Musikalische Bildung als Transformationsprozess: Zur Grundlegung einer Theorie 9783839454497

Irritierende Erfahrungen mit unbekannter Musik können dazu führen, dass sich die Art und Weise wandelt, wie man Welt und

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German Pages 190 Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Kapitel 1: Transformatorische Bildungsprozesse
Kapitel 2: Schlüsselereignisse
Kapitel 3: Musikalisches Wissen
Kapitel 4: Zusammenfassung und Ausblick
Outro
Literatur
Nachwort und Danksagung
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Musikalische Bildung als Transformationsprozess: Zur Grundlegung einer Theorie
 9783839454497

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Lukas Bugiel Musikalische Bildung als Transformationsprozess

Theorie Bilden  | Band 42

Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe Theorie Bilden wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Der Zusammenhang von Theorie und Bildung ist in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, da Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben ist. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. Die Reihe Theorie Bilden ist ein Forum für theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Die Reihe wird herausgegeben von Hannelore Faulstich-Wieland, Hans-Christoph Koller, Andrea Sabisch und Michael Wimmer, im Auftrag der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.

Lukas Bugiel (Dr. phil) forscht zu Fragen der Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Musikpädagogik und -philosophie. Nach seinem Studium der Erziehungswissenschaft, Germanistik und Musik in Leipzig promovierte er an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.

Lukas Bugiel

Musikalische Bildung als Transformationsprozess Zur Grundlegung einer Theorie

Gefördert durch:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Dr. Cathrin Nielsen, www.lektoratphilosophie.de Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5449-3 PDF-ISBN 978-3-8394-5449-7 https://doi.org/10.14361/9783839454497 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Einleitung .......................................................................... 9 Kapitel 1: Transformatorische Bildungsprozesse Zum Begriff ........................................................................13 Kapitel 2: Schlüsselereignisse Zum Auslöser transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse .................. 19 2.1 Auslöser musikalischer Bildungsprozesse in der musikpädagogischen Diskussion ....................................... 20 2.1.1 Ästhetische Erfahrungen bei Christian Rolle ............................ 20 2.1.2 Musikalisch-akustische Schlüsselereignisse bei Jürgen Vogt ............ 30 2.2 Schlüsselereignisse........................................................... 39 2.2.1 Mathos: (Er-)Finden, was man nicht suchen kann ....................... 40 2.2.2 Pathos: Wovon man nicht sprechen kann, daran muss man leiden ....... 43 2.3 Kleine Phänomenologie des musikalischen Konzertgeschehens ................. 51 2.3.1 Exkurs: Ziel, Herangehensweise und Darstellungsmöglichkeiten phänomenologischen Philosophierens.................................. 52 2.3.2 Untersuchung: Wie und wodurch Konzerte musikalisch geschehen ....... 61 2.4 Shaking the Habitual: (Konzerte als) Musikalische Schlüsselereignisse ......... 70 2.5 Zusammenfassung ........................................................... 75 Kapitel 3: Musikalisches Wissen Zum Transformationsgegenstand musikalischer Bildungsprozesse.. .... ....... ............. 79 3.1 Musikalisches Wissen in der musikpädagogischen Diskussion................... 81 3.1.1 Musicing als Wissensform bei David J. Elliott ........................... 82 3.1.2 Musikalische Erfahrung als Wissen bei Hermann J. Kaiser............... 89 3.2 Epistemologischer Pluralismus: Nicht-propositionale Wissensformen .......... 101 3.3 Ästhetisches Wissen.......................................................... 113

3.4 Wissen im Medium des Klangs ................................................ 115 3.5 Musikalisches Wissen als eine Figur unseres Welt- und Selbstverhältnisses ... 137 Kapitel 4: Zusammenfassung und Ausblick Von der Theorie zur Empirie ...... ................................................. 139 4.1 Zur Theorie transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse............. 139 4.2 Empirische musikpädagogische Biographieforschung ........................ 143 4.3 Skizze einer bildungstheoretisch orientierten musikbezogenen Biographieforschung ........................................ 151 4.3.1 Forschungsgegenstand: Musikalische Biographie ...................... 152 4.3.2 Erkenntnisinteresse und -ziel: Verlaufsformen transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse.................. 160 4.3.3 Methodische Implikationen – Grenzen der Empirie und Theorie.......... 161 Outro Wozu transformatorische musikalische Bildungsprozesse erforschen? ...... .........167 Literatur ......................................................................... 173 Nachwort und Danksagung ....................................................... 187

             

  Foucault, zit.n. dem Booklet des Albums »Shaking the Habitual« (2013, Rabid Records) von The Knife

Einleitung

Berlin, November 2014:   Ich stehe mit ungefähr 2000 Menschen in einer Mehrzweckhalle und erwarte den Auftritt des schwedischen Elektro-Pop-Duos The Knife. Nachdem uns eine Frau im Gymnastikanzug aufgefordert hat, gemeinsam mit ihr alle erdenklichen Körperteile zu schütteln und dabei mantraartig tiefgründig anmutende Aphorismen zum Körper, zum Tanz und zum Bewusstsein zu wiederholen, betreten Menschen in bunten Overalls die Bühne, die wie eine Weltraum-Gebirgslandschaft aussieht. SynthesizerBass-Wummern und harte Techno-Beats werden vernehmbar. Ich erkenne einen Track des neuen Albums. Aber wo sind eigentlich die beiden, für die ich gekommen bin? Wo sind The Knife? Wo sind Karin Dreijer Andersson und Olof Dreijer? Wer steht da eigentlich auf der Bühne? Ich sehe eine Person, die ein eigenartiges Blasinstrument, eher eine monströs vergrößerte E-Zigarette, betätigt. Eine andere verausgabt sich auf einem überdimensionierten Bügelbrett, das auch ein Flugzeugteil sein könnte. Daneben steht eine Gruppe, die auf einen den Bühnenrand säumenden Stahlkäfig einschlägt, eine weitere bedient so etwas wie Comic-Versionen einer Rassel. Zu singen scheinen sie alle. Zumindest hält jede Gestalt auf der Bühne mindestens einmal auch ein Mikrophon vor ihre Lippen. Mit dem aber, was ich höre, mit der Stimme Karin Dreijer Anderssons, den Beats und Synthie-Klängen scheint das alles irgendwie nichts zu tun zu haben. Oder vielleicht doch? Ich versuche zu tanzen, aber es gelingt mir nicht. Irgendwie kann ich mich nicht auf die Musik einschwingen. Liegt es an mir, an den Rhythmen, an der Situation? Was ist es eigentlich, was meine Tanzversuche stocken und mich (so absolut uncool) immer wieder innehalten lässt?

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Nach ungefähr einer Stunde scheint auf der Bühne niemand mehr für die Musikproduktion in irgendeiner Form verantwortlich zu sein. Stattdessen tanzen die Performer im Nebel zu Stroboskop und Laserstrahlen und schauen uns zu, wie wir ihnen dabei zuschauen. Ich verlasse mit einigen anderen den Saal, ohne zu wissen, ob das nun das Ende des Konzerts bedeuten soll. Am Ausgang treffe ich einen Bekannten, der offenbar mit Verkäufern1 vom Ticketshop darüber verhandelt, ob er seine Karten zurückgeben kann. »Für so etwas geht man nicht auf ein Konzert«, höre ich ihn sagen. Vielleicht hat er recht. Für »so etwas« – für die eben beschriebene Erfahrung – gehen möglicherweise die wenigsten Menschen auf oder in Konzerte und beschäftigen sich vermutlich die wenigsten Menschen mit Musik. Musikalische Erfahrungen, die Gewohnheiten erschüttern – passenderweise lautete das Motto der Konzerttour Shaking the Habitual –, können aber dazu beitragen, dass sich die Art und Weise, wie Menschen Musik erfahren, grundlegend wandelt – und damit auch, wie man die Welt und sich selbst erfährt. Sie wandelt sich dann, wenn die irritierende Erfahrung zugleich eine neue musikalische Erfahrung für diejenigen bedeutet, die sie machen. Diese Möglichkeit möchte ich in der vorliegenden Arbeit durch die Entwicklung einer Theorie transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse verständlich machen. Sie wird dadurch als eine Möglichkeit musikalischen Lernens begriffen. Ich versuche damit einen Beitrag ebenso zur erziehungswissenschaftlichen Diskussion der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse wie zum musikpädagogischen Diskurs über musikalische Bildung und musikalisches Lernen zu leisten. Aus diesem Grund knüpfen meine philosophischen Studien an Überlegungen beider Bereiche an. Dabei verfolge ich zum einen das Ziel, bisherige Begriffe zu präzisieren und zu verdichten; zum anderen geht es mir darum, einer empirischen Erforschung musikalischer Bildungsprozesse einen theoretischen Bezugsrahmen zur Verfügung stellen zu können.

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Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch neben der Doppelnennung im Folgenden auch verallgemeinernd das generische Maskulinum verwendet. Diese Formulierungen umfassen sämtliche Geschlechter; alle Personen sind damit selbstverständlich gleichberechtigt angesprochen.

Einleitung

Gang der Arbeit Den Gebrauch des Wortes Bildung, so wie ich ihn meinen weiteren Untersuchungen zugrunde lege, expliziere ich anhand der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse im ersten Kapitel. Vor ihrem Hintergrund eröffne ich den Fragehorizont, der den weiteren Gang der Studien bestimmt: Erstens geht es um die Frage, wodurch transformatorische musikalische Bildungsprozesse ausgelöst werden beziehungsweise wodurch sie in Gang kommen. Zweitens werde ich klären, was in diesen Prozessen transformiert wird, sich verändert oder wandelt. Gemeint ist damit der spezifische Gegenstand von transformatorischen Bildungsprozessen als musikalischen. Da ich davon ausgehe, dass durch die Beantwortung der ersten beiden Kernfragen der Arbeit mögliche Prozesse musikalischer Bildung beschrieben werden, möchte ich drittens danach fragen, wie ihre tatsächlichen Möglichkeiten in den Blick musikpädagogischen Forschens geraten könnten. Ich frage damit nach methodologischen und methodischen Implikationen dieser Theorie transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse für die empirische Forschung, insbesondere für die sogenannte Biographieforschung. Entsprechend diesen drei Fragen entfalten die weiteren Kapitel ein Nachdenken über den Anlass, den Gegenstand und im Ausblick auch über die Möglichkeit einer empirischen Erforschung transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse. Die Frage nach den begrifflichen Merkmalen des Auslösers oder Anlasses von transformatorischen musikalischen Bildungsprozessen beschäftigt mich im zweiten Kapitel. Dazu rekonstruiere ich zunächst zwei musikpädagogisch-philosophische Positionen (Kap. 2.1). Anknüpfend an die letztere analysiere ich den Begriff des Schlüsselereignisses, der die beiden notwendigen Bedingungen für ein Verständnis des Anlasses von Bildungsprozessen beinhaltet (Kap 2.2). Um die Frage beantworten zu können, unter welchen Bedingungen sich Schlüsselereignisse musikbezogen/musikalisch denken lassen, untersuche ich die Bedingungen der Möglichkeit musikalischer Erfahrung am Beispiel des Konzerts. Meine Herangehensweise wird dabei eine phänomenologische sein; in die Method(ologi)e dieser Form des Philosophierens wird anhand eines Exkurses eingeführt (Kap. 2.3). Was unter musikalischen Schlüsselereignissen zu verstehen ist, illustriere ich am Beispiel von Publikumsäußerungen über das in der Einleitung erwähnte Konzert (Kap. 2.4). Diese Teilstudie abschließend, fasse ich die Ergebnisse zusammen, die es

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Musikalische Bildung als Transformationsprozess

erlauben werden, insbesondere auch die Vorstellung von transformatorischer Bildung als Ziel von Musikunterricht zu problematisieren (Kap. 2.5). Was sich in transformatorischen musikalischen Bildungsprozessen (in einem noch zu erläuternden engeren Sinn) ändert, was mit anderen Worten als deren Transformationsgegenstand verstanden werden kann, will ich im dritten Kapitel erörtern. Wie im vorherigen Kapitel stelle ich dazu zwei musikpädagogische Anknüpfungspunkte vor. Ihnen ist gemeinsam, dass sie ein musikalisches Welt- und Selbstverhältnis durch einen Begriff musikalischen Wissens beschreiben (Kap. 3.1). Kernmerkmal beider Ansätze ist zudem die Kennzeichnung musikalischen Wissens als praktisches Wissen. Ich führe daher in philosophische Konzepte praktischen und allgemeiner nicht-propositionalen Wissens ein. Dabei gehe ich auf Gründe für die erkenntnistheoretische Position eines epistemologischen Pluralismus ein, den beide Autoren mit ihrer Bestimmung musikalischen Wissens als praktisches Wissen voraussetzen. Im Anschluss differenziere ich erneut ihre musikpädagogischen Ansätze vor dem Hintergrund dieser Konzepte nicht-propositionalen Wissens (Kap. 3.2). Ob musikalisches Wissen notwendigerweise als ästhetisches Wissen zu betrachten ist, diskutiere ich als eine Frage, die sich in der Diskussion über diese Bestimmungen musikalischen Wissens ergibt (Kap 3.3). Im darauffolgenden Kapitel entwickle ich eine Minimaldefinition musikalischen Wissens als nicht-propositionales, affektiv dimensioniertes Vollzugswissen klanglichen Sinns und erörtere die Frage, wie dieses Wissen sprachlich artikuliert werden kann (Kap. 3.4). Musikalisches Wissen begründe ich sodann als musikalische »Figur« eines Welt- und Selbstverhältnisses und damit als einen spezifischen Gegenstand transformatorischer Bildungsprozesse. Das vierte Kapitel konzentriert die gewonnenen Bestimmungen des Anlasses sowie des Gegenstandes und fasst damit die Theorie transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse dieser Arbeit zusammen (Kap. 4.1). Durch einen Überblick über die bisherige musikpädagogische Biographieforschung gewinne ich Fragen für eine methodologische Perspektive auf musikalische Bildungsprozesse bei der Erforschung musikbezogener Biographien (Kap. 4.2). Die Skizzierung einer an der Theorie transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse orientierten Biographieforschung, ihres Erkenntnisgegenstandes und -interesses sowie methodischer Implikationen gibt einen Ausblick auf ein weiterführendes empirisches Forschungsprogramm (Kap. 4.3). Die Frage nach dem Zweck der Erforschung transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse beschließt diese Arbeit in Form eines offenen Endes, eines »Outros«.

Kapitel 1: Transformatorische Bildungsprozesse Zum Begriff

Das Wort »Bildung« ist mehrdeutig und versammelt unterschiedlichste Gebrauchstypen unter sich. Es kann für ein »Wissen« stehen, dessen Besitzende über sich sagen können, sie seien »gebildet«, sie verfügten über eine Allgemein- oder Spezialbildung.1 Bildung kann daneben die Tätigkeiten des Lehrens und Lernens meinen. Wenn es um den Erwerb praktischer Fähigkeiten geht, wird zumeist der Ausdruck »Ausbildung« bevorzugt. Etwas kann sich »herausbilden«, man kann sich »eine Meinung über jemanden oder etwas bilden«, womit in beiden Fällen gemeint ist, dass etwas entsteht oder eine Form gewinnt – und sei es die Form der »Einbildung«, von der der Volksmund sagt, sie sei auch eine Bildung. Aufgrund der Vielzahl etablierter Verwendungsfälle von »Bildung« in der Alltagssprache scheint es auch in pädagogischen Fachdiskussionen problematisch zu sein, von einer universalen Bedeutung des Wortes ausgehen zu wollen. Wirft man einen Blick auf die deutschsprachige Musikpädagogik, ergibt sich ebenfalls ein vielgestaltiges Bild. Jürgen Vogt hat die konkreten Thematisierungen dieses Wortes in Geschichte und Gegenwart nachverfolgt (vgl. Vogt 2015b). Gegenwärtige Bestimmungsversuche musikalischer Bildung zeitigen zwar unterschiedliche Ergebnisse, dennoch lassen sich Familienähnlichkeiten2 erkennen, die Vogt beispielhaft anhand der theoretischen Entwürfe

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Diesem Gebrauchstyp des Wortes Bildung entspricht z.B. Adornos Verständnis von Bildung als »Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung«, wobei auswendig gelerntes Bücherwissen für ihn keine Bildung wäre, sondern lediglich Halbbildung (vgl. Adorno 1959: 94). Gemeint ist das von Ludwig Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen (1953) eingeführte Verfahren zur Bestimmung von Begriffen, für die sich keine allgemeinen bzw. identischen Merkmale aller Gebrauchstypen feststellen lassen.

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von Hermann Josef Kaiser, Christian Rolle und Stefan Orgass aufzeigt. Sie ähneln sich in den folgenden Aspekten: Bildung wird (a) als ein Lern- und/oder Erfahrungsprozess verstanden, der (b) nicht auf einen Bestand bestimmter musikalischer Gegenstände oder Praktiken beschränkt ist, während umgekehrt (c) das bloße Vorhandensein beliebiger Musik nicht als hinreichend für das Zustandekommen dieses Prozesses gesehen wird. Der musikalische Bildungsprozess wird weiter (d) als unabschließbar beziehungsweise als nicht auf ein bestimmtes, zu erreichendes Ziel angelegt verstanden. Er ist (e) nicht vorrangig an das Hören, sondern auch an die musikalische Produktion gebunden (vgl. ebd.: 55f.). Anknüpfend an diese Entwürfe und mit dem Bemühen, einer Ablösung des Bildungsbegriffes durch Begriffe wie Sozialisation oder Kompetenz vorzubeugen, schlägt Vogt vor, den Begriff musikalischer Bildung für solche Fälle zu reservieren, bei denen »die zur Verfügung stehenden Fähigkeiten und Fertigkeiten, Einstellungen und Motivationen angesichts musikbezogener Situationen sich als unzureichend (oder zumindest als diskussionswürdig) erweisen und verändert werden müssen«. Der Begriff »Musikalische Bildung« beschreibe, wie »Subjekte […] mit Musik neue Erfahrungen machen, die nicht im bloßen Lernen aufgehen, wie sie mit anderen Subjekten im Hinblick auf Musik in einer Weise interagieren, die nicht einfach als Sozialisation beschreibbar ist, wie Musik Teil ihrer Biographie wird, die nicht curricular vorausplanbar ist etc.« (Ebd.: 58f.) Musikalische Bildung steht damit für einen komplexen, nicht planbaren Lernprozess, der durch Erfahrungen angestoßen wird, in denen Musik, wie Vogt an anderer Stelle erläutert, als »etwas Fremdes, etwas, mit dem wir nicht zurechtkommen« (Vogt 2013: 50) wahrgenommen wird, durch die aber zugleich neue musikalische Erfahrungen möglich werden. Dieser Definitionsvorschlag enthält nun ein ganzes Bündel an Bestimmungen, das im vorliegenden Kapitel entwirrt werden soll. Entscheidend ist zunächst, dass Vogt dem Sprachgebrauch innerhalb der musikpädagogischen Fachdiskussion im Grunde treu bleibt. Seine Fassung des Begriffs musikalischer Bildung bleibt deskriptiv auf den Gebrauch des Begriffs in den Konzepten von Christian Rolle und Stefan Orgass bezogen. Auch deren Bildungsverständnisse betonen das Moment der Neuartigkeit der durch diesen (nicht lediglich sozial determinierten) Prozess gewonnenen Sicht- beziehungsweise Hörweise auf Musik und Welt (vgl. Rolle 1999: 28; Orgass 2007: 118). Diese Bestimmung erlaubt es Vogt, an eine

Zum Begriff transformatorischer Bildungsprozesse

einflussreiche erziehungswissenschaftliche Theorie von Bildung anzuschließen, die diesen Prozess als »Transformation grundlegender Figuren des Weltund Selbstverhältnisses« (Koller 2012: 17) konzipiert (Vogt 2015b: 58). Sie wird der Ausgangspunkt auch meiner weiteren Überlegungen sein. Gemeint ist die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse Die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse wurde in ihren Grundzügen in Aufsätzen von Rainer Kokemohr entwickelt (vgl. Kokemohr 2000; Kokemohr 2007) und in Monographien von Winfried Marotzki (vgl. Marotzki 1990) sowie Hans Christoph Koller (vgl. Koller 2012) systematisch ausgearbeitet. Letzterer interpretiert sie explizit als eine Neuformulierung des klassischen Bildungsdenkens Wilhelm von Humboldts (vgl. ebd.: 15). Theoretischer Konsens besteht zwischen den Autoren in mindestens fünf Aspekten und/oder Annahmen: Erstens verstehen sie Bildung als einen Wandlungs- oder Transformationsprozess des Verhältnisses eines (soziokulturell situierten) Subjekts zu sich selbst und zu seiner Welt (vgl. Marotzki 1990: Kap. 3; Kokemohr 2000: 421; Koller 2012: Kap. 1.3). Die Verklammerung von Welt und Subjekt oder Selbst haben Kokemohr, Marotzki und Koller unter anderem in Anlehnung an Humboldt (vgl. Koller 2012: 12f.) durch ihre sprachliche Vermitteltheit erläutert. Die Prämisse dabei ist, »dass die Verhältnisse, in denen Menschen zur Welt und zu sich selber stehen, als sprachlich bzw. semiotisch, das heißt zeichenförmig strukturierte (oder eben figurierte)3 Verhältnisse aufzufassen sind« (ebd.: 16). Sie wird dadurch begründet, dass ein reflexives Verhältnis eines Subjekts zu sich und zur Welt nur in und durch Sprache beziehungsweise sprachliche Symbole überhaupt gegeben sein kann (vgl. Marotzki 1990: 162; Kokemohr 2007: 16). Dadurch stimmen sie zweitens darin überein, dass sich Bildung als Transformationsprozess in autobiographischen, also lebensgeschichtlichen Konstruktionen artikuliert. Dies ist insofern entscheidend, als die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse mit dem Anspruch entwickelt wurde, über

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Angesprochen sind durch diese Figurierung von Welt- und Selbstverhältnissen auch die jeweils kulturell geprägten rhetorischen Formen der lebensgeschichtlichen Welt- und Selbstbeschreibung (vgl. dazu Koller 1994; Kokemohr/Koller 1996). Ich werde den Gedanken der rhetorischen Figurierung musikalischer Biographien in Kapitel 4.3.1 aufgreifen.

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die Bildungstheorie hinaus eine methodologische Orientierung für die erziehungswissenschaftliche empirische Biographieforschung zu entwerfen (vgl. Marotzki 1990: Kap. 5; Koller 2012: Teil 4). Eine bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung, so formuliert Marotzki programmatisch, interessiere sich »für den Aufbau, die Aufrechterhaltung und die Veränderung der Weltund Selbstreferenzen von Menschen. In dieser Perspektive handelt es sich darum, empirische Anschlüsse des bildungstheoretischen Diskurses zu erreichen« (Marotzki 2006: 60). Empirische Biographieforschung kann gerade deshalb an die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse anschließen, weil deren Begriff von Bildung von einem normativen, präskriptiven Gehalt befreit ist beziehungsweise deskriptiv oder »praxisrekonstruktiv« (Stojanov 2006: 74) konzipiert wurde. Mit anderen Worten beschreibt die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse nicht, wie solche Prozesse verlaufen sollen oder was als gute oder wünschenswerte Bildung aufzufassen wäre (oder nicht), sondern (nur), wie Bildung als Transformationsprozess überhaupt zu verstehen ist. Krassimir Stojanov hat die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse meines Erachtens daher zu Recht als eine »echte paradigmatische Neuerung in der Bildungstheorie insgesamt« (ebd.) bezeichnet, da sie Bildung dahingehend plausibilisiert – worauf ich in den weiteren Punkten zusammenfassend eingehe –, dass und wie man ein anderer werden kann als man zuvor war. Dies macht Bildungsprozesse überhaupt erst für wissenschaftliche Pädagogik erforschbar. Die Frage, auf deren Beantwortung dann innerhalb der empirischen Forschung zu hoffen ist, lautet, in welchen Kontexten und unter welchen Bedingungen die so gedachten Bildungsprozesse tatsächlich stattfinden. Dies lässt davon abgekoppelt und in einem zweiten Schritt die Frage nach möglichen normativen Perspektiven auf diesen Prozess zu. Eine normative Erweiterung oder Modifizierung der transformatorischen Bildungstheorie wäre letztlich die Voraussetzung zur Klärung der Frage, »wie pädagogische Interaktionen beschaffen sein sollen, damit sie diesen Bildungsvorgang ermöglichen, initiieren und unterstützen können« (ebd.: 75). Entsprechende Versuche, die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse normativ zu modifizieren, liegen von Stojanov (vgl. Stojanov 2006) und Koller (vgl. Koller 2015) vor. Drittens ist den Entwürfen dieser, an einem Anschluss an empirische Forschung interessierten, Bildungstheorie gemeinsam, dass die mit dem transformatorischen Bildungsbegriff gemeinte sprachlich und biographisch artikulierte, subjekt- und weltbezogene Wandlung im Unterschied zu Wilhelm

Zum Begriff transformatorischer Bildungsprozesse

von Humboldts Idee von Bildung nicht als ein natürliches Bestreben der Entfaltung menschlicher »Kräfte« oder »Anlagen« gedeutet wird (vgl. Koller 2012: 15ff). Stattdessen wird angenommen, dass transformatorische Bildungsprozesse dann notwendig werden, wenn unbekannte individuelle oder gesellschaftliche Problemlagen auftauchen, für die keine Ordnungs- und Bearbeitungsstrategien zur Verfügung stehen (vgl. Kokemohr 2000). Die Frage nach der Möglichkeit von Bildungsprozessen beantwortet Koller daher – ähnlich wie zuvor Vogt – im Hinblick auf musikalische Bildungsprozesse durch die Bedingung einer »Art von Krisenerfahrung, nämlich die Konfrontation mit einer Problemlage, für deren Bewältigung sich das bisherige Welt- und Selbstverhältnis als nicht mehr ausreichend erweist« (Koller 2012: 16). Insgesamt findet der Begriff transformatorischer Bildung in der alltagssprachlichen Bedeutung von »Krise(n)« eine ähnliche, wenn auch keine äquivalente Vorstellung: Krisen kommen nicht von ungefähr auf jemanden zu. Erst dadurch, dass etwas den gewohnten Lauf eines Lebens grundsätzlich infrage stellt, können die Betroffenen in eine Krise geraten und erkennen, dass eine Neu- oder Umorientierung der Welt- und Selbstsicht gefordert ist. Viertens wird transformatorische Bildung graduell von einem Lernen unterschieden, das als fortschreitende oder kumulative Aneignung der Welt, als »Dazulernen« kognitiver Schemata und Strategien der Problemlösung, verstanden wird. Transformatorische Bildung stellt einen Lernprozess dar, der nicht nur auf das zielt, was gelernt wird, sondern zugleich die Art und Weise betrifft, wie gelernt wird, beziehungsweise die Gewohnheiten, über die jemand verfügt, um »das erforderliche Ausmaß an Versuch und Irrtum bei der Lösung eines Problems zu reduzieren« (Marotzki 1990: 38). Gewohnheiten meint hier nicht bloße Reflexe, sondern »verhaltensstabilisierende Annahmen oder Prämissen, die, wenn sie etabliert sind, zunehmend unbewußt werden, aber ein rigides Steuerungspotential entfalten« (ebd.). Transformatorische Bildungsprozesse werden somit als Um-Lernprozesse konzeptualisiert, die sich auf zum Teil unbewusste Vorannahmen der Weltaneignung, auf herausgebildete Gewohnheiten der Welt- und Selbsterfahrung beziehen. In Kollers Worten: Bildungsprozesse sind »als Lernprozesse höherer Ordnung zu verstehen, bei denen nicht nur neue Informationen angeeignet werden, sondern auch der Modus der Informationsverarbeitung sich grundlegend ändert« (Koller 2012: 15). Fünftens wäre für das weitere Verständnis von transformatorischen Bildungsprozessen noch ergänzend hinzuzufügen, dass die aus diesen Prozessen resultierenden Weltverhältnisse eine relative Stabilität in Form einer

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Musikalische Bildung als Transformationsprozess

kohärenten Subjektivierung beziehungsweise einer biographischen Verankerung aufweisen. Mit transformatorischen Bildungsprozessen wäre damit »definitiv nicht jene Art ›postmodernen‹ ›Hoppings‹ zwischen temporären und oberflächlichen Identifikationen und Rollen zu bezeichnen, die beliebig austauschbar, und daher vollständig auf einer abstrakten Gegenwart ohne Vergangenheits- und Zukunftsbezug fixiert sind« (Stojanov 2006: 78). Frageperspektiven Vor dem Hintergrund dieser Annahmen kann man über transformatorische Bildungsprozesse an drei Frageperspektiven orientiert nachdenken (vgl. Koller 2012: 17ff.): (a) Wie ist der Gegenstand transformatorischer Bildungsprozesse zu verstehen beziehungsweise wie kann er theoretisch modelliert werden? (b) Wodurch wird der Transformationsprozess ausgelöst? Wie lässt sich der Anlass transformatorischer Bildungsprozesse auf einen Begriff bringen? (c) Wie werden Prozesse transformatorischer Bildungsprozesse empirischer Forschung zugänglich? Entlang dieser Frageperspektiven wird im Folgenden eine Theorie transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse entwickelt. Nach dieser grundsätzlichen Rekonstruktion des Konzeptes transformatorischer Bildungsprozesse im ersten Kapitel, werde ich nun im zweiten Kapitel mit dem Begriff des musikalischen Schlüsselereignisses die notwendigen, zusammengenommen hinreichenden Merkmale des Auslösers musikalischer Bildungsprozesse beschreiben. Dabei gehe ich vor allem auf die eigentümlichen Möglichkeitsbedingungen neuer musikalischer Erfahrungen ein. Meine philosophischen Ausführungen dazu beziehen sich illustrierend auf einen konkreten Gegenstand: auf Konzerte. Dieses Beispiel habe ich gewählt, weil ein anfänglicher Ausgangspunkt dieser Arbeit die Beschäftigung mit der musik- und kulturpädagogischen Diskussion (der Notwendigkeit) einer »Konzertpädagogik« (vgl. Bugiel 2015; Bugiel 2017a) war, in welcher offenblieb, wie Konzerte im Zusammenhang von musikalischem Lernen oder musikalischer Bildung thematisiert werden können. Zu bezweifeln wäre, dass Konzerte von sich aus etwas mit musikalischem Lernen oder musikalischer Bildung zu tun haben, zum Beispiel weil sie, wie argumentiert wurde, eine besondere Präsenz- oder auratische/ursprüngliche Erfahrung ermöglichen würden. Dagegen halte ich, dass ihre lern-, zumindest ihre bildungsrelevante Erfahrung von bestimmten Bedingungen abhängt, von Bedingungen, die sich für alle musikalischen Geschehen formulieren lassen. Diese erläutere ich im folgenden Kapitel.

Kapitel 2: Schlüsselereignisse Zum Auslöser transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse

Transformatorische (musikalische) Bildungsprozesse ereignen sich nicht aus dem Nichts. Dieses Kapitel versucht daher, die Frage nach ihrem Auslöser zu beantworten. Dazu gehe ich in folgenden Schritten vor: Zunächst werde ich die bestehende musikpädagogische Diskussion von Auslösern musikalischer Bildungsprozesse darstellen. Dies wird mich vom Begriff der ästhetischen Erfahrung bei Christian Rolle auf den Begriff der musikalischen Fremderfahrung und des musikalischen Schlüsselereignisses bei Jürgen Vogt führen (Kap. 2.1). In einem zweiten Schritt analysiere ich ausgehend von Bernhard Waldenfels’ phänomenologischem Ansatz den Begriff des Schlüsselereignisses und arbeite die notwendigen und zusammengenommen hinreichenden Merkmale für das Verständnis von musikalischen Bildungsanlässen heraus (Kap. 2.2). Anschließend nähere ich mich am Beispiel von Konzerten phänomenologisch der Beantwortung der Frage an, wie etwas überhaupt musikalisch erfahren werden kann. Die Antwort auf diese Frage ist die Voraussetzung dafür, Anlässe transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse thematisieren zu können. Auf die Metho(dologi)e phänomenologischen Philosophierens gehe ich in einem Exkurs gesondert ein (Kap. 2.3). In einem vierten Schritt erläutere ich – anknüpfend an die Ergebnisse der vorherigen beiden Teilkapitel – den Begriff des musikalischen Schlüsselereignisses als Auslöser von transformatorischen musikalischen Bildungsprozessen am Beispiel (der Interpretation) konkreter Konzerterfahrungen (Kap. 2.4). Abschließend fasse ich die Ergebnisse dieses Kapitels zusammen und problematisiere vor diesem Hintergrund die musikpädagogisch/-didaktisch be-

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Musikalische Bildung als Transformationsprozess

kannte Rede von einer »Ermöglichung« (transformatorischer) musikalischer Bildung (Kap. 2.5).

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Auslöser musikalischer Bildungsprozesse in der musikpädagogischen Diskussion

In der deutschsprachigen Musikpädagogik hat sich eine Diskussionstradition etabliert, in welcher ästhetische Bildungsprozesse im Zusammenhang mit bestimmten Erfahrungen betrachtet werden. Als wegbereitend hierfür gelten die Arbeiten von Hermann J. Kaiser. Kaiser hat insgesamt vier Begründungsmuster musikbezogener Erziehung herausgearbeitet, von denen mich hier insbesondere das ästhetische Paradigma interessiert, dessen maßgebliche These lautet, »dass durch Musik eine Erfahrung für uns Menschen ermöglicht wird, die in keinem anderen und durch kein anderes Medium sonst zu gewinnen ist« (Kaiser 1995: 19). Der eigentlichen Begründung dieser These, die unser musikalisches Welt- und Selbstverhältnis betrifft, werde ich erst im folgenden dritten Kapitel nachgehen. Kaisers ästhetisches Paradigma wurde Ende der 1990er Jahre unter dem Namen »ästhetische Bildung« wiederentdeckt (vgl. Rora 2001: 157; Brandstätter 2004: 68; Rolle 1999: 6f.), wobei im Kontext dieser Diskussion Begriffe von Erfahrung im Hinblick auf Anlässe oder Auslöser musikalischer transformatorischer Bildungsprozesse entwickelt wurden. Exemplarisch möchte ich dies an zwei Arbeiten verdeutlichen: an Christian Rolles vielrezipierter Dissertation Musikalisch-ästhetische Bildung (1999) und an Jürgen Vogts vergleichsweise selten berücksichtigter Habilitationsschrift Der schwankende Boden der Lebenswelt (2001). Ich werde zeigen, dass sich in Rolles Argumentation gewisse Probleme ergeben, für welche die Bildungstheorie Jürgen Vogts Lösungsansätze bereithält. Seine Überlegungen führen mich dahin, den Anlass musikalischer Bildung vom Begriff des Schlüsselereignisses her weiterzudenken, ohne dabei gänzlich auf einen spezifischen Begriff von Erfahrung zu verzichten.

2.1.1

Ästhetische Erfahrungen bei Christian Rolle

Die Kernthese von Christian Rolles Theorie musikalisch-ästhetischer Bildung deutet darauf hin, dass nicht nur musikalische Bildung selbst als Erfahrungsprozess verstanden werden kann, sondern auch der Auslöser dieses Prozesses in ästhetischen Erfahrungen zu suchen ist. »Musikalische Bildung«, so Rolle,

Zum Auslöser transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse

»findet statt, wenn Menschen in musikalischer Praxis ästhetische Erfahrungen machen« (Rolle 1999: 5). Musikalische Bildung ereignet sich Rolle zufolge also nicht schon, wenn sich Menschen überhaupt mit Musik beschäftigen. Erst unter der Bedingung, dass sie dabei Erfahrungen machen, die er als ästhetische spezifiziert, können musikalische Bildungsprozesse in Gang kommen. Indem er auf diese Erfahrungen als notwendige Bedingung musikalischer Bildungsprozesse besteht, widerspricht Rolle der verbreiteten Auffassung, die Beschäftigung mit Musik habe bereits an sich und immer schon eine bildende Wirkung. Die Frage, die meine nachfolgende Darstellung leiten wird, lautet, ob Rolle durch seinen Begriff der ästhetischen Erfahrung bereits eine notwendige Bedingung für das In-Gang-Kommen von (transformatorischen) Bildungsprozessen geltend machen kann. Um dies zu klären, thematisiere ich zunächst seinen Begriff von Bildung, bevor ich auf Rolles Bestimmung der ästhetischen Erfahrung als Bedingung musikalischer Bildungsprozesse zu sprechen komme. Bildung als transformierender Erfahrungsprozess   »Bildung soll der selbsttätige, riskante und unabschließbare Prozess der Erfahrung genannt werden, in dem Menschen sich neu orientieren, indem sie in Interaktionen mit anderen veränderte intersubjektiv verständliche Möglichkeiten der Selbst- und Weltbeschreibung erwerben.« (Rolle 1999: 38) Bildung versteht Rolle mit anderen Worten im Sinne eines transformierenden Erfahrungsprozesses, dessen Resultate sich in neuen, für andere prinzipiell nachvollziehbaren Möglichkeiten der Selbst- und Weltbeschreibung niederschlagen sollen. Als selbsttätig beschreibt Rolle den Bildungsprozess im Anschluss an den klassischen, durch die Aufklärung geprägten Begriff von Bildung, der das Moment der Emanzipation betont und mit dem die Hoffnung auf eine Veränderung von Subjekt und Gesellschaft einhergeht (vgl. ebd.: 39). Gegenüber der Vorstellung eines autonomen, von gesellschaftlichen Einflüssen gänzlich befreiten Konzepts von Subjektivität, die die Rede von »Selbsttätigkeit« hervorrufen könnte, meldet Rolle jedoch Bedenken an. Problematisch sei der darin enthaltene »ursprünglich cartesianische Gedanke, dass das ›Ich‹ sich selbst konstituiert, indem es sich lediglich auf sich selbst bezieht, also seiner selbst

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bewusst wird oder sich selbst denkt« (ebd.). Gegen ihn wendet Rolle ein, dass das Subjekt sich selbst gegenüber nicht transparent sein könne und/oder auch nicht alleine über die Bedingungen seiner Ermöglichung verfüge, da es notwendigerweise auf eine symbolische, sozial vermittelte Welt bezogen sei. Eine von dieser Weltbezogenheit abgekoppelte Autonomie des Subjekts müsse daher als Illusion gelten (vgl. ebd.: 38f). Um damit jedoch nicht einen »Tod des Subjekts« zu proklamieren und damit den Begriff beerdigen zu müssen, schlägt Rolle vor, Subjektivität in Anlehnung an Wilhelm von Humboldt als Resultat sprachlicher Auseinandersetzung zu verstehen. So wäre anzunehmen, dass »Subjekte sich nicht selbst schaffen, sondern dass Bildungsprozesse abhängig von symbolischen Interaktionen« (ebd.: 40) sind. Damit ginge aber nicht einher, dass Subjektivität beziehungsweise das jeweilige Selbstsein immer zugleich zum Opfer hegemonialer Vorstellungen oder Diskurse würde. Es bleibt, so Rolle, »trotzdem richtig, dass Menschen in Bildungsprozessen an Freiheit gewinnen, insofern sich ihnen dabei neue Denk- und Handlungsoptionen eröffnen« (ebd.). Ob der Richtigkeit dieser These aufgrund seiner weiteren Ausführungen zuzustimmen ist, wird noch zu zeigen sein. Bildungsprozesse sind Rolle zufolge weiter als riskant zu bewerten, weil der Zugewinn an neuen Möglichkeiten der Welt- und Selbstbeschreibung nicht deren Revision, sondern ein Umlernen bedeute (vgl. ebd.: 38). Diese Prozesse implizieren somit das Risiko, dass gewohnte Erfahrungsmöglichkeiten verloren gehen. Als unabschließbar kann dieser Prozess verstanden werden, weil kein Erfahrungsbestand vor Erfahrungen gefeit ist, die eine Neu-Auslegung vorhandener Erfahrungen nötig machen (vgl. ebd.: 63ff.). Musikalische Bildung als transformierender beziehungsweise als selbsttätiger, riskanter und unabschließbarer Erfahrungsprozess sei, so Rolles Hauptthese, durch ästhetische Erfahrungen möglich, die Menschen in musikalischer Praxis machen können und die durch die Auseinandersetzung mit anderen mittelbar bewirkt werden könnten.1 Die Frage ist daher, ob und wie Rolle dies mit seinem Begriff von ästhetischer Erfahrung begründen kann. Musikalische Bildung durch ästhetische Erfahrungen Ästhetisch können laut Rolle Erfahrungen genannt werden, die auf ästhetische Wahrnehmungen zurückgehen. Ästhetische Erfahrungen, die musikalische 1

Für den Musikunterricht illustriert Rolle dies durch die sog. »Inszenierung ästhetischer Erfahrungsräume« und/oder den »ästhetischen Streit« (vgl. dazu u.a. Rolle 2014).

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Bildungsprozesse bewirken können, hält er jedoch nur aufgrund bestimmter Modi ästhetischer Wahrnehmung für möglich. Bevor ich darauf zu sprechen komme, wie Rolle die für den musikalischen Bildungsprozess relevanten ästhetischen Wahrnehmungsmodi beschreibt, komme ich zunächst zu seinem Verständnis von ästhetischer Wahrnehmung. Bei diesem folgt er, wie auch beim Verständnis ihrer spezifischen Modi, der ästhetischen Theorie von Martin Seel. Was Wahrnehmungen als ästhetische kennzeichnet, ist, dass sie in einer Einstellung gemacht werden, bei der es »um eine vollzugsorientierte und selbstbezügliche Aufmerksamkeit auf das [geht], was in der Situation wahrnehmbar erscheint« (Rolle 1999: 88). Folglich ist die ästhetische Wahrnehmung nicht mit einer bloßen »aisthetischen«, das heißt sinnlichen Wahrnehmung gleichzusetzen. Sie stellt vielmehr ihren Sonderfall dar (vgl. ebd.: 91). Ästhetische Wahrnehmungen unterscheiden sich außerdem von solchen Wahrnehmungen, die in pragmatisch-instrumenteller Absicht vollzogen werden, also von Wahrnehmungen, in denen wir Dinge im Blick auf ihren Nutzen für die praktische Bewältigung einer Situation betrachten, betasten, hören usw. Durch einen bildenden ästhetischen Erfahrungsprozess, der ästhetische Wahrnehmungen zur Voraussetzung hat, könne daher auch kein pragmatisch-instrumentelles Wissen für den zukünftigen Umgang mit musikalischen Gegenständen und Situationen entstehen (vgl. ebd.: 88). Dies hatte Rolle zufolge Kaiser für Erfahrungen im Allgemeinen, die ästhetischen eingeschlossen, beansprucht (vgl. Kaiser 1999: 244f.; vgl. kritisch zu dieser Lesart Rolles Kap. 3.1). Für ästhetische Wahrnehmungen gelte außerdem, dass sie nicht notwendigerweise auf vermeintlich »künstlerische« Gegenstände verwiesen sein müssen. Es wird nicht ausgeschlossen, dass zum Beispiel auch Gegenstände oder Ereignisse der Natur ästhetisch wahrgenommen werden.2 Umgekehrt können »Kunstwerke« ebenso nicht-ästhetisch, beispielsweise hinsichtlich pragmatischinstrumenteller Gesichtspunkte (z.B. ihres Verkaufswertes, als Zeitdokument etc.) interessieren. Erst wenn sie in selbstzweckhafter, vollzugsorientierter Einstellung wahrgenommen werden, erscheinen sie als ästhetische Objekte beziehungsweise als Inhalt ästhetischer Wahrnehmung (vgl. Rolle 1999: 186). Bildungsrelevant seien nun Rolle zufolge nur die Modi kontemplativ- und imaginativ-ästhetischer Wahrnehmung (vgl. ebd.: 121). »Relevant« sind sie in dem Sinne – wie noch zu zeigen sein wird –, dass sie die eigentlichen Auslöser 2

Martin Seel illustriert seine ästhetische Theorie u.a. an Beispielen aus der Natur (vgl. Seel 1991).

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oder notwendigen Bedingungen des bildenden Erfahrungsprozesses darstellen sollen. Kontemplativ(-ästhetisch) wahrzunehmen bedeutet, im selbstzweckhaften Vollzug den Gegenständen zwar Qualitäten abgewinnen zu können, dabei aber nicht auf deren Deutung oder Sinn zu zielen. Diese Form ästhetischer Wahrnehmung hat zur Voraussetzung, sich von allen lebenspraktischen Vollzügen so zu distanzieren, dass ein Gegenstand auch ohne Konzert- oder Museumssituation seinem Funktions- und Bedeutungskontext entrissen wird und zum Beispiel Musikwerke nur noch ihrer reinen Klanglichkeit wegen interessieren. Entsprechend sieht Rolle in Werken der Musique concrète, in Soundscapes und aleatorischen Kompositionen, solchen Werken also, die ihre Materialität exponieren, vorzügliche Einladungen zur Haltung der ästhetischen Kontemplation (vgl. ebd.: 95). Ihre Relevanz für Bildungsprozesse gewinnt die »sinnabstinente« Einstellung der Kontemplation schließlich dadurch, dass sie »eine Infragestellung verfestigter Wahrnehmungs- und Interpretationsschemata« (ebd.: 121) bedeutet. Vom kontemplativ-ästhetischen Modus grenzt sich nun der ebenfalls von Rolle für bildungsrelevant erklärte imaginativ-ästhetische Wahrnehmungsmodus dadurch ab, dass in ihm »das sinnlich Wahrgenommene – sozusagen per Einbildungskraft – mit Sinn verbunden wird« (ebd.: 120). (Ästhetische) Bedeutung gewinnen die in dieser Einstellung vergegenwärtigten musikalischen Objekte jedoch weniger dadurch, dass sie etwas repräsentieren, als vielmehr dadurch, wie sie präsentieren und genauer: indem sie das präsentieren, was sie bedeuten (vgl. ebd.: 132). Am Beispiel musikalischer Bedeutung, der Rolle ein eigenes Kapitel widmet, argumentiert er damit zum Beispiel entschieden gegen die Annahme der Gefühlsausdruckstheorie des 18. Jahrhunderts, nach welcher Musik die Gefühle der Komponisten repräsentiert oder diese musikalisch reformuliert. Dagegen wendet Rolle ein, dass Musik lediglich musikalische Gefühle repräsentieren könne, denn diese Gefühle, so begründet er, »bleiben abhängig von ihrer Artikulation im musikalischen Material, an der wir sie uns vergegenwärtigen können« (ebd.: 146, vgl. außerdem dazu Kap. 3.4). Bildend wirkt der imaginativ-ästhetische Modus, weil durch ihn »neue Sichtweisen« wahrnehmend erfunden werden (vgl. ebd.: 121). Dem dritten und letzten Modus von Seels Theorie ästhetischer Wahrnehmung, dem korresponsiven, räumt Rolle keine Bedeutung für musikalischästhetische Bildungsprozesse ein. Was diesem im Vergleich zu den vorherigen fehlt, ist eine reflexive Distanz zum Leben. Erst durch diese Distanz aber können die (ästhetischen) Sichtweisen auf die Dinge und Situationen überhaupt

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thematisch und auch veränderbar sein (vgl. ebd.: 110). Korresponsiv-ästhetisch wahrzunehmen bedeute, »sinnlich-sinnhafte Korrespondenzen« (Seel zit.n. ebd.: 109) zu stiften: Dies tun wir, wenn wir Gegenstände, sei es Musik oder Kleidung etc., danach beurteilen, ob sie für uns einen gewünschten Lebensstil oder eine Atmosphäre zum Ausdruck bringen oder erzeugen.3 Erst wenn diese alltäglichen, lebensverbundenen Korrespondenzen in den Modus der interpretativen, imaginativen Wahrnehmung eintreten, könnten sie bildend wirken, insofern wir sie dann als »Objekte der Korrespondenz, als Ausdruck von Lebensmöglichkeiten verstehen« (ebd.: 110; Herv. L.B.), die also auch andere sein könnten als die, die bereits gewohnt oder bekannt sind. In Rolles Argumentation lassen sich einige Probleme aufzeigen, die ich wie folgt thematisieren möchte: Erstens halte ich die von ihm (in Anlehnung an Seel) bestimmten ästhetischen Wahrnehmungsmodi als Anlässe für Bildungsprozesse für nicht begründet. Zweites erscheint es mir zu einseitig, Bildung als transformierenden Erfahrungsprozess als von (ästhetischen) Einstellungen abhängig zu bestimmen. Drittens bleibt der Bezug ästhetischer Erfahrungen auf Musik in seiner Theorie unbestimmt und damit unklar, worauf sich seine Theorie »musikalisch«-ästhetischer Bildungsprozesse eigentlich bezieht. Imaginative und kontemplative ästhetische Wahrnehmung als Anlässe von Bildungsprozessen Imaginative und kontemplative ästhetische Wahrnehmungen sollen Rolle zufolge zu bildenden Erfahrungsprozessen herausfordern, weil durch imaginative Wahrnehmungen neue Sichtweisen auf die Welt erfunden würden und die »Sinnabstinenz« kontemplativer Wahrnehmungen zur Infragestellung gewohnter Weisen der Weltzuwendung führe (vgl. Rolle 1999: 121). Zunächst ist gar nicht klar, weshalb Rolle die Wahrnehmungsprodukte der imaginativen ästhetischen Einstellung als »neue« qualifiziert. Es ist nämlich anzunehmen, dass auch diese Einstellung gewohnheitsmäßige (Be-)Deutungen hervorbringen kann. Wer zum Beispiel auf klassisch-romantische Orchestermusik Bilder oder Stimmungen projiziert, die ihm aus Filmen bekannt

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Rolle nennt dafür einige Beispiele: »[…] die alltägliche Art und Weise, in der ich mein Leben ästhetisch gestalte (angefangen bei den Bildern, die meinem Arbeitszimmer wenigstens etwas Kontur geben, über die Kleidung, die ich nicht nur aus praktischen Gründen wähle, bis zum Auflegen einer Musik, die meiner momentanen Stimmung Ausdruck verleiht)« (Rolle 1999: 108).

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sind, wer beim Erklingen von Strauss’ Also sprach Zarathustra den Weltraum imaginiert oder bei Wagners Vorspiel von Tristan und Isolde den Weltuntergang, weil sie oder er ein Fan Stanley Kubricks oder Lars von Triers ist, verharrt möglicherweise schon in für ihn oder sie bekannten – wenn auch ästhetischen – Deutungsmustern. Es ist zwar richtig, dass diese Vorstellungen vom Weltraum oder ähnlichem nicht schon irgendwie in den Musikwerken angelegt beziehungsweise durch sie determiniert sind: Sie müssen erfunden oder imaginiert werden. Ob sie den Wahrnehmenden zwangsläufig als neue begegnen, ist jedoch nicht der Notwendigkeit ihrer Imagination oder Erfindung geschuldet. Auch die »sinnabstinente«, kontemplative ästhetische Wahrnehmung wird keineswegs unmittelbar als Bedingung für bildend wirkende Erfahrungsprozesse verständlich. Die Welt, die sich in kontemplativer Einstellung öffnet, so schreibt Martin Seel selbst, »ist nicht die wahre, die objektive, die scheinlose Welt […] genausowenig aber fiktive oder illusionäre; es ist eine Welt, in der auf einmal all das beachtenswert wird, was sonst nicht beachtenswert ist. Wir verlassen die pragmatische und jede sonstige werthafte (auch jede sonstige ästhetische!) Gliederung der Welt: nicht um einer neuen, einer eigentlichen Gliederung willen, sondern im Versuch, Ding und Raum unserer Umgebung ohne solche Gliederung zu sehen. Genaugenommen verlassen wir nicht einmal unsere Gliederung der Welt, die ja eben unsere ist, die wir also gar nicht verlassen können, jedenfalls nicht durch bloßes Ignorieren und bloßen Entscheid; wir verlassen nur unseren Verlaß auf sie, wir lassen unser Festhalten an ihr sein.« (Seel 1991: 83f.) In der kontemplativen Einstellung soll also – wie auch immer man sich das konkret vorzustellen hat – jegliche Gliederung der Welt irgendwie suspendiert werden. Zu folgern, dass dadurch zugleich Gliederungen im Sinne verfestigter Wahrnehmungs- und Interpretationsschemata infrage gestellt werden, erscheint nicht plausibel. Es stellt sich vielmehr die Frage, wie sich eine Infragestellung der Gliederung in einem Modus ereignen soll, der gerade solche Gliederung(en) völlig außer Acht lassen möchte.4

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Die Beschreibung des kontemplativen Modus ästhetischer Wahrnehmung durch Seel ist nicht unproblematisch, suggeriert sie doch, es wäre irgendwie möglich, eine unterschiedslose Welt zu konstruieren, was in Widerspruch zu vielen bekannten erkenntnis-

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Das für den kontemplativen Modus als typbildend erachtete Aussetzen von Deutung beziehungsweise Sinngebung ist nämlich nicht gleichzusetzen mit einem Entzug von Sinn, der sich einstellt, wenn Dinge außerhalb einer Gliederung erscheinen, die nie innerhalb dieser verortet oder geordnet werden konnten (vgl. dazu Kap. 2.2). Die kontemplative Sinnabstraktion ist gemäß Seel auch keine »Zerstörung des Sinnes und seines Verstehens« (Seel 1991: 245). Sie stellt noch nicht einmal eine Kritik dar, sondern ist »ein Abstandnehmen von der Orientierung am Sinn, das auf keinerlei Sinnesänderung zielt, auch wenn es diese in der Konsequenz des Abstandnehmens von Fall zu Fall bewirkt« (ebd.). Erst dieser Fall von »Sinnesänderung« aber wäre von bildungstheoretischer Relevanz. Sein Eintreten ist, wie Seels Ausführungen andeuten, jedoch nicht schon durch ein Wahrnehmen in kontemplativer ästhetischer Einstellung beschlossen. Folglich bewirken nun weder die imaginative noch die kontemplative ästhetische Einstellung notwendigerweise »eine veränderte Sicht auch der Dinge […], die bei anderer Gelegenheit in Fraglosigkeit verharren würden« (Rolle 1999: 121). Die Frage, wodurch musikalische Bildungsprozesse in Gang kommen können, ist daher eigentlich noch nicht beantwortet. Musikalisch-ästhetische Bildung als Einstellungssache?   »Die materielle Basis ästhetischer Erfahrung ist nicht schon von sich aus ästhetisch, sondern sie wird ästhetisch wahrgenommen, wenn wir ihr in ästhetischer Einstellung begegnen.« (Rolle 1999: 103) Diese Formulierung Rolles legt mit anderen Worten nahe: Ob etwas – was auch immer – als ästhetisch-lohnenswerter Gegenstand erscheint, ist eine »Einstellungssache«. Wenn nun musikalische Bildung von ästhetischer Erfahrung und damit auch von (bestimmten Modi) ästhetischer Wahrnehmung abhängen soll, gerät auch diese zu einer Sache der Einstellung. Handelt es sich bei musikalisch-ästhetischer Bildung also um einen Vorgang, der, weil er auf Einstellungen beruht, zugleich willentlich herbeigeführt werden kann, im Sinne eines »Ich will mich jetzt musikalisch-ästhetisch bilden, also stelle ich mich kontemplativ oder imaginativ auf die Musik ein«?

theoretischen Positionen stehen dürfte. Ähnliches bemerkt auch Michael Großheim in seiner Rezension von Seels Buch Ästhetik des Erscheinens (2003) (vgl. Großheim 2000).

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Seels Modi ästhetischer Wahrnehmung können somit keine notwendigen Auslösebedingungen musikalischer Bildungsprozesse beschreiben. Die Bejahung dieser Frage würde zudem in direktem Widerspruch zu Rolles Bildungsverständnis stehen (s.o.). Dieser lehnt gerade die Vorstellung eines autonomen und nur auf sich selbst bezogenen, sich selbst konstituierenden Subjekts im Bildungsbegriff zu Recht als unglaubwürdig ab (vgl. ebd.: 39f.). Gerade von einer solchen Vorstellung wäre allerdings auszugehen, wenn die Möglichkeit musikalisch-ästhetischer Bildung einen voluntativen Akt des Sich-Einstellens zur Bedingung hätte:5 Wenn jegliche ästhetische Sichtweise Produkt meiner Einstellung zu den Dingen ist, fragt sich, wie und ob die Entstehung einer neuen und nicht lediglich einer anderen, bereits bekannten Sichtweise auf die Dinge denkbar ist. Der sich durch ästhetische Einstellungen Bildende scheint letztlich in einem solipsistischen Universum um sich selbst zu kreisen. Zu vermuten ist, dass sich Rolle, um dies zu verhindern, für den argumentierenden Streit über Wahrnehmungsurteile in ästhetischen Einstellungen starkgemacht hat. Die mit diesem Streit verbundene Hoffnung ist, dass sich durch ihn im besten Falle beim jeweiligen Gesprächspartner andere ästhetische Einstellungen »ansinnen« lassen (vgl. ebd.: 124; Rolle 2014). Selbst dabei wäre zu klären, wie es möglich sein kann, dass ein solches Gespräch zu neuen und nicht bloß zu anderen, durchaus gewohnten Erfahrungen führt. Denn im Streiten alleine liegt nicht automatisch eine Veränderung der Auffassung der Teilnehmenden beschlossen. Musikalische (?) Bildung Vor dem Hintergrund, dass Rolles Bildungstheorie eine deutliche Schlagseite auf der Subjekt- oder Rezipientenseite hat, verwundert es weniger, dass die Bestimmung des musikalischen Erfahrungsobjekts nur sehr vorsichtig angegangen wird. Unter einer musikalischen Erfahrung will er eine Erfahrung verstehen, »die wir im Rahmen einer kulturspezifischen musikalischen Praxis machen« (Rolle 1999: 75). Zu dieser Formulierung gelangt er in Auseinandersetzung mit der kaiserschen Unterscheidung von musikalischer Erfahrung (als Resultat) und musikbezogener Erfahrung (als Prozess). Dies könnte Rolle

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Weder Seels noch Rolles Ausführungen legen nahe, dass unter »Einstellung« eine unbewusste Disposition verstanden wird; vielmehr wird der Einstellungswechsel bewusst und absichtlich vollzogen. Darauf scheint sich auch eine Kritik Kauls zu beziehen (vgl. Kaul 2008: 126f.).

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zufolge suggerieren, dass in der Erfahrung als Resultat im Unterschied zur musikalischen Erfahrung als Prozess von einem von nicht-musikalischen Anteilen gesäuberten Wissen gesprochen wird (vgl. ebd.: 74). Weil sich einerseits nicht erschließe, weshalb ein solches Wissen anzunehmen ist, und weil andererseits eine Definition von Musik nach allgemein gültigen Kriterien nicht in Aussicht stehe, plädiert Rolle schließlich für den synonymen Gebrauch beider Begriffe musikalischer Erfahrung im Sinne des oben genannten Verständnisses (vgl. ebd.: 75). Darüber, was musikalische Erfahrungen oder kulturspezifische musikalische Praxis bestimmt, gibt Rolle allerdings keine weiteren Auskünfte, so dass der Gegenstandsbezug seiner Theorie letztlich offenbleibt. Es verwundert hingegen, dass er an anderer Stelle als materielle Basis musikalischer Erfahrungen akustische Ereignisse gelten lässt (vgl. ebd.: 120). Wenn keine allgemein gültigen Kriterien zur Definition von Musik zu finden sein sollen, wie ist dann die Behauptung zu verstehen, die materielle Basis musikalischer Erfahrung sei ein akustisches Ereignis und nicht zum Beispiel eine Partitur oder eine Geste? Letztere stellen laut einer Fußnote eher Sonderfälle dar (vgl. ebd.: Fn. 171). Dann aber lässt sich fragen, womit der Normalfall zu begründen wäre. Zwischenfazit Bevor ich zu Jürgen Vogts bildungstheoretischen Überlegungen komme, möchte ich ein Zwischenfazit zu Christian Rolles Argumentation ziehen. Wie zuvor gezeigt, kann man erstens feststellen, dass sich mit dem Begriff ästhetischer Erfahrung, wie Rolle ihn versteht, die Frage nach dem notwendigen Anlass musikalischer Bildungsprozesse nicht klären lässt. Weder durch die kontemplative noch die imaginative ästhetische Wahrnehmung, die Rolle als bildende ästhetische Erfahrungen verstehen will, können Kriterien ausgewiesen werden, durch die das In-Gang-Kommen eines transformatorischen musikalischen Bildungsprozesses anzunehmen oder zu beschreiben wäre. Zweitens legt die einstellungstheoretische Begründung seiner Hauptthese nahe, dass als Initiator des Bildungsprozesses das Subjekt zu verstehen wäre, das damit gewissermaßen um sich selbst kreist. Damit bliebe vor allem unklar, wie zu verstehen ist, dass die Erfahrung oder Wahrnehmung einer musikalischen Praxis neue oder unbekannte Sichtweisen hervorrufen kann. Diese Autonomievorstellung des Subjekts bleibt auch dann noch erhalten, wenn Bildungsprozesse kontroverse sprachliche Auseinandersetzungen zur Bedingung haben sollen, weil dadurch noch nicht gesagt ist, wie diese zu ei-

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ner Einstellungsänderung von Diskussionspartnern führen können. Drittens bleibt der Begriff von Musik unbestimmt; oder es bleibt zumindest offen, inwiefern Rolles Theorie musikalisch-ästhetischer Bildung über die Illustration seiner Thesen an musikalischen Beispielen hinaus musikspezifisch fundiert ist.6

2.1.2

Musikalisch-akustische Schlüsselereignisse bei Jürgen Vogt

Anschlüsse an die und Auswege aus den diskutierten Problemen in Rolles Argumentation lassen sich in der musikpädagogischen Literatur insbesondere in Jürgen Vogts Arbeiten zur musikalischen Bildungstheorie finden. Ich werde mich vor allem auf seine bislang wenig beachtete Habilitationsschrift Der schwankende Boden der Lebenswelt konzentrieren.7 Vogt weist zunächst auf den wechselseitigen Bezug zwischen dem Begriff der Bildung und dem des Subjekts als Erfindungen der Moderne hin. Erst der klassische Begriff der Bildung werde ausgehend von einem Subjekt beziehungsweise als Selbst-Bildung gedacht, »bei der die [praktische, L.B.] Pädagogik allenfalls Hilfestellungen geben kann« (Vogt 2001: 289). Dieser Bildungsbegriff unterscheide sich zudem von der vormodernen Auffassung eines Lernens, bei dem Individuen lediglich als Resultate der Erziehung hin zu einer nützlichen Funktion innerhalb der Gesellschaft erscheinen. Vielmehr bestimme Bildung hier die Möglichkeit der »›Entfaltung eines apriorisch Allgemeinen (der Vernunft) des Individuums ›in sich‹« (ebd.). Dies führe nun allerdings zu dem Paradox des modernen Begriffs von Bildung: Was Bildung überhaupt denkbar werden lasse, sei die Vorstellung einer das Subjekt ermöglichenden Freiheit oder Autonomie gegenüber der Welt wie auch gegenüber utilitaristischen Erziehungsmaßnahmen (vgl. Vogt 1996: 12; Vogt 2001: 290).

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Rolles unkonkreter Bezug auf Musik hat beispielsweise Ursula Brandstätter zu der Einschätzung bewogen, »dass die Auseinandersetzung mit der grundsätzlichen Frage, was denn der spezifische Beitrag der musikalischen Erfahrung im Rahmen eines allgemeinen Konzeptes der ästhetischen Bildung sein könnte« (Brandstätter 2004: 68), uneingelöst geblieben sei. Neben diversen Aufsätzen widmet sich Vogt einer Theorie musikalischer Bildung vor allem innerhalb dieser Habilitationsschrift. Seltsamerweise berücksichtigen weitere Arbeiten zur musikalischen Bildung zwar Rolle (so z.B. Brandstätter 2004 oder Kaul 2008), Vogts Überlegungen hingegen nicht; zugleich kann man feststellen, dass sie über Vogts Diskussionsstand kaum hinausgeführt haben.

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Dem stehe aber das »reale« oder empirische Individuum in der Welt gegenüber, mit dem allein es die pädagogische Praxis zu tun haben könne. Das empirische Subjekt ist »als Naturwesen der Entwicklung bedürftig und der Erziehung zugänglich« (ebd.) und zeigt sich dadurch aber gerade nicht als frei oder autonom beziehungsweise nicht als etwas, das sich seiner Verweltlichung oder Vergesellschaftung irgendwie entziehen könnte.8 Versuche, sich dieser paradoxen Verstrickung des Begriff der Bildung und des Begriff des Subjekts oder der Subjektivität/Individualität durch Ersetzungen zu entledigen, haben sich bisher jedoch als nicht tragfähig erwiesen (vgl. ebd.: 290f.). So kann man beispielsweise an die Stelle des Subjekts Instanzen wie die Sprache setzen, stößt dabei aber weiterhin auf das Problem, wie solche »Quasi-Transzendentalien« ohne Bezug auf jemanden, also auf ein Subjekt, zu verstehen wären (vgl. ebd.: 290).9 Vogt stellt dabei bereits 2001 heraus, was zum erziehungswissenschaftlichen respektive pädagogischen Allgemeingut geworden ist, nämlich dass der moderne Bildungsbegriff eine (postmoderne) Revision erfordere, »die Abschied nimmt vom Subjekt als autonomen Zentrum der Welt, ohne damit den Begriff des Subjekts zugleich fröhlich preisgeben zu wollen« (ebd.: 292). Diese Revision versucht er durch einen expliziten Bezug auf Bernhard Waldenfels’ Phänomenologie zu leisten und dadurch der vollen Wechselseitigkeit zwischen Selbst und Welt beziehungsweise Musik Geltung zu verschaffen. So gelingt es ihm einerseits, das Selbst aus seinem solipsistischen Gefängnis, in dem es in Rolles Theorie noch gefangen bleibt, zu befreien, zugleich aber die Einschränkung seiner Autonomie durch sein Zur-Welt-Sein mitzubedenken. Seine zu erläuternde These dazu lautet, dass musikalische10 Bildung 8 9

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Dieses Paradox ist auch als das pädagogische Paradox bzw. durch Kant als das Paradox der Erziehung zur Freiheit beim Zwange bekannt geworden. Ein solcher Versuch scheint Rolle vorzuschweben, wenn er das für autonom gehaltene Subjekt als Produkt einer Sprachgemeinschaft oder sprachlichen Verständigung verstehen möchte (vgl. Rolle 1999: 40). Damit wird aber erklärungsbedürftig, wodurch so etwas wie Subjektivität überhaupt zu verstehen ist, gerade wenn eine solche Auffassung »nicht bedeuten [muss], dass der Mensch lediglich ein selbstentfremdetes Produkt der Gesellschaft, nämlich der herrschenden Sprachen und Diskurse darstellt« (Rolle 1999: 40). Vogt schreibt eigentlich »musikalisch-ästhetische Bildung«. Das Wörtchen »ästhetisch« taucht allerdings in seiner Habilitation in recht unterschiedlichen Verwendungen auf. Weil er in folgenden Arbeiten nur von musikalischer Bildung spricht, werde ich es vernachlässigen, um Verwirrungen zu vermeiden.

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»[…] als antwortendes Geschehen einsetzt, das sich Hör-Ereignissen verdankt, die den Charakter von musikalisch-akustischen Schlüssel-Ereignissen besitzen: Eine Musik fällt mir auf, die ich noch nie, oder zumindest so noch nie gehört habe, für die keine neuronalen Bahnen vorverlegt, kein Schema formiert und keine Gesetzmäßigkeit kodifiziert sind.« (Ebd.: 311) Um die Begründung dieser These zu rekonstruieren, werde ich erstens klären, was Vogt damit meint, wenn er sagt, musikalische Bildung setze als »antwortendes Geschehen« ein, und zweitens, was es bedeutet, dass sich dieses Antwortgeschehen Hörereignissen in der Gestalt von musikalisch-akustischen Schlüsselereignissen verdankt beziehungsweise von diesen ausgelöst wird. Musikalische Bildung als Antwortgeschehen Vogts Argumentation setzt bei Kaisers Begriff von Bildung als einem Prozess der zunehmenden Selbstkonstitution eines Subjekts (vgl. Vogt 2001: 289) an. Er scheint dabei aber mehr auf das Konstitutionsmoment abzuheben als auf das, was man unter einer Zunahme im Sinne etwa der in klassischen Bildungsbegriffen angelegten Vervollständigung oder Vervollkommnung des Subjekts (vgl. Hastedt 2012: 11) verstehen könnte. Was sich konstituiert respektive entsteht, kann offensichtlich nicht aus dem Nichts entstehen. Wie der moderne Begriff von Bildung, so setzt auch Kaisers Formulierung bereits ein Subjekt voraus respektive jemanden, der am Prozess der Selbstkonstitution irgendwie beteiligt zu sein scheint (Vogt 2001: 289). Vogt schließt zunächst aus, dass sich diese Selbstkonstitution analog einer Theorie Hegels11 verstehen lasse, der zufolge sich das Subjekt alleine »durch eine auf sich selbst gerichtete Intentionalität« (ebd.: 298) hervorbringe. Dass das nicht funktionieren kann, zeigt er am Beispiel des Sich-Hörens: Weil schon die eigene Stimme, »wie jedes andere akustische Phänomen, von ›irgendwoher‹, aus dem Raum auf das Hören zukommt« (ebd.: 296) und zunächst einmal als eigene Stimme erkannt werden muss, kann ich mir selbst nicht unmittelbar gegeben sein. Es ist im Fall der eigenen Stimme, wie beim Selbstsein überhaupt, immer schon etwas anderes als man selbst im Spiel. Wenn Vogt dafür argumentiert, dass sich musikalische Bildung als responsiv oder »antwortend« vollziehen kann, dann ist damit der Befund angesprochen, 11

Diesen bzw. dessen Theorie führt Vogt an als »Kronzeuge[n] für einen irreführenden ›Phonozentrismus‹ abendländischen Denkens« (Vogt 2001: 296), der von der Vorstellung ausgehe, dass das Subjekt auch beim Sich-Hören immer schon bei sich sei.

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dass sich Subjekte nur rückbezüglich auf etwas anderes hin konstituieren können und nicht schon mit sich selbst beginnen, Subjekte zu sein. Beim Sich-Hören müssen akustische Ereignisse überhaupt erst einmal als eigene Stimme identifiziert werden. Diese Identifizierung, die Be-Antwortung eines akustischen Ereignisses als eigene Stimme, kann wie im Falle auditorischer Halluzinationen durchaus auch misslingen (vgl. ebd.: 272, Fn. 171). Dies zeigt, dass der Bestand des Selbstseins fragil bleiben muss. So folgert Vogt: Wenn man »von Bildung als einem ›unabschließbaren Prozeß‹ spricht, so dann nicht deswegen, weil es immer noch mehr zu lernen gibt, sondern weil das Subjekt im Versuch, mit seiner ›Imago‹ eins zu werden, nie bei sich ankommt« (ebd.: 301). Dass man sich dennoch für da und immer schon da gewesen hält, muss man daher – vor dem Hintergrund der Prämisse vom Antwortcharakter des Selbst – als eine konstitutive und nachträgliche Täuschung des Selbstseins verstehen (vgl. ebd.: 296).12 In analoger Weise zum Sich-Hören gilt auch für Musik, dass sie, so wenig wie man selbst, nicht unmittelbar gegeben sein kann. Auch Musik ist das Produkt einer Be-Antwortung im Hören. Erst dadurch kann etwas als Musik erklingen. Wie im Falle des Sich-Hörens ist das nicht immer erfolgreich. Nicht alles, was man hören kann, hört man auch als Musik. Aber ohne etwas, das man auch als Musik hören kann, gäbe es nichts zu hören. Mit anderen Worten ist auch beim Musikhören immer etwas anderes als Musik beteiligt. Im dialogischen Modell von Waldenfels’ entspricht dieses Andere einem Frageanspruch, den die Rede von musikalischer Bildung als antwortendem Geschehen impliziert: Ohne akustische Ereignisse gäbe es für jemanden nichts zu hören. Erst eine Beanspruchung durch akustische Ereignisse nötigt jemanden, der ein Ohr (oder zumindest einen resonanzfähigen Körper; siehe dazu Kap. 2.3.2) besitzt, dazu, sie gleich einer Frage be-antworten zu müssen.13 Ohne die Beanspruchung des Hörens ließe sich nicht erklären, 12

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Individualgenetisch gesehen verschleiert diese Täuschung den Ursprung des Selbst aus einem vorbewussten und daher indifferenten Stadium von Selbst und Welt, auf das Phänomene wie die Autoecholalie, das Imitieren der eigenen Laute von Säuglingen, hinweisen (vgl. Vogt 2001: 297). Dass es eine Notwendigkeit zu geben scheint, etwas als Musik hören zu wollen, führt Vogt auf die Annahme einer auditiven Libido zurück, eines Begehrens »des Individuums, nicht nur hörend Spannung abzubauen, sondern auch danach, sich hörend etwas ›einzuverleiben‹, was zuvor außerhalb seiner selbst war, kurz: ein akustisch Fremdes zu einem akustisch Eigenen zu machen« (Vogt 2001: 283). So gesehen basiert Musikhören immer auch auf einer unbewussten, organischen Auseinandersetzung mit der Welt.

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wodurch jemand Musik oder anderes zur Antwort geben beziehungsweise hören kann. So ist die Behauptung zu verstehen, dass auch die »Wahrnehmung einer Stimme, und sei es auch die eigene, […] bereits ›eine Antwort auf eine Frage‹ [Merleau-Ponty; L.B] und nicht ein unmittelbarer Vollzug von Selbst-Präsenz« (ebd.: 302) ist. Musik wie auch die eigene Stimme sind als Antwortprodukte Konstitute der vermeintlich »autonomen« Subjektivität (ebd.: 311). Ihre Rückbezüglichkeit auf einen nicht-eigenen Anspruch weist aber darauf hin, dass sich das Selbst nur heteronom konstituieren kann. Durch den Antwortcharakter des Selbst- und Musikseins erläutert Vogt also die Möglichkeitsbedingung von musikalischen Bildungsprozessen als Konstitutionsprozessen von Selbst und (seiner) Musik überhaupt. Dass sowohl Selbst-Sein als auch Musik-Sein Produkte einer Antwort sind und nicht unmittelbare Gegebenheiten, impliziert, dass jemand, der eine bestimmte Musik zu hören vermag, es sich in seinem subjektiven musikalischen »Eigenheim« nicht auf immer gemütlich machen kann. Nun stellt sich die Frage, wie die Erfahrung begriffen werden kann, die ein musikalisch gebildetes, konstituiertes Subjekt gewissermaßen vor die Tür scheucht, mit anderen Worten, wie der musikalische Selbstkonstitutionsprozess in Gang gebracht wird. Dies führt Vogt zu den Begriffen der Fremderfahrung bei Waldenfels und schließlich des Schlüsselereignisses. Musikalische Bildung durch Schlüsselereignisse Musikalische Bildung wird von Vogt also als antwortendes Geschehen betrachtet. Gemeint ist der heteronome Prozess der (Neu-)Konstitution von Selbst und Welt. Dieser Konstitutionsprozess, so lautet der zweite Teil von Vogts These, verdanke sich »Hör-Ereignissen […], die den Charakter von musikalisch-akustischen Schlüssel-Ereignissen besitzen« (Vogt 2001: 311). Anders formuliert lassen sich musikalische Bildungsprozesse auf Schlüsselereignisse zurückführen, die den Anlass musikalischer Bildungsprozesse darstellen. Bei dem Begriff des Schlüsselereignisses handelt es sich um einen komplexen Begriff, der die Dimension der Fremderfahrung und ein bestimmtes Antwortverhalten umfasst. Mit dem Begriff der Fremderfahrung gibt Vogt eine Antwort auf die Frage, wodurch ein musikalischer Bildungsprozess überhaupt nötig werden kann. Die Voraussetzung ist darin zu sehen, dass sich »die zur Verfügung stehenden Fähigkeiten und Fertigkeiten, Einstellungen und Motivationen angesichts musikbezogener Situationen und Problematiken […] als unzureichend oder

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zumindest als diskussionswürdig erweisen und verändert werden müssen« (ebd.: 58). Das, was sich erfahrend zeigt, in dem es sich den »zur Verfügung stehenden Fähigkeiten und Fertigkeiten, Einstellungen und Motivationen angesichts musikbezogener Situationen und Problematiken« entzieht, konzeptualisiert Vogt mit Waldenfels als Musikalisch-Fremdes.14 Beispiele dafür gibt Vogt in seiner These: Es sind Hörereignisse, »die ich noch nie, oder zumindest so noch nie gehört habe, für die keine neuronalen Bahnen vorverlegt, kein Schema formiert und keine Gesetzmäßigkeit kodifiziert sind« (ebd.: 311). Damit ist die Eigentümlichkeit des Musikalisch-Fremden recht präzise eingekreist: Das Musikalisch-Fremde entspricht keiner Gewohnheit des Hörens. Es lässt sich nicht innerhalb der für jemanden gewohnten musikalischen Verständnisrahmen oder Schemata verstehen oder dekodieren. Dennoch wird es irgendwie als Musik gehört und nicht als bloßer Krach, Lärm oder Rauschen. Das Musikalisch-Fremde, und das trifft auf das Fremde überhaupt zu, weist dabei eine paradoxale Struktur auf, weil mit ihm »etwas für mich da ist, indem es nicht da ist« (ebd.: 309; Herv. i.O.). Etwas (Musikalisches) ist nicht überhaupt nicht da, sonst würde nichts gehört. Es ist aber nicht auf die Weise da, wie es jemand gewohnt ist, Musik hören zu können. Etwas ist für mich als Musik erfahrbar, indem es nicht (ganz) als Musik erfahren werden kann. Dass es überhaupt möglich ist, in der Erfahrung von Musik auf Fremdes zu treffen, wurde bereits damit begründet, dass die Hörerfahrung, welcher Musik entspringt, als paradigmatischer Fall einer rückbezüglichen, antwortenden und in diesem Sinne responsiven Erfahrung zu verstehen ist. Sehr dicht formuliert Vogt das folgendermaßen: »Da Hören als responsiver Akt fungiert, schiebt sich zwischen Hören und Gehörtes eine auditive oder auditorische Differenz, welche die aisthetische Basis der Konstitution des ästhetischen Objektes ›Musikwerk‹ bildet« (ebd.: 271).15 Anders gesagt: Erst im Hören wird etwas als Musik laut, was nicht schon Musik war oder Musik ist. Jedem Hören von Musik geht ein akustischer Anspruch voraus, ohne den nicht nur keine Musik, sondern schlichtweg gar nicht(s) gehört werden könnte. Es handelt sich um Ansprüche, denen gegenüber sich das Ohr bekanntlich nicht ver-

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Konstruktivistisch argumentierende musikpädagogische Arbeiten sprechen dieses Phänomen mit dem Begriff der »Perturbation« an (vgl. Schatt 2007: 120; Benz 2016). Den Vollzug der auditorischen Differenz kennzeichne außerdem, dass es dabei »gleichermaßen auf das Gehörte wie auf das Hören selbst an[kommt]« (Vogt 2001: 270) bzw. dass im Sinne Martin Seels ästhetisch wahrgenommen wird.

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schließen kann – anders als bei visuellen Ansprüchen das Auge. Diese können wiederum nur vermittels ihrer Be-Antwortung durch das Hören in der Gestalt von Musik erscheinen. Deshalb ist nicht das akustische Ereignis selbst als das Material oder die aisthetische Basis der Musik zu verstehen. Vielmehr ist die »auditive oder auditorische Differenz« als hörende (Unter-)Scheidung des als Musik Gehörten vom akustischen Anspruch die sinnliche Basis von Musik (vgl. dazu Kap. 2.3.2). Diese Differenz macht zugleich darauf aufmerksam, dass das responsive Hören die gehörten Gegenstände nicht einfach abbildet, sondern immer nur auf eine bestimmte Weise nach mir zur Verfügung stehenden Ordnungsprinzipien sinnhaft konfiguriert. Der akustische Anspruch an sich bleibt dem Musikhören daher genuin fremd. Er übersteigt jede akustische oder musikalische Ordnung, innerhalb derer er nur als etwas beantwortet werden kann und zum Beispiel eine Gestalt als Musik gewinnt. In Vogts Worten: »Das, was uns in einer Musik aufhorchen läßt, entzieht sich den musikalischen Codes, Typiken und Relevanzsystemen, weil es diese überhaupt erst ermöglicht. Das Hören von Musik ist daher kein ›reines‹ Hören, das in der kosmologischen Gesamtordnung einer Sphärenharmonie seinen Halt hätte. Es ist aber auch nicht der souveräne Akt einer selegierenden Subjektivität, da diese gegenüber der Eindringlichkeit und der Anonymität des Akustischen immer auch wehrlos bleibt und bis zu einem gewissen Grade auch wehrlos bleiben muß, da sonst gar keine Responsivität und damit auch gar keine musikalisch-ästhetische Erfahrung evoziert würde.« (Ebd.: 274) In der Erfahrung eines Musikalisch-Fremden trifft man gewissermaßen auf taube Flecken des Musikhörens. In dieser Erfahrung wird man der Ansprüche gewahr, durch die man überhaupt Musik hören kann. Es sind diese akustischen Ansprüche, die sich den musikalischen Codes, Typiken und Relevanzsystemen immer schon entziehen und diese zugleich allererst ermöglichen. Solche Erfahrungen lassen andererseits eine Wehrlosigkeit des Subjekts gegenüber der »Eindringlichkeit und der Anonymität des Akustischen« erkennen. Dies geschieht dann, wenn Musiken gehört werden, die die gewohnten und bekannten musikalischen Ordnungen, die Gewohnheiten, etwas als Musik zu hören und zu verstehen, übersteigen oder irritieren. Nun scheint jedem musikalischen Bildungsprozess eine solche irritierende Erfahrung eines Musikalisch-Fremden vorauszugehen. Nicht jeder Irritation durch Musikalisch-Fremdes folgt aber ein musikalischer Bildungsprozess. Mit anderen Worten lässt sich die Erfahrung des Musikalisch-Fremden

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zwar als notwendig für das In-Gang-Kommen von Bildungsprozessen verstehen, aber durch sie alleine ist der Anlass musikalischer Bildungsprozesse noch nicht hinreichend gefasst. Wie Vogt daher feststellt, vollzieht sich musikalische Bildung immer in »der Auseinandersetzung mit diesen [fremden] Musiken […]. Sie kann aber auch scheitern, wenn das Eigene durch die Berührung mit dem Fremden unverändert bleibt bzw. jedweden Fremdbezug von vornherein in einen Selbstbezug umwandelt« (ebd.: 310). Musikalische Bildung kann also daran scheitern, dass das in einer Musik Irritierende oder Fremde als etwas Eigenes, als Bekanntes oder Gewohntes abgetan wird. Über Vogts Beispiel hinaus wäre ebenso an (musikalische) Fremderfahrungen zu denken, die mit extremer Intensität an der SelbstSicherheit rütteln und Quellpunkt pathologischer Fixierung sind. Beispiele dafür hat Kaiser in Bezug auf Musik im Zusammenhang von Hinrichtungsszenarien beschrieben (vgl. Kaiser 1991: 56). Ein anderes Beispiel ist der Einsatz von Musik als Folterinstrument wie im amerikanischen Militärgefängnis Guantanamo: Dort hatte man Insassen durch das über Stunden wiederholte Abspielen von populären Musiktiteln gequält.16 Solche musikalischen Fremderfahrungen mögen existenziell sein. Potenziell scheinen sie aber Bildungsprozesse eher aufgrund von Traumata zu blockieren. Weil Fremderfahrungen den Anlass musikalischer Bildungsprozesse allein nicht hinreichend beschreiben, muss Vogt daher eine weitere Bedingung für das Einsetzen von musikalischen Bildungsprozessen einführen. So heißt es dann: »Der Grad musikalischer Bildung, so könnte man sagen, bemißt sich daran, inwieweit jemand willens und in der Lage ist, auf Musikalisch-Fremdes einzugehen« (Vogt 2001: 310). Es muss also zur Erfahrung des Musikalisch-Fremden ein bestimmtes Antwortverhalten hinzukommen. Dabei geht es um einen Umgang mit musikalischer Fremdheit, der diese produktiv für sich nutzen kann, ohne sie als lediglich anderes unter anderen, vergleichbaren Fällen abzutun oder an ihrer Intensität, wie im Falle von Traumata, zugrunde zu gehen. Graduell wäre dabei ein Antwortverhalten zu unterscheiden, das von kleineren Verformungen des musikbezogenen Selbst, einem »Dazu-Lernen« bis hin zu seiner Neukonstitution, einem transformatorischen Bildungsprozess oder einem »UmLernen« reicht. Erst im letzten Falle lassen sich die so beantworteten Hörereignisse als »Schlüsselereignisse« verstehen. Erst dann sind sie als Ereignis16

Vgl. dazu z.B. den Spiegel-Artikel »Hören mit Schmerzen«: https://www.spiegel.de/spie gel/a-.html (Stand 10.06.2019) sowie Grüny 2011a.

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se beantwortet oder aufgefasst, die eine neue musikalische Welt erschließen konnten oder transformatorische musikalische Bildungsprozesse veranlasst haben. Zwischenfazit Vogt macht zunächst plausibel, weshalb musikalische Bildung als heteronomer Konstitutionsprozess begriffen werden muss: Erst durch ein Antworten auf etwas sind Selbst und Musik überhaupt möglich. Nur durch Ansprüche einer Welt an jemanden, kann sich dieser als er selbst wie auch etwas (als Musik) erfahren. Der Antwortcharakter des Selbst impliziert, dass Bildungsprozesse nicht beim Subjekt beginnen und somit auch nicht allein von einer willentlich herbeigeführten ästhetischen Einstellung abhängig sind. Durch diesen Antwortcharakter jeglicher Subjektivität lässt sich außerdem verstehen, weshalb der sichere Bestand und die Kontinuität von Selbst und (eigener) Musik grundsätzlich durch Ansprüche der Welt gefährdet sind. Bildung als Selbstkonstitution führt niemals zu einem unmittelbaren und stabilen Selbstund/oder Musikbesitz. Erst die Erfahrung von Musikalisch-Fremdem beschreibt, wodurch einem Subjekt seine musikalische Selbstsicherheit vergehen kann. Es handelt sich dabei um Erfahrungen, die widerfahren, indem sie die gewohnte Musikauffassung irritieren. Dabei hat Vogt ebenfalls bedacht, dass durch solche musikalischen Fremderfahrungen noch nicht beschlossen ist, dass es zu einer Neukonstitution des Selbst und somit zu einem Bildungsprozess kommt. Die Zusatzbedingung eines bestimmten Antwortverhaltens, bei dem der Wille und die Fähigkeit oder Kapazität des Subjekts eine Rolle spielen, entscheidet darüber, ob nur graduell dazu- oder im Sinne eines Bildungsprozesses tatsächlich umgelernt wird. Auf diese These bezogen könnte man meinen, dass das Subjekt also doch, wenn auch nur zu einem Teil, die Verantwortung für Bildungsprozesse trägt. Der in Rolles Argumentation vorherrschende autonome Charakter der Subjektivität wäre somit zwar durch den Antwortcharakter des Selbstentwurfs und die Fremderfahrung abgeschwächt, käme aber zur Hintertür wieder herein. Im Bildungsprozess wäre zwar Fremdes im Spiel, am Ende machte man sich aber doch irgendwie selbst. Dass Vogt dies so nicht im Sinn hat, deutet er in seinen Ausführungen zum Schlüsselereignis als dem eigentlichen Auslöser musikalischer Bildungsprozesse an. Sie seien als »herrenlos« zu verstehen, weil sie weder vom Subjekt, noch von einem Lehrer oder Schulbuch »gesteuert

Zum Auslöser transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse

oder gar geplant und antizipiert werden können« (Vogt 2001: 312). Nun stellt sich aber die Frage, wodurch sich begründen lässt, dass das Subjekt musikalisch-akustische Schlüsselereignisse nicht planen, steuern oder antizipieren kann. Die über Vogt hinaus zu begründende Antwort lautet: weil das durch Schlüsselereignisse erschlossene Neue eben dadurch charakterisiert ist, dass wir davon nicht wissen können, andernfalls könnte es uns nicht als Neues erscheinen. Ich werde das im Folgenden durch eine genauere Betrachtung des komplexen Begriffs des Schlüsselereignisses erläutern.

2.2

Schlüsselereignisse17 »… Ereignisse, die sich nicht in einen bestehenden Kontext einordnen lassen, sondern selber Szenerien bilden und Geschichten auslösen, solche ›Urstiftungen‹ […] nennen wir Schlüsselereignisse. Es sind signifikante Ereignisse […][,] überdeterminiert in dem, was sie an Sinnpotential anbieten. Sie sind zu unterscheiden von zufälligen Auslöseereignissen, die aus den geläufigen Bahnen herausreißen, ohne selber einen neuen Weg zu eröffnen. […] Die Ambivalenz solcher [Schlüssel-]Ereignisse beruht darauf, dass hier Pathos und Mathos […] sich verstricken und jedes vorgängige Richtmaß versagt […]. Hierbei ist an biographische, intime und öffentliche Ereignisse zu denken, die das individuelle und kollektive Leben skandieren unterhalb der Schwelle einer sich wiederholenden Normalordnung.« (Waldenfels 1987: 151; Herv. i.O.)

Ich folge Vogts These, dass der Auslöser von musikalischen Bildungsprozessen von Hörereignissen her zu denken ist, »die den Charakter von musikalischakustischen Schlüssel-Ereignissen besitzen«. Waldenfels’ Begriff von Schlüsselereignissen, auf den sich Vogt bezieht, stellt gewissermaßen eine »Kurzform« der notwendigen, zusammengenommen hinreichenden Auslösebedingungen von (nicht nur) musikalischen Bildungsprozessen dar. Ich werde dabei in analytischer Absicht getrennt betrachten, was sich in Schlüsselereignissen in einer noch zu erläuternden Ambivalenz, einer eigen17

Was ich mit Waldenfels als Schlüsselereignis thematisiere, berührt Hauptmotive des kontinentalphilosophischen Ereignisdiskurses (vgl. dazu Rölli 2004; Mersch 2008). Darauf, dass Waldenfels’ Erfahrungsphänomenologie auch als Ereignisphänomenologie gelesen werden kann, hat er verschiedentlich selbst hingewiesen (vgl. u.a. Waldenfels 2004).

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tümlichen Zwiespältigkeit verstrickt: Pathos und Mathos. Diese beiden Begriffe entnimmt Waldenfels dem aus dem Griechischen entlehnten Sprichwort »pathos-mathos« beziehungsweise ursprünglich »pathei mathos« (πάθει μάθος), das »ein Lernen durch Leiden, nicht aber ein Erlernen des Leidens verheißt« (Waldenfels 2012: 42). Was Schlüsselereignisse von »zufälligen Auslöseereignissen« unterscheidet, ist, dass und wie durch sie gelernt wird. Beiden gemeinsam ist das Pathos, das »Widerfahrnis«, das in Form der Fremderfahrung schon bei Vogt angesprochen wurde. Um die Frage zu beantworten, wie Pathos und Mathos nicht nur im Sprichwort, sondern in Schlüsselereignissen aufeinanderfolgen, gehe ich den umgekehrten Weg, beginnend mit einem Mathos, dem Lernen von Neuem.

2.2.1

Mathos: (Er-)Finden, was man nicht suchen kann

»Wenn die Erfindung möglich ist, ist sie keine Erfindung. Wenn ich das, was ich erfinde, erfinden kann, wenn ich die Fähigkeit dazu habe, dann heißt das, dass die Erfindung in gewisser Weise einer Potenzialität entspricht, einer Potenz, die ich bereits in mir habe, sodass die Erfindung nichts Neues bringt. Das ist kein Ereignis.« (Derrida 2003: 31) Was für Derrida »kein Ereignis« darstellt, ist in diesem Zusammenhang vor allem kein Schlüsselereignis. Schlüsselereignisse lassen sich ganz im Sinne Derridas als Erfindungen verstehen. Es sind Erfindungen, in denen etwas Neues gefunden wird, und durch die sich zugleich jemand als ein neuer wiederfindet. Oder: Schlüsselereignisse sind Erfindungen, durch die nicht nur Neues erfahren, sondern auch neu erfahren wird. Und für diese neue Erfindung von Welt und Selbst gilt die paradoxe Bedingung, dass sie als einzuschlagender Weg, als eine Sicht auf die Dinge und mich, als eine irgendwie zu wählende Möglichkeit von Erfahrung nicht zur Verfügung stehen. Man findet sich durch sie als ein neuer wieder, aber ausgehend von einem »Ort«, an dem man nicht schon war, an dem man niemals gewesen sein kann. Die Erfindung des Neuen lässt sich nur unter der Bedingung verstehen, dass etwas erfunden wird, was man nicht vorab suchen konnte. Anders formuliert Derrida, dass die »einzige Möglichkeit der Erfindung […] die Erfindung des Unmöglichen« (Derrida 2003: 33) ist. (Wie) ist das zu verstehen? Inwiefern sind Schlüsselereignisse als Erfindungen nur unter der Bedingung der Erfindung des Unmöglichen möglich?

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Ich möchte das an zwei konkreten Phänomenen erläutern: Dem Geistesblitz und dem Sich-Verlieben. Sowohl durch den Geistesblitz wie auch durch das Sich-Verlieben wird Unmögliches möglich, wird erfunden, was man nicht suchen kann. Der Geistesblitz, für dessen Kundgabe, wie Karl Bühler festgestellt hat, »unsere Sprache die Interjektion ›aha‹« (Bühler zit.n. Koch 2007: Bd. 1, 114) geschaffen habe, überrascht uns wie auch der gewöhnliche Blitz. Anders als den gewöhnlichen Blitz bestimmt den Geistesblitz aber, dass sein Auftreten die unerwartete Lösung eines Problems oder die Antwort auf eine Frage mit sich führt. Geistesblitze lassen sich nicht bewirken, insofern gerade ihre besondere »Blitzhaftigkeit« wesentlich kennzeichnet, dass sie aus dem Nichts im Horizont des eigenen Denkens erscheinen beziehungsweise in diesem keine zureichenden Gründe finden. Anders gesagt: Ein konstitutives Merkmal von Geistesblitzen oder Aha-Erlebnissen ist, dass sie weder der Autorschaft noch dem Willen eines Subjekts zugerechnet werden können. Genau das macht sie zum blinden Fleck jeder Forschung, insofern es Schreib-, Interpretier- und Denkblockaden oft seltener an einer mangelnden Anstrengung als am Aufkommen solcher Erlebnisse mangelt. Der Geistesblitz zeigt sich so als ein alltägliches Phänomen unmöglich möglicher Erfindung. Dass solche Erfindungen nicht nur Neues eröffnen, sondern zugleich auch denjenigen, der Neues erfährt, fundamental verändern können, lässt sich noch eindrücklicher am Beispiel des Phänomens des Sich-Verliebens schildern. Das Sich-Verlieben charakterisiert wie den Geistesblitz, dass es der subjektiven Verfügungsgewalt entzogen bleibt. Daran scheinen auch Dating-Apps und Partnervermittlungen nichts ändern zu können: Entweder »es funkt« oder »es funkt« eben nicht zwischen mir und einer anderen Person. Wodurch der Funke aber überspringt, unterliegt keiner Kausallogik oder Ableitung. So führt, wie Slavoj Žižek bemerkt, der Versuch, das Sich-Verlieben erklären zu wollen, auf eine eigentümliche Zirkelschlüssigkeit: »Ich verliebe mich nicht aus bestimmten Gründen (ihre Lippen, ihr Lächeln …) – sondern weil ich sie bereits liebe, fühle ich mich zu ihren Lippen etc. hingezogen« (Žižek 2014: 8). Die Anziehung, die ich gegenüber einer Person empfinde, in die ich verliebt bin, ist nichts anderes als die Verliebtheit selbst, wenngleich nicht ihre Ursache. Beim Sich-Verlieben stößt man wie im Geistesblitz auf eine Möglichkeit menschlichen Daseins faktischer Unbedingtheit. Wer sich verliebt, dem erscheint nicht nur jemand in neuer Gestalt, er oder sie findet sich vor allem selbst in veränderter Gestalt wieder. Man blickt

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durch die sprichwörtliche »rosarote Brille«, die seltsam indifferent gegenüber der gewohnten Erfahrung der Welt macht und deshalb mit einem Wahnsinn verglichen wurde. Der Ausnahmezustand des Sich-Verliebens, die Verliebtheit, bedeutet aber vor allem den unwiederbringlichen Verlust eines Selbstund Weltverhältnisses. Wer einmal mit dem Phänomen des Sich-Verliebens Bekanntschaft gemacht hat, ganz gleich, ob es glücklich oder unglücklich ausging, wird diese Erfahrungsmöglichkeit nicht mehr vergessen können. Im Hinblick auf die beiden Phänomene des Geistesblitzes und des SichVerliebens lässt sich besser verstehen, was es heißt, dass Schlüsselereignisse respektive Erfindungen von Welt- und/oder Selbstverhältnissen nur aufgrund einer Unmöglichkeit möglich, im Sinne Derridas »Erfindungen des Unmöglichen« sind: Sie beanspruchen kein Subjekt in der Rolle des Urhebers, keinen Erfahrenden, der diese Erfahrungen »macht«, also herstellt. Dennoch berühren Schlüsselereignisse immer ein »Leben unterhalb der Schwelle einer sich wiederholenden Normalordnung« (Waldenfels 1987: 151), indem sie diesem neue Wege eröffnen. Sie sind, wenn man so will, Wunder, für die man nicht religiös eingestellt sein muss, um ihr Wundersames akzeptieren zu müssen. Darüber hinaus lassen sich weitere Eigenschaften von Schlüsselereignissen bestimmen: Ihre Subjektlosigkeit auf der einen Seite zeigt eine Selbstbezüglichkeit oder Herrenlosigkeit aufseiten des Ereignisses, das sich als Geschehen zwischen mir und anderen/m vollzieht (vgl. Waldenfels 2004: 454). Die Rede davon, dass es im Geiste blitzt, dass es in der Liebe funkt, dass es sich ereignet, brachte das bereits zum Ausdruck. Das Subjekt des Schlüsselereignisses ist deshalb als Gespaltenes oder »Dezentriertes« zu betrachten. In Schlüsselereignissen wird man von etwas, das man selbst nicht ist oder macht, beansprucht. Dieser Anspruch ist es, was einen neuen Selbstbezug erst ermöglicht. Mit Vogt wurde auf ihn bereits am Beispiel des Sich-Hörens als Voraussetzung der Subjektkonstitution aufmerksam gemacht. In Bezug darauf spricht Waldenfels von Schlüsselereignissen auch als »kreative[n] Antworten«, durch die wir »geben, was wir nicht haben« (Waldenfels 2013: 53). Ähnlich formuliert Derrida dies für Erfindungen: »Wenn man gibt, was man hat, gibt man nicht. Auch wenn ich erfinde, was ich erfinden kann, was zu erfinden mir möglich ist, erfinde ich nicht« (Derrida 2003: 32). Worauf aber »antworten« wir oder wodurch geben wir, wenn wir Schlüsselereignisse erfahren, wenn wir finden, was wir nicht gesucht haben, wenn wir Neues lernen?

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2.2.2

Pathos: Wovon man nicht sprechen kann, daran muss man leiden

Dass Schlüsselereignisse unmögliche Erfindungen sind, wurde in dem präzisen Sinn verstanden, dass sie sich nicht auf die Möglichkeit der Schöpfung durch ein Subjekt zurückführen lassen. Sie müssen aber dennoch von jemandem erfahren werden, sonst gäbe es sie gar nicht. Dass es sie gibt, wurde an den Beispielen des Geistesblitzes und des Sich-Verliebens nachvollzogen. Weil das Subjekt nicht als Urheber von Schlüsselereignissen in Betracht kommt, muss noch etwas im Spiel sein, das nicht schon im Besitz eines Subjekts ist. Diesbezüglich war ich stehengeblieben bei Waldenfels’ Verständnis von Schlüsselereignissen als kreativen Antworten. Geantwortet wird offensichtlich häufiger da, wo gefragt wird. Wer oder was aber »fragt« und wer oder was »antwortet« worauf ? Ich möchte zunächst auf das eigentümliche Beschreibungsvokabular von Waldenfels’ Phänomenologie eingehen. Dieses bezieht sein Modell vom wortsprachlichen Dialog mit den beiden Polen von Frage und Antwort. Frage und Antwort, so eine wesentliche Einsicht in Waldenfels’ Untersuchungen, stehen in einem grundsätzlich asymmetrischen Verhältnis (vgl. Waldenfels 2007: 2. Teil) zueinander. Dies lässt sich an einem Beispiel erläutern: Auf eine beliebte und rudimentäre Frage wie »Na?« lässt sich vieles antworten, auch die Gegenfrage »Na was?«. Es lässt sich ebenfalls mit vielem antworten, beispielsweise mit einem Schulterzucken. Vorausgesetzt, man hat die Frage vernommen, lässt sich eines aber nicht tun: nicht antworten. Es gilt daher in Abwandlung eines watzlawickschen Slogans: Keine Antwort ist auch eine Antwort (vgl. ebd.: 189). Wenn auch die Nicht-Antwort noch als Antwort zu verstehen ist, dann nur dadurch, dass sie auf einen in jeder Frage enthaltenen Anspruch, beantwortet zu werden, Bezug nimmt. Die Nicht-Antwort nimmt auf den Frageanspruch Bezug, indem nichts gesagt oder die geforderte Antwort verweigert wird. So gesehen lässt sich das Antworten über das wortsprachliche Antworten hinaus weiter fassen als das »Eingehen auf einen Anspruch, der sich erhebt und von anderswoher kommt« (ebd.: 188). In diesem weiten Sinne wird das Antworten, auch das kreative Antworten bei Waldenfels, im Folgenden gebraucht: Nicht nur als ein Sagen, sondern auch als ein Tun, sogar als Wahrnehmen und Erfahren, insofern dabei immer schon das Eingehen auf einen Anspruch

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eine Rolle spielt.18 Umgekehrt ist auch die Frage über die wortsprachliche Frage hinaus in Form eines nicht notwendigerweise menschlichen Anspruchs zu denken, der »sich erhebt und von woanders her kommt«. Entscheidend ist dabei, dass das Antworten – das gilt schon für alle Antworten auf die Frage »Na?« – mit dem zu beantwortenden Anspruch nicht zur Deckung kommen kann. Die Asymmetrie zwischen Frage und Antwort besteht darin, dass man niemals genau wissen kann, worauf man antwortet. Es ist in der Frage immer etwas versteckt, dass nicht im wissentlichen Besitz eines Subjektes sein kann. Entsprechend dient Waldenfels’ Vokabular von Frage und Antwort in ihrem jeweils erweiterten Sinne für die weitere Betrachtung. Ich greife daher die Ausgangsfrage noch einmal auf, die sich jetzt besser verstehen lässt: Worauf wird in Schlüsselereignissen geantwortet? Auf ein Pathos oder Widerfahrnis. Das lässt sich nachvollziehen, wenn man sich an die Beispiele des Geistesblitzes und des Sich-Verliebens erinnert. In beiden Phänomenen taucht etwas auf, was nicht zuvor gewusst oder bewusst war. Es taucht auf eine bestimmte Weise auf, indem es etwas mit uns macht, indem uns etwas angeht, uns etwas angetan wird – indem etwas widerfährt. Nicht umsonst wird das Verlieben im Englischen »to fall in love« mit dem Fall verbunden (vgl. dazu auch Žižek 2014), der, weil er nicht zur Wahl steht, etwas von einem affektiven Überfall hat. In ähnlicher Weise ist auch der Geistesblitz etwas, das in seiner Plötzlichkeit in ein sonst in geregelten Bahnen ablaufendes und begründbares Denken »einschlägt«. Anders gesagt gehört zum Geistesblitz wie zum Verlieben – zu Schlüsselereignissen – die Überraschung oder Irritation. Irritation oder Überraschung kann es nur geben, wo es etwas gibt, das die gewohnte Denk- und/oder Gefühlsordnung, den erwartbaren Gang der Dinge durchbricht. Nun kann dieses Etwas, das unterbricht, eben nicht zugleich etwas sein, das schon bekannt ist, das als etwas gewusst oder bewusst beziehungsweise im phänomenologischen Verständnis intentional19 verfasst ist: ein Etwas, das schon in einem bestimmten Sinn aufgefasst wurde oder das als ein Ziel unseres Handelns anvisiert werden könnte. Wäre dem so, gäbe es kein Problem, die Ursachen oder Gründe des Auftretens von Geistesblitzen oder des Verliebens zu beschreiben, ihre Regeln fest18 19

Eine Responsivität, eine Antwortlichkeit als Grundzug allen menschlichen Verhaltens, hat Waldenfels systematisch in der Schrift Antwortregister (1994) ausgearbeitet. Siehe dazu Kap. 2.3.1.

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stellen und sie willentlich herstellen zu können. Das aber können wir ja gerade nicht. Die gegenteilige Überzeugung ließe sich nur um den Preis verteidigen, die erfahrbare unmögliche Möglichkeit von Schlüsselereignissen und damit das Sich-Verlieben und Geistesblitze zu leugnen. Für Waldenfels kommt dies nicht in Frage. Die Schwierigkeit weiterer Betrachtung der widerfahrenden »Affektion, ohne etwas, das affiziert« (Waldenfels 2002: 99ff.), besteht nun allerdings darin, etwas thematisieren zu müssen, das nicht als etwas verstanden werden kann, aber deshalb auch nicht nichts ist. Man muss daher etwas zum Thema machen, was als Ungewusstes und so auch Unbewusstes zu einem Bereich zu zählen wäre, über den der Wittgenstein des Tractatus wohl geboten hätte, philosophisch zu schweigen. Der Clou oder Kniff von Waldenfels’ Phänomenologie besteht nun darin, ernst zu nehmen, dass wir an dem, wovon wir im Hinblick auf die Möglichkeitsbedingung von Schlüsselereignissen nicht sprechen können, dennoch leiden müssen, wenn wir es erfahren. Dieses Leiden findet bei Waldenfels einen Ausdruck in den neutraleren Begriffen des Pathos und des Widerfahrnisses. Denn mit diesem Leiden sind nicht nur schmerzhafte oder negativ konnotierte Erfahrungen gemeint. Darauf, dass das, was uns zustößt, irritiert oder überrascht, für sich genommen weder gut noch schlecht ist, deuteten bereits die Erfahrungen von Geistesblitzen und Sich-Verlieben hin. Ge- oder erlitten wird für ein Subjekt des Widerfahrnisses in Form eines Getroffenseins (vgl. ebd.: 56). Das spricht dessen Status als einen passiven an. Schlüsselereignisse geschehen nicht, ohne dass sie jemandem widerfahren, wiederum sind sie deshalb aber keine subjektive Einbildung. Widerfahrnisse zeigen sich ja gerade dadurch, dass jemand etwas durchmacht, was er nicht herstellen wollte oder könnte. Das Subjekt des Widerfahrnisses tritt daher als »Patient« oder als Subjekt in der Leideform in Erscheinung. Diese Passivität darf jedoch nicht mit einer Zurückhaltung verwechselt werden. Wo nämlich nicht schon etwas bewusst ist, das affizierend widerfährt, da kann gleichermaßen auch nicht schon jemand sein, der darüber entscheidet, was oder was nicht widerfahrend in Empfang genommen wird. Das Subjekt des Widerfahrnisses als Patienten zu bezeichnen, heißt, diesen passiven Vor-Status »autonomer« Subjektivität kenntlich zu machen (vgl. Waldenfels 2012: 73). Dieser Vor-Status ist nur zu verstehen, wenn man die Zeitlichkeit von Widerfahrnissen betrachtet: Was überrascht oder irritiert, kann das nur, indem es unseren Erwartungen, unseren Deutungs- und Abwehrversuchen dessen, was und wie geschehen wird, zuvorkommt.

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Die Vorgängigkeit von Widerfahrnissen lässt sich auch an ganz alltäglichen Irritationen beobachten: zum Beispiel am nächtlichen Geräusch, das den Schlaf raubt, bevor es sich als Klopfen der Heizung entpuppt, für welches sich dann Reparaturmaßnahmen einleiten lassen, die den Schlafzimmerfrieden restituieren. Auch das Verlieben und der Geistesblitz fangen mit einem Nicht-Wissen an, wie oder was mir geschieht. Hinsichtlich der zeitlichen Erscheinungsweise von Widerfahrnissen hat man es daher mit der »Vorgängigkeit einer Wirkung, die ihrer Ursache vorausgeht« (Waldenfels 2002: 58) zu tun, ohne für diese etwas getan haben zu können. Erst in seiner nachträglichen Verarbeitung gewinnt eine solche Wirkung einen Sinn, durch den jemand damit umzugehen weiß (oder auch nicht). Dies zusammenfassend schreibt Waldenfels: »Das Getroffensein erzeugt rückwirkend seine Geschichte. […] Die fragliche Ursache gleicht dem kantischen Ding an sich, das nicht wiederum bestimmten Möglichkeitsbedingungen unterliegt. Doch dieses merkwürdige Ding an sich erfordert eine Affektion ohne etwas, das affiziert. Das Etwas gehört bereits zur deutenden Antwort auf das Geschehen. Das Getroffensein, das ähnlich zu verstehen ist wie das Ergriffensein, geht dem Treffen von etwas voraus.« (Ebd.: 59) Erst durch eine nachträgliche Antwort im weiten, oben beschriebenen Verständnis gewinnt das widerfahrende Etwas Realität für uns. Etwas, das Realität für uns gewinnt, setzt aber wiederum uns voraus. Auch wir gehen erst aus einem Akt des Antwortens hervor. Erst im Antworten wandelt sich das Subjekt des Widerfahrnisses, der Patient, zum Subjekt der Antwort, dem »autonomen«, aber heteronom konstituierten »Respondenten« (vgl. ebd.: 102). Das heißt aber nicht, dass das, was erst einen Sinn oder ein Ziel gewinnen muss, um für uns zu erscheinen, ist, als was es nachträglich gedeutet wird. In ihrer Wirkung weisen Widerfahrnisse über das hinaus, was sich über sie sagen lässt und wie sie sich erklären lassen. Von diesem Überschuss zeugen Geistesblitz und Verlieben. In beiden Fällen ist eben das, was zu denken oder zu fühlen gibt, nicht identisch mit dem, was es zu denken oder zu fühlen gibt. Widerfahrnisse sind und bleiben ein Fremdes, für dessen Phänomenalität Waldenfels die prägnante Formulierung geprägt hat, dass »[es] sich zeigt, indem es sich entzieht« (Waldenfels 2012: 56). Diese Formulierung diente schon Vogt dazu, diejenige Erfahrung zu beschreiben, die einem Subjekt seine musikalische Selbstsicherheit vergehen lässt.

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Das so beschriebene Phänomen des Fremden weist auf die Verletzlichkeit und Kontingenz einer sich wiederholenden Normalordnung des Verstehens und Begehrens20 hin. Als Außerordentliches muss es dieser Ordnung dennoch angehören, sonst wäre (es) nichts, was beunruhigen könnte oder auffällig werden würde. Es fällt innerhalb der gewohnten Erfahrung auf, durch die Sinn und Ziele Anhaltspunkte auf Zeit gewonnen haben: »Ruhige Zeiten sind [daher] solche, in denen das Außerordentliche in eine Latenzphase einrückt; doch als imminentes und nicht bloß eminentes Sein wohnt es der Ordnung inne. Jede Ordnung beruht auf Abweichungen und Übertretungen, auf einer besonderen Art ordnender Gewalt, das heißt sie ruht auf keinem sicheren Fundament.« (Waldenfels 2002: 58) Diese nicht tilgbare Lücke zwischen Widerfahrnis und Verarbeitung, die eine jede Erfahrungsordnung für neue Erfahrungen offenhält, lässt sich durch die erneute Betrachtung der Zeitlichkeit beider Ereignisse verstehen: »Es stimmt zwar, wir antworten auf das, wovon wir getroffen sind, und wir sind von dem getroffen, worauf wir antworten, doch beides geschieht in eins, wenngleich in einer zeitlichen Verschiebung, die eben aus der Antwort ein nachträgliches, aus dem Widerfahrnis ein vorgängiges Ereignis macht.« (Ebd.: 60) Wenn Widerfahrnisse, wie zuvor angesprochen, erst in der Antwort eine Realität für uns gewinnen können, indem sie erfahrbar, sagbar, behandelbar werden, dann erklärt sich, weshalb ihre Vor- und Nachgängigkeit nicht als ein Nacheinander zweier zeitlicher Einzelereignisse zu denken ist. Die Vergangenheit des Widerfahrnisses entspricht mit Merleau-Ponty gesagt einer »Vergangenheit […], die niemals Gegenwart war« (Merleau-Ponty 1974: 283). Für sich genommen stellen Widerfahrnisse genauso wie das kantische Ding an sich keine erfahrbare, keine bewusste Wirklichkeit oder Gegenwart dar. Man bekommt die Irritation und die Überraschung eben nicht in ihrem puren Sein oder in einer von Deutungen verschonten Wirklichkeit selbst zu fassen, sondern nur in der Nachträglichkeit ihrer Verarbeitung, ihrer Antwort. Die Wirklichkeit derjenigen, die im Verliebtsein eine neue Welt kennenlernen, verschiebt sich gegenüber der Wirklichkeit derjenigen, die von ihr noch keine 20

Dass Verstehen und Begehren zwei Seiten der Medaille des Bewusstseins sind, hat Waldenfels in Rückschau auf Husserls Aufweis der »Intentionalität« (vgl. Kap. 2.3.1) insbesondere in Bruchlinien der Erfahrung ausgearbeitet (vgl. Waldenfels 2002: I.3).

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Musikalische Bildung als Transformationsprozess

Ahnung haben. Aber dies geschieht auf eine Weise, die ein Subjekt von sich selbst unwiederbringlich trennt. Dass Neues erfahren und neu erfahren wird, hat anders gesagt zur Voraussetzung, dass man sich selbst fremd wird.21 Erst im Antworten differenzieren sich jemand, dem widerfährt, und widerfahrendes Objekt. Rückwirkend erscheinen Ich und Welt, als seien beide immer schon da gewesen. Das täuscht über das hinweg, was Waldenfels eine Verschiebung oder genauer eine Diastase (ein »Auseinandertreten«) oder Differenz (eine »Unter-Scheidung«) nennt, durch die »etwas auftritt, indem es an anderes anknüpft, ohne vorweg mit ihm verknüpft zu sein« (Waldenfels 2007: 174). In diesem Sinne sind »vorgängiges Pathos und nachträgliche Response […] zusammenzudenken, aber über einen Spalt hinweg, der sich nicht schließt und der eben deshalb nach erfinderischen Antworten verlangt« (Waldenfels 2012: 49). Nicht jedes Widerfahrnis allerdings führt schon zu einem Schlüsselereignis. Umgekehrt ist nicht jede Antwort kreativ, eine, die subjektiv oder kollektiv Neues hervorbringt. Waldenfels unterscheidet daher unterschiedliche Antwortmodalitäten: eher reproduktive und eher produktive Antworten. Zur letzteren Klasse zählt er die kreative oder schöpferische Antwort, die ein neues Lernen im Sinne von Schlüsselereignissen bedeutet. In ihnen zeigt sich die Möglichkeit, »dass im Antworten nicht bloß ein bereits existierender Sinn wiedergegeben, weitergegeben oder vervollständigt wird, sondern dass im Gegenteil Sinn im Antworten selbst entsteht« (Waldenfels 2013: 53). Eher reproduktiv erweisen sich dagegen Antworten als Erfahrungen und Handlungen, die zur Sicherung oder Bestätigung von Welt- und Selbstverhältnissen beitragen. Sie betreffen die Herstellung von Beständigkeit der Subjektivität beziehungsweise ein in der (musik-)pädagogischen Forschung oft vernachlässigtes doing continuity als Teilaspekt von Biographisierungs- und Lernprozessen.22 Auf der Ebene kollektiver Erfahrung ließe sich reproduktive und produktive in Form von Ereignissen unterscheiden, »die primär darauf

21

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Ähnlich schreibt Käte Meyer-Drawe zum Lernen: »Wenn wir einmal eine Fähigkeit erworben haben, sind wir außerstande, uns vorzustellen, wie wir vorher waren. Das gilt für das Gehenlernen wie für das Erwerben einer wissenschaftlichen Sicht« (MeyerDrawe 1996: 86). Die alten Erfahrungen werden dabei nicht einfach gelöscht, sondern sind Erfahrungen, die mir fremd geworden sind, die sich in ihrer Zugänglichkeit nicht unterscheiden von der Erfahrung eines anderen Subjekts. Aus diesem Grund kann Erfahrung nicht ausschließlich von einer Kontinuität her gedacht werden. Siehe dazu Kap. 4.3.1

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hinauslaufen, daß eine bestimmte [Gesellschafts-]Ordnung erprobt, befestigt und reproduziert« wird, und Schlüsselereignissen, durch die sie »durchbrochen, unterhöhlt und durch eine neue Ordnung ersetzt wird« (Waldenfels 2004: 450). Da die jeweiligen Antwortmodi ein Eingehen auf fremde Ansprüche bedeuten, ist davon auszugehen, dass sich die Besonderheit von Mathos und Pathos respektive Antwort und Widerfahrnis in Schlüsselereignissen durch eine Untersuchung von Antwort- und Anspruchsmodalitäten23 einkreisen lässt: So zeigt sich, dass eine Überbeanspruchung mit einer Antwortlosigkeit oder Antwortblockaden einhergeht. Auf diese Extremfälle wurde schon als Traumata hingewiesen. In solchen Fällen übersteigen fremde, unerfüllbare Ansprüche die Antwortfähigkeiten beziehungsweise die Eigenkapazitäten eines Subjekts in einem solchen Maße, dass sich alles Tun und Sagen an die Wirkung eines Erlittenen fesselt, das sprach- und tatenlos macht (vgl. Waldenfels 2002: 63; Waldenfels 2007: 634). Dagegen gibt es Ansprüche, die den Charakter einer Unterforderung haben, die sich deshalb problemlos mit einem reproduktiven Antworten auch im Sinne eines Dazu-Lernens verbinden können. Beispiele dafür sind kleine Irritationen und Auffälligkeiten, die, als Ausnahmen abgetan, die Regeln der Normalordnung und Gewohnheiten bestätigen. Ein Anspruch, der Neuantworten provoziert, wäre zwischen Unterforderung und Überbeanspruchung anzusiedeln. Die Nachhaltigkeit des Anspruchs müsste mit der Unausweichlichkeit eines erfinderischen Antwortens insofern zusammengehen, als er sich weder in ein anderes oder ordnungsgemäßes Ereignis verwandeln lässt noch die zur Verfügung stehenden Gewissheiten und Fähigkeiten oberhalb des Sag- und Machbaren anspricht. Der Einfachheit halber ließe sich von einem solchen Anspruch auch als Herausforderung sprechen. In Bezug auf den Begriff des Schlüsselereignisses lässt sich vorläufig zusammenfassen, dass er zwei Dimensionen anspricht, nämlich Pathos und Mathos respektive Widerfahrnis und kreative(s) Antwort(en). Hinsichtlich der Frage nach dem Anlass (musikalischer) Bildungsprozesse scheint er dadurch besonders geeignet, dessen notwendige, zusammengenommen hinreichende Merkmale beschreiben zu können. Es lässt sich nämlich sagen, dass transformatorische Bildungsprozesse dann ausgelöst werden, wenn ein Widerfahrnis kreativ beantwortet wurde. Die präteriale Formulierung ist wichtig, 23

Waldenfels unterscheidet ebenfalls Anspruchsmodalitäten (vgl. Waldenfels 2007: 243), aber nicht in gleicher Hinsicht ihre Relation zu den Modalitäten von Antworten.

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weil Widerfahrnisse nur aus der Perspektive ihrer kreativen Be-Anwortung als Schlüsselereignisse verständlich werden. Hinreichend bestimmt der Begriff des Schlüsselereignisses den Anlass transformatorischer Bildungsprozesse, weil sich auch umgekehrt sagen lässt, dass wenn ein Schlüsselereignis erfahren wurde, transformatorische Bildungsprozesse in Gang gekommen sind. Das heißt noch einmal, dass es bei Bildungsprozessen nicht ohne (fremde) Widerfahrnisse geht, aber Widerfahrnisse allein machen noch keinen Bildungsprozess aus. Erst wenn beide Merkmale (Widerfahrnis und kreative Antwort) zusammenkommen, hat man es mit einem Schlüsselereignis, dem Auslöser transformatorischer Bildungsprozesse zu tun.24 Besondere Aufmerksamkeit kam der Frage nach der Rolle des Subjekts in Schlüsselereignissen zu. Es ging bei der genaueren Betrachtung der beiden Dimensionen von Schlüsselereignissen eben auch darum, Vogts These zu begründen, warum und dass Schlüsselereignisse nicht gesteuert oder gar geplant und antizipiert werden können. Ein Hauptgrund dafür war, dass es sich bei Schlüsselereignissen, wie an den Phänomenen des Geistesblitzes und des Sich-Verliebens illustriert, um Möglichkeiten ohne zureichende Gründe handelt. Wenn dem so ist, ließe sich daraus schließen, dass sich musikalische Bildung gar nicht er-möglichen oder sinnvoll als eine Zieldimension von Musikunterricht verstehen ließe. Ich werde darauf in der Zusammenfassung (Kap. 2.5) zurückkommen. Von der Betrachtung des Begriffs des Schlüsselereignisses für den Auslöser von Bildungsprozessen komme ich zunächst zu einer Betrachtung von Musik zurück. Die Frage, wie etwas – wie zum Beispiel ein Konzert – zu einem musikalischen Schlüsselereignis und somit zum Anlass musikalischer Bildungsprozesse werden kann, setzt voraus, dass es überhaupt als musikalisches Geschehen erfahren wird. Ich werde diese Voraussetzung im folgenden Kapitel befragen. Davon ausgehend versuche ich im nächsten Kapitel am Beispiel von Konzerten als Schlüsselereignissen den Auslöser musikalischer Bildungsprozesse zu plausibilisieren.

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Widerfahrnisse oder fremde Erfahrungen mögen als notwendige Bedingungen eines jeden Lernprozesses zu verstehen sein (vgl. dazu Mayer-Drawe 2003); umgekehrt gilt aber nicht, dass jede Irritation, jedes Widerfahrnis auch ein Lernprozess ist oder einen solchen zur Folge hat.

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2.3

Kleine Phänomenologie des musikalischen Konzertgeschehens

Wenn Konzerte als musikalische Geschehen verstanden werden können, dann nur unter der Bedingung, dass wir sie musikalisch erfahren. Entsprechend lautet die Frage dieses Kapitels, wie und wodurch wir Konzerte überhaupt musikalisch erfahren können. Der Weg der Untersuchung ist ein phänomenologischer. Über die Methode der Phänomenologie ist auch in der (Musik-)Pädagogik vieles geschrieben worden, wobei nicht in allen Fällen eine Methode des Philosophierens gemeint ist. Das ist nicht ganz unproblematisch, da dadurch gegenwärtig recht vieles Phänomenologie genannt wird.25 Was sich wiederum für den philosophischen Ansatz der Phänomenologie mit Hinblick auf verschiedene Einführungen feststellen lässt, ist, dass dabei zwar oft eine Methode angesprochen, diese aber kaum mittels konkreter Analysebeispiele veranschaulicht wird und daher auf eine gewisse Weise undeutlich bleibt. Gelegentlich wurde von phänomenologischer Philosophie auch als »Stil« (vgl. u.a. Waldenfels 1992: 9; Bernet 2010: 43) gesprochen. Meines Erachtens hat das eher – und das bestätigt implizit auch eine jüngere Generation phänomenologischer Forscher (vgl. Beyer/Landweer 2011) – mit einer Unsicherheit im Methodenverständnis oder einem tendenziell intuitiven Methodenbewusstsein26 zu tun und beschreibt nicht die Besonderheit phänomenologischen Philosophierens. Um verständlich zu machen, wie ich in meiner Untersuchung vorgehe, möchte ich durch einen Exkurs in die Methode phänomenologischen Philosophierens zunächst einführen und auf Beispiele ihrer konkreten Anwendung eingehen.

25

26

So bemerkt Vogt, dass »das Stichwort ›Phänomenologie‹ allein im Kontext der Methodenfrage als Teil der sog. qualitativen Forschungsmethoden auf[taucht], obgleich die ›phänomenologische Methode‹ wiederum innerhalb der musikpädagogischen Forschungspraxis keinerlei Rolle spielt« (Vogt 2001: 2). Dass phänomenologische Philosophie nicht als empirische Forschungspraxis (miss)verstanden werden kann, sollten die weiteren Ausführungen deutlich machen. Durch diese Darstellung der Method(ologi)e phänomenologischen Philosophierens kann ebenso einsichtig werden, dass die Einwände des Musikpädagogen Matthias Flämig gegen die Phänomenologie (vgl. Flämig 2004) zum Teil auf einem solchen Missverständnis beruhen. Darauf scheint auch Lars Oberhaus anzuspielen, wenn er im Handbuch Musikpädagogik ein »Methodendefizit« phänomenologischer Philosophie anspricht (vgl. Oberhaus 2018: 431).

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2.3.1

Exkurs: Ziel, Herangehensweise und Darstellungsmöglichkeiten phänomenologischen Philosophierens

Als kleinster gemeinsame Nenner phänomenologischer Tätigkeit lässt sich die Anwendung einer anfänglich von Husserl beschriebenen, in kritischer Auseinandersetzung mit ihm vielfach weiterentwickelten27 Methode zur Erreichung eines bestimmten Erkenntnisziels ausmachen. Ich möchte daher zunächst das Erkenntnisziel phänomenologischer Philosophie bestimmen, sodann auf die Grundzüge der Methode, durch die es erreicht werden soll, eingehen und in einem dritten Schritt auf die Problematik der Präsentation phänomenologischer Forschungsergebnisse sowie auf ihre Darstellungsmittel hinweisen. Ziel: Die Entdeckung der Welt, wie (und wodurch) sie uns erscheint Husserls prägender Slogan, der phänomenologischer Forschung die Richtung weisen sollte, lautet: »Zu den Sachen selbst!«. Die »Sachen« der Phänomenologie – und daher rührt ihr Name – sind die Phänomene. Gemeint ist damit die Welt, wie sie uns erscheint, wie sie sich unserer Erfahrung darbietet – als Phainomenon (Erscheinung) im Unterschied zum Noumenon, den Dingen oder der Welt an sich. Dass die Erkenntnis der Phänomene als Ziel phänomenologischer Bemühungen nicht ohne weiteres erreicht werden kann, ist in Husserls Slogan bereits angelegt. Es ist die Vermutung, dass Weltsichten der Wissenschaften wie auch der Philosophie nicht so richtig bei der Sache sind oder waren, ja sogar den Blick für die Welt, wie sie uns erscheint, verdecken. Beispiele dafür finden sich insbesondere in bekannten, zum Alltagswissen avancierten (natur-)wissenschaftlichen Annahmen. So wird beispielsweise davon ausgegangen, dass das Denken im »Kopf« oder in einem Gehirn stattfindet, oder dass das, was wir sehen, falsch herum von einer Netzhaut produziert wird, bevor wir es dann irgendwie wieder zurechtrücken, »so als wäre der Mensch ein Fotograf,

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Darauf, dass die Geschichte der Phänomenologie auch eine Geschichte der »HusserlHäresien« (Ricœur) ist, dass sich Husserls Vorstellung von Phänomenologie für viele seiner Schülerinnen und Schüler auf eine nicht tragbare Weise (angeblich) radikalisierte, und dass und warum die Themen der Lebenswelt und des Leibes bei ihm noch nicht den gleichen Raum einnehmen wie in zeitgenössischer Phänomenologie, werde ich im Rahmen dieser Arbeit nicht eingehen.

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dessen Bewusstsein sich in eine Camera obscura verwandelt hat« (Waldenfels 1992: 18). In beiden Beispielen hat man es mit (naturalistisch orientierten) Weltsichten zu tun, die keiner Sicht auf Welt, wie sie uns erscheint, entspricht. Sie entspricht keiner Welt, wie sie sich erfahrungsgemäß zeigt oder zeigen kann. Dass das Gehirn die »Hardware« unseres Denkens sei wie die Netzhaut die Hardware unseres Sehens, ist nichts, was wir unmittelbar selbst erfahren können, sondern etwas, was erst aufgrund der nicht nur naturwissenschaftlich, sondern vor allem philosophisch traditionsreichen Annahme eines »Geists in der Maschine«28 denkbar wird. Damit ist aber auch angedeutet, wovon phänomenologische Forschung auszugehen hat: von den Gegebenheiten eigener Anschauung respektive (Denk-)Erfahrung. Entsprechend formuliert Husserl das phänomenologische »Prinzip aller Prinzipien, dass jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, dass alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär (sozusagen in seiner leiblichen Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt« (Husserl 2009a: § 24). Dieses Prinzip als Ausgangspunkt phänomenologischer Forschung kann man mit Lambert Wiesing noch kürzer fassen: Phänomenologie geht von dem aus, was uns phänomenal gewiss ist (vgl. Wiesing 2015a: Kap. Phänomenale Gewissheit). Phänomenal, also erfahrungsgemäß gewiss ist uns zum Beispiel, dass wir Schmerzen haben, wenn wir sie haben. Phänomenal ungewiss ist, ob wir lediglich neuronale Signale als Schmerzen interpretieren. Denn daran, dass wir Schmerzen haben, würde das nichts ändern und es würde die Schmerzen auch nicht lindern. Die Gewissheit, Schmerzen zu haben, wie auch die Gewissheit, Vorstellungen, Gefühle, Träume oder Hoffnungen, kurz: Erfahrungen bestimmter Qualität und Inhalts zu haben oder zu machen, lässt sich nicht bezweifeln. Dass wir unsere Erfahrungsfähigkeit der Aktivität von 28

Gemeint ist der von Descartes geprägte Körper-Geist-Dualismus oder die Auffassung, ein immaterieller Geist steuere den Körper wie eine Maschine. Indem diese Auffassung Körper und Geist als relativ unabhängig voneinander konzipiert, erzeugt sie verwirrende oder unsinnige Probleme hinsichtlich der Wechselwirkung zweier Entitäten. Unter anderen Gilbert Ryle, der mit Husserl in Kontakt stand, aber nicht unmittelbar zur Phänomenologie, sondern zur Tradition analytischer Philosophie gezählt wird, hat diese Vorstellung in Der Begriff des Geistes als Kategorienverwechslung entlarvt (vgl. Ryle 2015).

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Neuronen oder auch der Netzhaut zu verdanken haben, lässt Spielraum für Diskussionen und Interpretationen. Solche Modelle überschreiten jedoch die Schranken dessen, was sich uns intuitiv, das heißt ohne die Notwendigkeit schlussfolgernden Denkens zeigt. Wie schon Descartes’ radikaler Skeptizismus, versucht auch die phänomenologische Forschung Husserls ihre Erkenntnisse auf das zu gründen, was in unbezweifelbarer Gewissheit evident ist. Und wie Descartes ist es Husserl daran gelegen, ein Philosophieren ohne schon vorab beschlossene Modelle der Interpretation von Wirklichkeit zu ermöglichen (vgl. Wiesing 2015a: Kap. 2). In zweierlei Hinsicht unterscheidet sich die Phänomenologie (Husserls) von Descartes’ Philosophie aber entscheidend: Erstens dient ihr das Fundament unbezweifelbarer Gewissheit – das fundamentum incossum – nicht als Ausgangspunkt von Deduktionen. Zweitens erweitert Husserl das Feld des Philosophierens wesentlich, in dem er aufweist, dass nicht nur das »ich denke«, das ego cogito, unbezweifelbar gewiss ist, sondern dass jedes Denken und Erfahren ein Denken und Erfahren von etwas ist, ein ego cogito cogitatum beziehungsweise ein Denken oder Erfahren in Relation zur Welt (vgl. ebd.: 83). Für diesen Befund hat Husserl den Begriff der Intentionalität ins Spiel gebracht, der als das »Schibboleth« der Phänomenologie (Waldenfels) gelten kann. Intentionalität bezeichnet die wesentliche Eigenschaft des Bewusstseins, als »Ort«29 oder »Schauplatz« unserer Welt- und Selbsterfahrung gegenständlich bezogen respektive Bewusstsein von etwas zu sein:30 »In der Wahrnehmung wird etwas wahrgenommen, in der Bildvorstellung etwas bildlich vorgestellt, in der Aussage etwas ausgesagt, in der Liebe etwas geliebt, im Hasse etwas gehaßt, im Begehren etwas begehrt usw.« (Husserl 2009b: 380) Würde man das etwas vom Bewusstsein abziehen, bliebe nichts übrig, was für uns erfahrbar ist, kein »innerer« leerer Bewusstseinsbehälter.31

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Das Bewusstsein selbst hat seinen Ort nicht, wie man meinen könnte, im Gehirn, sondern im Leib, weshalb alles Bewusstsein Leibbewusstsein ist. Den Leib als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung behandelt schon Husserl, aber erst Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung hat ihn zu der Geltung geführt, die er in der heutigen Philosophie besitzt. Erfahrung und Bewusstsein gebrauche ich wie Husserl synonym im Umfang des Ausdrucks »cogito« von Descartes. Wer das nicht glaubt und ein Drinnen des Bewusstseins suchen möchte, müsste sich, wie es Sartre metaphorisch beschreibt, auch auf die Konsequenzen gefasst machen: »[F]alls Sie, unmöglicherweise, ›in‹ ein Bewusstsein eindrängen, würden Sie von einem

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Anders gesagt stellt die Erfahrung von (absolutem) »Nichts«32 – anders als die von einem relativen »Nicht-Etwas« – keine bewusste Möglichkeit dar, was sich im Selbsterfahrungsversuch leicht feststellen lässt. Muss man erfahrungsgemäß der These zustimmen, dass alle bewussten Vollzüge, sei es des Wahrnehmens, Vorstellens, (Aus-)Sagens, Liebens, Hassens, Begehrens etc., etwas zum Objekt oder Inhalt haben, so gilt auch umgekehrt: Wahrgenommenes ist wahrgenommen, Vorgestelltes vorgestellt, Gesagtes gesagt, Geliebtes geliebt, Begehrtes begehrt etc. Mit anderen Worten präsentiert sich nichts Bewusstes unabhängig von der Art und Weise, wie es sich präsentiert oder genauer »intendiert« ist: in einem jeweiligen Auffassungssinn, einer Form, einer Gestalt, einem Wissenszusammenhang. Eine übliche Kurzformel für die von Husserl aufgewiesene Intentionalität lautet: Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas. Anders gesagt sind Ich und Welt zwei voneinander abhängige, gleichursprüngliche und dennoch nicht identische Relata (vgl. Wiesing 2015a: 89). Sie voneinander unabhängig zu verstehen, in Form einer subjektiven Innenwelt auf der einen Seite und einer objektiven Außenwelt auf der anderen, erweist sich aus der Perspektive unserer Erfahrung besehen als unhaltbare Fiktion. Methode: Reduktion/Epoché und eidetische Variation – phänomenologischer Aufweis Wer phänomenologisch philosophieren möchte, muss sich also auf die Sachen selbst – die Phänomene, die Welt, wie wir sie erfahren können – zurückbeziehen. Um diesen Rückbezug auf die Phänomene leisten zu können, sind zwei Denkoperationen notwendig, die miteinander Hand in Hand gehen: Reduktion und Epoché. Eine dritte Denkoperation, die ich noch einführen werde, ist die eidetische Variation. Sie stellt ein weiteres methodisches Element eines mehrdimensionalen Verfahrens dar. Zunächst aber zur Epoché. Die Epoché (gr. ἐποχή, »Zurück- oder Enthaltung«) hat Husserl als eine Operation beschrieben, durch die der phänomenologische Gegenstandsbereich, das Terrain der Phänomene, freigelegt werden soll. Es geht dabei

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Wirbelwind erfasst und nach draußen […] zurückgeworfen werden, denn das Bewusstsein hat kein ›Drinnen‹; es ist nichts als das Draußen seiner selbst und diese absolute Flucht, diese Weigerung, Substanz zu sein, konstituieren es als ein Bewußtsein« (Sartre 1997: 40f.). Zu Husserls Denken über das Nichts vgl. die gleichnamige Arbeit von Christopher Erhard 2014.

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um die »Ausschaltung« oder »Einklammerung« der Generalthesis der natürlichen Einstellung. Das meint zunächst die Enthaltung – nicht aber Negation oder Bezweiflung – jedes Urteils über die alltägliche, »natürliche Welt, die beständig ›für uns da‹, ›vorhanden‹ ist, und die immerfort dableiben wird als bewußtseinsmäßige ›Wirklichkeit‹, wenn es uns auch beliebt, sie einzuklammern« (Husserl 1985: 142). Ausgeschaltet wird also jedes Urteil über die Existenz der phänomenalen Welt. Damit soll verhindert werden, dass wir die Phänomene als »bloße Erscheinungen« betrachten und damit auf eine »eigentliche« Wirklichkeit hinter diesen Erscheinungen abzielen. Andererseits meint Epoché die Aus- oder Einklammerung »alle[r] auf diese natürliche Welt bezüglichen Wissenschaften« (ebd.). Das kann, muss aber nicht mit der expliziten Kritik wissenschaftlicher Annahmen und Modelle verbunden sein.33 Insbesondere gilt es, sich objektivistischer, naturalistischer Auffassungen zu enthalten, für die ich oben Beispiele gegeben habe. Was allgemeiner mit der Epoché vorgestellt wird, ist ein Ideal von Vorurteilsfreiheit auf dem Weg der Betrachtung der Phänomene. Dabei stellt sich schon die erste Frage: Wenn ich noch gar nicht weiß, was hinsichtlich eines Phänomens entscheidend ist, woher soll ich wissen, welche Urteile als Vorurteile zu verstehen sind und welche als die Urteile, auf die es ankommt? Wenn ich meine Sicht von Vorurteilen bereinigen möchte, muss ich dann nicht irgendeinen positiven Begriff von der Sache haben, um die es gehen soll, damit ich sagen kann, das oder das ist bezüglich des Untersuchungsgegenstands nicht denknotwendig? So wird klar, dass die Epoché nur parallel zu beziehungsweise gleichzeitig mit einer positiven Bestimmung notwendiger phänomenbezogener Eigenschaften vollzogen werden kann. Das Instrument zur positiven Bestimmung wesentlicher Eigenschaften34 von Phänomenen nennt Husserl (eidetische) Reduktion. Gemeint ist damit die »Rückführung« (im Wortsinne von lat. reducere) dessen, »was sich zeigt, auf die Art und Weise, wie es sich zeigt« (Waldenfels 1992: 30). Mit anderen Worten soll der jeweilige Untersuchungsgegenstand auf seine Phänomenalität hin untersucht werden, mit 33

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Waldenfels interpretiert sie als eine »Arbeit des Abbaus«, die wie Heideggers Destruktion (der Metaphysik) und Derridas Dekonstruktion »zu verschiedenen Frontlinien [führt], an denen die Phänomenologie ihre Neuerungskraft beweisen muss« (Waldenfels 1992: 17). Husserl spricht von »Wesensschau«, was vielfach missverstanden wurde. Nach Gernot Böhme ist die phänomenologische Methode »eine Variante der traditionellen philosophischen Forderung, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden« (Böhme 1994: 232).

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dem Ziel, dabei wesentliche, allgemeine Eigenschaften festzustellen, die für die jeweilige Auffassung konstitutiv sind. Ich werde das weiter unten an zwei Beispielen erläutern. Um beschreiben zu können, was das Wesentliche (gr. eidos) eines Phänomens ist, lässt sich weder deduktiv noch induktiv verfahren. Ein deduktives Vorgehen verbietet sich, weil dies nur aufgrund von Vormeinungen und Modellen möglich wäre, deren es sich ja gerade zu enthalten gilt. Induktiv kann die Phänomenologie nicht arbeiten, weil sie keine Aussagen über eine Menge individueller »Gegenstände« treffen möchte, also auch nicht über Auffassungen bestimmter Gruppierungen oder Individuen wie in der empirischen Sozialforschung. Um sinnkonstitutive Merkmale dessen, was untersucht wird, festzustellen, bleibt nur das Verfahren der sogenannten eidetischen Variation übrig. Dabei geht es darum, den jeweiligen Gegenstand der Untersuchung in der Phantasie und in allen denkbaren Erfahrungsmodalitäten, Erfahrungskontexten und -bedingungen zu variieren, um auf das zu stoßen, was »übrigbleibt, das sich mit gutem intellektuellen Gewissen nicht ableugnen läßt, wenn alle in Urteilsform formulierbaren Annahmen so frei wie möglich variiert werden« (Schmitz 1967: 232). Man variiert also so lange, bis man an eine Grenze des Variierbaren des betreffenden Phänomens stößt, oder, um eine treffende Formulierung Lambert Wiesings zu übernehmen: »In der Eidetischen Variation variiert man, um zu scheitern« (Wiesing 2011: 7).35 Die eidetische Variation ist damit vor allem ein Selbstexperiment und kein Gedankenexperiment. Man muss sie selbst durchführen, mit den »Bordmitteln« seines Verstandes, während das Gedankenexperiment nur ein vorgestelltes Experiment ist, das zur Illustration bestimmter Thesen dient und das keinerlei selbst vollzogene, experimentelle Denkoperation erfordert (vgl. Wiesing 2011). Ich möchte das an zwei konkreten Beispielanalysen verdeutlichen. Beispiele zwischen Ich-Pol und Welt-Pol: Vom Leibding zum Ding   a)   »Die Räumlichkeit des Leibdings« »Beginnen wir mit der Beschreibung der Räumlichkeit des eigenen Leibes.

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Dass man an die Grenzen des Variierbaren stößt, merkt man dadurch, dass die einzelnen Beispiele irgendwann austauschbar werden. Darauf – und warum eine endgültige Variation nicht zu erwarten ist – hat unter anderem Hans Blumenberg aufmerksam gemacht (vgl. Blumenberg 2007: 10f.)

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Wenn mein Arm auf dem Tisch ruht, werde ich nie auf den Gedanken kommen zu sagen, er liege neben dem Aschbecher, so wie der Aschbecher neben dem Telephon steht. Der Umriss meines Leibes bildet eine Grenze, die von den gewöhnlichen Raumbeziehungen unüberschritten bleibt. Der Grund ist der, dass die Teile des Leibes in einem ursprünglich eigenen Verhältnis zueinander stehen: sie sind nicht nebeneinander ausgebreitet vielmehr ineinander eingeschlossen. […] In gleicher Weise ist auch mein ganzer Körper für mich kein Gerüst räumlich zusammengestellter Organe. Ich habe ihn inne in einem unteilbaren Besitz, und die Lage eines jeden meiner Glieder weiß ich durch ein sie alle umfassendes Körperschema.« (Merleau-Ponty 1974: 123)   b)   »Dinge haben Seiten«  »Ein Ding kann in ein anderes Ding umgewandelt werden: so kann man etwa eine Wäscheschleuder durch einige einfache Umbaumaßnahmen in einen Entsafter verwandeln. Die Wäscheschleuder kann aber auch in ein Nichtding verwandelt werden: wenn man sie etwa in einen Schredder tut, oder wenn sie auf einem Schrottplatz sich selbst überlassen wird und daraufhin nach und nach korrodiert, bis nur noch ein lockerer Haufen Rost von ihr übrigbleibt. Dieser Haufen ist ein Nichtding besonderer Sorte, etwas, das wir später als fraktales ›Gebilde‹ bezeichnen werden. Was unterscheidet den Rosthaufen von der Wäscheschleuder? Insbesondere dies: er hat keine klare Begrenzung, sondern nur einen Rand. Entsprechend fehlt ihm auch eine Oberfläche: man kann den Rosthaufen nicht eigentlich anfassen, man kann nur in ihn hereinfassen. Damit fehlen ihm auch die Seiten. Die Wäscheschleuder hat eine Vorder-, eine Ober-, eine Unterseite, und auch eine Außen- und Innenseite. Man kann sie kraft dessen ›bedienen‹ – den Rosthaufen kann man nur wegfegen.« (Soentgen 1997: 46)   Beide Beispiele bedienen sich der Beschreibung als eines notwendigen Bestandteils des phänomenologischen Aufweise(n)s. Exemplarisch für die Anwendung einer eidetischen Variation sind diese Beispiele, weil sich von der Wahrheit ihrer Ergebnisse nur im angewandten Nachvollzug überzeugen lässt. Merleau-Ponty fordert dazu implizit auf, wenn er schreibt, dass »ich« (gemeint ist »man«) in eidetischer Variation »nie auf den Gedanken kommen« würde, den eigenen beseelten Körper zu behandeln wie ein Ding unter anderen. Man wird das »Leibding« niemals erfahren wie den Aschenbecher, der vor mir und neben dem Telefon steht. Denknotwendig ergibt sich, dass der Leib die wesentliche, apriorische Eigenschaft besitzt, »ineinander

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geschlossen« zu sein, ein »Körperschema« zu bilden. Egal wie man sich Ich und Welt vorstellt, niemand wird den Leib, den eigenen beseelten Körper in der Vorstellung unter dem Bett suchen müssen wie das verlorene Handy. Der Leib erweist sich durch eidetische Variation hindurch als der transzendentale »Nullpunkt« (Husserl) unserer Erfahrung, der alle unsere Vorstellungen bedingt und begleitet. Auf dieselbe Weise muss man Soentgens Beschreibung interpretieren: Auf jedes – sogar auf ein phantasiertes Ding wie zum Beispiel ein Einhorn – trifft es zu, dass es Seiten und damit eine Begrenzung hat und uns so als »Ding« erscheinen kann. Lässt sich in ein Ding hineinfassen, weil es keine Seiten und keine solche Grenzen kennt, wie etwa der Rosthaufen, verliert es seine »Dinglichkeit« beziehungsweise seinen Sinn als Ding. Es ist dann eben ein nichteigentliches Ding oder vielmehr ein nicht-dingliches Etwas, das Soentgen in seiner phänomenologischen Beschreibung von Stoffen und Dingen als eine dritte Phänomenklasse, als »fraktale Gebilde« etabliert (vgl. Soentgen 1997). Während Merleau-Ponty den Ich-Pol in den Fokus rückt, um die Räumlichkeit des Leibes zu entdecken, hat Soentgen mit den Dingen den Welt-Pol im Blick. Ich spreche wie Husserl von »Polen«, weil beides in der eidetischen Variation nicht ohne das jeweils andere gedacht werden kann, will man sich auf dem Fundament phänomenaler Gewissheit bewegen. Reduktion, eidetische Variation und Epoché bilden somit die notwendigen Bestandteile des phänomenologischen Aufweise(n)s, der (oder das) einen dritten Weg neben Induktion und Deduktion darstellt und nicht unabhängig von seinem Erkenntnisziel, der Entdeckung der Phänomene, beschritten werden kann. Und so sollte auch klarer werden, was es heißt, das, »was sich zeigt, auf die Art und Weise, wie es sich zeigt« (Waldenfels 1992: 30), zurückzuführen: Es geht um die Rückführung von etwas auf seine Phänomenalität. Das meint die Rückführung von Dingen auf ihre »Dinglichkeit« oder die Welt auf ihre »Weltlichkeit«, das Ich auf seine Ich-lichkeit respektive Leiblichkeit, aber auch die Farbe auf ihre Farbigkeit, die Langeweile auf ihre Langweiligkeit und, wie im Folgenden, die Musik auf ihre Gestalt durch einen bestimmten Vollzug von Klang und Rhythmus. Kurzum, es geht um die Rückführung von etwas auf seine sinnkonstitutiven Merkmale, durch die uns etwas als solches erscheinen kann. Nun kann man auch in der phänomenologischen Philosophie beim gedanklichen Sich-Vorstellen natürlich nicht stehenbleiben. Um einen Beitrag zur philosophischen Diskussion zu leisten, wird man seine Ergebnisse irgendwie versprachlichen müssen. Das bringt das Problem mit sich, dass

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Musikalische Bildung als Transformationsprozess

»durch die sprachliche Beschreibung […] unumgänglich Identitäten und Differenzen festgestellt [werden], deren Kriterien keineswegs mehr in der Erfahrung, sondern in der Sprachgemeinschaft liegen« (Wiesing 2015a: 93f.). Wie ist damit umzugehen? Darstellungsmittel und -form: Protreptische Rede und formale Anzeige Phänomenologie verteidigt ihre Erkenntnisse wesentlich durch protreptische Rede (vgl. dazu auch Wiesing 2011: 7ff.). Die Protreptik ist aus antiken philosophiedidaktischen Werken bekannt: Sie diente dazu, in einfacher Sprache in philosophisches Denken einzuführen und damit für bestimmtes philosophisches Denken zu werben. Die (philosophische) Literaturgattung des Protreptikos »ist von der pädagogischen Absicht geprägt, den Leser zu einem bestimmten Tun oder gar zu einer besonderen Lebensart hinzuführen, zu ermuntern und dafür zu gewinnen« (vgl. Schneeweiß 2005: 14). In Bezug auf phänomenologische Texte bedeutet protreptische Rede jedoch nicht, dem Leser zu erklären, was das Wesentliche eines Phänomens ist, und ihn dann aufmunternd bei der Stange zu halten, so dass er letztlich bereit ist zu glauben, was ihm erklärt wird. Die Güte phänomenologischer Aufweise bemisst sich vielmehr daran, den Leser so anzuleiten, dass er sich selbst von der Wesentlichkeit der in eidetischer Reduktion gewonnenen Merkmale des Phänomens überzeugen kann. Husserl selbst hat das Problem der Präsentation phänomenologischer Ergebnisse nicht ausreichend thematisiert (vgl. Wiesing 2015a: 92ff.), vor allem dahingehend nicht, dass die durch Epoché und eidetische Reduktion gewonnenen Ergebnisse bei der Übersetzung in einen wissenschaftlichen, diskursiven Beitrag an die Grenze denkbarer Möglichkeiten einer jeweiligen Sprachgemeinschaft geraten könnten. Meines Wissens hat aber Husserls Schüler Martin Heidegger darauf zumindest einen Hinweis gegeben. In einem Vorlesungstext schreibt er: »Der Bedeutungsgehalt dieser Begriffe [des phänomenologischen Aufweisens] meint und sagt nicht direkt das, worauf er sich bezieht, er gibt nur eine Anzeige, einen Hinweis darauf, dass der Verstehende von diesem Begriffszusammenhang aufgefordert ist, eine Verwandlung seiner selbst in das Dasein [in seiner Jeweiligkeit; L.B.] zu vollziehen.« (Heidegger 2010: 425) Bei der proptreptischen Aufforderung, das phänomenologische Selbstexperiment zu vollziehen – jener »Verwandlung des Begriffs in das Dasein« –, zeigen die verwendeten Begriffe unter Umständen »an«, wie dies gelingen kann. Sie

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sagen nicht schon aus oder nicht nur, was gemeint ist. Phänomenologische Texte versuchen daher manchmal, auch durch ihre Sprache an den performativen Nachvollzug zu appellieren. Deshalb kann Waldenfels sagen, dass »Philosophieren bedeutet, durch Worte sichtbar zu machen, nicht wie die Kunst durch Farben und Linien, durch Töne und Rhythmen, sondern durch eine Weise des Sprechens, die über das direkte Werten und Urteilen hinausgeht« (Waldenfels/Mersch 2013: 182). Irreführend wäre es aber, phänomenologische Texte deshalb als literarische zu verstehen, auch wenn sie sich gelegentlich eines kunstvollen Schreibens bedienen, dies jedoch nur zu dem Zweck der Anzeige dessen, was sich von »sich selbst her zeigen« soll. Es geht darum, von möglichen wissenschaftlichen Umwegen, die sich auch sprachlich sedimentiert haben, weg und auf den Weg der Überprüfung durch eigenen Nachvollzug in der eigenen Anschauung zu führen und auf diese Weise auf die Phänomene. Ist die Sprache aber Medium des Denkens und bestimmt ihre Form den Inhalt mit, wäre anzunehmen, dass die Veränderung der Form der gewohnten Sprache zu einem anderen (Nach-)Denken, das heißt auf ver-rückte Wege des Denkens führen kann.

2.3.2

Untersuchung: Wie und wodurch Konzerte musikalisch geschehen

Unter Konzerten werden private sowie öffentliche Veranstaltungen der Aufführung von Musik verstanden. Nicht jede private oder öffentliche Veranstaltung, die den Titel Konzert trägt, erweist sich aber automatisch als musikalische. In manchen, möglicherweise experimentellen Konzertformen wurde Musik vielleicht sogar gänzlich vermisst, wie beispielsweise in der Uraufführung von John Cages stillem Stück 4’33”. Die Frage, der sich meine kleine phänomenologische Untersuchung widmet, ist daher, wie und wodurch Konzerte als musikalische Veranstaltungen geschehen oder genauer erfahren werden. Mit ihr verbunden ist allgemeiner die Frage, wie und wodurch überhaupt etwas als Musik geschieht oder erfahren wird. Entsprechend der zuvor beschriebenen phänomenologischen Herangehensweise geschieht dies in überwiegend protreptischer Verteidigung des Versuchs, die für das Erfahren von etwas als Musik wesentlichen sinnkonstitutiven Bedingungen festzuhalten. Schrittweise gehe ich dabei von einzelnen musikalischen Gestalten zu den Voraussetzungen ihrer Erfahrung sowie ih-

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res, sich insbesondere in Konzerten zeigenden, sinnesüberschreitenden Charakters vor. Nichts ist schon Musik, wohl kann aber vieles zu Musik werden. Als Voraussetzung dafür, dass etwas als Musik erfahren wird, lässt sich zunächst der Vollzug eines komplexen Sinndifferenzierungsprozesses36 beschreiben. Dieser zeigt sich der gewohnten Betrachtung von Musik vermutlich nicht ohne weiteres, aber ohne ihn würde es wiederum keine gewohnte Betrachtung von Musik geben. Um das zu erläutern, möchte ich mit dem Beispiel eines musikalischen Phänomens beginnen, an das vermutlich nicht zuerst gedacht wird: die Pause (in der Musik). Man ist geneigt, Pausen gegenüber klingenden Phänomenen mit Stille gleichzusetzen. Dabei wird die Pause in der Musik gerade nicht wie gewöhnliche Stille erfahren. Was die gewöhnlich Stille kennzeichnet, ist eine relative Abwesenheit von Geräuschen. Für die musikalische Pause gilt das nicht, auch nicht für eine Generalpause. In der Pause zwischen einem Ton oder einem Klang und einem anderen muss es keineswegs still zugehen. Man denke dabei an Aufführungen von Musik in Clubs, Bars oder Stadien, bei denen alles Mögliche zwischen dem Hören zweier Töne und Klänge lärmen kann. Wesentlich für das Hören von Pausen in der Musik ist vielmehr ihre Relation zu tönenden oder klingenden Phänomenen, die sich als eine Spannung beschreiben lässt: eine Spannung, die von der Erwartung eines noch zu hörenden tönenden oder klingenden Phänomens genährt wird. Es ist diese Spannung, die das Hören von Pausen charakterisiert, weshalb Musik mit ihnen nicht einfach aufhört und wieder beginnt, wenn ein Ton erklingt. Wird die Pause hingegen als bloße Stille gehört, ist der gespannte Vollzug musikalischer Erfahrung abgerissen, ist ein Stück und/oder ein Konzert zu Ende. Mit anderen Worten macht das Beispiel der Pause darauf aufmerksam, dass nicht erst der Ton die Musik »macht«. Die Pause macht sie auch. Das Hören von Pausen gehört bereits zum Vollzug eines musikalischen Differenzierungsprozesses. Dieser verleiht einem akustischen Geschehen einen Sinn, den es sonst nicht hätte. Durch ihn bestimmt die Pause eine spannungsvolle Relation erwarteter Klänge oder Töne. Wenn in Bezug auf Pausen daher überhaupt von Stille die Rede sein kann, dann allenfalls von musikalischer Stille.

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Ich profitiere an vielen Stellen von der Figur der Differenz/Differenzierung, wie sie Waldenfels im Hinblick auf akustische und musikalische Phänomene (vgl. Waldenfels 2010: Kap. 6) sowie Christian Grüny in seiner phänomenologischen Untersuchung der Musik bedacht hat (vgl. Grüny 2014).

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Die Pause zeigt überdies eine Eigentümlichkeit des Vollzugs der musikalischen Differenz an, die Christian Grüny folgendermaßen auf den Punkt bringt: »Die Pause als innermusikalisches Ereignis ist das Hörbarwerden der Stille, die ihren Grund bildet« (Grüny 2014: 49). Der Vollzug der musikalischen Differenz ermöglicht es nicht nur, dass etwas als Pause und als Ton gehört wird, sondern dass wir Musik vordergründig in Form von Tönen, Melodien oder Harmonien wahrnehmen. Dieser Vordergrund schafft zugleich seinen eigenen Hintergrund, nämlich eine Stille, die von der gewöhnlichen Stille durch eine Vollzugsspannung unterschieden ist, die in der Pause hörbar wird. Vergleichbar ist diese Stille als Grund der Musik, wie Grüny ausführt (vgl. ebd.: 40f.) mit der farbbedeckten Leinwand eines Bildes, die nicht identisch mit dem ist, was als Baum, Haus oder als abstrakte Gestalt gesehen wird, zugleich aber auch nicht ontologisch distinkt. Als Hintergrund der Bilderscheinung ist die Leinwand mit ihr verklammert und markiert zugleich eine Grenze zur Wand, an der das hängt, was als Bild gesehen wird (vgl. ebd.: 41f.). Die Stille als der Grund, auf dem Pausen und Töne erfahrbar werden, ist jedoch ein wesentlich fragiler Grund, der nicht sicher gegen Einbrüche fremder Klänge gefeit ist. Nicht umsonst wird beispielsweise das Geräusch eines Mobiltelefons im sog. klassischen Konzert besonders gefürchtet. Vermutlich aber nicht nur, weil es als Störphänomen im extremsten Fall den musikalischen Fluss, also den Vollzug der musikalischen Differenz, unterbricht, sondern weil es als Klingelton unbeabsichtigt Teil des musikalischen Geschehens werden kann. Ein geräuschhaftes Außen ist immer gegenwärtig, es verschwindet durch den Vollzug der Differenz nicht völlig. Das zeigt sich insbesondere auch daran, dass den Tönen ein geräuschhafter Beiklang anhaftet. Dieser geht gerade nicht im Feld musikalischer (Sinn-)Relationen auf, macht aber die Unterscheidung von Gitarren-, Cello- und Synthesizertönen etc. möglich (vgl. Waldenfels 2010: 161). Auch in anderer Hinsicht bleibt Musik einem materiellen Erdenrest verhaftet: Der Vollzug der musikalischen Differenz ist ein Nach-Vollzug dessen, was durch den Leib – durch Mark und Bein – gegangen sein muss. Das wird besonders am Rhythmus deutlich, ohne den Musik wohl überhaupt nicht gedacht werden kann, während »Töne« als musikalische Elemente im Hinblick auf bestimmte experimentelle Musiken durchaus verzichtbar scheinen. Rhythmen realisieren eine musikalische Differenz ebenfalls sowohl vorder- als auch hintergründig respektive nach innen und nach außen: Nach außen he-

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ben sich Rhythmen ab von bloßen Geschehnissen, Bewegungen anderer Art. Innermusikalisch unterscheiden sie ein Metrum, vor dessen Hintergrund sie sich zwischen den Polen von Regelmäßigkeit und Unregelmäßigkeit in Form »regelmäßiger Unregelmäßigkeit« (Plessner) abspielen. So wie Ton und Stille in einem spannungsreichen Verhältnis stehen, gilt dies für Rhythmus und Metrum. Beide gehen erst aus dem Vollzug der musikalischen Differenz hervor. Rhythmen sind daher alles andere als bloße Sinnesdaten: (Tanz-)Musik geht einem nicht »unmittelbar in die Beine«, wie das einmal Friedrich Kittler vorgetragen hat (vgl. Kittler 2014). Nicht alles, was einem in die Beine geht, ist schon Musik. Umgekehrt ist beispielsweise das Vibrieren tieffrequenter Bässe, wie zum Beispiel bei Techno- oder Dub-Musik üblich, längst noch kein Garant dafür, dass dazu auch getanzt, also Musik erfahren wird. Diese Bässe können als etwas Bedrohliches oder Schmerzhaftes erlebt werden, wenn das Herz ins Stocken zu geraten scheint, Muskeln nicht mitkommen wollen oder der Kreislauf zusammenbricht. Körperliche Resonanz(-fähigkeit)37 oder ein Vibrationssinn des Körpers stellen eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Wahrnehmung von Musik dar. Erst durch den musikalischen Differenzvollzug wird etwas, das sonst vielleicht nur als ungutes Körpergefühl erfahren wird, ein Rhythmus oder Musik. In Konzerten scheinen insbesondere Rhythmen auf etwas aufmerksam zu machen, was musikalische Erfahrung grundsätzlich betrifft: ihre Intermodalität.38 Dass man in der Vielzahl der anzunehmenden Konzertformen und -rituale selten mit einem beziehungslosen Wimmelbild an vorfindlichen Dingen konfrontiert ist, in dem Walter (»Wo ist Walter?«) oder in diesem Falle die Musik noch zu suchen ist, liegt wohl daran, dass in vielen dieser Veranstaltungen Rhythmen einen intermodalen, das heißt sinnesüberschreitenden Charakter von Musik entfalten. Das heißt, dass sich in der Erfahrung von Rhythmen akustische mit visuellen Ansprüchen verbinden und im Vollzug der musikalischen Differenz Auditives und Visuelles zu Musik amalgamieren kann. Dirigier- wie Spielgesten können dadurch ihren rein funktionellen Charakter verlieren, indem sie nicht nur als Anzeichen rhythmischer Ereignisse wahrgenommen werden, sondern selbst rhythmische Zeichen, in Grenzfällen sogar ohne Bezug auf ein Akustisches, realisieren wie beispielsweise in

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Ausführlicher als hier beschreibt Grüny Resonanz als notwendige Bedingung von Musikerfahrung (vgl. Grüny 2014: Kap. II). Zum Begriff der Intermodalität am Beispiel des Films siehe Lommel 2008.

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Dieter Schnebels instrumentalem Theater. Ähnliches lässt sich bei Lichteffekten und -installationen in Konzerten bemerken, die musikalische Rhythmen nicht nur nachbilden, sondern als eigene Bewegungsformen zu einer gewissen Polyrhythmik der Konzerterfahrung beitragen können. Es ist gerade diese Intermodalität der Erfahrung von Musik, die deutlich macht, dass in Konzerten oder anderswo Musik nie nur gehört wird.39 In Konzerten scheint das als Voraussetzung musikalischer Erfahrung evidenter zu sein, wenn solche Veranstaltungen trotz unterschiedlichster sinnlicher Ansprüche als musikalische, kohärente Geschehen erlebt werden. Zwei weitere Eigentümlichkeiten der musikalischen Erfahrung, die Konzerte illustrieren, betreffen ihre Zeitlichkeit und ihre Räumlichkeit. Zuerst zur Zeitlichkeit: Beginn und Anfang von als Konzert betitelten Veranstaltungen lassen sich in Uhrzeiten angeben, Beginn und Anfang des Konzerts als musikalischer Veranstaltung nicht. Wenn beispielsweise ein Musikwissenschaftler wie Christian Bernau oder der Theaterwissenschaftler Jens Roselt Konzerte als cultural performances in den Blick nehmen, die eine »klare zeitliche Dimension, den Anfang und Ende des Konzerts« (Jooß-Bernau 2010: 7) oder in der Formulierung Milton Singers »a definitely limited time span, a beginning and an end« (Singer zit.n. Roselt 2011: 115) hätten, so haben sie die phänomenale Zeit des musikalischen Konzertgeschehens nicht im Blick. Denn weder mit der Angabe »klarer« und »definierbarer« Anfangs- und Endzeiten noch mit der Angabe von Zeitlängen in Form von Stunden und Minuten wird etwas über die erfahrene Zeitlichkeit von musikalischem Geschehen gesagt. Was die Zeitlichkeit des musikalischen Geschehens betrifft, gilt streng genommen, dass man den Anfang oder Beginn eines Konzerts als musikalisches Geschehen immer schon verpasst. Denn wenn überhaupt etwas als Musik gehört wird, dann nur unter der Voraussetzung, dass sie bereits dauert. Durch die Thematisierung dieser Dauer gewinnt die Rede von Musik als Zeitkunst erst ihren eigentlichen Sinn. Anders als bei Dingen im Raum, deren Wahrnehmung eine Dauer hat, so kann man Christian Grünys Interpretation Husserls zustimmen, ist Musik eine Dauer (vgl. Grüny 2014: 256ff.). Keine Musik ist ganz »da« wie der Stuhl, auf dem wir sitzen, der Raum, in dem wir stehen, oder die Bühne, auf die wir schauen, auch wenn das Sitzen, Stehen

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Sie ist ein Beispiel dafür, dass unsere Sinne in der Wahrnehmung miteinander kommunizieren, dass die synästhetische Wahrnehmung Normal- und nicht Sonderfall ist, worauf insbesondere Merleau-Ponty aufmerksam gemacht hat (vgl. Merleau-Ponty 1974: 264ff.).

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oder Schauen Vorgänge sind, die Zeit brauchen. Das Feld musikalischer Relationen (Stille, Ton, Rhythmus, Metrum) muss sich dauernd entwickeln, weil es nur dauernd existiert. Und nur während des Vollzuges und/oder nach dem Vollzug der musikalischen Differenz, die das Feld hervorbringt, wird es einen (Konzert-)Anfang wie auch ein Ende gegeben haben. Mit anderen Worten ist die Wahrnehmung eines Anfangs der Musik, die Dauer ist, nie gegenwärtig, sondern bleibt immer ein verpasster Anfang. Wenn Musik also eine Zeitkunst ist, insofern sie nur als Dauer existiert, dann lassen Konzerte, wenn sie musikalisch erfahren werden, eine Kunstzeit erleben, die nicht dem alltäglichen Zeitempfinden entspricht und nicht mit der in Minuten oder Stunden messbaren Zeit einer als Konzert betitelten Veranstaltung oder cultural performance zusammenfällt. Angemessener wäre es daher, die erlebte musikalische Zeit in graduellen Begriffen von Kurzund/oder Langweiligkeit zu beschreiben: Langeweile, die Heidegger treffend damit beschreibt, dass wir »hingehalten«, zugleich aber »leergelassen« seien (vgl. Heidegger 2010: § 19-23). Kurzweiligkeit würde im Gegensatz dazu eine Zeitlichkeit beschreiben, die eine nahezu anstrengungslose Erfüllung bedeutet, wie sie im Begriff des Präsenzerlebens zum Ausdruck kommt, der in konzertpädagogischer Literatur vielfältig thematisiert wurde (vgl. die Beiträge in Richter 2009). In beiden Fällen wäre die für den Vollzug der musikalischen Differenz notwendige Spannung und damit die erlebte Qualität der musikalischen Dauer thematisiert, die keiner chronometrischen Zeit gleicht. Was den Raum des Konzerts als musikalisches Geschehen betrifft, lässt sich feststellen, dass er kein Behälter ist, in dem Musik lediglich stattfindet oder in den sie hineingetragen wird. Der Vollzug der musikalischen Differenz gewinnt eigene Räume, die nicht mit den jeweiligen Architekturen von Konzertbauten zusammenfallen. Darauf machen beispielsweise Straßenkonzerte oder Konzerte auf öffentlichen Plätzen aufmerksam, die in aller Regel von keiner eigens für Musikaufführungen geschaffenen Architektur getragen werden. Denn die zuvor in Bezug auf Rhythmen thematisierte und für die Erfahrung von Musik grundlegende Intermodalität kann Sichtfelder entstehen lassen, die profane Orte wie Straße und Platz zwar nicht vollständig negieren, aber in ihrer Profanität nahezu unsichtbar wie unhörbar machen können. Dieser musikalische Raum kann aber nicht wie der Ort oder der Platz, an dem Musik stattfindet, so einfach wieder aufgesucht werden. Da er an die Dauer der Musik gebunden ist, lässt er sich nicht »betreten« oder auf einer Karte verzeichnen. Er eröffnet sich für die Zeit der Musik denjenigen, die etwas als Musik erfahren, und auf Weisen, die weder von (Konzert-)Ritualen

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noch Architekturen determiniert sind. Musik ist also sowohl Zeit- als auch Raumkunst. Ihre Kunsträume stehen geometrischen Räumen in nichts nach, weil sie mit diesen gar nicht vergleichbar sind. Dass der durch den Vollzug musikalischer Differenz gestiftete musikalische Sinn zugleich ein eigentümlicher Raumsinn ist, bemerkt auch Merleau-Ponty: »Öffne ich im Konzertsaal wieder die Augen, so erscheint mir der sichtbare Raume eng im Verhältnis zu jenem anderen Raum, in dem soeben sich die Musik entfaltete und selbst wenn ich während des Spiels des Stückes die Augen offen behalten, scheint mir die Musik nicht wirklich in diesem genau begrenzten kleinen Raum eingeschlossen. Durch den sichtbaren Raum hindurch läßt sie eine andere Dimension ahnen, in die sie hinüberströmt, so wie in der Halluzination der helle Raum der wahrgenommenen Dinge sich geheimnisvollerweise um einen ›dunklen Raum‹ erweitert.« (Merleau-Ponty 1974: 260) Dass Konzerte als musikalische Geschehen phänomenal existierende und nicht bloß vorgestellte Kunsträume und Kunstzeiten hervorbringen, liegt daran, dass dieser Vollzug zwischen mir und anderem/n stattfindet. Hatte ich bisher von einem Vollzug musikalischer Differenz gesprochen, so ist damit nicht gemeint, dass sich die Möglichkeit der Erfahrung von Musik allein auf die Anstrengungen eines Subjekts zurückführen lässt. Weil dem nicht so ist, ist der musikalische Differenz-Vollzug mit Waldenfels sinnvoll als ein Zwischengeschehen beschrieben, welches in der Genese von Musik keiner einzelnen Instanz den Vorrang erteilt. Musik ist weder nur das Produkt einer rein subjektiven Leistung noch eine passive Wirkung: Ohne etwas, das unsere Sinne rührt, gäbe es nicht nur Musik nicht, sondern schlichtweg gar nichts Erfahrbares. Aber nicht alles, wovor Ohren (und Augen etc.) nicht verschlossen werden können, ist oder wird Musik. Etwas muss als Musik wahrgenommen, gehört werden, das heißt eine musikalische Differenz muss vollzogen werden, damit etwas, das unsere Sinne rührt, als Musik erscheinen kann. Unstrittig dürfte damit die Notwendigkeit der Differenz/Differenzierung als Bedingung der Möglichkeit musikalischer Erfahrung sein. Das, was sie jeweils »inhaltlich« als Ton oder Rhythmus etc. hervorbringt (und was in meiner Untersuchung ausschließlich formal charakterisiert wurde), unterliegt kulturellen Rahmen und Bedingungen. Dabei machen nicht erst »außereuropäische« Musikkulturen, sondern schon »hierzulande« die Musique concrète oder deren subkulturelles Pendant des Noise darauf aufmerksam, wie stark die Auf-

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fassungen von Tönen oder (noch) tönenden Phänomenen (in beiden Fällen sind dabei aber Klänge/Geräusche ihrer alltäglichen Hörweise entrissen) differieren. Kein Rahmen einer Kultur kann wiederum als Sinnkorsett die Erfahrung von Unverstandenem, Unverfügbarem oder Außergewöhnlichem verhindern. Dass der Vollzug der musikalischen Differenz sich zwischen mir und anderem abspielt, impliziert gerade die Möglichkeit, dass die musikalische Erfahrung im Konzert imstande ist, uns Fremdes zu Gehör, aber auch in den Blick zu bringen. Bevor ich im nächsten Kapitel auf eine solche, durch Fremdes charakterisierte Konzerterfahrung eingehe, will ich zuletzt auf die Konzerterfahrung als geteilte musikalische Erfahrung zurückkommen. Was das Hören und das Machen respektive »Rezeption« und »Produktion« von Musik betrifft, so wird das eine häufig vom anderen dadurch unterschieden, dass es Folgen für die Wirklichkeit geteilter musikalischer Erfahrung hinterlasse: Man geht üblicherweise davon aus, dass das Musikmachen etwas für andere als Musik erfahrbar macht, das Musikhören dagegen nicht. Dabei ist zunächst zu bemerken, dass das Machen von Musik nicht notwendigerweise etwas als Musik in eine Welt für andere setzt, auch nicht notwendigerweise ein intersubjektiv wahrnehmbares musikalisches Produkt hinterlässt: Jemand kann einfach zu leise spielen, so dass keine Musik gehört wird, oder das, was er oder sie spielt, wird von anderen gar nicht erst als Musik aufgefasst. Was wiederum das Hören von Musik angeht, so findet dieses nicht notwendigerweise nur im privaten Raum des »Kopfes« statt. Dadurch dass Leiblichkeit eine notwendige Bedingung des Vollzugs von Rhythmen ist, ist ihre Verkörperung potenziell sichtbar. Das heißt nicht, dass diese Verkörperung immer schon gesehen werden muss. Gerade Rituale wie die des sogenannten klassischen Konzerts können diese Sichtbarkeit auf ein Minimum einschränken. Denkt man an Konzerte, in denen das Publikum sich verhältnismäßig »frei« bewegen darf, würde man feststellen, dass man dem Publikum den Vollzug eines Rhythmus zu einem gewissen Teil »ansehen« kann. Die Betonung liegt auf kann. Jemand kann sich für mich so arhythmisch bewegen, dass ich darin keinen rhythmischen Vollzug erkenne und mich gezwungen sehe, Erste Hilfe zu leisten oder einen Arzt zu rufen, weil ich der Auffassung bin, er oder sie habe einen epileptischen Anfall. Um diese potenzielle Sichtbarkeit rhythmischer Vollzüge feststellen zu können, muss ich auch nicht unbedingt in ein Konzert gehen. Auch zum Beispiel auf einer Bahnfahrt kann ich unterscheiden (wobei ich nicht immer rich-

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tig liegen muss), ob ein Mitfahrer einen Rhythmus kopfnickend vollzieht40 oder ob jemand nur zittert oder krampft. Zeitgenössische Tanzperformances spielen nicht selten gerade mit dieser Schwelle. Im Konzert wiederum kann ein arhythmischer Tanz Folgen für die geteilte musikalische Konzerterfahrung von Musik haben, insofern er wie ein Missklang nicht ins Gehör, aber ins Auge sticht und die umstehenden Hörenden verwirrt. Hören und Machen von Musik können nicht prinzipiell dahingehend unterschieden werden, ob sie folgenreich für die geteilte musikalische Erfahrung sind oder ob sie ein intersubjektiv konsumierbares Produkt hinterlassen, sondern nur, wie sie das tun: Im besten Falle beim »Musikmachen« dadurch, dass etwas für andere als Musik hörbar, im besten Falle des Musikhörens dadurch, dass etwas durch Verkörperung »sichtbar« hörbar oder auch intermodal für andere musikalisch erfahrbar wird.41 Grundsätzlich tragen Machen und Hören gleichermaßen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, zu einer geteilten musikalischen Konzerterfahrung und so zur musikalischen Aufführung bei. Diese Beteiligung in distinkten Kategorien von Rezeption und Produktion zu denken, scheint dabei ein falsches Bild zu vermitteln. Für die Aufführung von Musik in Konzerten gilt so ähnlich wie für Theateraufführungen, dass erst durch alle anwesenden Teilnehmer, Hörer wie Musiker, etwas Musikalisches durch den Differenzvollzug als Zwischengeschehen entstehen kann, was sich der vollständigen Kontrolle durch Einzelne entzieht (vgl. dazu auch Bugiel 2017a). Wenn lat. concertare ursprünglich ein Zusammenwirken wie auch ein Streiten meint, dann ist diese Bedeutung wohl deshalb als »(sinnvolle) sprachliche Ambivalenz […] in der Geschichte des Konzerts erhalten« (Scherliess 2015: o.S.) geblieben, weil sich erst im Zwischengeschehen der Aufführung entscheidet, was, wie und wer miteinander eine kohärente musikalische Gestalt erzeugt oder ob und was, wie, mit wem darum streitet, musikalisch erfahren zu werden.

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Schwieriger ist es, sehend feststellen zu können, was jemand hört. Mögliche graduelle, nicht prinzipielle Unterscheidungen von Musikhören und -machen ließen sich vielleicht auch im Hinblick auf die jeweilige Leibräumlichkeit untersuchen: Im Falle des Hörens »verlängert« sich der Eigenleib bis »in« ein (Musik-)Instrument »hinein«, wobei das Singen eine Mittelstellung hin zum Machen einnimmt, das eine »engere« Leibräumlichkeit einnimmt. Beim Hören wiederum kann sich der Eigenleib in Konzerten auf einen tanzenden oder klatschenden Kollektivleib erstrecken, wie beim Machen auf den Leib einer Band, eines Chors oder Orchesters (ähnlich dazu unter dem Stichwort der solidarischen Einverleibung Schmitz 2011: 48).

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Musikalische Bildung als Transformationsprozess

Von dieser Untersuchung des Konzerts ausgehend, will ich nun zu der Frage zurückkehren, wie der Auslöser musikalischer Bildungsprozesse zu verstehen ist. Die These ist, dass etwas, wie zum Beispiel ein Konzert, dann transformatorische Bildungsprozesse veranlasst, wenn es zum musikalischen Schlüsselereignis wird. Der in Kapitel 2.2 analysierte Begriff des Schlüsselereignisses soll daher am Beispiel einer konkreten musikalischen Konzerterfahrung verständlich werden. Ich werde dazu einige Äußerungen zu dem Konzert interpretieren, auf das ich mich schon in der Einleitung bezogen habe.

2.4

Shaking the Habitual: (Konzerte als) Musikalische Schlüsselereignisse »Fail« (1/5 Sternen) von LindenLili: Ich hatte mir mehr Einfallsreichtum und vor allen Dingen mehr TIEFE gewünscht, nichts davon traf jedoch zu. The Knife haben ihr unheimliches know-how und ihr musisches Potential unwiderruflich in den Wind geblasen und gegen die volle Breitseite PAAAAAAARTYYYY um jeden Preis!!! eingetauscht. Ich war mir sehr sicher, dass ich positiv überrascht und dass dieser Abend musikalisch etwas ganz besonderes werden würde, aber das war es nicht ansatzweise. Was war da nur los? Sehr sehr schade und in keinster Weise das Geld wert.   »shaking the habitual …« (1/5 Sternen) von O.T.: Unglaublich! Fassungslos und ungläubig beschreibt den Eindruck am nahsten, was von dem gestrigen Abend übrig blieb. Bereits das warm-up mit einem Jane-Fonda-Verschnitt, die im Laufe des Rumhüpfens dank des rutschenden BH’s zu einem vierbusigen hüpf-schreienden Aerobic-Etwas wurde, leitete ein, was ich im Vorfeld las und als »die Presse übertreibt ja gerne mal« abtat. Nunja wir hatten dann auch statt einem Konzert eine Performance »gebucht«, die sich am besten mit den Worten Hampelzirkus beschreibt. Musik 70/30 vom Band und schwülstige Kunst-Monologe von und für Körperteile und, als ob es nicht schon schlimm genug wäre dazu das Aerobicgehampel … leider die volle Packung, nur nicht von dem was ich wollte … Die Show erinnerte mich stark an diese Selbstfindungs-Camps der 60/70er mit optischen Einschlag der 80er – das war damals witzig anzusehen. Aber jetzt davon persönlich/direkt betroffen, denke ich »nein danke und nein, ich will wirklich nicht meinen Namen für euch tanzen« …

Zum Auslöser transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse

Wo ist mein Konzertfeeling, wo ist der Livewums einer ausdrucksstarken Musikrichtung, wo ist die Stimmung der wobenden, tosenden Meute? Na jedenfalls nicht hier! Nur weil ich die Musik von the Knife grandios finde, muss ich nicht automatisch diesen Abend und dieses Hampeltheater gutfinden … Konzerte sollte[n] das bleiben, was sie sind!   »Perfect performance and concert by The Knife« (5/5 Sterne) von theamusement: One of the most inspiring, touching and beautiful shows I have ever seen. The Knife was up to share the night with everybody. And they fully succeeded! Totally do NOT understand this bashing by the former […] critics. If you just want to be served, then don’t go to an innovative performance band!   Kundenbewertungen des Konzerts von »The Knife« in der Arena Berlin, am 03.11.2014 auf der Website des Ticketshops »Eventim«   Das schwedische Elektropop-Duo The Knife verabschiedet sich mit einem verblüffenden Anti-Konzert in der Arena Berlin   »… Das Bühnenbild mit Showtreppe in Silberfolie ruft die ganze Geschichte kulturindustriellen Entertainments auf. Oben im Dunkel der Kommandobrücke steuert Wahlberliner Olof Dreijer die Sampler und Sequenzer. Es ist aber schwer auszumachen, von wo der kalte, überartikulierte Gesang Karin Dreijers aufsteigt, der den Raum zerschneidet wie eine Fräse. Denn Dreijer verschwindet nicht nur in der Menge aus neun zusätzlichen Tänzern und Sängern in silberblauen Discoanzügen und Glitzerschminke. Es tritt auch im Lauf des Abends jede mal ans Mikro, schlägt auf die aufgebockte Holzraketen-Skulptur ein oder schlägt einfach nur in die Luft – keine Geste kommt mit sich selbst zur Deckung. […] Doch mit der Zeit fühlt man sich von einem ungewohnten Sog erfasst. Es ist wie ein Augenweiten bei Dunkelheit. Als stülpte sich die Dramaturgie von innen nach außen. Keine der Bewegungen in Klang und Raum zielt auf ein abgeschlossenes Bild. […] Hier findet ein Popkonzert statt und stellt zugleich mit Brecht’schem Zeigen des Zeigens fortwährend Distanz her. Es ist als würde einem operativ ein Stachel gezogen: der Stachel, der unsere Körper und unser Begehren an klare Identitäten und Verhaltensmuster bindet …« »Derrida in der Mehrzweckhalle«, Kolja Reichert, Tagesspiegel 04.11.2014

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Musikalische Bildung als Transformationsprozess

Bei einer Konzerttournee, die den Titel Shaking the Habitual trägt, hätte man vielleicht wissen können, worauf man sich einlässt: Dass es dabei eben nicht mit rechten Dingen zugehen wird, dass »Gewohntes« erschüttert oder buchstäblich »geschüttelt« werden soll. Und doch scheint keiner der zitierten Konzertbesucher (so auch ich nicht) schon zuvor gewusst zu haben, worauf er oder sie sich einlassen würde: Was »da« bloß los gewesen sei, fragt sich die Rezensentin LindenLili, die an diesem Abend um die paradoxe Sicherheit zu »erwartender«, positiver »Überraschung« gebracht und stattdessen wohl mit einer wirklich unerwarteten Überraschung übermäßigen und unbedingten Rausches (»volle Breitseite PAAAAAAARTYYYY um jeden Preis!!!«) konfrontiert wurde. Ein anderer oder eine andere (O. T.) verliert neben seiner/ihrer Fassung zugleich den Glauben an den Konzertgott ob der Darbietung eines »Hampelzirkus oder -theaters«, wodurch er oder sie sich zur Mahnung an die Einhaltung einer »normalen« Konzertordnung (»Konzerte sollten das bleiben, was sie sind!«) genötigt sieht. Die Bewertung des dritten Rezensenten findet hinsichtlich erfahrener, nie zuvor gesehener Vollkommenheit von Inspiration, Berührung und Schönheit nur noch in Superlativen Halt. Ein anderes Verständnis als die Anerkennung einer vollständig erbrachten Leistung (»they fully succeeded!«) der Künstler will er nicht dulden (»Totally do NOT understand«) und wirft allen Andersdenkenden eine passive Rezeptionshaltung vor (»If you just want to be served …«). Der Versuch einer analytischen Beschreibung des Zeitungskritikers stößt auf Grenzen des Beschreibbaren in der irritierenden, viszeralen Wirkung des »Augenweiten bei Dunkelheit«. Einer Wirkung, durch die sich die Summe der Konzertteile zu keinem Ganzen in Klang und Raum verdichten lassen will, und die dem Begehren gewohnten Sehens und Hörens den festen Sitz, den »Stachel« zieht. Was diese unterschiedlichen Stimmen kollektiv eint, ist die Signatur eines Widerfahrnisses: In allen Äußerungen kommt ein pathischer Überschuss zum Ausdruck, etwas, das mehr oder anders ist als das, was sich hätte schon erwarten, suchen oder wissen lassen. Das, was den Erwartungen zuvorkam, hindert einen Betroffenen teilweise am Vollzug einer musikalischen Differenz und damit an einer musikalischen Erfahrung des Konzerts. Indem er das Gesehene und Gehörte nur als Theater oder Zirkus wahrnahm, konnte er in der als Konzert betitelten Veranstaltung kein musikalisches Geschehen wiederfinden. Empfindlich gestört scheint dabei die Kohärenz stiftende Intermodalität der gewohnten musikalischen Konzerterfahrung zu sein. Auch eine gewohnte Kollektivleiblichkeit der »woben-

Zum Auslöser transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse

den, tosenden Meute«, ohne die sich bei ihm kein rechtes »Konzertfeeling«, kein rechter »Livewums« einstellen wollte, wurde vermisst. Der Zeitungsrezensent, der darin professionell einen brechtschen Verfremdungseffekt ahnt, könnte ähnliches erlebt haben. Zumindest etwas, das sich (s)einem Wissen um musikalische Aufführungs- und Wahrnehmungskonventionen entzogen hat, die damit auffällig wurden: Wie eine Konvention, die für die Herstellung von »Liveness« und »Authentizität« in (Pop-)Konzerten verantwortlich ist – dass man »normalerweise« sieht, zumindest in dem Glauben gelassen wird, sehen zu können, wie ein bestimmter Klang produziert wird –, durch die jemand als dessen Autor sowie als Identifikationsfigur42 seiner Kunst erscheint. Indem »keine Geste […] mit sich selbst zur Deckung« kam, wurde diese Ordnung auf eine Weise unterlaufen, die den Kritiker des Tagesspiegel an eine Dekonstruktion in der Manier Derridas (»Derrida in der Mehrzweckhalle«) erinnert. Was sich nun interpretatorisch nicht oder zumindest nicht eindeutig ermitteln lässt, ist, ob oder wie diese Rezensenten eine neue musikalische Erfahrung gemacht haben. Welche Folgen diese Erfahrung für ihre zukünftige Auffassung von Konzerten hat oder ob diese Konzerterfahrung für die Besucher zum musikalischen Schlüsselereignis geworden ist, bleibt in den Äußerungen offen. Eine notwendige Voraussetzung – die Erfahrung eines MusikalischFremden – scheint jedoch bei den zitierten Besuchern, mit einer Ausnahme (O.T.), erfüllt. Die Erfahrung des Musikalisch-Fremden setzt den Vollzug der musikalischen Differenz (Kap. 2.3) voraus, sie setzt voraus, dass das Konzert als musikalisch erfahren wurde, auch wenn das, was und wie erfahren wurde, in Relation zur gewohnten Musik fremd erscheint. Eine Fremderfahrung als solche hat mit musikalischen Bildungsprozessen erst einmal nichts zu tun. Erst die Erfahrung eines Musikalisch-Fremden lässt sich als notwendige Bedingung für deren Zustandekommen verstehen. Um einen musikalischen Bildungsprozess untersuchen zu können, müssten kreative Antworten als zweite notwendige Bedingung durch die Aussagen interpretierbar werden. Es müsste mit anderen Worten in den Aussagen deutlich werden, wie Musikalisches nicht nur widerfahren ist, sondern wie dadurch Neues erfahren wurde.43

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Die Verkörperungsinstanz bzw. die auftretende Bühnenfigur populärer Musik (das »Persona«) ist jüngst auch zum Gegenstand verschiedener musikwissenschaftlicher Analysen geworden (vgl. Moore 2012; Cook 2014). Weitere Hinweise dazu in Kap. 4.3.3.

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Musikalische Bildung als Transformationsprozess

Die zum Teil negativen Bewertungen schließen dabei nicht aus, dass diese Konzerterfahrung die musikalische Erfahrung der Teilnehmenden irreversibel verändert hat. Was Martin Seel für Ereignisse im emphatischen Sinn feststellt, lässt sich auch für Schlüsselereignisse geltend machen, nämlich dass sie »Veränderungen [sind], die uns negativ und darum positiv berühren« (Seel 2001: 40) können. Musikalische Schlüsselereignisse, die neue musikalische Erfahrungsmöglichkeiten, ein neues musikalisches Erfahrungswissen (vgl. dazu Kap. 3) eröffnen, berühren uns immer negativ in dem Sinne, dass sie eine »Verneinung der Bedeutsamkeit [darstellen], die man für den Vorfall, der jetzt zum Ereignis wird, vorgesehen hatte« (Seel 2001: 40). Sie sind immer auch die Verneinung einer im gewohnten musikalischen Vorkommnis begehrten Erfahrung, einer Lust, etwas Bestimmtes als Musik erfahren zu wollen. Sie können uns positiv berühren, wenn der Vorfall sowohl eine neue Bedeutsamkeit als auch eine neue Lust erweckt. Die Erschließungskraft solcher Ereignisse zeichnet sich aber nicht dadurch aus, ob sie nachträglich als glückliche oder unglückliche, erfüllte oder unerfüllte bewertet werden. Auch eine über alle Maßen »schlechte« Konzerterfahrung, für die man wohl nicht freiwillig in ein Konzert gehen würde, kann musikalisches Erfahren im Ganzen auf neue Weise verändern, kann ein Auslöser musikalischer Bildungsprozesse sein. Was hingegen ein wesentliches Merkmal erschließender musikalischer Ereignisse ist, ist ihre nachhaltige Erinnerlichkeit: Biographien prägen musikalische Schlüsselereignisse in Form musikalischer Selbstgründungsmythen44 , auf die sich der oder die musikalisch Gebildete auch nach Jahren notwendig beziehen muss, um sich selbst erklären zu können, wodurch und wie etwas als Musik erfahren und begehrt wird. In der Nachträglichkeit der kreativen Antwort bleiben die eigentlichen Gründe dafür aber in einem mythischen Dunkel. Das ist so, weil diese Antwort auf ein vorgängiges Widerfahrnis, das die unmögliche Möglichkeit dieser Erfindung ist, bezogen bleibt. Dies bestätigt mir zuletzt meine eigene Erfahrung dieses Konzerts: Ich erinnere mich vor allem daran, dass sie für mich, wie für einige der Rezensenten, nicht besonders erfreulich war. Denn auch ich hatte anderes erwartet (siehe Einleitung) und war doch relativ stark irritiert, worauf ich mich einstellen musste und doch nicht einstellen konnte: auf ein Nichtwissen, was das alles bedeuten sollte, was mir geschah. Wenn ich daran zurückdenke, dann ist mir bis heute nicht ganz klar, wie und was mir dort widerfahren ist. Ich weiß 44

Ich werde auf diesen Begriff in Kap. 4.3.1 im Kontext musikalischer Biographie als Gegenstand einer bildungstheoretisch orientierten Forschung zurückkommen.

Zum Auslöser transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse

aber, dass ich Musik in Konzerten seitdem anders höre und sehe, dass dieses Konzert zu einer Transformation des Wissens, wie ich Musik erfahre (vgl. dazu Kap. 3) geführt hat.

2.5

Zusammenfassung

Die bisherigen Erörterungen zu den Auslösebedingungen transformatorischer Bildung möchte ich zunächst abschließend zusammenfassen und dann vor ihrem Hintergrund eine Vorstellung problematisieren, die sich in der akademischen musikpädagogischen Diskussion bis heute hartnäckig hält: transformatorische Bildung könne ein Ziel von Musikunterricht sein, welches sich irgendwie durch ein Handeln der Lehrenden initiieren ließe. In diesem Kapitel habe ich versucht, die Frage nach dem Auslöser transformatorischer Bildungsprozesse zu beantworten, also zu klären, wie dieser Auslöser hinreichend beschrieben werden kann. Ausgangspunkt meiner Erörterungen waren zwei musikpädagogische Theorien musikalischer Bildung, die diese als transformatorischen Prozess verstehen. Christian Rolles These zum Auslöser musikalischer Bildungsprozesse lautet, dass es kontemplative und imaginative ästhetische Erfahrungen sind, die zu neuen musikalischen Erfahrungen beitragen würden. Ich habe unter anderem dagegen eingewendet, dass seine Argumentation keine nachvollziehbaren Gründe für diese These liefert und/oder keine der (kontemplativen oder imaginativen) ästhetischen Wahrnehmungsmodi die Möglichkeit neuer (ästhetischer) Erfahrungen bereits impliziert (vgl. Kap. 2.1.1). Mit anderen Worten: Rolles Theorie lässt offen, wodurch transformatorische musikalische Bildungsprozesse ausgelöst werden. Hingegen hat Jürgen Vogt in seiner Theorie implizit bereits eine Begründung der These vorgelegt, dass einerseits musikalische Fremderfahrungen, andererseits ein bestimmter Umgang mit diesen zu einem musikalischen Bildungsprozess führen (vgl. Kap. 2.1.2). Im Anschluss an Vogts Überlegungen habe ich daher weiter dafür argumentiert, (a) (herausfordernde) musikalische Fremderfahrungen und (b) kreative Antworten als die notwendigen, zusammengenommen hinreichenden Bedingungen für das In-Gang-Kommen von Bildungsprozessen zu begreifen. Die Kurzform für diese hinreichenden Bedingungen oder Merkmale des Bildungsauslösers stellte in Andeutung bei Vogt bereits der Begriff des musikalischen Schlüsselereignisses dar (vgl. Kap. 2.2). Unter musikalischen Fremderfahrungen wurden solche Erfahrungen verstanden, die widerfahren, indem etwas in einer Musik auffällt, was sich einer

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Musikalische Bildung als Transformationsprozess

gewohnten oder bekannten musikalischen Erfahrung entzieht. Bedingung musikalischer Erfahrung, nicht nur der musikalischen Fremderfahrung, stellt der Vollzug einer musikalischen Differenz dar, der am Beispiel der Konzerterfahrung erläutert wurde (Kap. 2.3). Allen transformatorischen musikalischen Bildungsprozessen gehen Erfahrungen eines Musikalisch-Fremden voraus. Indem durch sie subjektiv überhaupt erst erkannt wird, dass eine musikalische Erfahrung grundlegend verändert werden muss, können sie Transformationsprozesse erforderlich machen. Nicht jedoch gilt das Umgekehrte: Zwar beginnen alle musikalischen Bildungsprozesse mit Erfahrungen eines Musikalisch-Fremden beziehungsweise Irritationen, aber nicht jeder Irritation folgt ein Bildungsprozess. Ein unterfordernder Anspruch kann als bloße Ausnahme abgetan werden und so die gewohnte Erfahrung bestätigen. Als überfordernder, unerfüllbarer Anspruch kann er die Kapazitäten eines Subjekts auf eine Art und Weise überschreiten, die als Quelle von Traumatisierungen zu betrachten ist. Mit anderen Worten bedingen Fremderfahrungen Bildungsprozesse notwendig, aber nicht hinreichend. Die Fremderfahrung muss sich in der Nachträglichkeit eines Antwortens als herausfordernder Anspruch zeigen oder gezeigt haben (vgl. Kap. 2.2). Daher wurde für ein weiteres Merkmal zur hinreichenden Beschreibung des Auslösers musikalischer Bildungsprozesse argumentiert: die kreative Antwort. Gemeint ist damit eine Erfahrung von Neuem wie gleichzeitig ein neues Erfahren. Die Beispiele für solche Erfahrungen waren eher allgemein der Geistesblitz und das Sich-Verlieben (Kap. 2.2), musikspezifisch wurde dies am Beispiel eines Konzerts andeutungsweise aufgezeigt (vgl. Kap. 2.4). Nimmt man die beiden Merkmale von Fremderfahrung und kreativer Antwort zusammen, werden genau dann – und nur dann – transformatorische musikalische Bildungsprozesse ausgelöst, wenn etwas in einer Musik irritiert respektive als Fremdes widerfährt und jemand darauf kreativ antwortet. So gilt nun das Gleiche auch umgekehrt: Liegt ein musikalischer Bildungsprozess vor, hat jemand eine musikalische Fremderfahrung kreativ beantwortet. Für das Verhältnis von Fremderfahrung und kreativer Antwort kennzeichnend ist, dass sie jedoch keinen kausallogischen Vorgang beschreiben: Die kreative Antwort findet in der Fremderfahrung keine zureichenden Gründe, weil Widerfahrnis und Antwort durch eine eigentümliche »ungleichzeitige Gleichzeitigkeit« voneinander getrennt sind (vgl. Kap. 2.2.2). Was keine zureichenden Gründe liefert, das liegt wahrscheinlich auf der Hand, entzieht sich jeder Planung und Prognose. Daraus lässt sich nun zunächst der fol-

Zum Auslöser transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse

gende Schluss ziehen: Versteht man musikalische Bildung als Transformationsprozess und hängen Transformationsprozesse neben Fremderfahrungen von kreativen Antworten ab, die keine zureichenden Gründe liefern und sich daher einer Planung und Prognose entziehen, so ist transformatorische musikalische Bildung weder plan- noch prognostizierbar. Ziele von Musikunterricht wiederum (so nehme ich an) müssen mehr oder weniger plan- oder prognostizierbar sein, damit Lehrende ihren Beruf ausüben können. Ich sage mehr oder weniger, weil es durchaus Ziele des Musikunterrichts geben kann, die nicht unmittelbar in einer einzelnen Stunde erreicht werden müssen und deren Prognose, wie das Markus Hirsch in Bezug auf Ereignisse im Musikunterricht formuliert hat, einer »Wette auf etwas, das geworden sein wird« (Hirsch 2016: 35) ähneln können. Wenn transformatorische Bildung aus den zuvor genannten Gründen aber weder plan- noch prognostizierbar ist,45 so ist es widersprüchlich, Bildung als Ziel von Musikunterricht in Erwägung zu ziehen. Auf Bildung zu wetten, hätte zur Voraussetzung, weder den Einsatz noch das Ergebnis zu kennen. Und man könnte sich fragen, ob der gegenwärtige Musikunterricht als eine Art Wettbüro verstanden werden sollte, welches solche zwielichtigen Wetten annimmt. Zumindest eignet sich Bildung aus den genannten Gründen nicht als realistische Zieldimension musikdidaktischer Konzeptionen, die letztlich zur Orientierung des Lehrerhandelns entwickelt werden. Dieser Befund ist nicht ganz neu. Wie Jürgen Vogt in seinem Artikel zu »Bildung als Zieldimension« im Handbuch Musikpädagogik feststellen muss, ist der Begriff musikalischer Bildung insgesamt zu »unbestimmt oder zu formal [geblieben], um systematisch über seine didaktische Funktion als ›ideales Ziel‹ wesentlich hinaus zu gelangen« (Vogt 2018: 177). Unter »idealen Zielen« können mit Abel-Struth solche Ziele verstanden werden, die »didaktisch [nicht] verlässlich anvisiert werden können« (ebd.: 178). Dies betrifft vor allem und ganz unmittelbar die prominente Rede einer »Ermöglichung« von musikalischer Bildung, für die neben Christian Rolle wesentlich Christopher Wallbaum (vgl. Wallbaum 2001: 245; Dressler 2016) eingetreten ist. Wenn Vogt immerhin einräumen will, dass »bestimmte musikpädagogische Methoden solcher Ermöglichung von [bildenden] Erfahrungen

45

Darauf, dass den Versuch der Ermöglichung transformatorischer Bildungsprozesse damit der Vorwurf eines »Technologiedefizits« (Luhmann/Schorr) trifft, nämlich keine Mittel zur Erreichung oder Überprüfung eines solchen Zieles angeben zu können, weist auch schon Vogt hin (vgl. Vogt 1998: 51).

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Musikalische Bildung als Transformationsprozess

eher zuträglich sind als andere« (Vogt 2018: 313), vermag letztlich kein Unterrichtsarrangement bildungsauslösende Momente gänzlich auszuschließen (ebd.). Mit anderen Worten lassen sich musikalische Bildungsprozesse so wenig intentional bewirken wie verhindern. Man kann somit infrage stellen, ob eine »Ermöglichung« im Falle von transformatorischer musikalischer Bildung überhaupt sinnvoll zu denken wäre (vgl. ebenso Bugiel 2017b). Auch wenn der Begriff Bildung als Zieldimension und hinsichtlich der Rede von einer »Ermöglichung« musikalischer Bildung als problematisch erscheint, ist er doch für die musikpädagogische Forschung keinesfalls verzichtbar. Dass Bildung »geschieht« (Vogt 1998: 51), auch ohne, dass sie ermöglicht werden müsste, ist unbestritten. Wodurch sie geschieht, wurde theoretisch durch den Begriff des musikalischen Schlüsselereignisses gefasst. Damit ist selbst noch nichts darüber gesagt, wie musikalische Schlüsselereignisse sich im Einzelnen ereignen und/oder musikalische Bildungsprozesse verlaufen. Man kann davon ausgehen, dass die kreative Verarbeitung von musikalischen Fremderfahrungen nicht auf einen Schlag geschieht, sondern längere Lebenszeiträume in Anspruch nimmt, bis sich die neue Erfahrung in Form einer musikalischen Gewohnheit sedimentiert hat beziehungsweise eine neue Kontinuität von musikalischer Erfahrung hergestellt wurde. Das ließe sich, worauf schon Vogt hingewiesen hat, jedoch erst im »Nachhinein in interpretativen Akten rekonstruieren« (Vogt 2015b: 58). Das heißt, es ist eine qualitativ-empirische Erforschung von Bildungsprozessen erforderlich, wie ich sie im Ausblick der Arbeit (Kap. 4.3) ansatzweise beschreibe. Dass sich empirische musikpädagogische Forschung am Begriff transformatorischer (musikalischer) Bildung orientieren kann, liegt (wie in Kap. 1 benannt) daran, dass dieser von einem normativen Gehalt befreit ist. Das scheint mir insofern einen Gewinn darzustellen, als sich Bildungsprozesse so überhaupt erst einmal abgekoppelt von ihrer Bewertung erforschen lassen. Damit ist aber auch ein Desiderat wissenschaftlicher Musikpädagogik benannt: Will sie weiter an Bildung als Zielbegriff und zugleich an einem transformatorischen Bildungsbegriff festhalten, müsste sie diesen normativ erweitern oder modifizieren. Zu fragen wäre dann erneut nach den Ermöglichungsbedingungen so gefasster Bildungsprozesse. Mich wird im Folgenden aber nicht diese Frage weiter beschäftigen, sondern jene, wie das, was sich in musikalischen Bildungsprozessen ändert, zu verstehen ist.

Kapitel 3: Musikalisches Wissen Zum Transformationsgegenstand musikalischer Bildungsprozesse

Der Begriff Bildung wurde in dieser Arbeit bisher auf Grundlage einer Theorie verwendet, die ihn als Transformationsprozess grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses versteht. Im Sinne eines musikbezogenen Transformationsprozesses grundlegender Welt- und Selbstverhältnisse gebrauchen ihn auch musikpädagogische Bildungstheorien (vgl. Kap. 1). Ich werde dieses Verständnis von (transformatorischer) Bildung im Folgenden musikalische Bildung im weiten Sinne nennen. Der Grund dafür ist, dass mit diesem Verständnis sehr viele Möglichkeiten musikbezogener Bildungsprozesse denkbar werden, von denen einige schwer oder kaum zu plausibilisieren sein dürften.1 Um mich nicht mit solchen (Ausnahme-)Fällen beschäftigen zu müssen, entwickle ich meine Theorie, wie implizit schon zuvor, mit Bezug auf einen enger gefassten Gegenstandsbereich. Gegenstand transformatorischer musikalischer Bildung im engeren Sinne sind musikalische Welt- und Selbstverhältnisse. Musikalische Bildung im engeren Sinne verstehe ich in Anlehnung an die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse als den Prozess der Transformation musikalischer Figuren von Welt- und Selbstverhältnissen. Die Frage des

1

Eine Interpretation der biographischen musikpädagogischen Forschung Vogts deutet darauf hin, dass musikalische Bildungsprozesse im Regelfall gerade keine »völlige Neuorientierung des ganzen Lebens darstellen, sondern eher Verformungen und Verschiebungen in der Weise, wie wir mit uns selbst, mit anderen Menschen und mit der Musik selbst in unserem Leben umgehen« (Vogt 2013: 50; Herv. L.B.). Mit meiner Einschränkung des diskutierten Gegenstands musikalischer Bildungsprozesse versuche ich in meiner Theorie zunächst, solchen Regel- oder Modellfällen entsprechen zu können.

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Musikalische Bildung als Transformationsprozess

vorliegenden Kapitels lautet, wie diese spezifische Form von Welt- und Selbstverhältnissen begrifflich modelliert werden kann und was unter ihren Figuren zu verstehen ist. Koller schlägt in seinen Überlegungen zur Theorie transformatorischer Bildungsprozesse vier Möglichkeiten vor, die Struktur grundlegender Figuren von Welt- und Selbstverhältnissen zu beschreiben: Pierre Bourdieus Habitus, Paul Ricœurs narrative Identität, Jaques Lacans Differenz-Ich und Judith Butlers Konzept der Subjektivierung (vgl. Koller 2012: Teil I). Von keinem dieser Ansätze werde ich allerdings Gebrauch machen,2 da keines der vier Konzepte bereits Auskünfte über spezifische Welt- und Selbstverhältnisse und ihre Figuren erteilt. Stattdessen werde ich der Frage nach der Spezifik des musikalischen Welt- und Selbstverhältnisses bezüglich eines Begriffs von Wissen nachgehen. Die These des Kapitels lautet, dass sich unser musikalisches Welt- und Selbstverhältnis in einer musikalischen Form des Wissens – als ein musikalisches Wissen – begreifen lässt. Ist von Wissen die Rede, so wird darunter häufig Wissen über etwas, sogenanntes propositionales Wissen verstanden. Propositionales Wissen (Ich weiß, dass X) kommt in wahrheitsfähigen Sätzen respektive in Behauptungen, die wahr oder falsch sein können, zum Ausdruck.3 Mit propositionalem Wissen haben wir es beispielsweise zu tun, wenn wir wissen, dass Berlin die Hauptstadt von Deutschland ist. Dagegen deutet bereits der Gebrauch des Wortes »Wissen/wissen« in der Alltagssprache darauf hin, dass uns eine Vielzahl von Weltwissensformen zu Verfügung steht, die sich nicht alle als propositional beschreiben lassen: Wir wissen nämlich ebenfalls, wo wir uns zuhause fühlen, wann es sich lohnt, eine Party zu verlassen, wie man Fahrrad fährt oder wie es ist, ein Mensch zu sein – wiewohl wir damit nicht automatisch wissen, wie es ist, beispielsweise eine Frau oder vice versa ein Mann oder aber ein Mensch mit Migrationshintergrund zu sein. Was ich noch vertiefen werde, ist, dass sich von Wissen nur hinsichtlich verschiedener Arten und Weisen zu wissen sinnvoll sprechen lässt (vgl. dazu u.a. Abel 2004: Kap. 10). Die Wissensformen bestimmen dabei den Gehalt des je-

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Bourdieus Habitus-Begriff streife ich in Kap. 3.2, auf Ricœurs Konzept narrativer Identität komme ich in Kap. 4.3.1 zu sprechen. Zumindest kann propositionales Wissen in Sätze(n) mit Dass-Struktur (um)formuliert werden.

Zum Transformationsgegenstand musikalischer Bildungsprozesse

weiligen (Welt-)Wissens auf eine ganz spezifische Weise mit. Die Annahme einer allgemeinen Form des Wissens ist somit fraglich geworden. Wenn es im Folgenden darum geht, den Begriff des musikalischen Wissens zu bestimmen, dann ist damit eine eigene Wissensform gemeint, die einen eigenen Gehalt impliziert, einen Gehalt, der sich nicht ohne weiteres übersetzen oder durch eine andere Wissensform ersetzen lässt. Für die musikalische Wissensform wird in der folgenden Überlegung eine Definitionsbasis entwickelt, nach der sie mindestens als ein nicht-propositionales Vollzugswissen, wie etwas als Musik gehört und/oder gespielt werden kann, verstanden werden muss. Auf dem Weg zu dieser Basis vergleiche ich zunächst zwei prominente musikpädagogische Versuche, die musikalische Form des Wissens zu bestimmen (Kap. 3.1). Der gemeinsame Gedanke der Autoren besteht darin, dass musikalisches Wissen als »praktisches Wissen« aufgefasst werden muss. Den Begriff des praktischen Wissens als Klasse nicht-propositionalen Wissens erläutere ich anhand verschiedener philosophischer Konzepte (Kap. 3.2). Mittels dieser Konzepte zeige ich, weshalb die Annahme einer Vielzahl von Wissensformen, also die angedeutete erkenntnistheoretische Position eines »epistemologischen Pluralismus« notwendig erscheint. Diese Annahme setzen die musikpädagogischen Autoren durch ihre Analysen bereits voraus. Einige Nuancen ihrer Ansätze werde ich jedoch anhand der zuvor porträtierten Konzepte nicht-propositionaler und praktischer Wissensformen weiter differenzieren. Anschließend streife ich die Frage, ob musikalisches Wissen in ein ästhetisches und ein nicht-ästhetisches Wissen unterteilt werden müsste (Kap. 3.3). Sodann komme ich auf diejenigen Bestimmungen musikalischen Wissens zurück, mittels derer ich eine Minimalbestimmung oder Definitionsbasis des Begriffs musikalischen Wissens als projektives, nicht-propositionales, affektiv dimensioniertes Wissen klanglichen Sinns entwickle (Kap. 3.4). Ob und inwiefern das so verstandene musikalische Wissen im Sinne der Autoren der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse als eigene »Figur« eines Weltund Selbstverhältnisses betrachtet werden kann, thematisiert das letzte Kapitel der vorliegenden Studie.

3.1

Musikalisches Wissen in der musikpädagogischen Diskussion

Im Blick auf die philosophische Thematisierung des musikbezogenen Weltund Selbstverhältnisses im musikpädagogischen Diskurs können die Arbeiten

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Musikalische Bildung als Transformationsprozess

von David J. Elliott für den englischsprachigen, die von Hermann J. Kaiser für den deutschsprachigen Raum als exemplarisch betrachtet werden. Ich möchte sie zunächst einzeln rekonstruieren und im Anschluss einer vergleichenden Interpretation unterziehen.

3.1.1

Musicing als Wissensform bei David J. Elliott

Noch vor Erscheinen seines Opus magnum Music Matters, das die Grundlage seiner praktischen Musikdidaktik bildet, hat Elliot in einem Aufsatz mit dem Titel »Music as Knowledge« (1991) eine seiner Hauptthesen vorbereitet. Sie lautet, Musik sei wesentlich etwas, was Menschen tun (vgl. Elliott 1991: 23). Hintergrund des Artikels ist Elliotts Widerspruch gegen die seines Erachtens (damals) weit verbreitete »Doktrin« nordamerikanischer Musikpädagogik »Music education as aesthetic education« (auch MEAE). Diese von Bennett Reimer in A Philosophy of Music Education. Advancing the Vision (1970) vertretene musikdidaktische Position unterzieht Elliott in Music Matters einer ausführlichen Kritik (vgl. Elliott 1995: Kap. 2.6/2.7 u. Vogt 1999). Problematisch erscheint ihm die ihr zugrundeliegende musikästhetische Auffassung, Musik mit einer Menge von Werken gleichsetzen zu können, die existieren, um abstrahiert von ihren Gebrauchs- und Entstehungskontexten kontemplativ rezipiert zu werden (vgl. Elliott 1991: 22). Elliott wendet dagegen ein, dass uns Musik primär nicht als ein Objekt oder eine Menge von Werken, sondern als eine Tätigkeit, als ein »Musicing« gegeben sei (ebd.: 24). Die Wortschöpfung »Musicing« soll diesen wesentlichen Befund bewusst machen4 (vgl. Elliott 1995: Kap. 2.6/2.7). Indem die MEAE Musik eben nicht als Tätigkeit, sondern in erster Linie als eine Menge von Werken auffasst, über die es etwas zu wissen gibt, verkennt sie den epistemischen Status der Musik selbst: Wenn Musik wesentlich eine Praxis ist, dann müssen ihre Akteure wissen, wie sie zu tun ist, und nicht nur, was Musik (vermeintlich) ist (vgl. Elliott 1991: 22). Infolgedessen geht es Elliott um die Begründung erstens, dass Musicing wissentlich oder bewusst getan wird, und zweitens, dass es sich dabei um eine spezifische Wissensform handelt.

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Da sich noch kein deutsches Äquivalent dieses Neologismus (vielleicht: »Musikieren«?) durchgesetzt hat, behalte ich Elliotts Begriff bei.

Zum Transformationsgegenstand musikalischer Bildungsprozesse

Musicing als bewusste und rationale Tätigkeit Um begründen zu können, dass Musik bewusst getan wird, möchte Elliott zunächst mit dem Vorurteil aufräumen, Denken und Handeln seien zwei voneinander getrennte und/oder nachgeordnete Vorgänge. Die musikalische Tätigkeit darf eben nicht als ein bloßes gedankenloses Tun missverstanden werden, das ohne jemanden abläuft, der darum weiß, dass und wie er etwas tut. Elliot begründet dies wie folgt: »If Musicing is a matter of making changes of a certain kind in materials of a certain kind, then the actions involved in Musicing are neither natural nor accidental. The actions of Musicing are taken up deliberately or ›at will‹. But to act intentionally is to do something knowingly.« (Elliott 1991: 25) Die bewusste und intentionale musikalische Tätigkeit, durch die Veränderungen in einem bestimmten Material vorgenommen werden, kann wiederum nicht ohne Prozesse des Entscheidens, Auswählens und Bewertens erfolgen. Da es sich dabei um Prozesse handelt, die nicht ohne eine geistige Betätigung auskommen, folgt, dass das intentionale musikalische Tun nicht nur als bewusste, sondern zugleich als »rationale«5 Tätigkeit anzunehmen ist (vgl. ebd.: 25). Musicing als Wissen und Denken eigener Art Musicing ist nicht nur eine bewusste und rationale Tätigkeit – es ist eine eigene Wissensform. Musicing ist ein im Kern praktisches Wissen-wie. Elliott beruft sich hierbei auf Gilbert Ryles These, dass ein Wissen-wie (»knowing how«; auch »prozedurales Wissen«) als selbstständige Wissensform anzunehmen ist, die sich in Fähigkeiten manifestiert. Von einem theoretischen Wissen-dass (»knowing that«; auch »deklaratives« oder »propositionales Wissen«) ist dieses Wissen unabhängig. Elliott belegt dies mit der musikalischen Tätigkeit: »For example, although knowing how to perform a composition on the trumpet requires that I understand how certain procedures produce certain results, such knowing does not imply or require that I be able to say why or how my actions produce the desired result.« (Elliott 1991: 27) Die durch ein praktisches Wissen mögliche Handlung erfordert nicht, das, was man tut und was zu einem bestimmten Ergebnis – hier dem Trompetenspiel – führt, erklären oder es in Form eines Handlungsplans explizit machen zu müssen. Daraus, dass jemand erklären kann, wie man Trompete spielt, folgt umgekehrt nicht, dass jemand wirklich weiß, wie man Trompete 5

Das Adjektiv »rational« verwendet Elliott recht locker synonym mit geistig, mental oder kognitiv und führt keine genaueren Rationalitätskriterien an.

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spielt, und also auch Trompete spielen kann.6 Folglich implizieren das praktische Wissen des Musicing und das theoretische Wissen über Musik/Musicing einander nicht (vgl. ebd.). Darüber hinaus lassen sich zwei weitere Unterschiede der Wissensformen benennen: Während theoretisches Wissen per logischer Evidenz durch Wahrheitskriterien validiert werden kann, lässt sich praktisches Wissen nur dahingehend überprüfen, ob es der Bewältigung der jeweils bestimmten Erfahrungssituationen dient, ob es also zum Handlungserfolg führt (vgl. ebd.: 28). Ob jemand eine Musikpraxis tatsächlich beherrscht, zeigt sich erst, indem er sie unter bestimmten Umständen mehr oder weniger angemessen umsetzt, während theoretisches Wissen unabhängig von den Umständen, in denen es geäußert wird, immer nur wahr oder falsch ist. Theoretisches Wissen kann durch Sätze vermittelt und angeeignet werden, praktisches Wissen hingegen muss aus der Erfahrung gelernt werden (weshalb man es häufig auch einfach als »Erfahrungswissen« bezeichnet): Man muss selbst die Erfahrung gemacht haben, um beispielsweise zu wissen, welche Lippenspannung es braucht, um einer Trompete einen Ton zu entlocken, wie ein bestimmtes Riff im Kontext eines Rock-Stücks die Improvisation der Gitarristin oder des Gitarristen unterstützt etc. Praktisches musikalisches Wissen und theoretisches Wissen implizieren sich also weder wechselseitig noch können sie mit den gleichen Maßstäben validiert oder auf dieselbe Art und Weise erlernt werden7 (vgl. ebd.: 27f.). Dass das Wissen des Musicing im Kern praktisches Wissen-wie ist, so Elliott weiter, bedeutet gleichwohl nicht, dass es dies ausschließlich ist. Damit einzelne musikalische Handlungen zukünftig und in anderen Situationen wiederholt werden können, müssen die Handelnden über Kenntnisse verallgemeinerter Prinzipien verfügen. Wie Elliott recht lapidar bemerkt, können

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Jemand kann mir vor einer Jazz-Session minuziös beschreiben, mit welchen Skalen oder Arpeggien, mit welchen »Licks« sie oder er über welche Stücke glaubt, improvisieren zu können. Spätestens dann jedoch, wenn man mit ihr oder ihm auf der Bühne steht, erweist sich, ob sie oder er auch in der Lage ist, das Beschriebene zu verwirklichen – also Jazz zu spielen. Elliot zieht daraus einen didaktischen Schluss: Im Gegensatz zu Auffassungen der MEAE, wonach die musikalische Tätigkeit einzig als Mittel zum Kennenlernen und Analysieren von (kanonischen) autonomen Werken behandelt wird, müsse die Erfahrung des Musicing als primäre Lernquelle von Musik verstanden werden, die durch »musical thinking-in-action, knowing-in-action, and reflecting-in-action« (vgl. Elliott 1991: 33) erprobt werden könne.

Zum Transformationsgegenstand musikalischer Bildungsprozesse

diese sowohl implizit als auch explizit, also verbalisierbar sein (vgl. Elliott 1995: 27). Aus diesem Grund ist anzunehmen, dass das Wissen musikalischen Tuns mehr an Wissen beinhaltet, als durch den Begriff des praktischen Wissens eingeholt wird. Auf eine trennscharfe Unterscheidung dieses »Mehr« für das Musicing konstitutiver Wissensformen sei deshalb jedoch nicht zu hoffen: »The form of knowledge that musical performing represents is more aptly thought of as a continuum of knowing ranging from what can only be demonstrated in action (›sing the phrase like this …‹) to what can be fully explained in words (›the reason for doing this is that …‹).« (Elliott 1991: 28) Wenn Musicing im Kern eher als praktisches Wissen denn als ein propositionales aufgefasst werden muss, dann ist Elliott zufolge zu bedenken, dass ihm Anteile anderer Wissensformen angehören. Die Bezeichnung musikalischen Tuns als praktisches oder prozedurales Wissen hält Elliot daher für eher unglücklich und schlägt nach Abwägung einiger Alternativen (darunter z.B. der griechische Ausdruck techne) den Begriff »musicianship« vor. Dieser entspricht ungefähr dem deutschen Begriff der »Musikalität«.8 Damit hofft Elliott, das musikalische Wissen in seiner gelebten, evaluierbaren Form oder Performanz beschreiben zu können (vgl. ebd.: 29). Unabhängig von seiner Bezeichnung sieht Elliott im Wissen musikalischen Tuns nicht nur die Bedingung dafür, dass Musicing überhaupt möglich ist; in seinen Augen handelt es sich darüber hinaus um ein für das jeweilige Subjekt weltgestaltendes Wissen (»constructive knowledge«). Gemeint ist damit das Wissen darum, dass sich durch oder mit musikalischer Tätigkeit reale Veränderungen erzeugen lassen, die ohne diese nicht existieren würden. Es handelt sich so nicht nur um ein Wissen eigener Art, sondern zugleich um das Wissen um einen eigenen Zweck (vgl. ebd.: 36). In Music Matters (1995), Elliotts »New Philosophy of Music Education«, weitet er die bisherige Argumentation zum Musicing als rationaler Handlung und Wissensform auf das Musikhören aus. Zusätzlich setzt er die Beschreibung des musikalischen Wissens-Komplexes fort.

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Das deutsche Wort »Musikalität« ist (wie auch der englische Ausdruck »musicianship«) in mindestens zwei Bedeutungen in Gebrauch, zum einen als Fähigkeit, zum anderen als Begabung. Nach Elliott lässt sich daher nicht nur die Fähigkeit/Kompetenz, sondern auch die Begabung/Performanz damit bezeichnen: So sei musicianship »the most apt term to cover both the horizontal range of capacities that constitute procedural musical knowledge and the vertical sense of competency, proficiency, or artistry we intend when we say that someone ›really knows how‹ to make music« (Elliott 1991: 29).

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Musikhören als rationale Tätigkeit Auch das Musikhören, so Elliott, muss als rationale oder geistige Aktivität verstanden werden und nicht zum Beispiel als der lediglich passive Konsum »äußerer« Informationen. Gegen letztere Vorstellung spricht, dass akustische Informationen einem Bewusstsein nur aufgrund einer auswählenden, sortierenden, vergleichenden, organisierenden und bewertenden Aufmerksamkeit gegeben sein können (vgl. Elliott 1995: 78). Weil sich Selektion, Vergleich etc. als geistige Operationen beschreiben lassen, muss man folgern, dass auch das Hören geistige Aktivität erfordert (vgl. ebd.: 79). Dafür spricht auch, dass wir nicht Empfindungen oder Reize hören, sondern Instrumente, Töne oder Lieder. Wir hören mit anderen Worten sinntragende Gestalten, wenn wir Musik hören, die nicht ohne ein Wissen-wie und Denken möglich wären. Folglich ist auch das Musikhören als bewusste und rationale Tätigkeit zu verstehen (vgl. ebd.: 80). Wie das Wissen des Musikmachens ist auch das Wissen des Musikhörens nicht an eine sprachliche Artikulation gebunden, sondern ein wesentlich implizites und/oder »unsichtbares« (»covert«) Wissen (vgl. ebd.). Man müsste sich, so Elliotts Beispiel, das Denken und Wissen des Hörens wie das Anordnen eines sich bewegenden Puzzles vorstellen: Musikalische Einheiten werden als solche identifiziert und zu größeren (z.B. melodischen, rhythmischen …) Einheiten in der Zeit zusammengestellt. Möglich sind die dadurch entstehenden Einheiten oder »patterns«, weil sie mit erinnerten Patterns verglichen werden (vgl. ebd.: 84). Dabei fällt auf, dass das hörende Konstruieren dem Prinzip einer hierarchischen Struktur folgt, durch die sich bestimmte Vorderund Hintergründe, Haupt- und Nebenfokusse ergeben, was das Beispiel der Tonart/Tonalität in der westlichen Musik illustriert (vgl. ebd.: 85f.). Es weist zugleich darauf hin, dass der im Hören entstehende und nicht einfach vorgefundene musikalische Sinn durch ein jeweiliges musikkulturell geprägtes Wissen und Denken bestimmt ist (vgl. ebd.: 85). Fasst man Elliotts Argumentation zum Hören zusammen, lässt sich sagen, dass das Wissen und Denken des Musikhörens in unsichtbaren, nicht verbalen Akten der Konstruktion musikalischer Zusammenhänge (vgl. ebd.) besteht. Insofern das Musikhören wie auch das Musikmachen implizite intentionale Operationen der Konstruktion musikalischer Zusammenhänge erfordern, schließt Elliott, dass es sich nur um zwei Seiten derselben Tätigkeit des Musicing handeln kann. Der Unterschied zwischen dem Wissen des

Zum Transformationsgegenstand musikalischer Bildungsprozesse

Musikhörens und dem des Musikmachens kann kein prinzipieller sein (vgl. ebd.: 86). Die Wissensformen überlappen sich außerdem: Die Produkte des Musikmachens bleiben reziprok auf das Hören bezogen, da musikalische Werke (musikkulturell spezifische) Hörweisen veranschaulichen, durch die etwas eben so oder anders komponiert werden konnte (vgl. ebd.: 87). Umgekehrt beeinflusst die praktische Expertise das Hören: Ein professioneller Musiker gelangt zu anderen Einsichten beim Hören als ein Novize9 (vgl. ebd.: 79). Musicing als Komplex praktischer und anderer Wissensformen Elliott ist der Meinung, dass das kulturell geprägte, im Kern praktische Wissen und Denken beider Formen des Musicing nicht nur auf Klangliches bezogen sein kann. Aufgrund seiner Kulturalität muss es mit anderen Formen musikbezogenen Wissens und Denkens verbunden sein (vgl. Elliott 1995: 87). In Music Matters geht es Elliott weniger um die Begründung dieser These als um eine Modellierung der Anteile propositionalen und nicht-propositionalen, prozeduralen Wissens als konstituierenden Elementen des musikalischen Wissens. Von ihnen behauptet er, dass sie formal für die Musikalität vieler oder aller Kulturen anzunehmen seien, während sie lediglich inhaltlich differierten: »… while the five kinds of knowledge that make up musicianship likely hold across most (if not all) musical practices, the precise contents of these knowledge categories are context-dependent. For example, the musicianship of a Dagomba master drummer differs in content (but not in its five dimensional structure) from the musicianship of (say) a North Indian drummer, a jazz drummer, …«. (Ebd.: 51) In beiden Ausgaben von Music Matters fällt auf, dass Elliott den Bereich philosophischer Argumentation weitgehend verlässt und sich vielfach per Autoritätsargument auf Untersuchungen kognitionspsychologischer Provenienz stützt. Warum es beispielsweise die folgenden Wissenskategorien sein müssen, die Musikalität beziehungsweise das Wissen und Denken musikalischer Tätigkeit konstituieren, bleibt die argumentativ nicht weiter abgesicherte Be-

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Elliotts Auffassung, dass sich professionelle Musiker und ungeübte Hörer in Graden der Aufmerksamkeit unterscheiden (vgl. Elliott 1995: 80), ist jedoch in seinem sehr ähnlichen Modellcharakter ebenso problematisch wie z.B. Adornos Hörertypologie.

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Musikalische Bildung als Transformationsprozess

hauptung einer von Elliott zitierten kognitionspsychologischen Studie (vgl. ebd.: 53). Der Kern von Musikalität/musikalischem Wissen ist ein praktisches Wissen und Denken (vgl. ebd.: 54), welches mit eigenen, verbalsprachlich nicht übertragbaren praktischen Begriffen operiert und deshalb vorzüglich durch ein Lernen am Modell erworben werden kann (vgl. ebd.: 58). Die es konstituierenden Wissensbereiche sind ein formelles, informelles, intuitives sowie ein metakognitives musikalisches Wissen. Unter formellem Wissen versteht Elliott theoretisches (Bücher-)Wissen über Musik (vgl. ebd.: 60). Solches Wissen spiele sowohl bei notierter Musik als Bedingung von musikalischer Alphabetisierung (»music literacy«) als auch beim Wissen um musikalische Terminologie eine Rolle (vgl. ebd.: 61). Elliott wird nicht besonders deutlich, wenn es darum geht, die Funktion formellen Wissens im Verbund von Musikalität zu beschreiben. Wichtiger scheint ihm, zeigen zu wollen, dass für das Erreichen musikalischer Expertise der Besitz oder die Aneignung formellen Wissens keinesfalls zwingend ist: »True, many brilliant performers (improvisers, composers) talk and write eloquently about music and musical artistry. But many others do not.« (Ebd.: 62)10 Während formelles Wissen unter Umständen wohl verzichtbar ist und Musikalität (doch) nicht notwendigerweise zu konstituieren scheint (?), bezeichnet das informelle musikalische Wissen den eigentlichen, praktischen Wissenskern. Dieser umfasse die Fähigkeit, handelnd Entscheidungen in bestimmten musikalischen Problemlöselagen zu reflektieren, wobei diese Reflexion ohne Verbalisierung auskommen könne (vgl. ebd.: 63). Das »impressionistic musical knowledge«, ein musikalisches Intuitionswissen, beschreibt Elliott wie folgt: »It is what experts know as strongly felt sense that one line of action is better than another, or not quite right« (ebd.: 64). Es handelt sich dabei um ein bewusstseinsfähiges Gefühl oder Gespür dafür, worauf es in einer musikalischen Handlungssituation ankommt und das eine Reflexion musikalischen Handelns ermöglicht (vgl. ebd.: 65). Musikalisches Metakognitionswissen (»supervisory musical knowledge«) erlaubt es dem Musizierenden in konkreten wie auch in imaginierten musikalischen Situationen (beim »mentalen Üben«), die Probleme oder Defizite

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Da es sich um die Begründung einer Musikdidaktik handelt, hat Elliott auch didaktische Implikationen im Sinn, unter anderem die, dass die »praxiale« Musikerziehung die Aneignung formellen Wissens nicht zum primären Ziel erheben sollte (vgl. Elliott 1995: 61).

Zum Transformationsgegenstand musikalischer Bildungsprozesse

seiner Musikalität erkennend zu bearbeiten und stellt ihm dafür Strategien zur Verfügung (vgl. ebd.: 66f.). Diese Liste der Bereiche oder Dimensionen musikalischen Wissens ergänzt Elliott in der zweiten Ausgabe von Music Matters (im folgenden MM2) um drei weitere. Dabei behält das musikalische Wissen seinen überwiegend praktischen und impliziten Charakter. Mit deutlich kognitionspsychologischem Zungenschlag formuliert, sei es eine Kombination von »nonverbal, embodied, procedural, tacit, nonconscious, BBM11 -somatic-affective systems and knowings in action« (Elliott/Silverman 2015: 197). In MM2 fordert Elliott, dieses Wissen noch stärker aus der Perspektive feministischer Epistemologie (Donna Haraway, Elizabeth Anderson) als ein individuelles, affektiv bewertetes Wissen zu begreifen, das auf die jeweiligen anderen einer musikkulturellen Gemeinschaft bezogen sei (»situated musical thinking and knowing«) (vgl. ebd.: 222). Dessen Besitzer wüssten zudem, dass die Beschäftigung mit Musik/musikalischem Material lohnenswert ist (»appreciative thinking and knowing«). Schließlich dürfe man das musikalische Wissen nicht auf ein rein technisches Know-how verengen: Es beinhalte immer schon ein ethisches Wissen als Disposition Musikmachender, die musikalischen Fähigkeiten für Gutes einzusetzen (vgl. ebd.: 225). Gutes definiert Elliott als jeweils Gutes in Relation zu Standards und Werten der jeweiligen Musikpraxis des Musikmachenden (vgl. ebd.: 226). Während die Ergänzung einer ethischen Wissenskomponente offensichtlich eine Reaktion auf Kritiken seiner Wissenskonzeption12 darstellt, erscheinen Elliotts Ergänzungen in MM2 keineswegs immer notwendig. Denn Elliott lässt die Frage offen, wodurch anzunehmen ist, dass es neben dem nachvollziehbar begründeten praktischen Wissenskern eben diese und nicht andere Wissenselemente sind, die ein allgemeines Modell musikalischen Wissens und Denkens beschreiben sollen.

3.1.2

Musikalische Erfahrung als Wissen bei Hermann J. Kaiser

Elliotts Überlegungen überschneiden sich in entscheidenden Thesen mit Überlegungen Kaisers: Wie für Elliott, so ist auch für Kaiser Musik erstens

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BBM steht für »Body-Brain-Mind«. Beispielsweise durch Wayne Bowman (vgl. Bowman 2002) wie durch Vogt (vgl. Vogt 2015a).

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wesentlich nur als eine Tätigkeit begriffen,13 die ein praktisches Wissen hervorbringt und voraussetzt. Dieses Wissen zeigt sich zweitens als mit einer eigenen musikalischen Rationalität verknüpft – ein Gedanke, der ebenfalls schon bei Elliott anklingt. Diese Rationalität bedingt das musikalische Erfahrungswissen drittens als Form eines Selbstbewusstseins. Über Elliott hinaus bemüht sich Kaiser in Ansätzen, zu erläutern, ob und wie das nichtpropositionale musikalische Erfahrungswissen sprachlich mitgeteilt werden kann. Musikalische Erfahrung als Wissen Auch wenn sie im schulischen Unterricht häufiger als »Gegenstand« verhandelt wird, so handelt es sich bei Musik Kaiser zufolge (eigentlich) »… um eine bestimmte gesellschaftliche Tätigkeit. Das heißt, Musik gibt es nur in der Form, dass sie gemacht und gehört wird. Dabei bildet der Unterschied zwischen Macher und Hörer […] keinen prinzipiellen Unterschied: Auch der Hörer macht Musik, und zwar erstellt er in sich selbst jene Musik, die er hört. Ebenso hört derjenige, der Musik macht, sie also produziert, und sei es nur innerlich.« (Kaiser 2018a: 254; Herv. i.O.) Kaiser hat die musikalische Tätigkeit prominenter im Begriff der musikalischen Erfahrung reflektiert. So betont er bereits in seiner frühesten Auseinandersetzung mit dem Begriff musikalischer Erfahrung, »dass Erfahrung etwas [mit] Tätigkeit zu tun hat«, und insistiert darauf, dass »diese Einsicht […] gegenüber vielen ›modernen‹ Fassungen, gerade auch eines ästhetisch orientierten Erfahrungsbegriffes durchzuhalten [ist]!« (Kaiser 1991: 68). Dabei ist ein leitender Gedanke, dass die letztlich gleichwohl unabschließbaren Erfahrungsprozesse »zu einem Ergebnis [führen], das gewissermaßen als Protokoll dieses Ablaufs, als Erfahrungswissen verfügbar zu bleiben scheint und dem Handlungsablauf selbst den Schein der Abgeschlossenheit verleiht« (Kaiser 2018b: 226). Dieser Schein der Abgeschlossenheit14 ist die Voraussetzung für die Sedimentierung eines dem subjektiven zukünftigen Handeln und/oder Erfahren dienlichen Wissens. Gemeint ist das Wissen, welches auf die

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Beide Autoren verbinden mit dieser musikbegrifflichen Prämisse auch die gleiche didaktische Stoßrichtung der Ausrichtung des Musikunterrichts an der Musikpraxis. Kaiser spricht diesbezüglich auch vom Konklusionscharakter des Erfahrungsprozesses (vgl. Kaiser 1993: 175).

Zum Transformationsgegenstand musikalischer Bildungsprozesse

als musikalisch identifizierten Momente des viel mehr als nur diese bereitstellenden – in diesem Sinne »totalen«15 – Erfahrungsprozesses bezogen ist (vgl. Kaiser 1993: 171). Das aus dem musikbezogenen Erfahrungsprozess resultierende musikalische Erfahrungswissen16 zeigt drei heuristisch isolierbare Merkmale. Erstens, dass es gegenständlich auf etwas, nämlich auf bestimmte Musik in einer raumzeitlich bestimmten Situation bezogenes Wissen ist: Es ist ein Wissen, »was etwas ist« (vgl. ebd.), was als Musik erfahren wurde. Kaiser meint damit in erster Linie ein »Wissen über die Struktur und Organisation eines ästhetischen [künstlerischen; L.B.] Sachverhalts« (ebd.) – der Musik –, das nicht notwendigerweise sprachförmig bewusst sein muss. Zweitens ist der als Musik intendierte, in eine Situation eingeschlossene Gegenstand affektiv bewertet. Das musikalische Erfahrungswissen ist daher immer auch ein »Wissen des reflexiven Selbstbezuges« (Kaiser 2018b: 226) und damit ein Wissen, wie (z.B. schön, abstoßend, gut, traurig etc.) jemand eine bestimmte Musik findet. Es verweist zurück auf das Moment einer distanzlosen Selbsterfahrung (durch das ästhetische Objekt)17 , die als notwendiges Merkmal einer musikalischen als ästhetischen Erfahrung angenommen werden müsse (vgl. ebd.: 227). Zu bemerken ist dabei, dass Kaiser den ästhetischen Erfahrungsvollzug nicht umgekehrt als notwendige Bedingung musikalischer Erfahrungen bespricht. Während die ersten beiden Merkmale das musikalische Erfahrungswissen gewissermaßen inhaltlich bestimmen, gibt Kaiser mit dem dritten Merkmal Auskunft über die Wissensform: Es handelt sich um ein Wissen, das aufbewahrt und subjektiv selektiert wird, um zukünftig anregen oder beeinflussen zu können. Es hat in Kaisers Worten einen pragmatischen Kern (vgl. Kaiser 1991 : 70; Kaiser 2018b: 227). Es ist dieser pragmatische Kern, der das musikalische Erfahrungswissen als praktisches Wissen ausweist: Einerseits, weil es als teils implizites, habitualisiertes Vorwissen zukünftigen Erfahrungsprozessen in Form eines Ordnungs- und Deutungshintergrundes dient (vgl. Kaiser 1993:

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Der Prozess der Erfahrung weist einen Totalitätscharakter auf insofern, als »er sehr viel mehr als das [enthält], was durch den Begriff musikalisch getroffen wird« (Kaiser 1993: 171). In Kaisers Terminologie einfach »musikalische Erfahrung«. Kaiser bezieht sich, wie Rolle moniert, etwas unglücklich auf H.R. Jauß’ Rede von einem Genuss, der das Ästhetische in die Nähe des Angenehmen rücken könnte, während Rolle darauf hinweist, dass durchaus auch das Schaurige, Hässliche oder Irritierende ästhetisch erfahren, also genossen werden könne (vgl. Rolle 1999: 78).

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175), wodurch jemand weiß, wie man Musik hört; andererseits, weil es als affektiv bewertetes Wissen nahelegt, wie man sich den als Musik intendierten Gegenständen (ob offen, suchend, meidend …) gegenüber verhält (vgl. Kaiser 1991: 175). Es handelt sich zusammengefasst also um ein aus diesen zwei Wissensdimensionen (deutend und affektiv) zusammengesetztes, »gebündeltes Wissen, wie mit einer bestimmten Musik in einer der ursprünglichen Erfahrungssituation ähnlichen Situation zukünftig umzugehen ist« (ebd.: 69; Herv. L.B.). Was es darüber hinaus als praktisches Wissen charakterisiert, ist, dass seine Übertragbarkeit auf ähnliche Erfahrungssituationen beschränkt bleibt, weil es aufgrund von Einzelfällen gewonnen wurde und dadurch nicht verallgemeinert werden kann. Dies unterscheidet es wesentlich auch von theoretischem Wissen über Musik (vgl. ebd., siehe auch Kap. 3.2). Wenn nun Musik als eine Tätigkeit begriffen werden muss, die sich als Erfahrungsprozess beschreiben lässt, aus dem ein praktisches, affektiv bewertetes Wissen musikalischer Gegenstände resultiert, dann setzt, so Kaisers These, ihre Möglichkeit den Gebrauch der Vernunft voraus: Musikalische Erfahrung wird durch eine musikalische Rationalität ermöglicht. Musikalische Rationalität Auch Elliott hatte schon gefolgert, dass musikalisches Tun und Erfahren als rational zu verstehen sei, weil das Hören wie das Produzieren von Musik geistige Operationen voraussetze. Motiviert von der ästhetischen und fachdidaktischen Diskussion der 1990er Jahre zur »ästhetischen Rationalität«, führt Kaiser mit Habermas zunächst ein genaueres Kriterium für Rationalität ein. Er interpretiert sie als eine »Disposition sprach- und handlungsfähiger Subjekte«, die sich »in Verhaltensweisen [äußert], für die gute Gründe bestehen« (Habermas 1982: 44). Anders formuliert, sind Verhaltensweisen dann rational, wenn sie begründbar sind. Die Frage ist daher, inwiefern sich behaupten lässt, dass sich das Hören oder Komponieren von Musik jeweils Gründen verdankt. Kaiser beschreibt zur Beantwortung dieser Frage zunächst ein Minimalkriterium dafür, dass etwas überhaupt begründet auftreten kann, diskutabel wird oder – in den Worten von Habermas – einen evaluierbaren Geltungsanspruch erhebt. Es ist der dem musikalischen Tun und anderen Verhaltensweisen »zunächst fraglos beigegebene und dann als kommunizierbar unterstellte Sinn« (Kaiser 2018b: 231). Auf welche Weise aber ist Musik Sinn »beigegeben«? An der Seite musikphilosophischer Überlegungen von Hugo Riemann macht Kaiser ganz ähnlich zu Elliots Argumentation darauf aufmerksam,

Zum Transformationsgegenstand musikalischer Bildungsprozesse

dass die Wahrnehmung und Erfahrung von Musik nicht als eine passive Kenntnisnahme musikalischer Daten konzipiert werden kann, als ein unbewusstes Erleben. Sondern: »Wahrnehmungen werden zu Wahr-Nehmungen für unser Bewusstsein dann [und nur dann; L.B.], wenn die kommenden Klänge bereits synthetisiert sind, also eine gewisse Gestalt angenommen haben« (ebd.: 242). Eine »gewisse Gestalt« gewinnen Klänge zum Beispiel als Töne. Dass sie als Töne erfahren werden können, setzt die Bezugsetzung des Gehörten zu einem Wissenszusammenhang voraus, durch den das Gehörte mit bekannten Tonvorstellungen verglichen und von diesen unterschieden wird, wodurch wir schließlich, wenn wir Töne hören, immer bestimmte Töne hören und nie nur irgendwelche. Diese Bezugsetzung von etwas zu einem Wissenszusammenhang, durch den etwas eine Gestalt – im Fall des Tones eine musikalische Gestalt – gewinnt, ist nun nichts anderes als eine Form der Sinnstiftung. Elliott hatte für diese Sinnstiftung das Bild des Anordnens eines sich bewegenden Puzzles. Kaiser beschreibt sie als Ergebnis einer Bezugssetzung. Es ist, was hervorgeht, wenn »im wahrnehmenden, erkennenden, fühlenden Subjekt ein zunächst nicht, wenigstens nicht vollständig Bekanntes mit einem bereits Bekannten in Verbindung gebracht wird, wodurch das (zunächst) Noch-nicht-Bekannte in den Horizont des Bekannten eingeholt wird. Damit wird ›das Neue‹ zuund einordbar, versteh- oder deutbar, musikbezogen: verfolgbar, vollziehund nachvoll- ziehbar – das hängt vom jeweiligen Medium ab, in dem Bezugsstiftung ›materialiter‹ erfolgt.« (Ebd.: 231) Damit im Medium des Klangs auch komplexere Sinneinheiten gestiftet werden können, nehme Hugo Riemann an, dass die hörende Bezugssetzung der Klänge auf ein tonales Zentrum hin geschehe (vgl. ebd.: 238). Durch diese Bezugssetzung werden die gehörten Klänge als Haupt- und Nebenklänge und -töne hierarchisiert. Diese Ordnung nach Haupt- und Nebenklängen, Hauptund Nebentönen mache es möglich, zum Beispiel Akkordprogressionen mit sogar wechselnden tonalen Zentren (Modulation) zu hören (vgl. ebd.: 238f.). Für die Ausgangsfrage danach, inwiefern sich Gründe für musikalisches Tun oder musikalisches Erfahren anführen lassen, ist nun entscheidend, dass bei einfachen wie komplexen musikalischen Sinnstiftungsprozessen (sehr schnell ablaufende) Entscheidungen für oder gegen eine bestimmte Bezugssetzung getroffen werden müssen, damit bestimmte Töne, Melodien wie auch Rhythmen usw. hör- wie auch spiel- oder singbar werden können.

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Mit anderen Worten wird, wo jemand Musik hört oder spielt, immer aus Gründen so oder anders erfahren. Musikalisches Tun als eine Praxis der Sinnstiftung erfüllt damit das von Habermas angeführte Rationalitätskriterium der Begründbarkeit, wobei noch zu erläutern sein wird, wie sich die Gründe musikalischer Erfahrungen tatsächlich diskutieren lassen. Ich komme darauf im folgenden Abschnitt zurück. Kaiser zufolge muss der aus Gründen vollzogene musikalische Erfahrungsprozess aber als eine besondere Form der Rationalität verstanden werden. Er betont daher mit dem Phänomenologen Alfred Schütz als eine Eigentümlichkeit die Struktur des Sinns, der aus musikalischen Erfahrungsprozessen hervortrete: Dieser werde immer nur durch das Aufeinanderbeziehen mehrerer »Denkakte« als in der inneren (phänomenalen) Zeit erstreckter, »polythetischer Sinn« (Schütz) erfasst (vgl. ebd.: 241). Dieser Sinn unterscheidet sich so von der Gewinnung »monothetischen« Sinns beispielsweise beim Lesen der Lautzeichenfolge Mondscheinsonate, der sich in geraffter Form, in Form einer Vorstellung darbiete.18 Dagegen müsse ein Musikstück auch in der Erinnerung in seiner zeitlich erstreckten Form reproduziert werden, also wie bei seinem ersten Hören (vgl. ebd.). Diese polythetische Sinnstiftung scheint damit abhängig von einer besonderen Gebrauchsweise unserer Vernunft, die eine »Strategie der Zusammenbindung polythetischer [erstreckter] Konstitution« kennt. Kaiser schließt daher auf ein »Denken in Klängen« oder eine »Vernunft, die sich hier – in einer spezifischen Möglichkeit der Sinn-Stiftung – als spezifisch musikalische Rationalität äußert« (Kaiser 2018b: 241). Dieser Vernunftgebrauch stellt eine »Art musikalische Grundhypothese« zur Verfügung, »die es ermöglicht, ankommende Klänge bereits vorhandenen Vorstellungen ›in begründeter Weise‹ zuzuordnen« (ebd.: 242). Kantianisch gewendet spricht Kaiser auch von einem »Schematisierungsvermögen«, welches durch das Verfolgen von Klangereignissen angeregt wird und die Voraussetzung eines begründbaren, bestimmten, zum Beispiel tonalen oder atonalen »So und nicht anders«-Komponierens oder -Hörens (vgl. ebd.: 243) ist. Kaisers Überlegungen zur Annahme einer musikalischen Rationalität führen einerseits zurück zum musikalischen Erfahrungswissen als einem eigenen Selbstbewusstsein. Andererseits stellt sich die Frage, wie tatsächlich be-

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Kaiser scheint mit Schütz auch darauf hinweisen zu wollen, dass musikalischer Sinn nicht als Bedeutung konzeptualisiert werden kann. Siehe dazu Kap. 3.4.

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gründet werden kann, warum jemand etwas als Musik hört, wie musikalische Erfahrung also mitgeteilt werden kann. Musikalisches Selbstbewusstsein   »Dieser Form der Vernunfttätigkeit [der musikalischen Rationalität; L.B.] gelingt über Prozesse des Erinnerns und Vergessens, des Verknüpfens von ästhetischen [= kunstbezogenen; L.B.] Prozessen mit uns selbst usf. die Bildung dessen, was wir Selbstbewusstsein nennen, und zwar (u.a.) in musikbezogenen Prozessen der Erfahrungskonstitution. Deren Genese verdankt sich einer spezifisch musikalischen Gebrauchsweise unserer Vernunft« (Kaiser 2018b: 246). Dieses in musikbezogenen Prozessen der Erfahrungskonstitution gebildete Selbstbewusstsein – man könnte auch sagen Welt- und Selbstverhältnis – manifestiert sich in Form eines gegenständlich und affektiv dimensionierten musikalischen Erfahrungswissens, das sich vor dem Hintergrund von Kaisers Überlegungen zur musikalischen Rationalität noch einmal präzisieren lässt: Seine gegenständliche Dimension, die schon als habitualisiertes Deutungswissen angesprochen wurde, betrifft ein Wissen von Schemata klanglichen, zeitlich erstreckten Sinns, das Bezugspunkt zukünftiger musikalischer SinnStiftungsversuche ist und also beim Hören neuer Klänge mitrepräsentiert wird, um diese als musikalische Gestalten zu antizipieren. Dabei muss sich dieses Wissen in jedem Wahrnehmungsfall erneut bewähren, während Unvorhergesehenes oder genauer -gehörtes – Musikalisch-Fremdes – »zur Aufgabe bestehender Gefüge, Ordnungen, Organisationen zwingt« (ebd.: 245). Dadurch können – müssen aber nicht – transformatorische musikalische Bildungsprozesse in Gang kommen (vgl. Kap. 2.5). Die affektive Dimension des musikalischen Erfahrungswissens, die Kaiser gegenüber Elliott ausdrücklich mitbedenkt, ist ein Wissen um die Wirkung von Musik, welches selbst Gründe der Konstitution musikalischer Erfahrung bereitstellt (vgl. ebd.: 226). Als ein Wissen darum, »so und nicht anders zu hören und dabei so und nicht anders zu empfinden, angerührt oder abgestoßen zu werden« (ebd.: 243), entscheidet es immer auch mit, was subjektiv überhaupt als Musik erfahren wird. Musikalisch-Fremdes wird dann zur Überarbeitung gewohnter musikalischer Sinnstiftung zwingen, wenn es das Begehren, etwas Neues als Musik erfahren zu wollen, weckt. Dass das Musikalisch-Fremde häufig jedoch mit Ablehnung oder Abstoßung beantwor-

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tet wird, deutet für Kaiser auf die Trägheit – er spricht von seinem »konservativen« Charakter – des musikalischen Erfahrungswissens hin (vgl. Kaiser 1999: 245). Darauf, dass dieses Wissen als ein durch musikalische Sinnstiftung vermitteltes Selbstbewusstsein nicht von aller sonstigen Erfahrung abgekoppelt sein kann, hat Kaiser mehrfach hingewiesen. Es muss »als ein Moment in einem vielgestaltigen Erfahrungskontinuum [begriffen werden], dessen Elemente […] retrospektiv als ›Erfahrungen‹ verobjektivierte und objektivierbare Momente in durchgängiger Wechselwirkung stehen« (Kaiser 2018b: 221). Kaiser hat jedoch nicht, zumindest nicht explizit, beschrieben, wodurch diese Momente in Wechselwirkung stehen (können).19 Deutlicher als Elliott hat er hingegen darüber nachgedacht, ob und wie unser musikalisches Erfahrungswissen zum Gegenstand von Kommunikation werden kann. Gerade hinsichtlich dessen, dass musikalische Sinnstiftungen aus Gründen erfolgen, stellt sich die Frage, ob und wie sich über diese Gründe auch streiten ließe. Mitteilbarkeit musikalischen Erfahrungswissens Dass man über Musik irgendwie sprechen können muss, daran besteht für Kaiser deshalb kein Zweifel, weil sie sonst subjektiv nicht als ein Wissen für zukünftige Anwendungssituationen aufbewahrt werden könnte: »Selbst die – nur hypothetisch denkbare Situation solipsistischer Präsenz kann an dem Faktum der Mitteilung nicht vorbei: In jener ›zukünftigen Situation‹ (in der eine Erfahrung wirksam werden soll) trete ich mit mir selbst als demjenigen, der in der Vergangenheit Wissen gebildet und abgelegt hat, um es zukünftig wiederzuverwenden […], in Verbindung. Ich selbst bin inzwischen aber ein anderer geworden. Folglich muß meine ›damalige‹ Erfahrung wenigstens soviel an Verstehbarkeit beinhalten, daß wenigstens ich selbst […] mich noch ›in der Situation von damals‹ verstehen kann. Das bedeutet nun allerdings auch, daß ›ich mich selbst interpretieren muß‹. Ja, mehr noch: Um auch die Affektionsvalenz, wenigstens andeutungsweise, und d.h. als Wissen, wieder präsent werden zu lassen, muß ich die damalige Situation, nun mit zusätzlichen Situationsbestimmtheiten, für mich und in mir wieder erstehen lassen, ich muß sie rekonstruieren. Prinzipiell gibt es

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Ich komme darauf in Kap. 4.3.1 in Bezug auf ein Konzept der narrativ vermittelten (musikalischen) Identität zurück.

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folglich keinen Unterschied hinsichtlich der Vermittlung meiner Erfahrung an mich selbst und derjenigen an andere Menschen. Der Unterschied besteht lediglich im Bewußtsein dessen, daß ich selbst irgendwann einmal diese Erfahrung gemacht habe. Wiederaufnahme meiner Erfahrung durch mich ist folglich der Modellfall der Erfahrungsvermittlung.« (Kaiser 1992: 112) Was Kaiser in dieser Begründung implizit bereits annimmt, ist, dass das Medium der Erfahrungsvermittlung an mich selbst oder andere die Wortsprache ist. Und er geht weiter davon aus, dass alle formalen Bestimmtheiten des musikalisch erfahrenen Gegenstands »prinzipiell prädikativ bestimmbar, das heißt […] unzweifelhaft mitteilbar und damit (auch kontrovers) diskutierbar« (Kaiser 1999: 243; Herv. i.O.) sind, genauso wie das, was an Bestimmtheiten über die Situation (Raum, Zeit, soziales Geschehen/Ritual, Personen) in die musikalische Erfahrung eingeht (vgl. ebd.). Schwierigkeiten bezüglich der Mitteilbarkeit bereitet ihm die affektive Dimension musikalischer Erfahrung, insbesondere die Dimension des Genusses in der ästhetisch-musikalischen Erfahrung (vgl. Kaiser 1992: 102). Die Frage, ob und wie die spezifischen Qualitäten der musikalischen Erfahrung, wie zum Beispiel die erfahrene Schönheit einer Musik, mitgeteilt werden können, ist ganz ähnlich gelagert wie die Frage nach der sprachlichen Begründung musikalischer Sinnstiftung überhaupt. Zunächst scheint beides nicht ohne weiteres möglich. Der Versuch sprachlicher Mitteilung und/oder Begründung des musikalischen Vollzugs verhält sich den Adressaten gegenüber zumeist eher wie »ein erzähltes Mittagessen, von dem man nicht satt wird« (Kaiser 2018b: 235). Grund dafür ist, dass die jeweilige musikalische Erfahrung nicht anders als »im Medium des hörenden Vollzuges (vor-, zurück-, gleichzeitig-hören usw.) nachvollziehbar [werden kann] […]. Nachvollziehbar meint, dass es einem anderen als dem komponierenden Subjekt möglich ist (wird), korrespondierende, das heißt nicht unbedingt ›identische‹ Verknüpfungsleistungen in akustischen Prozessen zu vollbringen.« (Ebd.: 246) Mit anderen Worten können die Gründe für ein so oder anders Hören oder Komponieren von Musik nur »erhörbar« sein (ebd.: 239). Wer sich keine Vorstellung von den Tönen und ihrem Verlauf machen kann, kann entsprechend

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auch nicht entscheiden, ob etwas wie zum Beispiel eine Folge von Einzeltönen »stimmig« oder »nicht-stimmig« ist und also eine Melodie erklingt.20 Weil die Begründung wiederum nur im Medium des hörenden Musikvollzugs erfolgt, heißt das für den Diskurs über Musik, dass sich mittels Sprache primär nur hinweisend auf diesen Musikvollzug Bezug nehmen beziehungsweise auf ihn zeigen lässt (ebd.: 246).21 Dies gilt auch für die Mitteilung der affektiven Dimension der musikalisch-ästhetischen Erfahrung. Diese verlange, so Kaiser, über eine Demonstration vollzogener musikalischer Erfahrung hinaus die gemeinsame Rekonstruktion der ursprünglichen Erfahrungssituation (vgl. Kaiser 1992: 113). Worin diese Hinweise bei der Begründung und Mitteilung musikalischer Erfahrung bestehen und wodurch sie gelingen können, wird noch zu klären sein. Kaisers und Elliotts Ausführungen möchte ich zunächst vergleichen; zudem soll auf die Diskussion ihrer Bestimmungen der Merkmale musikalischen Wissens eingegangen werden, durch die sich weiterführende Fragen auf dem Weg zu einer Bestimmung musikalischen Wissens ergeben. Vergleich, Diskussion und Überleitung Obwohl Kaiser und Elliott methodisch recht unterschiedlich verfahren,22 treffen sie sich doch in wesentlichen Punkten ihrer Überlegungen. Sie teilen ers20

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Stimmigkeit schlägt Kaiser selbst als gesuchtes Kriterium zur Validierung musikalischer Sinnstiftungen vor: »Stimmigkeit meint dabei ein zweifaches. Zunächst meint sie die nur aus dem demonstrierenden Vollzug eines musikalischen Prozesses sich ergebende Überzeugung von dem Zusammenstimmen einzelner Momente eines musikalischen Verlaufs mit dessen Gesamtheit. Zum anderen meint Stimmigkeit die – wenigstens prinzipiell gegebene – subjektiv als gelungen empfundene Einpassung eines musikalischen Verlaufs in das Erfahrungskontinuum eines Subjekts.« (Kaiser 2018b: 237) Die Funktion musikalischer Kritiken bspw. besteht daher nicht, wie Rolle erläutert, in »… verbalen Versionen der Musik […], sondern sie zeigen auf diejenigen Merkmale, an denen der Urteilende seine Einschätzung erläutern möchte. […] Noch so ausführliche Beschreibungen und Interpretationen ersetzen also niemals die ästhetische Wahrnehmung des Objektes selbst, dessen Gegenwart – zumindest in der Erinnerung der Beteiligten – unverzichtbar bleibt. D.h. nicht, dass die Musik gleichzeitig mit ihrer Beschreibung und Interpretation erklingen muss (das könnte den Verständigungsprozess sogar empfindlich stören), sondern nur, dass die Betroffenen die Gelegenheit gehabt haben müssen und/oder haben werden, sie mit eigenen Ohren zu hören.« (Rolle 1999: 118) Während Kaiser wesentliche Merkmale entlang des Phänomens der musikalischen Erfahrung aufweist, argumentiert Elliott eher deduktiv im Ausgang von philosophischen, später kognitionspsychologischen Theorien. Darüber hinaus entwickelt Kaiser

Zum Transformationsgegenstand musikalischer Bildungsprozesse

tens die musikbegriffliche Prämisse, dass Musik respektive die musikalische Erfahrung nur angemessen als eine Tätigkeit oder Praxis verstanden werden kann. Zweitens nehmen sie sowohl ein Wissen als Resultat wie als Voraussetzung dieser Tätigkeit an. Dieses Wissen ist drittens dadurch bestimmt, dass es nicht notwendigerweise sprachförmig verfasst ist. Das Wissen selbst wird als eine Fähigkeit dahingehend verstanden, wie Sinn im Medium des Klangs gestiftet wird. Elliot und Kaiser sprechen ihm daher den Charakter eines praktischen Wissens zu. Als Bedingung dieses Wissens hat Kaiser einen eigenen Vernunftgebrauch – eine musikalische Rationalität – geltend gemacht, die auch Elliott im Blick zu haben scheint und die das musikalische Erfahrungswissen als eine Form des Selbstbewusstseins bedingt. Stärker als Elliott hebt Kaiser dabei vor allem die affektive Dimension musikalischen Wissens hervor. Er scheint dabei mitzubedenken, dass Musik nicht nur Tätigkeit, sondern zugleich auch Erlebnis sein muss. Mit anderen Worten beinhaltet musikalisches Wissen nicht nur, was wir als Musik machen können, sondern gewissermaßen auch, was Musik mit uns macht. Obwohl das Medium musikalischen Wissens der Klang ist, gehen beide Autoren davon aus, dass es auch sprachlich mitgeteilt und diskutiert werden könne. Relativ offen ist die Frage nach den (Erfolgs-)Bedingungen seiner sprachlichen Artikulation und Diskussion. Vor allem Christian Rolle hat nun gegen Kaisers Bestimmungen des musikalischen Erfahrungswissens Einwand erhoben. Dieser betrifft die Charakterisierung musikalischen Wissens als praktisches oder auch als Wissen mit »pragmatischem Kern«. Dieses Merkmal, so Rolle, könne nicht für musikalisches Wissen im Allgemeinen gelten. Zumindest treffe es nicht auf das Resultat musikalisch-ästhetischer Erfahrungen im Speziellen zu. Weil diese Erfahrungsprozesse Selbstbezüglichkeit beziehungsweise Vollzugsorientierung kennzeichnen, bringen sie kein »praktisch-instrumentelles« Wissen hervor: »Wer über solches musikalisches Erfahrungswissen verfügt, weiß beispielsweise, wie man sich als Orchestermitglied oder als Konzertbesucher verhält. […] Er oder sie weiß aus Erfahrung, welcher Musiktitel die Party-Besucher auf die Tanzfläche ziehen wird, oder beherrscht Übungstechniken, mit denen sich schwierige Passagen eines Instrumentalstückes aneignen lassen

im Unterscheid zu Elliott seine Überlegungen hauptsächlich an Beispielen musikalischer Rezeption.

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[…]. [E]s handelt sich um praktisch-instrumentelles Wissen von handwerklich-technischer Art […]. Nicht-ästhetische musikalische Erfahrung dieser Art ist nützlich, insofern sie zukünftiges Handeln zu orientieren vermag. Wenn wir sie uns zunutze machen, um Anforderungen musikalischer Praxis handelnd zu bewältigen, so geschieht dies in instrumenteller und nicht in ästhetischer Einstellung, d.h. wir nehmen die Situation (jedenfalls vornehmlich) zweckgerichtet und nicht (jedenfalls nicht in erster Linie) ästhetisch wahr.« (Rolle 1999: 88) Dieser Einwand Rolles geht allerdings an Kaisers Begriff musikalischen Erfahrungswissens vorbei. Kaiser hatte selbst darauf hingewiesen, dass seine Thematisierung des Wissens musikalischer Erfahrung nicht auf ein Wissen instrumentell-utilitaristischen Charakters reduziert oder als solches missverstanden werden dürfe (vgl. Kaiser 1991: 89). Das aber ist Rolles Lesart, die Kaiser einen instrumentellen Wissensbegriff »handwerklich-technischer Art« unterstellt. Kaiser hingegen spricht musikalische Erfahrung als ein Wissen in Form habitualisierter Deutungsmuster an. Es ist, wie auch bei Elliott, ein Wissen um musikalische Sinnstiftung. Als solches beschreibt es die Voraussetzung dafür, überhaupt ästhetische Erfahrungen mit Musik machen zu können. Gleichzeitig affektiv dimensioniert, beeinflusst das von Kaiser beschriebene musikalische Wissen, was als Musik eher gemieden oder gesucht wird. Auf diese Weise muss es keinesfalls immer »nützlich« sein, sondern kann neue Erfahrungsbildung ebenso blockieren (vgl. Kaiser 1993: 174). Mit Rolles Einwand stellt sich aber umgekehrt die Frage, inwiefern ästhetische Erfahrungen eine Voraussetzung für musikalische Erfahrungen darstellen, ob also ästhetisch erfahren werden muss, um Musik erfahren zu können. Mit dieser Herausforderung geht die zu diskutierende Frage einher, ob die von Rolle im Zitat nahegelegte Unterscheidung von ästhetischer und nicht-ästhetischer musikalischer Erfahrung bei der Bestimmung musikalischen Wissens mitbedacht werden muss. Ich werde darauf zurückkommen. Ein kritischer Blick Rolles bezieht sich darüber hinaus auf Kaisers Behauptung, die formalen Bestimmtheiten des musikalisch erfahrenen Gegenstands wie der Erfahrungssituation seien »prädikativ bestimmbar« und daher »unzweifelhaft mitteilbar« (vgl. Kaiser 1992: 109). Rolle zweifelt zwar nicht grundsätzlich an der Möglichkeit der sprachlichen Beschreibung von Merkmalen der erfahrenen Musik und der Situation. Er macht aber darauf aufmerksam, dass sich die musikalische Erfahrung »weder vollständig noch eindeutig prädikativ bestimmen lässt« (Rolle 1999: 76). Vollständig lasse sich das

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musikalische Erfahrungswissen nicht prädikativ bestimmen, weil ein praktisches Wissen-wie nicht auf ein Wissen-dass reduziert werden könne: »Das Know how des versierten Tonkünstlers, der mit viel Umsicht einen polyphonen Satz für verschiedene Instrumente einrichtet, ist in kompositorischen Regelwerken nicht zu fassen – selbst dann, wenn das Ergebnis im von genialer Inspiration unberührten Bereich der Routine verbleibt« (ebd.). Angesichts der vielen Regelwerke und Lehrbücher, die beanspruchen, eben ein solches Know-how vermitteln zu können, scheint mir diese These – obgleich ich ihr zustimme – erläuterungsbedürftig zu sein. Ich werde darauf im Kontext des folgenden Kapitels eingehen. Nicht ohne weiteres verständlich im Sinne von »nicht eindeutig prädikativ« erweist sich, so Rolle weiter, die sprachliche Beschreibung insbesondere bei für uns bedeutsamer Musik. Bei ihr können metaphorische Figuren zum Einsatz kommen, die »aller lexikalischen Eindeutigkeit entbehren« (vgl. ebd.). Ein weiteres Mal stellt sich daher die Frage danach, wie und worüber wir sprechen können, wenn wir über Musik respektive musikalisches Wissen sprechen. Bevor ich darauf eingehen werde, möchte ich im folgenden Kapitel jedoch zunächst in philosophische Konzepte nicht-propositionalen Wissens einführen. Dass neben einem sprachförmigen, propositionalen Wissen auch andere Formen des Wissens als Teile unseres Weltwissens bedacht werden müssen, was Elliott und Kaiser in ihrer Bestimmung musikalischen Wissens als praktisches stillschweigend vorausgesetzt haben, ist ein alles andere als trivialer Gedanke.

3.2

Epistemologischer Pluralismus: Nicht-propositionale Wissensformen

Musikalisches Wissen als praktisches Wissen zu bezeichnen, setzt eine erkenntnistheoretische Position voraus, die man einen »epistemologischen Pluralismus« nennen könnte. Gemeint ist damit ein Standpunkt, der eine Mehroder Vielzahl von Formen des Wissens gelten lässt. Dieser Standpunkt ist im Kontext der modernen Erkenntnistheorie (auch Epistemologie), allen voran der analytischer Tradition, nicht selbstverständlich23 und auch nicht unstrit23

Dieser Standpunkt beinhaltet nämlich nicht weniger als ein klares Ja auf die Frage, ob »die These des Nominalismus [einer verbreiteten Auffassung sprachanalytischer

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tig. Dem propositionalem Wissen kommt nach wie vor ein privilegierter Status in der Frage nach unserem Weltwissen zu.24 Praktisches Wissen lässt sich weiter als Klasse der Gattung nicht-propositionaler Wissensformen behandeln. Diese Gattung umfasst alle Wissensformen, die nicht in wahrheitsfähigen Sätzen der Form »jemand weiß, dass p (der Fall ist)« zum Ausdruck kommen, wobei jedoch nicht alle Formen nicht-propositionalen Wissens in einem alltagssprachlichen Sinne noch als Tätigkeiten verstanden werden. Mit anderen Worten können nicht alle Formen nicht-propositionalen Wissens automatisch als Formen praktischen Wissens verstanden werden. Ich möchte im Folgenden einige Gründe für die Annahme der Position des epistemologischen Pluralismus nennen,25 indem ich unterschiedliche Überlegungen zum praktischen Wissen und allgemeiner zu Formen nicht-propositionalen Wissens vorstelle. Diese liefern mir eine Folie für die erneute Interpretation von Kaisers und Elliotts Ansätzen der Bestimmung musikalischen Wissens als praktisches Wissen. Nicht-propositionale Wissensformen Wie Wolfgang Wieland zeigt, hatte bereits Platon einen guten Grund, nichtpropositionale Wissensformen anzunehmen. So ist einem Philosophen wie Sokrates allein mit der Kenntnis wahrer Aussagen nicht geholfen, wenn er nicht weiß, wie mit ihnen umzugehen ist. An Sokrates’ Dialogen stellt Platon daher auch weniger ein weitläufiges Wissen über philosophische Sachverhalte dar als vielmehr eine Fähigkeit, zu philosophieren. Wie die Dialoge zeigen, ist diese Fähigkeit auf eine gewisse Vertrautheit mit den jeweiligen Gesprächsgegenständen in Form einer erstpersonalen Wissensform angewiesen. Es handelt sich dabei um ein Wissen, das nicht in gleicher Weise wie philosophische Lehrsätze mitgeteilt werden kann und auch nicht durch das zutage tritt, was sich über etwas sagen lässt. Vielmehr scheint es daran auf, wie sich Sokrates’ Weise, Fragen zu stellen, Behauptungen zu untersuchen und zu interpretieren, gegenüber seinen jeweiligen Gesprächspartnern bewährt (vgl. Wieland 1982: § 14, 243).

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Philosophie; L.B.], wonach alles Bewusstsein propositional ist, einfach falsch« (Frank 1991: 224) ist. Diese Tendenz bestätigen auch derzeitig noch (mehr oder weniger begründet) viele Einführungswerke in die Erkenntnistheorie. Erfreuliche Ausnahmen sind beispielsweise Janich 2000; Gabriel 2012; Gabriel 2015. Seine eigentliche Begründung wäre eine Arbeit für sich.

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Auch Platons Schüler Aristoteles hat neben einer propositionalen Wissensform das Erfahrungswissen als nicht-propositionale Wissensform bedacht. Nur durch Erfahrungswissen kann beispielsweise die ärztliche Behandlung einzelner Patienten gelingen. Der Arzt muss nämlich wissen, was dem Einzelnen fehlt und helfen könnte, was er nur aus dem direkten Umgang, der Erfahrung mit seinen Patienten lernen kann. Ein Mangel an dieser Erfahrung beziehungsweise eine Behandlung auf dem Boden eines allgemeinen Behandlungswissens würde die Behandlung dem Zufall ausliefern (vgl. Aristoteles 1978: 18). Weil das Erfahrungswissen hingegen ein Wissen von Einzelfällen ist, kann es keine allgemeine Erkenntnis von Ursache-WirkungsBeziehungen liefern. Für Aristoteles scheint das – anders, als Kaiser das bei ihm lesen möchte (vgl. Kaiser 1991: 68) – eine Hierarchie praktischer und theoretischer Wissensformen zu begründen. Recht unmissverständlich belegt dies die Einleitung der Metaphysik: »Die Erfahrenen wissen zwar das ›Daß‹, doch das ›Weshalb‹ wissen sie nicht; jene hingegen kennen das ›Weshalb‹ und die Ursache. Daher schätzen wir auch die leitenden Künstler in jeder Hinsicht höher ein und glauben, dass sie mehr wissen und weiser sind als die Handwerker, weil sie die Ursachen dessen, was hervorgebracht wird, kennen. (Die Handwerker dagegen gleichen manchen unbelebten Dingen, die zwar etwas hervorbringen, aber nicht wissen, was sie hervorbringen – wie etwa das Feuer brennt –: wie nun die unbelebten Dinge zufolge ihrer bestimmten Natur das Einzelne hervorbringen, so die Handwerker zufolge der Gewohnheit.) Und wir glauben, dass sie nicht im Hinblick auf ihre Fähigkeit zum Handeln weiser sind, sondern weil sie über den Begriff verfügen und die Ursachen kennen. Überhaupt ist das Vermögen zu lehren ein Zeichen des Wissenden gegenüber dem NichtWissenden, weshalb wir auch meinen, dass die Kunst mehr Wissenschaft sei als die Erfahrung. Denn die Künstler vermögen zu lehren, die Erfahrenen aber nicht.« (Aristoteles 1978: 18f.) Aristoteles liefert in dieser Textstelle ein frühes Beispiel der Bewertung zweier Wissensformen, die der neuzeitlichen Tendenz, »das Mund- über das Handwerk« (vgl. dazu Janich 2015) zu stellen, vermutlich Vorschub geleistet hat. Neben den späteren Erfolgen sprachanalytischer Methoden in der Philosophie haben solche Hierarchisierungen von Theorie und Praxis die Vorrangstellung propositionalen Wissens in der Erkenntnistheorie philosophiegeschichtlich sehr früh begünstigt.

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Spätestens seit dem 20. Jahrhundert spielen in der Philosophie praktische und nicht-propositionale Wissensformen wieder verstärkt eine Rolle. Möglicherweise steht diese Öffnung des philosophischen Diskurses für die damit verbundene Annahme einer Vielheit von Wissensformen unter anderem in Zusammenhang mit dem sogenannten Gettier-Problem, durch das Zweifel an der Definierbarkeit eines universalen oder einheitlichen Wissensbegriffs aufgekommen sind.26 Edmund Gettier hatte (wie Bertrand Russell schon vor ihm) gezeigt, dass die durch Platon erörterte Definition des Wissens als gerechtfertigte wahre Meinung – auch als »Standarddefinition« bekannt – nicht ausreicht, um Wissen von zufälligen Überzeugungen unterscheiden zu können (vgl. dazu Gettier 1993 [1963]). Weil sich bisher auch keine allgemein akzeptierte Lösung des Problems durchgesetzt hat oder zu erwarten ist, gelten Versuche der Analyse eines einheitlichen Wissensbegriffs zumindest als tendenziell aussichtslos (vgl. Brendel 2013: 36). Bekannte moderne Beispiele für nicht-propositionale Wissensformen sind das von Bertrand Russell thematisierte Wissen durch Bekanntschaft, das eine zweite Karriere als phänomenales Wissen in der sogenannten QualiaDebatte gemacht hat. Das praktische Wissen, dessen Beschreibung, wie gesehen, Vorläufe bei Platon und Aristoteles hat, wird seit Gilbert Ryles Arbeiten erneut als knowing how besprochen. Mit einem Wissen durch Bekanntschaft (»knowledge by acquaintance«) meint Russell dasjenige Wahrnehmungswissen, das keiner Schlussfolgerung bedarf und das wir besitzen, wenn wir einer Sache leibhaftig gewahr geworden sind. Im Deutschen wird dieses Wissen durch das Verb »kennen« ausgedrückt. Wer mit etwas Bekanntschaft gemacht hat, der kennt die Modalität oder Qualität der Wahrnehmung des Gegenstands. Wer beispielsweise einmal eine Tropfsteinhöhle besucht hat, der weiß, wie es dort riecht, wie sie »klingt«, wie man sich dort gefühlt hat. Er oder sie besitzt damit ein Wissen aus erster Hand, das durch keine Beschreibung des Gegenstands und also nicht durch Wissen propositionaler Struktur ersetzbar ist (vgl. Russell 1951: Kap. 10). Auf dieses Wissen hat sich später Thomas Nagel bezogen, um zu begründen, warum wir trotz aller möglichen Erkenntnisse über Fledermäuse, so sein berühmtes Gedankenexperiment, niemals wissen werden, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Folglich können wir auch kein Wissen von subjektiven Erlebnissen anderer Lebewesen per Beschreibung gewinnen 26

Manchen hat dies sogar dazu bewogen, auf den Wissensbegriff in der Erkenntnistheorie ganz verzichten zu wollen (vgl. dazu Beckermann 2001).

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oder mitteilen (vgl. Nagel 2007). Wissen-durch-Bekanntschaft (Russell) oder phänomenales Wissen (Nagel) ist nicht durch Aussagen vermittelbar und somit von grundsätzlich anderer Art als propositionales Wissen über beispielsweise Fledermäuse etc. Letzteres behauptet nun auch Ryle über praktisches Wissen beziehungsweise über knowing how, das ins Deutsche als »Können« übersetzt wurde (vgl. Ryle 2015).27 Auch mit dem Terminus knowing how wird eine Wissensform bezeichnet, die nicht durch Beschreibungen ersetzbar und nicht propositional strukturiert ist. Wer beispielsweise viel darüber sagen kann, also viel darüber weiß, wie man boxt, muss selbst nicht boxen können. Umgekehrt muss derjenige, der boxen kann, nicht sich oder anderen detailliert schildern können, nach welchen Regeln man boxt, um boxen zu können. Für manche Fähigkeiten, wie zum Beispiel die Fähigkeit, gute Witze zu erzählen, ist es vermutlich sogar fraglich, ob sich dafür Regeln angeben ließen. Oftmals geht hier, wie in anderen Fällen, die gelingende Anwendung ihrer Theoretisierung voraus (vgl. Ryle 2015: 33). Man weiß nicht, wie man etwas tut, weil man darüber sprechen kann – sei es zu anderen oder »innerlich« zu sich selbst –, man weiß es, indem man es tut und also tun kann. Durch diese Einsicht kann Ryle die Annahme der von ihm so genannten »intellektualistischen Legende« als falsch zurückweisen. Sie besagt, dass alles Handeln die Erwägung theoretischer Sätze zur Voraussetzung habe beziehungsweise ein zusätzliches theoretisches Denken erfordere, um als »intelligent« bezeichnet werden zu können (vgl. Ryle 2015: 32). Dagegen spricht, dass die Ausführung zahlreicher Handlungen ohne einen expliziten Handlungsplan im Hintergrund auskommt, wofür Elliott bereits musikspezifische Beispiele lieferte (vgl. Kap. 3.1). Die Annahme der »intellektualistischen Legende« führt vor allem in einen infiniten Regress. Denn die Erwägung theoretischer Sätze oder Regeln vor der Ausführung einer Handlung ist selbst eine Tätigkeit, die gut oder schlecht vollzogen werden kann und deshalb erneut einer Erwägung theoretischer Sätze bedürfen würde etc. (vgl. Ryle 2015: 34f.). Können ist somit als eine Wissens- und Denkform aufzufassen, die nicht notwendigerweise auf propositionales Wissen bezogen ist. Damit schließt Ryle nicht aus, das propositionales Wissen beim Erwerb solcher Fertigkeiten

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Der deutsche Begriff des Könnens geht in seinem Gebrauchsumfang über das hinaus, was Ryle mit knowing how im Sinn hat. Reflexe wie das Atmen- oder Verdauenkönnen sind bspw. keine Bestandteile in Ryles Konzept des knowing how, da sie keine Fähigkeiten darstellen, die erst erlernt werden müssten.

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nötig sein kann, sondern nur, dass ihre Ausführung davon abhängt: »Ich hätte nicht Brustschwimmen lernen können, wenn ich die Anweisungen nicht verstanden hätte; aber ich muss nun beim Brustschwimmen diese Anweisungen nicht aufsagen.« (Ebd.: 60) Der Erwerb eines knowing how wie des Brustschwimmens oder auch Gitarrespielens oder Nähens usw. kann durchaus auch aufgrund von Büchern (wie es sie zuhauf gibt) gelernt werden. Das Wissen der Tätigkeit manifestiert sich aber erst in seiner Ausführung und eben nicht in der expliziten Kenntnis eines Bücherwissens. Über diese beiden Beispiele des knowing how und des Wissens-durchBekanntschaft oder phänomenalen Wissens hinaus, die eher in der analytisch geprägten Philosophie eine Rolle gespielt haben, zählen zu bekannten Konzeptionen nicht-propositionalen Wissens in der Tradition des Pragmatismus das Erfahrungswissen bei John Dewey und Alfred Schütz,28 in der Tradition phänomenologischer Philosophie das habituelle Wissen bei Maurice MerleauPonty sowie das persönliche (auch »implizite«) Wissen bei Michael Polanyi und das Körperwissen bei Pierre Bourdieu.29 Vor allem die phänomenologischen Konzepte haben in der wissenschaftlichen (Musik-)Pädagogik jüngst das Interesse an Praxistheorie/Praxeologie wie auch an sogenannten Embodiment-Theorien verstärkt ins Gespräch gebracht. Ich möchte daher exemplarisch die Überlegungen Merleau-Pontys zu einem habituellen Wissen und die von Bourdieu zu einem Körperwissen kurz skizzieren. In der Phänomenologie der Wahrnehmung argumentiert Merleau-Ponty dafür, Gewohnheiten als ein Wissen zu betrachten, »das in den Händen ist, das allein der leiblichen Betätigung zur Verfügung steht, ohne sich in objektive Bezeichnung übertragen zu lassen« (Merleau-Ponty 1974: 174). Mit anderen Worten spricht er über ein habituelles Wissen, das allein durch motorische und praktische Fähigkeiten repräsentiert wird. Wie Ryle will auch Merleau-Ponty der Vorstellung widersprechen, dass alle Fähigkeiten irgendwie von expliziten Handlungsplänen oder einem Regelwissen abhängen oder von solchen begleitet werden müssen. Es geht ihm dabei insbesondere darum, zu zeigen, wie in Gewohnheiten die leibliche Bedingung der Möglichkeit unseres Zur-Welt-Seins 28 29

Zu seiner musikpädagogischen Rezeption vgl. insbesondere Rolle 1999: Kap. 2.2.2. Während Merleau-Ponty als klassisch phänomenologischer Autor gilt, schließt Bourdieu an diesen nicht nur an, sondern versteht seine Überlegungen selbst als eine Phänomenologie der sozialen Erfahrung (s.u.). Polanyi wiederum zeigt eine große Nähe zur phänomenologischen Philosophie (vgl. dazu Mai 2009), ohne sich selbst explizit in ihrer Tradition zu verorten.

Zum Transformationsgegenstand musikalischer Bildungsprozesse

zum Ausdruck kommt. Er begründet somit die These, dass die »Gewohnheit weder im Denken noch im objektiven Leib [im »Körper«; L.B.], sondern im Leib als weltvermittelnde[m] […] gründet« (ebd.: 175). Gewohnheiten sollen, anders gesagt, weder durch ein explizites Wissen noch durch bloße Reflexe möglich sein, sondern aufgrund der Instanz des Leibes als unserem primären Bezugsmedium zur Welt. Den Aufweis30 dieser These illustriert er an zahlreichen Beispielen, darunter auch einem instrumentalen Musizierens: Ein geübter Organist spielt nach kurzer Vorbereitungszeit ein Konzert auf einer ihm unbekannten Orgel. Hier stellt sich die Frage, wie ihm das möglich ist. Für die Erklärung dieser Tatsache schließt Merleau-Ponty zwei Vorstellungen aus: Erstens, dass der Organist in dieser kurzen Zeit neue Reflexe konditioniert hat, und zweitens, dass er durch die Analyse der spezifischen Beschaffenheit der Orgel und ihrem räumlichen Ort einen Gebrauchsplan erstellt hat, nach welchem er sie bedienen kann (vgl. ebd.: 175). Merleau-Ponty macht vielmehr deutlich, dass die Orgel für den Organisten in Form einer praktischen »Intentionalität«31 beziehungsweise in Form eines praktischen Bewusstseins erfahren werden muss, welches keine analytische Erfassung der Orgel durch zum Beispiel die Vermessung der Abstände ihrer Register etc. erfordert. Die Orgel muss sich ihm als etwas zeigen, durch das er eine musikalische Tätigkeit realisieren kann. In dieser Form des Bewusstseins unterscheidet sich die Orgel nicht unbedingt von der Hand, die die Orgel spielt. Auch die Hand ist durch die Ausführung von Greif-Intentionen praktisch »bewusst«. Als Mittel zur Erfüllung einer musikalischen Intention scheint die neue Orgel kein analytisches Bewusstsein vorauszusetzen, sondern die leibliche Integration oder auch Integration in das »Körperschema«.32 Dadurch gewinnt die Orgel einen Gebrauchssinn, der nicht in Form eines Wissens über sie, sondern nur als Bewegung vorhanden sein muss, damit das Ziel der instrumentalmusikalischen Handlung erfüllt werden kann. Folglich kann Merleau-Ponty sagen, dass »der Erwerb einer Gewohnheit […] die Erfassung einer Bedeutung [ist], aber die motorische Erfassung einer Bewegungs-bedeutung« (ebd.: 172). 30 31 32

Ich unterscheide hier den phänomenologischen »Aufweis« vom »Beweis« (bzw. deduktiven Schluss) wie in Kap. 2.3 beschrieben. Zum Begriff der Intentionalität siehe Kap. 2.3. Merleau-Ponty verwendet den ursprünglich psychologisch geprägten Ausdruck »Körperschema« wie auch die Ausdrücke »motorisch« oder »Bewegungsintentionalität« »letztlich nur [als] ein anderes Wort für das Zur-Welt-Sein meines Leibes« (MerleauPonty 1974: 126).

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Merleau-Ponty macht durch das habituelle Bewegungswissen auf die leibliche Grundlage unseres Bewusstseins aufmerksam, die gewissermaßen im Schatten aller expliziten Verrichtungen operiert und ohne die wir gar keinen Anhalt in der materiellen Welt hätten. Deshalb ist der »Leib […] unser Mittel überhaupt, eine Welt zu haben« (ebd.: 176). Als Mittel zur Welt bleibt er jedoch im Handeln, in den Gewohnheiten in Form eines impliziten, nicht-propositionalen Wissens verborgen. In seiner philosophischen Schrift Meditationen (französisches Original: Méditations pascaliennes) reflektiert Pierre Bourdieu eine dispositionale Wissensform in den Begriffen des Körperwissens33 und, sehr viel bekannter, des Habitus. Dabei bezieht er sich sowohl explizit auf Ryle (vgl. Bourdieu 2001: 190) als auch, und noch deutlicher, auf Merleau-Ponty: »Der in die Praxis eingebundene Akteur erkennt die Welt, aber diese Erkenntnis entsteht, wie Merleau-Ponty gezeigt hat, nicht in der Beziehung, die ein erkennendes Bewusstsein von außen knüpft. […] Er fühlt sich in der Welt zuhause, weil die Welt in Form des Habitus auch in ihm zuhause ist.« (Ebd.: 183) Unter Habitus versteht Bourdieu ein implizites Weltwissen. Der Habitus kommt daher auch nicht durch das zum Ausdruck, was wir wissen, erfahren und tun, sondern dadurch, wie wir erfahren, wissen und tun. In Bourdieus Worten ist der Habitus eine »praktische […] Intentionalität, die nichts von einer bewusst auf ein cogitatum […] ausgerichteten cogitatio […] an sich hat, […] [die] in einer bestimmten körperlichen Haltung (einer hexis) [wurzelt], einer Dauerhaftigkeit des dauerhaft modifizierten, sich erzeugenden und sich perpetuierenden und sich dabei ständig (innerhalb bestimmter Grenzen) in einer doppelten, strukturierten und strukturierenden Beziehung zur Umgebung wandelnden Körpers.« (Ebd. : 184; Herv. i.O.) Einen Beweis für die Annahme dieses impliziten körperlichen Wissens des Habitus liefern Bourdieu Praktiken der Musik, des Tanzes oder des Sports, die ohne ein spezifisch strukturiertes Körperwissen nicht durchzuführen wären (vgl. ebd.).

33

Die deutsche Übersetzung des vierten Kapitels »La connaissance par corps« in den Méditations pascaliennes gibt diesen Titel mit »Körperliche Erkenntnis« wieder. Es ist aber genauso möglich und m.E. näherliegend, ihn mit dem Ausdruck des »Körperwissens« zu übersetzen.

Zum Transformationsgegenstand musikalischer Bildungsprozesse

Die Neuerung von Bourdieus Habitus-Konzeption, die sich bis hierhin noch nicht allzu sehr von Ryles oder Merleau-Pontys Überlegungen unterscheidet, ist der Aufweis von dessen sozialer Vermitteltheit. Bourdieu scheint seine Habitus-Theorie als eine Phänomenologie der Erfahrung unter sozialen (und historischen) Bedingungen zu verstehen (vgl. ebd.: 188). Diese fragt nach der Bedingung der Möglichkeit dessen, was bei Husserl die Welt in natürlicher Einstellung34 heißt. Bourdieu interpretiert es als das »Gefühl der Selbstverständlichkeit« (ebd.: 200), mit dem Welt für uns existiert. Dieses »Gefühl der Selbstverständlichkeit« scheint dadurch möglich, dass Dispositionen des Subjekts bestimmten Anforderungen einer Welt entsprechen. Eine solche Entsprechung ist wiederum nur dann möglich, wenn das dispositionale Wissen der Welt selbst entstammt, durch die sie jemandem als vertraut, gewohnt oder selbstverständlich erscheint. Das ist der Fall, weil Welt wesentlich als Produkt einer sozialen Konstruktion betrachtet wird, deren Prägung auch das dispositionale Wissen des Subjekts unterliegt. Somit lässt sich der sozial geprägte und damit geschichtlich gewachsene Habitus als die Bedingung der Möglichkeit einer Vertrautheit oder Selbstverständlichkeit von Welt (vgl. ebd.: 188ff.) verstehen. Soziale Welt und habituelles Weltwissen stehen dabei in einem zirkulären Verhältnis: »Der Körper ist in der sozialen Welt, aber die soziale Welt steckt auch im Körper (als hexis und eidos) [als (Körper-)Haltung und als Struktur; L.B.]. Die eigenen Strukturen der Welt sind in den Strukturen (oder besser: in den kognitiven Schemata) gegenwärtig, mit deren Hilfe die Akteure sie verstehen.« (Vgl. ebd. : 194) Wie der Habitus ein verkörpertes Weltwissen ist, so ist er aufgrund seiner sozialen Prägung immer auch ein Körperschaftswissen oder »Korpsgeist« (vgl. ebd. : 185). Gemeint ist damit, dass die Vertrautheit mit der Welt ein implizites Wissen um die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv (zu einer Klasse) beinhaltet. Das Wissen dieses Kollektivs kommt zustande, weil seine Mitglieder es unter gleichen Voraussetzungen (körperlicher Konditionierung) erworben haben. Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass innerhalb bestimmter Gruppierungen Übereinstimmungen im Denken und Handeln herrschen können, ohne dass dafür bewusste Regeln oder Absprachen getroffen werden müssten (vgl. ebd. : 186). Als Regelwissen zugänglich wird das Wissen des Habitus erst,

34

Vgl. Kap. 2.3.

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wenn die Vertrautheit mit der Welt und/oder die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv auf die Probe gestellt ist. Ein Beispiel dafür gibt der soziale Auf- oder Absteiger, der eine Position zwischen den Kollektivwelten einnimmt. Solche Grenzgänger »haben mehr Chancen, sich dessen bewußt zu werden, was sich für andere von selbst versteht, sind sie doch gezwungen, auf sich acht zu geben und schon die ›ersten Regungen‹ eines Habitus bewusst zu korrigieren, der wenig angemessene oder ganz deplatzierte Verhaltensformen hervorbringen kann« (ebd. : 209). Bourdieu erweitert so Merleau-Pontys Reflexion der leiblichen Bedingung unseres Zur-Welt-Seins um seinen sozialen Aspekt, der im Wissen des Habitus wirksam wird. Und obwohl es sich bei diesem Wissen um ein Weltwissen handelt, ist es dadurch gekennzeichnet, dass es nicht notwendigerweise in (Behauptungs-)Sätzen vermittelt sein muss. Konklusion Anhand der bisher vorgestellten Begriffe nicht-propositionalen und praktischen Wissens lassen sich zusammenfassend einige Gründe anführen, weshalb es plausibel erscheint, eine Pluralität von Wissensformen – einen epistemischen Pluralismus – anzunehmen. Der Hauptgrund, den die vorherigen Beispiele unterschiedlich belegen, liegt darin, dass sich unser Wissen eben nicht auf ein theoretisches oder propositionales Wissen reduzieren lässt – auch wenn dies immer wieder versucht wurde.35 Anhand der Skizzen der nicht-propositionalen Wissensformen ließ sich außerdem zeigen, dass wir in vielen Fällen überhaupt nur handlungsfähig sind, weil wir über Wissensformen jenseits verbalsprachlicher Repräsentation verfügen. Auf Letzteres macht auch die Tatsache aufmerksam, dass zum Beispiel Kleinkinder in der Lage sind, bestimmte Handlungsziele zu erreichen und sich dabei erfolgreich bestimmter Fähigkeiten bedienen, ohne sich dazu überhaupt äußern zu können. Von der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins her betrachtet, scheint dem praktischen oder nicht-propositionalen Wissen also sogar ein Primat in der Welterschließung zuzukommen. Grundsätzlich ist aber davon auszugehen, dass »propositionale und nicht-propositionale Formen des Wissens beide gleichermaßen grundlegend in den Prozessen menschlicher Kommunikation, Kognition und Kooperation/Handlung« (Abel 2004: 339) verankert sind. 35

Eine Darstellung von Versuchen, praktisches Wissen auf propositionales Wissen zu reduzieren (und umgekehrt) sowie deren Widerlegung liefert Jung 2012: Kap. 1.4.

Zum Transformationsgegenstand musikalischer Bildungsprozesse

Auch wenn sich die Kategorien propositionalen und nicht-propositionalen Wissens teils als logisch getrennte Kategorien betrachten lassen, die einen epistemologischen Pluralismus plausibel machen, so ist dabei dennoch zu beachten, dass beide Wissensformen aufeinander verwiesen sind. Man muss sie sich, so ein passendes Bild Günter Abels, als »drehtürartig« miteinander verschränkt vorstellen: So ist propositionales Wissen in der Regel in Handlungszwecke eingebunden. Die »Behauptungen, die das Wissen sprachlich darstellen, [werden] über das Handelnkönnen beurteilt und entschieden« (Janich 2000: 135). Ob es sich beispielsweise als richtig erweist, dass Berlin die Hauptstadt Deutschlands ist, hängt davon ab, ob ich bei einem Besuch der Stadt, wie im Regelfall in anderen Hauptstädten, ein Parlament und/oder andere Regierungsgebäude und -organe ausfindig machen kann. Umgekehrt sind wir auch im Handeln auf propositionales Wissen angewiesen, schon um eine Handlung zum Gegenstand von Kommunikation machen zu können. Eine vereinheitlichende Theorie dieser Wissensformen und ihrer Verhältnisse hat Abel vorgestellt (vgl. Abel 2004: Kap. 10.9). Interpretation und Kritik von Kaisers und Elliotts Begriffen praktischen Wissens Auffällig ist, dass Elliott, der seinen Begriff musikalischen Wissens an der Konzeption von Ryle orientiert, damit die Aktivität des Subjekts besonders stark hervorhebt. Dabei ist es sicherlich richtig, dass Musik etwas ist, was Menschen machen (vgl. Elliott 1991: 23). Ohne die Aktivität eines Subjekts würde etwas nicht als Musik wahrgenommen. Dies könnte allerdings leicht zu der Annahme verleiten, die Konstitution und Genese musikalischen Wissens hinge allein von der willentlichen Aktivität eines Subjekts ab. Anders herum ist es wohl ebenso wahr, dass Musik etwas mit uns macht. Zumindest scheint eine alltägliche Sichtweise auf Musik sich nicht darin zu irren, dass Musik mit Gefühlen oder – etwas vorsichtiger ausgedrückt – mit Zuständen verbunden ist, von denen wir nicht sinnvoll sagen können, dass wir sie »machen«. Diesem Umstand trägt Kaisers Begriff musikalischen Erfahrungswissens weitaus stärker Rechnung, insofern er der Affizierung des Subjekts durch Musik einen grundsätzlichen Anteil am musikalischen Wissen einräumt. Eng verbunden mit der Affektion durch Musik im Erfahrungsprozess sieht Kaiser darüber hinaus die soziale Bedingtheit musikalischer Erfahrung. So heißt es: »Die soziale Genese der musikalischen Erfahrung determiniert deren Struktur« (Kaiser 1991: 59). Gemeint ist damit, dass Musik immer nur durch die jeweiligen Aufführungsrituale situiert in bestimmten gesellschaftlichen Ver-

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hältnissen erfahren wird. Ob diese Aufführungsrituale als gewünschte oder nicht gewünschte erlebt werden, geht in musikalisches Wissen in Form von Präferenzen für bestimmte Musik(en) und ihre Rituale ein (vgl. ebd.). Ähnlich wie in Bourdieus Habitus-Konzept bleibt Kaisers musikalisches Erfahrungswissen damit an ein bestimmtes Habitat gekoppelt. Das heißt, dass der oder die musikalisch Erfahrene sich in einer bestimmten musikalisch-sozialen Welt beheimatet fühlt, die als Habitus eine Heimat in seiner oder ihrer musikalischen Erfahrung (gewonnen) hat. Wenn Kaiser und Elliott musikalisches Wissen als praktisches Wissen bestimmen, sind ihre jeweiligen Begriffe musikalischen Wissens also nicht deckungsgleich. Kaisers Begriff umfasst ein affektives Wissen, das für zukünftige musikalische Erfahrungen handlungsleitend ist, aber nicht aus einer Tätigkeit im engeren Sinne resultiert, und das zugleich eine soziale Zugehörigkeit durch die gesuchte und gemiedene Musik zum Ausdruck bringt. Beider Bestimmung dieses Wissens als praktisch und/oder habituell verrät jedoch noch nicht, was die Besonderheit musikalischen Wissens ist. Auch vom Kochen oder vom Theaterspielen kann gesagt werden, dass die damit verbundenen Wissensformen eher durch praktische und/oder habituelle Wissensformen als durch Sätze über diese Tätigkeiten repräsentiert werden.36 Die bis hierhin noch offene Frage ist daher, welche Kriterien für das Verständnis musikalischen Wissens notwendig erscheinen, mittels derer sich eine Minimaldefinition erstellen ließe, die sich als Ausgangspunkt weiterer Überlegungen und als Rahmen empirischer Forschungsvorhaben eignet. Bevor ich jedoch für einige spezifische Merkmale musikalischen Wissens im Rückgriff 36

Die Bestimmung musikalischen Wissens als praktisches Wissen ist jedoch von einem hohen musikdidaktischen Wert: Daran zu erinnern, dass Musik sowohl praktisch als auch habituell gewusst wird, widerspricht einem Begriff von Musik, der sie einerseits verdinglicht und andererseits entsozialisiert wie entkulturalisiert. Wo bspw. ein Werkcharakter von Musik überbetont wird und Musik lediglich in Form von Partituren oft klassischer Musik oder auch in Form von Lead-Sheets als zu analysierender Gegenstand (im Musikunterricht) gebraucht wird, kann sie erscheinen, als wäre sie das, was durch die Bevorzugung bestimmter (musik-)theoretischer Kategorien an ihr erhellt werden soll: autonom, abstrakt und/oder aufgrund bestimmter kompositorischer Regeln immer auf eine bestimmte Weise strukturiert. Zumeist bleiben die Gegenstände solchen Musikunterrichts auf einen Ausschnitt möglichen musikalischen Wissens – auf, wenn man so will, europäisches oder westliches und oft musikwissenschaftliches Wissen – beschränkt. Musik als Tätigkeit zu verstehen, die sich in einem praktischen Wissen artikuliert, scheint auch der Vielgestaltigkeit tatsächlicher Musiken weitaus besser gerecht zu werden.

Zum Transformationsgegenstand musikalischer Bildungsprozesse

auf Kaisers und Elliotts Bestimmungen argumentieren möchte, diskutiere ich im nächsten Kapitel zunächst die Frage, ob musikalisches Wissen in einem Zusammenhang mit ästhetischer Erfahrung betrachtet werden müsste.

3.3

Ästhetisches Wissen

In Auseinandersetzung mit Kaisers Bestimmungsversuch musikalischen Wissens als praktisches hat Christian Rolle kritisiert, dass diese Eigenschaft nicht für das aus musikalisch-ästhetischen Erfahrungen resultierende Wissen in Anspruch genommen werden könne. Wenn bei der Rezeption oder Erfahrung von Musik eine ästhetische, also selbstzweckhafte und -bezügliche (synonym auch »vollzugsorientierte«) Einstellung im Vordergrund stehe, sei der Gewinn eines praktischen Erfahrungswissens nicht zu erwarten – vielmehr beinhalte die Rezeption von Musik dann das Potenzial transformatorischer Wirkungen für das Subjekt (zur Kritik dieser These vgl. Kap. 2.1.1). Rolle leugnet jedoch nicht, dass ästhetische Erfahrungen irgendwie »Einfluss« auf zukünftige Wahrnehmungen nehmen können (vgl. Rolle 1999: 88f.), wobei er nicht klärt, wie genau beziehungsweise in welcher Form dieser Einfluss wirksam wird. Musikalische Erfahrungen hingegen könnten »zu einem auf die ›Bewältigung‹ von zukünftigen Situationen musikalischer Praxis gerichteten nicht-ästhetischen Erfahrungswissen führen« (ebd.: 88; Herv. L.B.), nämlich dann, wenn der Erfahrungsprozess dezidiert mit der Einstellung verbunden werde, zukünftig Nützliches damit gewinnen zu wollen. Auch wenn Rolles Kritik Kaisers Überlegungen verfehlt (vgl. Kap. 3.1), wäre zumindest zu klären, ob und inwiefern ästhetische Erfahrungen eine notwendige Voraussetzung für das Verständnis musikalischer Erfahrung und des damit verbundenen Wissens darstellen. Eine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt Rolle selbst nicht. Er stellt zunächst infrage, dass ästhetische Erfahrungen überhaupt auf Kunst bezogen sein müssen (vgl. Rolle 1999: 84): Wenn ästhetische Erfahrungen37 auf einem selbstzweckhaften und selbstbezüglichen sowie »vollzugsorientierten« Wahrnehmungsmodus basieren, so lässt sich dieser nicht nur mit künstlerischen Gegenständen in Verbindung bringen (vgl. Rolle 1999: Kap. 3.1.3). Auch die Erfahrungen von Sex (vgl. Shusterman 2006), Essen (vgl. Diaconu 2005) oder Lu37

Die Vielzahl philosophischer Begriffe ästhetischer Erfahrung beschreiben Deines/Liptow 2013: 17ff.

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xus (vgl. Wiesing 2015b) können – darin trifft Rolle einen Konsens der gegenwärtigen philosophischen Debatte – als ästhetische beschrieben werden.38 Als hinreichende Bedingung für die Erfahrung von Kunst lassen sich ästhetische Erfahrungen also nicht begreifen; der Umfang einer solchen Kunstdefinition wäre schlicht zu weit. Musik kann umgekehrt, so Rolle, aber auch nicht-ästhetisch erfahren werden (vgl. Rolle 1999: 103). Man denke beispielsweise an Musikwissenschaftler, die sich ihrer ästhetischen Erfahrung manchmal sogar enthalten müssen, um ein analytisches Interesse an einem Musikstück verfolgen zu können. Fragwürdig erscheint allerdings, ob sich mit Musik ausschließlich in solchen oder ähnlichen pragmatischen Kontexten hantieren lässt beziehungsweise ob etwas dann überhaupt noch als (die Kunstform) Musik erfahren würde. Mit anderen Worten kann man durchaus bezweifeln, dass Rolles Annahme einer Kategorie nicht-ästhetischer musikalischer Erfahrung sinnvoll ist. Gegen sie spricht, dass es Kunst gerade deswegen zu geben scheint, so Richard Shusterman, weil sie Anlässe für vollzugsorientierte ästhetische Erfahrungen bietet (vgl. Shusterman 2009: 38). In ähnlicher Weise erklärt Matthias Vogel die Entwicklung und das Vorhandensein künstlerischer Gegenstände dadurch, dass sie ästhetische Lust bereiten, indem sich in ihrer Erfahrung ein nicht-begriffliches Verstehen zum Zweck der Selbstentfaltung vollenden kann (vgl. Vogel 2013: 105ff.). Auch wenn ästhetische Erfahrungen nicht als hinreichende Bedingung der Erfahrung von Kunst taugen, so scheinen sie wiederum als eine ihrer notwendigen Bedingungen nicht ganz von der Hand zu weisen zu sein. Zumindest gerät die Annahme einer nicht-ästhetischen Erfahrung mit Kunst und Musik in Erklärungsnot, etwa bei der Frage, warum wir dann ein Interesse daran haben sollten, Kunst und Musik erfahren oder herzustellen zu wollen. Dennoch scheint auch dies keine Antwort auf die Ausgangsfrage zu geben, ob und inwiefern ästhetische Erfahrungen eine notwendige Voraussetzung für das Verständnis musikalischer Erfahrung und das mit ihr verbundene Wissen darstellen. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass der Begriff der ästhetischen Erfahrung weder für das Verständnis musikalischer Erfahrung

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Damit scheint überdies eine Sackgasse angezeigt, in die sich die ästhetische Diskussion durch die subjektive Wende von der Werk- zur Rezeptionsästhetik bzw. von der Frage »Was ist Kunst?« zur Frage »Wann ist Kunst?« verstrickt hat (vgl. Lehmann 2016: 84ff.).

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noch für das Verständnis musikalischen Wissens einen spezifischen Beitrag zu leisten scheint. Analoges gilt auch für die jüngst vorgelegten Versuche, Begriffe ästhetischen Wissens als ein »Wissen der Künste« oder ein »Wissen künstlerischer Praktiken« im Unterschied zu anderen Wissensformen auszuarbeiten und dabei insbesondere die Musik zu berücksichtigen (vgl. Asmuth/Remmers 2015; Mersch 2015). Dabei fällt die Schwierigkeit auf, das Wissen der Künste anders als nur negativ, in Abgrenzung zu anderen Wissensformen (als nichtpropositional oder implizit) zu fassen und stattdessen einen positiven ästhetischen Wissensbegriff zu entwickeln, der wiederum nicht einfach mit dem Begriff des aisthetischen, sinnlichen Wissens zusammenfällt. Ein Grund für diese Schwierigkeit kann in der Ausgangsprämisse gesehen werden, eine Gemeinsamkeit der Künste hinsichtlich ihrer Wissensform zu unterstellen, obwohl sich beispielsweise Musik und Bildende Kunst ganz unterschiedlicher Ausdrucksmedien bedienen. Kaiser hat daher schon früh Skepsis gegenüber einer ästhetischen Rationalität, eines gemeinsamen Vernunftgebrauchs der Künste angemeldet. Stattdessen plädiert er dafür, Rationalitäten im Zusammenhang ihrer Ausdrucksmedien zu bedenken, da die »Gebrauchsweisen von Vernunft […] sich immer nur in einem sie selbst wiederum reflexiv bestimmenden Medium verwirklichen können« (Kaiser 2018: 234). In diesem Fall wäre die Frage, ob musikalisches Wissen als ein ästhetisches Wissen zu verstehen ist oder inwiefern es mit ästhetischen Erfahrungen zusammenhängt, für das spezifische Verständnis musikalischen Wissens also zunächst zweitrangig. Im Ausgang davon möchte ich im Folgenden versuchen, ein spezifisches Verständnis musikalischen Wissens ausgehend von seinem Ausdrucksmedium, dem Klang, zu entwickeln.

3.4

Wissen im Medium des Klangs

Mit der Darstellung der Bestimmungsversuche Kaisers und Elliotts bin ich bereits auf einige Gründe für die Annahme und zugleich Charakterisierung einer musikalischen Wissensform eingegangen, mit der Darstellung vieldiskutierter philosophischer Konzepte nicht-propositionalen Wissens auf einige Gründe für die von Kaiser und Elliott vorausgesetzte Position eines epistemologischen Pluralismus. Die Frage, inwiefern ästhetische Erfahrung eine notwendige Rolle für musikalisches Wissen spielt, hat nicht in die Tiefe dieses

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Begriffs geführt, den ich daher im Folgenden in einzelnen Schritten in Form einer Mindest- und Minimalbestimmung, einer Definitionsbasis erörternd entwickeln möchte. Dadurch versuche ich sowohl Kaisers als auch Elliotts Versuche der Merkmalsbestimmung musikalischen Wissens zu verdichten, um den Gegenstand transformatorischer Bildungsprozesse in griffiger Weise konzeptualisieren zu können. Diese Minimalbestimmung bietet darüber hinaus vielfältige theoretische Anschlussmöglichkeiten und Vertiefungen. Sie lässt sich zum Beispiel mit Überlegungen aktueller Musikphilosophie bezüglich der Debatte über musikalischen Sinn (vgl. Becker/Vogel 2007; Dworschak 2017), einer Expressivität von Musik (vgl. Zwinggi 2016) wie auch über die Beziehung von Sprache und Musik (vgl. Grüny 2012) weiterdenken. Ich werde diese Überlegungen in den weiteren Ausführungen zumindest streifen. Es wird um musikalisches Wissen als Wissen im Medium des Klangs, genauer als ein nicht-propositionales, affektiv dimensioniertes Vollzugswissen klanglichen Sinns gehen. Im Anschluss an die Diskussion der Bestandteile des Begriffs versuche ich, das Problem der sprachlichen Artikulation musikalischen Wissens in Angriff zu nehmen und zugleich den Welt- und Selbstbezug musikalischen Wissens zu charakterisieren. Letzteres bildet den Angelpunkt für die Beantwortung der Frage, inwiefern musikalisches Wissen als eigene Figur von Weltund Selbstverhältnissen im Sinne der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse aufzufassen wäre. Musikalisches Wissen als Wissen klanglichen Sinns Damit etwas als Musik hör- und/oder spielbar wird, muss jemand über ein Wissen verfügen, welches den Hintergrund einer Bezugsetzung von Klängen bildet. Im Falle einer Bezugsetzung von Klängen auf ein tonales Zentrum hin, muss beispielsweise »als Raum der Stiftung von Beziehungen das Tonalitätsgefüge (T - S - D - T)« (Kaiser 2018b: 239) bekannt sein, das heißt gewusst werden. Das Wissen um das Tonalitätsgefüge ist selbst nun nicht notwendigerweise Inhalt allen musikalischen Wissens, sondern nur ein Beispiel für seine mögliche Füllung. Als alleiniger Bezugspunkt musikalischer Sinnstiftungen im Hören und Machen von Musik dürfte es nicht einmal zum Hören oder Komponieren »westlicher« Musik hinreichen. Dieses Beispiel veranschaulicht, was ein Wissen in erster Linie als musikalisches spezifiziert: Es ist ein Wissen möglicher Beziehungen und Zusammenhänge im Medium des Klangs, kurz: ein Wissen klanglichen Sinns.

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Das, was überhaupt erklingt und erklingen kann, und das, als was es einen Sinn in Form von Musik (als Ton, als Melodie, als Rhythmus etc.) ergibt, sind nicht identisch. Nicht alles, was ich hören kann, ist schon Musik. Es muss als solches eben erst gehört werden, und es kann so gehört werden, weil der subjektive Erkenntnisapparat einerseits über eine eigene Form der Rationalität und andererseits über ein Wissen von möglichem Sinn im Medium des Klangs verfügt. Kaiser hat die Struktur klanglichen Sinns mit Alfred Schütz näher als polythetisch beschrieben. Als »polythetisch« lässt sich klanglicher Sinn verstehen, weil er sich nur aus der Verknüpfung einzelner akustischer Elemente zu einer Gestalt in der Zeit erschließt. Die Verknüpfung erfolgt im Sinne vieler oder mehrerer Denkakte (»Thesen«) in zeitlicher Erstreckung. Klanglicher Sinn existiert daher nur in Form von Dauern (vgl. dazu auch Kap. 2.3). Deshalb braucht man »genauso viel Zeit, das Werk in der Erinnerung zu rekonstruieren, wie es zum ersten Mal zu erleben« (Schütz 1972: 144). Ganz anders verhält es sich beispielsweise, wenn ich eine Formel wie »a2  + b2  = c2 « lese, die ich »monothetisch« als »Satz des Pythagoras« verstehen kann, ohne dass ich diesen dazu beweisen oder mit ihm Berechnungen anstellen müsste. In dieser »gerafften«, von der Erstreckung in der inneren Zeit unabhängigen Form stehen der klangliche Sinn der Mondscheinsonate oder des Jazz-Standards Blue in Green nicht zur Verfügung. Deren klanglicher Sinn erfordert die, und sei es nur »innerliche«, schrittweise Reproduktion der jeweiligen Stücke (vgl. ebd. 144).39 Ein Notenbild wie eine Partitur oder ein Lead-Sheet hat daher für sich genommen noch nichts mit musikalischem Sinn zu tun. Erst die Realisierung durch eine Aufführung, ob im Konzert oder (mit dem inneren Ohr) »lesend«, lässt sie hinreichend als Träger musikalischen Sinns begreifen. Das ist auch der Grund, warum der Ort des musikalischen »Werks« nicht ein Notentext sein kann,40 sondern nur seine Realisierung in der Interpretation.

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Ähnlich beschreibt Andreas Luckner musikalischen Sinn als isochron, d.h. als zeitgebundenen und nicht von dieser Gebundenheit ablösbaren Sinn (vgl. Luckner 2007: 37). Dazu Wellmer: Das »Werk [ist] nirgendwo als solches greifbar; ›es‹ existiert nur, als niemals definitiv Fertiges, Vollendetes, wie der imaginäre Fluchtpunkt eines potentiell unbeendbaren Verweisungsspiels zwischen dem Notentext und seinen Realisierungen« (Wellmer 2009: 85).

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Polythetischer,41 klanglicher Sinn kann im Musikhören und -machen nur entstehen, weil aufgrund subjektiv bereits vorhandener Sinnschemata (tonale, rhythmische Gefüge) ankommende Klänge prospektiv auf eine musikalische Gestalthypothese hin antizipiert werden, während sie im Prozess des Hörens gleichzeitig retrospektiv mit bereits musikalisch gedeuteten Klängen verglichen werden42 (vgl. Kaiser 2018b: 242). Damit also ein Erklingendes als Musik laut werden kann, müssen Klangwahrnehmungen in den Horizont bereits bekannter musikalischer Sinnordnungen eingeholt werden können. Musikalisches Wissen als Vorstellungswissen klanglich-zeitlicher Strukturen hat daher einen projektiven43 Charakter, in dem es Sinnentwürfe beinhaltet, die auf die Antizipation zukünftiger oder möglicher akustischer Ereignisse bezogen sind, um etwas als Musik hören und/oder spielen zu können. Dieses Wissen ermöglicht eine Sinnstiftung oder -gewinnung, für die Ähnliches gilt wie für die Kunst: »Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern Kunst macht sichtbar«, lautet dazu ein bekanntes Zitat Paul Klees. Auch Musik lässt sich nicht einfach als ein vorgefundener Gegenstand begreifen, den das Musikhören nachträglich lediglich modifiziert. Durch das Hören von Musik wird vielmehr etwas hörbar, von dem wir ohne dieses Hören nichts ahnen könnten: Welt. Das Wissen um Welt, das musikalische (Welt-)Wissen, beinhaltet – wie ich das in meiner phänomenologischen Untersuchung zum musikalischen Differenz-, also Sinnstiftungsvollzug aufgewiesen habe (Kap. 2.3) – ein Wissen um eine eigene phänomenale Zeitform: die Kunstzeit der Zeitkunst Musik, die sich nicht in Stunden oder Minuten eines physikalischen Zeitkonzepts messen lässt, sondern möglicherweise angemessener durch Kurz- und Langweiligkeit beschrieben wäre. An diese Zeitform gebunden, zeigt es sich andererseits als ein Wissen von Räumen, die eine Ausdehnung und Grenzen besitzen, aber nicht, wie geometrische Räume, Längen. An die Dauer der

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In der Auseinandersetzung mit der musikalischen Konstitutionslehre von Schütz hat Rolle (vgl. Rolle 1999: 149) bereits darauf hingewiesen, dass auch Theaterstücke, Filme, Kunst-Performances, Tanz o.ä. Sinngestalten sind, die polythetisch in der Zeit konstituiert und gewusst werden. Es handelt sich bei diesen Beispielen gleichermaßen um – mit Husserl gesprochen – Zeitobjekte wie um »Zeitkünste«. Mit Husserl ließe sich ebenso von Protention und Retention sprechen. Im Grunde genommen ist dies nur der Versuch einer neutralen Bezeichnung dessen, was Kaiser im Merkmal des »pragmatischen Kerns« beschrieben und was in dieser Bezeichnung zumindest bei Rolle zu einem Missverständnis seines Wissensbegriffs als pragmatisch-instrumentellem geführt hat (vgl. dazu Kap. 3.1).

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Musik gebunden, sind sie vergänglich und auf keiner Karte zu verzeichnen. Musikalisches Wissen als Wissen eines polythetischen Sinns im Medium des Klangs beziehungsweise als Wissen klanglichen Sinns ist damit ein eigenes zeiträumliches Wissen, ein Welt-Wissen. Musikalisches Wissen als Vollzugswissen klanglichen Sinns Damit musikalische Sinnstiftung und damit ein musikalisches »Denken in Klängen« möglich ist, muss ihm eine konkrete Kompetenz des In-Klängendenken-Könnens entsprechen – die erlernt werden muss. Dies war sowohl für Kaiser als auch für Elliott der Grund, musikalisches Wissen als praktisches Wissen oder als ein knowing how zu verstehen: Wer beispielsweise Klänge als Jazz hört oder spielt, muss wissen, wie man diese auf eine bestimmte Weise zu bestimmten Ton- wie Rhythmusvorstellungen in Bezug setzt, wie die jeweilige musikalische Sinnstiftung oder eine musikalische Differenz vollzogen werden kann,44 so dass Swing oder Bebop ertönt. Musikalische Sinngefüge oder -schemata als Inhalte musikalischen Wissens können nur deshalb als projektives Wissen wirksam werden, weil sie in angewandter Form respektive als Vollzugswissen be- oder gewusst sind. Genauer kann von musikalischem Wissen eigentlich nur dann die Rede sein, wenn jemand Klänge auf einen Wissenszusammenhang so beziehen kann, dass dadurch für ihn oder sie reproduzierbare polythetisch strukturierte Zusammenhänge hörbar werden. Damit ist die Bedingung zusammengefasst, durch die sich das Erfolgsverb »wissen« auf diese musikspezifische Handlung anwenden lässt. Die Reproduzierbarkeit der Sinnstiftung ist eine Bedingung dafür, dass man von jemandem sagen kann, dass er oder sie wirklich weiß, wie man etwas als eine bestimmte Musik hören kann, nämlich dann, wenn er oder sie in der Lage ist, zum Beispiel eine Melodie wiederzuerkennen, indem also er oder sie eine Tonfolge durch den Vergleich mit einer aus der Erinnerung wiederholten Tonfolge zu einer Einheit bringen kann. Die mögliche Reproduktion musikalischen Sinns, sei sie auch nur teilweise, ist zum Beispiel auch die Voraussetzung dafür, bestimmte musikalische Formen

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Man könnte versuchen, diese Kompetenz weiter in Kompetenzen des Musikspielens und -hörens (vom stummen, inneren Mitsingen bis zum Tanzen) zu gliedern. Unmöglich scheint dabei eine prinzipielle Unterscheidung. Ich vermute, dass sich deren Unterschiede nur graduell hinsichtlich der jeweiligen leiblichen Voraussetzungen beschreiben lassen. Dies bedarf einer eigenen Untersuchung, die ich nicht weiterverfolgen werde.

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(das Strophenlied, Variationen etc.) hörend bilden zu können, für welche die Wiederkehr eines Themas (das sich eben durch das Wiederkehrende als solches auszeichnet) bestimmend ist. Musikalisches Wissen als nicht-propositionales Vollzugswissen klanglichen Sinns Dass musikalisches Wissen klanglich repräsentiert ist, impliziert, was Kaiser als die »nicht-begriffliche Syntheseleistung« (Kaiser 2018b: 221) musikalischer Rationalität anspricht: Musikalisches Wissen ist ein nicht-propositionales Wissen. Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass sich darüber nicht auch irgendwie sprechen ließe. Denn natürlich weiß der- oder diejenige, der oder die Musik hört oder spielt, damit auch, dass er oder sie die Fähigkeit besitzt, etwas als Musik hören zu können. Im Unterschied zu diesem Wissen ist das musikalische Wissen deshalb als nicht-propositionales Wissen zu verstehen, weil es erstens nicht im Medium der Sprache (aber auch in keinem anderen Medium als dem Klang) zum Ausdruck kommen kann: Man kann keinem Text, mögen seine Beschreibungen auch noch so detailreich sein, das Wissen entnehmen, wie etwas als Musik erklingt. Zweitens informiert musikalisches Wissen nicht notwendigerweise über etwas außerhalb von Musik oder klanglichem Sinn. Es beinhaltet mit anderen Worten weder sprachanaloge Aussagen noch bildanaloge Darstellungen. Letzteres hat wesentlich etwas damit zu tun, dass musikalischer Sinn keine außermusikalische Bedeutung haben muss, um hörend erfahrbar zu werden. Man könnte daher musikalischen Sinn mit Emil Angehrn als einen »Sinn ohne Bedeutung« beschreiben: »Anders als das Bild stellt Musik nicht dar. Sie hat keinen Inhalt, der Thema einer Repräsentation ist. Sie wirft nicht wie das Bild die Frage auf, was der dargestellte Gegenstand sei, was eine Zeichnung, ein Gemälde zeige oder bedeute. Musik scheint nicht nur eine sprachlose und bildlose, sondern auch eine gegenstandslose Kunst zu sein – ein Charakter, der noch dadurch erhärtet wird, dass sie – wie der Tanz – sich als Zeitkunst, prozessual [»polythetisch«; L.B.] realisiert, nicht in einem gegenständlichen Werk fixiert.« (Angehrn 2010: 195) Angehrn muss jedoch bemerken, dass diese absolute Charakterisierung an bestimmten musikalischen Sinnpraxen, wie beispielsweise der Programmmusik oder onomatopoetischer Musik, vorbeigeht. Beispiele wie Programmmusik oder lautmalerische Kompositionen erwecken jedenfalls den Eindruck, Musik realisiere sprach- oder bildähnliche Repräsentationsbeziehungen. Nun

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zeigt das Beispiel Programmmusik aber, dass das wortsprachliche Programm einer Komposition Hinweise auf Vorstellungen beim Hören evozieren kann, umgekehrt die erklingende Musik aber nicht den Schluss auf ein Dargestelltes oder Ausgesagtes zulässt. Eine Vision wie die eines Richard Strauss, »eines Tages Tafelsilber so getreu komponieren zu können, dass der Hörer in der Lage sei, Messer und Gabel voneinander zu unterscheiden« (Rolle 1999: 132), dürfte zum Beispiel daran gescheitert sein, dass der Musik nach wie vor Merkmale konventioneller arbiträrer Zeichensysteme fehlen: Auch wenn dies denkbar wäre, so gibt es meines Wissens im Normalfall musikalischer Zeichen keine festgelegte Zuordnung zu außermusikalischen Bedeutungen und syntaktischen Funktionen wie in der Sprache. Musikalische Zeichen sind in der Regel auch nicht arbiträr, das heißt, man kann sie nicht gegeneinander austauschen, etwa eine Melodie durch eine andere, die das gleiche »meint«. Vom musikalischen »Zeichen« als einem »Gebilde, das explizit als bedeutungstragend empfunden wird, an dem es etwas zu verstehen gibt und nach dessen Bedeutung man fragen kann« (Abel 2004: 349f.), kann daher nicht ohne weiteres, zumindest nur mit Einschränkungen, gesprochen werden. Die Gebilde im Medium des Klangs, die etwas als Musik hör- und spielbar werden lassen, sind Gebilde, die als bedeutungs- oder auch sinntragend empfunden werden. Wäre dem nicht so, könnte kein akustisches Ereignis als Musik erklingen. Prägnant hat dies Adorno formuliert: »Musik ohne alles Meinen, der bloße phänomenale Zusammenhang, gliche akustisch dem Kaleidoskop« (Adorno 2003: 252). Es ist aber aufgrund der fehlenden Konventionalität und Arbitrarität musikalischer Zeichen nicht notwendigerweise zu erwarten, dass es an Musik über das, was sich an ihr selbst zeigt, etwas zu verstehen oder zu befragen gibt, das wie der Inhalt einer Aussage oder eines Bildes gedacht werde könnte oder müsste. So ist es eher ein Sonderfall, dass man ein Jagd- oder Posthorn, aber auch einen Streit oder einen Marsch in der Musik erkennt. Noch viel seltener hört man dabei jedoch, wer oder was zu welcher Jagd bläst, wer mit wem über was streitet oder wohin marschiert wird. Im Vergleich zu Bild und Sprache »sagt«/zeigt Musik, wo sie als Zeichen mit außermusikalischer Referenz fungieren soll, sehr viel undeutlicher oder unkonkreter »etwas«, als dies Sprache oder Bild vermögen. In diesem Sinne gilt auch heute immer noch, was Manfred Bierwisch Ende der 1970er Jahre in seiner Gegenüberstellung von Musik und Sprache feststellen musste: »Man kann mit Sprache sowohl Kunst ma-

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chen wie über Kunst sprechen, mit Musik ist nur das erstere möglich« (Bierwisch 1979: 11).45 Eine semantische Relation der Art, dass eine musikalische Sinneinheit (ein Ton, ein Rhythmus, eine Melodie) x repräsentiert, kann somit keineswegs als undenkbar ausgeschlossen werden. Ein prinzipieller Unterschied musikalischen Sinns zu den meisten Formen des Sinns von Sprache und Bildern aber ist, dass musikalischer Sinn offensichtlich nicht auf Außermusikalisches Bezug nehmen, Außermusikalisches darstellen muss, um einen für uns »verständlichen« – und das meint in Bezug auf Musik nichts anderes als »erfahrbaren« – Sinn zu ergeben:46 »Musik muss nur auf Musikalisches verweisen, um Musik zu sein« (Luckner 2007: 43). Oder anders gesagt: Was im Falle von Bildern oder Sprache also den Kunst- oder Sonderfall darstellt, kann für Musik als ganz normal gelten: dass sich musikalischer Sinn nur auf sich selbst, auf einen anderen musikalischen Sinn oder andere musikalische Sinngestalten bezieht.47 Aus diesem Grund beinhaltet musikalisches Wissen notwendigerweise nur ein Wissen von Sinn im Medium des Klangs, nicht aber auch eines klanglich-musikalischer Bedeutung. Dies weist es neben der Unmöglichkeit seiner sprachlichen Über- oder Ersetzung als nicht-propositionales Wissen aus. Um zu wissen, wie etwas als Musik in Form einer Melodie, eines Rhythmus usw. klingt, muss man drittens nicht notwendigerweise wissen, was das ist, das so oder so klingt. Die sprachliche Identifizierung des jeweils Gehörten oder Gespielten ist keine Voraussetzung musikalischen Wissens. Um zum Beispiel zu wissen, dass etwas falsch oder richtig oder auch »stimmig« oder »nicht-stimmig« klingt, reicht es hin, dass etwas im Medium des Klangs begründbar erscheint und sich infolgedessen zunächst überhaupt als Musik und nicht als Geräusch hören lässt. Der Besitz musikalischen Vollzugswissens

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Es sieht derzeit auch nicht so aus, als ob dem linguistic oder iconic turn in den Geisteswissenschaften ein musical turn folgen würde. Eine Theorie, die musikalisches Verstehen als erfahrenden Nachvollzug erläutert, hat Matthias Vogel (vgl. Vogel 2007) entwickelt. Auf anderen musikalischen Sinn muss er sich jedoch insofern beziehen, als er sonst nicht zu unterscheiden wäre von bloßen akustischen Ereignissen. Innermusikalisch müssen sich Musik des Barock von Punk-Rock, eine Achtel- von einer Viertelnote, hohe Passagen von tiefen, ruhige von bewegten differenzieren. Musikalische Sinnstiftung geht damit – wie andere Formen der Sinnstiftung auch – nicht ohne eine differenzielle Verweisung vor sich, wohl aber ohne Verweisung auf etwas Außermusikalisches.

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muss nicht mit der Kompetenz eines Darüber-sprechen-Könnens korrespondieren. Musikalisches Wissen als nicht-propositionales, affektiv dimensioniertes Vollzugswissen klanglichen Sinns Kaiser erinnert bei seinen Überlegungen zur musikalischen Rationalität daran, dass im Prozess der musikalischen Sinnstiftung immer aus zweierlei Gründen etwas als eine bestimmte Musik zu Gehör kommen kann: Einerseits hören wir akustische Ereignisse als Musik aus Gründen, die sich aus dem Prozess der Bezugsetzung dieser Ereignisse zu unserem musikalischen Wissen ergeben. Andererseits gilt für jede Sinnstiftung, nicht nur die musikalische, dass sie nicht ohne Affektion des Subjekts erfolgen kann. Das als Musik Vollzogene macht etwas mit uns, was aber erst in dieser Sinnstiftung einen Anhalt oder auch Ausdruck gewinnt, wodurch das, was die jeweilige Musik mit uns macht, als ein Wissen um eine Wirkung in das musikalische Wissen mit eingehen kann. Es ist damit zugleich ein Wissen, wie etwas im Musikhören, in der jeweiligen musikalischen Sinnstiftung, begehrt werden kann (vgl. ähnlich Kaiser 2018b: 243) (oder nicht). Jedes musikalische Wissen beinhaltet dadurch eine affektive Dimension in dem Sinne, dass mit der Stiftung von bestimmtem musikalischem Sinn – wie das gegenüber Elliott vor allem Kaiser bedacht hat – Empfindungen der Anrührung oder Abstoßung verbunden sind, durch die die eine Musik eher gesucht, die andere eher gemieden wird. Insofern aber einem Begehren erst durch klanglichen Sinn Ausdruck verliehen wird, lässt sich diese affektive Dimension noch grundlegender fassen als ein existenzielles, im Medium des Klangs vermitteltes Wissen: ein Wissen, wie es ist, zu sein, so oder anders (gewesen) zu sein, wenn Klang als Musik gehört wird. Aufgrund der klanglichen Vermittlung dieser affektiven Dimension, ist sie jedoch ebenfalls entsprechend den vorherigen Erläuterungen als nicht-propositional zu begreifen: Die affektive Dimension musikalischen Wissens kann (a) nicht sprachlich repräsentiert/vertreten werden, sie beinhaltet (b) keine sprachanaloge Aussage über affektive Zustände und sie muss (c) nicht sprachlich identifiziert werden können, um gewusst zu werden. Um beispielsweise zu wissen, wie es ist, Blues zu hören, muss man nicht erst eine etymologische Herleitung des Begriffs leisten, durch die man möglicherweise darauf stößt, dass der Ausdruck Blues auf eine alltagssprachliche Phrase wie »I feel blue« zurückzuführen ist, die so etwas meint wie »Ich bin

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traurig«. Man muss nicht das, was man empfinden kann, wenn man Blues hört oder spielt, mit dem vergleichen, was man empfindet, wenn man etwas als traurig bezeichnet. Wir müssen auch nicht wissen, ob die Musik, die wir hören oder spielen, Gründe oder Eigenschaften dafür liefert, den Begriff »Traurigkeit« metaphorisch exemplifizieren zu können – auf das Konzept der (metaphorischen) Exemplifikation komme ich noch zurück. Man erlangt durch das Hören oder Spielen des Blues ein ausreichendes Wissen, was es bedeutetet, »den Blues« – ein vielleicht sogar genuin musikalisches Gefühl – »zu haben«. Analog gilt zum Beispiel auch für eine Fotografie, dass sie hinreichend zeigt, was nicht gesagt werden kann, aber auch nicht beschrieben werden müsste, um ein Wissen davon zu vermitteln, was sie darstellt. Wer hinsichtlich musikalisch-klanglich repräsentierter affektiver Zustände glaubt, ein angemessenes Wissen von ihnen erst durch sprachliche Identifizierung durch eine Aussage über sie zu haben, der täuscht sich über das, was er bereits durch sie hörend weiß und wissen lernt. In diesem Sinne hat schon Wittgenstein festgehalten: »Ich denke an eine ganz kurze Melodie von nur zwei Takten. Du sagst ›Was liegt nicht alles in ihr!‹ Aber es ist nur, sozusagen, eine optische Täuschung, wenn du denkst, beim Hören gehe vor, was in ihr liegt.« (Wittgenstein 1970: Zettel Nr. 173) Alle sprachlichen Beschreibungen der affektiven Zustände des Blues hingegen können völlig fehlgehen. Vor allem aber muss sich alles, was wir über das Gefühl des Blues zu sagen versuchen, daran messen, wie es ist, zu sein, wenn wir Blues hören oder spielen. Daher ist jede Beschreibung unzureichend im Vergleich zur Deutlichkeit seiner Präsentation im Medium der Musik. Man denke dabei zum Beispiel auch an Zustände, die wir mit einer Bach-Fuge oder Werken neuer Musik verbinden, die mit den Kategorien, in denen wir gewohnt sind, Gefühle zu beschreiben, wahrscheinlich (noch) gar nicht zu erfassen wären (vgl. dazu vor allem Luckner 2007: 40). Wenn es so ist, dass musikalischer Sinn keine außermusikalische Bedeutung haben muss, um als Sinn erfahren werden zu können, so gibt es keine Notwendigkeit, musikalische affektive Zustände außerhalb der Musik dechiffrieren zu müssen. Dies ist scheinbar deshalb so, weil diese affektiven Zustände im und durch das Medium musikalischen Sinns gerade prägnant zu einem Ausdruck kommen. Ähnlich schließt Christian Rolle, es scheine berechtigt, anzunehmen, »dass einige musikalische Objekte Gefühle oder Empfindungen artikulieren, aber es sind musikalische Gefühle, die in diesen Fällen zum Ausdruck gebracht werden, denn sie bleiben abhängig von ihrer Artikulati-

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on im musikalischen Material, an der wir sie uns vergegenwärtigen können« (Rolle 1999: 146). Die Frage, wodurch in Musiken Gefühle zu einem sprachlich artikulierten, möglicherweise intersubjektiv verständlichen Ausdruck kommen könnten, ohne dass damit die Gefühle des Komponisten gemeint sein müssten, wird gegenwärtig bezüglich des Konzepts der Exemplifikation diskutiert (vgl. dazu Mahrenholz 1998: Kap. II.2; Brandstätter 2004: 114; Luckner 2012: 70). Sie scheint sich zumindest als aussichtsreiche Alternative zu problematischen Thesen der langen Diskussionshistorie über einen Ausdrucksgehalt der Musik48 zu etablieren. »Exemplifikation« meint in Nelson Goodmans Symboltheorie diejenige Bezugnahme eines Zeichens, in der das Zeichen selbst als ein exponiertes Beispiel oder eine Veranschaulichung dessen erscheint, worauf es Bezug nimmt (vgl. Goodman 2015: Kap. II.3). So kann beispielsweise ein instrumentales Solo als Veranschaulichung oder Beispiel dessen erklingen, was Jazz (zu spielen) bedeutet, weil es bestimmte Idiome, das Umspielen von Akkordprogressionen, ein spezifisches Reagieren auf eine Band etc. vorführt, ohne gleich alle jazztypischen Eigenschaften aufweisen zu müssen. Nicht in allen Fällen ist das, was musikalische Zeichen exemplifizieren, auf eine verhältnismäßig regelorientierte oder konventionalisierte Musikpraxis wie Jazz bezogen. Ein Solo kann ebenso ein Beispiel für eine noch unbekannte Musik geben, also eine unbekannte Musik exemplifizieren, bei der sich »wie häufig auch anderswo in den Künsten, […] das Vokabular zusammen mit dem [entwickelt], zu dessen Vermittlung es gebraucht wird« (ebd.: 70). Wenn nun ein (Free-Jazz-)Solo nicht nur die Grenzen idiomatischen Jazzspiels, sondern »Freiheit« exemplifiziert, haben wir es mit einer metaphorischen Exemplifikation zu tun, insofern das Solo an sich selbst etwas veranschaulicht, was über das, was die jeweilige Musik strukturell oder innermusikalisch exemplifiziert, hinausgeht. Es kann aber gerade Freiheit veranschaulichen, weil das musikalische Spiel Eigenschaften dessen verkörpert, was uns Freiheit bedeutet, etwa ein Handeln in relativer Grenzenlosigkeit. Analog kann ein Musikstück zum Beispiel auch Wut metaphorisch exemplifizierend ausdrücken. Nicht aber in dem Sinne, dass es wütend ist und man es beruhigen müsste oder es uns wütend macht, sondern indem Lautheit und/oder Schnelligkeit

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Diese lässt sich in musikpädagogischer Literatur, so z.B. in Christian Rolles ebenso kenntnisreicher wie unterhaltsamer Darstellung (vgl. Rolle 1999: Kap. 4) oder auch bei Martina Benz, geb. Krause (vgl. Benz 2008: Kap. 3), verständlich nachvollziehen.

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etwas veranschaulichen, wovon das verbalisierbare Gefühl der Wut ein Beispiel gibt. Damit ist aber auch schon das Problem benannt, dessen Lösung Goodmans Theorie für einige in Aussicht zu stellen scheint: Die Eigenschaften, durch die eine Musik auf außermusikalische Gefühle oder Vorstellungen (wie von z.B. Wut oder Freiheit) Bezug nehmen soll, hat sie nicht durch sich selbst. Sie kommen ihr vielmehr aufgrund eines »Begriffs« von Wut oder Freiheit zu, wobei dann allerdings offenbleibt, wodurch schließlich entschieden werden sollte, dass ein Musikstück Freiheit (nicht) metaphorisch exemplifizieren kann.49 Wie auch immer die Leistung von Goodmans Theorie der Exemplifikation bei der Erklärung eines möglichen, intersubjektiv verständlichen Gefühlsausdrucks von Musik eingeschätzt werden kann, der Besitz eines affektiv dimensionierten musikalischen Wissens hängt nicht davon ab, ob und wie er sich begrifflich einholen lässt. Sein epistemischer Wert besteht in einem musikalisch vermittelten (protosprachlichen und nicht-reflexiven) Selbstbezug, durch den wir gerade eine Ahnung davon haben, wie wir waren und sind, wenn wir jeweilige Musiken erfahren. Mit der Erfahrung einer neuen, anfänglich fremden Musik kann daher immer auch eine neue, im Medium musikalischen Sinns sich zeigende Weise zu fühlen erlernt werden. Mit jedem neuen Musikstück erschließt sich nicht nur eine neue musikalische, sondern zugleich eine neue zuständliche Welt, für die wir vielleicht (zunächst) keine Worte finden beziehungsweise nicht immer schon Worte finden müssen, um von ihr zu wissen. Zur sprachlichen Artikulation und Kommunizierbarkeit musikalischen Wissens Wenn musikalisches Wissen ein affektiv dimensioniertes Vollzugswissen klanglichen Sinns darstellt, das aus den erläuterten Gründen zur Klasse der nicht-propositionalen Wissensformen zu zählen ist, stellt sich die Frage, ob und wie es sprachlich artikuliert und kommuniziert werden kann. Sie stellt sich vor allem deswegen, weil Menschen Wesen mit dem Vermögen zur Reflexion sind und Sprache notwendige Voraussetzung dieser Reflexionsmöglichkeit ist. Von Musik als »Musik« können überhaupt nur solche Wesen wissen, die sprach- und reflexionsbegabt sind. Menschliches Sprachund Reflexionsvermögen und das Vermögen zu musikalischer Erfahrung können daher nicht voneinander entkoppelt sein.

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Ähnlich (kritisch) dazu Becker/Vogel 2007: 17; Grüny 2014: 88ff.

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Diese Korrespondenzthese von Musik und Sprache ist in einem einflussreichen Essay des ehemaligen Habermas-Assistenten Albrecht Wellmer ausgearbeitet worden. Auch Wellmer geht von einer Sprachlosigkeit respektive einer Nicht-Propositionalität musikalischer Erfahrung aus, bezweifelt aber deswegen nicht ihren grundsätzlichen Bezug zur Sprache: »Auch wenn die Erfahrung bedeutender Musik uns sehr häufig zunächst einmal sprachlos machen mag, liegt doch diese Sprachlosigkeit nicht ganz jenseits der Sprache, denn würden wir nicht vieles an ihr – Motive, Kontraste, Variationen, Steigerungen, expressive Gehalte, Klangqualitäten, tonmalerisches usw. – präreflexiv als solches erfassen, dann könnten wir auch nicht die spezifische Erfahrung angesichts einer Musik machen, deren Bedeutsamkeit wir erfahren, ohne sagen zu können, worin diese besteht.« (Wellmer 2009: 109) Weil der Versuch der sprachlichen Reflexion und Differenzierung musikalischer Erfahrung immer schon mitläuft, kann erst dessen Hemmnis auffällig werden, wenn die sprachlose Deutlichkeit musikalischen Sinns der Sprache Rätsel aufzugeben scheint. So weisen Musik und musikalisches Wissen eine grundsätzliche Sprachtendenz wie einen Sprachbezug auf. Die Sprachtendenz und den Sprachbezug der Musik oder des musikalischen Wissens begründet Wellmer weiter durch die Annahme einer latenten Intermedialität aller Medien in der Sprache, wobei mit »Sprache« im folgenden Zitat das nicht nur – aber eben immer auch – wortsprachliche Medium unseres Welt- und Selbstverhältnisses gemeint ist: »Die verschiedenen Medien hängen in der Sprache miteinander zusammen; auch wenn jedes seine eigenen irreduziblen Gestaltung- und Ausdrucksmöglichkeiten hat, gehört doch zu jedem einzelnen die latente Präsenz aller anderen, nicht zuletzt auch der Wortsprache, die ihrerseits durch eine latente Intermedialität zu kennzeichnen wäre. Die latente Intermedialität der Musik […] ist der Grund dafür, dass auch die ›absolute‹ [wortferne; L.B.] Musik immer schon in einem potentiellen Verhältnis wechselseitiger Korrespondenzen, Brechungen, Erhellungen und Ergänzungen zu den anderen Medien der Kunst steht, insbesondere aber zur Wortsprache. Letztere hat insofern einen ausgezeichneten Status, als sie dasjenige Medium ist, in dem wir Kunstwerke interpretieren, kritisieren, in dem wir uns über die Gelungenheit von Kunstwerken streiten können und in dem wir versuchen, uns klarzumachen, was und wie Kunst ist.« (Ebd.: 24; Herv. L.B.)

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Diese latente Intermedialität ist wiederum nichts anderes als die Möglichkeitsbedingung einer anderen Kunstform als der Musik: der des (Musik-)Theaters. Wäre nämlich in den Einzelmedien des Theaters ein potenzielles Verhältnis zu den jeweils anderen nicht bereits beschlossen oder angezeigt, so wäre gar nicht klar, wodurch sie im Theater in Zusammenhang treten könnten. Deshalb ist Theater in seiner Bedeutung gerade nicht auf das in den dramatischen Texten Ausgesagte reduzierbar, sondern in ihm zeigt sich, wie Musik am vorgegebenen Text etwas erhellen kann, was wiederum nicht im gesprochenen oder geschriebenen Wort aufgeht. Es kann sich zeigen, wie Musik an der literarischen Vorlage – was Wellmer unter anderem am Beispiel von Arnold Schönbergs Monodram Erwartung illustriert – nach einem innovativen Formgesetz gestaltet werden kann, das sich gegen (gewohnt) beschreibbare Formen »thematischer« Durchführung sperrt und wie eine »schockhaft-panische Gebärde« hörbar wird (vgl. ebd.: 25). Man muss aber nicht erst ins (Musik-)Theater gehen, um feststellen zu können, dass Musik auf andere Medien verweist. Schon bezogen auf das vorherige Zitat Wellmers kann das nachvollzogen werden: Würde nicht in uns ein Bemühen fortwirken, die noch stumme musikalische Erfahrung aussprechen zu wollen, wäre es nicht möglich, dass wir dabei an sprachliche Grenzen geraten. So lässt sich in recht rabiater Kurzform die Begründung der (adornitisch geprägten) These Wellmers verstehen, wonach Musik »gegen die Worte sich sperrend, doch die Worte braucht, um ganz sie selbst zu sein; wortferne Kunst und doch im Umkreis der Sprache zu Haus« (ebd.: 110). Kaiser hatte außerdem deutlich gemacht, dass eine Mitteilbarkeit musikalischen Erfahrungswissens möglich sein muss, um zwischen gegenwärtigem Ich und vergangenem Ich der Erfahrung vermitteln zu können. Wäre dem nicht so, könnte musikalisches Wissen zukünftig nicht den projektiven Charakter entfalten, den es besitzt. Obwohl nun in der akademischen Philosophie das Verhältnis von Musik und Sprache verschiedentlich und breit diskutiert wurde, scheint die Frage, wie über Musik gesprochen werden kann, bislang vor allem die Musikpädagogik interessiert zu haben. Einen ersten Hinweis auf sie gibt aber bereits Wittgenstein: »Wenn man eine bestimmte Auffassung eines Musikstücks rechtfertigen will, und die Frage beantworten, warum man es gerade so gespielt wünscht, ist man versucht, zu sagen: ich verstehe es eben, ich verstehe, was es sagt. Man kommt aber in Verlegenheit, wenn man sagen soll, was es sagt. Man

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kann dann nur entweder einen Vorgang angeben, dem man das Musikstück vergleicht und der in irgendeinem Sinn den Rhythmus hat, der unserer Auffassung entspricht oder man führt das Musikstück in dem gewünschten Rhythmus vor uns lässt diesen für sich selbst sprechen.« (Wittgenstein 2000: 302) Wittgenstein macht zunächst noch einmal auf das Problem aufmerksam, dass sich musikalischer Sinn nicht sprachlich vertreten lässt und/oder sich nicht in Form einer Bedeutung fassen lässt, weshalb man notwendigerweise in Verlegenheit gerät, wenn man versucht zu übersetzen, »was es sagt«, dessen hörende Auffassung man für stimmig befindet. Die Begründung einer musikalischen Sinnstiftung muss und kann daher nur am Nachvollzug musikalischen Sinns erfolgen, dieser muss und kann nur »für sich selbst sprechen«. Auf welche Weise spricht man dann aber über Musik beziehungsweise sein musikalisches Wissen? Dieser Frage ist Kaiser im Blick auf die musikbezogene Lehre nachgegangen: Die Kernthese von Kaisers musikalischer Lehrtheorie, die man implizit auch in seinen Texten zur musikalischen Erfahrung wiederfindet, lautet, dass musikalisches Wissen nur durch deiktische Handlungen kommunizierbar zu werden vermag: »Musikalisch lehren heißt im Kern: zeigen. Zeigen, musikbezogen gewendet, heißt: Musik präsentieren mit der Absicht, ein anderes Subjekt hören zu machen.« (Kaiser 2003: 7) Ausgangspunkt von Kaisers Argumentation ist also, dass musikalischem Wissen als nicht-sprachlichem, nicht sagbarem Wissen nur das Zeigen als Form der Vermittlung bleibt. In Anlehnung an ein Credo des Tractatus von Wittgenstein, formuliert Kaiser dies knapp so: »Was man nicht sagen kann, das aber doch (als musikalischer »Gegenstand« irgendwie) vorhanden ist, das muss man zeigen.« (Ebd.: 8) Während dem Zeigen eines Bildes das Sehen desjenigen korrespondiert, dem gezeigt wird, ist dies im Falle des Zeigens eines musikalischen Wissens das Hören (ebd.). Das Zeigen eines Bildes verlangt ein Hinsehen auf etwas, das gezeigt wird, die Präsentation von Musik oder musikalischem Wissen ein Zuhören, also die hörende Wendung auf ein Zu-Hörendes: »Zuhören ist die Antwort auf das Zeigen im Medium Musik.« (Ebd.) Man könnte es auch so formulieren, dass Zuhören das Erfolgskriterium des Zeigens ist, weshalb man sagen müsste, dass Musik im Medium der Musik nur dort wirklich gezeigt wird, wo es jemandem gelingt, einen anderen dazu zu befähigen, die Musik zu hören.

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Dabei wäre weiter zu bedenken, dass sich auf Musik eben nicht wie auf ein Bild zeigen lässt. Der nicht-metaphorisch verstandene Fingerzeig auf die Schallquelle zeigt eben nicht schon die erklingende Musik. Der Blickwendung des Zu- oder Hinsehenden entspricht ebenso wenig eine Wendung des Ohrs zum Lautsprecher oder zur Aufführung. Es fragt sich also einerseits, womit oder auch mittels welcher Gesten auf Musik gezeigt werden kann, und andererseits, wodurch die Zuhörenden auf diese Zeigegesten eigentlich antworten. Ich komme darauf zurück. Das Zeigen als einzig mögliche Lehr- und Kommunikationsform bezüglich der Musik oder des musikalischen Wissens untersucht Kaiser schließlich hinsichtlich verschiedener Modalitäten, von denen er drei unterscheidet: auf etwas zeigen, etwas als etwas zeigen und etwas durch anderes zeigen. Mit dem Zeigen auf etwas meint Kaiser die einfache Präsentation von etwas (eben Musik) oder die rudimentäre Form der (sprachlichen) Deixis: Jemand spielt etwas und sagt »Hör das!« oder »Hör das!«, um auf das hinzuweisen, was von ihm selbst (oder per Aufnahme vor-)gespielt wird. Nicht definiert ist dabei, als was etwas gehört werden soll, noch nicht einmal, dass es als Musik gehört werden soll. Gezeigt wird damit nur »die Notwendigkeit des Sich-damit-Auseinandersetzens, und zwar aus der Sicht des Zeigers: Der Zeiger meint, dass es für denjenigen, für den er auf etwas zeigt, lohnend, wichtig, substantiell, existentiell o.ä. sei, sich mit diesem Etwas näher zu befassen. Dabei wird zunächst offen gelassen, was an dem Gezeigten zeigenswert ist.« (Kaiser 2003: 10; Herv. i.O.) Das Zeigen auf etwas kann dabei eine rein präsentative Funktion, ein Jemandem-etwas-zeigen-Wollen erfüllen oder eine petitive Funktion, wenn durch das Zeigen auf etwas eine Antwort auf das Gezeigte erwartet wird (vgl. ebd.). Mit dem Zeigen von etwas als etwas beschreibt Kaiser das Zeigen, bei dem das Zu-Hörende vom Zeigenden definiert ist. Zeigen in diesem Modus hat eine explikative Funktion: Es geht darum, das Zu-Hörende mit einer bestimmten Auffassung in Verbindung zu bringen, etwas zum Beispiel als das Thema einer Sonate oder als dessen Durchführung zu erklären. Kaiser führt dabei Partituren als Mittel dieses Zeigens ein (vgl. ebd.: 11). Man müsste meines Erachtens dabei jedoch bedenken, dass der Gebrauch einer Partitur zunächst erlernt werden muss, damit das entsprechende zeigende Erklären einer gemeinten Form überhaupt möglich ist. Ein alltäglicheres Beispiel könnte sein, dass jemand einem anderen das, was als Thema aufgezeigt werden soll, an einer Musik selbst expliziert: Etwa indem das jeweilige Stück wiederholt und

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bestimmte Teile etwas lauter, langsamer oder variiert gespielt und mit einem Hinweis versehen werden, wie »Das, was ich gerade hervorgehoben habe, nennt man das ›Thema‹!« oder »Diese Melodie gefällt mir in diesem Stück besonders gut!«. Was diese Beispiele nämlich auch deutlich machen, ist, dass mit dem Modus des Etwas-als-etwas-Zeigens zugleich wesentlich beschreibbar wird, wie eine Gebrauchspraxis des Sprechens über Musik – nicht anders als der Gebrauch jeder Sprache – gelernt wird: durch hinweisendes Erklären.50 Eine dritte Modalität des Zeigens, das Etwas-durch-anderes-Zeigen, beschreibt Kaiser am Beispiel einer gewissermaßen »didaktischen« Interpretation von John Cages 4’33”. In diesem Stück werden durch die »Negierung aller bis dahin gewohnten Produktions- und Rezeptionsformen […] gerade diese gezeigt. Es wird folglich etwas gezeigt, das als real Dargebotenes nicht vorhanden ist« (ebd.: 12). Dargeboten wird in dieser Komposition kein einziger Ton.51 Gleich einem »Krisenexperiment« zeigt das Stück damit auf das, was von einer Komposition und ihrer Aufführung erwartet wurde (und vermutlich immer noch erwartet wird). Dass diese Zeigemodalitäten in der musikalischen Lehrpraxis nicht voneinander getrennt, sondern in Mischformen vorkommen, führt Kaiser am Beispiel einer von Hermann Kretschmar beschriebenen Lehrsituation vor: Dieser spielt eine Figur (einen Sekundschritt) vor, zeigt (also) zunächst auf etwas, das es zu hören gilt. Diese Figur versucht er sodann mit einer bestimmten Auffassung in Verbindung zu bringen, nämlich damit, einen – was sicherlich kritisierbar ist – »Erregungsgehalt« des Sekundschritts zu erkennen. Dieses Zeigen eines Sekundschritts als einer Figur mit einem bestimmten Erregungsgehalt erreicht er aber gerade dadurch, dass er Figuren (Schritte in Quarten und Sexten) aufzeigt, die den vermeintlichen Erregungsgehalt nicht (oder aber in einer anderen Art und Weise) aufweisen sollen. Was Kretschmar damit vorführe, sei »… im übrigen bei vielen Musiklehrerinnen und Musiklehrern gängige und erfolgreiche Lehrpraxis. Um Schülerinnen und Schüler bestimmte musikali50

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Nicht umsonst ist der Ausgangspunkt von Wittgensteins Entwicklung der Gebrauchstheorie der Bedeutung in den Philosophischen Untersuchungen das hinweisende Erklären im Sprachunterricht (vgl. Wittgenstein 1984: 19). Man könnte aber auch sagen, dass 4'33'' eben nur drei Pausen als musikalisches Material präsentiert und auf den Grund der Musik anspielt, der im Hören von Pausen auffällig wird (vgl. Kap. 2.3).

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sche Sachverhalte wahrnehmen und erkennen zu lassen, spielen sie etwas, das sie zuvor haben erklingen lassen, in einer veränderten Form vor. Dieses stellen sie also neben dasjenige, was eigentlich gehört, wahrgenommen, erkannt werden soll. Dadurch machen sie Schülerinnen und Schüler auf die Eigentümlichkeit des eigentlich zu Hörenden aufmerksam. Sie zeigen also das zu Hörende, das zu Erkennende usf. dadurch, dass sie dieses nicht spielen, sondern anderes vorspielen.« (Ebd.: 14) Was Kaiser im letzten Falle dieses Beispiels jedoch zu beschreiben scheint, ist weniger eine Modalität des Zeigens als die Bedingung der Verständigung über und des Verstehens von etwas als etwas überhaupt: die differenzielle Verweisung. So wie das Wort »Erregung(sgehalt)« seinen Sinn aus einem Gebrauch in Unterscheidung vom Gebrauch anderer Wörter erhält, so trifft das auch auf den Sekundschritt zu: Dessen (hörbarer) Sinn kann nur im Unterschied zu anderen Intervallschritten als solcher gehört werden. Um jemandem den Erregungsgehalt an einem Sekundschritt zu demonstrieren, bleibt uns gar keine andere Möglichkeit als die, etwas anderes zu präsentieren, welches gleiche, aber in den betreffenden Punkten zugleich andere Eigenschaften besitzt, um die Besonderheit einer Spannung des Sekundschritts hörbar werden zu lassen. Kaisers Beschreibung einer dritten Modalität weist damit auf etwas hin, was die Möglichkeit des (Sich-)Zeigens überhaupt betrifft und was Waldenfels wie folgt auf den Punkt bringt: »Was sich zeigt, zeigt auf anderes« (Waldenfels 2010: 92). Als wesentliche Modalitäten des Zeigens als der Möglichkeit einer Verständigung über Musik und über musikalisches Wissen lassen sich daher nur zwei festhalten: einerseits das (Auf-)etwas-Zeigen beziehungsweise die hinsichtlich des Zu-Zeigenden undefinierte Präsentation mit oder ohne sprachlichen Hinweis, andererseits das Etwas-als-etwas-Zeigen, also die hinsichtlich des Zu-Zeigenden definierte Präsentation. Die Möglichkeit beider Formen des Sich-Zeigens wird durch eine differenzielle Verweisung bedingt, die für die Bedeutung oder den Sinn des jeweils Gezeigten oder Sich-Zeigenden konstitutiv ist. Im Ausblick seines Aufsatzes zu einer Theorie musikalischer Lehre antwortet Kaiser auf die zwischendurch von mir gestellte Frage, mittels welcher Gesten auf Musik gezeigt werden kann und wodurch andererseits die Zuhörenden auf diese Zeige-Gesten eigentlich antworten, wie folgt: »Auch der Schüler zeigt: Die Rückmeldung, dass er musikalisch gelernt hat, erfolgt in Form des Zeigens. Er tut dieses dadurch, dass er zum Beispiel singt oder

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auf andere Weise musiziert.« (Kaiser 2003: 15) Auch Elliott machte bereits darauf aufmerksam, dass der Erfolg der Vermittlung musikalischen Wissens sich nicht daran bemessen muss, was jemand über Musik zu sagen hat, sondern, dass er oder sie Entsprechendes irgendwie vorführen kann. Singen oder Musizieren belegen jeweils hinreichend, dass er oder sie das Gezeigte jeweils wiedererkannt hat und die Fähigkeit besitzt, den betreffenden musikalischen Sinn zu stiften. Mittelbare Formen der Rückmeldung des Zeigeerfolges wie beispielsweise das Benennen- oder Zeichnenkönnen einer musikalischen Form erweisen sich dagegen als anfälliger gegenüber Zufallstreffern. Womit musikalisches Wissen gezeigt wird, ist damit implizit verraten: Auf Musik kann man nicht mit dem Finger zeigen wie auf das Bild – höchstens mit einem Finger, der auf seine eigene Spitze verwiese. Mit anderen Worten sind die Gesten, mittels derer musikalisches Wissen kommunizierbar wird, solche, die an sich selbst präsentieren, was gemeint ist: Singen, Vorspielen, Tanzen etc. Damit ist angesprochen, wodurch musikalische Zeichen überhaupt interpretierbar werden, nämlich, indem sie etwas als Musik hörbar machen – und nicht, indem sich ihre Bedeutung oder ihr Sinn explizit angeben lassen. Wer diesbezüglich an der Legitimität der Bezeichnung von Tönen, Rhythmen, Melodien etc. als Zeichen zweifelt, unterstellt in aller Regel, dass Zeichen notwendigerweise eine Repräsentationsbeziehung erfüllen müssten, um als solche verständlich zu werden. Man vergisst dabei, dass jedem Sagenkönnen, jeder Explikation der Bedeutung eines Zeichens ein Zeigen vorausgehen muss. Luckner hat dies klar zusammengefasst: »Der Umstand, dass musikalische (wie überhaupt ästhetische) Zeichen notwendiger Weise für sich selbst stehen, bevor sie auch noch evtl. für etwas anders stehen, kann eigentlich nur für denjenigen irritierend sein, der (was allerdings weit verbreitet ist) davon ausgeht, dass Zeichen für etwas anderes als sie selber stehen müssen und dann, sozusagen als eine zusätzliche Option, auch noch auf sich selber verweisen könnten […]. Das erste Zeigen überhaupt ist das Herzeigen, das Vorführen, das Präsentieren seiner selbst und seiner Eigenschaften, nicht das Repräsentieren (das Stehen-für-Anderes). […] Der Grund dafür, dass ein Zeichen überhaupt auf etwas anderes als es selbst verweisen kann, liegt darin, dass es zunächst und dass es zunächst einmal überhaupt verweist und das tut es primär in diesem Sinne des Sich-Zeigens als Exemplifikation seiner Eigenschaften.« (Luckner 2012: 66; Herv. i.O.)

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Singen, Vorspielen oder Tanzen exemplifizieren die Eigenschaften, die sie besitzen, allerdings nicht unvermittelt. Auch das Herzeigen ist keine unmittelbare Wesensschau. Es setzt eine erlernte kulturelle Vertrautheit mit diesen Zeigepraktiken voraus, um sie als solche überhaupt wahrnehmen zu können. An diesen Zeigepraktiken als Mitteln der Kommunikation über Musik und musikalisches Wissen lässt sich wiederum lernen, wie der Übergang vom Zeigen zum Sagen, der Präsentation von Musik zum Sprechen über Musik möglich ist. Indem das Zeigen wiederholt mit wortsprachlichen Hinweisen und Benennungsakten verbunden wird, bildet sich eine sprachliche Verweisungsstruktur auf Musik aus, ein musikalisches Sprachspiel, das unter dem Einfluss von Regeln jeweiliger Kulturen und dominanter Diskurse steht. Sie bestimmen wesentlich mit, womit gezeigt werden kann. Dies lässt auch eine Erklärung vermuten, weshalb sich im Streit über die affektive Dimension musikalischen Wissens innerhalb bestimmter sozialer Gruppen intersubjektive Einigungen erzielen lassen.52 Eines dominanten Diskurses des Sprechens über Musik wird man in der weit verbreiteten Vorstellung gewahr, dass sich der Versuch der sprachlichen Reflexion von Musik im Sprachduktus von Musikwissenschaftlern niederschlagen müsse. So wird beim Sprechen über Musik respektive im Übergang von Wissen durch Musik zum sprachlichen Wissen über Musik häufig ein »strukturelles«, »eigentliches«, am Vokabular musikanalytischer Begriffe geschultes Sprechen von einem metaphorischen, uneigentlichen Sprechen unterschieden. Dabei wäre zu bemerken, dass selbst die Rede von Tonhöhen als metaphorisch zu bezeichnen wäre, da diese räumliche Vorstellung von Tönen erst ihren Sinn in Bezug auf die notationelle, also bildliche Darstellung von Musik gewinnt und sich dieses Sprechen einer Gebrauchspraxis verdankt, die Partituren oder zumindest eine Notenschrift als selbstverständliches Mittel in der Kommunikation über Musik betrachtet.

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Nicht ohne Weiteres lässt sich daher Beckers und Vogels Behauptung zustimmen, dass die »Disposition von Hörern, auf Musikstücke mit bestimmen Assoziationen zu reagieren, eher etwas über die phylo- oder ontogenetische Geschichte der Hörer als über die Musik« aussagt, weil es »für die Bedingung zwischen musikalischen Stimuli und Assoziationen keine in M [der jeweiligen Musik] verankerten Restriktionen« (Becker/Vogel 2007: 18) gibt. Solche Restriktionen scheint es vielmehr gerade deswegen zu geben, weil die Beziehung zwischen musikalischen Stimuli und Assoziationen in Sozialisationsprozessen eingeübt werden, die bestimmte Normen dieser Bezugsetzung (re-)produzieren und ritualisieren (implizit dazu Kaiser 1991).

Zum Transformationsgegenstand musikalischer Bildungsprozesse

Weil auch die musikanalytischen Vokabeln metaphorische Züge aufweisen, wird vielfach geschlossen, dass über Musik überhaupt nur metaphorisch gesprochen werden könne. Mir scheint das aber ebenfalls irreführend zu sein, insofern auch dies noch immer suggerieren könnte, es gebe ein eigentliches Sprechen über Musik, auf dessen Suche man sich nur begeben müsse. Stattdessen ist Simone Mahrenholz darin zuzustimmen, dass selbst die besten Begründungen eines bestimmten Sprechens über Musik nie ihren werbenden Charakter verlieren (vgl. Mahrenholz 2000: 219). So scheint lediglich der Grad der Konventionalisierung einer Musiksprache darüber zu entscheiden, welche als metaphorisch und welche als »rein« gilt. Daher muss auch Wellmer feststellen, dass eine »rein« musikalische Rede über Musik, auch da, wo sie mit analytischer Absicht durchgeführt wird, eine Fiktion bleibt (vgl. Wellmer 2009: 120). Für das Sprechen über Musik sowie das am Hören von Musik beteiligte Bemühen um Versprachlichung ist konstitutiv, dass es sowohl etwas an ihr treffen kann als auch immer über sie hinausgeht und damit die latente Intermedialität musikalischen Sinns und Wissens zutage fördert. Die sich, wie Wellmer das nennt, in das Hören einmischende Rede oder Sprache darf man sich dabei eben nicht als ein Erfassen der Musik in etablierten analytischen Begriffen vorstellen. So lässt sich besser verstehen, inwiefern die Wortsprache an ihrer nicht nur subjektiven Gestalt Anteil hat: »Vielleicht sollte man sich den guten Hörer als einen vorstellen, der Musik wie zum ersten mal hört und der sich deshalb aufs neue vor die Frage gestellt sieht: ›Was ist das?‹ Dann wird auch deutlich, dass die Musik erst durch die sich einmischende Rede wird, was sie ist, dass sie niemals in den Werken schon fertig da ist, sondern in der Interpretation im dreifachen Sinne der klanglichen Realisierung, des Hörens und der sprachlichen Artikulation immer wieder erst hervorgebracht wird.« (Ebd.: 120) Am Beispiel desjenigen, der bestimmte Musiken zum ersten Mal hört, kann man sich verdeutlichen, dass sich ein Sprechen über Musik nicht auf einen bestimmten Gebrauch einengen lässt, ja dass der sprachlose musikalische Sinn sogar produktiv hinsichtlich unserer sprachlichen Reflexionsbemühungen wirken kann. Dies belegt insbesondere das zunehmend in Bedrängnis geratene popjournalistische Schreiben, zu dem Felix Klopotek, Autor der Zeitschriften Spex, Konkret und Jungle World, bemerkt:

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»Schreiben über Musik ist eine kniffelige Angelegenheit, denn die Musikkritik hat es schwerer als die Literatur-, Film- oder Theaterkritik: Es gibt keine narrative Struktur, an der sie sich entlang hangeln kann. Selbst derjenige, der über einen musikwissenschaftlichen Background verfügt, greift, wenn er in der Analyse z.B. Akkordstrukturen klar benennt, auf Abstrakta zurück. Schreiben über Musik ist konfrontiert mit Klängen und Tönen, die in Worte übersetzt werden wollen. Sie ist konfrontiert mit Texten, die erst im Zusammenhang mit der Musik an sich zu ihrer Bedeutung gelangen. Und sie ist konfrontiert mit Popstars, die ihre Idiosynkrasien, ihre Allmachtsfantasien und Drogenexzesse für gewöhnlich hemmungsloser ausleben als Autoren, Stückeschreiber oder Regisseure. Kurzum, die Irritation, die der Gegenstand Musik bei den Kritikern hervorruft ist enorm.« (Klopotek 2005: 73) Irritierend und/oder produktiv erscheinen sprachliche Bezugnahmen auf Musik nicht nur im Kontext (pop)musikjournalistischen Schreibens, sondern schon im alltäglichen Versuch, musikalisch-ästhetische Wahrnehmungsurteile zu begründen. Christian Rolle hat dies unter dem Stichwort »ästhetisches Argumentieren/ästhetischer Streit« für den Musikunterricht bedacht und kenntlich gemacht, dass die sprachliche Verständigung davon abhängt, inwieweit man sich auf bestimmte musikbezogene Sprachspiele einigen kann (vgl. Rolle 2014). Das heißt, dass die Regeln, anhand derer sprachlich auf etwas gezeigt werden kann, in Streitfällen neu ausgehandelt werden müssen. Dies setzt wiederum voraus, dass die Teilnehmer einer solchen Diskussion über ein geteiltes musikalisches Wissen verfügen, damit sich das, worauf gezeigt wird, überhaupt als Musik zeigen kann und damit als etwas, das an sich selbst die Eigenschaften exemplifiziert, die es als Musik besitzt. Aus diesem Kreis von Sagen und Zeigen scheint es in der Kommunikation über Musik keinen Ausweg zu geben. Durch die notwendige Verwiesenheit auf ein Sich-Zeigendes schließt sich dieser Kreis aber niemals in den verbalisierbaren Bedeutungen und Bedeutsamkeiten einer Musik. So scheint es nicht abwegig und durch die bisherigen Erörterungen zum musikalischen Wissen als einem (sich) zeigend kommunizierbaren, nicht-propositionalen, affektiv dimensionierten Vollzugswissen klanglichen Sinns nachvollziehbar, »dass die Musik nicht nur im Horizont der Sprache zu Hause ist, sondern diesen Horizont beständig erweitert und sich hiermit als eine Agentin oder Pionierin der Sprache bestätigt, indem sie Bereiche der Welt [und unseres Selbst; L.B.] erschließt, die auf ihre Benennung warten« (Luckner 2012: 72).

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Musikalisches Wissen als eine Figur unseres Welt- und Selbstverhältnisses

Ich möchte in diesem Kapitel die Ergebnisse der bisherigen Überlegungen zusammenfassen und dabei auf die Bildungstheorie reflektieren, von der sie ihren Ausgang genommen haben. Weil Bildung im Anschluss an die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse als »Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses« verstanden wird, habe ich versucht, die Spezifik des Gegenstandes musikalischer Bildung durch einen Begriff musikalischen Wissens zu fassen. »Wissen« habe ich dabei allgemeiner als Oberbegriff für eine Pluralität von Wissensformen eingeführt, weil sich unser Welt- und Selbstwissen nicht auf eine Form zu wissen, gar die des propositionalen und sprachförmigen Wissens, reduzieren lässt (Kap. 3.2). Gründe für die Annahme eines praktischen musikalischen Wissens im Unterschied zu einem (und von diesem unabhängigen) propositionalen Wissen über Musik lieferten mir für den musikpädagogischen Diskurs exemplarische Überlegungen der Autoren David J. Elliott und Hermann J. Kaiser (Kap. 3.1). Eine Kritik von Kaisers Konzeption musikalischen Wissens durch Christian Rolle führte zu der Diskussion der von ihm eingebrachten Notwendigkeit einer Unterscheidung von ästhetischem und nicht-ästhetischem musikalischen Wissen (Kap. 3.3), die sich letztlich aber als nicht notwendig für eine Minimalbestimmung der musikalischen Wissensform erwiesen hat: Bezugnehmend auf Elliotts, vor allem aber Kaisers Überlegungen zu einem musikbezogenen Gebrauch der Vernunft im Medium des Klangs habe ich musikalisches Wissen charakterisiert als ein nicht-propositionales, affektiv dimensioniertes Vollzugswissen klanglichen Sinns, das sich wesentlich nur zeigend artikulieren und kommunizieren lässt. Die Frage, die sich abschließend stellt, ist, in welchem Maße musikalisches Wissen als eine eigene »Figur« unseres Welt- und Selbstverhältnisses begriffen werden kann. Koller deutet zum Begriff der Figur von Welt- und Selbstverhältnissen an, »dass die Verhältnisse, in denen Menschen zur Welt und zu sich selber stehen, als sprachlich bzw. semiotisch, d.h. zeichenförmig strukturierte (oder eben figurierte) Verhältnisse aufzufassen sind« (Koller 2012: 16). Im Hinblick auf meine Definitionsbasis musikalischen Wissens ist es entscheidend, ob sich »Figur« als ein sprachliches oder (nur) zeichenförmig strukturiertes Verhältnis verstehen lässt. Mit dieser Frage steht und fällt gewissermaßen die Anschlussmöglichkeit an die Bildungstheorie, auf deren –

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jedoch hinsichtlich musikalischer Bildungsprozesse (im engeren Sinne) modifiziertem – Fundament die bisherigen Überlegungen angestellt wurden. Etwas mehr Information zu dieser den Begriff der »Figur« betreffenden Frage gibt Kokemohr: Von einer Figur von Welt- und Selbstverhältnissen werde deshalb gesprochen, weil »Wahrnehmung nur in einer semiotisch figurierten Ordnung bewusst werden kann« (Kokemohr 2007: 28). Dies erschließt sich dahingehend, dass Wahrnehmung immer Wahrnehmung von etwas als etwas sein muss und deshalb eben nicht Wahrnehmung von nichts ist.53 Etwas wird zu etwas, weil es innerhalb einer Ordnung diese oder eine andere Gestalt gewinnt, sich so von anderem unterscheidet etc. Dies gilt auch für Musik: Sie kann nur in einer semiotisch figurierten Ordnung bewusst werden, sie zeigt sich uns hörbar nur aufgrund einer (selbstbezüglichen) Zeichenhaftigkeit beziehungsweise ihres Sinns, der sprachbezogen im Modus des Zeigens artikuliert werden kann, selbst aber nicht schon sprachlich ist. Anders gesagt ist musikalisches Wissen als anderes Wort für unser musikalisches Welt- und Selbstverhältnis »figuriert«, weil es zeichenhaft strukturiert, aber nicht notwendigerweise wortsprachlich repräsentiert.54 Deshalb ist es – bezogen auf das Verständnis von Figuren von Welt- und Selbstverhältnissen bei Kokemohr und Koller – sinnvoll, von einer eigenen, nämlich musikalischen Figur unseres Welt- und Selbstverhältnisses als dem Transformationsgegenstand musikalischer Bildung zu sprechen. Kokemohr und Koller weisen weiter darauf hin, dass die Entwürfe von Welt- und Selbst nicht nur aufgrund ihrer Zeichenförmigkeit in einer Form, sondern zugleich immer in einer narrativen Struktur und in diesem Sinn in Form einer »Figur« erscheinen (vgl. Kokemohr 2007; Koller 2012: 43f.). Ich werde diesen Punkt im folgenden Kapitel genauer unter die Lupe nehmen, nämlich bezüglich der Frage, wie musikalische Bildungsprozesse empirisch untersucht werden können und inwiefern den Gegenstand dieser Untersuchungen eine Form der Narrativität charakterisiert.

53 54

Das entspricht der These der Intentionalität von Husserl (vgl. Kap. 2.3). Dietrich und Mollenhauer sprechen daher beispielsweise von »ästhetischen Figurationen« (vgl. Dietrich/Mollenhauer 1997: 698ff.), behaupten damit aber eine Sprachanalogie musikalischer Äußerung, die ich aus Gründen der nicht notwendigen Referenzialität von Musik bezweifeln würde.

Kapitel 4: Zusammenfassung und Ausblick Von der Theorie zur Empirie

Dieses Kapitel dient zugleich als Fazit und als Ausblick. Zuerst werde ich die Ergebnisse der Teilstudien kurz zusammenfassen (Kap. 4.1). Dann führe ich überblicksartig in die musikpädagogische Biographieforschung ein, um dabei Fragen zu sammeln, mit denen sich eine bildungstheoretisch orientierte musikbezogene Biographieforschung in methodologischer Perspektive auseinanderzusetzen hätte, so wie sie im Anschluss an die in dieser Arbeit entwickelte Theorie transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse weiter ausgearbeitet werden kann (Kap. 4.2). Ich skizziere sie hinsichtlich ihres Gegenstands, ihres Erkenntnisinteresses sowie methodischer Implikationen (Kap. 4.3).

4.1

Zur Theorie transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse

In den zwei vorangegangenen Teilstudien habe ich eine Theorie transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse bezüglich der Fragen ausgearbeitet, wodurch solche Prozesse ausgelöst werden (Kap. 2) und was in einem engeren Sinne als Gegenstand der Transformation betrachtet werden muss (Kap. 3). Die Ergebnisse beider Teilstudien lassen sich in einer These verdichten: Transformatorische musikalische Bildung ist durch die bisherigen Überlegungen (a) als der Prozess der Transformation musikalischen Wissens zu verstehen, der (b) durch musikalische Schlüsselereignisse ausgelöst wird und in dessen Verlauf (c) ein neues musikalisches Wissen erfunden wird, das sich (d) in einem musikbezogenen Welt- und Selbstverhältnis relativer Stabilität mindestens zeigend artikuliert. Insbesondere auf die Begründung der Möglichkeit dieser relativen Stabilität musikbezogener Welt- und Selbstverhältnisse werde ich im folgenden Teilkapitel 4.2.1 genauer eingehen.

140

Musikalische Bildung als Transformationsprozess

Den Begriff Bildung habe ich zunächst im Anschluss an die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse als »Prozess der Transformation grundlegender Figuren von Welt- und Selbstverhältnissen« (Koller 2012: 17) verstanden und damit als einen Prozess, in dem sprachlich artikulationsfähige Weltund Selbstverhältnisse dauerhaft umgestaltet oder genauer »umgelernt« werden (vgl. Kap. 1). Sodann habe ich musikalische Bildungsprozesse als Prozesse der Transformation musikalischer Welt- und Selbstverhältnisse konzipiert und begründet. Zur Beschreibung der musikalischen Welt- und Selbstverhältnisse als Gegenstand transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse habe ich den Begriff des musikalischen Wissens eingeführt (vgl. Kap. 3) und als nicht-propositionales, affektiv dimensioniertes Vollzugswissen klanglichen Sinns erörtert: Musikalisches Wissen lässt sich als ein Vollzugswissen verstehen, wie etwas im Medium des Klangs gehört und/oder gespielt werden kann; als ein Wissen, wie musikalischer Sinn gestiftet oder wie musikalische Differenz vollzogen werden kann. Der Vollzug musikalischer Differenz stellt die Bedingung der Möglichkeit musikalischer Erfahrung dar, die ich am Beispiel von Konzerten als musikalischen Geschehen aufgewiesen habe (vgl. Kap. 2.3.2). Weil musikalisches Wissen immer auch eine an die musikalische Sinngebung gebundene affektive Dimension beinhaltet, habe ich vorgeschlagen, es zu paraphrasieren als ein Wissen, wie es ist, zu sein, wenn ein (bestimmter) musikalischer Sinn gestiftet, etwas als Musik gehört und/oder gespielt wird. Als eine eigene Form nicht-propositionalen Wissens ist das musikalische Wissen zu verstehen, weil es sich dem Wissenssubjekt nicht in Form von Elementen der Sprache, sondern in Form von klanglichen Strukturen respektive musikalischem Sinn präsentiert. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass musikalisches Wissen auch sprachlich artikuliert werden kann, sondern, dass es (a) unmittelbar diskursiv übersetzt oder gesagt werden kann, (b) über etwas informieren muss, was sich auch sprachlich (oder bildlich) ausdrücken ließe, und (c), dass mit ihm eine Kompetenz des Darüber-sprechen-Könnens korrespondiert. Die Kommunikation über musikalisches Wissen muss sich in zeigenden (deiktischen) Sprachhandlungen realisieren. Wird transformatorische musikalische Bildung als Prozess der Transformation musikalischen Wissens verstanden, dann bedeutet dies, dass dieses affektiv dimensionierte musikalische Vollzugswissen in einer Weise umgelernt wird, dass aus diesem Prozess ein neues musikalisches Wissen hervorgeht. Was sich dabei verändert, ist ein durch dieses Wissen vermittelter, nicht substituierbarer Welt- und Selbstbezug.

Von der Theorie zur Empirie

Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit Christian Rolles Überlegungen zum Auslöser musikalischer Bildungsprozesse und in Anknüpfung an Jürgen Vogts bildungstheoretische Überlegungen wurde die Erfahrung eines Musikalisch-Fremden als eine notwendige Bedingung dafür erläutert, dass transformatorische musikalische Bildungsprozesse in Gang kommen. Gemeint ist die Erfahrung von etwas, was sich aufgrund des subjektiv zur Verfügung stehenden musikalischen Wissens nicht vollständig als bekannte, gewohnte oder eigene Musik antizipieren lässt. Sie ist damit die Voraussetzung dafür, dass ein bestehendes musikalisches Wissen überhaupt als problematisch oder überarbeitungswürdig erkannt werden kann. Die Erfahrung eines Musikalisch-Fremden allein reicht aber nicht hin, um einen musikalischen Bildungsprozess auszulösen. So können auch Formen der Traumatisierung oder der Bestätigung bekannten musikalischen Wissens die Folge der Erfahrung von Musikalisch-Fremdem sein. Um von einem musikalischen Bildungsprozess sprechen zu können, dessen Ergebnis die »Erfindung« eines neuen musikalischen Wissens ist, muss der entsprechende Umgang mit musikalischen Fremderfahrungen mitbedacht werden. Deshalb wurde weiter argumentiert, dass sich die musikalische Fremderfahrung nur zusammengenommen mit der Bedingung ihrer kreativen Beantwortung als hinreichend für das Zustandekommen von transformatorischen Bildungsprozessen beschreiben lässt (vgl. Kap. 2.2). Unter einer kreativen Antwort wurde diejenige Erfahrung von Musikalisch-Fremdem verstanden, durch die »nicht bloß ein bereits existierender Sinn wiedergeben, weitergeben oder vervollständigt wird, sondern Sinn […] im Gegenteil im Antworten selbst entsteht« (Waldenfels 2013: 53). Die kreative Antwort bezeichnet daher nichts anderes als denjenigen Umgang mit einer musikalischen Fremderfahrung, durch den ein neues musikalisches Wissen beim Machen und/oder Hören von Musik erfunden wird. Diese Erfindung wurde als »unmögliche Erfindung« angesprochen, insofern sie sich nicht durch willentliche oder dispositionale Möglichkeiten eines Subjekts erklären lässt (vgl. Kap. 2.2.1). Für die notwendigen, zusammengenommen hinreichenden Merkmale des Auslösers musikalischer Bildungsprozesse wurde, wie schon bei Jürgen Vogt, der Begriff des musikalischen Schlüsselereignisses gewählt. Er stellt eine Kurzform für die Merkmale (a) der musikalischen Fremderfahrung und (b) der kreativen Antwort dar. Konzerte, so das Beispiel dieser Studie, können dann und nur dann zum Auslöser transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse werden, wenn sie als musikalische Schlüsselereignisse erfahren werden. Dabei ist weiter vorausgesetzt, dass sie überhaupt als

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Musikalische Bildung als Transformationsprozess

musikalische Geschehen erfahren werden (Kap. 2.4). Wie und wodurch zum Beispiel Konzerte als musikalische Geschehen erfahren werden können, wurde in einer phänomenologischen Untersuchung des komplexen musikalischen Differenzvollzuges beschrieben: Dieser besteht kurz gesagt darin, dass im Hören (Unter-)Scheidungen angewendet werden, durch die Klänge als Töne, Rhythmen etc. vernehmbar werden. Dass dieser Differenzvollzug nie nur auf das Hören beschränkt ist, sondern insbesondere im Phänomen des Rhythmus die Sinneswahrnehmungen durchkreuzt, sorgt dafür, dass sich Konzerte als musikalisches Geschehen sowohl hör- als auch sichtbar ereignen können (Kap. 2.3). Lässt sich der Auslöser musikalischer Bildungsprozesse nur als musikalische Fremderfahrung aus der Perspektive ihrer kreativen Beantwortung verstehen, so ist damit einerseits angezeigt, dass er nur retrospektiv als Auslöser bestimmt werden kann. Dies geschieht dann, wenn der Prozess transformatorischer Bildung durch die Integration des neuen musikalischen Wissens in eine kohärente Vorstellung von Selbst und Welt zu einem vorläufigen Abschluss kommt, jemand also ein musikalisches Welt- und Selbstverhältnis gewonnen hat, welches sich (a) mindestens zeigend artikulieren lässt und von dem der- oder diejenige (b) mindestens weiß, dass er oder sie im Besitz dessen ist. Dieses Welt- und Selbstverhältnis ist vermittelt durch eine Erzählung von Selbst beziehungsweise Identität, was ich anhand einer Untersuchung des Begriffs musikbezogener Biographie im folgenden Ausblickskapitel (Kap. 4.3.1) zu plausibilisieren versuche. Weil musikalische Schlüsselereignisse nur nachträglich als Auslöser musikalischer Bildungsprozesse bestimmt werden können und ihre Initiation nicht auf die Tätigkeit eines Subjekts oder einer anderen Instanz zurückzuführen ist, führte Kap. 2.5 zu dem Schluss, dass transformatorische Bildungsprozesse nicht im Sinne einer intentionalen Handlung »ermöglicht«, wohl aber begleitet werden können. Um den eigentlich deskriptiven Begriff transformatorischer Bildung sinnvoll als Zieldimension von Musikunterricht zu betrachten, müsste dieser jedoch normativ modifiziert werden, was in dieser Arbeit nicht weiterverfolgt, sondern als Forschungsdesiderat aufgezeigt wurde. Bevor ich skizziere, unter welchen Bedingungen sich musikpädagogische empirische Forschung und genauer die sogenannte Biographieforschung an dieser Theorie orientieren kann, versuche ich durch einen Überblick vergangener Studien zu umreißen, was musikpädagogische Biographieforschung bisher bedeutet hat und bedeuten kann. Dabei skizziere ich einige grundle-

Von der Theorie zur Empirie

gende Fragen und Probleme, die sowohl zur Weiterentwicklung qualitativer Forschungsmethodik Anstoß geben als auch im Zuge der zukünftigen Ausarbeitung einer bildungstheoretisch orientierten musikbezogenen Biographieforschung als eigenständiges musikpädagogisches Forschungsprofil zu bearbeiten wären.

4.2

Empirische musikpädagogische Biographieforschung

Die deutschsprachige Musikpädagogik kann auf eine Vielzahl biographischer Forschungen zurückblicken. Dies scheint gegenwärtig und im Vergleich zur Dominanz der Unterrichts- und Professionsforschung eher in den Hintergrund geraten zu sein. Verblüffend ist das insofern, als sich der qualitativempirische Forschungsansatz überhaupt erst durch das Interesse an Biographien in der musikpädagogischen Forschung etablieren konnte (vgl. Niessen 2018: 429).1 Hans Günter Bastian nennt in seinem frühen Plädoyer für die musikpädagogische Biographieforschung Karl Graml als ihren Pionier (vgl. Bastian 1991: 210): Graml sammelte von 1966 bis einschließlich 1984 insgesamt 600 musikbezogene Erlebnisberichte – »musikalische Lebensläufe« – und wertete diese mit Mitarbeitern in Hinblick auf die Erfahrungen mit Musik im Kindes- und Jugendalter in der Erinnerung Erwachsener (Graml 1985) aus. Galt sein anfängliches Interesse der Frage, wie Menschen zu der Überzeugung gelangen, unmusikalisch zu sein, untersuchte er schließlich allgemeiner die Entwicklung von Einstellungen zu Musik und Musikunterricht 2 . Wurden daher anfänglich Seminarteilnehmer gebeten, Erlebnisberichte »Unmusikalischer« im Bekanntenkreis einzuholen, ließ Graml später Studierende seiner musikdidaktischen Einführungskurse ihre musikalischen Erfahrungen aufschreiben (vgl. ebd.: 119f.). Ausgewertet wurden die Berichte oder Erzählungen einzelner Fälle subsumptionslogisch: Ein spezielles Kategoriensystem ordnete die einzelnen Aussagen nach Ursachen für eine positive oder negative Einstellung zur Musik in

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Auch die musikpädagogische Professions-/Professionalisierungsforschung geht auf Biographieforschungen zurück (vgl. dazu Bailer 2009a). Zu seiner quantitativ angelegten, nicht biographisch orientierten Studie dazu vgl. Graml/Reckziegel 1982.

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Relation zu bestimmten Typen musikalischen Verhaltens (Singen, Instrumentalspiel, Musikhören …) sowie Zeitphasen (Vorschulzeit, Schulzeit, Erwachsenenalter) ihrer Entstehung. So erstellte Graml Übersichtsskizzen zu den einzelnen Fällen (vgl. ebd.: 120). Bei der Auswertung fokussierte er sich insbesondere auf (positive wie negative) kritische Lebensereignisse »als solche im Leben einer Person eintretende Ereignisse, die eine mehr oder minder abrupte Veränderung in der Lebenssituation der Person mit sich bringen« (Filipp zit.n. ebd.: 123) – Ereignisse also, die sich als Schlüsselereignisse respektive als Auslöser von transformatorischen Bildungsprozessen (vgl. dazu Kap. 2.2) verstehen ließen. Graml ermittelte durch seine Studien unter anderem, wie durch das Elternhaus verursachte negative Einstellungen gegenüber Musik durch Begegnungen mit bestimmten Lehrerpersönlichkeiten gewendet werden konnten oder »Etikettierungen« als »Brummer« oder »Falschsänger« zu »unmusikalischen« Selbstverständnissen, aber nicht notwendigerweise zu einer negativen Einstellungen gegenüber dem Singen führten (vgl. Graml 1985: 124ff.). Als Ziel seiner Analysen benennt Graml, »Eltern, Lehrer und Studierende über vermeidbare Fehler [bei der Entwicklung musikalischer Fähigkeiten] informieren zu können« (vgl. ebd.: 119), wozu entsprechende Veröffentlichungen von ihm vorliegen (vgl. z.B. Graml 1971). In der Folge von und parallel zu Gramls Forschung – der Anfangsphase qualitativ-empirischer Forschung in der Musikpädagogik – entstanden weitere kleinere Arbeiten mit Biographiefokus, deren Erhebungs- und Auswertungsdesigns abhängig von ihrem jeweiligen Gegenstand eine große Varianz aufweisen. Zu nennen wären unter anderem Werner Klüppelholz’ Untersuchung Momente musikalischer Sozialisation (Klüppelholz 1980), Günter Kleinens Aufsatz »Über die Durchdringung des täglichen Lebens mit Musik« (Kleinen 1985) oder Heiner Gembris’ Biographische Untersuchungen zum Berufsalltag von Musiklehrern (Gembris 1991). Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre legt Frauke Grimmer eine umfassende Monographie zur musikpädagogischen Biographieforschung vor, 1994 dann Wolfgang Pfeiffer und 1995 Goswin Stübe. Hans Günther Bastians Biographie-Studie über musikalische (Hoch-)Begabungen widmet sich den Lebensläufen von Teilnehmern des Wettbewerbs Jugend musiziert in der Altersspanne von 11 bis 21 Jahren, die durch »Tiefeninterviews

Von der Theorie zur Empirie

mit narrativen Strukturen« erhoben und »inhaltsanalytisch«3 ausgewertet wurden (vgl. Bastian 1989). Bastian bemerkt einleitend, dass ein »wiedererwachtes Interesse an Biographieforschung« eng mit einem Unbehagen am quantitativen Forschungszugriff einherginge: »Statt komplexe Wirklichkeit in Mittelwertstabellen und Typenbildungen zu verdinglichen, lässt man sich auf die interindividuelle Heterogenität konkreter Gesellschaftsgruppen ein. Biographische Differenzierung ersetzt kollektive Generalisierung« (ebd.: 9). Mit Bezug auf die für die Erziehungswissenschaft prägenden Überlegungen zur Biographieforschung von Dieter Baacke und Theodor Schulze (vgl. Baacke/Schulze 1993) plädiert Bastian für eine musikpädagogische biographische Forschung qualitativ-hermeneutischen Zugangs. Wie schon Graml verbindet auch er mit dieser Forschung die Hoffnung, aus ihr Schlüsse für unterrichtspraktisches Handeln ziehen zu können (vgl. Bastian 1989: 9 u. 14). Frauke Grimmer untersucht in Wege und Umwege zur Musik (Grimmer 1991) die musikalischen Lernbiographien oder »Bildungsschicksale« von Musikstudierenden in der Lehrerausbildung, die »in biographisch orientierten Interviews mit narrativem Charakter über die ihnen bedeutsam erscheinenden Erfahrungen mit Musik- und Klavierlernen vor und in ihrem Studium thematisiert und dabei auch über ihre Lebensgeschichte nachgedacht« (ebd.: 21) haben. Sie stellt drei solcher Fälle in Form »biographischer Skizzen« – Zusammenfassungen dominierender Leitthemen der Befragten – exemplarisch dar. Neben fördernden und hindernden Bedingungen nimmt sie die Bildung subjektiver Bedeutungen von Musik für die Studierenden in den Blick (vgl. ebd.: Teil 1 u. 3). Wie schon Bastian hat auch Wolfgang Pfeiffer eine Skepsis gegenüber rein quantitativer Forschung zu seiner Studie zu Biografie, Alltag und berufliche Zufriedenheit von Musiklehrern an bayerischen Gymnasien (Pfeiffer 1994) veranlasst. Es erscheint ihm »beinahe trivial zu fragen, wieviele Prozent der Musiklehrer in Bayern mit ihrem Beruf zufrieden sind […]. Zum Verständnis […] des beruflichen Alltags von Musiklehrern muss man ihre Vorgeschichte kennen, man muss ihren beruflichen Werdegang erfahren, Höhe- und Tiefpunkte ihres Lehrerdaseins erfragen.« (Ebd.: 5)

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Bastian bezieht sich nicht direkt auf Mayrings Qualitative Inhaltsanalyse oder einen bekannten methodischen Ansatz.

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Pfeiffer befragt Musiklehrende mithilfe problemzentrierter Interviews und Fragebögen, wobei letztere auch einer statistischen Auswertung zugrunde lagen. Die eigentümliche Vermischung von quantitativem und qualitativem Ansatz führt im Kapitel zu den Berufsbiographien insgesamt dazu, dass die kaum interpretierten Äußerungen zwar eine Fülle an Material bieten (vgl. ebd.: Kap. 10), ihr Erkenntniswert aber hinter der Aussagekraft der Häufigkeitstabellen zurücksteht. Auffällig ist in den Arbeiten von Bastian, Grimmer und Pfeiffer, dass in ihnen »Schlüsselerlebnisse« eine prominente Rolle spielen. Bastian erfuhr jedoch auf die direkte Frage nach Schlüsselerlebnissen eher stirnrunzelnde Reaktionen und folgerte daraus, dass »Damaskuserlebnisse, die den ›geborenen‹ Künstler auf den Weg bringen, […] eher aus[bleiben]. Fixpunkte, in denen der musikalische Funke zündete, ein bestimmtes Musikwerk, das zum absoluten Auslöser und Weichensteller für eine musikalische Karriere wurde, ein spezifischer biographischer Moment lassen sich nur zum geringeren Teil markieren.« (Bastian 1989: 71) Anders stellt sich das in Frauke Grimmers Studie dar. Schlüsselerlebnisse, von ihr verstanden als »Situationen und Inhalte des Erlebens, die erschließen helfen, warum die Bedeutsamkeit eines Gegenstandsbezuges entstanden ist« (Grimmer 1991: 143), findet sie in den Erzählungen der Klavierstudierenden in Form der »Identifikation mit musizierenden Menschen in der unmittelbaren Umgebung« wie in der »Faszination und Herausforderung durch Musik, Instrument und eigene Fähigkeiten« (vgl. ebd.: Kap. 4.5.1). Pfeiffer wiederum stellte, obwohl er nicht explizit nach Schlüsselerlebnissen gefragt hatte, fest, dass »einige Musiklehrer von Erfahrungen [berichteten], in diesem Falle meist von Musikstücken, die Auslöser für eine musikalische Laufbahn dargestellt haben« (Pfeiffer 1994: 168). Deutlich wird so zumindest bei Pfeiffer und Grimmer, dass solche Schlüsselerlebnisse zentrale Momente in Biographien darzustellen scheinen. Da sie gerade in der Untersuchung von transformatorischen Bildungsprozessen eine wichtige Rolle spielen dürften, komme ich an späterer Stelle auf sie zurück. Auf den durch die Arbeiten von Bastian, Grimmer und Pfeiffer angeregten biographischen Forschungstrend reagierte 1996 der Arbeitskreis für Musikpädagogische Forschung (AMPF), indem er ihm eine Tagung widmete, deren Beiträge im Band Musikpädagogische Biographieforschung (Krämer 1997) veröffentlicht sind. »Daß der biographischen Forschung heute besondere Aufmerksamkeit zukommt«, so der Herausgeber Rudolf Dieter Krämer, sei »auf

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verstärkte Bemühungen um das Verstehen lebensweltlich und geschichtlich biographischer Prozesse im Rahmen neuerer entwicklungspsychologischer und sozialisationstheoretischer Theorien, der Hinwendung zum Subjekt sowie der Einführung qualitativer Verfahren der Datengewinnung zurückzuführen.« (Ebd.: 10) Empirische Biographieforschung versteht Krämer nahezu gleichbedeutend mit qualitativer Forschung (vgl. ebd.: 13); so ist vielfach einfach von der »biographischen Methode« die Rede. Dies weist auf den Ursprung qualitativer Sozialforschung aus der (musik-)pädagogischen Biographieforschung hin. Die qualitativ-empirische Biographieforschung scheint sich um die Jahrtausendwende endgültig in der Musikpädagogik etabliert zu haben. Im Vergleich zu den früheren Arbeiten, in denen die Darstellung der Forschungsmethodik recht knapp ausfällt, nimmt diese in den späteren Arbeiten im Umfang deutlich zu. Seit den 2000er Jahren wird tendenziell der theoriegenerierende »Forschungsstil« der sogenannten Grounded Theory (vgl. u.a. Hansmann 2001; Niessen 2006; Roterberg 2016) bevorzugt. Zentrales Erhebungsinstrument bleibt nach wie vor das narrative, auch »biographische« Interview mit unterschiedlichen Freiheits- oder Offenheitsgraden gegenüber den Erzählungen der Befragten. Thematisch treten Selbst- oder Individualkonzepte von Lehrenden in den Vordergrund. Auf diesem Wege entsteht die musikpädagogische »Professionsforschung«, die inzwischen einen Großteil musikpädagogischer empirischer Forschungen bestimmt (vgl. Niessen/Knigge 2018: 454). Während sich viele musikpädagogische Arbeiten zur Biographieforschung seit den 1990er Jahren bis heute an sozialisationstheoretischen/soziologischen Perspektiven (vgl. u.a. Pape 1997; Bailer 2009b; Heyer 2016) orientieren, schließt Frauke Grimmer in ihrer Biografiestudie mit Lehrerinnen und Lehrern in den Neuen Bundesländern an die bildungstheoretische Perspektive Winfried Marotzkis an (Grimmer 1999). Von einer expliziten Orientierung an einer musikalischen oder musikbezogenen bildungstheoretischen Perspektive in der musikpädagogischen Biographieforschung lässt sich bis heute jedoch nicht sprechen. Von diesem kursorischen Einblick in die bisherige musikpädagogische Biographieforschung ausgehend, möchte ich vier Fragen und Problemstellungen formulieren, die nicht nur einer Weiterentwicklung musikpädagogischer Biographieforschung dienen könnten, sondern vor allem bei dem Versuch einer Orientierung dieser Forschung an einer bildungstheoretischen Perspektive zu bedenken wären.

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»Biographie«? Zu allererst lässt sich feststellen, dass der Begriff der Biographie in den bisherigen Schriften zur musikpädagogischen Biographieforschung in einer Vielzahl von Bedeutungen gebraucht wird, zugleich aber seltsam unreflektiert geblieben ist. Krämer beispielsweise spricht Biographien an als »lebenslange Entwicklungs- und Bildungsverläufe«, bei denen Momente der »Identitätsfindung, Krisenereignisse und -bewältigung« (Krämer 1997: 240) eine Rolle spielen können – was die Orientierung an einer bildungstheoretischen Perspektive nahelegen würde. In vielen anderen Arbeiten wird Biographie als Lebenslauf und als Lebensgeschichte verstanden, wobei man sagen müsste, dass zwischen einem (Ver-)Lauf und einer Geschichte doch erhebliche Unterschiede bestehen. Wörtlich übersetzt bedeutet Biographie die (mündliche oder schriftliche) Beschreibung (abgeleitet von gr. graphos, »Schreiber« und/oder gr. graphein, »schreiben«) eines Lebens (von gr. bios). In diesem Sinne ist eine Biographie zunächst einmal »ein Text, der eine Lebensgeschichte erzählt« (Schulze 2006: 37; Herv. L.B.). Bezüglich dieses Textes lässt sich die Frage stellen, wie sich die Erzählung der Geschichte eines Lebens zum erzählten Leben selbst verhält. Sie stellt sich vor allem im Kontext empirischer Biographieforschung, da es diese in der Regel mit autobiographischen Texten zu tun hat, also mit Erzählungen von Lebensgeschichten, bei denen der Erzähler mit dem Anspruch auftritt, mit dem Protagonisten der Geschichte identisch zu sein und wahrhaftig von sich selbst zu erzählen. Ein unmittelbares Abbildungsverhältnis kann zwischen der Erzählung und dem erfahrenen Leben aber schon deshalb nicht bestehen, weil jede Erzählung der Lebensgeschichte zur Erfahrung des Lebens selbst in zeitlicher Distanz steht und Teile dieser Erfahrung einer Selektion und/oder dem Vergessen anheimfallen, so dass sich Erzählende bei ihren Erzählungen über das eigene Leben auch irren können – und somit alternative Erzählungen zumindest möglich sind. Zweitens wäre davon auszugehen, dass die jeweilige Erzählsituation die Erzählung beeinflusst, da die Erzählenden beispielsweise darauf achten könnten, in ihren Erzählungen ein sozial erwünschtes Bild von sich zu vermitteln. Drittens sind Erzählungen immer auch von kulturell formierten Logiken oder Figuren des Erzählens (Spannungsbögen, HappyEnds etc.) präfiguriert, die nicht unbedingt der Logik des erfahrenen Lebens entsprechen müssen. Keiner dieser Gründe aber spricht wiederum für die Annahme, man würde in seinen Lebensgeschichten über etwas ganz anderes

Von der Theorie zur Empirie

als vom eigenen Leben sprechen können. Denn wovon sollte dann die Rede sein? Wenn Biographien in musikpädagogischer Forschung jedoch ihr Interesse der Vorstellung verdanken, dass es durch sie etwas über die Menschen, ihre Leben und insbesondere ihre Lernprozesse zu erfahren gibt, dann wäre das Verhältnis von personaler Identität und Biographie zu reflektieren. Ich werde einen möglichen Weg des Nachdenkens darüber im folgenden Kapitel, bezogen auf das Konzept narrativer Identität, erläutern. Musikbezogene Biographieforschung? Was nicht nur die musikpädagogische Biographieforschung, sondern die qualitative Forschung insgesamt nach wie vor betrifft, ist eine Form der »Musikvergessenheit«. Gemeint ist, dass die Erhebungs-, Auswertungs- oder Darstellungsmethoden dieser Forschungen in den meisten Fällen nicht unter Berücksichtigung der spezifischen Eigenlogik musikalischer »Gegenstände« entwickelt wurden. Diesen Eindruck bestätigend, schreibt Elias Zill in seiner Untersuchung Den eignen Ohren folgen. Musikalisch-ästhetische Erfahrungen im Kontext produktionsorientierter Schulprojekte, »dass in der qualitativen Forschung vorrangig textuelle Dokumente zum Gegenstand von Dokumentenanalysen gemacht werden. Zwar werden zunehmend Analyseverfahren für visuelle Daten (etwa Fotos) entwickelt, allerdings sind Musikstücke bisher nie Gegenstand methodologischer Reflexionen innerhalb der qualitativen Sozialforschung gewesen.« (Zill 2016:142) Für die methodologische Reflexion qualitativer Sozialforschung ist der Befund, dass Musikstücke oder auch musikalische Praktiken nicht zum Gegenstand gemacht werden, nicht unbedingt problematisch, für die qualitative Empirie in der Musikpädagogik allerdings schon. Wenn der kleinste Nenner musikpädagogischer Forschung trotz unterschiedlichster Theorieanknüpfungen in der Untersuchung musikbezogener Lehr- und/oder Lernprozesse besteht oder bestehen soll, dann wäre den Eigenarten dieses spezifischen Lehrens und Lernens Rechnung zu tragen. Die Erhebung allein diskursiver oder wortsprachlicher Daten wirft dabei zumindest die Frage nach der Angemessenheit des methodischen Bezugs musikpädagogischer Forschung auf einen Gegenstand auf, der, wie im vorherigen Kapitel erörtert, zwar sprachlich artikuliert werden kann, aber nicht in Form von Sätzen gewusst wird.

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Im Hinblick auf musikbezogene Biographien als Gegenstand musikpädagogischer Biographieforschung müsste daher eine Intermedialität dieser Erzählungen in den Blick geraten. Ich werde darauf im nächsten Kapitel zurückkommen. Musikpädagogische Biographieforschung? Bei einem Großteil der Biographieforschung und allgemeiner der qualitativempirischen Forschung, die sich als musikpädagogische Forschung begreift, ist zunächst gar nicht klar, welchen Kriterien sie eigentlich entspricht, um diesem Namen gerecht werden zu können. »Dass es sich«, wie Vogt bemerkt, »aufgrund der schieren Nähe zu den am Unterrichtsprozess beteiligten Personen, ohne Berücksichtigung eines normativen, philosophischen Hintergrundes, aber schon per se um musikpädagogische Forschung handelte, ist ein Anspruch, der nicht aufrecht zu erhalten ist. Dies wäre erst der Fall, wenn qualitative Forschung wieder an denjenigen (bildungs-)philosophischen Ursprung angebunden würde, dem sie methodologisch entstammt.« (Vogt 2017: 198) Mit anderen Worten genügt weder die Erforschung von Musikunterricht noch von Biographien von Musiklehrenden oder -schülern allein, um von musikpädagogischer Forschung sprechen zu können. Grundsätzlich spricht nämlich nichts dagegen, dass sich auch Historiker, Soziologen und Vertreterinnen und Vertreter anderer Disziplinen dieser Bereiche in ihrer Forschung annehmen. Erst eine bestimmte theoretische Perspektivierung scheint musikpädagogische Forschung als solche ausweisen zu können. Vogt verlangt von dieser, erstens normativ und zweitens (bildungs-)philosophisch verfasst zu sein. Während mir das erste Kriterium zu eng erscheint, kommt mir letzteres zu weit vor: Würde nur diejenige Forschung als musikpädagogische gelten können, die irgendwie normativ perspektiviert ist und zum Beispiel wünschenswerten musikalischen Lehr- und/oder Lernprozessen nachgeht, könnte man einen Großteil aktueller Forschung nicht mehr als musikpädagogische bezeichnen. Die Anbindung an eine philosophische (soziologische oder andere) Theorie reicht andererseits ebenfalls nicht aus, Forschung als musikpädagogische zu qualifizieren und sie zum Beispiel von agrarpädagogischer oder auch promenadologischer Forschung zu unterscheiden, da auch diese in ihren Fragestellungen an philosophische Theoreme angebunden sein können.

Von der Theorie zur Empirie

Ein weiches, weder hinreichendes noch besonders befriedigendes Kriterium zur Qualifizierung von auch aktuellen Forschungen als musikpädagogischen scheint mir wiederum die Orientierung an einer (philosophischen) Theorie zu sein, die ein Verständnis von musikalischen Lehr- und/oder Lernprozessen zur Verfügung stellt. Bei aller derzeitigen Grenzoffenheit musikpädagogischer Diskurse ist es wohl unstrittig geblieben, dass musikpädagogische Forschung nur abhängig von mehr oder weniger (und im besten Falle) plausiblen Vorstellungen davon, was Lernen und/oder Lehren im Umgang mit Musik bedeutet, betrieben werden kann. Wenn ich im Folgenden ein Programm einer bildungstheoretisch orientierten musikalischen Biographieforschung skizziere, dann handelt es sich dabei um ein Programm, das sich in exemplarischer Weise als musikpädagogische Form der (Biographie-)Forschung verstehen lässt, weil es eine explizite Theorie musikalischer Bildungsprozesse zur Grundlage hat. Dessen langfristige normative Perspektivierung ist nicht ausgeschlossen, bedarf aber weiterer Überlegungen, die im Rahmen dieser Arbeit nicht angestellt werden. Nutzen empirischer Biographieforschung für musikunterrichtliches Handeln? Mit der musikpädagogischen Biographieforschung wurde scheinbar gerade in ihren Anfängen die Hoffnung verbunden, Erkenntnisse für musikunterrichtliches Handeln gewinnen zu können (vgl. Kap. 4.2). Zu überlegen wäre, unter welchen Bedingungen solche Schlussfolgerungen überhaupt möglich sind und wie dabei naheliegende »Sein-Sollen-Fehlschlüsse« vermieden werden können. Grundsätzlicher geht es dabei um die Frage nach dem möglichen Nutzen empirischer Biographieforschung nicht nur für die wissenschaftliche, sondern auch die praktische Musikpädagogik. Ich will im Blick auf eine bildungstheoretisch orientierte musikalische Biographieforschung wenigstens umreißen, welche Erkenntnisse sich von ihr für die wissenschaftliche Musikpädagogik erwarten ließen. Fraglich ist, in welcher Form diese Forschung einer praktischen Musikpädagogik wirklich dienen kann und soll. Diese (offene) Frage steht am Schluss dieser Arbeit.

4.3

Skizze einer bildungstheoretisch orientierten musikbezogenen Biographieforschung

Wenn ich im Folgenden den Forschungsgegenstand, das Erkenntnisinteresse und einige methodische Folgerungen einer an der in dieser Arbeit entwickel-

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Musikalische Bildung als Transformationsprozess

ten Theorie transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse orientierten Biographieforschung beschreibe, dann lediglich in der Form eines Entwurfs. Die einzelnen Kapitel deuten jedoch bereits Perspektiven an, wie dieser weitergedacht werden kann. Ich gehe so vor, dass ich zunächst mit dem Forschungsgegenstand allgemeiner einen Begriff von Biographie und im Spezielleren dann den Begriff der musikbezogenen Biographie entwickle. Im Fokus stehen dabei Biographien als Selbst-Erzählungen oder Autobiographien. Auf diese Selbst-Erzählungen bezogen, lassen sich dann das Erkenntnisinteresse einer bildungstheoretisch orientierten Forschung und erste Überlegungen zur Datenerhebung und -auswertung formulieren.

4.3.1

Forschungsgegenstand: Musikalische Biographie

»Die Geschichte steht für den Mann. Wir meinen damit, dass wir den letztmöglichen Zugang zu dem Menschen über Geschichten von ihm haben.« (Schapp 2012: 103) Biographien sind wörtlich genommen Beschreibungen eines Lebens, Beschreibungen mit der Struktur einer Geschichte. Unter Autobiographien werden Geschichten über das jeweils eigene Leben verstanden, Geschichten, deren Autor, Erzähler und Protagonist für identisch gehalten werden. An dieses (alltagssprachliche) Verständnis von Biographien hat auch die (musik-)pädagogische Biographieforschung angeknüpft. Eine offene Frage war, in welchem Verhältnis das eigene Leben und die Geschichte über dieses Leben zueinander stehen. Wenn der ehemalige, wohl noch immer wenig bekannte Husserl-Schüler Wilhelm Schapp recht hat, ist das eigene Leben, wie auch das Leben der anderen, nicht anders als in Form von Geschichten zu haben, sind wir immer schon durch unsere Handlungen in Geschichten verstrickt (vgl. sein gleichnamiges Werk von 1953). Anders gesagt: Die lebensweltlichen Sinnzusammenhänge und die personale Identität des »Mannes« – gemeint ist der Mensch – sind nur durch und als Geschichten überhaupt zu verstehen.4 Schapp, der praktizierender Anwalt war, zeigt dies relativ knapp an einer Reihe von überwiegend juristischen Beispielen. Darunter ist das Beispiel 4

Die Metapher des Verstricktseins scheint vor allem deutlich machen zu sollen, dass uns das Leben bereits als eine Geschichte zustößt, bevor wir sie erzählen (vgl. kritisch dazu Ricœur 2007: 119).

Von der Theorie zur Empirie

eines Richters, der jemanden trifft, der ihm aus einer Strafanzeige bekannt ist. Schapp interessiert nun die Frage, in welchem Zusammenhang die Fallgeschichte des Mannes aus seiner Strafanzeige zu diesem selbst steht. Dabei muss er feststellen, dass die Begegnung des Richters mit diesem keinen unmittelbaren Zugang zu der leiblichen Präsenz des Mannes freizulegen vermag, die sich irgendwie »äußerlich« zu seiner (Fall-)Geschichte verhielte (vgl. Schapp 2012: 103f.). Vielmehr ist die Präsenz eines anderen immer schon von der Geschichte verdeckt, die wir von ihm kennen, so auch dieser Mann von derjenigen Geschichte, durch die er dem Richter überhaupt als dieser bestimmte Mann »zugeführt« wurde und durch dessen Verstrickung in eine Geschichte auch sein Gesicht, seine Handschrift etwas über ihn »sagen« oder sagen können. Entsprechend fasst Schapp zusammen: »Das Wesentliche, was wir von den Menschen kennen, scheinen ihre Geschichten und die Geschichten um sie zu sein. Durch seine Geschichte kommen wir mit einem Selbst in Berührung. Der Mensch ist nicht der Mensch von Fleisch und Blut. An seine Stelle drängt sich uns seine Geschichte auf als sein Eigentliches.« (Ebd.: 105) Es sind dabei nicht nur Menschen, sondern ebenso die Objekte der »Außenwelt« – in Schapps eigentümlicher Terminologie die »Wozudinge« –, die durch ihre Verstrickung in Handlungsgeschichten für uns sinnhaft erfahrbar werden. Wenn dem so ist, lässt sich daraus ein entscheidender, wenn auch bereits bekannter Schluss ziehen, dass nämlich der verstehende Zugang zum Menschen eben nur über Lebensgeschichten möglich ist. Das heißt, dass dieser Zugang nicht von außen oder objektiv geschieht, sondern ausgehend vom eigenen »Mitverstricktsein« (vgl. ebd.: Kap. 12) in Geschichten des/der anderen interpretativ erschlossen werden muss. Die Interpretation von Lebensgeschichten ist mit anderen Worten nicht eine unter vielen Möglichkeiten, Menschen zu verstehen, sie ist die einzig mögliche. Wenn stimmen sollte, was mit Schapp nur angedeutet werden konnte, dass nämlich unsere jeweilige Welt und auch wir selbst jeweils als Geschichte(n) zu verstehen sind, dann stellen sich drei gewichtige Fragen. Erstens ist zu fragen, welche Rolle dem Erzählen dieser Geschichte(n) zukommt, denn ohne den Akt des Erzählens ist wohl keine Geschichte – und so auch keine Lebensgeschichte oder Biographie – zu denken. Zweitens ist fraglich, wer oder was mir meine Lebensgeschichte erzählt, und drittens, wie es möglich sein kann, dass ich mich selbst als ihr Protagonist (wieder-)erkenne: Wer ist eigentlich als der Autor meiner Lebensgeschichte zu verstehen und wie ist

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es möglich, dass ich mich in einer Lebensgeschichte als meiner wiederfinden kann auch dann, wenn man (wie Heraklit) davon ausgehen kann, dass das eigene Leben einem ständigen Fluss, einer ständigen Veränderung unterliegt und ich nicht einfach derselbe bleibe. Letzteres betrifft die Frage, wie es möglich sein kann, über Welt- und Selbstverhältnisse relativer Stabilität verfügen zu können. Diese drei Fragen hat Paul Ricœur, dabei auch Bezug nehmend auf die Philosophie Wilhelm Schapps, im Konzept der narrativen Identität als Schlussfolgerung seiner groß angelegten, dreibändigen Untersuchung von Zeit und Erzählung (1983) adressiert. So lautet die Hauptthese des ersten Bandes, dass das Erzählen eine transzendentale und nicht nur eine kulturelle Bedingung der Zeiterfahrung ist, dass »die Zeit in dem Maße zur menschlichen [wird], wie sie narrativ artikuliert wird« (Ricœur 2007 : 13). Gemeint ist, dass die zufälligen, chaotischen Ereignisse eines Lebens allererst durch die reflexive, erzählende Bezugnahme eine zeitliche Ordnung (von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) und somit die Chrono-logik einer Geschichte gewinnen. Daran anknüpfend, lässt sich vom Erzählen behaupten, dass ihm die Funktion zukommt, durch die erzählte Geschichte eine handelnde Einheit zu stiften, die »ich« bin, indem ich mich erzähle. Diese Überlegung bezüglich des Problems personaler Identität findet in Ricœurs Philosophie ihren Ausdruck im Begriff der narrativen Identität: »Auf die Frage ›wer?‹ antworten, heißt, wie Hannah Arendt nachdrücklich betont hat, die Geschichte eines Lebens erzählen. Die erzählte Geschichte gibt das Wer der Handlung an. Die Identität des Wer ist also selbst bloß eine ›narrative Identität.‹« (Ricœur 1999 : 395) Anders formuliert muss personale Identität als eine reflexive und damit nachträgliche/retrospektive Bewegung der Selbstauslegung verstanden werden, die, und dazu komme ich noch als Antwort auf die Frage nach der Autorschaft, nicht von mir alleine abhängig sein kann. Ricœur versucht mit diesem Konzept zunächst, zwei problematischen Auffassungen von Identität zu entgehen. Einerseits der Vorstellung, »Identität« lasse sich auf eine Selbigkeit der Selbstauffassungen reduzieren (abgeleitet von lat. idem) oder setze die Annahme eines invarianten Personkerns voraus. Mit ihr stellt sich die Frage, wie die diachronen und synchronen Vielheiten des Selbstseins (meine Entwicklung/Veränderung und Rollen) zu erklären wären (vgl. ebd.: 396). Wenn man wiederum andererseits die Vorstellung eines substanziellen Selbstkerns verwirft und den Begriff der Identität stattdessen als »reine Vielfalt von Kognitionen, Emotionen und Volitionen« (ebd.) entwirft, bleibt offen, wie es trotz dieser Vielfalt bewusster Zustände jeman-

Von der Theorie zur Empirie

den zu geben scheint, der sich als ihre kohärente und/oder kontinuierliche Einheit erfahren kann – jemanden, der, wie ich es zuvor formuliert habe, Welt- und Selbstverhältnisse relativer Stabilität besitzen kann. Einen Ausweg aus diesem Dilemma sieht Ricœur darin, Identität von der Selbstheit (abgeleitet von lat. ipse) her zu denken und die Erzählung als Einheitsfunktion der veränderlichen Selbstauffassung zu begreifen: »Die Ipseität [die Identitätsauffassung von Identität als Selbstheit] entgeht dem Dilemma [s.o.] […] insofern, als ihre Identität auf einer Temporalstruktur beruht, die dem Modell einer dynamischen Identität entspricht, wie sie der poetischen Komposition eines narrativen Textes entspringt. Vom Selbst läßt sich demnach sagen, daß es durch die reflexive Anwendung der narrativen Konfigurationen refiguriert [als Figur (m)einer Geschichte erzeugt; L.B.] wird. Im Unterschied zur abstrakten Identität des Selben kann die für die Ipseität konstitutive narrative Identität auch die Veränderungen und Bewegtheit im Zusammenhang eines Lebens einbegreifen. Das Subjekt konstituiert sich in diesem Fall, wie Proust es sich wünschte, als Leser und Schreiber zugleich seines eigenen Lebens. Wie die literarische Analyse der Autobiografie bestätigt, wird die Geschichte eines Lebens unaufhörlich refiguriert durch all die wahren oder fiktiven Geschichten, die ein Subjekt über sich selbst erzählt. Diese Refiguration macht das Leben zu einem Gewebe erzählter Geschichten.« (Ebd. : 395) Das Konzept der narrativen Identität hat so den Vorteil, erklären zu können, wie eine kontinuierliche Auffassung von mir durch die Zeit möglich ist, ohne die Verschiedenheiten desjenigen, der »ich« bin und der »ich« war, leugnen zu müssen. Mit anderen Worten muss keine Identität von Erzählung und Erzähltem behauptet werden, um ein Selbst-Identisches als Hauptfigur meiner Lebensgeschichte zu erkennen, wenn dieses eben durch das Erzählen meiner Geschichte erst hergestellt wird und so Handlungen und Erfahrungen sinnhaft mit mir verbindet.5 Was die Autorschaft dieser narrativen Identität betrifft, so beinhaltet der Begriff eine wesentlich soziale Dimension, denn, so könnte man abkürzend

5

Freilich gelingt das nicht immer, denn so dynamisch die resultierenden Identitätsvorstellungen sind, so fragil sind sie zugleich. Pathologische Zustände wie sog. IchStörungen verweisen auf die Möglichkeit, dass »die personale Identität so undurchsichtig und unentzifferbar geworden ist, dass die Frage nach der personalen Identität sich in die nackte Frage flüchtet: Wer bin ich?« (Ricœur 2006: 136).

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sagen: So wenig, wie es eine Privatsprache geben kann, gibt es eine Privaterzählung. Wenn das Medium der Selbsterzählung die Sprache ist und man davon ausgehen muss, dass der Gebrauch einer Sprache sozial oder auch kulturell geregelt wird, dann ist auch die die jeweilige Selbstauffassung hervorbringende Erzählung abhängig von den sozialen beziehungsweise kulturellen Regelungen einer Sprache. Der jeweilige Erzähler wird sich nicht den Möglichkeiten entziehen können, die ihm eine Kultur in Form von Deutungsmustern und Erzählmitteln zur Verfügung stellt, wenn er die Geschichte seines Lebens erzählt – in der Terminologie Ricœurs: zu einem Text konfiguriert – und lesend bestätigt, verfestigt oder modifiziert beziehungsweise refiguriert.6 So heißt es dann bei Ricœur: »Die Ipseität ist somit diejenige eines Selbst, das seine Bildung den Werken der Kultur verdankt, die es auf sich selbst appliziert hat.« (Ricœur 1999 : 396) Damit ist jedoch nur eine Seite der sozialen Dimension des Begriffs narrativer Identität angesprochen. Die zweite betrifft die Anerkennung des erzählenden Selbst-Entwurfs durch andere als Bedingung der Bestätigung einer Identität, die in späteren Arbeiten Ricœurs (siehe dazu Ricœur 2006) zwar thematisiert wird, aber eher verschwommen bleibt.7 Ich werde darauf hinsichtlich der Sozialität musikalischer Biographie(n) zurückkommen. Die Annahmen Schapps und Ricœurs vorausgesetzt, dass (a) Welt- und Selbsterfahrungen nur in Form von Geschichten zu haben sind, dass (b) das Erzählen als jene Praxis angesehen werden muss, durch die diese Geschichten hervorgebracht werden, die (c) kulturell vermittelt und (d) durch Anerkennungsprozesse sozial bedingt sind, lässt sich den weiteren Betrachtungen ein bestimmtes Verständnis von Biographie(n) zugrunde legen: Biographien sind Geschichten eines Lebens, die als kulturell vermittelte und sozial bedingte Entwürfe von Welt und Selbst erzählend hervorgebracht werden, die – kurz gesagt – Identität narrativ artikulieren. Unter einer musikbezogenen Biographie wäre demzufolge die narrative Artikulation musikalischer Identität zu verstehen. Musikbezogene Biographien sind so verstanden (kulturell vermittelte und sozial bedingte) Erzählungen von Geschichten, durch die jemand sich selbst im Verhältnis zu Musiken entwirft. Er oder sie entwirft sich dadurch, wie er oder sie Musik weiß beziehungsweise wissen gelernt und erfahren hat. In Kapitel 2.4 habe ich darauf 6 7

Auf Ricœurs Lehre von der dreifachen mimesis, die hier anklingt, gehe ich aus Gründen der Einfachheit der Darstellung nicht ein. Diese Einschätzung teilt auch Bedorf 2010: 129.

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hingewiesen, dass es sich bei diesen Erzählungen um Selbstgründungsmythen handelt. Damit ist zweierlei angesprochen: Einerseits, dass die musikalischen Selbst-Erzählungen keinen absoluten Anfang vorweisen können, insofern sich hinter das so oder anders musikalische Gewordensein als Produkt eines Antwortens im Sinne Waldenfels’ (vgl. Kap. 2.2.2) nicht zurückgehen lässt.8 Andererseits, und so lassen sich diese Überlegungen mit den Überlegungen zur musikalischen narrativen Identität verbinden, kann jede Antwort, auch die kreative Antwort, nur erzählend gegeben werden. Wenn Ricœur recht hat, gründet auch die Selbst-Antwort auf einer erzählenden Konstruktion, einer »Fabelkomposition«, die er im aristotelischen Begriff des mythos wiederfindet (vgl. Ricœur 2007: 62). Durch die Betonung dieser Narrativität jedes biographischen Welt- und Selbstentwurfs haben Koller und Kokemohr insbesondere die sprachlich-kulturell vermittelte »Figurierung« der erzählenden Gestaltungspraxis von Weltund Selbstverhältnissen hervorgehoben. Auch gewandelte Welt- und Selbstverhältnisse können sich nur »kraft rhetorischer Figuren« (Kokemohr/Koller 1996: 97) artikulieren. Dies lässt sich in der empirischen Analyse über die Satzinhalte biographischer Erzählungen hinaus berücksichtigen (vgl. Kokemohr/Koller 1996; Koller 1994; Koller 2012: 44). Koller und Kokemohr thematisieren im Hinblick auf eine bildungstheoretische Biographieforschung so vor allem die Medialität welt- und selbststiftender Erzählungen. Ich meine, dass diese in die Richtung einer Intermedialität der manifesten Biographien als Selbst-Erzählungen weitergedacht werden müsste. Dies lässt sich beispielhaft anhand musikbezogener Biographien als Gegenstand einer bildungstheoretisch orientierten musikbezogenen Biographieforschung begründen: Wenn man davon ausgeht, dass Selbst respektive Identität in erzählenden Akten entworfen wird, lässt sich kaum bestreiten, dass das notwendige Medium solcher Erzählungen die Sprache ist. Am Beispiel der allermeisten Alltagserzählungen lässt sich aber auch sehen, wie und dass das Medium der Wortsprache überschritten wird. Erzählt man von einem Urlaub oder einer Reise, kann sich diese Erzählung kaum auf das beschränken, was sich sagen lässt, wenn Bilder oder Videos angeschaut, ein mitgebrachter Wein getrunken, ein Gewürz gerochen oder eine Muschel betastet werden. Womöglich hört man sich sogar dank Smartphone die Aufnahme einer als wunderlich 8

Ähnlich gibt es, wie Schapp zeigt, keinen Anfang und kein Ende der Geschichten, nur »Horizonte« (vgl. Schapp 2012: 88). Begründet wurde diese These anhand der Möglichkeitsbedingung neuer Erfahrungen (vgl. Kap. 2.2.1).

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erlebten Musik an. Und selbst wenn all diese Möglichkeiten der Vergegenwärtigung eines Erlebten nicht zur Verfügung stehen, so verweisen diese Erzählungen auf Wissensformen, die nicht in Sätzen zum Ausdruck kommen können. Es geht um die Klasse der nicht-propositionalen Wissensformen, die jedes sprachlich artikulationsfähige Welt- und Selbstverhältnis beinhaltet (vgl. Kap. 3.2). Indem Erzählungen im Medium der Wortsprache auf diese Wissensformen Bezug nehmen, realisieren sie sich wiederum in einem bestimmten Modus der Sprache, der in philosophischen Diskussionen für gewöhnlich als Zeigen im Unterschied zum Sagen angesprochen wird. Wer über Bilder, Musik oder Gerüche spricht, der setzt den Nachvollzug einer Erfahrung der gemeinten Gegenstände oder das Wissen voraus, dass die Sätze dies nicht selbst beinhalten können, sondern nur darauf zeigen. Zeigen ist damit in erster Linie angesprochen als der sprachliche Hinweis auf einen nicht-sprachlichen Wissensvollzug, wie zum Beispiel den notwendigen Sinnvollzug im Medium der Musik (vgl. dazu ausführlich Kap. 3.4). Das ist nur eine Möglichkeit und ein Beispiel, durch die biographischen Erzählungen das Medium der Sprache in Richtung anderer Medien, genauer in Richtung nicht-sprachlicher Sinnvollzüge oder Wissensformen, zu überschreiten. Für musikbezogene Biographien, für manifeste mündliche oder schriftliche Erzählungen des musikalischen Selbst-Entwurfs ist dies vermutlich aber der häufigste Fall einer Intermedialität 9 solcher Erzählungen. Ob und wie diese Intermedialität in der musikalischen Biographieforschung zur Darstellung kommen kann, ist in empirischer Forschungsperspektive wiederum abhängig von den Erhebungs- und Auswertungsverfahren. Ich werde darauf noch eingehen. Der Aufweis der Intermedialität musikbezogener biographischer Erzählungen im Hinblick auf musikbezogene Biographien ist zunächst nicht mehr als die vielleicht triviale Feststellung, dass Erzählungen darüber, wie und warum ich Musik so oder anders spiele oder höre – kurz: Musik weiß oder wissen kann –, wohl nicht ohne eine Darbietung dieses Wissens auskommen. Sie ist 9

Mein Gebrauch von Intermedialität entspricht in etwa einem literatur- bzw. medienwissenschaftlichen Verständnis von Intermedialität als »Resultat der Kombination mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien, die in ihrer Materialität präsent sind und jeweils auf ihre eigene, medienspezifische Weise zur (Bedeutungs-)Konstitution des Gesamtprodukts beitragen« (Rajewski 2002: 15). Das Gesamtprodukt ist in Bezug auf die musikbezogene Biographie als die manifeste mündliche oder schriftliche Selbst-Erzählung anzusehen.

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aber zugleich der nachdrückliche Hinweis darauf, dass diese Bezugnahmen in der Forschung über die durch Interviews erhobenen Texte hinaus zu berücksichtigen wären, will man verstehen, was der Erzählende meint, wenn er sein musikalisches Selbst erzählend entwirft. Anders gesagt: Auch seine musikbezogene Biographie wird man nicht (nur) tanzen oder singen können,10 man muss über sie sprechen. Mit dem Sprechen allein ist aber nicht schon alles über die Erfahrung von Musik in einem Leben gesagt, zumindest nicht gezeigt. Vorläufig zusammengefasst lässt sich die musikbezogene Biographie, legt man das Konzept narrativer Identität zugrunde, als Geschichte verstehen, durch die jemand sich selbst im Verhältnis zu Musiken entwirft, so wie er oder sie Musik weiß, zu wissen gelernt und erfahren hat. Weil dieses Wissen als nicht-propositionales, das heißt nicht wortsprachlich repräsentierbares zu betrachten ist, muss in theoretischer Perspektive – aber vor allem in der Perspektive empirischer Forschung – eine Intermedialität musikalischer Biographien berücksichtigt werden. Ein weiterer Punkt, der zugegebenermaßen bisher eher hintergründig behandelt wurde und hinsichtlich musikalischer Biographien in den Fokus geraten könnte, ist deren soziale Dimension. Die Anerkennung der erzählenden Selbst-Entwürfe durch andere als notwendige Bedingung für die Herausbildung musikalischer Identität wäre zunächst einmal konstitutionstheoretisch zu plausibilisieren, bevor daraus Perspektiven für die empirische Forschung zu gewinnen sind. Das heißt, dass die auch in der (musik-)pädagogischen Diskussion kursierende These, man könne sich nicht alleine zu jemandem machen, sondern werde immer schon von und durch andere zu jemandem gemacht, in Bezug auf musikbezogene Biographien als narrative Identität zu begründen wäre. Auch wenn der Begriff der musikbezogenen Biographie durch das Konzept narrativer Identität als musikalische Selbst-Erzählung allenfalls umrissen werden konnte, so lässt sich doch bereits das Erkenntnisinteresse beschreiben, durch das eine musikbezogene Biographieforschung eine musikpädagogische, weil musikbezogene und bildungstheoretische, Orientierung gewinnt.

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Weiterzuverfolgen wäre der keineswegs abwegige Gedanke, dass Musik selbst als ein erzählendes Medium betrachtet werden kann (vgl. dazu insbesondere die Beiträge von Feige und Trautsch in: Döhl/Feige 2015).

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Musikalische Bildung als Transformationsprozess

4.3.2

Erkenntnisinteresse und -ziel: Verlaufsformen transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse

Das Erkenntnisinteresse der in dieser Arbeit entwickelten, an musikalischer Bildungstheorie orientierten Biographieforschung lässt sich in einem ersten Schritt in der Frage danach fassen, wie transformatorische musikalische Bildungsprozesse sowohl individuell als auch in bestimmten Kollektiven verlaufen. Die Theorie transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse gibt dieser Frage einen begrifflichen Rahmen in Form eines hypothetischen Modells, durch das musikalische Bildung als der Prozess der Transformation musikalischen Wissens betrachtet wird, der durch musikalische Schlüsselereignisse ausgelöst und in dessen Verlauf ein neues musikalisches Wissen »erfunden« wird. Dass ein Wissen erfunden wird, heißt hier, dass ein musikalisches Wissen kreativ in die kohärente Erzählung einer Lebensgeschichte integriert wird. Weil sich musikalische Schlüsselereignisse nur nachträglich, aus der Perspektive der Verarbeitung musikalischer Fremderfahrungen als Auslöser transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse verstehen lassen (vgl. Kap. 2.5), ist damit auch gesagt, worauf sich das Erkenntnisinteresse dieser musikpädagogischen Biographieforschung nicht richten kann: nämlich auf transformatorische musikalische Bildungsprozesse im Zustand ihres Entstehens. Damit ist zugleich die Untersuchung potenzieller musikalischer Bildungsprozesse aufgrund musikalischer Fremderfahrung ausgeschlossen, da sich diese nicht hinreichend als deren Auslöser verstehen lassen (vgl. Kap. 2). Hingegen kann der Verlauf dieser Prozesse interessieren, weil man voraussetzen kann, dass sich die Transformation eines musikalischen Wissens nicht auf einen Schlag ereignet. In ähnlicher Weise geht Koller davon aus, »dass Bildungsprozesse – von seltenen Ausnahmen abgesehen – keine einmaligen, instantanen Vorgänge darstellen, sondern als langfristiges Geschehen aufzufassen sind, das sich im Kontext lebensgeschichtlicher Entwicklungen vollzieht« (Koller 2012: 154; Herv. L.B.). Begründen lässt sich diese Annahme damit, dass wer beispielsweise durch eine fremde Musik eine neue Möglichkeit des Musikhörens und/oder Musikmachens für sich erkannt hat, damit Möglichkeiten verliert, Musik so wie zuvor erfahren zu können – aber vermutlich weder sofort noch vollständig. Die einst liebgewonnene Musik erscheint beispielsweise nicht mehr interessant, während eine andere Musik eine Suchbewegung weckt, die die Erfüllung eines Begehrens im Spielen oder Hören

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dieser Musik verspricht. Dieses Versprechen müsste in einigen, wenn auch nicht sofort in allen Fällen (auf einmal) eingelöst werden, damit sich die Erfindung eines neuen musikalischen Wissens als Wiederfindung einer neuen musikalischen Identität, eines neuen musikalischen Welt- und Selbstverhältnisses in relativ stabiler Form verstetigen kann. Die Erfindung eines neuen Wissens – als Antwort auf etwas, was ein vorhandenes musikalisches Wissen infrage gestellt hat – kann daher durchaus mehrere Anläufe brauchen, bis ein neues Wissen zur Gewohnheit geworden ist, sich also eine neue musikalische Identität gefestigt hat und der Bildungsprozess zu einem relativen Abschluss gekommen ist. Erst die Rekonstruktion dieser (Mikro-)Prozesse anhand von musikalischen Biographien als Selbst-Erzählungen lässt Verlaufsformen von musikalischen Bildungsprozessen und damit konkrete Möglichkeiten musikalischer Identitätsstiftung am Einzelfall sowie typisierend beschreiben, die weder auf ein Lernen in bestimmten Institutionen, ein bestimmtes Alter oder eine (Musik-)Kultur beschränkt sind. Wird der Gegenstand dieser Forschung – die Biographie als Erzählung – mit der Funktion der Stiftung von Identität verstanden, so ist damit angezeigt, worauf sich das Erkenntnisinteresse bildungstheoretisch orientierter musikalischer Biographieforschung ebenfalls nicht richten kann: auf die unmittelbare Erfahrung von musikalischen Bildungsprozessen. Das dargestellte Leben kann nicht unabhängig von seiner Darstellung in Form von mündlichen oder schriftlichen Texten in den Blick kommen beziehungsweise unabhängig von der Perspektive auf ein »doing biography« des erzählenden Konstruierens, »kraft derer Individuen ihre Lebensgeschichte sich selbst und anderen erzählend zu verstehen geben« (Apitzsch/Fischer 2006: 49). In diesem Sinne lässt sich das Erkenntnisinteresse und -ziel der bildungstheoretisch orientierten musikalischen Biographieforschung noch einmal näher bestimmen in der Frage, wie Verläufe musikalischer Bildungsprozesse erzählt werden. Erste methodische Implikationen ergeben sich vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen und im Hinblick auf die Erhebung und Auswertung von musikbezogenen biographischen Daten zur Untersuchung musikbezogener bildungs(mikro-)prozessualer Verlaufserzählungen.

4.3.3

Methodische Implikationen – Grenzen der Empirie und Theorie

Wie die Vertreter der erziehungswissenschaftlichen und/oder musikpädagogischen Biographieforschung gehe auch ich davon aus, dass sich Bildungs-

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prozesse nur rekonstruktiv und interpretativ erforschen lassen (vgl. u.a. Koller 2012: 154), also mit Methoden qualitativ-empirischer Forschung. Der Hauptgrund dafür wurde bereits genannt: Transformatorische Bildungsprozesse sind auch subjektiv nur als in verarbeiteter, interpretierter, genauer erzählter Form zugänglich. Sie lassen sich deshalb nicht unmittelbar beobachten, sondern müssen durch die Deutung kommunizierter biographischer Konstruktionen erschlossen werden, die daher eine sekundäre Konstruktion oder rekonstruktive Annäherung an die Konstruktionen der beforschten Subjekte darstellt (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 12). Bevorzugtes Erhebungsinstrument biographischer Daten ist das von Fritz Schütze an der Alltagskommunikation orientierte und entwickelte narrative Interview, dessen Kernmerkmal die Aufforderung zu einer autobiographischen Stehgreiferzählung ist (z.B. durch eine Frage wie »Wie bist du eigentlich dazu gekommen, Jazz zu spielen?«), auf die keine Nachfragen folgen, solange die erzählte Lebensgeschichte für den Interviewer verständlich ist und bis der Informant einen Schluss setzt (vgl. Schütze 1983: 285). Ergebnis dieser Erhebungsform ist im besten Fall ein transkribierter »Erzähltext, der den sozialen Prozeß der Entwicklung und Wandlung einer biographischen Identität kontinuierlich, d.h. ohne exmanente, aus dem Methodenzugriff oder den theoretischen Voraussetzungen des Forschers motivierte Interventionen und Ausblendungen, darstellt und expliziert« (ebd.: 286). Ich habe darauf hingewiesen, dass eine an musikalischen Biographien interessierte Forschung deren Intermedialität berücksichtigen müsste, insofern diese Erzählungen auf ein Wissen verweisen, dass nicht allein wortsprachlich dargestellt werden kann. Dabei wären bereits die Erhebung und die Aufbereitung der biographischen Daten erweiternd zu modifizieren, was der musikbezogenen Biographieforschung zunächst ein methodisches Experimentierfeld dahingehend eröffnet, dass den Interviewten die Möglichkeit gegeben wird, die erzählte Musik irgendwie (durch das Vorspielen von Aufnahmen oder das Vorführen besprochener Musik selbst) präsentieren zu können. Zahlreiche, möglicherweise inspirierende Beispiele für vergleichbare Interviewsituationen finden sich seltener in sozialwissenschaftlichen Studien als in neueren musikjournalistischen Formaten.11 Sie machen zumindest anschaulich, wie sich abhängig von den benutzten Musikinstrumenten verschiedene 11

So beispielsweise die für das Online-Musik-Magazin Noisey (Vice) in den Jahren 2016 bis 2017 produzierte Web-Serie Guitar Moves, in der prominente Gitarristen mit dem Interviewer über ihre musikalische Entwicklung sprechen und diese durch das Spielen

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technische Möglichkeiten der (audiovisuellen) Aufzeichnung der musikbezogenen biographischen Erzählung erproben ließen.12 Anspruchsvoll dürfte sich die Aufbereitung oder Darstellung der Daten zur Interpretation gestalten. Denn dabei stellt sich die Frage, wie die einzelnen Medien der Erzählung (Sprache und Musik/Klangliches) in eine für die Kodierung beziehungsweise Interpretation handhabbare Form transkribiert werden können.13 Damit wird eine Reduktion des Datenumfangs durch eine Transformation der Daten in visuelle Zeichensysteme und/oder diagrammatische Schreibweisen einhergehen müssen. Die Auswertung der Erzähltranskripte kann sich an bisher üblichen Zugängen wie der Narrationsanalyse Schützes oder der Methodologie der Grounded Theory orientieren, wobei sich letztere insbesondere bei Fallvergleichen mit dem Ziel der Typologisierung eignet. In beiden Interpretationsverfahren bietet es sich an, die Erzählhandlung (was erzählt wird) und die Erzählmuster und -mittel (wie erzählt wird) interpretativ aufeinander zu beziehen, um die jeweilige sinngebende narrative Ordnung der Lebensgeschichte deutlich machen zu können.14 Spätestens bei der Interpretation wird sich jedoch die grundsätzliche Frage stellen, wodurch musikalische Bildungsprozesse eigentlich identifizierbar werden, da nicht jede musikbezogene Stehgreiferzählung auch die Erzählung eines transformatorischen Bildungsprozesses beinhalten muss. Dabei ließe sich Bezug nehmen auf bestimmte, kulturell verbreitete Erzählfiguren, die bezüglich dieser Frage einen gewissermaßen symptomatischen Charakter und insofern einen heuristischen Wert beim Auffinden bildungsprozessualer Geschichten haben. Eine solche Erzählfigur scheint insbesondere das »Schlüsselerlebnis« darzustellen, welches bereits in der früheren musikpädagogischen Biographieforschung eine Rolle spielte (vgl. Kap.

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prägender Songs, bestimmten Techniken und/oder Phrasen hör- und sichtbar nachvollziehen. Man kann sich dabei z.B. an Kameraeinstellungen und -winkeln orientieren, wie sie bereits bei Musik-Lehrvideos (sog. »Tutorials«) auf Videoplattformen wie YouTube zum Einsatz kommen. Möglicherweise lässt sich dabei auf Transkriptionssysteme wie die Feldpartitur aus der videographischen Forschung (vgl. Moritz 2011) zurückgreifen. Bei der Transkription klanglicher und/oder musikalischer Daten ist zu beachten, dass die übliche Notenschrift verschiedene Beschränkungen (z.B. bei der Darstellung von Klangfarben etc.) aufweist, die durch variierenden Einsatz anderer Notationsformen (etwa durch sog. graphische Notationen) erweitert werden könnten. Beispiele dafür gibt Koller an literarischen Texten (vgl. Koller 2012: Kap. 14).

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4.2). Das Schlüsselerlebnis als Erzählfigur ist nicht zu verwechseln mit dem Schlüsselereignis, worunter ich mit Waldenfels die Bedingungen der Auslösung transformatorischer Bildungsprozesse gefasst habe. Die (musikalischen) Fremderfahrungen, die im Begriff des Schlüsselereignisses mitgedacht wurden, sind nur in Form ihrer nachträglichen Verarbeitung, nicht aber als sie selbst einholbar und somit auch für empirische Forschung unzugänglich. Die Figur des Schlüsselerlebnisses scheint aber gerade eine erzählende Antwortform der durch solche Fremderfahrungen angestoßenen Prozesse darzustellen. Gemeint ist damit eine wohl häufiger in Selbst-Erzählungen auftretende Figur, die schon Koller hinsichtlich biographischer Interviews im Blick hatte und die »einen komplexen Veränderungs- oder Umorientierungsprozess auf einen einzelnen auslösenden Faktor zurück[führt], der den Schlüssel zum Verständnis dieses Prozesses zu liefern scheint« (Koller 1994: 261). Ob es sich dabei um einen einzelnen »Faktor« handeln muss, wäre zunächst einmal offenzuhalten. Als erste Suchhypothese kann die Figur des Schlüsselerlebnisses die Auswahl geeigneten Interpretationsmaterials erleichtern. Welche weiteren Suchhypothesen sich als hilfreich erweisen, werden konkrete Forschungsvorhaben zeigen. Das Beispiel des Schlüsselerlebnisses als Suchhypothese für transformatorische musikalische Bildungsprozesse in biographischen Erzählungen in seinem Verhältnis zur theoretisch beschriebenen Auslösebedingung des Schlüsselereignisses deutet jedoch auch darauf hin, dass die empirische Biographieforschung durch die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse zwar eine Orientierung erhalten, das theoretisch Begriffene aber nicht einfach empirisch abgebildet werden kann (vgl. dazu weiterführend u.a. Schäfer 2006; Koller 2012: Kap. 13.2). Umgekehrt lassen sich in rein bildungstheoretischer Perspektive weder Verläufe noch Phasen (oder ähnliches) musikalischer Bildungsprozesse unterscheiden, noch überhaupt Erkenntnisse über tatsächliche Fälle musikalischer Bildungsprozesse gewinnen. Es gilt daher, was Jürgen Vogt für das Verhältnis von Bildungsphilosophie und empirischer Bildungsforschung allgemein festgestellt hat: »In jeder anspruchsvollen musikpädagogischen Bildungstheorie bleibt ein Rest, der sich der empirischen Erforschung entzieht. Und jede anspruchsvolle musikpädagogische Bildungsforschung stößt auf einen empirischen Überschuss, von dem die Bildungstheorie bislang noch nichts ahnte.« (Vogt 2017: 192)

Von der Theorie zur Empirie

Im Spiegel des jeweiligen anderen wissenschaftlichen Zugangs stoßen daher Bildungstheorie und empirische Forschung auch in einer bildungstheoretisch orientierten musikbezogenen Biographieforschung an ihre Grenzen. Dies lässt sich jedoch auch als eine Chance begreifen, noch einmal zu überprüfen, was Vogt bisher bezweifelt hatte (vgl. ebd.): ob nämlich musikpädagogische Bildungsphilosophie und musikpädagogische Bildungsforschung nicht doch auch voneinander lernen können.

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Outro Wozu transformatorische musikalische Bildungsprozesse erforschen?

Mit Musik kann man irritierende Erfahrungen machen. Vermutlich beschäftigen sich jedoch die wenigsten Menschen aus diesem Grund mit ihr. Gerade solche Erfahrungen können aber dazu beitragen, dass sich die Art und Weise wandelt, wie Musik erfahren wird, und damit, wie man Welt und sich selbst erfährt. Sie wandelt sich, wenn die irritierende Erfahrung zugleich eine neue musikalische Erfahrung für diejenigen bedeutet, die sie machen. Diese Gedanken bildeten den Kern der philosophischen Studien dieser Arbeit. Verständlich werden sollten sie durch die Entwicklung einer Theorie transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse. An diese Theorie ließe sich in philosophischer oder theoretischer Perspektive weiter anknüpfen: Insbesondere die Bestimmung musikalischen Wissens (Kap. 3.4), aber auch die angerissenen Überlegungen zum Verhältnis von (musikbezogener) biographischer Erzählung und nicht-propositionalen Wissensformen (Kap. 4.3.1) bieten Ausgangspunkte weiterer philosophischer Untersuchungen in und außerhalb dieser (pädagogischen) Zusammenhänge. Wie aber machen Menschen irritierende Erfahrungen, durch die sich für sie wandelt, wie sie Musik und damit Welt und sich selbst erfahren? Auf die Skizzierung einer Forschung, die genau diese Frage untersucht und die durch die in dieser Arbeit entwickelte Theorie begriffliche Orientierung erhält, habe ich mich im Ausblick konzentriert: auf eine bildungstheoretisch orientierte musikbezogene Biographieforschung. Gemäß ihres bisherigen Entwurfs verstehe ich darunter ein Forschungsprogramm, das anhand von musikbezogenen Biographien oder auch musikbezogenen Selbst-Erzählungen zu rekonstruieren und darzustellen versucht, wie transformatorische musikalische Bildungsprozesse in konkreten Einzel-

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fällen verlaufen. Weil die Rekonstruktion und Darstellung solcher Verläufe nicht per Beobachtung gewonnen werden kann, sondern sich auf die Interpretation biographischer Daten stützen muss, ist dieses Programm der qualitativ-empirischen Sozialforschung zuzuordnen und lässt sich genauer im Bereich der Biographieforschung ansiedeln. Letztere hat, wie zuvor dargestellt, auch eine musikpädagogische Tradition. Die eigentliche Neuerung des hier skizzierten Forschungsprogramms liegt in dem Versuch, empirische Forschung explizit mit bildungstheoretischem Nachdenken zu verbinden. Wozu das aber? Wem kann das nützen? Für welches Ziel würde sich die Anstrengung, ein solches Forschungsprogramm zu verfolgen, eigentlich lohnen? Und: Welche Konsequenzen ließen sich daraus für musikunterrichtliches Handeln gewinnen? Gerade die letzte Frage bezieht ihren Grund daher, dass ein stilles Einverständnis darüber zu bestehen scheint, dass jede Forschung in der Musikpädagogik, ob empirisch oder theoretisch, in einem zumindest mittelbaren Verwertungszusammenhang mit der oft nicht weiter spezifizierten, meist in einer Gesamtheit angesprochenen »Praxis« stehen müsse. Mit Kaiser ließe sich dieses Einverständnis auf die für die wissenschaftliche Musikpädagogik gegenstandskonstituierende Frage zurückführen, wie die »Bildung musikalischer bzw. musikbezogener Erfahrungen, die von Subjekten als für sie bedeutsam und daher erstrebenswert erscheinen, unterstützt werden« (Kaiser 2018c: 27) kann. Nun ist allerdings völlig unklar, auf welche Weise die wissenschaftliche Musikpädagogik diese Frage zu beantworten hätte. Von der skizzierten Biographieforschung ließen sich zunächst einmal Erkenntnisse über konkrete Möglichkeiten musikalischer Identitätsstiftung durch transformatorische Bildungsprozesse als einer Form musikalischen Lernens erwarten. Durch die empirische Perspektive auf die bisher nur theoretisch beschriebene musikalische Wissensform als Transformationsgegenstand kann durch konkrete Forschungsvorhaben gezeigt werden, was Kaiser als Prämisse des ästhetischen Paradigmas, der gegenwärtig konsensfähigsten Begründungsfigur für den Musikunterricht, angesprochen hat: dass Musik eine erlernbare, »unersetzbare, durch kein anderes Medium zu gewinnende Erkenntnis und Erfahrung von unserer natürlichen und sozialen Umwelt« (Kaiser 2005: 168) eröffnet. Darüber hinaus böte eine bildungstheoretisch orientierte musikbezogene Biographieforschung in zweierlei Hinsicht die Möglichkeit, die wissenschaftliche musikpädagogische Forschung weiterzuentwickeln: Zum einen,

Wozu transformatorische musikalische Bildungsprozesse erforschen?

weil sie Bildungstheorie und Bildungsforschung in einen bisher vernachlässigten, aber notwendigen Dialog bringt, und zum anderen, weil sie eine Voraussetzung dafür darstellt, gehaltvolle normative und kritische Perspektiven auf transformatorische musikalische Bildungsprozesse werfen zu können. Notwendig ist ein Dialog von Bildungsphilosophie und -forschung, da von diesem wechselseitigen Bezug wesentlich die Qualität der Beiträge pädagogischer Forschung abhängt. So muss eine Theorie transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse reflektieren, inwieweit sie an die empirische (Biographie-)Forschung anschließen kann. »Ohne die Beantwortung dieser Frage«, darauf weist Alfred Schäfer hin, »droht sich die [bzw. jede; L.B.] Bildungstheorie in metaphysischen Konzepten und imaginären Projektionen zu verlieren« (Schäfer 2006: 88). Umgekehrt muss sich die Biographieforschung der Grenzen und Möglichkeiten empirischer Beschreibbarkeit transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse anhand einer Bildungstheorie rückversichern. Sie läuft sonst Gefahr, innerhalb wissenschaftlicher musikpädagogischer Forschung nicht mehr kontextualisierbare Ergebnisse hervorzubringen (vgl. dazu auch Vogt 2017). In einer bildungstheoretisch orientierten musikbezogenen Biographieforschung müssen daher empirische Betrachtung und bildungstheoretische Reflexion notwendigerweise zueinander finden, um keinen Un-Sinn, keine »Datenoder Textfriedhöfe« (Vogt 2017: 192) zu produzieren. Was einer Kommunikation beider Bereiche wie auch einem wechselseitigen Lernprozess gegenwärtig entgegenstehen könnte, sind durch musikpädagogische Forschungskulturen hervorgerufene Vorstellungen von »Theoretikern« und »Empirikern« oder »Schöngeistern und Rechenknechten« (vgl. Vogt 2011) als gewissermaßen unabhängigen und/oder konkurrierenden Denk- und Lebensformen. Darauf, dass dies auch anders sein kann, deutet die breite Rezeption der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse in der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung hin. Ihr Einfluss scheint sich nämlich auch der Tatsache zu verdanken, dass sich ihre Entwickler nicht in einer solchen Arbeitsteilung eingerichtet haben, sondern erfolgreich in Personalunion als theoretisch und empirisch Forschende in Erscheinung getreten sind.1

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Dass bereits die Entwicklung der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse von Fragen empirischer Forschungszusammenhänge geleitet wurde, haben insbesondere Marotzki und Kokemohr deutlich gemacht (vgl. u.a. Marotzki 1990; Kokemohr 2007).

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Eine bildungstheoretisch orientierte musikbezogene Biographieforschung könnte durch ihre Erkenntnisse die Basis dafür bereitstellen, eine gehaltvolle Diskussion über normative und kritische Perspektiven auf transformatorische musikalische Bildungsprozesse zu entwickeln. Gemeint sind Aussagen darüber, wie wünschenswerte musikalische Bildungsprozesse begleitet oder problematische verhindert werden können. Solche Aussagen setzen die Beantwortung der Frage voraus, was unter einem Bildungsprozess, der einen Beitrag zu einem »guten Leben« (vgl. dazu Vogt 2002: 15) leistet, zu verstehen wäre. Als universalistische Norm formuliert, dürfte diese, wenn überhaupt, nur in sehr abstrakter Form Bestand haben und vor allem der bildungstheoretischen Reflexion empirischer Ergebnisse keinen fruchtbaren Rahmen liefern. Die Entwicklung solcher Normen wäre daher auf diejenigen normativen Vorstellungen zu beziehen, die der jeweiligen sozialen Praxis inhärent sind, innerhalb derer sich transformatorische musikalische Bildungsprozesse bewegen, die also zunächst einmal mit zu rekonstruieren wären (vgl. Stojanov 2006: 72). Vor ihrem Hintergrund ließe sich eine Diskussion über Normen führen, die diese relational zu den jeweiligen, selbst durch mehr oder weniger implizite Normvorstellungen geschaffenen tatsächlichen Bedingungen und Formen dieser Prozesse begreifen kann (vgl. dazu auch Vogt 2017: 192). Davon dürfte auch die Weiterentwicklung derjenigen musikdidaktischen Konzeptionen profitieren, die gegenwärtig (transformatorische) Bildungsprozesse zum Ziel haben. Offen bleibt die Frage, nicht ob, sondern in welcher Weise die skizzierte empirische Erforschung transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse langfristig einer praktischen Musikpädagogik nützen kann: Kann sie dies erst durch die Formulierung expliziter Handlungspläne oder leistet sie bereits einen Beitrag damit, dass ihre Ergebnisse im besten Fall eine kritische Folie für Lehrende bereitstellen, aufgrund derer diese ihr Handeln reflektieren und gegebenenfalls verändern können? Diese Frage hängt wesentlich auch vom (zukünftigen) Selbstverständnis der Musikpädagogik als einer »praktischen Wissenschaft« (Kaiser 2005: 167) ab. Was sie betrifft, hat Michel Foucault in einem Interview (auf das ich in einer gekürzten Version zuerst im Booklet eines Musikalbums gestoßen bin) für mich dazu Bedenkenswertes geäußert: »The role of an intellectual is not to tell others what they must do. By what right would he do so? And remember all the prophecies, promises, injunctions and plans intellectuals have been able to formulate in the course of

Wozu transformatorische musikalische Bildungsprozesse erforschen?

the last two centuries and of which we have seen the effects. The work of an intellectual is not to mold the political will of others; it is, through the analyses that he does in his own field, to re-examine evidence and assumptions, to shake up habitual ways of working and thinking, to dissipate conventional familiarities, to re-evaluate rules and institutions and starting from this reproblematization (where he occupies his specific profession as an intellectual) to participate in the formation of a political will (where he has his role as citizen to play).« (Foucault 1996: 462f.) Auch die wissenschaftliche Musikpädagogik lässt sich dahingehend befragen, inwieweit sie sich als dazu berechtigt sehen kann, zum Beispiel Lehrenden zu sagen, was zu tun ist, und auch mit welchem Erfolg sie das bisher getan hat und/oder ob das von ihr überhaupt zu erwarten wäre. Nicht unbedingt bescheidener, aber nachhaltiger scheint mir hingegen der Anspruch, dass auch musikpädagogische Forschung – wie eine Erforschung transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse – durch Untersuchungen auf ihrem eigenen Gebiet gewohnte Arbeits- und Denkweisen erschüttert und zur Neubewertung und/oder Problematisierung bisheriger wissenschaftlicher wie praktischer Bemühungen beiträgt. Musikpädagogische Forschung hätte so auf ihre Weise an der (Un-)Möglichkeit der Bildung (eines Willens) von Musiklehrenden teil und damit an einem Prozess der Transformation und Neu-Erfindung, der sich weder philosophisch noch empirisch oder praktisch jemals ganz einholen lässt.

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Nachwort und Danksagung

Der vorliegende Text wurde 2019 unter dem Titel Shaking the Habitual – Studien zur Theorie transformatorischer musikalischer Bildungsprozesse an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg als Dissertation angenommen. Für die Publikation wurde er an einigen Stellen gekürzt, jedoch nur geringfügig verändert oder ergänzt. Dass er überhaupt zustande kommen konnte und sich nun in Buchform lesen lässt, ist nur mit vielfältiger Unterstützung anderer möglich gewesen, denen ich an dieser Stelle danken möchte. Mein Dank gebührt Jürgen Vogt, der meine Überlegungen geduldig und kritisch betreut und mir zugleich die Freiheit gelassen hat, meine eigenen Denkwege zu gehen. Constanze Rora danke ich für die Unterstützung meines Promotionsprozesses von Anfang an, für ihre niemals endende Diskussionsbereitschaft und ihre zahlreichen Anregungen. Für die aufmerksame Lektüre einzelner Kapitel, die hilfreichen Rückmeldungen in und außerhalb seines Kolloquiums bedanke ich mich bei Hans-Christoph Koller. Hermann Josef Kaiser danke ich für seine Anstiftung und Ermutigung zum Philosophieren. Ich danke meinen ehemaligen Hamburger Kolleginnen und Kollegen Anne Günster, Christiane Jasper und Patrick Pahner für den interessierten Austausch. Neben Christoph Khittl danke ich Susanne Gottlob für inspirierende und motivierende Diskussionen. Bei den Studierenden der Leipziger Musikhochschule möchte ich mich für die Debatten und Ideen in Seminaren bedanken, durch die mir bewusst geblieben ist, wofür und für wen ich diese Überlegungen anstelle. Ich danke meinen Eltern für ihre umfangreiche Hilfe beim gesamten Prozess der Fertigstellung der Dissertation, Teresa Dahlke für die Korrektur und Hilfe beim Layout des Manuskripts. Cathrin Nielsen danke ich für ihr virtuoses Lektorat.

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Musikalische Bildung als Transformationsprozess

Dafür, dass sie mich immer wieder an das Leben über den Schreibtischrand hinaus erinnert haben, bin ich meinen Freundinnen und Freunden – allen voran Hannah Wirmer – sehr dankbar. Abschließend, wobei noch viele Namen mehr zu nennen wären, danke ich Peter W. Schatt und dem Vorstand der Gisela und Peter W. Schatt Stiftung für die ideelle und finanzielle Förderung meines Vorhabens durch ein Abschlussstipendium sowie einen Druckkostenzuschuss.

Pädagogik Kay Biesel, Felix Brandhorst, Regina Rätz, Hans-Ullrich Krause

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Julia Heisig, Ivana Scharf, Heide Schönfeld

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Nadja Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer, Peter Stöger (Hg.)

Bildung und Liebe Interdisziplinäre Perspektiven 2018, 412 S., kart., 11 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4359-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4359-0

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Pädagogik Robert Wunsch

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Jasmin Donlic, Elisabeth Jaksche-Hoffman, Hans Karl Peterlini (Hg.)

Ist inklusive Schule möglich? Nationale und internationale Perspektiven 2019, 312 S., kart., Dispersionsbindung, 11 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4312-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4312-5

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