Identitätsbildung, insbesondere bei Jugendlichen, spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Aus diesem Grund halten wir es für pädagogisch und politisch wichtig, dieses Thema aufklärerisch auf der Basis des Konzepts des Dritten Raums mit literarischen und soziologischen Texten zu behandeln. Ehre In stark patriarchal ausgerichteten Gesellschaftsstrukturen kann ein Mann sich der normativen Macht dieser Begriffe nicht entziehen. Begriffe, die im Sinne von Bourdieu zum sozialen, aber auch zum symbolischen Kapital zählen, sind wichtige Bestandteile, die einem Ein- oder Ausschlussverfahren dienen. Dass Ehre satisfaktionsfähig macht und ein soziales Kapital ist, wird in Elif Shafaks Roman Ehre greifbar veranschaulicht:

Interkulturelle Begegnung in fiktionalen Welten

Ein Mann, den man um seine Ehre gebracht hatte, war ein toter Mann. Er konnte sich nicht mehr auf der Straße blicken lassen, es sei denn, er gewöhnte sich daran, den Blick ständig gesenkt zu halten. Er konnte nicht mehr ins Teehaus gehen und eine Runde Backgammon spielen oder sich in der Kneipe ein Fußballspiel ansehen. Ein solcher Mann ließ die Schultern hängen, ballte die Fäuste, seine Augen sanken tiefer in die Höhlen; er wurde zu einem apathischen Wesen, das sich mit jedem neuen Gerücht ein Stück weiter krümmte. Niemand hörte zu, wenn er sprach, sein Wort galt nicht mehr als getrockneter Dung. Die Zigarette, die er einem anderen anbot, blieb ungeraucht, jeder Kaffee, den er trank, schmeckte bitter. Aus Furcht, er könnte sein Unglück mitbringen, lud man ihn zu keiner Hochzeit, zu keiner Beschneidungsoder Verlobungsfeier mehr ein. Ausgeschlossen und von Schande umgeben schrumpfte er wie Dörrobst.34 Im Zusammenhang mit Literatur und Film kann leichter über Begriffe diskutiert werden, die in manchen Kulturen nur Fragen aufwerfen, und die damit verbundenen Probleme können formuliert werden. Eine wertende Kritik oder Äußerung gehört auch nicht zu unserem Unterrichtskonzept des dritten Raumes. Gerade dadurch, dass es in Literatur und Film um Figuren geht, die von AutorInnen oder RegisseurInnen inszeniert sind, können durch ein Unterrichtsgespräch über Inszenierungen bzw. Darstellungen produktive Distanzierungen und Verbalisierungsmöglichkeiten entstehen.

4.4.2

Filme

Dass es sowohl abhängig als auch unabhängig von Migrationssituationen ein sozusagen intergenerationelles Erwartungsprojekt gibt, wird auch an den folgenden drei Filmbeispielen deutlich; Männer sind geprägt von den Erwartungen der Älteren an sie, sie kämpfen dagegen an, können sich diesen Erwartungen aber kaum entziehen, verlieren gegen die »Institution Mann«. Manchmal – wie in dem ersten Filmbeispiel – übererfüllen sie die Erwartungen bis zur Unkenntlichkeit ihrer eigenen Person. Die LeserInnen sollten auch hier bemerken, dass zwei der im Folgenden interpretierten Filme nicht vor dem Hintergrund einer sogenannten Migrations-Problematik spielen.

34

Elif Shafak: Ehre. Zürich/Berlin: Kein & Aber AG 2014, S. 241ff.

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Aus einem deutschen Leben Dies ist ein weiterer Film, in dem ein Mann seinem inneren Programm folgt: In diesem Fall heißt es Befehl und Gehorsam. Der zentrale Satz des Films lautet: »Einem Befehl nicht zu gehorchen, ist mir physisch unmöglich.« In der Szene zuvor hat Else, die Ehefrau des Protagonisten Franz Lang und Mutter der gemeinsamen vier Kinder, entdeckt, dass ihr Ehemann den Befehl jüdische Menschen zu töten täglich ausführen lässt; er ist Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz. Die Filmfigur Franz Lang ist nach Rudolf Höß konstruiert, dem wirklichen Kommandanten von Auschwitz in den Jahren 1940-43. Lang/Höß wird in diesem Film ab seiner Zeit als Jugendlicher (zirca ab dem Alter 16) dargestellt; er ist 1901 geboren, versucht, sich im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger an die Front zu melden, wird aber mehrfach zurückgewiesen. Der Film stellt die familiäre Enge dar, die Autoritätsrolle in der Familie, die ihm die Mutter gegenüber den jüngeren Schwestern zuschreibt, seinen Mangel an emotionaler Bindung, die erst bei seinem Lazarettdienst im Kontakt mit einem Offizier eine Verwurzelungsmöglichkeit findet. Dieser nimmt sich väterlich seiner an, befiehlt ihm aber gleichzeitig einen fanatischen Glauben an Deutschland. Hier ergibt sich eine Möglichkeit für Franz, Identität zu entwickeln und jemand zu werden bzw. zu sein; der väterliche Freund verschafft ihm dann auch Zugang zu seiner kämpfenden Truppe. In einer Frontszene greift Franz nach der Möglichkeit, zum Helden zu werden, wofür er den Tod zweier Kameraden in Kauf nimmt bzw. indirekt herbeiführt. Die innere Programmierung wird bereits bei dem 16-jährigen Franz sichtbar: Der Befehl lautete, den vorgeschobenen Posten zu halten; er opfert die Kameraden für die Ehre, die er mit der blinden Befolgung eines Befehls erhält. Szenen dieser Art gibt es in den folgenden Jahren mehrere: In einer Maschinenfabrik (in der Franz sich weigert, sich solidarisch mit Arbeitskollegen zu zeigen, weil er den Anordnungen des Meisters glaubt folgen zu müssen); 1923 bei der Tötung eines NSDAP-Parteigenossen, der unter Verratsverdacht steht; bei der Befolgung des Befehls seines Dienstherrn (eines Junkers und Ex-Weltkriegs-Offiziers), eine von ihm ausgesuchte Frau zu heiraten. Eine weitere Schlüsselszene entsteht aus dem Befehl seines Dienstherrn, in die SSReiterstaffel einzutreten, die ein Freund des Dienstherrn, Heinrich Himmler, gerade gegründet hat. Er kann nicht anders als diesen Befehl zu befolgen, weil Himmler ihm sagt, das Vaterland brauche ihn an dieser für ihn vorgesehenen Stelle. Franz Lang würde gern Bauer bleiben und mit Frau und Kindern

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weiter auf der Pachtstelle des Junkers wirtschaften, aber er kann den »Befehl« nicht verweigern – faktisch ist es gar keiner, aber sein inneres Programm verbucht ihn als einen solchen. Seine Frau Else bemerkt diesen Unterschied und sagt das auch, sie kann ihn aber nicht dazu bewegen mit ihr das Landleben fortzuführen. Nach Beginn der Diktatur in Deutschland befiehlt ihn Himmler an verschiedene Posten in dem aufzubauenden Netz von Konzentrationslagern, zuletzt wird Lang Kommandant in Auschwitz, was einen großen Karrieresprung für ihn bedeutet. Hier deutet der Film auch die materiellen Angebote der NS-Diktatur an: Aufstieg in der SS für Männer aus allen gesellschaftlichen Schichten nach Leistung, Eignung und Befähigung. Die Szenen im Konzentrationslager Auschwitz zeigen Franz Langs Organisations- und Durchhalte-Fähigkeiten; seine Frau kümmert sich in der Dienstvilla um den inzwischen bürgerlich-gehobenen Haushalt und um die wachsende Kinderzahl. Die bereits angesprochene Schlüsselszene des Films spielt sich im Wohnzimmer der Dienstvilla in Auschwitz ab: Else hört bei einem Abendessen zufällig ein Gespräch zwischen Franz und seinen Kollegen mit, worin die täglichen Massentötungen angedeutet werden, und stellt hinterher ihren Mann zur Rede – der Filmplot ist so angelegt, dass sie bis dahin nichts über den Zweck von Auschwitz weiß. Der Streit ist heftig und endet so, dass Else sich einschließt. Der dieser Szene folgende Zeitsprung im Film zeigt, dass Else die Tätigkeit ihres Mannes akzeptiert, wenn sie erneut schwanger wird. Der Film endet mit der Szene eines Nachkriegsverhörs von Franz Lang durch einen britischen Offizier, der in dem Verhör zunächst die Befehlsdeterminiertheit von dessen Persönlichkeit in Frage stellt; die Zweifel, die Lang in diesem Verhör zeigt, beziehen sich aber nur auf die für Lang nach der Niederlage Deutschlands sichtbaren Mängel in Himmlers »Führerpersönlichkeit«, nicht auf den unmenschlichen Charakter der Befehle zur Massentötung. Insofern wird deutlich, dass Lang bis zum Schluss in der inneren Logik der NS-Diktatur lebt. Rudolf Höß, die wirkliche Person hinter der Filmfigur Franz Lang, befolgte übrigens den Befehl der Siegermächte, einen detailgetreuen Bericht über seine KZ-»Arbeit« zu verfassen und als Zeuge in den Nürnberger Prozessen aufzutreten. Er wurde zum Tod verurteilt und hingerichtet. Was erscheint uns nun als verallgemeinerbar an den Lebenshaltungen der Figur des Franz Lang?

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Vorab muss ein wenig über den Hintergrund dieses Films gesagt werden: Der Film kam 1978 ins Kino, die Initiative diesen Film zu drehen ging sehr stark von dem Schauspieler Götz George aus, der den Regisseur Theo Kotulla zu dem Film anregte, Geldgeber besorgte und die Hauptrolle übernahm. George hatte wohl auch familiengeschichtliche Motive, eine Persönlichkeit filmisch zu verkörpern, die den Karriere-Versuchungen erliegt, die mit einer Identifizierung mit Deutschland verbunden sein können, da sich sein Vater Heinrich George durch den Ruhm, Staatsschauspieler in der NS-Diktatur zu werden, zur Identifizierung mit dem Regime entschloss. Götz George verkörpert die Figur des Franz Lang nicht auf monströse Weise. Franz Lang erscheint als guter Familienvater und sorgender Ehemann; die Abspaltung des Kommandanten des Tötungslagers von dem Menschen Franz Lang gelingt auch darstellerisch. Dadurch wird seine Figur zu einer prototypischen Figur für jedes totalitäre Regime und löst sich von der spezifischen Monstrosität der SS-Welt. George und Kotulla gehen in ihrer Verkörperung dieses Persönlichkeitstyps über Hannah Arendts Interpretation des Persönlichkeitstyps von Adolf Eichmann hinaus, die diesen als banalen opportunistischen Bürokraten entlarvt zu haben glaubte35 . Wenn man die innere Programmierung dieses Persönlichkeitstyps noch abstrahiert von der Identifizierung mit Staat und Nation, dann ist das Modell übertragbar auf einige andere Sorten von Identitäts-Gewinnern: Kreuzzüglern, Konquistadoren, Inquisitoren, ideologiegesteuerten oder religiösen Fanatikern jeglicher Couleur – bis in die Jetztzeit, in Europa und weltweit. Gegen die Wand Cahit, die männliche Hauptfigur dieses Films, kann unseres Erachtens auf zwei verschiedene Weisen interpretiert werden: 1. Als Mann, der zerrissen lebt zwischen zwei in seiner Person unvereinbar erscheinenden Kulturen, in diesem Fall der traditionellen türkischen Kultur und der einer modernen Großstadt in Mitteleuropa;

35

Vgl. Peter Krause, Kann das Böse »banal« sein? Hannah Arendts Bericht aus Jerusalem, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 6 (2009), H. 1, URL: https://zeithistorische-forschungen.de/1-2009/4567, DOI: Druckausgabe: S. 153-158.

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2. Als klassische Alkoholiker-Persönlichkeit (mit »klassisch« ist gemeint: mit den Standard-Konflikten von dem Drogenkonsum untergeordneten Lebensverhältnissen und Beziehungen). Es ist gut möglich, dass die SuchtPersönlichkeit den Konflikt (1) erzeugt oder verstärkt.

Sibel, die weibliche Hauptfigur, zeigt Zerrissenheiten vom Typ (1), hat aber auch Konflikte, die strukturell ähnlich zum Typ (2) sind, da sie BorderlineZüge aufweist und akut suizidal ist. Auch hier ist es möglich, dass diese Persönlichkeitszüge den Konflikt (1) erzeugen oder verstärken. Sie möchte einen Katapultstart heraus aus ihren traditionellen familiären Bindungen realisieren; dafür ist ihr jedes Mittel recht, auch eine schnell geschlossene Ehe mit dem 20 Jahre älteren, ihr fast völlig unbekannten, ständig alkoholisierten Gläsersammler mit türkischem Hintergrund, bei dem sie dessen NichtVerwurzeltheit in der traditionellen türkischen Kultur sehr schnell spürt und bei dem sie auch das Gefühl hat, dass die Sprung- und Willkürhaftigkeit seiner Persönlichkeit ihr ihren gewünschten Katapultstart ermöglichen würden. Ihr vordergründiges Pech und langfristiges Glück besteht darin, dass dieser Mann sie anfängt zu mögen und sich schützend neben sie stellt: Cahit begeht im Affekt unter massivem Alkoholeinfluss einen Totschlag, um in direkter Reaktion auf eine massive gegen sie und ihn ausgesprochene Beleidigung36 ihre und seine Ehre zu retten. Das bringt ihn ins Gefängnis – und damit in den Zustand von Nüchternheit – und Sibel ins Exil nach Istanbul. Dort durchlebt 36

Filmszene Kapitel 11/20: Sibel erklärt Nico, dass sie von ihm in Ruhe gelassen werden möchte, Nico fasst sie an. Darauf reagiert Sibel ziemlich aggressiv: »Lass die Finger von mir! Ich bin eine verheiratete Frau. Ich bin eine verheiratete türkische Frau und wenn du mir zu nahekommst, bringt mein Mann dich um, kapiert!« (vgl. Filmszene Gegen die Wand, 1:04:15-1:04:22). Filmszene Kapitel 11/20: In der Bar wird Cahit von Nico ganz bewusst und gezielt provoziert, weil er zuvor erfahren hat, dass Sibel seine Ehefrau ist. Nico spricht Cahit an: »Sag mal, was bist du für einen beschissener Ehemann?« Cahit reagiert auf Nicos Beleidigungen mit »Nico, du quatschst zu viel.« Dies geschieht in ruhigem Ton, aber ohne ihn anzusehen. Nico – er ist griechisch-stämmig – weitet seine Beleidigungen aus, indem er auf den historischen Konflikt zwischen Türken und Griechen anspielt, wodurch Nationalität als kollektiver Identitätsfaktor ins Spiel kommt: Nico: »Ich will die türkische Frau griechisch ficken.« (vgl. Filmszene Gegen die Wand, 1:05:46-1:06:29). Cahit begeht daraufhin im Affekt den Totschlag. Diese Szene lässt folgende Interpretationsmöglichkeiten zu: Cahit reagiert darauf sowohl aus seinem Ehrgefühl heraus, das seiner habituellen Disposition immanent ist, als auch aus einer Haltung heraus, die zeigt, dass er von seiner nationalen Identitätszugehörigkeit trotz seiner unkonventionellen Lebensweise nicht total gelöst ist (vgl. weiter oben Typ (1).

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sie Alkohol- und Drogenexzesse, wird beinahe von drei ihr unbekannten, von ihr in ihrer »Ehre« verletzten Männern getötet und beginnt schließlich ein geregeltes Leben zu führen, mit einer festen Arbeitsstelle und als verantwortungsvolle Mutter. Bei beiden führt eine »Gegen-die-Wand«-Erfahrung zu einer vorher nur erahnbaren Möglichkeit ein neues Leben zu führen, jenseits der Zerrissenheiten durch Identifikationsversuche mit der traditionellen türkischen Kultur, mit der westlichen großstädtischen Individuums-Kultur oder mit den Exzessen durch Drogen-, Gewalt- oder Sex-Kulturen. Beide Hauptfiguren kommen »bei sich« an, allerdings erst ganz unten, das heißt, im Gefängnis, im Krankenhaus, also in prekären, improvisierten Lebensverhältnissen. Yol – Der Weg Der Regisseur Yılmaz Güney schrieb das Drehbuch um 1980 während der Militärdiktatur in einer Massenzelle im türkischen Gefängnis; die Geschichten seiner fünf Protagonisten sind aus den Erzählungen von Güneys Mitgefangenen entstanden (Vgl. Akın 2006, S. 1). Güney zeigt für seine Figuren das bedingungslose Unterworfen-Sein unter männliche Rollenbilder als Ehemann, ältester Bruder in einer Großfamilie, als Schwager, als Vater, als Jugendlicher – und das bei z.T. sichtbarer und spürbarer Menschlichkeit, Herzlichkeit, Sympathie oder Tragikomik. Die Rolle ist immer stärker als die Person. Der »Weg« entsteht in diesem Film als einzelner realer Weg eines jeden der fünf Männer während einer Beurlaubung vom Gefängnis zurück in die zum Teil zerstörten familiären oder häuslichen Verhältnisse, stellenweise ist Der Weg eine Metapher für die Härte und Unausweichlichkeit, in der ein Mann gezwungen ist, seiner Rolle zu folgen; er endet in den meisten Fällen in diesem Film mit dem gewaltsamen Tod der Beteiligten oder auch der zugehörigen Ehefrauen. Die Leitbegriffe sind Ehre/Entehrung, Schande, Verrat, Rache, Scham – abstrakte, aber emotional extrem aufgeladene Begriffe, die in dem Film Yol konkret werden.

5

Inhaltliches und methodisches Fazit

Im Rahmen dieser Unterrichtssequenz können Themen wie Leitbilder für männliche Identitäten in der christlich-westeuropäischen und in der türkisch-islamischen Gesellschaft sowie demokratische Grundwerte wie Menschenwürde, Meinungsfreiheit, das Recht auf Meinungs- und Religions-

Interkulturelle Begegnung in fiktionalen Welten

freiheit, das Recht auf Ausübung der eigenen Religion oder auch Probleme der Gleichstellung der Frauen in patriarchal dominierten Gesellschaften behandelt werden. Ein essentielles Thema der Unterrichteinheit ist Migration, welche für die kulturelle Heterogenität einer Kursgruppe in der gymnasialen Oberstufe eine der typischen Ursachen ist. Alle drei Romane und alle drei Filme kann man im dritten Raum interpretieren, indem man sowohl Identifikationen mit als auch Distanzierungen zu den ProtagonistInnen bei den KursteilnehmerInnen bremst und einen gleichmütigen Blick zu entwickeln hilft. Dadurch entsteht die Möglichkeit, mehreren Kulturen oder Lebensformen, eventuell auch einem zeitweise divergierenden Zusammenleben, mit Distanz und Respekt und eventuell sogar mit Akzeptanz zu begegnen. Für die Analyse der drei Romane sind selbstverständlich Texte aus der Sekundär- und sozialwissenschaftlichen Literatur notwendig. Hierzu beschäftigt sich die Kursgruppe, wie bereits oben angedeutet, mit soziologischen Texten von P. Bourdieu, E.H. Erikson und A. Strauss sowie mit diversen Sachtexten, in denen die kulturelle Identität und Identitätsbildung als unabgeschlossen und prozesshaft, aber auch gleichzeitig als geschlechtsund klassenspezifisch differenziert und dynamisch bestimmt werden. Die Funktion des Kulturellen bei der Identitätsbildung sowohl für die individuelle als auch für die kollektive Identität wird als historisch-sozialer Prozess hervorgehoben; die Vorstellung von Bewahrung der kulturellen Identität wird dadurch ein unrealistisches Konstrukt37 . Die Gestaltung unserer Kurse »Leitbilder für männliche Identitäten« (die zwangsläufig auch Leitbilder für weibliche Identitäten thematisieren) hat die Zielsetzung, Literatur im Unterricht für interkulturelles Lernen einzusetzen. Darüber hinaus werden Lernmethoden gefördert, die im Kontext von Interkulturalität eine Analyse von Männer- bzw. Frauenbildern aus dem Umfeld westlicher Kulturen zusammen mit den Männer- oder Frauenbildern aus muslimisch-arabisch geprägten Kulturen verorten helfen und Elemente und Methoden der Interpretation von Erzähltexten vermitteln, um Kulturen, in denen männliche oder weibliche Sozialisationen vollzogen werden, durch Literatur kennenzulernen. Dabei werden Informationen über gesellschaft-

37

Vgl. Gisela Feuerle: Interkulturelles Leben und Lernen. In: Lernen über das Abitur hinaus. Erfahrungen und Anmerkungen aus dem Oberstufen-Kolleg Bielefeld. Seelze: Kallmeyer 1999, S. 160.

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liche Bedingungen sowie über interkulturell entstandene Lebensweisen einbezogen.

Literatur Bhabha, Homi K.: »Vorne vom Golf, hinten aus Soho.« Interview in der FAS vom 31.1.2010, Feuilleton S. 22, Interviewer Harald Staun. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Aus dem Englischen übersetzt von M. Schiffmann und J. Freudl. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2000. Bourdieu, Pierre: Eine symbolische Revolution. Manet. Vorlesungen am Collège de France 1998-2000. Mit einem unvollendeten Manuskript von Pierre Bourdieu und Marie-Claire Bourdieu. Herausgegeben von Casanova, Pascale (et al.), Berlin: Suhrkamp Verlag 2015. Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft: Zur Theorie des Handelns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn: Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. Erikson, E.H.: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a.M. 1973, S. 136-147. Feuerle, Gisela: Interkulturelles Leben und Lernen. Herausgegeben von Ludwig Huber, in: Lernen über das Abitur hinaus. Erfahrungen und Anmerkungen aus dem Oberstufen-Kolleg Bielefeld. Kallmeyer, 1999, S. 152-164. Frisch, Max: Homo Faber, Roman. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 1957. Hofmann, Michael: Interkulturelle Literaturwissenschaft: Eine Einführung. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2006. Müller-Funk, Wolfgang: Kulturtheorie. Einführung in Schlüsseltexte der Kulturwissenschaft. A. Francke UTB 2006, 1. Auflage. Özdoğan, Selim: Wieso Heimat, ich wohne zur Miete. Roman. InnsbruckWien: Haymon Verlag 2016. Pamuk, Orhan: Schnee. Roman: Fischer Verlag 2007, 2. Auflage. Shafak, Elif: Ehre. Roman. Zürich-Berlin: Kein & Aber AG 2014. Spivak, Gayatri C.: Can the Subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia und Kant 2 2014 (Orig. 1988). Strauss, Anselm: Spiegel und Masken. Die Suche nach Identität. Ffm: 1974, S. 21 -23, S. 36-43 (Original 1959).

Interkulturelle Begegnung in fiktionalen Welten

Suter, Martin: Business Class. Geschichten aus der Welt des Managements, Diogenes 2000. Suter, Martin: Business Class. Neue Geschichten aus der Welt des Managements. Diogenes 2002. Von Matt, Peter: Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur. München: Hanser 2017.

Filme Aus einem deutschen Leben (D, 1977, Theo Kotulla, 145 min.) Gegen die Wand (D, 2004, Fatih Akın, 121 min.) Yol – Der Weg (TR, 1982, Şerif Gören, 114 min.)

Online-Quellen Abbate, Sandro: »Literatur zwischen den Kulturen. Ein Gespräch über interkulturelle Literatur mit dem Lyriker und Literaturwissenschaftler Carmine Gino Chiellino«. http://novelero.de/literatur-zwischen-den-kulturen (13.12.2015). Johnston, Sheila: Fatih Akın talks to Sheila Johnston about Yılmaz Güney and Şerif Gören’s Yol. The Telegraph Online, 26.02.2006. https://www.telegraph.co.uk/culture/film/filmmakersonfilm/3650462/Film-makers-on-fil m-Fatih-Akin-on-Yilmaz-Guney-and-Serif-Gorens-Yol-1982.html (26.02.2006). King, Vera: Bildungs- und Adoleszenzkrisen im Kontext von Migration. Psychotherapeut 62, 410-416 (2017). https://doi.org/10.1007/s00278-017-02175

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Möglichkeiten des Filmeinsatzes im DaF-Unterricht: Am Beispiel des Films Haymatloz: Exil in der Türkei (2016) Anna Khalizova

Abstract. Medialization has changed and shaped many areas of life. This also applies to modern teaching in German schools. The focus of this article is above all on film as one of the numerous media and its potential in the context of German lessons. Film forms an attractive learning object and a multifaceted learning medium in German lessons. With regard to terms such as multiculturalism and interculturality, the article focuses on a film with an intercultural background. Haymatloz: Exil in der Türkei (2016) is a documentary by the German-Turkish filmmaker Eren Önsöz, showing the fate of Germany’s academic elite in Turkish exile during National Socialism. The film illuminates the forgotten, but still significant chapter of common German-Turkish history and offers a new perspective on Turkey and the people living there. It shows how Jewish Germans lived in exile in Turkey. The film opened the 21. Filmfestival Türkei Deutschland in Nuremberg (Germany), 2016. By analyzing the film Haymatloz: Exil in der Türkei the following article demonstrates possibilities of using the medium film in the context of DaF lessons.

1

Einleitung

Die Medialisierung hat viele Lebensbereiche verändert und geprägt. Das betrifft auch den modernen Unterricht an den deutschen Schulen. Im Fokus des vorliegenden Beitrags steht vor allem Film als eines der zahlreichen Medien und insbesondere dessen Potenzial im Rahmen des Deutschunterrichts. Film bildet einen reizvollen Lerngegenstand und stellt zudem ein facetten-

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reiches Lernmedium im Deutschunterricht dar. Im Hinblick auf Begriffe wie Multikulturalität und Interkulturalität fokussiert der Beitrag einen Film mit einem interkulturellen Hintergrund. Haymatloz: Exil in der Türkei ist ein Dokumentarfilm der deutsch-türkischen Filmemacherin Eren Önsöz aus dem Jahr 2016, der das Schicksal jüdischen WissenschaftlerInnen Deutschlands im türkischen Exil während des Nationalsozialismus thematisiert. Der Film beleuchtet das weitestgehend vergessene, aber dennoch bis heute bedeutsame Kapitel gemeinsamer deutsch-türkischer Geschichte und bietet eine neuartige Perspektive auf die Türkei und die Menschen, die dort leben. Es wird verdeutlicht, auf welche Weise Deutsche in die Türkei emigrierten und dort versuchten, ein neues Leben zu beginnen. Der Film eröffnete 2016 das 21. Filmfestival Türkei Deutschland in Nürnberg. Der Artikel hat es sich zum Ziel gesetzt, Möglichkeiten des Einsatzes dieses Films vor allem im Rahmen des DaF-Unterrichts aufzuzeigen. Schließlich stellt der Beitrag ein entsprechendes Didaktisierungsmodell vor.

2

Medium Film

Die Geschichte des Films reicht zurück bis in die Zeit zum Ende des 19. Jahrhunderts. Als die Geburtsstunde des (Kino-)Films gilt der 28.12.1895, das Datum, an dem die Brüder Lumière zum ersten Mal einen Filmstreifen öffentlichem Publikum zeigten (Klant/Spielmann 2008, Abraham 2009). In Deutschland war Oskar Messter derjenige, der mit seinem »Kinematographen« 1896 die Voraussetzungen für eine deutsche Filmindustrie schuf.1 Filme gehören zu den audiovisuellen Medien. Audiovisuell bedeutet gleichzeitige Hör- und Sichtbarkeit.2 Der Begriff »Film« wird aus dem Englischen als »Häutchen« bzw. »dünne Schicht« übersetzt und bezeichnet […] erstens lichtempfindliches Material für fotografische Zwecke, zweitens die Folge von mehreren Einzelbildern, die bei einer Frequenz von mindes-

1 2

Vgl. Michael Klant & Raphael Spielmann: Grundkurs Film: Kino, Fernsehen, Videokunst. Materialien für die Sek. I und II. Hannover 2008. Vgl. Michael Staiger: Audiovisuelle Medien im Deutschunterricht, in: Frederking, Volker, Krommer, Axel, Möbius, Thomas & Ulrich, Winfried (Hg.): Medien im Deutschunterricht. Deutschunterricht in Theorie und Praxis Bd. 8. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2014, S. 236. Abraham, Ulf: Filme im Deutschunterricht. Seelze: Klett Kallmeyer 2009.

Möglichkeiten des Filmeinsatzes im DaF-Unterricht

tens ca. 16 bis 18 Bildern pro Sekunde aufgrund der Trägheit des menschlichen Auges den Eindruck einer kontinuierlichen Bewegung erzeugen und drittens die gesamte Filmwirtschaft mit dem Kino als wichtigem Abspielort.3 Film als Medium hat einen festen Platz im modernen Alltag der meisten Menschen eingenommen. Ca. 105 Millionen Mal jährlich werden in Deutschland Kinovorstellungen besucht, etwa viermal so oft wie Theatervorstellungen4 . Im Vergleich dazu verbringen die Deutschen täglich fast vier Stunden (221 Minuten) vor dem Fernseher5 . Obgleich selbstverständlich zu konstatieren ist, dass gravierende Unterschiede zwischen der Rezeption eines Films im Setting eines Kinobesuchs und einer solchen, die im privaten oder schulischen Bereich stattfindet, bestehen, werden diese im vorliegenden Beitrag nicht weiter verfolgt, handelt es sich doch um einen Vorschlag zur Verwendung eines Films im angeleiteten DaF-Unterricht.

3

Filme im Deutschunterricht

Filme haben einen festen Platz nicht nur in unserem Alltag, sondern auch im Unterricht eingenommen. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts nimmt der Teil des Lebens, der medial bestimmt ist, immer mehr zu. Im schulischen Fächerkanon gibt es kein eigenes Fach wie etwa »Audiovisuelle Medien« oder »Film«. Infolgedessen werden Filme in mehreren Fächern, wie etwa im Deutschunterricht, im Fremdsprachenunterricht oder im Geschichts-, Kunst- und Musikunterricht zu eigenen Unterrichtsgegenständen.6 Filme sind somit nicht 3

4

5

6

Michael Staiger: Audiovisuelle Medien im Deutschunterricht, in: Frederking, Volker, Krommer, Axel, Möbius, Thomas & Ulrich, Winfried (Hg.): Medien im Deutschunterricht. Deutschunterricht in Theorie und Praxis Bd. 8. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2014, S. 236. Vgl. Statistisches Bundesamt: Besucherzahlen und Bruttoeinnahmen der Kinos in Deutschland in den Jahren 1999 bis 2018, zitiert nach de.statista.com 2018, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/37631/umfrage/entwicklung-derbesucherzahlen-und-einnahmen-von-kinos-seit-1999/ (14.06.2020). Vgl. O.A.: Fernsehstudie: So viel Zeit verbringen die Deutschen vor dem TV, in: Welt, 30.09.2019. https://www.welt.de/vermischtes/article132768358/So-viel-Zeitverbringen-die-Deutschen-vor-dem-TV.html (14.06.2020). Vgl. Michael Staiger: Audiovisuelle Medien im Deutschunterricht, in: Frederking, Volker, Krommer, Axel, Möbius, Thomas & Ulrich, Winfried (Hg.): Medien im Deutschunterricht. Deutschunterricht in Theorie und Praxis Bd. 8. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2014, S. 242.

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curricular verankert, obwohl es zahlreiche Vorschläge und Forderungen für eine curriculare Verankerung der Filmbildung in Schule und Lehrerbildung gibt. Filme können jedoch im Deutschunterricht (sowohl im muttersprachlichen als auch im DaZ-/DaF-Unterricht) sehr vielfältig eingesetzt werden. Wurden Filme im muttersprachlichen Deutschunterricht lange Zeit kaum berücksichtigt, so stellen sie heute im DaZ-/DaF-Unterricht ein beliebtes Lernmedium dar. Abraham7 verweist darauf, dass die audiovisuellen Medien und vor allem Film lange Zeit sowohl in der Literaturwissenschaft als auch in der Fachdidaktik (mit Ausnahme von Literaturverfilmungen) nicht nur vernachlässigt worden sind, sondern darüber hinaus mitunter sogar auch »defensiv aufgenommen«8 wurden. Mit Filmgesprächen, Analyse filmischer Mittel (als medienspezifische Ausdrucksmöglichkeiten) und Schreiben zu Filmen kann mitgebrachtes, meist in außerschulischen Zusammenhängen erworbenes implizites Wissen bewusst gemacht und in kompetente Mediennutzung überführt werden. Daher ist die didaktische funktionale Beschreibung audiovisueller »Texte« ein wichtiger Beitrag zu einem medienreflexiven Deutschunterricht. Darüber hinaus schärfen Filme das Bewusstsein für Zeichen und Symbolik überhaupt. Sie reizen zu Äußerung, Gespräch, Diskussion, Deutung und Kritik. Und sie fordern Gestaltungsversuche in der linearen Schriftlichkeit ebenso heraus wie in spezifischen Formen der Medienproduktion. Das große Potenzial, das die AV-Medien zur Befruchtung nicht nur der Arbeit an Medien im Deutschunterricht, sondern auch in den Lernbereichen Sprechen und Schreiben mitbringen, ist noch gar nicht wirklich ausgeschöpft.9 Das weltweite fachdidaktische Interesse am Einsatz von Filmen im DaFUnterricht nimmt kontinuierlich zu.10 So nennt Köster11 neben der Attraktivi-

7 8 9 10

11

Vgl. Ulf Abraham: Filme im Deutschunterricht. Seelze: Klett Kallmeyer 2009, S. 7. Schörkhuber 2003, S. 8 zitiert nach: Abraham, Ulf: Filme im Deutschunterricht. Seelze: Klett Kallmeyer 2009. Vgl. ebd. S. 7. Vgl. Dietmar Rösler: Die Funktion von Medien in Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache-Unterricht, in: Krumm, Hans-Jürgen (Hg.): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin u.a.: de Gruyter Mouton 2010, S. 1200. Vgl. Lutz Köster: Film, in: Oomen-Welke, Ingelore & Ahrenholz, Bernt (Hg.): Deutsch als Fremdsprache. Deutschunterricht in Theorie und Praxis Bd. 10. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2013, S. 242f.

Möglichkeiten des Filmeinsatzes im DaF-Unterricht

tät des Mediums und der Motivation der Lernenden folgende Begründungen, die auch als Ziele des Filmeinsatzes aufgefasst werden können: • •











Filme üben die »übersehene 5. ›Fertigkeit‹«, das Seh-Verstehen12 bzw. HörSeh-Verstehen aus; Filme werden in der Wechselwirkung von Emotion und Kognition erlebt und verlangen aufgrund der Darstellung von »Welt« persönliche Reaktionen und Stellungnahmen; Filme bilden authentische Kulturprodukte, die die Zielsprache kontextualisieren und auch nonverbale und paraverbale Aspekte von Kommunikation zeigen; Filme schaffen Voraussetzungen für interkulturelles Lernen, eine Reflexion eigen- und fremdkultureller Phänomene sowie eine Bewusstmachung monokultureller Einstellungen und Haltungen; Filme fördern den Ausbau transmedialer Kompetenzen (wenn sie nicht als sekundäres Vergleichsmedium der Lektüre nachgeordnet sind und als Literaturverknüpfung angesehen werden); Dadurch, dass Filme nun digital verfügbar sind, sind sie vielfältig einsetzbar, wie etwa in rezeptiven und deutlich verstärkt auch in produktiven Übungsformen; Filme erfordern eine mediendidaktische, analytische Beschäftigung mit ihren Gestattungsmitteln, die zu einer adäquaten, auch evaluativen Rezeptionskompetenz führt.

Die Auswahl geeigneter Filme zum Einsatz im DaF-Unterricht richtet sich generell nach den didaktischen Kriterien für Unterrichtsmaterialien, wie etwa inhaltliche und sprachliche Angemessenheit und Lernzielbezug sie darstellen. Dokumentarfilme sind oftmals »begehrtes landeskundliches Material im Fremdsprachunterricht«13 , präsentieren jedoch als ebenso künstlerische Werke wie Spielfilme auch eine mehrfach gefilterte Wirklichkeit. Brandi14 beschäftigt sich deswegen in ihrer Reflexion dokumentarischer Filme vor allem

12 13

14

Inge Christine Schwerdtfeger: Sehen und Verstehen: Arbeit mit Filmen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Berlin: Langenscheidt 1989, S. 24. Marie-Luise Brandi: Video im Deutschunterricht: Eine Übungstypologie zur Arbeit mit fiktionalen und dokumentarischen Filmsequenzen. Berlin: Langenscheidt 1996, S. 85. (Fernstudieneinheit 13). Vgl. ebd.

321

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mit filmanalytischen Aspekten. Nicht didaktisierte Filme findet man in großer Zahl z.B. auf den Internetseiten der Mediatheken von ZDF, ARD und anderen Fernsehsendern. Insgesamt werden recht wenige didaktisierte Filme von DaF-Verlagen angeboten.15

4

Deutsch-türkische Filme

Ein hoher Stellenwert in der heutigen plurikulturellen Gesellschaft kommt Filmen mit einem interkulturellen Hintergrund zu, wie das z.B. beim deutsch-türkischen Film der Fall ist. Der deutsch-türkische Film, der sich in den 1970er Jahren aus dem sogenannten »Migrantenkino« entwickelt hat und seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend differenziert vom Leben in zwei Kulturen sowie den kulturellen Wechselwirkungen und Konflikten erzählt, wird immer populärer.16 Mit dem Film Gegen die Wand von Fatih Akın erreichte die deutsch-türkische Filmgeschichte im Jahr 2004 ihren Höhepunkt.17 In der deutschen Fachliteratur wird der deutsch-türkische Film kaum eigenständig behandelt.18 Beim Begriff des »deutsch-türkischen Kino« handelt es sich um einen Hilfsbegriff, den hauptsächlich die deutschen Medien für die Filme von türkischstämmigen RegisseurInnen geschaffen haben. Die »deutschtürkischen« Filme, die vor den 1990er Jahren im deutschen Kino keine große Beachtung fanden, handeln zumeist noch vom Leben zwischen den Kulturen und sind somit größtenteils als essentialistische Schilderungen zu sehen. Erst später entstehen Filme deutlich anderer Prägung: Es sind Geschichten, die bis dahin noch niemand gewagt hat zu erzählen. Es geht um die Befreiung von Klischees und Rollenerwartungen, um eine neue Selbstverständlichkeit und Normalität der Lebenswirklichkeit junger Deutsch-Türken. Die Identität wird gelebt, statt sie, wie im »Migrantenfilm«, zum Problem zu machen. Gleichzeitig geht es darum, sich den Kulturen die

15

16

17 18

Vgl. Lutz Köster: Film, in: Oomen-Welke, Ingelore & Ahrenholz, Bernt (Hg.): Deutsch als Fremdsprache. Deutschunterricht in Theorie und Praxis Bd. 10. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2013, S. 244. Vgl. Diana Schäffler: Das Kino der doppelten Kulturen. Migration als filmisches Thema im deutsch-türkischen Film anhand ausgewählter Beispiele. München: GRIN Verlag 2006, S. 6. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 7.

Möglichkeiten des Filmeinsatzes im DaF-Unterricht

aufeinanderprallen mit einer gewissen Distanz zu nähern. Es sind Stoffe, die aus der Mitte der Gesellschaft entspringen.19 Schäffler20 definiert das »deutsch-türkische Kino« als Subgenre des »Cinéma du métissage«. Das »Cinéma du métissage« bezeichnet ein Kino, das vom Leben in einer durch mindestens zwei Kulturen geprägten Wirklichkeit erzählt. Zu den bekanntesten deutsch-türkischen RegisseurInnen gehören Fatih Akın (Tschick [2016], The Cut [2014], Crossing the Bridge – The Sound of Istanbul [2005], Gegen die Wand [2004]), Yasemin Şamdereli (Almanya – Willkommen in Deutschland [2011], Alles getürkt! [2003]), Züli Aladağ (Brüder [2017], 300 Worte Deutsch ]2013], Wut [2006]), Özgür Yıdırım (Liebe auf Türkisch [2003]) und Eren Önsöz (Haymatloz: Exil in der Türkei [2016]). Seit ihrer Entstehung durchliefen deutsch-türkische Filme verschiedene Stationen in ihrer Entwicklung. In der einschlägigen Literatur werden deutsch-türkische Filme vor allem nach Themen und dem Entstehungsjahr klassifiziert. El Hissy21 unterscheidet drei Hauptphasen: 1. Phase der Betroffenheit, Opferfiguren und Figuren nach der Identität an einem neuen Aufenthaltsort; 2. Phase der interkulturellen Themen, in der die Türkei dem Einwanderungsland gegenübergestellt wird; 3. Phase der transkulturellen Themen und humoristischen Darstellung.

Im Unterschied zu der ersten Phase tritt die Migration in der letzten bzw. aktuellen Phase als Thema in den Hintergrund und wird überwiegend nicht mehr berücksichtigt. Schäffler22 kategorisiert die Werke deutsch-türkischer FilmemacherInnen nach Dekaden mit einer weiteren Beschreibung der entsprechenden Schwerpunkte: 19 20 21

22

Vgl. ebd., S. 9. Vgl. ebd. Vgl. Maha El Hissy 2012, S. 203f zitiert nach: Chmielewska, Kamila: Von Angst essen Seele auf bis Almanya – deutsch-türkische Filme im interkulturellen Fremdsprachenunterricht. Glottodidactica, Vol. 41, No 1 (2014), S. 132. https://pressto.amu.edu.pl/index.php/gl/article/view/1421/1851 Vgl. Diana Schäffler: »Deutscher Film mit türkischer Seele«. Entwicklungen und Tendenzen der deutsch-türkischen Filme von den 70er Jahren bis zur Gegenwart. Saarbrücken: VDM Verlag Müller 2007, S. 19-33.

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1. 1970er Jahre – das Kino der Fremdheit; 2. 1980er Jahre – MigrantInnen übernehmen das Steuer; 3. 1990er Jahre bis heute – die zweite und die dritte Generation übernehmen die Initiative.

Nach Thiele23 gliedern sich deutsch-türkische Filme in solche, die eine hybride Identität der Figuren darstellen sowie Rassismus und Diskriminierung kritisieren, und in solche, in denen Stereotypen, Klischees und/oder die exotische Herkunft der Figuren betont werden. Im Folgenden wird näher auf den Film Haymatloz: Exil in der Türkei aus dem Jahr 2016 eingegangen, der im Gegensatz zu Filmen, die mittels der vorgestellten Typologien erfasst werden können, eine ungewöhnliche Perspektive auf Migration anhand einer Erzählung über das politische Exil darstellt. Önsözs Werk kann aufgrund seiner Verfasstheit als deutsche Dokumentarfilmproduktion einer in der Türkei geborenen, in Deutschland lebenden Regisseurin und nicht zuletzt durch sein Thema, nämlich die Exilierung deutscher Juden und Jüdinnen in die Türkei zur Zeit des Nationalsozialismus, ein Alleinstellungsmerkmal zugesprochen werden.

4.1

Der Film Haymatloz: Exil in der Türkei

In ihrem Dokumentarfilm präsentiert die Filmemacherin Eren Önsöz fünf Lebensgeschichten von NachfahrInnen jüdischer ExilantInnen, die nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 aus Deutschland in das unbekannte Exilland Türkei fliehen mussten. Zahlreiche ProfessorInnen, die durch das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« ihre Stellungen an deutschen Universitäten verloren hatten, wurden vom damaligen Staatspräsidenten Mustafa Kemal Atatürk in die Türkei eingeladen, um an der von ihm initiierten Universitätsreform mitzuwirken. Die Reform hatte zum Ziel, die Türkei nach dem westlichen Vorbild zu reformieren. »Bringen Sie uns Ihre Leute und wir werden folgen. Wir können unsere Jugend nicht nach Europa schicken, aber wir wollen und können eine europäische Universität hier auf-

23

Vgl. Matthias Thiele 2009, S. 186 zitiert nach: Chmielewska, Kamila: Von Angst Essen Seele auf bis Almanya – deutsch-türkische Filme im interkulturellen Fremdsprachenunterricht. Glottodidactica, Vol. 41, No 1 (2014), S. 127-39. https://pressto.amu.edu.pl/index.php/gl/article/view/1421/185.

Möglichkeiten des Filmeinsatzes im DaF-Unterricht

bauen.«24 Deutsche WissenschaftlerInnen konnten sich in der Türkei wesentlich am Aufbau eines modernen Universitätssystems einbringen und waren somit an der Europäisierung des Landes beteiligt. Die ProtagonistInnen des Dokumentarfilms sind Susan Ferenz-Schwartz, Kurt Heilbronn, Enver Tandoğan Hirsch, Elisabeth Weber-Belling und Engin Bagda, die alle in der Türkei aufgewachsen sind. Letzterer begleitet die ProtagonistInnen auf Reisen in die Türkei, in die Schweiz und nach Deutschland und lässt sie einzeln davon erzählen, wie es ihnen damals erging und wie sie auf ihr Leben zurückschauen. Die Erzählung setzt mit dem Schicksal von Susan Ferenz-Schwartz ein, einer in Frankfurt a.M. geborenen 84-jährigen Psychiaterin aus der Schweiz. Ihr Vater, der Pathologieprofessor Philipp Schwartz, floh vor den Nazis 1933 nach Zürich und gründete dort die Organisation »Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland«, die über 2600 AkademikerInnen aus Deutschland und Österreich zur Flucht verhalf. Ein Drittel der Betroffenen gelangte so in die Türkei. Im gleichen Jahr flüchtete die Familie in die Türkei. Anschließend kommt Kurt Heilbronn zu Wort, ein Psychologe aus Deutschland, dessen Vater Alfred Heilbronn das Botanische Institut in Istanbul mitbegründete. Heilbronn fühlt sich der Türkei bis heute zutiefst verbunden. Als Therapeut ist er regelmäßig in Istanbul unterwegs: »Ich denke, dass ich der Türkei etwas wiedergebe. Es ist quasi so ein Dankeschön an das Land, das meinem Vater die Möglichkeit gegeben hat, zu überleben.«25 Enver Tandoğan-Hirsch ist der einzige Interviewpartner, der nicht fließend Türkisch spricht, was daraus resultiert, dass er im Kindesalter die Schule in der Türkei nicht abschloss. Sein Vater, Ernst Eduard Hirsch, hatte damals den Lehrstuhl für Handelsrecht an der Universität in Istanbul inne. Elisabeth Weber-Bellings Vater, der Künstler Rudolf Belling, übernahm die Bildhauersektion an der Mimar Sinan Universität der bildenden Künste. Anders als die anderen ProtagonistInnen wusste Engin Bagda, der Enkel des Chemikers Otto Gerngross, der die landwirtschaftliche Hochschule in Ankara aufbaute, dass er später nach Deutschland gehen würde. Er bezeichnet sich selbst als »Zwitter« und spricht davon, seinen Kindern einen solchen Zustand erspart haben zu wollen. Interessanterweise möchte er jedoch am Bosporus, wo er 1951 geboren wurde, begraben werden. Dort befindet sich auch das Grab seiner Eltern. Der Film wird zu einem Porträt von Menschen, die in einem Raum zwischen unterschiedlichen Kulturen aufwuchsen und die sich 24 25

00:06:24 Titel? 00:28:50

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ihr Leben lang mit dieser interessanten und außergewöhnlichen deutschjüdisch-türkischen Geschichte auseinandersetzen. Die Spuren der deutschen EmigrantInnen in der Türkei bleiben bis heute unvergessen. Viele junge DozentInnen und StudentInnen erinnern sich mit Dankbarkeit an dieses Erbe, das an den zahlreichen Fakultäten in Ankara und Istanbul geschaffen wurde. Im Film wird deutlich, wie präsent Europa in der Türkei ist und wie eng die beiden Länder tatsachlich miteinander verbunden sind. Der Film wurde 2016 gedreht, aus diesem Grund wird zum Ende Films auch ein Bezug zur Türkei der Gegenwart hergestellt.

5

Didaktisierung des Films Haymatloz: Exil in der Türkei

Zentral für den DaF-Bereich sind vier grundlegende sprachliche Fertigkeitsbereiche: Hören, Lesen, Sprechen und Schreiben. Aus diesem Grund unterstützen alle im Folgenden vorgestellten Aufgaben Fertigkeiten in diesen Kompetenzbereichen. Die Aufgaben sind für eine höhere Niveaustufe (B2) ausgelegt.26 Im Folgenden werden einige Aufgaben als methodisch-didaktisches Material für die Arbeit mit dem Film Haymatloz: Exil in der Türkei im DaFUnterricht (GER B2) vorgestellt. Für den Einsatz im Unterricht können DaF-Lehrende aus diesen Aufgaben ein Filmheft vorbereiten. Mittels dieses Filmhefts sollen unterschiedliche Fertigkeiten der DaF-Lernenden gefördert und ausgebaut werden. Als erster Schritt soll versucht werden, durch die Arbeit am Filmplakat zu Haymatloz: Exil in der Türkei das (zumeist unbewusste) filmische Vorwissen der Lernenden zu aktivieren.

26

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass alle Übungen in den Aufgaben auch für die Wortschatzarbeit genutzt werden können, obwohl es keine explizit formulierten Aufgaben dazu gibt. Im Kontext des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens wird der Wortschatz als Werkzeug betrachtet, das benutzt wird, um kommunikative Fähigkeiten und Fertigkeiten zu ermöglichen.

Möglichkeiten des Filmeinsatzes im DaF-Unterricht

Abb. 1: Filmplakat Haymatloz: Exil in der Türkei (2015). Buch und Regie: Eren Önsöz. [https://www.haymatloz.com].

5.1

Vor der Filmsichtung: Erste Impulse

Ein Plakat stellt in der Regel einen frühen Kontakt mit einem Film her. Bereits beim ersten Betrachten werden Assoziationen geweckt und seitens der RezipientInnen Vermutungen über den Filminhalt wie auch über seine Figuren, seinen Spielort und mögliche Konflikte angestellt.27 Auch das Genre 27

Vgl. Manuela Bauer/Natalia Hahn: Ausgerechnet Sibirien: Filmheft für den DaFUnterricht/Sprachniveau B2. Freiburg: Pädag. Hochschule 2014, S. 3. https://phfr.bsz-

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des Films lässt sich oftmals aus dem Filmplakat herauslesen. Um den Zugang zum Film im Unterricht möglich realitätsnah zu gestalten, wird zunächst das Plakat analysiert. Dabei ist es wichtig, den Lernenden das Plakat nicht nur als Bild vorzulegen, sondern gezielt auf bestimmte Aspekte aufmerksam zu machen, damit das Plakat als Ergänzung des Films richtig gelesen und verstanden werden kann. In diesem Sinne ist auch die einleitende Aufgabe zu sehen:   Aufgabe 1: Beantworten Sie folgende Fragen zu den Eckdaten des Films und eine kurze Filmbeschreibung. 1. 2. 3. 4.

Um welchen Film handelt es sich? Wer hat das Szenario geschrieben? Wo finden wir heute Informationen zum Film? Was möchte die Regisseurin wohl beim Publikum bewirken?

In einem zweiten Schritt soll das Filmplakat näher analysiert werden, damit die Neugier der Lernenden auf den Film geweckt werden kann.   Aufgabe 2: Analyse des Filmplakats a. Welches Motiv wird abgebildet? b. Was verrät das Plakat über den Inhalt des Films? An welche Zielgruppen richtet sich das Plakat? c. Worauf weist der Filmtitel inhaltlich hin? Was verrät der Filmtitel über die Handlung?

Im Anschluss wird gemeinsam mit den DaF-Lernenden der Film angeschaut.

5.2

Nach der Filmsichtung: Authentizität und Subjektivität im Dokumentarfilm

Das didaktische Ziel im Umgang mit dem Dokumentarfilm besteht unter anderem in der Sensibilisierung der Lernenden für die Perspektivität des

bw.de/frontdoor/index/index/searchtype/collection/id/21011/docId/411/start/5/rows/ 10

Möglichkeiten des Filmeinsatzes im DaF-Unterricht

Films.28 Von daher könnte im Anschluss an die Filmsichtung zunächst eine kurze Diskussion angeregt werden, um den hinterlassenen Eindruck des Films zu reflektieren. »Einerseits ist ein Dokumentarfilm authentisch und operiert mit realen Fakten. Andererseits stellt er aber eine der möglichen Perspektiven der Wirklichkeit dar«29 . Henseler et al. weisen darauf hin, dass der Dokumentarfilm »[…] häufig zwischen den Polen Subjektivität vs. Objektivität, Fiktionalität vs. Nicht-Fiktionalität, Wahrheit vs. Wirklichkeit [verläuft].«30 In den folgenden Aufgaben 5.2.1-5.2.3 werden sowohl thematische als auch filmanalytische Aspekte des Filmes, wie etwa Authentizität und Subjektivität behandelt. In der Aufgabe 5.2.1 sollen die Lernenden die genannten InterviewpartnerInnen erkennen und kurz erläutern, in welcher Verbindung diese Menschen zu der berichteten Geschichte stehen. Anhand der konkreten historischen Figuren und Beispiele aus dem Film können die DaF-Lernenden die Konventionen von Authentizität kennenlernen. Die Interviews und Kommentare der ZeitzeugInnen und die Zitate in den Aufgaben 5.2.2 und 5.2.3 gehören zu den Techniken, die FilmproduzentInnen benutzen, um ein Authentizitätsgefühl bei den ZuschauerInnen zu evozieren.31 Anhand der Aufgabe 5.2.4 sollen die Lernenden dagegen die Subjektivität und den Konstruktionscharakter des Films erkennen und untersuchen. Sie sollen identifizieren können, dass Dokumentarfilme subjektive Sichtweisen der RegisseurInnen darstellen und daher keine vollständige Objektivität garantieren können. In Aufgabe 5.2.4 arbeiten sie anhand von Interviews mit

28

29

30 31

Vgl. Natalia Hahn: Die Geschichte der Rußlanddeutschen: Filmheft für den DaFUnterricht/Sprachniveau C1-C2. Freiburg: Pädag. Hochschule 2015. https://phfr.bszbw.de/frontdoor/deliver/index/docId/502/file/Filmheft+Geschichte+der+Russlanddeutschen.pdf Natalia Hahn: Die Geschichte der Rußlanddeutschen: Filmheft für den DaFUnterricht/Sprachniveau C1-C2. Freiburg: Pädag. Hochschule 2015, S. 23. https://phfr.bsz-bw.de/frontdoor/deliver/index/docId/502/file/Filmheft+Geschichte+der+Russla nddeutschen.pdf Roswita Henseler & Stefan Möller & C arola Surkamp: Filme im Deutschunterricht. Grundlagen, Methoden, Genres. Seelze: Klett/Kallmeyer 2011, S. 214. Vgl. Natalia Hahn: Die Geschichte der Rußlanddeutschen: Filmheft für den DaFUnterricht/Sprachniveau C1-C2. Freiburg: Pädag. Hochschule 2015, S. 18. https://phfr.bsz-bw.de/frontdoor/deliver/index/docId/502/file/Filmheft+Geschichte+der+Russlanddeutschen.pdf

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der Regisseurin; diese Interviews vermitteln die Meinungen und Haltungen sowie die subjektive Sicht der Regisseurin. Der Einsatz eines Dokumentarfilms im DaF-Unterricht ermöglicht somit neben der Vermittlung eines speziellen Themas in der deutschen Sprache auch die Sensibilisierung der Lernenden für die filmanalytischen Besonderheiten der Dokumentation.

5.2.1

Filmhandlung und -figuren

Im Fremdsprachenunterricht gilt das Hörverstehen als »eine zentrale Fertigkeit«32 , die beachtliche Anforderungen an die Lernenden stellt und somit im Unterricht intensiv trainiert werden muss. Grimm/Gutenberg unterscheiden zwischen dem globalen Verstehen, das sich auf die Hauptaussage eines Textes richtet, dem selektiven Verstehen, das gezielt auf Einzelinformationen achtet und dem detaillierten Verstehen, welches sämtliche Einzelheiten erfassen möchte. Die Aufgaben 3 – 5 dienen dem Schulen sowohl des selektiven als auch des detaillierten Hörverstehens. Da die Aufgaben des Arbeitsblattes sich auf einen Dokumentarfilm beziehen, wird darüber hinaus auch das globale Hörverstehen trainiert. Aufgabe 3: Ordnen Sie die Berufe den richtigen Personen zu

32

Philipp Schwartz

Pathologe an der Universität Zürich, Gründer der Organisation »Notgemeinschaft deutscher WissenschaftlerInnen im Ausland«

Alfred Heilbronn

Pflanzengenetiker an der Uni in Münster und Mitbegründer des Botanischen Instituts in Istanbul

Ernst Eduard Hirsch

Juradozent in Frankfurt a.M. und Richter, Lehrstuhl für Handelsrecht an der Universität in Istanbul

Rudolf Belling

Künstler und Mitgründer der Bildhauersektion an der Mimar Sinan Universität der bildenden Künste

Otto Gerngross

Chemiker und Mitgründer der landwirtschaftlichen Schule in Ankara

Thomas Grimm & Norbert Gutenberg: Hörverstehen, in: Oomen-Welke, Ingelore & Ahrenholz, Bernt (ebd.) 2017, S. 121-129.

Möglichkeiten des Filmeinsatzes im DaF-Unterricht

Aufgabe 4: Ordnen Sie die Zitate den richtigen Personen zu Susann FerenzSchwartz

»Die ganze Jugend, die ganze Kindheit, da zu verbringen, es ist ja eine lange Wurzel, die ich da hinter mir ziehe.« (00:20:29)

Kurt Lütve Leopold, Heilbronn

»Das war ein ganz kluger Schachzug von Kemal Atatürk gewesen, der tausend wörtlich hochkarätige Wissenschaftler in die Türkei eingeladen hat.« (00:07:39)

Enver TandoğanHirsch

»Meine Mutter hat mit uns nie Deutsch gesprochen. Nie. Ich glaube, dass sie unendlich dankbar war, dass dieses Land sie aufgenommen hat, als eine Heimatlose, eine Heimat gegeben hat« (00:14:41)

Elisabeth WeberBelling

»Ich bin Halbtürkin, weil ich in diesem Land meine ersten 16 Jahre verbrachte. Mein Vater gründete in Zürich zusammen mit einer Gruppe von einflussreichen und engagierten Schweizer Freunde die »Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaftler im Ausland« und legte dadurch den Grundstein zur Rettung tausender Wissenschaftler und ihrer Familien aus NaziDeutschland.« (00:03:02)

Engin Bagda

»Für mich war es immer wichtig, beide Länder einander näher zu bringen. Ich denke, dass ich der Türkei etwas wiedergebe. Das ist quasi so ein Dankeschön an das Land, das meinem Vater die Möglichkeit gegeben hat, zu überleben.« (00:28:45)

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5.2.2

Handlungsort Türkei

Schauen Sie sich die folgenden Bilder aus dem Film an und erinnern Sie sich dabei möglichst an die Filmszenen.   Aufgabe 5: Notieren Sie, wer welche Vorstellungen von der Türkei und von Deutschland hat.

Abb. 2: Susann Ferenz-Schwartz. 00:03:02

Aus: »Haymatloz – Exil in der Türkei« 2015 Film von Eren Önsöz (00:03:02)

Abb. 3: Kurt Lütve Leopold Heilbronn. 00:50:40.

Aus: »Haymatloz – Exil in der Türkei« 2015 Film von Eren Önsöz (00:50:40)

Möglichkeiten des Filmeinsatzes im DaF-Unterricht

Abb. 4: Enver Tandoğan Hirsch. 00:42:13.

Aus: »Haymatloz – Exil in der Türkei« 2015 Film von Eren Önsöz (00:42:13)

Abb. 5: Elisabeth Weber-Belling. 00:27:55.

Aus: »Haymatloz – Exil in der Türkei« 2015 Film von Eren Önsöz (00:27:55)

           

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Abb. 6: Engin Bagda. 01:08:46.

Aus: »Haymatloz – Exil in der Türkei« 2015 Film von Eren Önsöz (01:08:46)

5.2.3

Leben in der Türkei

Aufgabe 6: Lesen Sie aufmerksam die beiden Zitate, die im Film erwähnt wurden: 1. »Der einzig wahre Führer im Leben ist Wissenschaft.«33 2. »Um eine Universität zu eröffnen, braucht es mehr als ein Siegel und einen Rektor. Es bedarf auch mehr als bloß Studenten zu unterrichten. Das ist ja auch die Bedeutung des Wortes Universität: Das Zentrum, das dem Land dient.«34

Diskutieren Sie in kleinen Gruppen: • • •

Was beabsichtigt man mit diesen Aussagen auszudrücken? Was halten Sie von den Zitaten? Was haben diese Zitate mit dem Film Haymatloz: Exil in der Türkei zu tun?

5.2.4

Interview: »Wie Deutsche in den 30ern in die Türkei emigrierten«. Eren Önsöz im Gespräch mit Eckhard Roelcke von Deutschlandfunk (25.10.2016)

Die Förderung des Leseverstehens ist eine wichtige Aufgabe im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts. Würffel35 betont in Anlehnung an Ehlers (1998), 33 34 35

Titel? 1:05:57 Titel? 1:19:12 Vgl. Nicola Würffel: Leseverstehen, in: Oomen-Welke, Ingelore & Ahrenholz, Bernt 2017, S. 131.

Möglichkeiten des Filmeinsatzes im DaF-Unterricht

dass Leseverstehen nicht nur als Textverstehen, sondern auch als der eigentliche Leseprozess zu verstehen ist, bei dem drei Ebenen zu unterscheiden sind. Dazu gehört auf der untersten Ebene das Erkennen von Buchstaben und Wörtern sowie die Erfassung der Wortbedeutungen, auf der mittlerer Ebene das Herstellen semantischer und syntaktischer Relationen zwischen den Wortfolgen und auf der Textebene die satzübergreifende Integration von Sätzen zu umfassenden Bedeutungseinheiten sowie der Aufbau einer kohärenten Struktur der globalen Gesamtbedeutung eines Textes.36 Es ist somit wichtig, die Lesekompetenz auf allen Ebenen anhand verschiedener Übungen sowie unterschiedlicher Textsorten und Wissensbestände zu fördern. Die unten aufgeführte Aufgabe 7 gilt der Förderung der Lesekompetenz bei DaF-Lernenden auf der Ebene der höherstufigen Verstehensprozesse. Es geht dabei um eine Übung zur Textrekonstruktion bzw. eine Zuordnungsübung. So können sowohl die Lernenden in ihrem Leseverstehen unterstützt werden als auch eine Kontrolle des Textverstehens durchgeführt werden.

36

Christmann/Groeben 1999: 148 zitiert nach ebd., S. 131.

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Aufgabe 7: Ordnen Sie die Antworten der Fragen zu: 1) Roelcke: Sie erzählen dieses Kapitel der deutsch-türkischen Geschichte anhand von einigen Nachkommen dieser Wissenschaftler. Sie haben sich fünf Leute ausgesucht; dieser Film handelt von diesen fünf Leuten. Sagen Sie noch mal, von wem ging denn insgesamt diese Initiative aus?

a) Önsöz:Das werde ich oft gefragt. Aber ich weiß gar nicht, ob es so ein Dilemma der Identität war. Diese Menschen haben ihre Heimat Deutschland nie vergessen, aber sie haben die Türkei als zweite Heimat sehr gern angenommen. Sie haben auch teilweise die türkische Staatsbürgerschaft angenommen. Sie sind teilweise in der Türkei begraben, einige von ihnen sind dort auch verstorben. Aber sie haben ihre eigentliche Heimat Deutschland nie vergessen. Und ich glaube, es ist kein Dilemma, zwei Heimaten zu haben, und das hat auch Elisabeth Welling, die Tochter des Bildhauers, bei der Premiere in Köln gesagt. Das ist ein Gewinn für sie gewesen und das war eine Bereicherung, auch für diese Persönlichkeit.

2) Roelcke: In Ihrem Film sieht man historische Aufnahmen aus Istanbul, ratternde Maschinen, großstädtischen Verkehr, Menschen in Bewegung. Der Rhythmus dieser Bilder verdeutlicht ja diese ganze Aufbruchsstimmung. Welche Bedingungen fanden denn diese jüdischen deutschen Emigranten vor, als sie in den 30er-Jahren nach Istanbul oder auch nach Ankara, die neue Hauptstadt, gekommen sind?

b) Önsöz: Die Initiative ging eigentlich von Philipp Schwarz aus. Das war ein Pathologe aus Frankfurt, und der ist sogar noch vor der Machtergreifung der Nazis nach Zürich geflüchtet und hat von dort die Emigrationswelle in die Türkei eigentlich angestoßen. Er hat die Nachricht erhalten, dass in der Türkei Fachkräfte gesucht und gebraucht werden. Und er hat angefangen zu vermitteln, weil er ja nicht nur sich retten wollte, sondern auch das Leben seiner Kollegen. Und er hat es tatsächlich geschafft, die Regierung in der Türkei zu überzeugen, und ganz viele seiner Kollegen auch in die Türkei vermittelt.

Möglichkeiten des Filmeinsatzes im DaF-Unterricht

3) Roelcke: Mit fünf Nachkommen sind Sie in die Türkei gefahren, nach Istanbul, nach Ankara. Und an einer Stelle heißt es mal: Für die Deutschen bin ich der Türke, für die Türken bin ich der Deutsche. Beschreibt diese lapidare Bemerkung genau dieses Dilemma, nämlich die Frage nach der Identität, der Herkunft?

c) Önsöz: Das ist eigentlich eine sprachliche Synthese zwischen dem Türkischen und dem Deutschen. »Heimat«, so wie der Türke das hört und schreiben würde, und die Endung »oz«, »haymatloz«, das hat mir sehr gut gefallen. Das ist ja ein Wortspiel, was Türken lesen, was Deutsche lesen können und was irgendwie eine sehr aktuelle Komponente hat, weil wir haben zurzeit weltweit über 60 Millionen Menschen, die flüchten aus ihren Heimaten, die flüchten müssen, die fliehen müssen, die heute zu Heimatlosen gemacht werden.

4) Roelcke: Zwei Heimaten. Aber der Titel des Films heißt »Haymatloz«. Ist das ein Widerspruch?

d) Önsöz: Das ist natürlich so. Das wollte ich auch mit diesem Film erreichen, dass die Menschen natürlich auch Parallelen ziehen. Denn man muss ja auch aus der Geschichte lernen. Und da sind viele Fehler gemacht worden. Aber leider sehe ich auch in der Gegenwart heute, dass viele Fehler wiederholt werden.

5) Roelcke:»Haymatloz« in einer ungewöhnlichen Schreibweise, mit »ay« und mit »oz« – wie erklärt sich diese Schreibweise?

e) Önsöz: Sie wurden ja zu Heimatlosen gemacht. Sie hatten ja eine Heimat in ihrem Herzen. Sie haben ihre Heimat Deutschland nie vergessen. Das ist ja das Fatale, dass sie zu Heimatlosen gemacht worden sind, so wie sie von Hitler zu Juden gemacht worden sind. Der Begriff »heimatlos« wurde diesen Menschen ja in die Pässe geschrieben von den Türken. Sie wurden ja vom deutschen Staat ausgebürgert. Das waren also geflüchtete Wissenschaftler, Deutsche, die aber staatenlos geworden sind. Und dieses Wort »heimatlos« ist sicher so oft gefallen, dass die türkischen Beamten dieses Wort in die Fremdenpässe der Deutschen geschrieben haben.

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6) Roelcke: Sie haben einen Film gedreht, der zwar von der Vergangenheit erzählt, der in Wahrheit jedoch viel, man könnte vielleicht auch sagen, erschreckend viel über die Gegenwart erzählt. Ist das so?

f) Önsöz: Also tatsächlich, in den Tagen, in denen sie ankamen, das war 1933, da wurde der Jahrestag der Türkischen Republik gefeiert. Zehn Jahre bestand die junge Türkische Republik, die Atatürk aufgebaut hat. Und es muss eine sehr faszinierende Zeit gewesen sein. Die Emigranten kamen an und standen gleich in höchsten Würden. Sie wurden vom Staatsgründer persönlich empfangen, sie haben an diesen Feierlichkeiten teilgenommen. Und das haben sie ja teilweise auch in ihren Memoiren niedergeschrieben, was für ein erhebendes Gefühl das für sie war, nachdem sie aus der eigenen Heimat verjagt worden sind, dass sie dort zu den höchsten Würdenträgern gezählt worden sind und dass sie wirklich an den Schaltzentralen in der Gesellschaft Stellungen gefunden haben.

Schreiben gehört neben Hören, Lesen und Sprechen zu einer der vier Grundfertigkeiten im DaF-Unterricht. Im Rahmen der fremdsprachlichen Schreibdidaktik unterscheidet man zwischen dem Schreiben als Mittel für einen anderen Zweck (Mittlerfertigkeit) und dem Schreiben, das ein bestimmtes kommunikatives Ziel verfolgt (Zielfertigkeit).37 Darüber hinaus unterscheidet man zwischen Schreibübungen und -aufgaben. Schreibübungen dienen vor allem der Schulung sprachlicher Fertigkeiten in den Bereichen Grammatik, Lexik und Orthographie. Schreibaufgaben sind »komplexe Handlungsangebote, die Lernende veranlassen, sich in der Zielsprache zu äußern und in ihr zu interagieren.«38 Ähnlich wie andere Fertigkeiten soll auch Schreiben auf unterschiedlichen Stufen und durch unterschiedliche Aufgabenstellung trainiert werden. Aufgabe 8 dient der Unterstützung des Schreibens als Zielfertigkeit. Es geht dabei um eine kommunikative Schreibaufgabe, deren Ziel in der »Pro-

37 38

Vgl. Dirk Skiba: Vom Schreiben zur Textproduktion, in: Oomen-Welke, Ingelore & Ahrenholz, Bernt 2017, S. 141. Ebd. S. 141f.

Möglichkeiten des Filmeinsatzes im DaF-Unterricht

duktion eines schriftlichen Textes zur Verwendung in lebensweltlichen Zusammenhängen«39 besteht.   Aufgabe 8: Lesen Sie die Rezensionen zum Film: •



• •

»Ihr neuer Dokumentarfilm Haymatloz, der gerade mit starker Resonanz seine Premierentour quer durch Deutschland absolviert, ist handwerklich exzellent: in wunderbaren Einstellungen gedreht, mit viel Gefühl für Timing und die Kraft der Bilder montiert, und politisch gegen Ende stark akzentuiert.« Deutsche Welle, Heike Mund.40 »In den Bildern von damals wie von heute ist eine Offenheit zu spüren, die angesichts der aktuellen Lage in der Türkei ganz erstaunlich, bewegend, bestürzend ist.« [Süddeutsche Zeitung].41 »Entfaltet einen ganz aktuellen Diskurs über die Gegenwart und Zukunft der türkischen Gesellschaft« [Christian Meyer (Filmkritiker)].42 »Haymatloz: Exil in der Türkei ist ein wunderbar kaleidoskopischer Film über ein weitgehend unbekanntes Kapitel deutsch-türkischer Geschichte.« [junge Welt].43

a. Welche Rezension hat Ihnen besonders gut gefallen? Begründen Sie Ihre Meinung. b. Schreiben Sie nun Ihre eigene Filmrezension.

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Zusammenfassung

Dieser Beitrag befasst sich mit dem Potenzial von Filmen bzw. Dokumentarfilmen als Lernmedium im Deutschunterricht und untersucht Möglichkeiten von deren Einsatz. Für diesen Zweck wird exemplarisch eine Didaktisierung des Films Haymatloz: Exil in der Türkei im DaF-Unterricht präsentiert. Dabei sollten grundsätzlich zwei Ziele erreicht werden, und zwar die Vermittlung

39 40 41 42 43

Ebd. S. 142. https://www.haymatloz.com/pressestimmen/(05.11.2019). https://mindjazz-pictures.de/filme/haymatloz/(05.11.2019). https://mindjazz-pictures.de/filme/haymatloz/(05.11.2019). https://mindjazz-pictures.de/filme/haymatloz/(05.11.2019).

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eines historischen Themas in der deutschen Sprache für Lernende auf höherem Niveau anhand der theoretischen Inhalte des Films und die Sensibilisierung der Lernenden für die filmanalytischen Besonderheiten des Dokumentarfilms. Aufgrund seines enormen interkulturellen, landeskundlichen und geschichtlichen Potenzials stellt dieser Dokumentarfilm sowohl für den muttersprachlichen als auch für den DaZ-Deutschunterricht ein interessantes Lernmedium dar. Weitere Forschungen zu diesem Themenkomplex wären denkbar wie wünschenswert.

Literatur Abraham, Ulf: Filme im Deutschunterricht. Seelze: Klett Kallmeyer 2009. Brandi, Marie-Luise: Video im Deutschunterricht: Eine Übungstypologie zur Arbeit mit fiktionalen und dokumentarischen Filmsequenzen. Berlin: Langenscheidt 1996 (Fernstudieneinheit 13). Grimm, Thomas & Gutenberg, Norbert: Hörverstehen, in: Oomen-Welke, Ingelore & Ahrenholz, Bernt (ebd.) 2017, S. 121-129. Henseler, Roswita & Möller, Stefan & Surkamp, Carola: Filme im Deutschunterricht. Grundlagen, Methoden, Genres. Seelze: Klett/Kallmeyer 2011. Inge Christine Schwerdtfeger: Sehen und Verstehen: Arbeit mit Filmen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Berlin: Langenscheidt 1989 Klant, Michael & Spielmann, Raphael: Grundkurs Film: Kino, Fernsehen, Videokunst. Materialien für die Sek. I und II. Hannover 2008. Koreik, Uwe: Landeskunde, in: Oomen-Welke, Ingelore & Ahrenholz, Bernt (ebd.) 2017, S. 178-186. Köster, Lutz: Film, in: Oomen-Welke, Ingelore & Ahrenholz, Bernt (Hg.): Deutsch als Fremdsprache. Deutschunterricht in Theorie und Praxis Bd. 10. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2013, S. 242-251. Kühn, Peter: Wortschatz, in: Oomen-Welke, Ingelore & Ahrenholz, Bernt (ebd.) 2017, S. 153-164. Oomen-Welke, Ingelore & Ahrenholz, Bernt (Hg.): Deutsch als Fremdsprache. Deutschunterricht in Theorie und Praxis Bd. 10. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2017. Rösler, Dietmar: Die Funktion von Medien im Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache-Unterricht, in: Krumm, Hans-Jürgen (Hg.): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin u.a.: de Gruyter Mouton 2010, S. 1199-1214.

Möglichkeiten des Filmeinsatzes im DaF-Unterricht

Schäffler, Diana: »Deutscher Film mit türkischer Seele«. Entwicklungen und Tendenzen der deutsch-türkischen Filme von den 70er Jahren bis zur Gegenwart. Saarbrücken: VDM Verlag Müller 2007. Schäffler, Diana: Das Kino der doppelten Kulturen. Migration als filmisches Thema im deutsch-türkischen Film anhand ausgewählter Beispiele. München: GRIN Verlag 2006. Skiba, Dirk: Vom Schreiben zur Textproduktion, in: Oomen-Welke, Ingelore & Ahrenholz, Bernt (ebd.) 2017, S. 141-152. Staiger, Michael: Audiovisuelle Medien im Deutschunterricht, in: Frederking, Volker, Krommer, Axel, Möbius, Thomas & Ulrich, Winfried (Hg.): Medien im Deutschunterricht. Deutschunterricht in Theorie und Praxis Bd. 8. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2014, S. 236-268. Würffel, Nicola: Leseverstehen, in: Oomen-Welke, Ingelore & Ahrenholz, Bernt (ebd.) 2017, S. 130 – 140.

Film 300 Worte Deutsch (D, 2013, Züli Aladağ, 90 min.) Alles getürkt! (D, 2002, Yasemin Şamdereli, 92 min.) Almanya – Willkommen in Deutschland (D, 2011, Yasemin Şamdereli, 101 min.) Brüder (D, 2017, Züli Aladağ, 2 x 90 min.) Crossing the Bridge – The Sound of Istanbul (D, 2005, Fatih Akın, 90 min.) Gegen die Wand (D/TR, 2004, Fatih Akın, 121 min.) Haymatloz: Exil in der Türkei (D, 2016, Eren Önsöz, 90 min.) Liebe auf Türkisch (D, 2002, Özgür Yıldırım, 12 min.) The Cut (D/F/PL/TR/CAN/RUS/I, 2014, Fatih Akın, 138 min.) Tschick (D, 2016, Fatih Akın, 93 min.) Wut (D, 2006, Züli Aladağ, 90 min.)

Online-Quellen Bauer, Manuela/Hahn, Natalia: Ausgerechnet Sibirien: Filmheft für den DaF-Unterricht/Sprachniveau B2. Freiburg: Pädag. Hochschule 2014. https://phfr.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/searchtype/collection/id/21011/docId/411/start/5/rows/10 (14.06.2020).

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Chmielewska, Kamila: Von Angst Essen Seele auf bis Almanya – deutschtürkische Filme im interkulturellen Fremdsprachenunterricht. Glottodidactica, Vol. 41, No 1 (2014), S. 127-139. https://pressto.amu.edu.pl/index.php/gl/article/view/1421/1851 (14.06.2020). Hahn, Natalia: Die Geschichte der Rußlanddeutschen: Filmheft für den DaF-Unterricht/Sprachniveau C1-C2. Freiburg: Pädag. Hochschule 2015. https://phfr.bsz-bw.de/frontdoor/deliver/index/docId/502/file/Filmheft+Geschichte+der+Russlanddeutschen.pdf (14.06.2020). Halft, Stefan: Wandel deutsch-türkischer Konstellationen im filmischen Migrationsdiksurs. gfl journal 11 Heft 3 (2010), S. 5-39. www.gfl-journal.de/32010/Halft.pdf (14.06.2020). o.A.: Fernsehstudie: So viel Zeit verbringen die Deutschen vor dem TV, in: Welt, 30.09.2019. https://www.welt.de/vermischtes/article132768358/Soviel-Zeit-verbringen-die-Deutschen-vor-dem-TV.html (14.06.2020). Statistisches Bundesamt: Besucherzahlen und Bruttoeinnahmen der Kinos in Deutschland in den Jahren 1999 bis 2018, 2018, zitiert nach de.statista.com 2018. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/37631/umfrage/entwicklung-der-besucherzahlen-und-einnahmen-von-kinos-seit-1999/ (14.06.2020). Utri, Reinhold: Das Medium Film als Element mit hohem interkulturellem Potenzial im DaF-Unterricht – am Beispiel der Filme Solino und I love Vienna, in: Lublin Studies in Modern Languages and Literature 39 (2), 2015. https://journals.umcs.pl/lsmll/article/view/2715/1939 (14.06.2020).

Autorinnen und Autoren

Deniz Bayrak studierte Germanistik, Anglistik/Amerikanistik sowie Erziehungswissenschaft an der TU Dortmund. Sie arbeitet derzeit an der TU Dortmund. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Literatur/Film und Interkulturalität bzw. Flucht. Ihre Publikationen umfassen unter anderem Beiträge zur spatial theory sowie zu Werken türkisch-deutscher AutorInnen und RegisseurInnen. Zu ihren Veröffentlichungen zählt u.a.: »›Was sind wir denn jetzt – Türken oder Deutsche?‹ – Die filmische Inszenierung von Interkulturalität in Almanya – Willkommen in Deutschland (2011), Zeit der Wünsche (2005) und Zimt und Koriander (2003)« (gemeinsam mit Sarah Reininghaus). In: Schenk, Klaus/Cornejo, Renata/Szabó, László (Hg.): Zwischen Kulturen und Medien. Zur medialen Inszenierung von Interkulturalität. Wien: Praesens Verlag 2016, S. 168200. Tuncer Cabadağ, Dr. phil., unterrichtet am Oberstufenkolleg der Universität Bielefeld und ist zudem Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Bielefeld im Fachbereich Sozialwesen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Soziolinguistik, Zweitspracherwerb, interkulturelle Geschlechtersoziologie sowie Arbeiten zur Konstruktion des sozialen Geschlechts in der Literatur. Derya Canbolat (geb. Ay) studierte an der Universität Wien Lehramt für Deutsch, Englisch und Französisch und später in der Türkei Lehramt für das Fach Deutsch an der Necmettin Erbakan Universität. Seit September 2014 ist sie in der Türkei als Deutschlehrerin tätig. Enis Dinç, Dr. phil., ist Ass. Professor für Medien- und Kulturwissenschaften an der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul. Er promovierte 2018 an der Amsterdamer School for Cultural Analysis (ASCA) der Universität Amsterdam. Zwischen 2014-2015 war er visiting researcher der Abteilung des Nahen

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Der deutsch-türkische Film

Osten der Princeton Universität in den USA. Vor seinem Promotionsstudium erwarb er Abschlüsse in Medien- und Kulturwissenschaften an der SOAS der Universität of London (M.A.) und in Kommunikationswissenschaften an der Universität Salzburg (B.A.). Er ist Autor des Buches »Atatürk on Film Screen: Documentary and The Making of a Leader«, welches 2020 von IB Tauris veröffentlicht wurde. Yüksel Ekinci, Prof. Dr. phil., ist Professorin für Erziehung und Bildung – Bildungsbereich Sprache an der FH Bielefeld. Sie studierte an den Universitäten Istanbul und Salzburg Deutsche Philologie und Pädagogik. Als Stipendiatin des Österreichischen Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst schloss sie ihre Dissertation an der Universität Salzburg ab. Sie war an der Universität Çanakkale Onsekiz Mart, an der Universität Duisburg-Essen, an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und an der Technischen Universität Dortmund tätig. Ihre Forschungsinteressen sind Mehrsprachigkeit, Deutsch als Zweit- und Fremdsprache sowie Kulturwissenschaften. Ludger Hoffmann, Prof. i.R. Dr., war von 1997 bis zu seiner Emeritierung an der TU Dortmund tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind die deutsche Grammatik sowie Deutsch als Zweit- und Fremdsprache. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen: Deutsche Grammatik. Berlin 20163 . Sprachwissenschaft. Ein Reader. Berlin/Boston 2019⁴. Mit Gisela Zifonun/Bruno Strecker. Grammatik der deutschen Sprache. Berlin 1997. Mit Shinichi Kameyama, Monika Riedel, Pembe Şahiner, Nadja Wulff. Deutsch als Zweitsprache. Berlin 2017. Stephan Holz, Dr. math., Akad. Dir. i.R., arbeitet am Oberstufenkolleg an der Universität Bielefeld. Seine Arbeitsschwerpunkte sind interkulturelle Geschlechtersoziologie, Sozialphilosophie, Mathematik, Logik sowie die Linguistik von Computersprachen. Nils Jablonski, Dr. phil., studierte Germanistik und Kunst sowie Angewandte Literatur- und Kulturwissenschaft in Dortmund und Zürich. Seit 2016 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FernUniversität in Hagen. Davor war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Studienkoordinator an der TU Dortmund beschäftigt. Dort erfolgte 2018 seine Promotion mit einer medienästhetischen Untersuchung des materialen Topos der Idylle in Literatur, Film und Fernsehen (erschienen 2019 bei Metzler). Er ist Mitglied des DFG-Netzwerks »Politiken der Idylle«, der Forschungsgruppe des Kasseler

Autorinnen und Autoren

Komik-Kolloquiums sowie der AG Genre der Gesellschaft für Medienwissenschaft. Seine weiteren Forschungsbereiche sind populäre und visuelle Kultur, Interkulturalität und Gender, (experimentelle) Lyrik, Tourismus, Reiseliteratur und ambulantes Aufzeichnen. Hilal Keskin, Dr. des., arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Dortmund am Lehrstuhl für Germanistik von Prof. Dr. Klaus Schenk. Dort lehrt und forscht sie im Bereich der interkulturellen Literatur. Ihre Forschungsgebiete umfassen dabei deutsch-türkische Literatur sowie Literatur-, Kultur- und Raumtheorien. Anna Khalizova, Dr. phil., studierte Deutsch, Englisch und Spanisch auf Lehramt in Moskau. Im WS 2010/11 war sie eine DAAD-Stipendiatin an der Universität Duisburg-Essen. Nach ihrem Studium fing sie 2012 mit ihrer Promotion im Fach Germanistik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg an und schloss sie im Jahre 2017 ab. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Freiburg. Seit Oktober 2017 ist sie als akademische Mitarbeiterin im wissenschaftlichen Dienst am Institut für Germanistik der Universität Koblenz-Landau (Campus Koblenz) tätig. Des Weiteren ist sie seit April 2020 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Psycholinguistik und Didaktik der deutschen Sprache an der Goethe Universität Frankfurt tätig. Ihre aktuellen Forschungsinteressen sind (Schrift-)Spracherwerb, Didaktik der deutschen Sprache, Mehrsprachigkeit und DaZ/DaF. Zu den weiteren Forschungsinteressen gehören auch die Bereiche der Übersetzungsund Dolmetscherwissenschaften. Sie arbeitete ebenfalls als Dolmetscherin und Übersetzerin im Bereich der medizinischen Kommunikation. Gudrun Marci-Boehncke, Prof. Dr. phil., studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Gießen. 1993 hatte sie die Max-Kade-Professur zu »Mythology and Media« am Colorado College/CO in den USA inne. Seit 2010 ist sie Professorin für Neuere Deutsche Literatur/Elementare Vermittlungsund Aneignungsaspekte an der TU Dortmund. Forschungen und Veröffentlichungen u.a. zu Literatur- und Mediendidaktik sowie nationalen und genderbezogenen Stereotypen im Unterhaltungsfilm. Ali Osman Öztürk, Prof. Dr. phil., absolvierte das Studium der Germanistik und Pädagogik in Ankara, promovierte 1990, habilitierte sich 1994 in Ankara und erhielt eine ordentliche Dozenturstelle an der Abteilung für Germanistik

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Der deutsch-türkische Film

an der Selçuk Universität in Konya. 2002-2011 hatte er eine Professur für deutsche Sprache in den Lehramtsstudiengängen an der Onsekiz Mart Universität Çanakkale inne und ist zurzeit ordentlicher Professor für deutsche Sprache in den Lehramtsstudiengängen an der Necmettin Erbakan Universität in Konya. Ali Osman Öztürk war DAAD-Stipendiat am Deutschen Volksliedarchiv der Universität Freiburg von 1990-1991, 1997 und erneut im Jahr 2011. Seit 2013 ist er der Vorsitzende des türkischen Germanistikverbandes (GERDER) und Geschäftsführender Herausgeber seines Publikationsorgans »DİYALOG, OnlineZeitschrift für interkulturelle Germanistik«. Öztürk veröffentlichte Bücher in den Bereichen Komparatistische Volksliedforschung und Imagologie sowie zum Literaturunterricht im DaF. Sarah Reininghaus studierte Germanistik, Philosophie und Erziehungswissenschaft an der TU Dortmund. Derzeit arbeitet und lehrt sie an der TU Dortmund und beschäftigt sich im Rahmen ihrer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Dissertation mit Ikonografien der Shoah. Forschungs- sowie Publikationsschwerpunkte sind neben Horrorfilm Studies unter besonderer Berücksichtigung von Gender und Körperlichkeit Aspekte literar- und filmästhetischer Interkulturalität. Zu ihren jüngsten Publikationen zählt: »›2015 sind sehr viele Asylsuchende nach Deutschland eingereist.‹ – Der Flüchtlingsdiskurs in ›Informationsfilmen‹ des BAMF und des Bundesministeriums des Innern unter besonderer Berücksichtigung der Inszenierung von Nicht-Orten« (gemeinsam mit Deniz Bayrak). In: Lachmann, Tobias (Hg.): Ästhetik und Politik der Zerstreuung. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2020, S. 73-98. Monika Riedel (geb. Stranakova), Dr. phil., ist Literaturwissenschaftlerin und Mitarbeiterin der Arbeitsstelle Deutsch als Zweitsprache an der TU Dortmund. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die deutschsprachige inter- und transkulturelle Literatur der Gegenwart, literarische Mehrsprachigkeit sowie sprachliche, literarische, mediale und kulturelle Bildung in der Migrationsgesellschaft. Zu ihren jüngsten Publikationen zählen: Der ferne Vater. Vaterfiguren und Geschlechterrollen in der deutschsprachigen inter- und transkulturellen Gegenwartsliteratur. In: Anselm/Grimm/Wanning (Hg.): Erlesene Zukunft. Fragen der Werteerziehung mit Literatur. Edition Ruprecht 2019, S. 97-119; Doppelte Heimaten. Artur Becker als Sprach- und Kulturvermittler? In: Jeleć (Hg.): Tendenzen der Gegenwartsliteratur. Lite-

Autorinnen und Autoren

raturwissenschaftliche und literaturdidaktische Perspektiven. Berlin: Peter Lang 2019, S. 89-104. Pembe Şahiner, Dr. phil., studierte Deutsch, Englisch, Türkisch und Deutsch als Zweitsprache an der Universität Duisburg-Essen. Nach dem Referendariat arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in verschiedenen Kooperationsprojekten der Stiftung Mercator sowie der Mathematik an der TU Dortmund und veröffentlichte ihr erstes Forschungsprojekt zur bilingualen Alphabetisierung deutsch-türkischer GrundschülerInnen. Seit 2013 ist sie Lehrende im DaZ-Modul der TU Dortmund und arbeitet derzeit an ihrem Habilitationsprojekt. Klaus Schenk, Prof. Dr. phil, ist Professor an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät/Germanistik der TU Dortmund. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen: Moderne Literatur, mediale Aspekte von Literatur, erzähl- und literaturtheoretische Fragestellungen sowie Transkulturalität von Literatur. Ausgewählte Veröffentlichungen: Dissertation: Medienpoesie. Moderne Lyrik zwischen Stimme und Schrift. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000; Habilitation: Erzählen – Schreiben – Inszenieren. Zum Imaginären des Schreibens von der Romantik zur Moderne. Tübingen: Francke 2012; Migrationsliteratur. Schreibweisen einer interkulturellen Moderne. Tübingen, Basel: Francke 2004 (Hg. mit Almut Todorow und Milan Tvrdík); Erzählen und Erzähltheorie zwischen den Kulturen. Würzburg: Königshausen und Neumann 2014 (Hg. mit Gabriella Rácz). Stefan Schroeder ist Dozent mit den Schwerpunkten Dramaturgie, Theaterwissenschaft und Theaterpraxis an der Fakultät Kulturwissenschaften der TU Dortmund. Nach dem Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik und Anglistik in Bochum war er neun Jahre als Dramaturg am Schauspiel Dortmund engagiert. Er ist Autor von über 50 Theaterstücken und arbeitet als Regisseur und Dramaturg an verschiedenen freien Theatern. Hacı-Halil Uslucan ist Professor an der Universität Duisburg-Essen. Er studierte an der Freien Universität (FU) Berlin Psychologie, Philosophie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie den Aufbaustudiengang Semiotik an der Technischen Universität Berlin. Er habilitierte sich im Fach Psychologie im Jahr 2006. Er hatte Vertretungsprofessuren für Pädagogische Psychologie sowie für Motivationspsychologie an der Universität Pots-

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Der deutsch-türkische Film

dam und an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg inne; zudem nahm er im Sommersemester 2009 eine Gastprofessur an der Universität Wien an. Seit August 2010 ist er wissenschaftlicher Direktor des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung sowie Professor für Moderne Türkeistudien und Integrationsforschung an der Universität Duisburg-Essen. Er ist seit 2012 Mitglied im Sachverständigenrat für Migration und Integration (SVR) und war von 2015 bis Ende Juni 2019 dessen stellvertretender Vorsitzender. Seit 2015 ist er im wissenschaftlichen Beirat der Bundeszentrale für politische Bildung. Seine Forschungsschwerpunkte sind intellektuelle Entwicklung im Kindesalter, Jugendgewalt und Jugendentwicklung im kulturellen und interkulturellen Kontext, interkulturelle Familien- und Erziehungsforschung, Islam und Integration, Gesundheit und Migration sowie politische Partizipation von ZuwanderInnen.

Kulturwissenschaft Gabriele Dietze

Sexueller Exzeptionalismus Überlegenheitsnarrative in Migrationsabwehr und Rechtspopulismus 2019, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 32 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4708-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4708-6

Gabriele Dietze, Julia Roth (eds.)

Right-Wing Populism and Gender European Perspectives and Beyond April 2020, 286 p., pb., ill. 35,00 € (DE), 978-3-8376-4980-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4980-6

Stephan Günzel

Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung März 2020, 192 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5217-8 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5217-2

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Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan

Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung Februar 2020, 384 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5218-5 E-Book: 22,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5218-9

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 9, 1/2020) April 2020, 180 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4936-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4936-3

Birgit Althans, Kathrin Audehm (Hg.)

Kultur und Bildung – kulturelle Bildung? Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2019 2019, 144 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4463-0 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4463-4

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