Qualität als Gelingen: Grundlegung einer Qualitätsentwicklung in Bildung, Beratung und Sozialer Dienstleistung [1 ed.] 9783666406027, 9783525406021


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Qualität als Gelingen: Grundlegung einer Qualitätsentwicklung in Bildung, Beratung und Sozialer Dienstleistung [1 ed.]
 9783666406027, 9783525406021

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Rainer Zech / Claudia Dehn

Qualität als Gelingen Grundlegung einer Qualitätsentwicklung in Bildung, Beratung und Sozialer Dienstleistung

V

Rainer Zech / Claudia Dehn

Qualität als Gelingen Grundlegung einer Qualitätsentwicklung in Bildung, Beratung und Sozialer Dienstleistung

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-40602-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Logo Dachmarke Lerner- und Kundenorientierte Qualitätsentwicklung © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Wer »eine Kunst aus seinem Handwerk macht, wird […] entdecken, daß er für seine Mitmenschen ein viel interessanterer Mensch wird und sie ihn viel weniger als Objekt ansehen, weil seine Entscheidung für die Qualität auch ihn selbst verändert. Und nicht nur seine Arbeit und ihn selbst, sondern auch andere, weil Qualität die Tendenz hat, sich wellenartig auszubreiten. Die Qualität seiner Arbeit, von der er selbst geglaubt hat, daß niemand sie bemerken werde, wird bemerkt, und jeder, der sie bemerkt, fühlt sich ein bißchen besser und wird dieses Gefühl wahrscheinlich auf andere übertragen, und auf diese Weise ist dafür gesorgt, daß die Qualität erhalten bleibt« (Pirsig, 1978, S. 371).

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Das Telos der Qualität: Gutes Gelingen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Qualität als Streben nach dem Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Qualität als gutes Gelingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Begründete Maßstäbe für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Standards und Qualitätskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Definition guter Qualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Wie kann Qualität gelingen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 13 18 25 25 28 28 31 32

2 Der Zweck der Qualitätsentwicklung: Gute Arbeit . . . . . . . 37 2.1 Zur Archäologie des Arbeitsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.2 A  rbeit als Einheit aus Bedarf, Leistung und Gebrauch  43 2.3 Dimensionen und Kriterien guter Arbeit . . . . . . . . . . . . . 46 3 Das menschliche Maß: Die Gegenstände der Qualitätsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Gelungene Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Theoretische Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Definition gelungener Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Wie kann Bildung gelingen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Gelungene Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Theoretische Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Definition gelungener Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Wie kann Beratung gelingen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Gelungene Soziale Dienstleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Theoretische Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Definition gelungener Sozialer Dienstleistung . . . . 3.3.3 Wie kann Soziale Dienstleistung gelingen? . . . . . . .

53 53 53 61 62 66 66 73 75 78 79 87 89 7

4 Die Doppellogik der Qualitätsentwicklung: Organisationsentwicklung und Professionalisierung . . . . . 4.1 Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Organisationsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Qualitätsentwicklung als Organisationsentwicklung und Professionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Die Selbstentwicklungsfähigkeit der Organisation systematisch nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen der Qualitätsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Kommunikation und Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Selbstbeschreibung und Wiederbeschreibung . . . . . 5.2 Partizipation und Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Der/die Einzelne und das Ganze der Organisation 5.3 Reflexion und Reflexivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Reflexivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Reflektierte Reflexivität:Wie Qualitätsentwicklung Sinn macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Führung und Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Vertrauen in Führung und Kooperation . . . . . . . . . 6 Das Ganze und seine Teile: Die Gelingensbedingungen der Qualitätsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Gesellschaftlich-institutionelle Bedingungen . . . . . . . . . . 6.2 Organisationale Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Interaktionale Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Personale Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 8

Inhalt

Vorwort

Liebe Leserinnen, liebe Leser, Sie haben es in der Hand: das Gelingen! Ein Buch dazu, wie ­Qualitätsentwicklung als Ethos und Diskurs verstanden werden und gelingen kann. Dieses Buch haben wir geschrieben für alle Menschen, die in Organisationen (insbesondere der Bildung, Beratung und Sozialen Dienstleistung) mit dem Thema Qualitätsmanagement konfrontiert sind und die Lust dazu haben, Qualitätsentwicklung nicht als extern verordnete Mühsal zu erleben, sondern als Motor der Entwicklung der Organisation und ihrer Beschäftigten, als Möglichkeit der Entdeckung und Gestaltung der organisationalen Identität, als Anregung zu Austausch und Diskurs – zum gemeinsamen Lernen. Als die ersten Impulse zu diesem Buch entstanden, waren wir des klassischen Qualitätsmanagementdiskurses mit seiner Fokussierung auf technische Abläufe und Verfahren nahezu überdrüssig und glaubten, diesen Überdruss auch zunehmend bei den Organisationen selbst festzustellen, die zur Qualitätsentwicklung verpflichtet sind oder sich dazu verpflichtet haben. Kann es einen Weg des Qualitätsmanagements geben, der Organisationen der Bildung, Beratung und Sozialen Dienstleistung entwickelt, ihre Identität stärkt und ihnen dabei hilft, zukunftsfähig zu bleiben, ohne sich durch Verfahrensformalisierungen in ein bürokratisches Korsett zu zwingen? Was meint eigentlich Qualität, und was hat Qualität mit dem Gelingen zu tun? Welche Grundbegriffe sind wesentlich für gelingende Qualitätsentwicklung? Womit sollte sich eine Organisation – jenseits von Rezeptwissen – beschäftigt haben, um ihren eigenen förderlichen Weg im Qualitätsmanagement zu finden und zu gehen? Das waren für uns die entscheidenden Fragen, auf die wir mit diesem Buch einen Versuch der Antwort wagen. Das Thema Qualitätsentwicklung als Gelingen beschäftigt uns schon länger. Denn unser eigenes Unternehmen ArtSet® Forschung Bildung Beratung GmbH 9

ist Entwickler und Lizenzgeber der Qualitätsmodelle der Lernerund Kundenorientierten Qualitätsentwicklung. 17 Jahre Erfahrung in der Qualitätstestierung mit mehr als 1.000 Kundenorganisationen haben unsere Idee bestärkt, dass gelingende Qualitätsentwicklung nicht durch Formalisierung und Bürokratisierung zu erreichen ist. Standardisierung menschenbezogener Arbeit führt zu Entfremdung zwischen den Arbeitenden und ihren Adressaten; verfahrensfixierte Routinen führen zum Verlust von Nähe und Identifikation. Stattdessen geht es darum, dass Organisationen und deren Mitarbeitende sich über ihre spezifische Auffassung von Qualität verständigen und eine für ihre jeweilige Identität und ihren Auftrag passende Definition des Gelungenen (gelungene Bildung, gelungene Beratung bzw. gelungene Dienstleistung) entwickeln, die als roter Faden ihrer Qualitätsentwicklung dient. Qualitätsentwicklung ist damit höchst organisationsindividuell und kann weder sinnvoll verordnet noch auf Maßnahmenebene vorgeschrieben werden. Wir fragen in diesem Buch nach den Bestimmungen eines guten Lebens und was Qualitätsentwicklung in Bildung, Beratung und Sozialer Dienstleistung dazu beitragen kann. Es geht nicht um die methodisch-technischen Aspekte einer Qualitätsentwicklung. Diese haben wir in gesonderten Leitfäden für die Praxis bereits vorgelegt: für die Weiterbildung (Zech, 2015a), für Schulen (Zech, 2007), für Kindertagesstätten (Zech, 2013a), für Beratungsorganisationen (Zech, 2009), für Organisationen der Sozialen Dienstleistung (Zech, 2014) und für Bildungsveranstaltungen (Tödt, 2008). Dieses Buch kann allerdings davon unabhängig gelesen werden. Es ist zwar einerseits als theoretische Grundlegung unserer Lerner- und Kundenorientierten Qualitätsentwicklung angelegt, betrifft aber andererseits alle Organisationen in Bildung, Beratung und Sozialer Arbeit, die weg wollen von der Qualitätsbürokratie. Wenn also jede Organisation ihren eigenen Weg der Qualitätsentwicklung finden soll, um diese als Motor ihrer Entwicklung nutzen zu können, was sind dann relevante Themen und Begriffe, deren Klärung nützlich ist als Voraussetzung und Rüstzeug für das Abenteuer Qualität? Aus unserer Sicht natürlich zunächst das Verständnis von Qualität selbst und die Klärung ihres eigentlichen Zwecks der ­Förderung guter Arbeit, des Weiteren die Gegenstände der Qualitäts10

Vorwort

entwicklung (Bildung, Beratung, Soziale Dienstleistung), die organisationale Struktur, in der Qualitätsentwicklung stattfindet, und weitere zentrale Aspekte der praktischen Kompetenz wie Verstehen, Partizipation, Reflexivität, Führung und andere. Diesen zentralen Werkzeugbegriffen der Qualitätsentwicklung wurden eigene Kapitel gewidmet, die diese für die Praxis begründen und erläutern. Da wir davon überzeugt sind, dass die Organisationen selbst die Experten für ihre spezifische Qualitätsentwicklung sind, versteht sich dieses Buch nicht als Rezeptbuch, sondern als Anregung zur Beschäftigung mit Sinn, Voraussetzungen und Bedingungen guter Qualität, also dem Warum und Wie der Qualitätsentwicklung. Das Was, die konkrete Gestaltung und Umsetzung der Qualitätsentwicklung, ist dann der nächste Schritt, für den wir Sie gut gerüstet wissen wollen. Der Anspruch dieses Buchs besteht also darin, für die Branche der personenbezogenen Arbeit in Bildung, Beratung und Sozialer Dienstleistung die Möglichkeit einer in sich konsistenten Qualitätsentwicklung zu begründen, die die ethische Dimension von Arbeit, die direkt für und am Menschen geleistet wird, aufnimmt. Dafür soll eine gemeinsame Sprache mit dem Netz der erforderlichen grundlegenden Werkzeugbegriffe geschaffen werden. Dazu wird im ersten Kapitel zunächst der Qualitätsbegriff als gutes Gelingen einer sinnerfüllten Praxis herausgearbeitet. Hintergrund sind ethische Überlegungen zu einem gelingenden Leben in einer gerechten Gesellschaft. Das zweite Kapitel begründet den Zweck der Qualitätsentwicklung in der Unterstützung guter Arbeit im doppelten Sinne – als Schaffung guter Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten mit dem Ziel, gute Arbeit für die eigenen Zielgruppen zu leisten. Im dritten Kapitel werden die Gegenstände der Qualitätsentwicklung als gelungene Bildung, gelungene Beratung und gelungene Soziale Dienstleistung definiert. Dem folgt im vierten Kapitel die Erläuterung des Verständnisses von Qualitätsentwicklung als umfassende Organisationsentwicklung und Professionalisierung. Im fünften Kapitel werden die grundlegenden Werkzeugbegriffe theoretisch aufgespannt, mit deren Hilfe man die Herausforderungen einer solchen Qualitätsentwicklung erschließen und bewältigen kann. Als Abschluss des Buchs werden die Gelingensbedingungen der Vorwort

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­ ualitätsentwicklung als gesellschaftlich-institutionelle, orgaQ nisationale, interaktionale und personale Faktoren dargestellt. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre und den Mut zum Sprung in die gelingende Qualitätsentwicklung Ihrer Organisation! Alle praktischen Informationen zu unserer Qualitätsentwicklung – die Leitfäden für die Praxis sowie viele Arbeitshilfen und Qualitätswerkzeugen – finden Sie kostenfrei zum Herunterladen auf unserer Website: www.qualitaets-portal.de. Rainer Zech

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Vorwort

Claudia Dehn

1 Das Telos der Qualität: Gutes Gelingen »Die Welt kann ohne Qualität funktionieren, aber das Leben wäre so öde, daß es kaum noch lebenswert wäre. Es wäre überhaupt nicht mehr lebenswert. Das Wort wert drückt Qualität aus. Das Leben wäre bloßes E ­ xistieren, ohne jeden Wert und ohne jeden Sinn und Zweck« (Pirsig, 1­ 978, S. 222).

Wer Wert auf Qualität legt, zeigt damit, dass ihm etwas an den Dingen liegt, die ihn umgeben, an den Menschen, mit denen er es zu tun hat, und an den Verhältnissen, in denen wir zusammen leben und arbeiten. Unachtsamkeit bezüglich guter Qualität ist daher ein sicheres Zeichen von Verantwortungslosigkeit den Menschen und den Sachen gegenüber. Es geht also um eine Haltung dem Leben gegenüber – um ein Ethos, wie man deshalb auch sagen kann (Zech, 2007). Es geht um die Verantwortung, die man seinem Leben und dem Leben seiner Mitmenschen gegenüber hat.

1.1 Qualität als Streben nach dem Guten Qualität wird gemeinhin verstanden als die Beschaffenheit, die Güte oder der Wert von etwas. Meistens schwingt bereits eine positive Konnotation mit: Qualität ist dann bereits gute Qualität. Eigentlich hat das Wort aber eine neutrale Bedeutung von dem lateinischen qualitas: Merkmal, Eigenschaft, Zustand. Aber auch uns geht es in diesem Buch um gute Qualität, um die Güte der Dinge, Prozesse und Zustände, die uns umgeben. Wenn man das Adjektiv gut nicht moralisch versteht, sondern als Gegensatz zu schlecht, dann bedeutet es so viel wie wertvoll, geeignet. Das Gute ist dann das Hochwertige, das Geeignete. In diesem Sinne wollen wir es auch in unserer Qualitätsdiskussion verstanden wissen. Qualität soll hier also Hochwertigkeit, Geeignetheit bedeuten. Deren Bewertungsmaßstab kann aber nur in den Lebensumständen derjenigen gefunden werden, für die etwas gut bzw. geeignet ist. Über diesen Umweg haben wir es dann doch wieder mit der Moral – oder wie wir in unserem Zusammenhang lieber sagen sollten: mit Ethik – zu tun. Bei der Ethik geht es immer um die Frage, wie wir miteinander leben 13

wollen und wie wir uns deshalb den anderen Menschen gegenüber verhalten sollen. Deshalb ist die philosophische Ideengeschichte für unsere Diskussion relevant. Eine Bestimmung guter Qualität personenbezogener Arbeit, die nicht in einer ethischen Reflexion gelungenen Lebens wurzelt, resigniert zum bloßen abstrakten Verfahren. Wir könnten jetzt am Ende beginnen – beim Qualitätsmanagement, wenn dem nicht bereits die gesamte Qualität unserer Geistesgeschichte ausgetrieben wäre. Also beginnen wir am Anfang; und dieser wird in unserer westlichen Kultur- und Ideengeschichte meistens ins antike Griechenland datiert – bei Platon. Mit ihm beginnt die philosophische Auseinandersetzung mit dem Guten, worunter er eine gelungene Lebensführung verbunden mit dem entsprechenden Seelen- bzw. Geisteszustand verstand. »Eudaimonia« nannte er das, was meistens etwas verkürzt als Glückseligkeit übersetzt wird. Andere Übersetzungen ins Deutsche lauten: Glück, gutes Leben, gelingendes Leben, menschliches Gedeihen, Wohlergehen (Seel, 1999, S. 65). In dem Begriff stecken allerdings zwei Bedeutungen, nämlich eu = gut/gelungen und daimon = Dämon/Geist. Der Begriff bedeutet also, einen guten Geist zu haben. Und in der Tat, die Diskussion von Qualität muss mit dem Menschen und seiner Haltung zur Welt, seiner Einstellung anderen Menschen und den Dingen gegenüber beginnen und nicht mit dem Management. Platon (2004a, S. 51 ff., 20 St.) war diesbezüglich der Ansicht, dass die Menschen quasi von Natur aus nach dem Guten streben. Auch Charles Taylor spricht von »einer besonders grundlegenden Bestrebung der Menschen: dem Bedürfnis nach Verbindung oder Berührung mit dem, was ihrer Ansicht nach gut, von maßgeblicher Bedeutung oder grundlegendem Wert ist« (2016, S. 85). Dabei handelt es sich vor allem um Fragen, die die Art des lebenswerten Lebens betreffen, und wie wir im Verhältnis zu dem, was wir als das Gute ansehen, platziert oder situiert sind. Für Taylor gibt es einen grundlegenden Zusammenhang zwischen unserer Identität und dem Guten, der auf qualitativen Unterscheidungen bezüglich dessen aufbaut, was für uns gut und wertvoll ist, was wir billigen oder ablehnen und was deshalb getan werden sollte. Durch unsere Beobachtungen indizieren wir in der Welt Bedeutungen, indem wir mithilfe von Unterscheidungen die eine Seite bezeichnen und die andere in der Regel unbezeichnet las14

Das Telos der Qualität: Gutes Gelingen

sen (Spencer-Brown, 2004). So unterscheiden wir zum Beispiel Wichtiges von Unwichtigem, Schönes von Hässlichem, Nützliches von Schädlichem, Heiliges von Profanem und eben Gutes von Schlechtem. Ohne solche Unterscheidungen könnten wir uns weder uns selbst noch im kommunikativen gesellschaftlichen Raum verständlich machen. Unsere Identität wird nun durch diejenigen starken qualitativen Unterscheidungen definiert, mit denen wir uns in Bezug auf das positionieren, was wir für gut halten. »Um uns das eigene Leben wenigstens in minimalem Grade verständlich zu machen und um eine Identität zu erlangen, brauchen wir […] eine Orientierung auf das Gute, also ein Gefühl für qualitative Unterscheidungen, für das unvergleichlich Höhere« (Taylor, 2016, S. 94). Theodor W. Adorno (2016, S. 363 ff.) sieht dieses Stre­­ben allerdings nicht als zweifelsfrei und unproblematisch an, wenn es nicht durch Vernunftsbestimmungen vermittelt ist. Deshalb ist für ihn ein wesentliches Moment guter Qualität, dass sie das Moment der Reflexion besitzt, die weiterführt zu einer verbesserten Praxis (Adorno, 2009, S. 204). Im »Staat« (Platon, 2004b, S. 47 ff., 357 St.) werden drei Arten des Guten bestimmt: Dasjenige Gute, das wir um seiner selbst willen anstreben, zum Beispiel Fröhlichkeit, dasjenige, das wir sowohl um seiner selbst willen als auch wegen seiner Folgen begehren, zum Beispiel Gesundheit, und schließlich dasjenige, das wir trotz der damit verbundenen Anstrengungen und Unannehmlichkeiten, aber wegen seiner positiven Auswirkungen wollen, zum Beispiel Leibesübungen. Das höchste Gut ist nun nach Ansicht des platonischen Sokrates in diesem Dialog allerdings die Gerechtigkeit. Und das sah auch Platons Nachfolger Aristoteles so, wenn er in seiner »Nikomachischen Ethik« als höchstes Gut ein gelungenes Leben in einer gerechten Gesellschaft bestimmt. Und gerecht ist, »was in einer staatlichen Gemeinschaft die Glückseligkeit und ihre Bestandteile hervorbringt und erhält« (Aristoteles, 1995, S. 102, 1129b, Hervorh. entf.). Das »höchste menschliche Gut« ist daher, »das Wohl des Gemeinwesens zu begründen und zu erhalten« (S. 2, 1094a). Dazu bedarf es auf der subjektiven Seite der »Klugheit« »in bezug auf das, was das menschliche Leben gut und glücklich macht« (S. 135, 1140a). Das Gute ist der Substanz nach Verstand, der Qualität nach Tugend und der Quantität nach das rechte Maß (S. 7, 1096a). Die Qualität der Tugend wird dann Qualität als Streben nach dem Guten

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sowohl als Habitus als auch als Tätigkeit des Menschen bestimmt (S. 14, 1098b; S. 176, 1153b), »vermöge dessen er selbst gut ist und sein Werk gut verrichtet« (Aristoteles, 1995, S. 34, 1106a). Um das Gute zu befördern, bedarf es also schon bei Aristoteles einer Haltung und einer Klugheit, die ihren Ausdruck im entsprechenden Handeln finden – wie bei Adornos Reflexion auf eine verbesserte Praxis in Vermittlung durch Vernunftsbestimmungen. Qualitätsentwicklung bedarf also als Grundvoraussetzung einer geistig-praktischen Einstellung der Menschen dem Leben gegenüber. Qualitätsethos haben wir dies genannt (Zech, 2007). Das Streben nach dem Guten, das »von Natur angenehm und genußreich ist« (Aristoteles, 1995, S. 227, 1170a), ist für die Beteiligten auch an sich bereits gut, weil es Ausdruck einer bestimmten Einstellung ihrem eigenen Leben gegenüber ist. Dieses Qualitätsethos wurzelt in einer Philosophie des Gelungenen und drückt sich in Qualität schaffenden Handlungen aus, und deshalb »hängt die Qualität des Ziels, das wir uns setzen, von unserer eigenen Qualität ab« (S. 58, 1114b). Das Gute existiert also nicht an sich als unabhängige Substanz, sondern nur als Tat eines Individuums, auf der Grundlage einer entsprechenden Einstellung bzw. Haltung, die auf einer klugen Entscheidung beruhen. Das klingt fast existenzialistisch. Und es ist auch Jean-Paul Sartre, der in seinen nachgelassenen »Entwürfe[n] für eine Moralphilosophie« (2005, S. 965 ff.) darauf aufmerksam macht, dass das Gute nicht außerhalb einer handelnden Subjektivität gedacht werden kann. Es muss durch die Anstrengung einer Subjektivität als objektive Realität gesetzt werden. Das Gute kommt allein durch den Menschen in die Welt und beruht auf einer vorgängigen Wahl. Gutes kann also nicht von den handelnden Personen getrennt werden; und selbst wenn sich das Gute materiell in einem hergestellten Produkt als hervorragende Qualität niedergeschlagen hat, ist es Ausdruck eines Qualitätsethos’ der Produzierenden. Es lässt sich ihnen nicht von außen durch Managementpraktiken aufzwingen. Man muss das Gute wollen! Genau dies macht andererseits auch die Zerbrechlichkeit des Guten aus; es misslingt als technisches Verfahren. Die Subjektivität der handelnden Menschen ist Brücke zwischen einem allgemeinen Anspruch und der realisierten Ergebnisse des Handelns. Die ethische Diskussion über das Gute wird aktuell vor allem von Martin Seel (1999) weitergeführt. Er vertritt einen von ihm sogenann16

Das Telos der Qualität: Gutes Gelingen

ten »reflexiven Eudämonismus«, der aus der Perspektive beliebiger Personen fragt, was es sinnvollerweise heißt, ein gelingendes Leben zu führen. Inbegriff eines guten menschlichen Lebens ist für ihn ein »weltoffen selbstbestimmtes Leben, dessen moralischer und rechtlicher Schutz eine Rücksicht auf alle Individuen mit einschließt, die überhaupt ein (wie immer auch bestimmtes) gutes Leben haben können« (S. 10 f.). Zwar unterscheidet er zwischen einem guten und einem gerechten Leben, das Gute und das Gerechte sind verschieden, bilden aber eine Einheit in der Differenz. Deshalb besteht Seel darauf, dass ein gutes Leben nur in den Bahnen der Gerechtigkeit verlaufen kann, wenn also die Perspektive der anderen um ihrer selbst willen immer mitberücksichtigt wird. Die Bedeutung der Anerkennung der anderen ist die Voraussetzung der Anerkennung durch die anderen; wechselseitige Anerkennungsverhältnisse sind für ein gelingendes Leben existenziell (Honneth, 1992). Eine wichtige Dimension von Anerkennungsverhältnissen ist die wechselseitige Ermöglichung von Selbstbestimmung. Seel (1999, S. 83 ff.) gibt darüber hinaus vier notwendige, allerdings allein noch nicht hinreichende Grundbedingungen eines guten, gelingenden Lebens an, die für die Professionen personenbezogener Arbeit von besonderer Bedeutung sind: Leben 1. in relativer Sicherheit, 2. bei relativer leiblicher und seelischer Gesundheit, 3. in relativer Freiheit und 4. mit relativer Bildung. Darüber hinaus ist es vor allem die Art der Lebensführung, welche sich in einer revisionsoffenen Lebenskonzeption niederschlägt, die ein gelingendes Leben ausmacht. Schon Aristoteles (1995) hatte in seiner Nikomachischen Ethik darauf verwiesen, dass ein gutes Leben nur in einer gerechten Gesellschaft möglich ist. Deshalb ist die Gerechtigkeitsthematik auch für die Frage guten, gelingenden Lebens unverzichtbar. Gerecht ist eine Gesellschaft aber nicht schon, wenn sie allen in ausreichender Form die unverzichtbaren Basisgüter – wie Gesundheit, Sicherheit, Bildung, gegenseitiger Respekt, persönliche Autonomie, Harmonie mit der Natur und Muße für selbstzweckhafte Aktivitäten, die für den Tätigen Erfüllung bedeuten – zur Verfügung stellt, wie Robert und Edward Skidelsky (Skidelsky u. Skidelsky, 2013) meinen. Gerecht ist eine Gesellschaft erst, wenn sie ihren Mitgliedern darüber hinaus auch die notwendigen Verwirklichungschancen bietet. Der ­Capabilities-Ansatz von Amartya Sen (1993) ist daher eine zwingende Ergänzung zu den Qualität als Streben nach dem Guten

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nur auf die Verteilung der Grundgüter einer Gesellschaft ausgerichteten Gerechtigkeitskonzeptionen (vgl. Kapitel 3.3). Capabilities sind die einem konkreten Individuum zur Verfügung stehenden Verwirklichungschancen bzw. die zur Auswahl stehenden Lebensweisen, das heißt die Möglichkeiten einer Person, ein von ihr als gut bewertetes Leben zu verwirklichen. Die Verwirklichungschancen sind zwar einerseits abhängig von den Fähigkeiten, die ein Individuum hat und entwickeln kann; sie liegen aber andererseits auch auf einer gesellschaftlich-strukturellen Ebene der zur Verfügung gestellten realen Möglichkeiten. Neben den unverzichtbaren Basisgütern sind also die Capabilities ein ebenso notwendiger Aspekt einer gerechten Gesellschaft. Ein gutes Leben in einer gerechten Gesellschaft ist also nur möglich, wenn individuelle Handlungsfähigkeiten durch gesellschaftlich-strukturelle Bedingungen ermöglicht und abgesichert werden. Dies verweist auf die Bedeutung der Dimension des Gelingens.

1.2 Qualität als gutes Gelingen Über das Gelingen bzw. über Gelungenes wurde ebenfalls schon früh nachgedacht. Bereits bei dem Vorsokratiker Polykleitos im 5. vorchristlichen Jahrhundert findet sich eine Reflexion über »das Gelingen« (gr. to eu) (Diels, 1922, S. 296). Wenig später lässt Platon in seinem Dialog »Kratylos« Sokrates über Wohlgelungenes und Misslungenes anhand von Dichtung und Malerei philosophieren, um Kriterien aufzustellen, wann Worte wohlgelungen gewählt bzw. Bilder als gelungen betrachtet werden können (Platon, 2004c, S. 116 ff., 431 St.). Diogenes Laertius (1990, S. 89) zieht dann das Gute und das Gelingen zusammen, wenn er über Sokrates schreibt, dass das »gute Gelingen« bereits »mit Kleinem« anfange, auch wenn es »nichts Geringes« sei. Die Reflexion über das gute Gelingen hat die Geistesund Ideengeschichte seither nicht mehr losgelassen. Befragen wir zunächst das Herkunftswörterbuch des Dudens (2001, S. 264): »gelingen: Das nur dt. Verb mhd. [ge]lingen, ahd. gilingan ›glücken, Erfolg haben‹, mnd. lingen, ›glücken, gedeihen‹ ist mit der Sippe von i leicht verwandt. Es bedeutete ursprünglich ›leicht oder schnell vonstatten gehen‹.« Wir setzen es damit vom äußerlichen Erfolg ab, der von der Wortherkunft als ein Hinterher, den Aus18

Das Telos der Qualität: Gutes Gelingen

gang, die Wirkung, die Folge von etwas bestimmt ist. »Folgen« hat als »Rechtsbegriff der Heeresfolge schon in ahd. Zeit die Bedeutung ›sich nach jemandem richten, beistimmen, gehorchen‹« (S. 230, Klammer im Original). Daher die Wortbildungen »befolgen« und »folgsam«. Erfolg bedeutet, dass man etwas geschafft hat, vielleicht aus Folgsamkeit, jedenfalls geht es um das Erreichen eines eher äußerlichen Zieles. So hat erfolgreiches Lernen in der Regel die fremdgesetzten Ziele der pädagogischen Institutionen unserer Gesellschaft erreicht. Das ist für Karrieren nicht unbedeutend, aber deshalb noch kein gelungenes Lernen. Hartmut Rosa (2016, S. 274) weist in Bezug auf Banduras Untersuchungen darauf hin, dass intrinsisches Interesse an einem Weltausschnitt oder Tätigkeitsbereich nicht vom Erfolg oder einer äußerlichen Belohnung abhängt, sondern von der Erfahrung etwas bewirken zu können. Das Gelingen bezieht daher das Subjekt im Sinne seiner Selbstwirksamkeitserfahrung ein, ist ein Glücken, ein Vermögen menschlicher Handlungsfähigkeit, das sich selbstbestimmte Ziele gesetzt hat und diese realisieren kann. Für Ernst Bloch (1976, S. 356) ist das »Summum bonum« die »völlig gelungene Erscheinung des Gelungenen«. Dass diese in der modernen Gesellschaft nur wenig Anerkennung findet, liegt an deren Erfolgsvernarrtheit (Schulze, 2006, S. 182); was zählt im Kapitalismus, ist in erster Linie das Geld. Wenn auch nicht in der Alltagspraxis unserer extern motivierten Leistungsgesellschaft, aber doch in philosophischen Reflexionen über ein gelungenes Leben, spielt der Begriff des Gelingens explizit oder dem Sinn nach eine bedeutende Rolle. Im Kern geht es dabei immer um die Möglichkeit eines selbstbestimmten und verantwortungsvollen Lebens. Sören Kierkegaard (1993) unterscheidet in dieser Hinsicht in seiner Konzeption existenziellen Gelingens die ästhetische Existenzweise der in der Unmittelbarkeit verhafteten Lebensform des unreflektierten Genusses von der ethischen Existenzweise, die sich in einer Doppelreflexion von ihrer Unmittelbarkeit distanziert und sich ihre bisherige oder eine alternativ mögliche Lebensform bewusst aneignet.1 Ein gelingendes Leben beruht also auf einer Doppelbewegung 1 Die religiöse Existenzweise von Kierkegaard vernachlässigen wir, weil sie in unserem Zusammenhang nicht von Bedeutung ist. Qualität als gutes Gelingen

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der Selbstdistanzierung und der Selbstwahl. Ähnlich sieht es Martin ­Heidegger in seiner Schrift »Sein und Zeit« (2001); d ­ ieser unterscheidet die uneigentliche Verfallenheit an das allgemeine »Man« mit seinem Gerede von der Eigentlichkeit einer Existenz, die auf einer Entschlossenheit beruht und sich in einem Entwurf, einer Selbst-Wahl sowie einem Dasein als Sorge ausdrückt. Für Letzteres ist vor allem auch das Mitdasein der Anderen von Bedeutung. Adorno (1982) glaubte hingegen nicht, dass es ein richtiges Leben im falschen geben könne, und sieht ein gelingendes Leben einzig im Standhalten vor dem unversöhnten Zustand der allgemeinen Negativität. Ihm ging es, seit er 1944 mit Max Horkheimer die »Dialektik der Aufklärung« (1990) verfasst hatte, vor allem darum, den allgemeinen Entfremdungszustand, den Bann, unter dem alles Lebendige steht, zu durchschauen, um wenigstens Ansatzpunkte einer versöhnten Praxis zu erkennen. Der versöhnte Zustand bleibt ihm allerdings Utopie und »hätte sein Glück daran, daß in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen« (Adorno, 1982, S. 192). Erfüllung – mindestens im Augenblick – findet dennoch der, dessen Tun gelingt. Die vierte Generation der Kritischen Theorie steht der Möglichkeit des Gelingens nicht mehr ganz so kritisch gegenüber wie die Gründerväter angesichts der Weltkatastrophe 1944. Mit Bezug auf Adorno stellt Seel (2004, S. 36) daher fest, »dass von gelingender Praxis streng genommen erst die Rede sein dürfte, wo sich das menschliche Tun und Lassen nicht mehr primär als Zweckverfolgung, sondern als primär selbstzweckhafte Tätigkeit vollziehen würde«. Rosa (2016, S. 59; Hervorh. i. Original) sieht die wesentliche Dimension eines gelingenden Lebens dann ebenfalls in der Qualität der Weltbeziehungen, »die durch die Etablierung und Erhaltung stabiler Resonanzachsen gekennzeichnet ist, welche es den Subjekten erlauben und ermöglichen, sich in einer antwortenden, entgegenkommenden Welt getragen oder sogar geborgen zu fühlen«. Lassen wir es dahingestellt sein, ob die Welt sich seit dem Zweiten Weltkrieg in einer so grundsätzlichen Weise geändert hat, dass sie statt der Entfremdungserfahrung stabile Resonanzbeziehungen zulässt. Egal wie ein Gelingen auch bestimmt wird, eine Bedingungsanalyse des gelingenden Lebens würde auf jeden Fall – das zeigen alle 20

Das Telos der Qualität: Gutes Gelingen

Autoren – die menschliche Handlungs-, Reflexions- und Entscheidungsfähigkeit ins Zentrum rücken. Wenn Qualität, wie wir gerade sahen, das menschliche Vermögen des Gelingens ist, gelingt ein Leben, wenn es Lebensziele hat, die in Werten begründet sind, die nicht nur für den Einzelnen, sondern für die Gemeinschaft als Ganze von Bedeutung sind. Ronald Dworkin (2012, S. 332 ff.) fragt deshalb, welche Art Werte mit einem gelungenen Leben verbunden sind. In seiner Antwort unterscheidet Dworkin Produktionswerte und Leistungswerte. Mit dem Produktionswert ist gemeint, dass es einem Menschen gelingt, etwas zu schaffen, das material vorliegt und das Leben aller durch einen dauerhaften Wert bereichert. Louis Pasteur hat zum Beispiel entscheidende Beiträge zur Vorbeugung gegen Infektionskrankheiten durch Impfung geleistet, und Ludwig van Beethoven hat neun geniale Sinfonien komponiert. Das ist vielleicht nicht für jeden von uns mal kurz zu machen. Aber jeder von uns kann etwas beitragen dazu, dass unsere Gesellschaft etwas besser und etwas gerechter wird. Darin sieht Dworkin den Leistungswert eines Lebens und meint damit, dass der Einzelne etwas schafft, was von Bedeutung für die Gesellschaft ist, in der er lebt, was also für den verallgemeinerten Anderen bedeutsam und wichtig ist. Bei einem Leistungswert geht es um mehr als nur um mich selbst; der Andere, der Mitmensch spielt hier die entscheidende Rolle. Die Qualität einer Leistung besteht darin, dass sie anderen nutzt, ihnen hilft, sie bereichert – im ethischen, nicht im materiellen Sinne. Dafür ist es zwingend, dass wir das Gute um seiner selbst willen anstreben und nicht nur wegen eines äußeren Zwecks seiner unmittelbaren Folgen, schon gar nicht wegen des rein individuellen Nutzens. Wir können davon ausgehen, dass diejenigen, die in der Bildung, Beratung und Sozialen Dienstleistung beschäftigt sind, einen bedeutsamen Nutzen für andere und für das Gemeinwesen schaffen. Deshalb stellt sich konsequenterweise gerade hier die Frage nach der Qualität ihres Tuns. Qualität bei personenbezogenen Leistungen ist immer ethisch im realen Gemeinsamen fundiert. Wenn man das Gelingen also auf die menschliche Handlungs­ fähigkeit bezieht, dann geht es darum, ob es einem Individuum gelingt, auf der Basis einer reflektierten Entscheidung seine verallgemeinerbar bedeutsamen Ziele und damit seine Identität bewusst zu realisieren. Die Frage des Gelingens und respektive des Misslingens ist damit ein Qualität als gutes Gelingen

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grundlegender Aspekt der menschlichen Persönlichkeitsentwicklung. Eine Grundbedingung gelingenden Lebens ist daher eine unter wie immer günstigen oder widrigen Umständen des Daseins gelingende Selbstbestimmung in weltoffener Perspektive (Seel, 1999, S. 126 f.). Adorno (1970) spricht in einem kleinen Text über Paul Valéry von einer Autorität des Gelingens. Wie wir im Folgenden noch sehen werden, ist es oft die Kunst, die uns ein Exempel des Gelungenen als Vorschein des guten Lebens gibt. Daher ist es ganz in Adornos Sinne, den Ausdruck auch für unseren Kontext zu interpretieren. Was könnte das Autoritative am Gelingen sein? Vermutlich, dass es eine Figur, eine Konstellation, ein Modell (alles Begriffe, die für Adorno in unterschiedlichen Kontexten eine wichtige Rolle spielen) für ein befreites Leben, für einen Zustand der Versöhnung des Menschen mit der Welt abgibt. Deshalb kann Rosa (2016, S. 482; Hervorh. i. Original) schreiben: »Wo Menschen Schönheit erfahren, erfahren sie die Möglichkeit einer gelingenden Beziehung zur Welt und damit reales Glück«. »Die Qualität individuellen Lebens ist eine Sache existenziellen Gelingens, für das es keine Garantien gibt« (Seel, 1999, S. 216). Die Nichtdeterminiertheit, die Unbestimmtheit, die Offenheit der Situationen, in denen wir uns bewegen, ist kein Hindernis, sondern die Voraussetzung des Gelingens, was immer die Möglichkeit des Misslingens einschließt. Daher darf das Gelingen nun nicht selbst zum äußerlichen Erfolgsdruck sich entfremden. Es ist eine falsche Annahme, dass mit der Gestaltung des Lebens und des eigenen Selbst zwangsläufig eine Perfektionierung verbunden ist. Ein Gelingen ist nicht programmierbar; es führt als mögliche andere Seite immer ein Scheitern mit sich. Es geht nicht um den Ausschluss von Widersprüchen und Risiken; auch diese gehören zum Leben dazu. »Dem Gelingen muss das Misslingen gleichberechtigt zur Seite stehen, um das Selbst nicht auf das Gelingen festzulegen und es nicht unter Erfolgszwang setzen zu lassen« (Schmid, 1999, S. 77 f.). Zu den Paradoxien der Erfüllung – die Seel (2006, S. 27 ff.) beschreibt – gehört es eben nicht zwangsläufig, dass sich die wichtigsten Lebensziele eines Individuums tatsächlich erfüllt haben; viel bedeutender ist, dass man sie anstrebt und darin sein Leben insgesamt bejaht. Ein Gelingen ist also nicht allein bereits durch das eigene Streben sichergestellt; es kommt viel Unwägbares hinzu. Man hat es nicht allein in der Hand; zum 22

Das Telos der Qualität: Gutes Gelingen

strebenden Bemühen muss – wie es Adorno (1974, S. 287) metaphorisch formuliert – ein »Akt der Gnade« hinzukommen. Trotzdem gilt, dass Gelingen sich in Handlungsfähigkeit realisiert. »Das Können des Subjekts besteht darin, etwas gelingen zu lassen, etwas auszuführen. Vermögen zu haben oder ein Subjekt zu sein bedeutet, durch Üben und Lernen imstande zu sein, eine Handlung gelingen lassen zu können« (Menke, 2013, S. 13). Die Gelingens­fähigkeit entspricht daher dem Niveau der individuellen Handlungsfähigkeit. Unterstellt, dass Handlungsfähigkeit das erste menschliche Lebensbedürfnis ist (Holzkamp, 1983, S. 243), dann ist die Tatsache, dass eine Handlung gelungen ist, der wesentliche Indikator für eine entwickelte Handlungsfähigkeit, mithin Persönlichkeit des Handelnden. Insofern als die eigene Existenz für ein Individuum logischerweise das erste Existenzbedürfnis ist, dreht sich das ganze menschliche Leben um das Gelingen. Deshalb unterscheidet auch Klaus Holzkamp die menschliche Handlungsfähigkeit begrifflich in eine restriktive Variante, die in der Anpassung an die bestehenden Verhältnisse besteht, und eine verallgemeinerte Variante, die sich in dem Versuch realisiert, gemeinsam mit anderen seine Verfügung über die individuell bedeutsamen gesellschaftlichen Lebensbedingungen zu erhöhen. Da ein gelingendes Leben sich nicht in der Realisierung unmittelbarkeitsverhafteter Augenblicksinteressen erschöpft, bezieht sich ein Gelingen immer auf ein verallgemeinerbares qualitativ Gutes, das wir bereits näher als ein selbstbestimmtes Leben in einer gerechten Gesellschaft (Eudaimonia) kennengelernt haben. Dass Gelingen von Glücken kommt, haben wir etymologisch nachverfolgt, und dass Gelungenes zum Glück beiträgt, war schon eine frühe Einsicht. ­Platon (2004c, S. 119, 433 St.) stellt deshalb auch einen Zusammenhang zwischen dem Schönen und dem Gelungenen her. Das Glück, das in der Begegnung mit dem Schönen aufscheint, besteht in der gelungenen Verwirklichung von praktischen und ethischen Kompetenzen – von Platon und Aristoteles auch Tugend genannt. »Schönheit und Glück bezeichnen die ästhetische und ethische Seite des Gelingens«, stellt Christoph Menke (2013, S. 43) deshalb fest. Gelungenes erkennt man auch an seiner schönen Form. Deshalb sind Stilfragen beim sozialen Handeln von so großer Bedeutung. Qualität als gutes Gelingen

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Gelingen setzt voraus, seines eigenen Lebens mächtig, nicht fremden Bestimmungen ausgeliefert zu sein, nicht austauschbar, nicht nur ein Beliebiger zu sein. Gelingen ist ein Können; es bedarf der Könnerschaft. Diese besteht in der Fähigkeit, etwas gelingen lassen zu können. Die Entwicklung von Handlungsfähigkeit impliziert daher »einen Zuwachs jenes Machtgefühls, welches alles Gelingen mit sich bringt« (Nietzsche, 1980a, S. 33). »Dieses ›Gelingen‹ (nicht irgendeinen objektiv meßbaren Erfolg) registrieren wir im ästhetischen Empfinden als Lustgefühl« (Lehnerer, 1994, S. 72). Immer wieder steht die Kunst Pate, wenn es um die Erfahrung des Gelingens geht. »An Werken der Kunst kann man […], wenn sie gelungen sind, exemplarisch erkennen, wie menschliche Arbeit abläuft, die ohne durchgängigen Zwang und Gewalt zu glücken vermag. Kunstwerke sind entsprechend für Erkenntnis und Wissenschaft ein (bisher weitgehend ungenutztes) Reservoir exemplarischer Methoden freien Gelingens« (Lehnerer, 1994, S. 140). Welche Komponenten die Gelingensfähigkeit im Kontext der Organisations- und Qualitätsentwicklung wesentlich ausmachen, wird im abschließenden 6. Kapitel herausgearbeitet. Das Gelingen einer Handlung zeigt sich auf zwei Ebenen. Neben der Erreichung eines selbstbestimmten inhaltlichen Zieles, das mit der Handlung angestrebt wurde, geht es vor allem um die Realisierung eines Handlungssinns, der aus der Perspektive des handelnden Subjekts mit der Handlung verbunden ist. Gelingen ist wesentlich Sinnerfüllung. Deshalb können wir am Gelingen sachliche, soziale und zeitliche Sinndimensionen (Luhmann, 1991, S. 112 ff.) unterscheiden: Sachlich hat Gelingen einen Problembezug; Gelingen ist dann daran zu erkennen, dass es zu einer Problemlösung in der inhaltlich behandelten Thematik kommt. Sozial hat Gelingen einen Gemeinschaftsbezug; Gelingen ist in dieser Hinsicht daran zu ermessen, dass etwas geleistet wurde, das zu einem gerechten und demokratischen Zusammenleben beiträgt. Zeitlich arbeitet Gelingen mit einer Vorher-Nachher-Differenz; Gelingen ist in dieser Hinsicht daran festzumachen, dass das gegenwärtige Handeln einen positiven Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft markiert. Dass eine Handlung zu einem guten Gelingen geführt hat, erkennt man also daran, dass 1. mit ihr ein subjektiver Sinn realisiert wurde, in dem das handelnde Subjekt sich selbst wieder24

Das Telos der Qualität: Gutes Gelingen

erkennt, 2. eine gemeinschaftsförderliche Leistung erbracht wurde, die 3. wirklich gebraucht wird und von so hochwertiger Qualität ist, dass sie für den Handelnden und seine Zielgruppe einen bedeutsamen positiven Unterschied macht.

1.3 Begründete Maßstäbe für die Praxis »Jeder Tätigkeit […] wohnt ein eigener standard of excellence inne, den zu erreichen oder dem nahe zu kommen die Erfahrung von tätigkeitsbezogener Selbstwirksamkeit ermöglicht« (Rosa, 2016, S. 395). Egal, ob man ein Brot backt oder ein Bild malt, man möchte es gut machen. Das Brot soll schmecken oder das Bild soll gefallen. Handeln orientiert sich immer an Maßstäben bzw. Kriterien, die das Gelingen oder Misslingen der Praxis definieren. Von entscheidender Bedeutung in dieser Frage ist daher, welcher Art die orientierenden Maßstäbe sind. Handelt es sich um Normen, die von außen an die Handelnden herangetragen werden und diese quasi beurteilen oder sind es die Maßstäbe der Handelnden selbst, die ihre Praxis bestimmen? Für eine Qualitätsentwicklung ist die Frage nach der Art der Maßstäbe gewissermaßen der Test, der die Geeignetheit eines Qualitätsmanagements zeigt. Der am meisten im Zusammenhang menschlichen Zusammenlebens verwendete Begriff ist der der Norm – entweder in Gesetzesform oder als moralische Norm. Weiterhin findet man im Zusammenhang von Professionen den Begriff des Standards. In manchen Kontexten der Qualitätsentwicklung wird auch von Kriterien gesprochen. Im Kontext der Lerner- und Kundenorientierten Qualitätsentwicklung benutzen wir den Begriff der Anforderung. Vielfach werden diese Begriffe synonym bzw. nicht eindeutig verwendet, obwohl sie durchaus Unterschiedliches meinen (Zech u. Tödt, 2012, S. VI). In diesem Teilkapitel sollen die Unterschiede, die im Rahmen der Qualitätsentwicklung von Bedeutung sind, herausgearbeitet werden. Immer geht es um Orientierungen für Verhaltensweisen; die Art der Orientierung könnte allerdings unterschiedlicher nicht sein. 1.3.1 Normen Der Normbegriff hat im Bereich der Technik seinen Ursprung. Das lateinische norma bezeichnet ursprünglich das Winkelmaß, eine Begründete Maßstäbe für die Praxis

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Richtschnur (Duden, 2001, S. 563). Aber auch im Zusammenhang gesellschaftlichen Zusammenlebens wird von Normen gesprochen, wenn es um Orientierungsmaßstäbe für individuelle Verhaltensweisen geht (Jaeggi, 1987). Am bekanntesten und am meisten verbreitet sind die sogenannten DIN-Normen der ISO (International Organization for Standardization). Eine Norm meint einen von einer übergeordneten Stelle relativ willkürlich, aber verbindlich festgelegten und allgemeingültigen Maßstab. Beispiel ist die Norm DIN A4 für die Papiergröße 21× 29,7 cm oder das Ur-Meter. Eine Norm duldet keine Abweichung. Abweichungen von der Norm sind Fehler; es wurde etwas falsch gemacht und muss korrigiert werden. Die Übertragung des technischen Normbegriffs in den sozialen Kontext behält die Richtig/Falsch-Unterscheidung bei, obwohl sich soziales Handeln nicht in der gleichen Weise normieren lässt wie technische Größen. Aber auch hier wird eine Normabweichung als Fehler markiert, der durch entsprechende Sanktionen der sozialen Gemeinschaft korrigiert werden soll. Am deutlichsten ist dies bei juristischen Normen, also bei Gesetzen. Der Einzelfall kann eine gewisse Berücksichtigung finden, aber grundsätzlich gelten juristische Normen unterschiedslos für alle. Im Bereich Moral, also der Koordination sittlichen Verhaltens in einer Gemeinschaft, sind die Handlungsspielräume noch am größten, aber auch hier erleben Abweichler durchaus schmerzhafte Sanktionierungen, die sie wieder auf den rechten Weg führen sollen. Die grundsätzliche Richtig/ Falsch-Unterscheidung bleibt immer erhalten. Diese Techniklastigkeit wird der Normbegriff auch im sozialen Kontext nicht los, wenn er von der ISO auf menschliches Handeln im Managementkontext übertragen wird. Bleiben wir also im Bereich sozialen Handelns. Grundsätzlich geht es darum, eine Praxis an bestimmten Merkmalen des Funktionierens dieser Praxis zu orientieren. Dabei lassen sich zwei Normarten unterscheiden: Interne Normen, die sich aus den Eigenschaften einer Sache ergeben. Man kann im übertragenen Sinn von Gattungseigenschaften sprechen. Der Bildungsbegriff impliziert in seiner historischen Herausbildung eine allseitige Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit (vgl. Kapitel 3.1). Ein mechanisches Verhaltenstraining, 26

Das Telos der Qualität: Gutes Gelingen

zum Beispiel bei Erlernen der 10-Finger-Schreibweise auf der Tastatur, wäre daher keine Bildungsmaßnahme. Interne Normen begründen sich aus dem angestrebten Gelingen einer Praxis. Sie sind dem betreffenden Sachverhalt bzw. den damit einhergehenden Bedürfnissen der an der sozialen Praxis Beteiligten angemessen. Historisch-kulturell hat sich in einer Gemeinschaft ein bestimmtes Verständnis von einem Sachverhalt oder einem Sozialverhalt entwickelt, das wohl im Zeitverlauf kollektiv, aber nicht individuell veränderbar ist. Normgeber und Normadressat sind in diesem Fall identisch – eben der entsprechende Sozialverband, welcher es auch immer ist, die ganze Gesellschaft oder die Familie. Die Gemeinschaft erwartet, dass sich ihre Mitglieder an die geltenden Verhaltensweisen halten. Bei Abweichungen kommt es aber nicht zwangsläufig zu Sanktionen, sondern es setzt auch eine Reflexion darüber ein, ob die Normen noch der Sache angemessen sind. Weil sich die Normen an dem Gelingen einer sozialen Praxis orientieren, sind sie veränderbar, wenn ein anderes Verhalten dem Gelingen einer Praxis besser entspricht. Niklas Luhmann (2008) nennt solche Normen kognitive Erwartungen; hier verändern die Betroffenen nicht sich selbst bzw. ihr Handeln, sondern die Normen. Externe Normen werden von außen an einen Sach- bzw. Sozialverhalt herangetragen; sie entspringen nicht diesen selbst. Eine systemäußerliche Instanz schreibt anderen Systemen bestimmte Verhaltensweisen vor. Externe Normen begründen sich durch ihre Festlegung zirkulär. Ein Meter ist ein willkürlich festgelegtes Längenmaß für eine Strecke, die dann für allgemein verbindlich erklärt wird, das heißt nach ihrer Festlegung im Grunde nicht mehr änderbar ist – schon gar nicht von denjenigen, die sich an die Festlegungen halten müssen. Externe Normen gelten, weil sie gelten, das heißt weil sie in einem bestimmten Verfahren festgelegt wurden; ihre Begründung ist zirkulär. Die ISO-Normen für organisationales Management sind hier das beste Beispiel. Eine externe Institution legt für das Management von Organisationen Maßstäbe fest, die als Vorschriften für die Organisationen wirken und an die sich ihre Mitglieder halten müssen. Normgeber und Normadressat sind in diesem Fall unterschiedlich. Abweichungen führen nicht zur Reflexion der Norm, sondern zur Anpassung des Verhaltens an die unveränderte Norm. Gelingt die Anpassung an Begründete Maßstäbe für die Praxis

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die Norm nicht, dann kommt es zu bestrafenden Sanktionen. Luhmann (2008) spricht in solchen Fällen von normativen Erwartungen. 1.3.2 Standards und Qualitätskriterien Standards sind in diesem Verständnis interne Normen einer Profession. Ein Standard ist ein von einer Profession selbst vereinbartes Leistungsniveau. Er begründet sich aus einem sachgemäßen Verhalten, bewertet aber auch mit der Richtig/Falsch-Unterscheidung. Ein Arzt, der seiner Therapie keine gründliche Untersuchung des Patienten vorgeschaltet hat, hat einen professionellen Fehler begangen. Der normative Druck ergibt sich aus den Folgen, die ein bestimmtes Handeln für die anderen, beim Arzt also für die Behandelten, hat. Bei professionellen Standards ist allerdings ein gewisser Spielraum in der Realisierung mitgedacht und sinnvoll. Im Zusammenhang der Qualitätsentwicklung, zum Beispiel in der Kinder- und Jugendhilfe, wird allerdings am Begriff des Standards wegen seiner semantischen Mehrdeutigkeit Kritik geübt (Merchel, 2013, S. 59 ff.). Begriffe wie Mindeststandard oder Verfahrensstandardisierung geben jedenfalls Anlass zu Missverständnissen, weil sie zu sehr auf unveränderbare Festlegungen verweisen. Deshalb hat man sich hier dazu entschlossen, den neutralen Begriff Qualitäts­ kriterium im Sinne von grundsätzlichem Maßstab für die Bewertung von Qualität zu verwenden. Der Streit um Begriffe ist nicht immer müßig, doch sollte man auch nicht glauben, durch Definitionen zu völlig eindeutigen Festlegungen zu kommen. Adorno hat uns in seiner Vorlesung über »Philosophische Terminologie« (1973) gelehrt, dass Begriffe nie eindeutig sind, sondern dass sie sich verändern abhängig von den Kontexten und Konstellationen, in denen sie benutzt werden. Deshalb ist man in der Qualitätsentwicklung gut beraten, die jeweiligen Verwendungszusammenhänge zu betrachten, in denen Begriffe benutzt werden, um dann zu entscheiden, was zur eigenen Praxis passt. 1.3.3 Anforderungen Versteht man Qualitätsentwicklung als Formalisierung von Prozessen, dann verlangt dies eindeutige Normen. Personenbezogene Dienstleistungen in Bildung, Beratung und Sozialer Arbeit sind aller28

Das Telos der Qualität: Gutes Gelingen

dings nicht technologisierbar wie produktbezogene Herstellungsprozesse (Luhmann u. Schorr, 1988, S. 118 ff.), sondern sie sind wie die Wirklichkeit insgesamt vieldeutig und ambivalent. Ambiguität ist ein unvermeidlicher Bestandteil der sozialen Welt. Diese sachliche Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit menschlicher Sach- und Sozialverhalte muss daher in der Art der Qualitätskriterien deutlich werden, sie müssen einen breiten einzelfallspezifisch auszufüllenden Spielraum liefern. In der Lerner- und Kundenorientierten Qualitätsentwicklung arbeiten wir daher mit dem Begriff der Anforderung. Auch Anforderungen begründen sich aus einer gelingenden Praxis im Sinne sachgerechten Verhaltens. Eine Anforderung bezeichnet in unserem Kontext ein Konzept, das Offenheit mit einer gewissen Vorgabe kombiniert. Hier werden allgemeine Rahmenanforderungen als Korridore formuliert, die von den Betroffenen selbstbestimmt inhaltlich ausgestaltet werden müssen. Anforderungen sind Verhaltensorientierungen; sie erfordern diskursive Verständigungen und Vereinbarungen darüber, wie sie im Einzelnen von dem betroffenen System – sei es ein soziales oder ein psychisches – verstanden, ausgefüllt und angewendet werden sollen. Maßstab der begründeten Ausgestaltung einer Anforderung ist hier das bereits (in Kapitel 1.2) erläuterte Gelingen einer sozialen Handlung, also ihr bestmögliches Funktionieren – ihr interner standard of excellence und die Erfüllung ihres Handlungssinns. Die letztendliche Definitionsmacht über die Ausgestaltung von Anforderungen haben die Betroffenen selbst. Die Anforderungen leiten sich aus den mit der Praxis verbundenen Zielen ab. Die Praxis muss der Sache angemessen sein, sonst funktioniert sie nicht, wie sie soll. Auch hier gibt es also eine Soll-Größe, nur dass diese keine willkürliche Festlegung von außen, sondern eine Vereinbarung auf der Basis eines gemeinsamen Ziels ist. Wie beim (bereits behandelten) guten Gelingen lassen sich das Funktionieren und das gute Funktionieren einer Praxis nicht trennen (Jaeggi, 1987, S. 175). Die ethische und die funktionale Begründung einer Praxis sind zwar verschieden, aber doch zwei Seiten einer Medaille. Die ethische Begründung verweist auf das Gutsein einer Praxis an sich, wohingegen die funktionale Begründung die Etablierung, die Ausgestaltung, aber auch die Begründete Maßstäbe für die Praxis

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Änderung der Praxis regelt (S. 165). Es geht um das Was und das Wie. Die beiden Begründungsaspekte gehören zusammen. Ein einfaches Funktionieren irgendwie ist eben noch kein gutes Funktionieren. Aber nur eine Vorstellung vom guten Funktionieren macht ein weniger gutes oder sogar schlechtes als Abweichung vom angestrebten Maß erkennbar; ohne eine Leitvorstellung vom Guten hat man keinen Bewertungsmaßstab für die Praxis. Das hat für die Qualitätsentwicklung von Organisationen eine enorme Bedeutung. Das stumpfe Einhalten externer Normen sichert nicht automatisch eine gute Praxis. Vielmehr müssen die Maßstäbe und ihre Einhaltung von den Betroffenen selbst begründet werden und nicht nur ihre Einhaltung kriteriengeleitet erfolgen. Die Qualitätsmanagementnormen der DIN ISO 9000 ff. legen zwar Maßstäbe für das organisationale Management fest, begründen aber nicht die so festgelegte Praxis in ihrem Gutsein an sich. Dieses wird als mit den festgelegten Normen identisch gesetzt. Der hinter allem stehende Wert der DIN ISO 9000 ff. ist Prozesseffizienz, und diese ist rein formal; entscheidend aber ist, was wie und warum prozessiert wird, und nicht, dass es reibungslos verläuft. Die Qualität personenbezogener Dienstleistungen in Bildung, Beratung und Sozialer Arbeit sollte sich aber aus der inneren ethischen Normativität einer an und mit Menschen vollzogenen Arbeit begründen und nicht aus Wirtschaftlichkeitserwägungen oder Prozesseffizienzkriterien. Erst wenn diese ethische Begründung erfolgt ist, kann man sachangemessene Qualitätskriterien aufstellen, die das daran orientierte gute Funktionieren der diesbezüglichen organisationalen Praxis anleiten können. Die ethische Qualität personenbezogener Dienstleistungen wurde in Kapitel 1.1 und 1.2 bereits als gutes Gelingen begründet, für das bestimmte Kriterien aufgestellt wurden.2 Bevor wir (in Kapitel 1.5) grundsätzlich ausführen wollen, wie eine entsprechende organisationale Qualitätsentwicklung gelingen kann, soll unsere Diskussion guter Qualität personenbezogener Arbeit noch einmal definitorisch zusammengefasst werden. 2 Die einzelnen Qualitätsanforderungen für das gute Funktionieren der organisationalen Praxis finden sich jeweils in den praktischen Leitfäden unserer Lerner- und Kundenorientierten Qualitätstestierung (Zech, 2004, 2007, 2014, 2015a; Tödt, 2008).

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Das Telos der Qualität: Gutes Gelingen

1.4 Definition guter Qualität In der Lerner- und Kundenorientierten Qualitätsentwicklung be­ stimmt jede Organisation ihre eigene Definition des Gelungenen als inhaltliche Zielbestimmung ihrer Arbeit. Diese Zielbestimmung berücksichtigt sowohl die Interessen und Bedürfnisse der Kunden als auch die Aufträge und Möglichkeiten der Anbieter, begründet sich also aus einer guten Praxis für die Adressaten durch die Professionellen. In diesem Unterkapitel schlagen wir eine Definition guter Qualität vor, die den Organisationen bei ihren eigenen Definitionen als Orientierung dienen kann. Es bleibt allerdings unsere Definition; sie ist ein Vorschlag, den wir begründet haben und den wir keinesfalls präskriptiv verstanden wissen wollen. Die Qualität personenbezogener Dienstleistungen begründet sich letztinstanzlich aus der Sinnhaftigkeit dieser spezifischen Praxis für die Betroffenen – also sowohl für die Kunden als auch für die Beschäftigten. Annäherungen an eine Qualitätsdefinition können sich deshalb aus den drei Sinndimensionen professionellen Handelns und Kommunizierens ergeben: ȤȤ In der sachlichen Sinndimension geht es um objektive und objektivierbare Eigenschaften des Handelns, die sich aus den inhärenten Bedingungen der faktischen Dienstleistungen ergeben. ȤȤ In der sozialen Sinndimension geht es um das interpersonale Verhältnis und Verhalten der Beteiligten, das auf wechselseitige Anerkennung und Vertrauen gründet und strategische Umgangsformen ausschließt. ȤȤ In der zeitlichen Sinndimension geht es vor allem um den richtigen Zeitpunkt, wann etwas gesagt und getan wird. Ein Gelingen ist wesentlich an den richtigen Moment gebunden, in dem etwas zu geschehen hat, in dem zugreifend gehandelt werden muss. Im Prinzip richtige Handlungen zum falschen Zeitpunkt sind in der Regel nutzlos oder entfalten nur einen kleinen Teil ihrer angezielten möglichen Wirkungen. Ein weiterer Aspekt dieser Sinndimension bezieht sich auf das richtige Verhältnis von Aktionszeit und Reflexionszeit, damit Praxis nicht zum Aktionismus a­ usartet, sondern bewusst und begründet erfolgt.

Definition guter Qualität

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Unsere nun folgende Definition guter Qualität ist – wie angeführt – eine Metadefinition, die den Organisationen als Rahmen dienen kann, um ihre je eigene Definition gelungener Qualität in einem internen Verständigungsprozess selbst festzulegen. Die organisationsindividuell aufzustellende Definition des Gelungenen dient dann als roter Faden der organisationalen Qualitätsentwicklung. Sie ist die ideale Perspektive, die Leitidee bzw. die regulierende Idee, die die Qualitätsarbeit der Organisation anleiten soll. Qualität in Organisationen der personenbezogenen Dienstleistungen in Bildung, Beratung und Sozialer Arbeit ist gelungen, wenn ȤȤ das Handeln der Beschäftigten in einem Qualitätsethos begründet ist; die Arbeitenden also das Gute auch um seiner selbst willen anstreben und nicht nur aus unmittelbaren Nützlichkeitserwägungen; ȤȤ Qualitätsziele angestrebt werden, die ethisch begründet die Interessen des verallgemeinerten Anderen, das heißt der realen und potenziellen Kunden, berücksichtigen; ȤȤ die organisationalen Strukturen und Prozesse das Gelingen des Handelns befördern und unterstützen; ȤȤ intersubjektive Abstimmungen und gelungene Kooperationsformen vorliegen, die im Gemeinsinn verwurzelt sind; ȤȤ berücksichtigt ist, dass die Leistungen den sachlichen Zeiterfordernissen und den persönlichen Zeithorizonten der Adressaten entsprechen; ȤȤ sich die Qualität schlussendlich in Produkten und Dienstleistungen für die Kunden niederschlägt, die von diesen wirklich gebraucht werden.

1.5 Wie kann Qualität gelingen? Damit sollte deutlich geworden sein, dass es uns in diesem Buch nicht um jegliche Qualität von allem und jedem geht. Auch wenn wir den theoretischen Bogen sehr weit gespannt haben, um die Bedeutung des Themas deutlich zu machen, geht es uns konkret um die Qualität in und von Organisationen der Bildung, Beratung und Sozialen Dienstleistung. Wenn das Gute im organisationalem Kontext die gute Arbeit im Sinne einer bestmöglichen Dienstleis32

Das Telos der Qualität: Gutes Gelingen

tung für die Kunden und bestmöglicher Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten ist (vgl. Kapitel 2), dann gibt die entsprechende Definition des Gelungenen das Entscheidungskriterium an die Hand, welche Handlungen im organisationalen und individuellen Kontext sinnvoll zu vollziehen – und gegebenenfalls eben auch zu verbessern – sind, nämlich diejenigen, die begründet zu einer Realisierung der definierten guten Qualität beitragen. Dazu soll Qualitätsentwicklung verhelfen. Unter diesem Gesichtspunkt sind allerdings nicht alle sogenannten Qualitätsmanagementsysteme gleichermaßen geeignet. Wenn bestimmte QM-Systeme unterstellen, man könne durch fremddefinierte Normen und entsprechende Formalisierungen Qualität überwachungsartig herbeiprüfen, dann sind sie zumindest für personenbezogene Dienstleistungsorganisationen ungeeignet. Solche Systeme fußen auf einem maschinenartigen Organisationsmodell fordistischtayloristischer Prägung und sind historisch und wissenschaftlich überholt. Wenn zudem die an die Organisationen herangetragenen fixen Normen sich nicht theoretisch ausweisen müssen, dann führen sie – sofern nicht technische Produkte, sondern Organisationen und deren Personal betroffen sind – immer zu Normierungen zum ­Zwecke wirtschaftlicher Verwertbarkeit und zur Anpassung an lediglich effizienzorientierte Produktionstechnologien. Um Qualität in Bildung, Beratung und Sozialer Dienstleistung gelingen zu lassen, bedarf es einer anderen Logik. Dafür sind im Prinzip drei Schritte nötig: 1. Definition des Gelungenen: Erstens müssen sich die Beteiligten darüber einigen, unter welchen Bedingungen sie ihre Dienstleistung als gelungen betrachten. Da diese immer für andere von Nutzen sein müssen, müssen sie deren Standpunkt einnehmen und definieren, a) welche objektiven Bedingungen gegeben sein müssen, b) worüber zwischen Anbietern und Nutzern Einigkeit bestehen muss und c) was zu den jeweiligen subjektiven Vorlieben der Beteiligten gehört, die sich mindestens nicht widersprechen dürfen. In einem diskursiven Beratschlagungsprozess geben sich die Beteiligten also ein handlungsleitendes Selbstverständnis. 2. Bestimmung der Gelingensfaktoren: Im nächsten Schritt muss die Organisation die (Rahmen-)Bedingungen bestimmen, die Wie kann Qualität gelingen?

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einen bedeutenden Einfluss auf das Gelingen ihrer Arbeitsleistung haben. Beispielsweise sollte sie die subjektiven Bedürfnisse ihrer Kunden und die gesellschaftliche Bedarfslage gut kennen. Sie sollte geklärt haben, mit wem sie wie kooperieren muss und will, um ihr Anliegen voranzubringen. Und sie sollte wissen, an welchen konkreten, beobachtbaren, aus der Definition des Gelungenen abgeleiteten Indikatoren sie erkennen kann, ob ihre Dienstleistung gelungen ist und nicht nur, ob sie äußerlich betrachtet erfolgreich war. 3. Gestaltung der Gelingensfaktoren: Schließlich müssen unter dem Gesichtspunkt und der Leitvorstellung der Definition des Gelungenen die konkreten Arbeits- und Kooperationsbedingungen so gestaltet werden, dass diese das Gelingen der Dienstleistung bestmöglich fördern und unterstützen. Erst wenn diese drei Schritte gegangen wurden, sind die Bedingungen vorbereitet, unter denen eine ausweisbare Qualität, die den Beteiligten wichtig und wertvoll ist, gelingen kann. Damit Qualität gelingt, müssen schließlich personale, interaktionale, organisationale und gesellschaftliche Voraussetzungen erfüllt sein: Zu den personalen Voraussetzungen gehört ein Qualitätsethos. Die Arbeitenden zeigen durch die Art, wie sie ihre Arbeit verrichten, dass ihnen an den Menschen, für die und mit denen sie arbeiten, und an den Produkten und Dienstleistungen, die sie erbringen, etwas liegt. Sie sind selbst an Qualität interessiert, denn die Qualität der Arbeit verrät viel über die Arbeitenden. Da die Beschäftigten in Bildung, Beratung und Sozialer Dienstleistung zweifellos bedeutsame Arbeit für die Zukunft unserer Gesellschaft leisten, ist ihre eigene Einstellung zur Qualität von grundlegender Bedeutung. Die interaktionalen Voraussetzungen bestehen im Wesentlichen in gelungenen Kooperationsformen, die in einem realen Gemeinsamen wurzeln. Das Gemeinsame ist der gesellschaftliche Auftrag, den es bestmöglich zu erfüllen gilt, weil damit unter anderem auch über unsere Zukunft entschieden wird. Arbeit am Humanum – also Tätigkeiten, die unmittelbar an und für einzelne Menschen verrichtet werden – hat eben deshalb eine besondere Verantwortung, und 34

Das Telos der Qualität: Gutes Gelingen

diese drückt sich in den angestrebten Zielen, aber auch in den Formen der Zusammenarbeit aus. So hat Fritz B. Simon (2004) gezeigt, dass Gruppen und Teams, je nach der Qualität ihrer Zusammenarbeit, klüger, aber auch dümmer sein können als die Summe der Einzelintelligenzen der Beteiligten. Die organisationalen Voraussetzungen bestehen in der Konzeptions-, Prozess- und Strukturqualität der Bildungs-, Beratungs- und Sozialen Dienstleistungsanbieter, die sich schlussendlich in der Ergebnisqualität ihrer Produkte und Dienstleistungen widerspiegeln muss. An diese Stelle gehören also auch alle die Fragen, die in den anderen Kapiteln dieses Buchs diskutiert werden, also ob zum Beispiel Kommunikation, Reflexion und Kooperation sowie Bildung, Beratung und Soziale Dienstleistung gelingen. Personenbezogene Dienstleistungen in der Bildung, Beratung und Sozialen Arbeit sind sogenannte reflexive Güter, das heißt sie werden nicht wie feste Produkte vom Anbieter zum Kunden gereicht, sondern entstehen in einem Prozess der Kooperation, der auf die Qualität dieser Güter zurückwirkt. Qualität besteht deshalb in diesen Kontexten nicht darin, dass man irgendwelche Verfahren einführt und Prozesse standardisiert. Qualität entsteht hier im Kern daraus, dass man reflektiert und begründet tut, was man tut. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen spielen selbstverständlich eine besondere Rolle. In einer Gesellschaft, deren Ökonomie auf unkontrolliertem Wachstum und rücksichtsloser Ausbeutung der fossilen und humanen Ressourcen beruht und die die Zerstörung der Umwelt deshalb in Kauf nimmt, ist gute Qualität nur von nachrangiger Bedeutung. Die Wirtschaft ist in erster Linie daran interessiert, aus Geld mehr Geld zu machen. Dass die Bedarfsbefriedigung dabei von nachrangiger Bedeutung ist, zeigt sich unter anderem daran, dass zum Teil bis zu dreißig Prozent der vertriebenen Produkte unbenutzt auf dem Müll oder auf Flohmärkten landen – teilweise noch originalverpackt. Die Menschen sind für diese Wirtschaft schon nicht mehr als Konsumenten interessant; es reicht, wenn sie als Käufer fungieren. Im Zweifel befördert die Werbung den Verkauf von Dingen, die keiner wirklich braucht. Eine nachhaltig wirtschaftende Gesellschaft ist daher die entscheidende Voraussetzung dafür, dass dauerhaft und nachhaltig die Qualität der Produkte und Wie kann Qualität gelingen?

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Dienstleistungen, aber auch der Arbeits- und Lebensformen an erster Stelle steht. Dass trotzdem auch jeder und jede Einzelne seinen bzw. ihren Verantwortungsanteil trägt und auch im Rahmen seiner bzw. ihrer Möglichkeiten einen entsprechenden Beitrag leisten kann, hat Harald Welzer (2014) gezeigt. Der Verweis auf hinderliche gesellschaftliche Bedingungen fungiert meist als Ausrede; es liegt an uns, sie zu ändern! Gute Qualität ist Ergebnis und Ausdruck des Gelingens organisationalen und individuellen Handelns. Welche gesellschaftlichen, organisationalen, interaktionalen und personalen Gelingensbedingungen im Einzelnen dabei in der Qualitätsentwicklung zu berücksichtigen sind, wird im Schlusskapitel 6 entfaltet.

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Das Telos der Qualität: Gutes Gelingen

2 Der Zweck der Qualitätsentwicklung: Gute Arbeit

Worum geht es eigentlich in der Qualitätsentwicklung? Das scheint bei der ganzen Technisierung in der Diskussion über das Qualitätsmanagement vollkommen in Vergessenheit geraten zu sein. Der Zweck der Qualitätsentwicklung ist die Schaffung der Bedingungen für gute Arbeit – als Ergebnis im Sinne einer guten Leistung für die Adressaten und Abnehmerinnen sowie als Prozess im Sinne guter Leistungsbedingungen für die Arbeitenden selbst.3 »Einem guten menschlichen Leben muß die Dimension – müssen die Dimensionen – gelingender Arbeit offenstehen«, schreibt Seel (1999, S. 142). Arbeit ist zwar kein Selbstzweck, sondern realisiert einen fremden Zweck; dennoch ist Arbeit auch Teil eines gelingenden Lebens – sofern sie ein Teil ist und nicht als Pathologie alle anderen Bereiche des Lebens kolonialisiert. Für Seel ist eine Grundbedingung guter Arbeit, dass sie ein erkennbarer Beitrag zum gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Leistungstausch ist, das heißt ein Produkt herstellt, das die Arbeitenden tatsächlich auf dem Wege dieser Arbeit erreichen möchten. »Von gelingender Arbeit können wir also nur dort sprechen, wo ein gewünschter Zweck auf Wegen erreicht wird, die der Arbeitende zum Erreichen dieses Zwecks auch gehen will« (Seel, 1999, S. 147). Eine zweite Grundbedingung guter Arbeit ist, dass die individuelle Arbeitsfähigkeit – trotz notwendiger, aber gewoll3 Dieses Kapitel lehnt sich eng an Passagen aus zwei kleinen Büchern an, von denen eines zusammen mit Hans-Jürgen Arlt verfasst wurde, dem wir in diesem Zusammenhang unseren besonderen Dank für die bereichernden Diskussionen über den Arbeitsbegriff aussprechen (vgl. Arlt u. Zech, 2015 und Zech, 2015b). Für die Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft hat Arlt (2017) unlängst eine prägnante und radikale Kritik vorgelegt, die aufzeigt, dass Arbeit und Freiheit sich hier grundsätzlich ausschließen, weil es nicht die Arbeitenden sind, die über die Bedingungen ihrer Arbeit verfügen.

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ter Anstrengung – zugleich als Ausübung einer sozialen Kompetenz verstanden werden kann. Arbeit leidet also darunter bzw. sie hört auf, gute Arbeit zu sein, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen sinnvollen Produzierens nicht in ausreichendem Maße gegeben sind. Nicht nur die Verteilung, die Bezahlung, die Dauer etc. – also die sachlichen, finanziellen und zeitlichen Bedingungen – sind unter dem Gesichtspunkt guter Arbeit zu kritisieren, wie es etwas kurz gegriffen von gewerkschaftlicher Seite geschieht. Die entscheidende Frage ist die nach den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen, in die die Arbeit eingelassen ist. Die Entscheidung darüber, ob unter Bedingungen einer totalen Vermarktlichung produziert wird oder im Interesse der Bedarfsbefriedigung der Weltbevölkerung, ist eine ethische Vorentscheidung, die grundsätzlicher ist als die, ob diese Art der Arbeit dann mehr oder weniger human organisiert wird. Bei dem bereits von Marx (1975, S. 161 ff.) kritisierten gesellschaftlichen Produktions- und Eigentumsverhältnis, das sich in der Beziehung Geld-Ware-mehr Geld (G-W-G') ausdrückt, geht es um die grundsätzliche Frage, ob der Bedarf und der entsprechende nützliche Gebrauch das Movens der Produktion ist oder die Realisierung eines Profits, bei dem dann Arbeit zum bloßen Mittel der Kapitalverwertung degeneriert. Um zu einer genaueren Bestimmung dessen zu kommen, was gute Arbeit ausmacht, muss zunächst geklärt werden, was überhaupt als Arbeit zu verstehen ist. Dies ist vor allem deshalb nötig, weil der Arbeitsbegriff sämtliche Bereiche des menschlich-gesellschaftlichen Lebens überformt hat. Nahezu alle menschlichen Lebenstätigkeiten werden als Arbeit bezeichnet, wie Trauerarbeit für die Verarbeitung eines Verlustes, Erziehungsarbeit für das begleitete Aufwachsen der folgenden Generation, Schularbeit für Lernen und Lehren, politische Arbeit für die Beteiligung an der Gestaltung des Gemeinwesens, künstlerische Arbeit für den freien kreativen Selbstausdruck und sogar als Gipfel des Grauens Beziehungsarbeit für die Pflege der zwischenmenschlichen Liebe und Partnerschaft. Kaum ein gesellschaftliches Tätigkeitsfeld, das mittlerweile nicht arbeitsförmig umcodiert wurde. Aber Arbeit war nicht immer alles bzw. nicht immer war alles Arbeit. Ein Blick in die Ideengeschichte hilft zur Klärung (Arlt u. Zech, 2015). 38

Der Zweck der Qualitätsentwicklung: Gute Arbeit

2.1 Zur Archäologie des Arbeitsbegriffs »Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht.« Das war die Zeit des Paradieses, als es noch keine Arbeit gab. Die Menschen sollten »nicht Schätze sammeln auf Erden«, denn ihr »himmlischer Vater ernährte sie« mit den üppigen Naturgaben des Garten Eden (Matthäus 6,19–28). Diese wahrhaft paradiesische Zeit war zu Ende, als die Menschen begannen, nach Erkenntnis zu streben. Den Angriff auf seine Allmacht beantwortete Gott mit der Vertreibung aus dem Paradies und einem Fluch. Er verfluchte den Acker, die menschliche Lebensgrundlage: »Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang« (1 Mose 3,17). Diese große Erzählung spiegelt die Lebenserfahrung der Menschen wider, die weitgehend ohne Technik gezwungen waren, ihren täglichen Bedarf an Lebensmitteln der Natur abzuringen. In dieser Erfahrung liegt wahrscheinlich der Grund, warum das Wort Arbeit in fast allen Sprachen etymologisch gleichbedeutend mit Mühsal und Qual ist – im Französischen sogar mit Folter. »Das gemeingerm. Wort bedeutete ursprünglich im Deutschen […] ›schwere körperliche Anstrengung, Mühsal, Plage‹« (Duden, 2001, S. 46). Im Japanischen bedeutet »beschäftigt zu sein«, wenn man das entsprechende Zeichen genau übersetzt, »das Herz zerstören« (Suzuki, 2007, S. 188). Arbeit und wirtschaftliche Aktivität wurden bis zur Moderne zwar als unvermeidlich akzeptiert, allerdings als notwendiges Übel. Daher ist Wolfgang Reinhard (2007, S. 17) der Ansicht, dass unsere heutige positive Bewertung von Arbeit erklärungsbedürftig ist und nicht die ursprüngliche. Heute ist Arbeit zur Pathologie geworden, die sämtliche Bereiche des menschlich-gesellschaftlichen Lebens kolonialisiert hat. »Hier also wird die Abstraktion der Kategorie ›Arbeit‹, ›Arbeit überhaupt‹, Arbeit sans phrase, der Ausgangspunkt der modernen Ökonomie, erst praktisch wahr« (Marx, 1974a, S. 25). Das war aber nicht immer so. Frühe Gesellschaften hatten diesen Abstraktionsbegriff Arbeit für alle ihre relevanten Tätigkeitsformen nicht. Im alten Ägypten gab es Winzer, Schuster, Schreiber, Weber, deren Tätigkeit als das benannt wurde, was sie eben konkret taten. Das altägyptische Wort, das heute meist mit Arbeit übersetzt wird, bedeutet eigentlich Tragen, bezeichnet also eine spezielle Tätigkeit Zur Archäologie des Arbeitsbegriffs

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derjenigen, die im Wesentlichen einfache Arbeiten ausführten, zum Beispiel beim Bauen (Eggebrecht et al., 1980, S. 42). Im klassischen Griechenland gab es die subsistenzsichernde landwirtschaftliche Tätigkeit, vornehmlich der Heloten und Sklaven (ponos), die werkschaffende Tätigkeit der in der Regel freien Handwerker und Künstler (poiesis), die auf die Gestaltung des sozialen Zusammenlebens in der Polis bezogene Tätigkeit des Adels (praxis) und die tätige Muße der (Selbst-)Bildung der Philosophen (scholé) (Brunner, Conze u. Kosseleck, 1974, S. 154 ff.). Bei den Römern findet die Ablehnung von Arbeit ihre Fortsetzung. Harte körperliche Tätigkeiten, die nur der puren Notwendigkeit dienen, sind unehrenhaft. »Eines Freien unwürdig und schmutzig sind die Erwerbsformen aller Tagelöhner« (Cicero, 2007, S. 131). Solchen Tätigkeiten werden die ehrenvollen freien Künste (artes liberales) gegenübergestellt. Zu diesen gehören Rhetorik, Mathematik, Musik, später auch Medizin und Jurisprudenz. Das lateinische Verb laborare, das wir üblicherweise mit arbeiten übersetzen, bezog sich nur auf die mühevollen, schmutzigen, unwürdigen Tätigkeiten. Wenn sozial höher gestellte Personen dennoch einer Form von Arbeit nachgingen, bezeichnete man diese im Altgriechischen als ascholia und im Lateinischen als negotium, was in beiden Fällen Nicht-Muße bedeutet. Aber auch das mit der Neuzeit entstehende Bürgertum arbeitete nicht. Es ging seinen Geschäften (frz. les ­affaires) nach oder war beschäftigt (engl. busy, woraus das abstrakte ­business gebildet wurde). Auf jeden Fall arbeitete der Bürger noch nicht (Moretti, 2014, Einl., Anm. 18). Auch das Mittelalter, das als finsteres bekannt ist, hatte keinen positiven Arbeitsbegriff. Finster war es besonders für die, auf denen die Last der Sicherung der gesellschaftlichen Reproduktion lag, also vor allem den leibeigenen Bauern. Priester und der Adelsstand waren von der Arbeit befreit. Das erfuhr seine Rechtfertigung sogar durch Thomas von Aquin, der ausdrücklich erklärte, dass nur die Notwendigkeit zur Arbeit zwinge und Gottes Gebot der körperlichen Arbeit nicht allgemein verpflichtend sei (Brunner et al., 1974, S. 162). Dies änderte sich erst durch den Protestantismus. Bereits Paulus hatte den Thessalonichern geboten: »wenn jemand nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen« (2 Thess, 3,10; Hervorh. entf.). Aber erst Calvin 40

Der Zweck der Qualitätsentwicklung: Gute Arbeit

und Luther dehnten die Arbeitspflicht auf alle aus. Ihrer Lehre lag der Arbeitsbegriff des neuen Testaments zugrunde: Arbeit war Gottesdienst als Fortsetzung von Gottes Schöpfungswerk und dem Beten gleichgestellt (ora et labora). Müßiggang wurde jetzt als Faulheit imaginiert und abgelehnt. Jetzt sollten auch die Reichen und die Pfaffen arbeiten, auch wenn sie dazu nicht durch Notwendigkeit gezwungen waren. Trotzdem wurde das Wort Arbeit in der Umgangssprache des 16. bis 18. Jahrhunderts noch keineswegs auf alle menschlichen Tätigkeiten des zweckgerichteten Schaffens angewandt; die Bedeutungstradition von Mühe und Qual wirkte nach (Brunner et al., 1974, S. 165). Auch wenn Arbeit ideologisch zur Tugend erklärt wurde, hieß das nicht, dass die Menschen diese nun mit Freude taten, ihr nicht doch so schnell es eben ging wieder entflohen. Michel Foucault (1977) hat aufgezeigt, dass es Jahrhunderte gedauert und viel Blut, Schweiß und Tränen gekostet hat, bis man die Menschen für den Arbeitsdienst, für lebenslängliches, ununterbrochenes Arbeiten diszipliniert hatte. Dazu mussten regelrechte Disziplinaranstalten in der Form von Zucht- und Arbeitshäusern eingerichtet werden, in die man alle internierte, die aus welchen Gründen auch immer zum Arbeiten nicht bereit oder in der Lage waren, also Bettler, Landstreicher, Diebe, Kranke und Verrückte. Sie dienten als Mahnung für die Masse, sich dem Arbeitszwang nicht zu entziehen. Eine grundsätzliche Änderung vollzog sich erst, als der Protestantismus seine Liaison mit dem entstehenden Kapitalismus einging. Die protestantische Prädestinationslehre und innerweltliche Arbeitsaskese vermählten sich mit der allgemeinen Arbeitspflicht zum Geist des Kapitalismus (Weber, 2006, S. 23 ff.). Nun waren in den Köpfen alle gesellschaftlichen Halterungen gekappt, die die Wirtschaft im Zaum gehalten hatten, und die Arbeit konnte sich zur allgemeinen Form entwickeln, die alle anderen Tätigkeitsformen subsummierte. Bei John Locke (1977) wurde Arbeit zur Ursache von Eigentum, für Adam Smith (2009) war sie die Quelle für den Wohlstand der Nationen. Soweit stimmte auch noch Marx zu, der sich nie so recht entscheiden konnte, ob er den Menschen von der Arbeit oder ob er die Arbeit befreien wollte, damit besser gearbeitet wird. Marx definierte Arbeit als den Prozess, in dem der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt (1975, S. 192). Zur Archäologie des Arbeitsbegriffs

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In der Würdigung der Bedeutung der Arbeit geht Marx aber einen Schritt weiter, wenn er Hegel zustimmend »die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt«, der den »wirklichen Menschen als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift« (1974b, S. 574). Hier taucht Arbeit dann erstmalig im Zusammenhang mit der menschlichen Selbsterschaffung auf. Dennoch war Marx weit davon entfernt, den Menschen auf Arbeit zu reduzieren. Für ihn begann das »Reich der Freiheit […] erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört […]. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt« (1976a, S. 828). Erst wenn der Mensch davon befreit ist, durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung auf nur »einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird«, festgelegt zu sein, kann er sein wahres Spektrum an Tätigkeitsformen realisieren, »heute dies, morgen jenes zu tun. Morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu betreiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden« (Marx u. Engels, 1969, S. 33). Von Platon (2004b, S. 398, 601 St.) war das Herstellen an den Gebrauch geknüpft worden; es war sogar der Gebrauchende, der »dem Verfertiger Auskunft [geben sollte], was er richtig oder falsch macht für den Gebrauch des gewünschten Gegenstandes.« Noch Hegel (1986a, S. 353) sprach von der »Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit und der Befriedigung der Bedürfnisse«. So war Arbeit seit Menschengedenken gedacht worden – verbunden mit der Wendung der Not des Lebens und Überlebens. Ob als Gottes Fluch oder Segen, Arbeit diente der Befriedigung der Reproduktionsbedürfnisse im Gebrauch des Produzierten. Waren die Bedürfnisse befriedigt, dann hörte die Arbeit auf, und die Menschen konnten sich anderen Tätigkeiten zuwenden, bis sich die Bedürfnisse wieder regten. Damit macht der Kapitalismus Schluss. Ab jetzt bestimmt das Kapital, was und wie viel hergestellt wird. Der Zusammenhang von Bedürfnisbefriedigung im Gebrauch und Herstellung des dafür Notwendigen zerreißt. Produziert wird für den Verkauf, der das investierte Kapital mit dem entsprechenden Gewinn an den Investor zurückführt. Es ist sogar unbedeutend, ob die hergestellten Produkte konsumiert werden; es reicht, wenn sie verkauft werden, wodurch 42

Der Zweck der Qualitätsentwicklung: Gute Arbeit

der Profit realisiert wird. Das Kapital macht sich in diesem Prozess alle Tätigkeiten, die mittelbar und unmittelbar seiner Verwertung dienen, untertan. Alles kann zur Arbeit werden und wird Arbeit. Damit einher geht die Abwertung von Muße zu Müßigkeit im Sinne von Faulheit. Nicht-Arbeit ist im kapitalverwertenden Sinne nicht produktiv und muss auf die Wiederherstellung von Arbeitskraft in der Freizeit beschränkt werden.

2.2 Arbeit als Einheit aus Bedarf, Leistung und Gebrauch Arbeit als »Grundlage aller menschlichen Zivilisation« (Rifkin, 1996, S. 17) zu bezeichnen oder gar als »erstes Lebensbedürfnis« (Marx, 1976b, S. 21), kann zutreffend, aber auch eine der semantischen Aufladungen sein, mit welchen sich die moderne Arbeitsgesellschaft einredet, alternativlos als beste aller Welten dazustehen. Daher soll von uns ein Zugang zur Arbeit gesucht werden, der ihrem reichen historischen Bedeutungshaushalt gerecht wird und dabei eine analytische Schärfe besitzt, die ihre Konturen hervortreten lässt. Wir nennen Arbeit den Teil sozialen Handelns, der sich auf die subsistenzsichernde Reproduktion des gesellschaftlichen und damit auch des individuellen Lebens richtet. Unter Rückgriff auf die Geschichte der Arbeit wollen wir den Begriff also für die Tätigkeiten im Wirtschaftssystem reservieren. Durch die Beschränkung des Arbeitsbegriffs auf den ökonomischen Kontext bleibt uns die Freiheit, die anderen Formen sozialen Handelns mit ihrem eigenen Namen zu nennen: künstlerisches Handeln für das Machen/Verfertigen/Herstellen eines Werkes, politisches Handeln für die Gestaltung unseres Gemeinwesens, Bildung für die Gestaltung des Humanum, Erziehung für die aktive Sozialisierung der folgenden Generation usw. Menschlich-gesellschaftliches Leben zeichnet sich durch den Umgang mit Zeichen (Kommunikation) und den Umgang mit Dingen (Tätigkeit) aus. Arbeit wäre nach unserer Vorstellung eine Form der gesellschaftlichen Tätigkeit neben anderen, wie Erziehung, Rechtsprechung, Liebe etc. Man hätte Tätigkeit auf diese Weise – wie Luhmann die Kommunikation – aus der substanzontologischen Betrachtung befreit und nach ihrer Funktion im gesellschaftlichen Arbeit als Einheit aus Bedarf, Leistung und Gebrauch

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Prozess definiert. Dient ein Tun der materiellen Produktion/Reproduktion als Operator des Wirtschaftssystems, dann ist es Arbeit. Dient die gleich aussehende Tätigkeit der Pflege meines Gartens oder der Unterstützung meiner Freunde, dann wäre dies gegebenenfalls Hobby oder Freundschaftsdienst. Es kommt also auf den Sinnzusammenhang an, in dem eine Tätigkeit stattfindet und nicht auf die Tätigkeit an sich. Hausarbeit, wiewohl unbezahlt und in der Regel immer noch von Frauen verrichtet, fällt hingegen unter den Arbeitsbegriff, weil sie Teil des subsistenzsichernden gesellschaftlichen Reproduktionskreislaufs ist (Arlt, 2017, S. 11). Soziale Systeme – auch funktionale gesellschaftliche Teilsysteme wie das Wirtschaftssystem – sind Sinnsysteme. Der Sinnhorizont des gesellschaftlichen Systems definiert also die Tätigkeit als eine spezifische. Wie Kommunikation im Wirtschaftssystem zu wirtschaftlicher Kommunikation wird, so wird die Tätigkeit im Wirtschaftssystem zu Arbeit. Wenn wir also wissen wollen, in welchen gesellschaftlichen Funktionskreislauf eine Tätigkeit gehört, dann können wir fragen, an welcher Grundunterscheidung sie sich orientiert. Geht es in der modernen Gesellschaft um Zahlung/Nichtzahlung, dann ist die Tätigkeit Teil des ökonomischen Systems und damit Arbeit. Geht es um Liebe/Nicht-Liebe, dann bewegen wir uns im Intimsystem und es handelt sich bei der betrachteten Tätigkeit um einen Akt der Zuneigung. Geht es um Recht/Unrecht, dann haben wir es mit einer juristischen Tätigkeit im Rechtssystem zu tun. Auf diese Weise kann Arbeit präzise und scharf abgegrenzt werden von anderen Tätigkeitsformen in anderen Sinnsystemen, die phänomenologisch gleich aussehen, die aber anderen Autopoiesen anderer Sinnsysteme als Operator dienen. Wir gewinnen durch diese begrifflichen Abgrenzungen mehr Präzision und einen größeren Differenzierungsgrad für unser Verständnis von Arbeit. Arbeit ist ein gesellschaftskonstituierendes soziales Handeln ebenso wie Kommunikation. Wie Kommunikation auf der Seite des Senders eine Information voraussetzt, die in eine Mitteilung überführt und schließlich von einem Empfänger verstanden wird (Luhmann, 1991, S. 191 ff.), besteht auch Arbeit aus einer dreifachen Selektion. Vorausgesetzt ist ein Bedarf, dieser führt zu einer Leistung, die von jemandem gebraucht wird. Deshalb wird Arbeit von 44

Der Zweck der Qualitätsentwicklung: Gute Arbeit

uns als Verhältnis bestimmt, das erstens auf Bedarf beruht, zweitens eine Leistung für die Gesellschaft zur Verfügung stellt, die drittens diesen Bedarf im Gebrauch der Leistungen befriedigt. Die Sozialität wohnt der Arbeit also systematisch inne: Sie beruht auf einer gesellschaftlichen Bedarfslage und auf Bildungsprozessen, die Kompetenzen entwickeln. Die Kompetenzen setzen sich um in Leistungen, die in unmittelbarer oder zumindest mittelbarer Kooperation realisiert werden. Da die produzierten Leistungen auf einem realen Bedarf beruhen, werden sie von anderen auch wirklich gebraucht – und zwar im doppelten Sinne: Sie benötigen die Leistungen und sie nutzen sie. Der Kreis hat sich geschlossen. Da nun allerdings die kapitalistische Wirtschaft nicht der Logik des Bedarfs, sondern der Bedarf der Wirtschaft folgt (Luhmann, 1974, S. 208), ist dieser natürliche Kreislauf gestört. Arbeit ohne Ende und Arbeitslosigkeit ereignen sich gleichzeitig. Kapitalistisch interessant ist einzig und allein das Verhältnis zwischen den Kosten der Leistung und den Einnahmen durch deren Verkauf. Um solche Einnahmen zu generieren, muss möglichst unablässig, möglichst produktiv, möglichst billig geleistet werden. Zum Zweck der Mehrwertproduktion werden Güter hergestellt, die keiner braucht bzw. für die erst ein künstlicher Bedarf geschaffen werden muss. Dafür sind die Marketingabteilungen und die Werbeagenturen zuständig. Was gekauft wird, wird im Nachhinein zu einem Bedarf umgedeutet, den es vorher gar nicht gegeben hat. Wenn allerdings nicht für den Bedarf, sondern für den Verkauf produziert wird, bedeutet dies, dass im Sinne eines gelungenen gesellschaftlichen Lebens nicht gearbeitet, zumindest keine gute Arbeit geleistet wurde. Die kreisförmige Logik der Arbeit aus den aufeinander bezogenen Komponenten Bedarf, Leistung und Gebrauch gerät also in Turbulenzen, sobald die kapitalistische Wirtschaft die Führung übernimmt. Zu den pathologischen Symptomen gehört, dass jeder Gebrauch recht ist, vor allem wenn er in einen schnellen Verbrauch mündet, dass nur zahlungsfähiger Bedarf von Interesse ist, dass die größte Aufmerksamkeit der Differenz gilt zwischen den Kosten der Leistung und den Einnahmen, die für den Gebrauch bezahlt werden. Ökonomisch werden die Qualitäten der Arbeit, also die Merkmale und Eigenschaften des Bedarfs, der Leistung und des Gebrauchs, Arbeit als Einheit aus Bedarf, Leistung und Gebrauch

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zu Dienerinnen der Quantitäten des Geldes. Noch so dringender Bedarf wird ignoriert, solange Zahlungsfähigkeit nicht erwartet wird. An dieser Stelle wird nachvollziehbar, weshalb ein Qualitätsmanagement, das sich umstandslos in den Dienst der Wirtschaft stellt, Kundenorientierung und Prozessoptimierung als zentrale Orientierungsgrößen propagieren muss. Wenn kein Bedarf existiert, sondern die Leistung sich ihren Gebrauch erst suchen und erfinden muss, hängt alles davon ab, Kunden dafür zu gewinnen, sich einen Gebrauch dieser Leistung vorstellen zu können und letztlich sogar für wünschenswert zu halten. Das kann nur mit optimaler Kundenorientierung funktionieren. Wenn zum anderen die Leistungserbringung möglichst produktiv, reibungslos und kostengünstig vonstattengehen muss, ist Prozessoptimierung der Königsweg. Bedarf, Leistung und Gebrauch sind drei so grundlegende gesellschaftliche Dimensionen, dass die Art und Weise, wie sie realisiert werden, maßgeblich darüber entscheidet, ob wir es mit einer guten und gerechten Gesellschaft und mit guter Arbeit zu tun haben. Umgekehrt lassen sich sozial gespaltene, ökologisch unverantwortliche oder gesundheitlich schädliche Verhältnisse daran erkennen, welcher Bedarf gesellschaftlich anerkannt, welche Leistung abgefordert und welcher Gebrauch von den Erzeugnissen gemacht wird. Wird die Frage nach der Qualität von Arbeit ernst genommen, muss sie jede ihrer drei Komponenten reflektieren.

2.3 Dimensionen und Kriterien guter Arbeit Gute Arbeit kann daher grundsätzlich über die drei unverzichtbaren Selektionen definiert werden: Vorausgesetzt wird ein gesellschaftlicher Bedarf und die Bildung von Kompetenzen, die sich in der Leistungserstellung realisieren. Dabei geht es nicht nur um Ausbildung, sondern darüber hinaus auch um eine die Arbeitenden als gesellschaftliche Persönlichkeiten entwickelnde Bildung, verstanden als allseitige Entfaltung ihrer geistig-rationalen, musisch-ästhetischen und sinnlich-körperlichen Kräfte (vgl. Kapitel 3.1). Diese menschlichen Gestaltungskräfte realisieren sich in der Herstellung von Produkten und Dienstleistungen. Neben der gesellschaftskonstituierenden Form von Arbeit realisiert sich im Herstellungsprozess eine 46

Der Zweck der Qualitätsentwicklung: Gute Arbeit

zweite Form der Sozialität: die Zusammenarbeit (vgl. Kapitel 5.4). Gute Arbeit meint nun allerdings mehr als arbeitsteilige Kooperation; vielmehr geht es um gelingende kollektive Praxisformen, die auf das real Gemeinsame eines guten Lebens verweisen und in ihm wurzeln. Dieser Gesamtprozess findet seinen Beweggrund und seinen Abschluss darin, dass etwas produziert wurde, das zur Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens wirklich gebraucht wird, das heißt einen echten Bedarf befriedigt. Mit dem Gebrauch dessen, was geleistet wurde, endet die Arbeit, bis der Kreislauf mit einem neuen Bedarf wieder von vorn beginnt. Die daran beteiligten Individuen haben jenseits dieses Prozesses dann die Möglichkeiten, ihr Menschsein in anderen Formen sozialen Handelns zu realisieren, sei es, dass sie sich ihren Partnern, Kindern und Freunden widmen, sich kulturell betätigen oder an der Gestaltung ihres Gemeinwesens beteiligen. Mit Arbeit haben diese anderen Formen sozialen Handelns dann jedoch nichts mehr zu tun. Gute Arbeit funktioniert allerdings ab dem Moment nicht mehr, wenn das Arbeiten kapitalistisch überformt wird. Denn wenn das Movens der Arbeit nicht mehr im Bedarf, sondern in der erweiterten Reproduktion des investierten Kapitals liegt, springt der Prozess aus seiner Verankerung; er wird selbstzweckhaft und beginnt »ein Steigerungsspiel in der Logik des Suchtverhaltens« (Arlt, 2014, S. 129). Gute Arbeit ermöglicht den Arbeitenden hingegen resonante Weltbeziehungen (Rosa, 2016), das heißt die Erfahrung, dass die gegenständliche und soziale Welt den Kompetenzen der Menschen in der Weise positiv antwortet, dass die Arbeitenden im sinnvollen Leisten die Erfahrung der Wirksamkeit in der Vergegenständlichung und Entwicklung ihrer menschlichen Kräfte machen. »Selbstwirksamkeitserfahrungen« sind daher ein »elementarer Bestandteil eines gelingenden Arbeitsverhältnisses« (S. 545). Wenn allerdings »das Gefühl für die Qualität der Arbeit unter dem Druck der Kennziffern verschwindet und keine Zeit für das Genießen von und die Erholung nach Erfolgen bleibt, während Anerkennungssignale durch Vorgesetzte nur noch strategisch, zur Aktivierung noch größerer Anstrengungen wahrgenommen werden, droht für die Betroffenen in der Tat eine zentrale Resonanzachse des modernen Lebens zu versiegen« (S. 399). Solche Arbeitsbedingungen ermöglichen keine Selbstwirksamkeits­ Dimensionen und Kriterien guter Arbeit

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erfahrungen; eher begünstigen sie eine Form der Selbstverdinglichung der Arbeitenden. Gerade der gegenwärtig so verbreitet wie affirmativ diskutierte Wandel zur Arbeitswelt 4.0 (Spath, 2012) vergrößert mit seinem Versuch, den ganzen Menschen mit seinen Selbstverwirklichungsbedürfnissen und Leidenschaften für die kapitalistische Produktion zu vereinnahmen, die Gefahr der Verdinglichung noch mehr. Gute Arbeit ist darum grundsätzlich nur in einer guten Gesellschaft möglich, die ihren Individuen ausreichende Möglichkeiten eines gelingenden Lebens bietet. Schon Aristoteles (1995) hatte in seiner Nikomachischen Ethik darauf verwiesen, dass ein gutes Leben nur in einer gerechten Gesellschaft möglich ist. Deshalb ist die Gerechtigkeitsthematik auch für die Frage guter Arbeit unverzichtbar. Wie bereits in Kapitel 1.1 gezeigt, ist eine Gesellschaft aber nicht schon gerecht, wenn sie allen in ausreichender Form die unverzichtbaren Grund- bzw. Basisgüter zur Verfügung stellt – wie Freiheiten, Rechte, Chancen, Einkommen und Vermögen (Rawls, 1979) oder Gesundheit, Sicherheit, Bildung, gegenseitiger Respekt, persönliche Autonomie, Harmonie mit der Natur und Muße für selbstzweckhafte Aktivitäten (Skidelski u. Skidelski, 2013). Gerecht ist eine Gesellschaft erst, wenn sie ihren Mitgliedern darüber hinaus auch die notwendigen Verwirklichungschancen durch die Bereitstellung entsprechender gesellschaftlicher Bedingungen bietet (Sen, 1993). Dass kapitalistische Gesellschaften – und die Globalisierung sorgt dafür, dass es andere im Grunde nicht gibt – ein erhebliches Gerechtigkeitsdefizit haben, ist offensichtlich. Eine Ökonomie, die nicht auf Nachhaltigkeit beruht, sondern die auf Gedeih und Verderb in ihrer selbstzerstörerischen Steigerungsspirale gefangen ist, kann Qualität und gute Arbeit nicht wirklich garantieren. Dennoch sollten wir nicht gleich aufgeben und auf jegliche Verwirklichungschancen guter Arbeit resignativ verzichten. Das widerspräche jedem Handwerkerstolz, gute Arbeit abliefern zu wollen, die dem inhärenten standard of excellence der ausgeübten Tätigkeit entspricht (vgl. Kapitel 1.3). Gute Arbeit zu leisten, ist – trotz verbreiteter Klagen über innere Kündigungen von Arbeitnehmern/Arbeitnehmerinnen – immer noch eine der wesentlichen Motivationen von Beschäftigten, die nicht bereit sind, auf Sinnerfüllung in einem so wesentlichen Lebensbereich wie der Berufsausübung zu verzichten. 48

Der Zweck der Qualitätsentwicklung: Gute Arbeit

Daher sollen abschließend Kriterien genannt werden, die an gute Arbeit anzulegen wären. Als wichtigstes Gütekriterium von Arbeit nennt Marianne Gronemeyer (2012) die Rückerstattung. Gut ist ihrer Ansicht nach eine Arbeit, wenn sie in der Lage ist, die menschlichen und natürlichen Kräfte, aus denen sie sich nährt, nicht nur zu erhalten, sondern auch zu entwickeln (S. 53). Damit ist einerseits gemeint, dass die Fähigkeiten der Arbeitenden nicht nur genutzt, sondern auch gebildet werden und dass die Arbeit nicht nur erschöpft, sondern auch befriedigt. Andererseits müssen auch die natürlichen Ressourcen nicht nur verbraucht, sondern auch erhalten werden, und die Produktion von Müll sollte so gering wie möglich ausfallen. Daher gelten als Gütekriterien unter anderem Dauerhaftigkeit, Haltbarkeit, Reparabilität und Ressourcenschonung. Grundsätzlich sollte gute Arbeit sich aus dem gesellschaftlichen Nutzen legitimieren, den sie stiftet. Gute Arbeit ist sinnvolle Arbeit. Bei aller guten Arbeit bleibt dennoch von Bedeutung, dass Arbeit nur einen Teilbereich gelingenden Lebens ausmacht. Wichtig ist deshalb, dass jenseits der Arbeit genügend Zeit und Energie bleibt, um andere Tätigkeiten und Beteiligungsformen zu realisieren – seien es kulturelle oder politische. Wie bereits in Kapitel 1.2 erwähnt, differenziert Ronald Dworkin (2012) in seiner Ethik zwischen dem Produktionswert und dem von ihm sogenannten Leistungswert eines guten Lebens. In beiden Fällen geht es wesentlich darum, dass die anderen im Blick sind, für die etwas geschaffen wird. Mit dem Produktionswert ist gemeint, dass es gelingt, etwas zu schaffen, das material vorliegt und das Leben aller durch einen dauerhaften Wert bereichert, sei es im gegenständlichen oder im kulturellen Sinne, also zum Beispiel ein Impfstoff oder eine Sinfonie. Auch beim Leistungswert geht es darum, dass die Gesellschaft bereichert wird – allerdings im ethischen, nicht im materiellen Sinne. Hier geht es um Beiträge zum gelingenden gesellschaftlichen Zusammenleben, zum Beispiel durch soziale Dienstleistungen wie der Lebensberatung. Dafür müssen die Arbeitenden das Wozu der Arbeit im Blick haben und es mitbestimmen, mindestens aber bejahen können. Diese Mitbestimmung oder Bejahung bezieht sich auf die Ziele, die Mittel, die Zeitdisponibilität und die Ergebnisse der zu leistenden Arbeit. Schließlich ist ein ganz wesentliches Kriterium Dimensionen und Kriterien guter Arbeit

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die gelingende Zusammenarbeit der Arbeitenden (vgl. Kapitel 5.4). Und dies meint mehr als die ständig beschworene Teamarbeit; es geht um eine grundsätzlich konkurrenzfreie Kooperation jenseits herrschaftlicher Unterordnung. Erst wenn solche Gütekriterien von Arbeit so weitgehend wie möglich berücksichtigt und realisiert sind, können wir von guter Arbeit sprechen. Darauf hätte gutes Qualitätsmanagement sich zu richten. Leistet es dies nicht, dann dient es nur dazu, die menschliche Arbeit jenseits substanzieller Qualitätsvorstellung auf verwertungsgerechte Verfahrensförmigkeit zu degenerieren. Wir haben bisher ideengeschichtlich, soziologisch und in gewisser Weise auch anthropologisch argumentiert, um grundsätzlich bestimmen zu können, was eigentlich gute Arbeit im Kern ausmacht. Wir können dies in einem Satz zusammenfassen: Gut ist eine Arbeit dann, wenn sie sich in einem humanen und ökologischen Sinne an den gesellschaftlichen und individuellen Entwicklungsbedarfen ausrichtet, sich in einer Weise vollzieht, die ihre Naturbedingungen schont, und die Kräfte der Arbeitenden in solidarischen Kooperationsformen entwickelt, um diesen ein weltoffen selbstbestimmtes Leben in einer gerechten Gesellschaft zu ermöglichen. Mit den Worten von Friedrich Engels (1974, S. 370) wird gute Arbeit die Konkurrenz aufheben und die Assoziation der Produzenten an ihre Stelle setzen, um »einen Zustand der Gesellschaft möglich [zu] machen, in welchem so viel von allen Lebensbedürfnissen produziert wird, daß jedes Mitglied der Gesellschaft dadurch in den Stand versetzt wird, alle seine Kräfte und Anlagen in vollständiger Freiheit zu entwickeln und zu betätigen.« Auf dem Weg dorthin versuchen seit dem Beginn der Arbeiterbewegung die Gewerkschaften dafür zu sorgen, dass das Arbeiten im Kapitalismus humanen Grundanforderungen nicht zu sehr ­wider­spricht. Der »DGB-Index Gute Arbeit« ­(www.index-gute-arbeit. dgb.de) listet Kriterien für die Arbeitsqualität auf. Diese gehen von den Einfluss-, Gestaltungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten der Beschäftigten, über soziale, körperliche und emotionale Belastungsfragen, mit der Arbeit verbundenen Sinnansprüchen, der Betriebskultur und Führung bis zu Sozialleistungen und Beschäftigungssicherheit. Das ist alles richtig. Die kapitalistische Form des Wirtschaftens stellen die Gewerkschaften allerdings nicht infrage. Eher hat man den 50

Der Zweck der Qualitätsentwicklung: Gute Arbeit

Eindruck, dass sie mit ihren Forderungen nach Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit zu den tragenden Säulen der Arbeitsgesellschaft geworden sind. Das Reich der Freiheit, in dem die menschliche Kraftentwicklung sich als Selbstzweck gilt, ist allerdings jenseits der Arbeit angesiedelt, deshalb ist die Verkürzung des Arbeitstages dafür die erste Grundbedingung (Marx, 1976a, S. 828). Dass dies technologisch und von der Seite der Arbeitsproduktivität durchaus möglich ist, hatte John Maynard Keynes (2007) bereits 1930 berechnet und für die Zukunft seiner Enkelkinder prognostiziert. Drei Stunden pro Tag bzw. 15 Stunden in der Woche würden reichen, um die Bedürfnisse aller zu befriedigen. Dass dieser befreite Zustand immer noch nicht eingetreten ist, liegt nicht an der Arbeit selbst, sondern an der Tatsache, dass sie unter Kapitalverwertungsgesichtspunkten verrichtet werden muss. Kapitalismus und – möglichst billige – Arbeit ohne Ende ist das Gleiche (Herrmann, 2015). Möglicherweise eröffnet hier ein bedingungsloses Grundeinkommen einen Ausweg, wenn nicht auch dieses nur ein Weg ist, unter neoliberalen Wirtschaftsbedingungen Kosten zu reduzieren und die Lasten auf die Individuen abzuwälzen. Um das Unterkapitel über gute Arbeit aber nicht pessimistisch ausklingen zu lassen, wollen wir abschließend darauf hinweisen, dass die Lerner- und Kundenorientierte Qualitätsentwicklung in ihren verschiedenen Qualitätsbereichen viele Möglichkeiten bietet, gute Arbeit zu befördern, denn jeder Tätigkeit wohnt ein eigener Exzellenzstandard inne, der ihren inhärenten Verwirklichungsbedingungen des guten Gelingens entspricht (vgl. Kapitel 1.3). So kann gute Arbeit zunächst als Selbstverpflichtung in das Leitbild der Organisationen aufgenommen werden. Im Bereich der Bedarfserschließung kann darauf Wert gelegt werden, umfassende individuelle und gesellschaftliche Entwicklungsbedarfe zu erheben und nicht nur wirtschaftskompatible. Die organisationalen Schlüsselprozesse können so definiert werden, dass sie nicht nur Effizienzgesichtspunkten genügen, sondern den Beschäftigten genügend Gestaltungsfreiheit lassen. Die Bedingungen der Produkt- und Dienstleistungserstellung wären so zu gestalten, dass die im Leitbild definierte Qualität gelungener Bildung, Beratung und Sozialer Arbeit unterstützt wird. In internen Dimensionen und Kriterien guter Arbeit

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Evaluationen sollte überprüft und bewertet werden, ob nicht nur die Kunden zufrieden sind, sondern ob sich auch die fachlichen Indikatoren des Gelungenen nachweisen lassen. Kooperationsverhältnisse wären konkurrenzfrei zu gestalten. Die organisationale Infrastruktur muss gute Bedingungen für die Arbeitenden und die Kunden schaffen. Führung hätte eine besondere Aufgabe darin, humane Arbeitsmöglichkeiten bereitzustellen und eine solidarische Arbeitskultur zu ermöglichen. Das Personal wäre nicht nur eng in den zu verrichtenden Tätigkeiten zu schulen, sondern auch in seiner persönlichen Entwicklung zu unterstützen. Im Controlling könnten Kennzahlen und qualitative Indikatoren entwickelt werden, um das Erreichen guter Arbeit zu überprüfen. Die Kundenkommunikation sollte die Zielgruppen, Adressatinnen und Abnehmer nicht nur unter Vertriebsgesichtspunkten, sondern in der Fülle ihrer Persönlichkeiten ansprechen. Schließlich wäre die Unternehmensstrategie darauf zu richten, gute Arbeit in gesellschaftlicher Verantwortung durch die eigene Organisation zu fördern. Vielleicht nicht optimale, aber doch wenigstens relativ gute Arbeit ist auch unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen möglich. Diese zu befördern, ist der eigentliche Sinn von Qualitätsentwicklung. Deren Gegenstände werden im folgenden Kapitel behandelt.

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Der Zweck der Qualitätsentwicklung: Gute Arbeit

3D  as menschliche Maß: Die Gegenstände der Qualitätsentwicklung

Dieses Kapitel widmet sich den Gegenständen der Qualitätsentwicklung, denn an den Ergebnissen der Organisationen entscheidet sich in letzter Instanz, ob gute Arbeit im Interesse der Kunden geleistet wurde. Um bezüglich der Qualität der angestrebten Organisationsleistung Orientierung zu liefern, werden im Folgenden die drei Arbeitsgegenstände der Lerner- und Kundenorientierten Qualitätsentwicklung – Bildung, Beratung und Soziale Dienstleistung – unter dem Gesichtspunkt ihrer Gelungenheit vorgestellt. Wie bereits bei unserer Definition guter Qualität (in Kapitel 1.4) handelt es sich um einen Vorschlag, der den Organisationen zur Orientierung dienen kann, und nicht um eine Musterlösung.

3.1 Gelungene Bildung »Wie der Bildhauer die Skulptur gestaltet, besteht Selbstbildung in dem Versuch, sich selbst zu formen, die eigenen Anlagen zu entwickeln und so ein gelingendes Leben zu führen« (Hastedt, 2012, S. 7). Ein gutes Leben impliziert die Möglichkeit einer gelungenen Bildung, die hier zunächst begrifflich, dann definitorisch und schließlich in ihren Gelingensbedingungen vorgestellt wird. »Bildung wird also verstanden als Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung, die die Emanzipation von Fremdbestimmung voraussetzt oder einschließt, als Befähigung zur Autonomie, zur Freiheit des eigenen Denkens und eigener moralischer Entscheidungen« (Klafki, 1994, S. 19). 3.1.1 Theoretische Bestimmungen In Bildung steckt als sinnlicher Kern: etwas formen bzw. sich ein Bild von etwas machen bzw. sich nach einem (Vor-)Bild selbst gestalten. Dieser Wortursprung verweist auf das mittelalterliche imago dei, das – am Beispiel von Jesus Christus – die Gottesebenbildlichkeit als 53

die Nachbildung Gottes in der menschlichen Seele meinte. Bei der Bildung geht es ums Lernen; darauf wird zum Ende des Abschnitts noch einmal kurz eingegangen. Das Wort lernen kommt ursprünglich von dem mittel- und althochdeutschen list, das vor allem im Zusammenhang mit Kampf und Jagd stand. Es bedeutete: einer Spur nachgehen, nachspüren, riechen (gotisch: lais; Duden, 2001, S. 95 f., S. 482). Lernen, sich bilden meint also einem Gedanken oder einer Sache geistige Gestalt geben. Es geht immer um eine sinnlich-rationale Formgebung. Michel Foucault (2004, S. 66 ff.) meinte, Bildungsaspekte bereits in den klassisch-griechischen Selbsttechniken verorten zu können, aber Bildung – so wie wir sie verstehen – ist ein modernes Konzept, auch wenn Reflexionen zur Pädagogik (gr. paideia) bei ­Platon und Aristoteles bereits eine große Rolle spielen. Unsere heutige Bildungsvorstellung beginnt frühestens in der Renaissance mit der Geburt des modernen Individuums, zum Beispiel bei Pico della Mirandola im 15. Jahrhundert, der sich intensiv den Studien zur Bildung seines Geistes und der Erkenntnis der Wahrheit gewidmet hat (2001, S. 41). 1647 steht dann im »Handorakel und Kunst der Weltklugheit« (Gracián, 2013, S. 9 f.), »den Vollkommenheiten fehlt die Hälfte, wenn ihnen die Bildung fehlt. Jeder Mensch hat, ohne künstliche Bildung, etwas Rohes und bedarf, in jeder Art von Vollkommenheit, der Politur.« Für das 17. Jahrhundert lässt sich noch Comenius (1992) anführen, der an die Bildbarkeit aller Menschen glaubte und eine entsprechende Didaktik entwickelte. Mit der beginnenden Moderne meint Bildung dann nicht mehr, sich in eine vorgegebene Form, die nur nachzubilden wäre, einzupassen, sondern einen lebenslangen aktiven Prozess der reflexiven Selbstgestaltung (Koselleck, 2012, S. 141 f.) – eine individuelle Leistung, die – wie Kant (1977, S. 53) es 1783 schließlich ausdrückte – den Mut voraussetzt, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Aufklärung und Bildung sind daher zwei Seiten derselben Medaille. Kant wird bis in unsere Zeit für die umfassende Bestimmung dessen, was Bildung meint, maßstabsbildend bleiben (vgl. im Folgenden). Allerdings werden bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die beiden Begriffe Bildung und Kultur noch häufig synonym gebraucht, bis sich mit dem deutschen Sonderweg einer reformistischen Moderni54

Das menschliche Maß: Die Gegenstände der Qualitätsentwicklung

sierung Bildung als besonderes Konzept des sogenannten Bildungsbürgertums durchsetzt. Zuvor wurde der Begriff also schon benutzt, allerdings eher handlungspraktisch und alltagsbezogen, also ohne die spätere Emphase der Bildung der Menschheit im Individuum. Erst mit der Spätaufklärung, ihrer Aufladung mit dem Neuhumanismus und ihrem unbegrenzten Vertrauen auf die Sprengkraft der Vernunft entsteht der typisch deutsche semantische Gehalt des Begriffs, der sich nur unzulänglich in andere Sprachen übersetzen lässt. Für diesen Bedeutungswandel spielten vor allem Shaftesbury und Rousseau eine Rolle, die in Deutschland zu dieser Zeit sehr populär waren (Bollenbeck, 1994, S. 96 ff.). Infolge dessen definiert Wilhelm von Humboldt Bildung dann als Selbstbildung, als zweckfreie und allseitige Entwicklung der gesamten Persönlichkeit, also der geistig-rationalen Seite des Menschen ebenso wie ihrer musisch-ästhetischen und ihrer sinnlich-körperlichen. »Der wahre Zweck des Menschen […] ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung« (von Humboldt, 1967, S. 22). Und in ihrer idealen Form hat Bildung auch eine gesellschaftliche Dimension, sei es in der sozialen Integration des Individuums in eine Gemeinschaft, die durch Bildung gefördert wird, oder als gesellschaftliche Demokratisierung, die erst allseitige Bildung für alle möglich macht. Allerdings: »Bildung allein hat nie, wie sie es wähnte, eine vernünftige Gesellschaft herbeigeführt oder garantiert« (Adorno, 2003, S. 575). Dazu bedarf es politischer Umwälzungen. Johann Gottfried Herder (1990) bezog am Ende des 18. Jahrhunderts in sein universales geschichtliches Fortschrittskonzept bereits die gesamte »Bildung der Menschheit« ein. Und der Großmeister der Systemphilosophie Hegel (1986b) erklärte in seiner »Phänomenologie des Geistes« Bildung sogar zum Grundprinzip des objektiven Geistes, also der Weltentwicklung überhaupt. Im Individuum bildet sich gewissermaßen der Weltgeist und jenes nur durch diesen. »Die Bewegung der sich bildenden Individualität ist daher unmittelbar das Werden derselben als des allgemeinen gegenständlichen Wesens, das heißt das Werden der wirklichen Welt« (S. 365). In diese Dimensionen müssen wir uns nicht versteigen, auf jeden Fall ist Bildung mehr als die Ansammlung von Wissen, SpezialkenntGelungene Bildung

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nissen und Expertentum. Bildung ist im Unterschied zu Qualifizierung selbstzweckhaft und hat die Entfaltung aller menschlichen Kräfte zum Ziel. Der Zweck ist »der aufgeklärte, unterrichtete, feine, vernünftige, gebildete, Tugendhafte, geniessende Mensch« (Herder, 2002, S. 31). Bildung ist eine Lebensform, ein Ethos, eine beständige und allseitige Selbst-Bildung durch Welterkenntnis. Deshalb erklärte das umfassend gebildete Individuum Johann Wolfgang von Goethe (1909, S. 478): »Der Mensch erkennt sich nur selbst, insofern er die Welt erkennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird.« Sein »Wilhelm Meisters Lehrjahre« (1962a) ist später als Bildungsroman paradigmatisch geworden. Dessen bürgerlicher Protagonist durchläuft in diesem Roman unterschiedliche Stufen der Bildung seiner Persönlichkeit, denn »alles, was uns begegnet, läßt Spuren zurück, alles trägt unmerklich zu unserer Bildung bei« (S. 531). Orientiert ist Wilhelms Bildungsweg am Ideal einer allseitig entwickelten Persönlichkeit, die für ihre Bildung selbst verantwortlich ist. Durch Schiller (1961) erhält der idealistische Bildungsbegriff dann seine ästhetische Prägung. In der Einheit von Verstand und Sinnlichkeit geht es ihm darum, die »mannichfaltigen Anlagen im Menschen zu entwickeln« (S. 338) und dessen Vereinseitigung in einem nur dem Nutzen als Idol huldigenden Staat zu überwinden, denn »ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt im Ohre«, bildet der Mensch nie die »Harmonie seines Wesens« und die »Menschheit in seiner Natur« aus (S. 336). Als Ästhetik der Existenz, also als Sorge und gestaltende Arbeit an sich selbst mit dem Ziel, seinem Leben eine schöne und gute Form zu geben, hat Foucault (1986a, 1986b) dieses ästhetische Programm – durchaus mit Blick auf die Gegenwart – in seinen letzten beiden Büchern ausgeführt. Die »Kultur seiner selbst« (1986b, S. 53 ff.) hatte Foucault allerdings bereits zuvor 1981/1982 in seiner Vorlesung »Hermeneutik des Subjekts« am Collège de France herausgearbeitet. Hier benutzt er für die französischen Begriffe »culture de soi« bzw. »formation de soi« explizit das deutsche Wort »Selbstbildung« (2004, S. 69). Mit diesen Gedanken trifft sich Foucault mit Adorno (2003, S. 94), der Bildung »als Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung« bezeichnete. Adorno ist aber auch derjenige, der die Resignation von 56

Das menschliche Maß: Die Gegenstände der Qualitätsentwicklung

Bildung auf Halbbildung kritisierte, weil die kapitalistischen Verhältnisse den Arbeitenden die Voraussetzungen zur Bildung, die in der Muße bestehen, verweigern. Halbbildung ist aber keine halbe Bildung, sondern geradezu ihr Gegenteil, weil Halbverstandenes nach seiner Ansicht nicht Aufklärung fördert, sondern Ressentiment. Die philosophische Bildungsidee, die einmal angetreten war, die Menschen in ihrem Umgang miteinander und ihrem Naturverhältnis zu zivilisieren, ist durch ihre kulturindustrielle Vermarktung einer Verödung des zum bloßen Mittel zugerichteten Geistes degeneriert. Trotzdem bewahrt sich in ihrem Zustand der Entfremdung noch ihr ursprünglich besseres Potenzial, das auf die Möglichkeit realer Autonomie der Einzelnen in einer freien Gesellschaft verweist. Deshalb ist am Ideal der Bildung festzuhalten, auch nachdem die Gesellschaft ihr die Basis entzogen hat, als Eingedenken in einen besseren Zustand, der möglich ist. »Die Kraft dazu aber wächst dem Geist nirgendwoher zu als aus dem, was einmal Bildung war« (Adorno, 2003, S. 121). »Fraglos ist in der Idee der Bildung notwendig die eines Zustands der Menschheit ohne Status und Übervorteilung postuliert, und sobald sie davon etwas sich abmarkten läßt und sich in der Praxis der als gesellschaftlich nützliche Arbeit honorierten partikularen Zwecke verstrickt, frevelt sie an sich selbst. […] Soweit in der Bildungsidee zweckhafte Momente mitklingen, sollten sie ihr zufolge allenfalls die Einzelnen dazu befähigen, in einer vernünftigen Gesellschaft als vernünftige, in einer freien Gesellschaft als freie sich zu bewähren« (S. 97 f.). Das Bildungsideal bezieht sich also nicht nur auf die Pädagogik, sondern kennzeichnet eine humane Gesellschaft im Ganzen. HansGeorg Gadamer (1990, S. 15 ff.) zeigt deshalb auch dessen Bedeutung für die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften auf. Orientiert an Herder und Hegel sieht er Bildung als Pflicht gegenüber sich selbst in der Emporbildung zur Humanität in einer gemeinschaftlichen Welt. Er unterscheidet die praktische Bildung von einer theoretischen, die er in der Zumutung sieht, im Nicht-Unmittelbaren, im Fremdartigen, im Anderen das Eigene zu erkennen und darin heimisch zu werden. Deshalb zählt auch die Bildung des Gemeinschaftssinns (sensus communis) und des Geschmacks zu den vornehmsten Aufgaben der Erziehung. Der Sensus communis ist ein sittlicher Sinn, Gelungene Bildung

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der Gemeinsamkeit dadurch stiftet, dass er das Zuträgliche für die Gemeinschaft vom Abträglichen, das Tunliche vom Untunlichen, das Schickliche vom Unschicklichen unterscheidet. Ebenso ist die Bildung des Geschmacks ein Ideal der Humanität, denn mit Geschmack wurde ursprünglich weniger ein ästhetischer als ein moralischer Sinn gemeint. Es ging und geht auch hier darum, im Sinne eines geistigen Unterscheidungsvermögens im Hinblick auf das Ganze des gesellschaftlichen Zusammenlebens Sitte und Anstand bestimmen, Gutes annehmen und Schlechtes verwerfen zu können. Eine Ethik des guten Geschmacks und ein Sinn für das der Gemeinschaft Zuträgliche werden von Gadamer als Erkenntnisweisen rehabilitiert, womit er Kants Einengung der Erkenntnis auf den theoretischen und praktischen Vernunftgebrauch zurücknimmt. Bildung ist die Grundlage solcherart hermeneutischer Wahrheitserkenntnis. In jüngerer Zeit hat sich Dietrich Schwanitz (2002) mit seinem Buch »Bildung – Alles, was man wissen muß« noch einmal an einen Bildungskanon gewagt, die Tiefe der Bildungsdiskussion dabei allerdings weit hinter sich gelassen. Für ihn ist Bildung neben einem Ideal, einem Prozess, einer Summe von Kenntnissen und Fähigkeiten und einem geistigen Zustand vor allem auch ein soziales Spiel in Bezug auf das kulturelle Wissen der Mitspieler, wobei man die wechselseitige Unterstellung, der andere wisse schon Bescheid, nicht enttäuschen und die Regeln des Spiels nicht thematisieren darf (S. 505 f.). Was Schwanitz hier genüsslich ausbreitet, hat Adorno bereits 1959 prägnanter auf den Punkt gebracht – nämlich dass Halbbildung sich in einer Attitüde des Mitredens, des Dazugehörens, der vermeintlichen sozialen Integriertheit erschöpft, indem unzusammenhängende und unverarbeitete Informationspartikel zu kommunikativ verwertbaren Klischees werden, die beindrucken sollen (Adorno, 2003, S. 115). Konrad Paul Liessmann (2012) geht mit Adorno über diesen hinaus, indem er unserem postmodernen Zustand der sogenannten Wissensgesellschaft attestiert, in der universellen, aber auch fragmentierten Verfügbarkeit von Informationen keine verbindliche Bildungsidee mehr zuzulassen. Unbildung meint also nicht Dummheit, sondern den unkritischen Umgang mit Informationspartikeln, die nicht mehr durch Reflexion auf einen gesellschaftlichen Handlungs58

Das menschliche Maß: Die Gegenstände der Qualitätsentwicklung

zusammenhang zu wirklichem Wissen werden. Aus dem selbstbestimmt sich bildenden Subjekt ist im Neoliberalismus Humankapital geworden, und Wissen, das einmal kritische Reflexion und lebenspraktische Klugheit war, ist zu einer kapitalisierbaren Produktivkraft degeneriert. Erstaunlich findet Liessmann allerdings – wie er bereits im Vorwort schreibt (S. 10) –, »daß sich die Menschen die Erinnerung daran, was mit Bildung einmal gemeint gewesen war, offenbar nicht austreiben lassen.« Und so gewinnt man denn auch beim Lesen seiner polemisch scharfen und geistreichen Aufsatzsammlung den Eindruck, dass er selbst noch am Verlorenen hängt, wenn er positiv auf Hegel bezugnehmend schreibt, dass Bildung dem Geist nichts Äußerliches ist, sondern ein Medium, in dem dieser sich überhaupt nur realisieren kann. »Geist ist, was sich bildet, und nur was sich bildet, kann Geist genannt werden« (S. 59). Dennoch ist Liessmann zuzustimmen, wenn er den Zustand unserer Bildungsorganisationen und der unablässigen Bildungsreformen beklagt, die statt auf Bildung auf eine Industrialisierung und Ökonomisierung des Wissens abzielen. Trotz oder gerade wegen dieser Kritik auf Bildung zu bestehen, ist der unhintergehbare Anspruch des gesellschaftlichen Individuums auf Welt- und Selbstverstehen, um in der unübersichtlichen Komplexität selbstbestimmt handlungsfähig zu werden und zu bleiben. Und dabei ist es mit einer Informationsaufnahme nicht getan – Informationen gibt es im Überfluss; zu wirklichem Wissen werden Informationen erst, wenn sie verstehend angeeignet, verarbeitet, in ihrem Zusammenhang erkannt und im Handlungskontext des Individuums wirksam geworden sind. Deshalb hat sich Wolfgang Klafki (1994) in seinen »Studien zur Bildungstheorie und Didaktik« auch für eine zeitgemäße Allgemeinbildung stark gemacht, denn nur diese stellt sicher, dass Informationen für die Individuen zu lebensdienlichem Wissen werden. Auch er bezieht sich zunächst auf die philosophische Bildungstheorie und fasst diese als Selbstbestimmung, Freiheit, Emanzipation, Autonomie, Mündigkeit, Vernunft und Selbsttätigkeit zusammen (S. 19). Darauf baut er seine Konzeption einer Allgemeinbildung auf, die allgemein im vierfachen Sinne ist. Erstens ist sie Bildung für alle. Zweitens ist sie Bildung im Medium des Allgemeinen, also Aneignung der Objektivationen menschlicher Kulturtätigkeit im weitesten Sinne des WorGelungene Bildung

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tes. Drittens ist sie allseitig als Entwicklung aller kognitiven, moralischen, ästhetischen und praktischen Fähigkeiten des Menschen. Und viertens realisiert sich Allgemeinbildung im Spannungsfeld von Individualisierung und Gemeinschaftlichkeit. Bemerkenswert ist, dass Klafki die übliche Trennung von Allgemein- und Berufsbildung überwinden will, indem er »die Relativierung und Rückbindung jeder beruflichen bzw. berufsorientierten Spezialisierung an die allgemeinen Zusammenhänge individueller und gesellschaftlicher Existenz« fordert (S. 36). Unverkennbar ist bei Klafki, dass er seine drei Hauptdimensionen – die kognitive, die moralische und die ästhetische Bildung – an Kants drei großen Kritiken der theoretischen Vernunft, der praktischen Vernunft und der ästhetischen Urteilskraft orientiert. Bildung umfasst also immer die Einheit von Wissen und Fähigkeiten, ethischer Gemeinschaftlichkeit und sinnlich-ästhetischer Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit. Ohne hier eine Lerntheorie zu entfalten, soll – wie eingangs angekündigt – doch noch kurz auf den Mechanismus eingegangen werden, durch den Bildung sich realisiert. Es geht dabei um Lernen. Dieses ist als intentionales, bewusstes und geplantes Lernen – und nicht als inzidentelles, zufälliges Mitlernen – der aneignende Weltaufschluss durch ein Individuum (Holzkamp, 1993). Ausgelöst durch ein Misslingen eines operativen Handlungsverlaufs oder dem Bedürfnis nach produktiver Erweiterung der je eigenen Lebensmöglichkeiten strebt das sich bildende Lernsubjekt nach einer Erweiterung seiner Handlungsfähigkeit in dem Versuch, Verfügung über die individuell relevanten gesellschaftlichen Lebensbedingungen zu erlangen. Voraussetzung dafür ist, dass die sich darbietenden Weltbestände als Möglichkeiten einer befriedigenderen Lebensrealisierung antizipiert werden können und somit subjektiv begründet eine Lernmotivation freisetzen. Der restriktive Fall des Vermeidungslernens, um wahrgenommene Bedrohungssituationen zu umgehen, ist zwar der Regelfall im staatlichen Schulwesen, wird aber von Holzkamp nicht als Lernen auf spezifisch menschlichem Niveau angesehen. Dieses realisiert sich als subjektiv begründetes, freiwilliges und selbstbestimmtes Aneignen bedeutsamer Lerngegenstände in ihrem systematischen Zusammenhang.

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Das menschliche Maß: Die Gegenstände der Qualitätsentwicklung

3.1.2 Definition gelungener Bildung Gelungene Bildung ist also eine wesentliche Dimension einer gelungenen Weltbeziehung des Individuums. Sie ereignet sich dort, wo die Welt dem Menschen wirklich etwas zu sagen hat, wo es dem Individuum gelingt, sich in einer vergegenständlichenden Aneignung im Sinngefüge der Gesellschaft zu verwirklichen. ȤȤ In der sachlichen Sinndimension ist Bildung daher die Erweiterung des Weltwissens in der Entfaltung der menschlichen Möglichkeiten. ȤȤ In der sozialen Dimension ist Bildung die Integration des Einzelnen in die Gesellschaft und in der konkreten Lernsituation eine Resonanzbeziehung, in der Lernende und Lehrende sich wirklich erreichen und sich etwas zu sagen haben (Rosa, 2016, S. 413). ȤȤ In der zeitlichen Dimension ist Bildung vor allem eine Vorher/ Nachher-Unterscheidung, bei der sich Lernende in subjektiv notwendig nächsten Schritten die Welt auf sich immer erweiternden Stufen aneignen.

Ob dieses Lernkonzept die quantitative Wirklichkeit des Lernens in unseren Bildungsorganisationen widerspiegelt oder ob Bildung heute Halbbildung oder Unbildung bzw. noch nie etwas anderes gewesen ist, ist nicht die entscheidende Frage. Wir brauchen eine emphatische Bildungsvorstellung als regulierende Idee, an der wir unsere Praxis des Lernens und Lehrens orientieren können. Andernfalls würde Lernen bzw. Sich-Bilden zum kurzfristigen und planlosen muddling through gegenüber kontingenten Alltagserfordernissen oder lediglich eine Anpassungsqualifizierung an wirtschaftliche Arbeitserfordernisse. Bildung ist das Grundprinzip der Entwicklung der gesellschaftlichen Individuen, das heißt der Menschen in ihren Lebensverhältnissen. Daher ist auch immer beides umfasst: Das Individuum gestaltet sich selbst, indem es seine Lebensbedingungen gestaltet. Es handelt sich also um keine die eigene Innerlichkeit umkreisende Bewegung, sondern um einen Aneignungsprozess von Weltbeständen, die auf einem Weg von außen nach innen der Persönlichkeit Gestalt geben. Gelungene Bildung

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Bildung ist daher gelungen, wenn ȤȤ sie ein aktiver, selbstbestimmter und selbstorganisierter Prozess des sich bildenden Individuums ist; ȤȤ sie in der tätigen, erfahrungsbezogenen und reflektierten Aneignung der kulturellen und natürlichen Weltbestände besteht; ȤȤ sie die rationalen Seiten des Menschseins ebenso umfasst wie die emotionalen und die sinnlich-ästhetischen, die theoretischen wie die praktischen; ȤȤ sie die ethische Existenz des Menschen berücksichtigt, das heißt sein In-der-Welt-Sein mit anderen, also die gesellschaftlichen Voraussetzungen, einbezieht und dazu beiträgt, die gesellschaftlichen Verhältnisse menschlich zu bilden; ȤȤ sie kein Einmalereignis und auch keine Kette von Einzelereignissen ist, sondern eine nie abgeschlossene, also lebenslange reflexive Lebensform, die sich am Ziel eines gelungenen Lebens ausrichtet. 3.1.3 Wie kann Bildung gelingen? Im humanistischen Ideal ist Bildung Selbstbildung des sich über die Verhältnisse und die eigene Eingebundenheit darin aufklärenden Individuums. Sie ist die allseitige Entfaltung geistiger, emotionaler, ethischer und körperlicher Kräfte zum Zwecke der selbstbewussten und kritischen Integration und Gestaltung gesellschaftlicher und kultureller Lebensbedingungen frei von unmittelbaren Nützlichkeitserwägungen. Bildung ist damit Kritik aller gesellschaftlichen Verhältnisse, die Freiheit und Selbstbestimmung einschränken, und Selbstkritik der eigenen Verstrickung und Beteiligung daran. Bildung ist Distanzierung von vermeintlichen Selbstverständlichkeiten. Sie ist also ein reflexiver Prozess sowie dessen Ergebnis. Obwohl sie sich also nicht geplant und außengesteuert herstellen lässt, haben Bildungsorganisationen ihre Aufgabe darin, den Prozess der reflexiven Selbstbildung zu ermöglichen und zu unterstützen. Das deutsche Wort Schule kommt von dem griechischen scholé, was genau übersetzt »Muße« bedeutet (Duden, 2001, S. 742). Und Muße wurde schon von Aristoteles (1995, S. 284 f.) als höchste Form der Aktivität bestimmt, die aufnahmefähig für die Bildung der Humanität macht. Schulen und andere Bildungsorganisationen generell sollten daher keine Lernfabriken sein, in denen zusammen62

Das menschliche Maß: Die Gegenstände der Qualitätsentwicklung

hangslose Informationspartikel kumuliert werden, um vermeintlich verwertbares Wissen für den Einsatz von Humankapital im Wirtschaftsprozess zu produzieren. Sie sollten keine »Anstalten der Lebensnot« sein, wie Nietzsche (1980b, S. 717) sie nannte, sondern kontemplative Orte der Reflexion. Denn: »Bildung braucht Schutz vorm Andrängen der Außenwelt, eine gewisse Schonung des Einzelsubjekts« (Adorno, 2003, S. 106). Die enge Koppelung von Bildungsorganisationen an Wirtschaftsinteressen ist der falsche Weg, weil gerade so keine lernfähigen, selbstbestimmten, kreativen, vielfältig interessierten und entwickelten, kritischen und sozial sensiblen Subjekte gebildet werden, wie sie letztlich auch für den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess gebraucht werden. Nun sollte aber bereits klar geworden sein, dass man andere nicht bilden kann, weil Bildung immer die selbstbestimmte und freie Aktivität der Sich-Bildenden ist. Bildungsorganisationen schaffen also keine Bildung, sondern organisieren die Bedingungen dafür, dass Individuen sich bilden können. Sie stellen Möglichkeitsräume bereit, in denen Individuen – durchaus unter Anleitung und Hilfestellung von professionellem Personal – sich bilden können. Dass es dabei nicht immer um Spaß geht, versteht sich von selbst. Lernen ist die Anstrengung des richtigen Begriffs, ein Abweichen vom Gewohnten, eine Konfrontation mit Fremdheit, oft ein Aufbrechen von Gewohnheiten und scheinhaften Meinungen des Alltäglichen. Lernen bedeutet immer etwas, also einen Inhalt oder Gegenstand, zu lernen, den man nicht kennt, der sich einem auch selten unmittelbar darbietet. Bildung ist immer eine Vermittlungsarbeit zwischen zunächst noch unzugänglichen allgemeinen Anforderungen und Strukturen der Bildungsinhalte und den besonderen Bedürfnissen und Möglichkeiten der lernenden Individuen. Diese Vermittlung des Allgemeinen mit dem Besonderen ist also vom Bildungsprozess nicht zu trennen, weil es nicht um Ansammlung von Informationen, sondern um reflexives Wissen geht, das mit der Erfahrung der Lernenden vermittelt ist, beständig auf bereits Gewusstes zurückwirkt und dieses immer mit verändert. Diese Vermittlungsaufgabe können Lernende durchaus allein schultern, aber hilfreicher ist es, wenn sie dabei Unterstützung von professionellen Vermittlern haben. Entgegen modischem Facilitating oder mundgerecht aufgearbeiteten konstruktivistischen Didaktiken Gelungene Bildung

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besteht Selbstbildung auch im Nach-Denken von bereits Vorgedachtem, darauf hatte Hegel (1986c) bereits 1812 in seinem »Privat­ gutachten für den Königlich Bayrischen Oberschulrat Immanuel Niethammer« hingewiesen. »Sosehr an und für sich das philosophische Studium Selbsttun ist, ebensosehr ist es ein Lernen – das Lernen einer bereits vorhandenen, ausgebildeten Wissenschaft. Diese ist ein Schatz von erworbenen, herausbereitetem, gebildetem Inhalt; dieses vorhandene Erbgut soll vom Einzelnen erworben, d. h. gelernt werden« (S. 412, Hervorh. i. Original). Bildung ist also ein sehr voraussetzungsreiches Konzept. Dabei lassen sich personale, interaktionale, organisationale und gesellschaftliche Voraussetzungen gelungenen Lernens unterschieden: Personal geht es vor allem um etwas, das Holzkamp (1993, S. 187 ff.) als emotional-motivationale Struktur expansiver Lerngründe bezeichnet. Dabei geht es im Kern darum, dass ein spezifisch situiertes Individuum in den sich darbietenden Lerngegenständen eine Erweiterung seiner Verfügungen über seine Lebensbedingungen antizipieren kann und zugleich glaubt, dies mit den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, gegebenenfalls gegen eigene und fremde Widerstände, auch erreichen zu können. Interaktional sind vor allem Unterstützungsstrukturen von Bedeutung. Diese beginnen bereits in der Herkunftsfamilie und setzen sich fort gemäß des Bildungsweges, den ein Individuum im Verlaufe seines Lebens durchläuft. Hier geht es um motivationale Unterstützung, um Förderung und Hilfe, aber im professionellen Kontext auch um die Qualität von Lehren. Dass dieses sich nicht in spielerischem Edutainment erschöpft, sondern begriffliches VorDenken der Lehrenden und reflektierendes Nach-Denken durch die Lernenden umfasst, wurde bereits ausgeführt. Die bedeutendste Einflussgröße für gelingendes Lernen in Bildungsorganisationen ist die Qualifikation, die Kompetenz und die Persönlichkeit der Lehrenden; das wurde jüngst erst wieder durch eine großangelegte Metastudie (Hattie, 2013) bestätigt. Resonante Interaktionsbeziehungen zwischen Lehrenden, die den Lernenden wirklich etwas zu sagen haben, und Lernenden, die das Vertrauen haben, von ihren Lehrenden auch gehört zu werden, sind eine Grundbedingung gelungener Lehr-Lernprozesse (Rosa, 2016, S. 431). 64

Das menschliche Maß: Die Gegenstände der Qualitätsentwicklung

Organisational ist von Bedeutung, ob es sich bei den Kindertagesstätten, Schulen, Weiterbildungsinstituten oder Universitäten unserer Gesellschaft tatsächlich um Bildungsorganisationen handelt. Die zunehmende Orientierung formaler Lernprozesse an verwertbaren Kompetenzen für die Wirtschaft und Beschäftigungsfähigkeit hebelt Bildung aus. Auch wenn der Auftrag einer Organisation spezialisiert, also auf Berufsbildung beschränkt, ist, bedeutet dies nicht – darauf besteht Klafki –, dass der Bezug zum Allgemeinen dadurch verloren gehen muss. Jegliche Bildung ist immer zugleich Wissens- und Fähigkeitsbildung, Persönlichkeitsbildung sowie Gemeinschaftsbildung, auch wenn es dabei zu Schwerpunktbildungen kommt. Geht dieser Zusammenhang verloren, dann kann nicht mehr von Bildung gesprochen werden; es handelt sich dann vielleicht um Ausbildung, Qualifizierung oder Training im Sinne unmittelbarer Nützlichkeitserwägungen. Gesellschaftlich haben wir es mit dem schwierigsten Voraussetzungskontext zu tun. Die »Entmenschlichung durch den kapitalistischen Produktionsprozeß verweigert den Arbeitenden alle Voraussetzung zur Bildung, vorab Muße«, hatte Adorno (2003, S. 99) bereits 1959 in seiner »Theorie der Halbbildung« festgestellt. Unter den gegenwärtigen neoliberalen Bedingungen hat sich das Problem noch verschärft. Gefragt ist nicht mehr der gebildete Mensch, sondern der »Unternehmer seiner selbst« (Foucault, 2006, S. 314), der sich freiwillig um die richtigen Investitionen in die Verwertbarkeit seiner Arbeitskraft kümmert. Wenn jeder heute als seines eigenen Glückes Schmied angesehen wird, impliziert das eben umgekehrt auch die eigene Schuld für das Versagen. Bildung wird sich also zu guten Teilen im Widerstand gegen ideologische Nahelegungen unserer gesellschaftlichen Verhältnisse realisieren müssen. Die Voraussetzungen dafür sind in der prinzipiell doppelten Handlungsmöglichkeit der Individuen angelegt, die sich immer entscheiden können, ob sie sich behindernden Bedingungen unterwerfen oder Schritte zu deren Überwindung gehen wollen. »Die Tatsache der Möglichkeit der Verfügungserweiterung ist ›unbedingt‹, sie ist eine genuine […] Spezifik der ›menschlichen‹ Existenz und nur mit dieser auslöschbar« (Holzkamp, 1983, S. 355, Hervorh. entf.).

Gelungene Bildung

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3.2 Gelungene Beratung Beratung hat ein inhärentes Telos – das ist das gute Gelingen (Zech, 2016a). Diese innere Zweckbestimmung wurde schon früh – von Aristoteles (1995, S. 142, 1142b) – als »Wohlberatensein« bezeichnet. Peter Fuchs und Enrico Mahler benutzen mehr als 2000 Jahre später die nahezu gleiche Formulierung für das Ziel von Beratung: »Wohlberatenheit« als »das Resultat einer richtigen Reflexion, die Nutzen, Ziel, Zeit und den Modus darauf eingestellter Handlungen berücksichtigt« (2000, S. 351). Bevor wir also gelungene Beratung im Sinne eines Wohlberatensein bzw. einer Wohlberatenheit ­arbeitsfähig ­definieren, ist zu klären, worum es bei Beratung geht bzw. was eigentlich passiert, wenn Beratung stattfindet, und was unterstellt werden muss, damit Beratung funktionieren kann. 3.2.1 Theoretische Bestimmungen Im Alltagsverständnis, aber auch in vielen professionellen Definitionen, wird Beratung in der Regel als Erteilung von Ratschlägen in helfender Absicht verstanden. Man geht dabei stillschweigend davon aus, dass ein Berater etwas weiß und einem Ratsuchenden mitteilt, was Letzterem hilft, (s)ein Problem zu lösen. Dieses Verständnis mag in manchen Fällen hinreichen, wie bei der Steuerberatung; ein generelles Beratungsverständnis ist damit noch nicht entwickelt. Bereits Goethe (1962b, S. 370) sah hier weiter, wenn er postulierte: »Rate sich jeder selbst und tue, was er nicht lassen kann.« Er mag die Schwierigkeiten geahnt haben, die mit der Vorstellung verbunden sind, anderen gute Ratschläge zu geben. Nicht zufällig ist es deshalb sprichwörtlich geworden, dass Ratschläge auch Schläge sind. Die Herkunftsbedeutungen des Beratungsbegriffs sind vielfältig. Rat wurde ursprünglich im Sinne von »Mittel, die zum Lebensunterhalt notwendig sind« verwendet, zum Beispiel als Vorrat oder Hausrat. Gebräuchlich war das Wort ebenfalls im Sinne einer »beratenden Versammlung«, zum Beispiel als Stadtrat. Weiterhin wurde der Begriff aber auch als Titel verwendet, zum Beispiel als Geheimrat oder noch heute als Studienrat. Ein Ratschlag war ein »gut gemeinter Vorschlag« – eigentlich meinte Beratung allerdings »den Beratungskreis schlagen, den Kreis für die Beratung abgrenzen«. In die66

Das menschliche Maß: Die Gegenstände der Qualitätsentwicklung

sen und weiteren Bedeutungen, zum Beispiel raten im Sinne von »[Runen] deuten«, ein Rätsel lösen (Duden, 2001, S. 652 f., Klammern i. Original), steckt das gesamte noch heute gültige vielfältige Verwendungsspektrum des Begriffs. Beratung hat in ihren unterschiedlichen Formen also eine lange Geschichte – von der vorsorgenden Vorratshaltung bis zur Zeichendeutung, die unter der Bedingung einer partiell undurchschaubaren Welt Hinweise auf Zukünftiges zu enträtseln versucht. Peter Sloterdijk (2008) meint daher, dass wir den Typus des Beraters aus seiner antiken Genesis, aus seinem historischen Eidos, das heißt seinem Urbild, herleiten müssen. Abweichend von ihm wählen wir allerdings nicht Diogenes von Sinope, sondern Platon selbst, den Begründer der Urbildtheorie, als Beispiel. Platon war der Ansicht, dass die Philosophen dazu bestimmt sind, die Herrscher zu beraten, wenn sie nicht gleich selbst als Philosophen-Könige herrschen sollten. Er versuchte, seine Vorstellung auch in die Praxis umzusetzen. So fuhr er (zwischen 366 und 353 v. u. Z.) dreimal nach Sizilien, um den dortigen Tyrannen Dionysos durch seinen Rat auf den richtigen Weg zu bringen. Über das, was ihm dabei widerfuhr, berichtet Platon (1964) selbst in seinem siebten Brief. Um es kurz zu machen, er ist mit seiner Beratung furios gescheitert und konnte von Glück sagen, dass er mit dem Leben davongekommen ist. Allerdings zog Platon daraus seine Lehren, die auch heutige Berater/-innen berücksichtigen sollten. Er sah es als falsch und nutzlos an, jemanden zu beraten, der nicht bereit ist, seine Lebensbedingungen und sich selbst infrage zu stellen. Man dürfe seinen Rat darüber hinaus, weil man glaube, es besser zu wissen, auf keinen Fall dem Ratsuchenden aufdrängen. Schon gar nicht dürfe ein Berater sich bei Herrschern einschmeicheln, die es zur Bedingung machen, die Verfassung ihrer Herrschaft unangetastet zu lassen (Platon, 1964, S. 14 ff.). Man mag Platons Überlegungen heute für selbstverständlich und damit für obsolet halten. Dennoch sind wir der Meinung, dass die genannten Probleme auch heute noch bestehen. Selbsternannte Expertenberater/-innen machen beauftragenden Unternehmen präskriptive Vorschläge, die diese nur noch in die Praxis umsetzen sollen. Führungskräfte erteilen Beratungsaufträge für delegierte Problemlösungen, ohne Bereitschaft, sich selbst als Teil des Problems bzw. als ebenfalls veränderungsbedürftig zu betrachten. Oder Berater/-innen Gelungene Beratung

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bieten legitimatorische Beratungsleistungen an, wohl wissend dass ihre Vorschläge in der sprichwörtlichen Schublade verschwinden. Lebensgefährlich ist Beratung heute nicht mehr, aber die genannten Probleme sind auch nach über 2000 Jahren noch nicht verschwunden. Sloterdijk (2008) führt seine historische Herleitung des Beraters – von ihm Konsultant genannt – nach dem antiken Ursprung dann weiter über den Fürstenberater der Renaissance – in persona von Niccolò Machiavelli –, die Sekretäre der Staatsmänner, Kirchenfürsten und Geschäftsleute, die Jesuiten der katholischen Kirche als erstem global organisierten und operierenden Großunternehmen, die privat niedergelassenen Rechtsanwälte der aufblühenden Kaufmannswelt, die man damals auch Konsulenten nannte, bis hin zu Michel de Montaigne, der sich mit seinen zahllosen Essays nach eigener Auskunft selbst beriet. Als allgemeine Voraussetzung der in seinen Augen Jahrtausende alten Beraterzunft konstatiert Sloterdijk ein spezifisches Nichtwissen auf Seiten eines ratlosen Akteurs. Wir haben es bei der Beratung also mit einem individuellen oder kollektiven Protagonisten zu tun, dem gewisse Mittel zur Bewältigung seiner Praxis fehlen, der darüber nachdenkt, wie hier Abhilfe zu schaffen wäre, dafür vielleicht eine Beraterin aufsucht, um einen hilfreichen Rat zu erhalten. Ein individueller oder kollektiver Akteur – oder wie wir in einem systemtheoretischen Verständnis sagen wollen: ein psychisches oder soziales System – geht (ggf. unter Hinzuziehung externer Hilfe) mit sich zu Rate, um ein Handlungsproblem zu lösen. Beratung ist also im Kern immer Selbstberatung – auch wenn dabei die Unterstützung anderer in Anspruch genommen wird (Zech, 2013b, S. 89 ff.). Die anderen – bereits aufgeführten – Ursprungs­ bedeutungen sind heute ebenfalls noch aktuell: Berater respektive Beraterin ist eine (nicht geschützte) Berufsbezeichnung, also ein Titel, der eine Profession bezeichnet. Ein Ratsuchender möchte durch Mit-sich-zu-Rate-Gehen und gegebenenfalls entsprechender Unterstützung auf einen bisher nicht vorliegenden neuen Vorschlag zur zukünftigen Lösung eines bisher ungelösten Handlungsproblems kommen. Dafür ist eine Beratungssituation herzustellen (»den Beratungskreis schlagen«), die durch eine problembezogene Handlungsentlastung eine Reflexion ermöglicht, um zukünftiges Problemlösen zu verbessern. Diese handlungsentlastete Beratungssi68

Das menschliche Maß: Die Gegenstände der Qualitätsentwicklung

tuation kann individuell (›Darüber muss ich erst noch nachdenken.‹), dialogisch (›Was würdest du an meiner Stelle tun?‹) oder kollektiv (›Der Vorstand zieht sich zur Beratung zurück.‹) sein. Deutlich wird, dass Beratung mit einer Unterscheidung arbeitet: Erst Rat, dann Tat! Für den Reflexionsprozess der Beratung wird der problemlösende Handlungsprozess vorübergehend ausgesetzt. Es geht darum, in einer handlungsentlasteten Situation Bedingungen für eine in Zukunft verbesserte Problemlösefähigkeit vorzubereiten. Beratung gibt es in vielen Formen – als Individual-, Paar-, Gruppenoder Organisationsberatung, als Prozessbegleitung und/oder fachliche Expertise. Gemeinsam ist diesen Formen immer ein Mit-sich-zu-Rate-Gehen bezüglich einer ungeklärten Frage der je eigenen (Lebens-) Praxis (Zech, 2013b, S. 89 ff.); offen ist nur, wer dieses Sich ist. Systemtheoretisch ist die Frage einfach zu beantworten: Es ist immer ein System – entweder ein psychisches oder ein soziales –, das heute unter operativ-konstruktivistischen Vorzeichen als ein geschlossenes, sich autopoietisch und selbstreferenziell reproduzierendes verstanden werden muss. Ein Berater respektive eine Beraterin ist für das Mit-sichzu-Rate-Gehen nicht zwingend erforderlich – obwohl es hilfreich sein kann, ein resonanzfähiges und kenntnisreiches Gegenüber zu haben. Eine weitere Bestimmung des Beratungsprozesses ist seine Reflexivität, womit ein Vorgang bezeichnet ist, der auf sich selbst angewendet wird. Beratung ist ein Prozess, in dem ein ratsuchendes System mit sich zu Rate geht: Ein individueller oder kollektiver Akteur denkt über sich in der Welt nach, um zu klären, was zu tun ist, um die eigenen Wünsche erfüllen und die eigenen Interessen verfolgen zu können. Diese Selbstberatung ist daher auch immer eine Beratung über das eigene Selbst. Das verweist wieder auf die zentrale Unterscheidung von Beratung: erst Rat, dann Tat. Gemeint ist nicht, dass jegliches Tun in der Beratungssituation ausgesetzt ist. Das wäre absurd, weil selbst Reden kommunikatives Handeln ist. Zur Beratung kommt es, weil alltägliches Handeln angesichts einer bestimmten Problemlage zu keiner befriedigenden Lösung führt. Gemeint ist mit der Unterscheidung, dass das krisenhaft gewordene Alltagshandeln ausgesetzt werden muss, um aus einer Beobachtungsposition zweiter Ordnung darüber reflektieren zu können. Reflexion erfordert, wie wir in Kapitel 5.3. sehen werden, immer zwei getrennte Positionen, zwischen denen Gelungene Beratung

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eine (Denk-)Bewegung pendelt. Im Fall von Beratung ist dies die Vorher/Nachher-Unterscheidung. Beratung ist eine Art Metakommunikation über vergangene Erfahrungen und zukünftige Möglichkeiten. Es geht beim Beraten um einen räsonierenden Aufschub, der die später folgende Handlung in Bezug auf das analysierte Problem zum Positiven beeinflussen soll. Beratung hilft also bei der Entscheidung über durch sie neu erkannte Möglichkeiten; sie absorbiert dabei Unsicherheit und senkt das Risiko, später – wenn die heute imaginierte Zukunft zur Gegenwart geworden ist – erkennen zu müssen, sich – in der jetzt Vergangenheit gewordenen heutigen Gegenwart – falsch entschieden zu haben. Die Tat der problemlösenden Handlung, für die ein ratsuchendes System sich entscheidet, kommt in der Beratung jedoch nicht als Faktizität, sondern ausschließlich als Thematisierung vor – bestenfalls als vorbereitendes Probehandeln. Das unterstellt, dass Beratung sowohl eine prinzipielle Veränderungsund Gestaltungsfähigkeit der Welt bzw. der institutionellen und individuellen Lebens- und Arbeitsbedingungen als auch die Möglichkeit der Selbstveränderung annehmen muss – ein offenes Weltverhältnis des individuellen bzw. kollektiven Beratungssubjekts, denn um die Klärung und die vorbereitende Veränderung des je eigenen Weltverhältnisses geht es in der Beratung. Verändert werden muss dann nach der Beratung – entweder sein Selbst oder die Welt oder beides. Weil aber durch keine noch so reifliche Überlegung, was denn zu tun sei, die anschließende ausführende Handlung zweifelsfrei festgelegt werden kann, bleibt die Differenz zwischen Rat und Tat ein konstituierendes Element von Beratung. Hier kann ein externer Berater durchaus hilfreich sein als Stütze und Brücke über die letztlich unüberbrückbare Kluft zwischen Reflexion und Handlung. Genau da besteht aber ein Risiko für die Berater/-innen, dass sie sich damit nämlich auch als Projektionsfläche der Schuldzuweisung anbieten, wenn der Ratsuchende die Verantwortung für sein Scheitern nicht selbst übernehmen will. Die systemische Beratung versucht, sich gegen dieses Risiko zu wappnen, indem sie strikt darauf achtet, dass dem ratsuchenden System die Verantwortung für seine Entscheidungen und Handlungen nicht abgenommen wird. Die Frage des Wohlberatenseins bzw. des Gelingens von Beratung bleibt die offene Flanke der Beratung. Dennoch oder sogar deshalb 70

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ist sie näher zu bestimmen, was hier natürlich nur in einer sehr allgemeinen Form geschehen kann. Was also ist das Telos oder – wie wir moderner sagen können – der innere Zweck, das Ziel einer Beratung? Eine Fundstelle zur Annäherung an eine Antwort findet sich bei Kant (1974, S. 96): »Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.« Der Subjektstatus des handlungsfähigen Individuums impliziert die Kompetenz zur Selbstbestimmung. Bei Kant heißt diese Selbstbestimmung auch Mündigkeit als eine Verbindung von individuellem Glück und Sittlichkeit. Glückseligkeit (eudaimonia) ist seit Platon (2004d) das höchste Gut, als das er ein gelingendes Leben in einer gerechten Gesellschaft sieht (vgl. Kapitel 1.1). Kant koppelt nun Glückseligkeit mit Selbstbestimmung: »Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht« (1974, S. 255, Hervorh. entf.). Das höchste Gut, die Glückseligkeit, hat also die Form der Selbstbestimmung, in der der Mensch Zweck und nicht Mittel ist, wie es in den unterschiedlichen Formulierungen des kategorischen Imperativs heißt. Diese Selbstbestimmung über die Bedingungen des eigenen Lebens ist daher das allgemeine Ziel von Beratung (vgl. weiter dazu Kapitel 3.2.3). Damit das angestrebte Ziel der Autonomie bzw. Selbstbestimmung eine Chance hat, erreicht zu werden, sind bestimmte Rahmenbedingungen vonnöten, deren wichtigste eine geschützte, handlungsentlastete Situation ist, in der Möglichkeiten gedanklich durchgespielt werden können, ohne Angst vor unmittelbaren Folgen haben zu müssen. Auch hier wird wieder die für Beratung grundlegende Unterscheidung von Rat und Tat wirksam, ohne die es keine Beratung gibt. Dabei ist es wichtig, dass die zur Beratung anstehende Problem­ situation funktional und nicht normativ betrachtet wird. Holzkamp (1983, S. 370 f.) stellt für Individuen fest, dass diese nicht bewusst gegen ihre eigenen Lebensinteressen verstoßen können, weil alle ihre Handlungen subjektiv funktional in dem Sinne begründet sind, dass gegenwärtig keine besseren Möglichkeiten erkannt werden. Diese Prämisse kann man durchaus auf soziale Systeme übertragen; auch Organisationen handeln funktional im Sinne der besten der ihnen bekannten Optionen. Oder um es anders zu formulieren: Alles, was geschieht, erfüllt irgendeine Funktion; man muss daher herauskrieGelungene Beratung

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gen, welche. Beratung eine moralisierende Gut/Schlecht-Unterscheidung zu unterlegen, ist deshalb nicht hilfreich. Vielmehr kommt es darauf an herauszufinden, welche Funktionalitäten mit bestimmten Handlungen verbunden sind, und wenn diese unbeabsichtigt schädliche Nebenfolgen haben, nach hilfreicheren, aber funktional äquivalenten Handlungsalternativen zu suchen, die die notwendige Funktion ebenfalls erfüllen, ohne dabei die diagnostizierten Schäden zu produzieren bzw. die diese Nebenfolgen wenigstens minimieren. Beratung braucht also auch Wissen; es reicht nicht, sich einfach nur in eine ruhige Ecke zu setzen und nachzudenken. Wir sehen nur, was wir kennen; mit sich zu Rate gehen, ist kein Grübeln. Deshalb braucht Beratung auch die Aneignung neuer Kenntnisse als Vorbereitung der angestrebten Erweiterung der eigenen Handlungsfähigkeit. In dieser Hinsicht erfüllt Beratung eine pädagogische Funktion – oder anders formuliert: Ein Beratungsprozess ist immer auch ein Lernprozess. Ein psychisches oder soziales System lernt etwas über sich und über sein In-der-Welt-Sein als Voraussetzung einer zu verändernden und dann veränderten Praxis. Dieses – die Selbstberatung ergänzende – Lernen ist gelungen, wenn es dazu führt, in den als chaotisch erlebten Kontingenzen der Welt Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, die dem sich beratenden System neue Perspektiven und Handlungsoptionen ermöglichen. Dieser Lernprozess hat drei notwendig miteinander verbundene motivationale Aspekte (Zech, 2008). Erstens muss die eigene Ausgangssituation negativ bewertet und die eigene Beteiligung an dem zu lösenden Problem erkannt werden. Worauf man keinen Einfluss hat, das kann auch nicht verändert werden. Zweitens muss ein Zustand antizipiert werden, in dem die negativ bewertete Ausgangssituation bzw. die damit verbundene Handlungseinschränkung positiv überwunden ist. Wenn man nicht weiß, wohin man will, dann wird man auch nicht dort ankommen. Und drittens muss der Weg von der negativ bewerteten Ausgangssituation zur positiv antizipierten Zielsituation – inklusive der eigenen für diesen Weg erforderlichen Kompetenzen – als gangbar erachtet werden. Wenn die nötigen Fähigkeiten fehlen, wird die angestrebte Veränderung nicht gelingen. Fehlt eine dieser drei Bedingungen, dann ist der Schritt von der Reflexion in der Beratung zur verändernden Tat in der nachfolgenden Praxis nicht möglich. 72

Das menschliche Maß: Die Gegenstände der Qualitätsentwicklung

3.2.2 Definition gelungener Beratung Beratung ist zweifellos Kommunikation, selbst dann, wenn Alter und Ego als zwei Stimmen in die eigene Person hineingenommen werden. Wie jede Kommunikation ist sie ein Geschehen, das über Information, Mitteilung und Verstehen Sinn konstituiert. Deshalb sollen zunächst die drei Sinndimensionen in sachlicher, sozialer und zeitlicher Hinsicht entfaltet werden (vgl. auch Wimmer, 2010, S. 99 ff.): ȤȤ Sachlich geht es bei der Beratung um die Identifikation und Bearbeitung der inhaltlichen Aspekte individueller Kompetenz bzw. organisationaler Leistungsfähigkeit angesichts der aktuellen und zukünftigen Herausforderungen. Beratung muss den thematischen Bearbeitungsprozess durch neue Perspektiven und Einschätzungen anreichern, ohne dass die Hypothesen der Beratung präskriptiven Charakter gewinnen. Dabei ist zu klären, welches fehlende Wissen und welche fehlenden Kompetenzen durch die Entwicklung eigener Kräfte oder durch andere mögliche Unterstützungsmaßnahmen kompensiert werden müssen. ȤȤ Sozial muss Beratung dafür sorgen, dass ein angstfreier Raum für vertrauensvolle Kommunikation entsteht, damit Probleme und Konflikte thematisiert sowie dysfunktionale Wahrnehmungs- und Kommunikationsmuster verändert werden können. Die Kommunikation der Beratung hat hier Vorbildfunktion in der wertschätzenden und unparteiischen Zuwendung gegenüber allen Beteiligten und in der normativen Neutralität in Bezug auf die behandelten Sachverhalte. ȤȤ Zeitlich ist von Bedeutung, wann eine Perturbation als produktive Verunsicherung des ratsuchenden psychischen oder sozialen Systems platziert wird. Eine gute Idee zum falschen Zeitpunkt wird nicht gehört oder abgelehnt. Darüber hinaus hat Beratung die Verantwortung dafür, dass in der allgemeinen Beschleunigung und im Alltagsstress eine entschleunigte Reflexion der eingebrachten Probleme ohne vorzeitigen Handlungsdruck möglich ist. Diese Zeitkoordination wird nicht immer konfliktfrei verlaufen, weil manchmal Entscheidungen drängen und nicht aufgeschoben werden können. Wichtig ist aber, dass Beratung dazu verhilft, dass bewusste Entscheidungen getroffen und nicht das Wichtige im operativen Alltagsstress dem Dringlichen geopfert wird. Gelungene Beratung

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Entscheidend ist, dass Beratung die sachliche, soziale und zeitliche Sinndimension synchronisiert, damit sie ihre integrierende Wirkung entfalten kann. Damit Beratung gelingen kann, brauchen wir eine der Beratungspraxis als regulierende Idee unterlegte Zielvorstellung. Diese wurde eben allgemein als Selbstbestimmung des eigenen Lebens in der Verfügung über die relevanten gesellschaftlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen erkannt. Um diese allgemeine Zielvorstellung operativ handhabbar zu machen, sollen an dieser Stelle die oberen theoretischen Überlegungen in einer handlungsleitenden Definition gelungener Beratung zusammengefasst werden. Beratung ist also gelungen, wenn sie ȤȤ Raum schafft für handlungsentlastete Reflexionen in Bezug auf die zur Lösung anstehenden Handlungsprobleme; ȤȤ keine abstrakt formulierten allgemeinen Handlungsvorschläge aus der Perspektive von außen macht, sondern die reflexiven Selbstberatungskompetenzen des ratsuchenden Systems unterstützt; ȤȤ ein System durch angemessene Verstörungen auf seine eigenen Ideen bringt und damit Autonomie, Selbstbestimmung und Gelingen fördert; ȤȤ dabei nicht normativ, sondern in Bezug auf ­Funktionalitäten beobachtet und für die Problemlösung nach funktionalen Äquivalenten sucht, die keine oder geringere schädliche Nebenfolgen produzieren; ȤȤ einerseits Komplexität reduziert, um Entscheidungs- und Handlungsfähigkeiten zu stärken, aber andererseits Komplexität dadurch erweitert, dass sie verhärtete Strukturen wieder als kontingent und damit als veränderbar erscheinen lässt; ȤȤ alle Entscheidungen über zukünftige Handlungen dem ratsuch­ enden System selbst überlässt; ȤȤ die strategische (im Sinne von zielorientierte), die strukturelle und die kulturelle Seite individuellen und organisationalen Handelns in einem ausgeglichenen Verhältnis berücksichtigt; ȤȤ nicht versucht, Personen als Personen zu verändern, sondern die zugrunde liegenden Muster des Handelns und der Kommunikation. 74

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3.2.3 Wie kann Beratung gelingen? Nähern wir uns der Frage, wie Beratung gelingen kann, zunächst von der phänomenalen Seite. Jeder und jede, der oder die einigermaßen im Kontakt mit sich und der Welt steht, wird einen Seismographen in sich entdecken, der in der Regel zuverlässig bewertet, ob die Situation, in der man sich befindet, eher förderlich, eher neutral oder auch eher hinderlich ist. Dies geschieht ohne das Bewusstsein von Gründen als spontane ästhetische Wahrnehmung und intuitives Erkennen. Gründe kann das reflexive Bewusstsein einholen, durch die nachfolgende Analyse der Situation. Die Wahrnehmung und die intuitive Erkenntnis waren aber schon vorher da. Bauchgefühl sagt man gelegentlich im Alltag. Was wir in dieser Beschreibung erkennen, ist, dass ein Gefühl des Gelingens bzw. des Misslingens jeglichem Wahrnehmen und Handeln untrennbar beigemischt ist. Das Gelingen einer Handlung zeigt sich auf zwei Ebenen. Neben der Erreichung eines selbstgewählten Ziels, das mit der Handlung angestrebt wurde, geht es aber vor allem um die Realisierung eines Handlungssinns, der aus der Perspektive des handelnden Subjekts mit der Handlung verbunden ist. Gelingen ist wesentlich Sinnerfüllung (vgl. Kapitel 1.2). Gelingen lassen können ist also die Essenz der menschlichen Handlungsfähigkeit, die Holzkamp (1983) als Differenz bestimmt. Jedes Subjekt steht immer vor der Wahl, seine Lebenssituation im wohlverstandenen Eigeninteresse positiv zu gestalten bzw. sich den gegebenen Umständen mehr oder weniger widerständig anzupassen. Im Alltag haben wir es meistens mit einem mehr oder weniger progressiven und regressiven Mischungsverhältnis zu tun. Handlungsfähigkeit – so Holzkamp – ist die Kompetenz des Subjekts, seine ­individuell relevanten gesellschaftlichen Lebensumstände zu bestimmen. Das Gelungene ist dann das Ergebnis gelingenden Handelns. »Die Qualität individuellen Lebens ist [daher] eine Sache des existenziellen Gelingens, für das es keine Garantien gibt« (Seel, 1999, S. 216). Und weiter mit Bloch (1976, S. 356): »Summum bonum wäre völlig gelungene Erscheinung des Gelungenen«. Seel (1999) verbindet – wie wir bereits in Kapitel 1.2 sahen – das Gelingen mit der Möglichkeit der Selbstbestimmung, indem er – wie bereits Kant – die gelingende Selbstbestimmung als Kern des guten Gelungene Beratung

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Lebens ausmacht: »Von einem gelingenden Leben möchte ich sprechen, wo wir so leben können, wie wir es kraft weltoffener Selbstbestimmung in den wie immer günstigen oder widrigen Umständen unseres Daseins wollen. […] Das im ganzen gelingende Leben […] ist eines, das wir so leben, wie wir es – unter den gegebenen Umständen, aus freier Entscheidung – leben wollen« (1999, S. 126). Die Betonung des Wollens in dem eben verwendeten Zitat verweist darauf, dass Gelingen mit einer Erfahrung von Wunscherfüllung einhergeht. Es geht dabei allerdings nicht um ein beliebiges Wünschen von beliebigen Interessen, sondern – wie Ernst Tugendhat in seinen Ethik-Vorlesungen einschränkt (1984, S. 44) – um »unser wohlverstandenes Eigeninteresse«. Zugleich bezieht sich die Erfahrung von Glück nicht nur auf die Befriedigung von bereits gegebenen Wünschen, sondern wesentlich auch auf eine Erfüllung bisher ungeahnter Wünsche (Seel, 2006, S. 31). Wir erhalten etwas, von dem wir gar nicht wussten, dass es möglich und von uns wünschbar ist. Im Glück werden wir in gewisser Weise überwältigt von etwas, das uns zuträglich ist, das wir aber noch gar nicht wünschen konnten. Zum Glück gesellt sich die Erfahrung erweiterter Selbst- und Welterkenntnis. Seel (2006, S. 32) bestätigt ebenfalls, dass ein gutes Leben eines ist, dass wir vernünftigerweise wollen können, wie gut oder schlecht die konkreten Umstände auch sein mögen. Vernünftigerweise können wir aber nur eine Form der Selbstbestimmung wünschen, die uns unter gegebenen Umständen real möglich ist und die diese Selbstbestimmung allen anderen in gleicher Weise gewährt. Das Wünschen allein hat allerdings auch noch keinem geholfen; es muss schon mit einem bestimmten Können verbunden sein, womit wir wieder bei der in der Beratung angestrebten Handlungsfähigkeit angekommen sind. Daher ist Beratung der Ort, das wohlverstandene Eigeninteresse bzw. das, was wir vernünftigerweise wollen können, herauszufinden und die Wege dahin zu bahnen. Wie bereits mehrfach angeführt, muss die realisierende Tat aber der Klärung des Wollens folgen, wenn die angestrebten Ziele erreicht werden sollen. Die regulierende Idee, die als Zweck- und Zielbestimmung die Beratung leitet, ist somit das gute Gelingen der je eigenen selbstbestimmten Praxis als Realisierung unserer wohlverstandenen Wünsche und Interessen. Wohlberaten wäre daher ein ratsuchen76

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des psychisches oder soziales System (Individuum, Paar, Gruppe, Organisation), wenn es Wege erkennt und sich Handlungsoptionen eröffnet, die in eine selbstbestimmte gelingende Praxis in moralischer Verantwortung für unser gesellschaftliches Ganze führen. »Selbstbestimmung, mit einem Wort, ist die Fähigkeit, in Antwort auf gegebene historische, soziale und biographische Bedingungen den Kurs des eigenen Handels aus eigener Erfahrung und Überlegung zu bestimmen« (Seel, 1999, S. 130). Das impliziert die Tatsache, dass man wesentliche – vor allem gesellschaftliche – Bedingungen gerade nicht selbst bestimmen kann; allerdings kann man immer noch selbst bestimmen, wie man sich gegenüber Unverfügbarem positionieren und in Bezug darauf verhalten will. Responsefähigkeit haben wir das einmal genannt (Zech, 2002, S. 149). Dies ist die Fähigkeit, verantwortungsvolle Antworten auf die uns gestellten Herausforderungen zu geben – auch gerade auf die, die man gerade nicht selbst bestimmen kann. Beratung zielt also auf ein gelingendes Selbst- und Weltverhältnis. Damit Beratung gelingt, das heißt ihr inneres Telos sich in vollem Umfang entfalten kann, müssen auch hier bestimmte Bedingungen vorliegen. So lassen sich personale, interaktionale, organisationale und gesellschaftliche Voraussetzungen gelungener Beratung unterscheiden: Personal muss ein Subjekt, das mit sich zu Rate geht bzw. sich mit jemand anderem berät, für sich selbst eine Veränderungsfähigkeit und für die Welt eine Veränderbarkeit unterstellen. Dies gilt prinzipiell und nicht aktuell, denn eine aktuelle Beratungssituation ist ja gerade dadurch gekennzeichnet, dass man seine Möglichkeiten der Selbst- und Weltveränderung nicht erkennt. Beraten-Werden bzw. sich selbst beraten kann daher nur, wer erstens in der Lage ist, abweichende Optionen prinzipiell wahrzunehmen – auch wenn er selbst sie im Augenblick nicht sieht, dazu soll Beratung ja gerade verhelfen; und zweitens ist die Bereitschaft erforderlich, dem Rat Taten folgen zu lassen, denn mit dem Zu-Rate-Gehen allein ist noch keinem geholfen, höchstens als Schritt einer Hilfe zur Selbsthilfe. Interaktional sind Beobachtungsverhältnisse zweiter Ordnung von Bedeutung. Nicht-normative Rückspiegelungen von außen, die den blinden Fleck des ratsuchenden Systems reflexiv ausleuchten, Gelungene Beratung

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sind hilfreich, um ein grübelndes Kreisen um die eigene Problemlage durch die Eröffnung anderer Perspektiven in eine veränderte Sicht auf sich selbst in der Welt zu überführen. Organisational sind Rahmenbedingungen für eine reflexive Handlungsentlastung erforderlich, damit Beratung in einem geschützten Kontext das eigene Verhalten in Situationen überdenken und gedankenexperimentell neue Möglichkeiten erproben kann. Offenheit für eine Erkenntnis der eigenen Beteiligung an der Produktion und Reproduktion des wahrgenommenen Problemzustandes und für eine gedankliche Prüfung von möglichen Handlungsalternativen setzen eine Situation voraus, in der die angestellten Überlegungen nicht unter dem Zwang stehen, sofort in die Tat umgesetzt werden zu müssen, bzw. in der keine unmittelbaren, vor allem keine negativen Folgen zu befürchten sind. Gesellschaftlich kommt Beratung da an ihre Grenzen, wo Veränderungen strukturell blockiert sind. Das Maß einer durch Beratung angestrebten Selbstbestimmung über die relevanten gesellschaftlichen Lebensbedingungen findet seine Grenze in eben diesen. Im Rahmen einer Gesellschaft können wir vernünftigerweise nur wollen, was in diesem Rahmen möglich ist. Das ist meist mehr, als es auf den ersten Blick erscheint. Den gegebenen objektiven Möglichkeitsraum zu klären, um ihn in seiner Gänze auch ausfüllen zu können, darauf kann Beratung vorbereiten. Den gesellschaftlichen Rahmen erweitern oder sogar aufsprengen können die assoziierten gesellschaftlichen Individuen nur kollektiv, die sich auch dazu werden beraten müssen.

3.3 Gelungene Soziale Dienstleistung Soziale Dienstleistungen sind gekennzeichnet durch die Immaterialität des Leistungsergebnisses, das Uno-actu-Prinzip (Produktion und Konsumtion der Leistung erfolgen weitgehend parallel) und Kundenbeteiligung, das heißt sie werden erbracht in Koproduktion zwischen Leistungserbringenden und Leistungsempfängern und sind notwendig auf die Mitwirkung der Kunden angewiesen. Soziale Dienstleistung ist ein Vermittlungsprozess zwischen den gesellschaftlichen Vorstellungen eines menschenwürdigen Lebens und den individuel78

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len (zeitweise oder dauerhaft eingeschränkten) Fähigkeiten, ein solches Leben autonom und in Verantwortung für sich und andere zu leben. Damit bedarf sie einer handlungsleitenden Vorstellung von Gerechtigkeit, die Auskunft darüber gibt, in welchen Fällen und in welcher Form Unterstützung als Soziale Dienstleistung angebracht ist. Nach der begrifflichen Bestimmung von Sozialer Dienstleistung werden daher in diesem Kapitel verschiedene Gerechtigkeitsvorstellungen in ihrer Eignung als regulative Idee diskutiert und die Voraussetzungen gelungener sozialer Dienstleistung dargestellt. 3.3.1 Theoretische Bestimmungen Was ist unter einer Sozialen Dienstleistung zu verstehen? Der Bedeutungsgehalt dieses Begriffs ist weder dem der Sozialarbeit gleichzusetzen noch dem der Sozialpädagogik. Etwas näher kommt der Sozialen Dienstleistung der Begriff der Sozialen Arbeit, die zunehmend als Verbindung von Sozialarbeit und Sozialpädagogik charakterisiert wird. Bereits in den 1920er Jahren sind erste Annäherungen der bis dato getrennt gefassten Disziplinen Sozialarbeit und Sozialpädagogik zu verzeichnen. Während sich Sozialarbeit auf die Bearbeitung der Problematik der gesellschaftlichen Verhältnisse konzentrierte, stand bei der Sozialpädagogik das Verhalten von Personen im Vordergrund (Röh, 2013, S. 14 f.; Füssenhäuser u. Thiersch, 2011, S. 1638 f.). Um zu verdeutlichen, dass soziale Probleme (Sozialarbeit) und Fragen der personalen Unterstützung durch Erziehung und Bildung (Sozialpädagogik) nicht sinnvoll getrennt voneinander betrachtet werden können, wurde der Begriff der Sozialen Arbeit eingeführt, der bis heute in Deutschland dominant verwendet wird. Das Verständnis, dass gesellschaftliche Strukturen personales Handeln ermöglichen und hervorbringen und durch dieses Handeln reproduziert werden, dass also Struktur Handeln hervorbringt und Handeln Struktur, ist wesentlich für eine Bestimmung der Gegenstände und der Gelingensfaktoren der Sozialen Arbeit bzw. – wie wir sie nennen wollen – der Sozialen Dienstleistung. Der Begriff der Sozialen Dienstleistung wird im fachlichen Diskurs häufig präzisiert in personenbezogene soziale Dienstleistung oder abweichend auch als soziale personenbezogene Dienstleistung (Klatetzki, 2010), womit mehrere Begriffsbestandteile zu klären sind. Gelungene Soziale Dienstleistung

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Der Begriffsbestandteil Dienstleistung wird mit Bezug auf die Produktion bestimmt, entweder als Teil der Gesamtproduktion oder indem Dienstleistungsarbeit von Produktionsarbeit ausdrücklich abgehoben wird. Im Vergleich zur Produktionsarbeit sind Leistungen, die als Dienste angeboten werden, gekennzeichnet durch Immaterialität (das Leistungsergebnis ist zumindest teilweise immaterieller Art, was die eindeutige Messung und objektivierbare Bewertung erschwert), das Uno-actu-Prinzip (Produktion und Konsumtion der Leistung erfolgen weitgehend parallel) und Kundenbeteiligung (Dienstleistungen werden erbracht in Koproduktion zwischen Leistungserbringenden und Leistungsempfängern und sind notwendig auf die Mitwirkung der Kundinnen und Kunden angewiesen). Diese Charakteristika bringen es mit sich, dass die Logik der Erstellung von Dienstleistungen eng verschränkt ist mit der Logik ihrer Nutzung. Dabei kann Leistungen »mehr oder weniger Dienstund Bedienungsqualität verliehen werden, indem ihre Produktionslogik mit der Konsumtionslogik verschränkt wird und indem sie durch geeignete Transaktionsleistungen unterstützt werden« (Pongratz, 2012, S. 31). Unter Transaktionsleistungen wird die Gestaltung der Schnittstellen zum Kunden verstanden, also beispielsweise die Organisation der räumlichen und zeitlichen Begegnungen, aber auch die vor und nach der eigentlichen Leistungserbringung entstehenden Aufgaben (z. B. Auftragsklärung und Abrechnung). Die Verschränkung von Produktions- und Konsumtionslogik ist also ein wesentliches Merkmal von Dienstleistungen. In jüngerer Zeit wird eine zunehmende Dienstleistungsorientierung der Sozialen Arbeit als Chance und als Stärkung der Adressatenseite begriffen (Oechler, 2011, S. 263), wenngleich diese Orientierung die Ungewissheit der Leistungserbringung erhöht. Noch zu klären sind bei dem Begriff personenbezogene soziale Dienstleistung die Begriffsbestandteile personenbezogen und sozial. Als personenbezogene soziale Dienstleistungsorganisationen wird »eine Vielzahl sehr verschiedener und heterogener Organisationen [bezeichnet], von denen es zusammenfassend heißt, dass ihre Leistungserstellung sich ›auf heterogene Lebenslagen von Individuen und sozialen Gruppen, auf unangepasstes und abweichendes Verhalten, Schwierigkeiten familialer Erziehung, soziale Probleme und Konflikte 80

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usw.‹« bezieht (Drepper u. Tacke, 2010, S. 241). Zu personenbezogenen Dienstleistungsorganisationen gehören unter anderem Krankenhäuser, Pflegeheime, Therapieeinrichtungen, Einrichtungen der Kinder- oder Jugendhilfe, Schulen und Kindertagesstätten, psychosoziale, Familienoder Arbeitslosenberatungen usw. Die Attribute personenbezogen und sozial verweisen darauf, dass eine Vielzahl anderer Organisationen, die Dienstleistungen erbringen, nicht als personenbezogene soziale Dienstleistungsorganisation verstanden werden, wie etwa Bibliotheken, Reisebüros, Restaurants, Banken, Opernhäuser, Versicherungsagenturen, Fitnessstudios, Waschsalons, Friseure, Architekturbüros. Mit dem Attribut sozial werden demnach ausschließlich durch ökonomische Kalküle begründete Dienstleistungen ausgeschlossen. Angesprochen ist vielmehr der Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat als Referenzrahmen und -kontext einschließlich aller in dessen Ergänzung solidarisch erbrachten Hilfeleistungen, zum Beispiel von sogenannten freien Trägern. Der Personenbezug der Sozialen Dienstleistung wird nicht vom Staat realisiert, sondern von den mit diesen Leistungen gesellschaftlich betrauten Fachkräften, die es in der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht mit Staatsbürgern, sondern mit Klientinnen bzw. Kunden zu tun haben. In diesem Rahmen finden besondere und abgesonderte Interaktionssituationen statt, in deren Vollzug erkennbar gemacht wird, dass sie der Person, also dem Hilfesuchenden, dienen (Drepper u. Tacke, 2010, S. 244 ff.). In einem weiteren Sinne verstehen wir unter personenbezogenen sozialen Dienstleistungsorganisationen auch Bildungs- und Beratungsorganisationen, da auch deren Dienstleistungen personenbe­ zogen erbracht werden und sozial sind, das heißt nicht ausschließlich von kommerziellem Interesse geleitet – jedenfalls gilt dies für Organisationen in kommunaler Trägerschaft und auch für viele private Organisationen der Bildung und Beratung. Im engeren Sinne verstehen wir im Folgenden unter einer sozialen Dienstleistung allerdings Dienstleistungen im Kontext der Sozialen Arbeit und keine Bildungs- und Beratungsleistungen, zumal diese bereits an anderer Stelle behandelt wurden (vgl. Kapitel 3.1 und 3.2). Wir geben dem Begriff der Sozialen Dienstleistung den Vorzug vor der Bezeichnung Soziale Arbeit, da die Verschränkung von Produktion und Konsumtion wesentlich für Leistungen ist, wie sie von OrgaGelungene Soziale Dienstleistung

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nisationen der Familien- und Jugendhilfe, von kommunalen Ämtern, von Selbsthilfegruppen etc. angeboten werden. Allerdings verzichten wir in den folgenden Ausführungen auf das Attribut personenbezogen, da bereits der Begriff der Dienstleistung mit der sie kennzeichnenden Verschränkung von Produktions- und Konsumtionslogik und der Betonung der unverzichtbaren Mitwirkung der Kundinnen und Kunden den interaktionalen Gesichtspunkt beinhaltet. Zudem scheint uns der Begriff Soziale Dienstleistung den sinnvollen doppelten Blickwinkel auf gesellschaftlich-strukturelle (sozial) und subjektbzw. akteursbezogene Aspekte (Dienstleistung) besser auf den Punkt zu bringen und ausgewogener zu gewichten als eine erneute Betonung des Personenbezugs. Mit der Bezeichnung Soziale Dienstleistung soll gleichzeitig ihr Dienstleistungscharakter, also die Betonung der Rolle der Adressaten, und die gesellschaftlich-strukturelle Ebene abgebildet werden. Damit soll auch der Gefahr der »Aufhebung der Dialektik« von Individuum und Gesellschaft bzw. der »Subjektivierung als Verengung der Lebenslage« (Böhnisch u. Schröer, 2013, S. 44 f.) begegnet werden, die dazu beiträgt, dass Menschen in der Moderne strukturelle Konflikte als persönliches Handlungsproblem definieren (müssen) und ein Scheitern an dysfunktionalen gesellschaftlichen Strukturen oder hinderlichen institutionellen Zugängen als persönliches Scheitern umgedeutet wird, dass also soziale Probleme dethematisiert und individualisiert werden (Füssenhäuser u. Thiersch, 2011, S. 1640). Die Entstehung Sozialer Arbeit bzw. Sozialer Dienstleistung als Bearbeitung sozialer Ungleichheit geht in ihren Ursprüngen auf die Praxis des Almosens im Mittelalter zurück. Soziale Dienste, die soziale Tätigkeiten durch Organisation strukturieren, sind entstanden in der Wilhelminischen Epoche des deutschen Kaiserreichs als neuartige kommunale Einrichtungen sozialer Fürsorge (Flösser, Rosenbauer u. Witzel, 2011, S. 1622). Dabei hat die Frage, ob Soziale Arbeit Kontrolle oder Hilfe ist, diese von Anbeginn an begleitet und wird »mittlerweile in Form einer doppelten Funktionsbestimmung als Hilfe und Kontrolle« beantwortet (Böllert, 2011, S. 436). Diese doppelte Bestimmung findet sich auch im neueren Postulat des Förderns und Forderns wieder, das das Motto der Sozialreform mit der Einführung der ALG II-Gesetzgebung war und das als Form einer Aktivierungspädagogik durchaus kritisch zu betrachten ist. Denn 82

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auffällig an dieser doppelten Funktionsbestimmung ist, dass sich diese ausschließlich auf die Ebene der Person bezieht und gesellschaftlich-strukturelle Aspekte außer Acht lässt. Als alleinige inhaltliche Bestimmung der Sozialen Dienstleistung ist sie vor dem Hintergrund der Dualität von Struktur und Handeln daher nicht geeignet. Aufschlussreich können hier Silvia Staub-Bernasconis (2008) Gedanken zu einem professionellen Tripelmandat ein, das das klassische berufliche Doppelmandat von Hilfe und Kontrolle ergänzt. Um sich Eigenständigkeit zu wahren als Voraussetzung für eine gestaltende und nicht bloß reproduzierende Ausübung der Sozialen Dienstleistung, braucht eine Profession nach Staub-Bernasconi nicht nur ein Doppelmandat, sondern ein Tripelmandat: »Dieses dritte, hinzukommende Mandat erhält sie von den Akteuren der Profession selber, das heißt von ihren lokalen, nationalen und internationalen Vereinigungen sowie ihren Berufskammern und indirekt natürlich auch von den wissenschaftlichen Standards der Ausbildung« (S. 12 f.). In Erweiterung der Gedanken Staub-Bernasconis schlägt Dieter Röh ein Vierermandat vor, bei dem auch die Vorstellungen und Ansprüche der organisationalen Ebene berücksichtigt werden (2013, S. 68 ff.). Tatsächlich kann es sinnvoll sein, über das professionelle Tripelmandat hinaus ein Mandat der Sozialen Dienstleistungsorganisation bzw. der jeweiligen Trägerorganisation zu explizieren. Sinnvoll wäre es dann aber sicherlich auch, dieses vierte Mandat gemeinsam mit den in der Organisation beschäftigten Fachkräften zu erarbeiten, sodass an dieser Stelle gleichzeitig ein Verständigungsprozess zwischen Profession und Organisation ansetzen kann und nicht etwaige Grabenkämpfe zwischen vermeintlich unvereinbaren Logiken aufflammen. Im Laufe der Jahrzehnte veränderten sich die Paradigmen der Sozialen Arbeit, die je nach gesellschaftlich vorherrschender Konvention und professioneller Präferenz zum Beispiel als soziale Kommunalpolitik, als orientiert an Sozialräumen, Lebenswelten oder Gerechtigkeitsvorstellungen, als Exklusionsvermeidung und Inklusionsvermittlung bzw. als Demokratisierungsstrategie aufgefasst wurde (Böllert, 2011). Dabei zieht sich der Gedanke, dass Soziale Dienstleistung zur Gerechtigkeit einer Gesellschaft beitragen soll, von Anfang an durch den fachlichen Diskurs. Angeregt wurde die Gelungene Soziale Dienstleistung

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Debatte um Soziale Dienstleistung als Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit in jüngerer Zeit vor allem von dem Capabilities-Ansatz, der in seiner Anwendung auf die Erziehungswissenschaften, die Sozialwissenschaften und auf die Soziale Arbeit zunehmend diskutiert wird und der eine neue Antwort bietet auf die alte Frage nach den Kriterien von Gerechtigkeit. Wie Ortrud Leßmann (2006) herausgearbeitet hat, weist das in der Sozialen Dienstleistung bewährte Konstrukt der Lebenslagen als mehrdimensionales Konzept der Erfassung der Lebenssituation von Subjekten Ähnlichkeiten zu dem der Verwirklichungschancen (Capabilities) auf; ein weiterer Aspekt, weshalb der Capabilities-Ansatz für diese Profession anschlussfähig für eigene Ausgestaltungen und Definitionen des Gelungenen sein könnte. Um entscheiden zu können, ob Soziale Dienstleistung zur sozialen Gerechtigkeit beiträgt, muss zunächst die Idee der Gerechtigkeit geklärt werden. Worauf bezieht sich Gerechtigkeit? Geht es um eine gleiche Verteilung von Ressourcen und Gütern wie bei den vertragstheoretischen Gerechtigkeitsentwürfen (wie bei John Rawls, Thomas Hobbes und John Locke), geht es um den größtmöglichen Nutzen für die größtmögliche Zahl von Menschen wie im Utilitarismus (einer vor allem von Jeremy Bentham und John Stuart Mill entwickelten Form der zweckorientierten Ethik, die Handlungen nach dem Nützlichkeitsprinzip im Sinne der Vermehrung von Glück und Lust bewertet), oder geht es darum, dass Verwirklichungschancen und Grundgüter nicht gleich, sondern so verteilt werden, dass jede Person eine gleiche Nutzungsmöglichkeit hat? Der Capabilities-Ansatz verweist – der aristotelischen Tradition folgend – darauf, »dass ein gutes Leben nicht nur ein individuelles, sondern immer auch ein soziales Projekt ist« (Otto u. Ziegler, 2010, S. 9). Der von dem indischen Ökonomen Amartya Sen entwickelte und von anderen Wissenschaftlern wie Martha Nussbaum ausdifferenzierte Capabilities-Ansatz ist entstanden als Erweiterung herkömmlicher Ansätze zur Wohlfahrtsmessung und Entwicklungsberichterstattung und stellt eine andere Informationsbasis für die Erhebung von sozialer Gerechtigkeit und gelingendem Leben dar. Sen kritisiert die einseitige Verengung des Blicks auf materielle Ressourcen, wie sie zum Beispiel in der Erhebung des Bruttoinlandprodukts als Indikator zur Wohlfahrtsmessung zum Ausdruck kommt, 84

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da Einkommen und Wohlstand aus seiner Perspektive keinen Wert an sich darstellen, sondern nur bedeutsam sind im Hinblick auf die Frage, ob diese materiellen Güter die persönliche Freiheit und die konkrete Möglichkeit, Auswahlentscheidungen zu treffen, erhöhen, das heißt materielle Ressourcen sind nur Mittel zum Zweck. Auch die Grundgüter nach John Rawls wie Freiheiten, Rechte, Chancen, Einkommen und Vermögen sind nach Sen nicht als Informationsbasis zur Messung eines gelingenden Lebens geeignet, da die gleichen Grundgüter nicht zu gleichen Vorteilen bei allen Menschen führen. So kritisiert Sen, dass Rawls »die Chancen, die Menschen haben, nach Maßgabe der Mittel ein[schätzt], über die sie verfügen, […] aber die großen und vielfältigen Unterschiede in ihren Fähigkeiten, Grundgüter in gutes Leben zu konvertieren, außer Acht« lässt (2013, S. 94). Bei einer Betrachtung der Grundgüter wird ausgeblendet, dass »Faktoren wie Alter, Geschlecht, genetische Voraussetzungen etc. massiv beeinflussen, welche tatsächlichen Möglichkeiten uns im Leben offenstehen, selbst wenn man über die gleichen ­Grundgüter verfügt. Eine Gleichverteilung an Grundgütern kann deshalb zu sehr großen Unterschieden in der realen Freiheit des Einzelnen führen« (Graf, 2011, S. 16). Ein behinderter Mensch beispielsweise kann erheblich mehr Ressourcen brauchen als eine nicht eingeschränkte Person, um ein gelingendes Leben zu führen. Eine weitere gängige Informationsbasis, die für den Utilitarismus typischen Nutzeneinheiten, ist nach Sen ebenfalls ungeeignet als Kategorie zur Bewertung eines guten Lebens. Denn zum einen sind Glück und Lust nicht für alle Menschen das einzig Wichtige im Leben, und zum anderen kann das Phänomen der adaptiven Zufriedenheit bei Menschen dazu führen, dass sie widrige Lebensbedingungen positiv bewerten, da sie ihr Anspruchsniveau gesenkt haben. Der Capabilities-Ansatz mit seiner grundlegenden Unterscheidung von Capabilities und Functionings (Sen, 1993) bietet eine Alternative zu den Informationsbasen der materiellen Ressourcen der Ökonomie, der Grundgüter nach Rawls und den Nutzeneinheiten des Utilitarismus. Capabilities in Sens Sinne sind nur unzureichend als Fähigkeiten zu übersetzen, sondern zielen ab auf die Chancen einer Person, ein von ihr als gut bewertetes Leben zu verwirklichen. Capabilities meinen die Verwirklichungschancen, die zur Auswahl Gelungene Soziale Dienstleistung

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stehenden Lebensweisen, oder – in Sens Terminologie – die Möglichkeit, bestimmte Functionings (Funktionsweisen) zu erreichen. Functionings und Capabilities stehen in einem engen Zusammenhang miteinander, denn Functionings sind konkret verwirklichte Lebensweisen, das heißt Seinsweisen (beings) oder Tätigkeiten (doings) aus der gesamten Menge der verfügbaren Möglichkeiten, den Capabilities oder dem Capability Set. Diese Unterscheidung zwischen Verwirklichungschancen und erreichten Funktionen ist wichtig, denn nach Sen ist es nicht nur aufschlussreich zu betrachten, welches Leben eine Person konkret führt, sondern auch zu untersuchen, welche verschiedenen Arten von Lebensführung ihr praktisch zur Auswahl stehen. Führt jemand das Leben, das er führt, nur, weil kein anderes in Reichweite ist? Verzichtet jemand auf Essen, weil ihr die Ressource Nahrung nicht zur Verfügung steht oder als Reinigungs- bzw. spirituelles Ritual? Die Verwirklichungschancen (capabilities) einer Person sind sowohl abhängig von der Zugänglichkeit materieller Ressourcen als auch von ihren individuellen Fähigkeiten und Kompetenzen. Damit zeigt sich im Capabilities-Ansatz ebenfalls ein doppelter Fokus auf die gesellschaftlich-strukturelle Ebene einerseits und die subjekt-handlungsbezogene Ebene andererseits, wie er auch für das hier entwickelte Verständnis Sozialer Dienstleistung maßgeblich ist. Diese relationale »Perspektive verlangt den materiell und institutionell strukturierten Raum gesellschaftlicher Möglichkeiten zu einem akteursbezogenen Raum individueller Bedürfnisse und Handlungsbefähigungen mit Blick auf die Ermöglichung einer selbstbestimmten Lebenspraxis in Beziehung zu setzen« (Ziegler, 2011, S. 129 f.). Um die potenzielle Uferlosigkeit des Capability-Ansatzes einzudämmen und die zu gewährleistenden Verwirklichungschancen einzugrenzen, hat Martha Nussbaum (2012) eine Liste von Grundfähigkeiten des Menschen entwickelt, die sie als Liste der Fähigkeiten versteht, die für gelingendes Leben von grundlegender Bedeutung sind. Capabilit­ies geben einen formalen Rahmen vor für gelingendes Leben und sind damit eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für Wohlergehen. Komplettiert werden die Grundfähigkeiten bzw. Verwirklichungschancen dann, wenn sie von Personen ergriffen und in ihrer Lebensführung aktiviert wer86

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den. Nussbaums Liste umfasst zehn miteinander zusammenhängende Capabilities, darunter zum Beispiel die »Fähigkeit, ein volles Menschenleben bis zum Ende zu führen«, die »Fähigkeit, sich guter Gesundheit zu erfreuen« und die »Fähigkeit, sein eigenes Leben und nicht das von jemand anderem zu leben« (Nussbaum, 2012, S. 57 f.). Nussbaum hebt unter den zehn Grundfähigkeiten zwei menschliche Tätigkeiten hervor, die alle anderen strukturieren und ihnen ihre spezifisch menschliche Ausformung geben: die praktische Vernunft und die Verbundenheit mit anderen Menschen (S. 59). Diese Schlüsselfähigkeiten können als sogenannte »Fähigkeitsfähigkeiten« angesehen werden, »als Fähigkeiten, mit Fähigkeiten umzugehen« bzw. als Fähigkeiten zweiter Ordnung (Sedmak, 2011, S. 46). Eine so verstandene Befähigungsgerechtigkeit, die das Augenmerk richtet auf die tatsächlichen Verwirklichungschancen konkreter Menschen, ist mit ihrer Berücksichtigung der individuellen Besonderheiten und Präferenzen dem traditionellen Konzept der Verteilungsgerechtigkeit überlegen und bietet ein vielversprechendes Fundament, gelingende Soziale Dienstleistung zu definieren. 3.3.2 Definition gelungener Sozialer Dienstleistung Soziale Dienstleistung ist ein Sinngeschehen im Vermittlungszusammenhang zwischen gesellschaftlichen Ermöglichungsstrukturen und subjektiven Fähigkeiten und Ressourcen. Deshalb kann auch sie – wie bereits grundsätzlich Qualität, aber auch die bisherigen Gegenstände Bildung und Beratung – in ihren drei S­ inndimensionen entfaltet werden: ȤȤ Sachlich geht es vor allem um in Koproduktion erbrachte Dienstleistungen, die Menschen gesellschaftliche Teilhabe und ein weitgehend selbstbestimmtes Leben ermöglichen sollen. ȤȤ Sozial ist die Gerechtigkeitsthematik von zentraler Bedeutung. Ohne eine gefüllte Vorstellung davon, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und welche sozialstrukturellen Bedingungen dafür erforderlich sind, kaschiert personenbezogene Hilfe lediglich gesellschaftliche Strukturprobleme. ȤȤ Zeitlich ist bestimmend, dass Soziale Dienstleistungen nicht wie Produkte auf Vorrat hergestellt werden können, sondern dass sie sich in einer Form von Gleichzeitigkeit in der unmittelbareren Gelungene Soziale Dienstleistung

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Kooperation zwischen Hilfeleistenden und Hilfeempfangenden realisieren (Uno-actu-Prinzip). Wann nun kann Soziale Dienstleistung als gelungen gelten? Bei einer weiteren Ausfaltung der drei genannten Sinndimensionen wird deutlich, dass zum Gegenstand wirksamer Sozialer Arbeit bzw. Sozialer Dienstleistung sowohl gesellschaftlich-strukturelle Problemlagen gehören als auch subjekt-handlungsbezogene Lebenslagen. Gelungene Soziale Dienstleistung bringt die Facetten ihres Begriffs zum Ausdruck und erfüllt diese mit Leben: Neben dem Begriff des Sozialen ist dies die Dienstleistungsorientierung, also die Berücksichtigung der für Dienstleistungen typischen Verschränkung von Leistungserbringung und Leistungsnutzung und die Stärkung der Bedürfnisse und Vorstellungen der Adressatenseite. Sozialer Dienstleistung liegt ferner eine regulative Idee sozialer Gerechtigkeit zugrunde, zu der sie beitragen will. Sowohl für die Fachkräfte als Leistungserbringer als auch für die Kundinnen und Kunden als Koproduzenten der Leistung ist die Klärung dieser handlungsleitenden Idee unerlässlich, um darüber entscheiden zu können, ob dieser ideelle Hintergrund und die vor diesem Hintergrund konzipierten Sozialen Dienstleistungen anschlussfähig sind zu der jeweils eigenen Vorstellung vom gelingenden Leben. Soziale Dienstleistung ist also gelungen, wenn ȤȤ das ihr zugrunde liegende Verständnis von sozialer Gerechtigkeit diskursiv geklärt und kommuniziert ist; ȤȤ daraus abgeleitete Dienstleistungen klar kommuniziert werden mit einem Abgleich der wechselseitigen Erwartungen und Beiträge der beteiligten Akteure; ȤȤ sie als Koproduktion verstanden und in wechselseitiger Wertschätzung der jeweiligen Beiträge kooperativ erbracht wird; ȤȤ gesellschaftlich-strukturelle Aspekte in ihrem Beitrag zu einem gelingenden Leben analysiert, kritisch reflektiert und nach Möglichkeit optimiert sind; ȤȤ die subjekt-handlungsbezogenen Möglichkeiten von Menschen genutzt, gestärkt und gegebenenfalls kompensiert werden; ȤȤ die Entscheidung über die Inanspruchnahme der Angebote und damit die Hoheit über Art und Umfang der Leistungsergebnisse bei den Adressaten bleibt. 88

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Der letztgenannte Aspekt des Gelungenen zielt darauf ab, die Urheberschaft des eigenen Lebens bei denjenigen zu belassen, die dieses Leben führen. Nicht unterschlagen werden soll an dieser Stelle, dass Soziale Dienstleistungen zum Teil auch für Kunden erbracht werden, die nicht in der Lage sind, begründete Auswahlentscheidungen zu treffen. Hier wäre eine Interessenvertretung der Adressaten zu benennen und deren Angemessenheit zu begründen. 3.3.3 Wie kann Soziale Dienstleistung gelingen? Gelungene Soziale Dienstleistung beinhaltet die Integration verschiedener Perspektiven und unterschiedlicher Ebenen. Dabei lassen sich personale, interaktionale, organisationale und gesellschaftliche Voraussetzungen gelungener Sozialer Dienstleistung unterscheiden: Damit Soziale Dienstleistung gelingen kann, muss auf gesellschaftlicher Ebene geklärt sein, nach welchen Leitideen eine Gemeinschaft leben will (also welches Verständnis von sozialer Gerechtigkeit ihr zugrunde liegt) und was sie einander dafür zur Verfügung stellen will (also welche Rechte und Pflichten mit dieser Leitidee verbunden sind). Diese Frage beschränkt sich nicht auf die Klärung, wie materielle Güter oder andere Grundgüter möglichst gerecht zu verteilen sind, sondern vielmehr sollte die dahinterstehende Frage betrachtet werden, was Menschen zu einem gelingenden Leben brauchen und wie Menschen mit ihren individuellen Möglichkeiten und Begrenzungen im Sinne einer Zugangs- oder Befähigungsgerechtigkeit in möglichst gleichem Umfang von Gütern profitieren bzw. ihre Rechte verwirklichen können. Das eröffnet die Möglichkeit, jenseits materieller Ressourcen und auch jenseits empirisch gelebter Leben einen Konsens darüber herbeizuführen, was für ein gelingendes Leben erforderlich ist. Wird zu diesem Zweck beispielsweise entsprechend dem Capa­ bilities-Ansatz eine Liste von grundlegenden Verwirklichungschancen diskursiv entwickelt, müssten auch Schwellenwerte definiert werden, ab deren Erreichen ein Leben als gutes menschliches Leben bezeichnet werden kann. Nussbaum (2012, S. 197 f.) unterscheidet zwei verschiedene Schwellenwerte: eine erste Schwelle, ab der ein Leben überhaupt als menschliches Leben gelten kann, und eine zweite, ab der Menschen ihre Verwirklichungschancen in einem Umfang nutzen können, der ihnen ein gutes Leben ermöglicht. Gelungene Soziale Dienstleistung

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Mit der Definition von Schwellenwerten allein ist es natürlich nicht getan. Damit Soziale Dienstleistung gelingen kann, muss die Erreichung der Schwellenwerte strukturell abgesichert sein, und zwar im Sinne der Befähigungsgerechtigkeit mit je nach individuellen Voraussetzungen differenzierten Zugängen und Unterstützungsangeboten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Gesellschaft respektive die Sozialpolitik nach Sen und Nussbaum ausdrücklich nicht die Nutzung der Verwirklichungschancen verbindlich anordnen oder fordern sollte, um die menschliche Freiheit als Grundwert dieses Befähigungsansatzes nicht zu missachten. Fördern der Zugangsmöglichkeiten als strukturelle Voraussetzungen für ein gutes Leben ist erforderlich, auf Fordern der Inanspruchnahme sollte eine Gesellschaft verzichten. Auf interaktionaler Ebene müssen für die Adressatinnen und Adressaten – damit Soziale Dienstleistung gelingen kann – also zunächst die Grundlagen zur Teilhabe geschaffen und kommuniziert werden. Für sie muss deutlich werden, welche Lebenschancen ihnen durch das Angebot in Reichweite gestellt werden und was von ihnen als Prosument der Leistungserbringung erwartet wird. Gelingende Soziale Dienstleistung bedarf der Mitwirkung der Kunden und Kundinnen, damit das Angebot zu einer entwicklungsfördernden Leistung mit einem gemeinsam hervorgebrachten Ergebnis wird, das in der Hoheit der Adressaten verbleibt. Damit die Koproduktion der Sozialen Dienstleistung gelingt, müssen die professionellen Fachkräfte und ihre Kunden auf Augenhöhe miteinander agieren können, jenseits von belehrender Attitüde auf der einen und von kämpferisch-ängstlicher Abwehr auf der anderen Seite. Ausdruck eines solchen gleichwertigen Umgangs miteinander, der die jeweiligen Beiträge beider Seiten wertschätzt und miteinander in Aushandlungsprozesse bringt, kann es übrigens auch sein, wenn die Empfänger der Sozialen Dienstleistung nicht verschämt als Adressaten oder Klientinnen bezeichnet werden, sondern ihnen als Kunde und Kundin begegnet wird. Kunden sind – etymologisch betrachtet – Kundige, das heißt Wissende mit spezifischen Kenntnissen und Fähigkeiten; sie sind Partner in einer Beziehung, die auf Wertschätzung und Gegenseitigkeit basiert und deren Ziel es ist, die Kundigen zu 90

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befähigen, ihr Leben selbstständig und ohne Hilfe anderer zu meistern bzw. weitgehend unabhängig zu werden. Eine personale Voraussetzung für das Gelingen von sozialer Dienstleistung ist es entsprechend, dass Personen die Verantwortung für ihr Leben nicht delegieren, sondern bereit sind, im Bedarfsfall ihre individuellen Möglichkeiten nach Kräften einzusetzen – unterstützt von professioneller Expertise und von einem gesellschaftlichen Klima, das die individuelle Lebensbewältigung unterstützt und strukturell absichert. Des Weiteren ist die Bereitschaft erforderlich, sich auch unabhängig von eigenen Unterstützungsbedürfnissen für den gesellschaftlichen Diskurs über soziale Gerechtigkeit als Leitidee Sozialer Dienstleistung zu engagieren. Unverzichtbar ist bei den beteiligten Individuen also ein Interesse an Sozialität und guter Gesellschaft. Als organisationale Voraussetzung für gelungene Soziale Dienstleistung ist von den in diesem Bereich tätigen Fachkräften und den Organisationen zunächst eine Klärung der handlungsleitenden Ideen erforderlich, die den Angeboten zugrunde liegen. Welchen konkreten Auftrag gibt sich die Profession bzw. Organisation im Rahmen ihrer Handlungsmöglichkeiten? Wozu soll ihre Dienstleistung einen Beitrag leisten? Die auf gesellschaftlicher Ebene geforderte diskursive Verständigung über die für ein gelingendes Leben erforderlichen Grundfähigkeiten ist kein Ersatz (oder deren Fehlen auch keine Entschuldigung) für den Klärungsprozess auf der Ebene der Profession bzw. der jeweiligen Organisation. Die bereits dargestellten Überlegungen Staub-Bernasconis (2008) zu einem professionellen Tripelmandat, das das klassische berufliche Doppelmandat von Hilfe und Kontrolle ergänzt, bzw. Röhs (2013) Vorschlag eines Vierermandats, das die organisationale Seite stärkt, können hier förderlich sein. Im Rahmen eines solchen vierten Mandats könnte auch das der Organisation zugrunde liegende Verständnis von sozialer Gerechtigkeit und ihr Beitrag zur Erhöhung der Gerechtigkeit diskursiv geklärt werden. Der nächste Aspekt des Gelungenen zielt auf die Aufgabe der Organisation, ihre Dienstleistungen transparent zu machen und die wechselseitigen Erwartungen und Beiträge der beteiligten Akteure miteinander abzugleichen. Dieser Abgleich ist für Dienstleistungen grundsätzlich mit ihrer beschriebenen Verschränkung von Produktions- und Konsumtionslogik und insbesondere für soziale DienstGelungene Soziale Dienstleistung

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leistungen, denen es immer auch um die Stärkung der individuellen Handlungsfähigkeit geht, unverzichtbar. Zugleich muss die Organisation dafür Sorge tragen, dass die Entscheidung über die Inanspruchnahme der Angebote und damit die Hoheit über Art und Umfang der Leistungsergebnisse bei den Adressaten bzw. deren Interessensvertretern bleibt. Organisationen sollten also aufmerksam sein in Bezug auf ihre eigenen, möglicherweise im Verborgenen wirkenden normativen Vorstellungen. Damit Soziale Dienstleistung gelingt, müssen Organisationen sich die Doppelstruktur ihres Handlungsfelds bewusst machen und auf beiden Ebenen tätig werden. Es gilt, zum einen gesellschaftlichstrukturelle Aspekte in ihrem Beitrag zu einem gelingenden Leben zu analysieren, kritisch zu reflektieren und Möglichkeiten zu erurieren und zu nutzen, um auf diese Strukturen verändernd einzuwirken. Darüber hinaus ist und bleibt es die Aufgabe gelingender Sozialer Dienstleistung, die subjekt-handlungsbezogenen Möglichkeiten von Menschen wahrzunehmen, zu nutzen, zu stärken und im Bedarfsfall durch einen verbesserten Zugang zu materiell-strukturellen Ressourcen auszugleichen. Damit trägt gelingende Soziale Dienstleistung der wechselseitigen Beeinflussung struktureller und personaler Aspekte der Verwirklichungschancen von Menschen Rechnung und sie leistet einen Beitrag dazu, Ermöglichungsbedingungen von sozialer Gerechtigkeit und einem individuell als gut wertgeschätztem Leben zu schaffen.

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Das menschliche Maß: Die Gegenstände der Qualitätsentwicklung

4D  ie Doppellogik der Qualitätsentwicklung: Organisationsentwicklung und Professionalisierung

Qualitätsentwicklung hat eine lange Tradition, die mindestens bis in die Frühzeit handwerklicher Produktion zurückreicht. Richard Sennett (2008) hat in seiner Studie über das Handwerk gezeigt, dass es ein dauerhaftes menschliches Grundbestreben gibt, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen. Er sieht dieses Bedürfnis der Arbeitenden nicht nur bei Handwerkern, sondern ebenfalls bei Programmiererinnen, Ärzten, Künstlerinnen, Lehrern oder Laborantinnen etc. Gute Arbeit zu machen und einen sinnvollen Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten, erfüllt die Einzelnen mit Stolz. Deshalb entwickeln Berufsgruppen oder Professionen auch eigene Standards, ethische Maßstäbe und Qualitätsanforderungen. Was allerdings gegenwärtig unter Qualitätsmanagement in der DIN/ISO-Variante den Zertifizierungsmarkt beherrscht, hat damit nicht viel zu tun, denn es geht bei diesem sogenannten Qualitätsmanagementsystem zwar um Management, aber nicht um die Qualität von Arbeit und deren Produkten (Zech, 2015b). Das liegt  – wie Ortmann (2010, S. 220) aufgezeigt hat  – an einer dreifachen Verschiebung und Ersetzung: 1. von qualitativen Standards für die Substanz von Leistungen hin zu der Standardisierung der Leistungsprozesse, 2. von den tatsächlichen organisationalen Abläufen hin zur Standardisierung des Managements dieser Prozesse, 3. schließlich vom tatsächlichen Management hin zu dessen Dokumentation. Ortmann kritisiert also, dass nicht mehr die Qualität der Leistung, sondern die Qualität der Dokumentation des Managements der Leistungsprozesse im Fokus der ISO steht. Es geht um ein Verfahren der Normierung betrieblicher Abläufe. Um Mängel und Abweichungen aufzudecken und zukünftig zu vermeiden, wird ein System der möglichst lückenlosen Kontrolle eingeführt, das einer regelmäßigen prüfenden Zertifizierung durch externe Instanzen anhand präskriptiver Normen unterzogen wird. 93

Zudem arbeitet dieses Zertifizierungssystem ohne einen substanziellen Qualitätsbegriff (vgl. Kapitel 1). Die Beurteilung von Q ­ ualität wird vielmehr auf die Kunden verschoben. Qualität mit der Befriedigung von Kundenbedürfnissen gleichzusetzen unterstellt, dass die Kunden ohne Weiteres wüssten, welche Qualität gute Qualität ist. Dass die Frage der Definition der Ergebnisqualität nicht inhaltlich bestimmt, sondern auf die Kunden und deren Beurteilung oder auf die Bewertung des finanziellen Ertrags verschoben wird, und dass es vor allem um die effiziente Gestaltung von Produktionsprozessen geht, liegt in der Logik einer Wirtschaft, der es vor allem auf den möglichst großen Verkauf von Waren und Dienstleistungen ankommt – egal, ob diese wirklich gebraucht werden oder nicht. Es geht eben nicht um die Produktion von guter Qualität für eine lebenswerte Gesellschaft, sondern um die verfahrensförmige Anpassung des Produktionsprozesses und der Produzenten an die Logik des Kapitalverwertungsprozesses. Das liegt – wie Luhmann (1974, S. 208) festgestellt hat – daran, dass unsere Wirtschaft nicht der immanenten Logik des Bedarfs, sondern der Bedarf der immanenten Logik der Wirtschaft folgt (vgl. Kapitel 2). Wenn man also Arbeit nicht unter Qualitätsgesichtspunkten einer vernünftigen Bedarfs­befriedigung betrachtet, sondern rein ökonomisch denkt, ist ein solches Qualitätsmanagement folgerichtig. Mit Qualität von Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten und einem guten Leistungsergebnis im Interesse einer nachhaltigen Bedarfsdeckung einer guten Gesellschaft hat dies nichts zu tun. Aber genau hier muss die Qualitätsdiskussion ansetzen. Ohne eine gefüllte Vorstellung eines guten Lebens in einer gerechten Gesellschaft macht das Managen von Qualität keinen Sinn. In diesem Buch wird ein komplett anderer Ansatz vorgeschlagen: Qualitätsentwicklung als kontinuierliche Entwicklung der Organisation und Professionalisierung der Beschäftigten auf der Grundlage einer ethisch begründeten inhaltlichen Vorstellung eines guten Lebens in einer gerechten Gesellschaft. Denn erst in einer vom Verwertungszwang befreiten Gesellschaft, deren Wirtschaft dem Bedarf und nicht deren Bedarf der Wirtschaft folgt, kann Qualitätsentwicklung ihren eigentlichen Zweck realisieren: die Schaffung humaner Arbeitsbedingungen und die Herstellung von nachhaltigen Produkten und Dienstleistungen für eine zukunftsorientierte demokratische Gesellschaft. Qualitäts94

Die Doppellogik der Qualitätsentwicklung

entwicklung wäre dabei erstens Organisationsentwicklung als Gestaltung guter Arbeitsbedingungen und zweitens Professionalisierung als Entfaltung der fachlichen und sozialen Kompetenzen der Arbeitenden. Dies natürlich nicht als Selbstzweck, ­sondern um hochwertige und bedarfsgerechte Leistungen für die Kunden zu produzieren. Das soll in diesem Kapitel erläutert werden: Zunächst wird dazu unsere Vorstellung von Organisation und der organisationale Entwicklungsmodus erläutert; dem folgt die Begründung einer Qualitätsentwicklung als Organisationsentwicklung und Professionalisierung, um abschließend aufzuzeigen, wie man die Selbstentwicklungsfähigkeit der Organisation systematisch nutzen kann.

4.1 Organisation In den Branchen Bildung, Beratung und Sozialer Arbeit hat die Beschäftigung mit dem Thema Organisation vergleichsweise spät eingesetzt. Die Organisation wurde nicht als Voraussetzung professionellen Handelns begriffen, sondern nicht selten geradezu abschätzig als Verwaltung apostrophiert und als Beeinträchtigung professionellen Handelns betrachtet. Wenn man sich schon dem Thema Organisation gesondert zuwandte, dann in der Regel aus einer reinen Akteursperspektive, wobei die Organisation dann als eine Ansammlung von Menschen erschien, die sich irgendwie interaktionell einigen musste. Sieht man jedoch die Menschen und ihr Handeln als Elemente der Organisation an, dann hat das einerseits den theoretischen Nachteil, dass der Mensch gegenüber der Organisation seine Andersartigkeit und damit seine Freiheitsgrade verliert oder dass man nachträglich durch die Unterscheidung zwischen Mensch und Berufsrolle das eigentlich Menschliche wieder aus der Organisation eskamotieren muss. Andererseits hat diese Sichtweise die negative praktische Folge, dass organisationale Konflikte schnell mit vermeintlichen menschlichen Unzulänglichkeiten erklärt und personalisierend ausgetragen werden. Wechselseitige Verletzungen und Missachtungen bleiben folglich nicht aus. Hier soll eine andere Sicht von Organisation zugrunde gelegt werden, die sich an systemtheoretischen Erkenntnissen orientiert. Organisationen werden als rekursive Netzwerke der Kommunikation von Organisation

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Entscheidungen begriffen; Menschen gehören zu ihrer Umwelt und werden nur funktionsbezogen als Personen, das meint als kommunikative Adressen, in die Kommunikation der Organisation inkludiert (Luhmann, 2000). Dieser hier etwas verdichtet formulierte Theorieansatz soll jetzt etwas ausführlicher entfaltet werden. Die Systemtheorie geht erkenntnistheoretisch davon aus, dass wir uns perspektivenabhängig die Welt, so wie sie uns erscheint, durch unsere Beobachtungen konstruieren. Wir treten der Welt nicht als Subjekte gegenüber, die die Welt als unabhängiges Objekt adäquat erkennen können, sondern Beobachter und Beobachtetes sind wechselseitig vermittelt. Dabei ist es so, dass wir ausgehend von dem spezifischen Beobachterstandpunkt Ausschnitte aus dem unendlichen Horizont der Welt beobachten und das Beobachtete durch eine Unterscheidung markieren, die wir als dies Bestimmte und nicht das restliche Unbestimmte bezeichnen. Das bedeutet, wir erfahren die Welt ausschnittweise durch einen beobachtenden Unterscheidungsgebrauch, wobei wir die unterschiedene Seite in bestimmter Weise bezeichnen und die andere Seite der Unterscheidung in der Regel offenlassen. Ein Beobachter bezeichnet ein Gebäude als groß im Unterschied zu den bisher bekannten Gebäuden der eigenen dörflichen Gemeinde. Wohingegen dasselbe Gebäude von einem anderen Beobachter als klein bezeichnet wird, weil er aus einer Metropole stammt und viel größere Gebäude gewohnt ist. Die Systemtheorie arbeitet also nicht mit der traditionellen Subjekt-Objekt-Unterscheidung, sondern ihre Grundunterscheidung ist die zwischen System und Umwelt, wobei die Umwelt immer die spezifische Umwelt des jeweiligen Systems ist. Das ehemalige Subjekt wird als psychisches System operationalisiert, das sich über Beobachtungen seine spezifische Umwelt konstruiert. Aber das beobachtende System muss kein psychisches sein, wie in unserem Beispiel, sondern es kann auch ein soziales sein wie eine Organisation. Der Unterschied besteht darin, dass das Psychische als System von Gedanken und das Soziale als System von Kommunikationen theoretisiert wird. Beide Systeme arbeiten getrennt voneinander und vollständig überschneidungsfrei. Beide Systeme sind Beobachter in spezifischen Umwelten. Sie sind durch das Medium der Sprache strukturell gekoppelt, das heißt sie stellen sich wechselseitig ihre Leistungen zur Verfügung, 96

Die Doppellogik der Qualitätsentwicklung

ohne ineinander aufzugehen. Weiter ­müssen wir die erkenntnistheoretische Grundlegung der Systemtheorie, von Luhmann (1992, S. 68 ff.) operativer Konstruktivismus genannt, hier nicht entfalten. Für unseren Kontext ist entscheidend, welche Vorstellung von Organisation aus diesem theoretischen Grundansatz folgt. Systemtheoretisch betrachtet, bestehen Organisationen also nicht aus Menschen, sondern aus den Entscheidungen, die sie treffen, kommunizieren und relationieren. Das heißt, die Organisation ist ihr Netzwerk kommunizierter Entscheidungen. Dies ist insofern bedeutend, weil sich die Entscheidungen aneinander ausrichten und aufeinander beziehen. In der Vergangenheit getroffene Entscheidungen werden zu Prämissen gegenwärtig zu treffender Entscheidungen, die wiederum die zukünftig zu treffenden Entscheidungen präformierend beeinflussen. Gewohnheitsmäßig entsteht auf diese Weise ein Muster, das immer schwerer durch abweichende Entscheidungen, die dennoch prinzipiell immer möglich bleiben, durchbrochen werden kann. Tacke (2001) konstatiert daher, dass Organisationen sich stärker an der Vergangenheit ihrer Systemgeschichte orientieren als an den Anforderungen, die die Umwelt an sie stellt. Solange die Umwelt dies zulässt, können sich Organisationen also sehr weit von den konkreten Bedürfnissen ihrer Kunden und den gesellschaftlichen Bedarfen entfernen. Hier liegt der Grund dafür, dass Beschäftigte ihre Organisation oft als schwerfällig, bürokratisch oder sogar als verkrustet wahrnehmen, denn es ist allemal leichter, breit ausgetretene Pfade erneut zu betreten, als sich durch neue und abweichende Entscheidungen dem Risiko auszusetzen, hinterher erkennen zu müssen, sich falsch entschieden zu haben. Besonders groß ist das Risiko, weil Fehler in Organisationen in der Regel personell zugerechnet werden, sodass man vermeintlich immer auf der richtigen Seite ist, wenn man sich an die Vorschriften hält und so versucht, negativen Sanktionen zu entgehen. Die Systemtheorie bezeichnet den Sachverhalt, dass Entscheidungen sich auf Entscheidungen beziehen, die sich auf Entscheidungen beziehen, als operative Schließung, in deren Folge die Organisation in ihrer Umwelt auch nur noch das bezeichnen kann, was für sie durch ihren spezifischen Unterscheidungsgebrauch wahrnehmbar ist, denn auch Entscheidungen sind Unterscheidungen, bei denen eine Seite gewählt und die andere vernachlässigt wird. Was zu den eigenen Organisation

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Entscheidungen passt, tritt in der Umweltbeobachtung hervor, was ihnen nicht entspricht, wird übersehen oder sogar abgewehrt. Dieser Mechanismus, der für die Selbstreproduktion der Organisation, systemtheoretisch Autopoiese genannt, funktional ist, ist für die Veränderung der Organisation fatal. Daher kommt es, dass Organisationen von ihren Mitgliedern, aber auch aus der Beobachterperspektive ihrer Umwelt, häufig als veränderungsresistent wahrgenommen werden. Die Elemente einer Organisation sind also nicht Menschen, sondern die Entscheidungen, die füreinander Prämissen bilden und sich in einem rekursiven Netzwerk zu bestimmten Mustern aus Entscheidungsstrukturen verketten. Alles, was nicht in die Form der Entscheidung gebracht werden kann, wird als Umwelt der Organisation behandelt. Durch dieses Theoriedesign verliert das Organisationsverständnis zwar seine Anschaulichkeit; es hat aber den Vorteil, dass der Mensch, als leiblich-geistige Einheit, von der Organisation getrennt betrachtet werden kann. Organisationen brauchen selbstverständlich Personal; dies finden sie in ihrer Umwelt in Form Beschäftigung suchender Menschen. Entscheidungsbasiert werden ausgewählte Individuen unter bestimmten Voraussetzungen als Mitglieder in die Organisation inkludiert. Menschen werden also nicht komplett mit Körpern, Psychen, Interessen, Motiven, Vorlieben, Abneigungen etc. in Organisationen integriert, sondern diese überkomplexen Mehrfachsysteme werden zu Mitgliedschaftsrollen, systemtheoretisch Personen genannt, simplifiziert (Zech, 2013b, S. 23 f.). Personen besetzen dann in der Organisation Stellen und treten als Sender, Adressat oder Thema im kommunikativen Entscheidungsnetzwerk auf. Als Privatperson mag ein Mensch denken, sprechen und handeln, wie er will, aber nicht als Mitglied einer Organisation; hier muss er sich an die Regeln halten oder darf sich nicht erwischen lassen. »Hier hat er sich durch Eintritt gebunden und läuft Gefahr, die Mitgliedschaft zu verlieren, wenn er sich hartnäckig querlegt« (Luhmann, 1997, S. 829). Deshalb sind Organisationsmitglieder eben keine ganzen Menschen. Die Form der Person ermöglicht die Zurechnung von Verantwortlichkeit und die Diagnose eventueller Abweichungen von den Erwartungen. Abschließend ein Wort zur Besonderheit der Organisationen in den Branchen Bildung, Beratung und Soziale Dienstleistung, die sich von Produkte herstellenden Organisationen des Wirtschaftssys98

Die Doppellogik der Qualitätsentwicklung

tems deutlich unterscheiden. Letztere können auf relativ fixe Kopplungen in Linienstrukturen bauen, wohingegen Organisationen der Bildung, Beratung und Sozialen Dienstleistung wegen des je nach Fall unterschiedlichen Anwendungsbezugs ihrer Leistungen ihre unterschiedlichen Subsysteme nur lose koppeln können. Sie werden daher als Professional- oder Expertenorganisationen bezeichnet (Glatz u. Graf-Götz, 2007, S. 50 f.; Laske, Meister-Scheytt u. Küpers, 2006, S. 194 ff.). Hierzu gehören unter anderem Kliniken, Schulen, Forschungsinstitute oder Kulturbetriebe. Professionalorganisationen bieten menschenbezogene Dienstleistungen, deren Erbringung mit menschlichem Maß gemessen werden muss, weil über die Einzelleistung hinaus gesellschaftliche Kohäsion produziert wird. Gelegentlich werden Expertenorganisationen auch zu den Wissensorganisationen gerechnet (Bleicher, 2004, S. 126 ff.). Dies sind Organisationen, die Wissen und Können in immaterielle Leistungen transferieren, die es Anderen gestatten, ihre Probleme besser lösen zu können. Zu solchen Leistungen gehören eben Bildung, Beratung und Soziale Arbeit. Die Leistungen solcher Unternehmen zeichnen sich im Vergleich zur Herstellung industrieller Produkte durch einen situationsspezifischen Anwendungsbezug aus, der vom Wissen und Können der Professionellen abhängt. Die Qualität der Organisationen hängt also wesentlich von der kontinuierlichen Pflege und Erneuerung ihrer Kernkompetenzen ab, und ihre spezifische Expertise ist sehr stark an die Personen geknüpft, die in diesen Organisationen arbeiten.

4.2 Entwicklung Auch wenn es oft so aussieht, sind Organisationen keine statischen Gebilde, sondern sie haben trotz gegenteiligem Anschein eine temporale Form (Baecker, 2009), sie sind ständig in Bewegung. Organisationen verändern sich daher unablässig, allerdings meistens in so kleinen Schritten, dass diese Veränderungen im Alltag kaum wahrnehmbar sind. Jedes autopoietische, das heißt sich selbst reproduzierende, System unterliegt auf diese Weise einem »strukturellen Driften« (Maturana u. Varela, 1991, S. 128), und gelegentlich fällt den beteiligten Organisationsmitgliedern auf, dass man irgendwo angekommen ist, wo man gar nicht hinwollte. Diese Erkenntnis bedeutet Entwicklung

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auch, dass ein vermeintlich statischer Zustand aktuell immer wieder als ein solcher reproduziert werden muss, und zwar durch die täglichen Entscheidungen, sich an bisher Bewährtes zu halten und es so zu verlängern. Unter der Oberfläche einer wahrgenommenen Unbeweglichkeit brodelt ein Vulkan alltäglicher Anpassungsentscheidungen – zum Teil vermischt mit dem dumpfen Gefühl, dass es eigentlich anders sein sollte. Auch das, was aus einer bestimmten Beobachterperspektive als Entscheidungsvermeidung bezeichnet wird, entpuppt sich so als eine Entscheidung, nämlich die, sich an Bisheriges zu halten und nicht abweichend zu entscheiden. Die Elemente einer Organisation sind also immer nur Entscheidungen, und alles, was in einer Organisation passiert, wird unter der Prämisse beobachtet, dass es sich dabei um eine Entscheidung handelt, die bestimmten Personen zugerechnet werden kann. Schon die Gründung einer Organisation beruht auf einer Entscheidung ebenso wie die Einstellung von Mitarbeitenden, die sich auch selbst – wie frei auch immer – dafür entscheiden. Alles, was in einer Organisation passiert, muss daher als Entscheidung beobachtet werden können, oder es gehört nicht zur Organisation. Das heißt, dass in Organisationen alles Mögliche passieren kann – zum Beispiel Tratsch oder sexuelle Belästigungen –, aber dies gehört systemtheoretisch nicht zur Organisation, sondern zu ihrer Umwelt, die allerdings nicht einflusslos hinsichtlich dessen ist, was in der Folge dann von der Organisation entschieden wird. Zum Beispiel könnte sich eine Organisation entscheiden, einen Mitarbeiter, der seine Kolleginnen belästigt, zu entlassen, wenn sein Tun sich nicht mehr unter der beliebten Decke des Schweigens verbergen lässt. Entwicklung einer Organisation findet also immer statt, auch wenn sie nicht eigens geplant und organisiert wird oder noch nicht einmal sonderlich auffällt. Das Wort Organisationsentwicklung bezeichnet in einer ersten Annäherung zunächst einmal einen alltäglichen und permanenten Vorgang der Selbstreproduktion von Organisationen, die zu einer ungeplanten Veränderung führt. Luhmann (1997, S. 413 ff.) fasst diese Entwicklung in der Form der Evolution. Das System Organisation reproduziert sich dadurch, dass Entscheidungen aufeinander aufbauen und sich zu Mustern verketten, die als die spezifische Identität der Organisation wahrgenommen werden. 100

Die Doppellogik der Qualitätsentwicklung

Im Verlaufe dieses alltäglichen Entscheidens auf allen Ebenen der Organisation kann es zu kleineren oder gelegentlich auch größeren Abweichungen kommen, weil die vorgesehenen Wege in bestimmten Fällen nicht funktionieren. Diese Abweichungen werden üblicherweise als sogenannte Ausnahmen wieder in die vorhandenen Regeln integriert, ohne dass es zu größeren Komplikationen kommt. Gelegentlich kann es aber vorkommen, dass sich bestimmte Abweichungen als geeigneter erweisen als das Regelvorgehen. Dann könnte eine Organisation entscheiden, ihre Regeln diesbezüglich anzupassen und zu verändern. Die Organisation nutzt also zufällig auftretende Variationen in sich selbst oder in ihrer Umwelt, um von der Routine abweichende Entscheidungen zu fällen. Ein systematischer Planungsprozess muss hinter einer solchen Organisationsentwicklung noch nicht unterstellt werden. Diese Entwicklung vollzieht sich evolutionär, folgt einem Verlauf aus drei Schritten, die als Variation, Selektion und Restabilisierung gefasst werden. Gewisse Veränderungen finden ständig bereits dadurch statt, dass allgemeine Vorschriften in konkrete einzelfallbezogene Vorgehensweisen umgesetzt werden müssen. Hier sind kleinere oder auch größere Abweichungen, solange sie nicht besonders ins Gewicht fallen, die Regel. Bestimmte Arten von Regelabweichungen sind also normal und unvermeidlich, weil die Organisation sonst gar nicht funktionieren würde. Diese Regelabweichungen sind legitim, weil sie im Interesse der Organisation und ihrer Aufgabenerledigung erfolgen, auch wenn sie manchmal nicht legal sind, weil sie nicht buchstabengetreu den Regeln entsprechen. Solche Regelabweichungen können als funktionale Illegalität bezeichnet werden, weil die Regelabweichung im Sinne des Funktionierens der Organisation toleriert wird (Luhmann, 1995a, S. 155). Gelegentlich muss man aufpassen, dass man bei der ausnahmsweisen Regelauslegung nicht erwischt wird, aber solange es gut geht, hat man nichts zu befürchten. Obwohl für das Funktionieren einer Organisation unerlässlich, ist funktionale Illegalität gefährlich, denn im Falle des Scheiterns einer Vorgehensweise greift wieder die Formalität der Organisation und rechnet das Scheitern den handelnden Personen als zu sanktionierenden Fehler zu. Es ist also festzuhalten, dass sich O ­ rganisationen quasi organisch dadurch evolutionär entwickeln, dass Variationen in Entwicklung

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der Praxis vielfältig stattfinden, von denen einige sich besser bewähren als andere, sodass sie häufiger vorkommen und zukünftiges Entscheiden dadurch in eine bestimmte, allerdings nicht bewusst geplante, Richtung entwickeln. Mit diesem evolutionären Dreischritt aus Variation, Selektion und Restabilisierung ist dann auch bereits das zugrunde gelegt, was als geplante Organisationsentwicklung bezeichnet werden kann. Der diesbezügliche theoretische Begriff der Organisationsentwicklung hat seine Tradition in der sogenannten Gruppendynamik, die noch daran glaubte, allein durch Mitarbeiterpartizipation in konsensualen Diskurspraktiken Organisationen verändern zu können. Die Blauäugigkeit der gruppendynamischen Organisationsentwicklung wurde mit den praktischen Erfahrungen ihrer Anwendung zunehmend eingetrübt, sodass sie sich zur systemischen Organisationsentwicklung weiterentwickelte, die ein strukturelles Wirken in und von Organisationen in Rechnung stellt, ohne dass dies auf die Absichten handelnder Personen zurückgeführt werden kann (Königswieser, Wimmer u. Simon, 2013).

4.3 Organisationsentwicklung Damit eine geplante Organisationsentwicklung  – auch Veränderungs- oder Change Management genannt  – gelingen kann, ist voraussetzend ein verändertes Verhältnis zu Abweichungen erforderlich. Anstatt sie als im Zweifel zu sanktionierende Ausnahmen einer eigentlich richtigen Regelbefolgung zu betrachten, muss man erkennen und wertschätzen, dass allein in Abweichungen das Potenzial einer jeden Organisationsentwicklung liegt. Diese Abweichungen dürfen dann nicht nur in der Alltagspraxis stattfinden, sondern sie müssen zusätzlich als sogenannte informierte Abweichungen (Baecker, 2003, S. 187) in einen systematischen Reflexionsprozess der Organisation einbezogen werden. Anstatt Abweichungen schamvoll zu verschweigen, tastet die Organisation sich systematisch auf stattfindende Abweichungen ab, um bewusst entweder die Regel zu bestätigen oder aber die Sinnhaftigkeit von Veränderungen zu begründen. Die Organisation muss also die Paradoxie bewältigen, Regeln zur Veränderung ihrer Regeln aufzustellen und anzuwenden. 102

Die Doppellogik der Qualitätsentwicklung

Nun sind Organisationen in ihren heute virulenten und volatilen Umwelten nicht mehr in der komfortablen Lage, auf ungeplante positive Abweichungen zu warten und diese dann nur als veränderte Regeln zu bestätigen. Schon dies ist ein äußerst komplizierter Prozess, der von allen Beteiligten ein hohes Maß an Reflektiertheit und Flexibilität erwartet, damit sich Veränderungen gegen die Macht der Gewohnheit dauerhaft durchsetzen können und nicht nach einer gewissen Zeit wieder versanden. Im Gegenteil: Heute sind Organisationen gefordert, sich nicht nur an veränderte Umweltbedingungen nachträglich anzupassen, sondern sie müssen sich vorausschauend auf erwartete Veränderungen einstellen, um bereits vorbereitet zu sein, wenn die erwartete neue Herausforderung akut wird. In der Sprache der Evolution formuliert, bedeutet das, eine Organisation muss sich systematisch mit Variationen versorgen, und sie muss Orte und Zeiten festlegen, in denen sie sich mit sich selbst und ihrer eigenen Entwicklung beschäftigt. Anders formuliert: Sie muss zu einer kontinuierlich und nicht nur sporadisch lernenden Organisation werden (Zech, 2013b, S. 67 ff.). Diese zeichnet sich im Kern dadurch aus, dass sie einerseits – wie wir bereits sahen – Regeln hat, um Regeln zu verändern, und andererseits Strukturen implementiert, um Strukturen zu verändern. Denn der organisationale Wandel bezieht sich immer und ausschließlich auf die Strukturen einer Organisation (Luhmann, 2000, S. 331). Formale Regeln organisationaler Aufgabenerledigung gehören als formalisierte Erwartungen an ein bestimmtes Vorgehen ebenfalls zu den Strukturen einer Organisation, sind also durch die Aussage, dass einzig das Bestand hat, was sich in einer Organisation strukturell niedergeschlagen hat, mit betroffen. Alle Veränderungen, die auf der Ebene des interaktionellen Handelns verbleiben, sind – auch wenn sie wiederholt stattfinden – Einmalereignisse, die immer der Gefahr unterliegen, mit der Zeit wieder verloren zu gehen. Weil Veränderungen in Organisationen häufig auf der Ebene interpersoneller Absprachen verbleiben und nicht in den formalen Strukturen der Organisation abgesichert werden, sind sie so unbeständig. Gerade Organisationen der personenbezogenen sozialen Dienstleistung machen häufig die Erfahrung, dass Veränderungen sich trotz besten Willens der Beteiligten nicht durchsetzen, dass Reformen nur Organisationsentwicklung

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zur Bestätigung des Vorhandenen verkommen (Luhmann, 1996a) oder motivierte Aufbruchsstimmungen wieder versanden, was sich dann in der resignativen Einstellung der Beschäftigten niederschlägt, dass sich Veränderungsengagement doch nicht lohnt. Schuld daran ist auch, dass in Organisationen der Sozialen Dienstleistung eine Formalitätsaversion nicht gerade selten anzutreffen ist. Ängste vor Formalisierungen, die als Warnungen vor Bürokratisierung noch kritisch verpackt werden können, sind dann verantwortlich dafür, dass Neuerungen nicht strukturell abgesichert werden.

4.4 Qualitätsentwicklung als Organisationsentwicklung und Professionalisierung Die entscheidende Frage einer systematischen Qualitätsentwicklung ist, wie es gelingen kann, auf das quasi natürliche Driften einer Organisation gezielt Einfluss zu nehmen, um die Fähigkeit zu einer vorausschauenden Selbsterneuerung aufzubauen (Wimmer, 2007). Dies setzt voraus, erst einmal zwischen dem Lernen der Organisation und dem Lernen von Individuen zu unterscheiden (Zech, 2013b, S. 72 ff.). Wie beim individuellen Lernen sich psychische Strukturen verändern, so müssen sich beim Organisationslernen organisationale Strukturen verändern, damit Lernen stattgefunden hat. Dies ist durchaus zweierlei, auch wenn diese beiden Strukturen in einem wechselseitigen Vermittlungsverhältnis stehen, das heißt strukturell gekoppelt sind. Da Organisationen als soziale Systeme anschlussfähiger Entscheidungskommunikation nicht selbst wahrnehmen können, benutzen sie die psychischen Strukturen ihrer individuellen Mitglieder gewissermaßen als »Leseköpfe« (Willke, 1999, S. 21) oder »Sinnlesegeräte« (Fuchs, 2010, S. 215). Vor allem die Kontakte zu Kunden, Auftraggebern und anderen Stakeholdern (Anspruchsgruppen) sind ein hervorragendes Feld, um Umweltveränderungen zu beobachten, um hieraus Anstöße für die Organisationsentwicklung zu generieren. Auf jeden Fall geht es um Beobachtungen im System/Umwelt-Verhältnis, die systematisch in die Organisation zurückgespiegelt werden müssen. Die für die Organisation handelnden und kommunizierenden Individuen 104

Die Doppellogik der Qualitätsentwicklung

müssen ihre Wahrnehmungen und Beobachtungen in den organisationalen Entscheidungsprozess einbringen, um in einem kollektiven Reflexionsprozess festzulegen, welche Umwelt- und Selbstbeobachtungen sich in Strukturveränderungen niederschlagen sollen. Eine weitere Möglichkeit organisationalen Lernens ist der Umgang mit Fehlern. Anstatt diese zu vertuschen, sind sie ein guter Indikator zur Diagnose des gegenwärtigen Systemzustandes. Durch die Analyse von Fehlern haben Organisationen eine große Chance, sich mit sich selbst bekannt zu machen (Baecker, 2003, S. 18 ff.). Eine offene, fehlertolerante Unternehmenskultur ist entscheidend für die Lernfähigkeit einer Organisation. Aus Fehlern zu lernen, ist kein Eingeständnis von Schwäche, sondern eine besondere Stärke. »Eine Art des sozialen Miteinanders aufzubauen, die die subjektive Äußerung des Zweifelns, von Unsicherheit, von Wahrnehmungen, die noch auf vagen Einschätzungen und Gefühlen beruhen, ist heute eine der ganz herausfordernden Organisationsentwicklungsaufgaben« (Wimmer, 2007, S. 53 f.). Karl E. Weick und Kathleen M. Sutcliffe (2003) haben gezeigt, dass gerade Organisationen, die im hohen Risikobereich operieren, nicht durch eine Null-Fehler-Politik, sondern durch ihre besondere Aufmerksamkeit für ihre Fehler auf der Grundlage eines feinen Gespürs für betriebliche Abläufe erfolgreich sind. Nachdem Umweltvariationen, Fehler und Abweichungen aufmerksam registriert, organisationsintern kommuniziert und reflektiert wurden, kann man Maßnahmen eines erforderlichen strukturellen Veränderungsprozesses und einer entsprechenden Fort- und Weiterbildung der Organisationsmitglieder planen, durchführen, evaluieren, bestätigen oder nachjustieren. Qualitätsentwicklung impliziert also immer ein Lernen auf beiden Seiten – der Organisation und der Personen –, ist also immer zugleich Organisations- und Personalentwicklung. Eine Kompetenzentwicklung des Personals ohne Strukturveränderung der Organisation ist daher auf Dauer ebenso wirkungslos, wie eine von oben oder außen erzwungene Organisationsreform, die an den Haltungen und Fähigkeiten der Beschäftigten vorbeigeht. Um Strukturen und Regeln zur Veränderung von Strukturen und Regeln zu implementieren, braucht es feste Orte und geeignete Kommunikationsstrukturen. Ohne diese an unterschiedlichen Stellen der Organisation fest installierten Reflexionsräume bestehen kaum Qualitätsentwicklung als Organisationsentwicklung

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Chancen, für die Selbsterneuerung geeignete Variationen herauszufiltern und aus dem Neuen wieder stabile Routinen zu entwickeln, das heißt Veränderungen strukturell abzusichern. Hier hat Führung ihre Verantwortung und ist im Umgang mit Variationen, Abweichungen und Fehlern Vorbild. Im Zweifel hat das Management sogar die Aufgabe, zu träge werdende Organisationen selbst mit Irritationen zu versorgen (Baecker, 2011, S. 76 ff.). Zwar ist es die Aufgabe von allen, darauf zu achten, dass eingeführte Neuerungen nicht wieder durch alte Gewohnheiten verloren gehen, doch hat die Führung hier eine besondere Verantwortung darin, die Veränderungen durch strukturelle Maßnahmen abzusichern und die Organisation in jetzt veränderter Funktionsweise zu restabilisieren. Zum Aufbau dieser organisationalen Fähigkeit zur vorausschauenden Selbsterneuerung braucht es also geeignete Führungsstrukturen auf der Basis eines durchdachten Organisationsdesigns, die mit der strategischen Ausrichtung der Organisation korrespondieren und in der Kultur der Organisation verankert sind (vgl. Kapitel 5.4). Wie bereits in Kapitel 1 ausgeführt, ist eine weitere entscheidende Voraussetzung von Qualitätsentwicklung, dass die Organisation und ihre Mitglieder eine inhaltlich gefüllte Vorstellung der angestrebten Qualität haben, die sich in einer konsentierten Definition des Gelungenen niederschlägt, welche ihrerseits in der Lage ist, die organisationalen Handlungen und Kommunikationen in der Praxis als regulierende Idee anzuleiten. Für Bildung, Beratung und Soziale Dienstleistung haben wir dies auf einer allgemeinen Ebene, die von den jeweiligen Organisationen inhaltlich spezifiziert werden muss, in Kapitel 3 ausgeführt. Praktisch bedeutet dies, dass die Mitglieder und andere Stakeholder die Praxis ihrer Organisation aufmerksam daraufhin beobachten, was im Sinne der eigenen Ziele gut gelingt und was verbesserungsbedürftig ist. Um diesen Prozess der Selbstevaluation anzuleiten, können die Organisationen der personenbezogenen Dienstleistung in Bildung, Beratung und Sozialer Arbeit die entsprechenden Leitfäden der Lerner- und Kundenorientierten Qualitätsentwicklung als Beobachtungsraster verwenden, weil hier in wichtigen Qualitätsbereichen – von der Bedarfserschließung über die Schlüsselprozesse, Evaluation, Führung und Personal bis zu Controlling und Kunden106

Die Doppellogik der Qualitätsentwicklung

kommunikation – Rahmenanforderungen einer guten Organisation als Orientierung bereitgestellt werden, die als Beobachtungskriterien eingesetzt werden können. Wichtig ist dabei allerdings, die Rahmenanforderungen nicht als unveränderliche Normen aufzufassen, denen man sich anzupassen hat, sondern mit ihrer Hilfe und ihrer entsprechenden organisationsspezifischen Anpassung und inhaltlichen Ausfüllung die anstehende Qualitätsentwicklung in Bezug auf die jeweils zu lösenden Veränderungsaufgaben zu strukturieren (vgl. Kapitel 1.3). Durch regelmäßige Selbstevaluationen versorgt sich die Organisation mit Veränderungsideen (Variation). Gemeinsam wird dann in fest installierten und turnusmäßig tagenden Evaluations- und Entwicklungsworkshops ausgewählt, welchen Entwicklungsbedarfen durch welche organisationalen Veränderungen entsprochen werden soll (Selektion). Nach der Einführung und strukturellen Absicherung der Verbesserungen muss durch ein begleitendes C ­ ontrolling oder Monitoring darauf geachtet werden, dass die Organisation tatsächlich in der neuen Form arbeitet und nicht in alte Gewohnheiten zurückfällt (Restabilisierung). Restabilisierungsmaßnahmen sind solange erforderlich, bis das Neue wieder zur Routine geworden ist. Die Qualitätsentwicklung selbst verläuft dabei als iterativer Prozess in der sogenannten systemischen Schleife. Damit ist ein Vorgehen bezeichnet, das ausgehend von beobachteten Entwicklungsnotwendigkeiten Veränderungsmaßnahmen plant, durchführt, evaluiert und reflektiert, um dann zu entscheiden, welche Variationen dauerhaft in die Organisationsstruktur übernommen und welche nachgebessert oder gar verworfen werden sollen. In der Organisationsentwicklung geht es nicht um einmalige große Würfe, sondern um regelmäßige Selbst- und Umweltbeobachtungen, die bewertet und aus denen Konsequenzen gezogen werden für kleine, aber kontinuierliche Verbesserungen. Qualitätsentwicklung ist daher eine Aufgabe der ganzen Organisation und kann nicht an einzelne Qualitätsbeauftragte abgeschoben werden. Eine solche Qualitätsentwicklung ist auch keine Zusatzarbeit, sondern Teil der Alltagspraxis von Organisationen, die ihre Entwicklung nicht einem evolutionären Driften überlassen, sondern in die eigenen Hände nehmen wollen. Bei der Qualitätsentwicklung ist schließlich noch darauf zu achten, dass die angestrebten Veränderungen die strategische, die strukturelle Qualitätsentwicklung als Organisationsentwicklung

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und die kulturelle Dimension organisationaler Identität in einem ausgeglichenen Verhältnis zueinander gleichermaßen berücksichtigen (Königswieser, Cichy u. Jochum, 2001). Mit der Strategie einer Organisation wird ihr Zielsystem bezeichnet, das dafür sorgt, dass sich die Organisation in einem angemessenen Verhältnis zu den Anforderungen ihrer Umwelt und ihrer Kunden befindet. Die Struktur sorgt dafür, dass die materialen Arbeitsbedingungen den Zielen entsprechen und die Aufgabenerledigung unterstützen. Die Kultur ist schließlich dafür verantwortlich, dass die Werte der Organisation gelebt werden und sich in den Haltungen, Einstellungen und Kompetenzen der Beschäftigten ausdrücken. Erst die ausgeglichene Berücksichtigung dieser drei Dimensionen sorgt dafür, dass die Organisation einerseits flexibel genug ist, um sich verändernden Umweltanforderungen zu entsprechen, ohne anderseits ihre Identität als diese besondere Organisation, die sie ist, aufs Spiel zu setzen. Auch hier zeigt sich wieder, dass die Organisation und ihr Personal komplementäre Lernprozesse absolvieren müssen. Qualitätsentwicklung ist auch von dieser Seite begründet nur als Organisationsentwicklung und Professionalisierung möglich.

4.5 Die Selbstentwicklungsfähigkeit der Organisation systematisch nutzen Die Systemtheorie geht davon aus, dass sich selbst reproduzierende Systeme – wie Organisationen – durch ihre Umwelten zwar irritiert, aber nicht von außen im Sinne einer Durchgriffskausalität linear gesteuert werden können. Organisationen folgen in ihrer eigenen Entwicklung ihrer spezifischen Funktionslogik; sie entwickeln sich entsprechend ihrer internen Strukturen und folgen dabei der bereits erläuterten evolutionären Drift gemäß ihrer herausgebildeten Entscheidungsmuster. Die Differenz des Komplexitätsgefälles zwischen der Organisation und ihrer Umwelt sorgt zwar für eine permanente Unruhe, wie die Umweltirritationen allerdings von der Organisation beantwortet werden (und ob sie überhaupt beantwortet werden), entscheidet die Organisation auf der Basis ihrer Entscheidungsprämissen (vgl. Kapitel 4.1). Wenn man nun eine Organisation nicht allein der evolutionären Entwicklung überlassen will, dann kann man sich diesen Mechanismus zunutze machen. 108

Die Doppellogik der Qualitätsentwicklung

Evolution ist – laut Luhmann (1997, S. 417) – das Warten auf nutzbare Zufälle. Wenn man sich aber nicht auf das Warten beschränken, sondern die Organisationsentwicklung unterstützen will, dann ist die erste Voraussetzung, die Anzahl der Irritationen systematisch zu erhöhen, vor allem durch strukturelle Kopplungen mit relevanten Umwelten. Organisationsintern ist dafür erforderlich, die Kontaktstellen zu relevanten Umwelten zu erhöhen und die beobachtungsleitenden Unterscheidungen für Abweichungsbeobachtungen zu öffnen. Zum Beispiel möchte ein Kunde eine Sonderlösung. Diese Variation kann im Sinne der Routine als Störung beobachtet werden oder auf das Potenzial hin, das sie möglicherweise enthält und das auch für andere Kunden von Interesse sein könnte, oder sogar als Möglichkeit, die Standardlösungen der Organisation insgesamt zu überdenken. Damit sind wir allerdings schon beim zweiten Schritt der systematischen Nutzung des evolutionären Dreischritts aus Variation – Selektion – Restabilisierung. Jede Abweichung wird beobachtet als Unterschied zum Bestehenden. Damit dieser Unterschied organisational wirksam werden kann, muss er aus dem Zustand der zufälligen und wieder vergehenden Variation herausgehoben werden, damit die Variation für die Strukturveränderung der Organisation genutzt werden kann. Welche Variation ist es wert, nicht nur als Einmalereignis, sondern als Chance zur eigenen Weiterentwicklung analysiert zu werden? »Der Selektionsvorgang benennt folglich jene Entscheidungen, die aufgetretenen Abweichungen so zu verstärken, dass diese als brauchbare Innovation die Chance bekommen, der Organisation künftig als Routineprozess zur Verfügung zu stehen« (Wimmer, 2007, S. 47). Dieser Selektionsvorgang beruht nun seinerseits auf Kriterien der Auswahl. Die Selektionskriterien und der Selektionsprozess hängen nach Einschätzung von Wimmer (2007) eng mit der Verantwortung von Führung zusammen, deren Aufgabe es ist, die Organisation zur Aufrechterhaltung ihres Leistungspotenzials laufend mit Entwicklungsimpulsen zu versehen (vgl. Kapitel 5.4). Da die Auswahlkriterien für Selektionen letztlich wieder in den Entscheidungsprämissen der Organisation gründen, besteht immer die Gefahr, in traditionelle Bahnen zurückzufallen. Daher darf der Auswahlprozess nicht dem Zufall überlassen bleiben, sondern muss in den Organisationsstrukturen abgesichert werden. Das heißt, es muss Die Selbstentwicklungsfähigkeit

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regelmäßige Zeiten und feste Orte geben, an denen aufgetretene Variationen analysiert und bewertet werden. Weiterhin ist es hilfreich, den Selektionsprozess nicht nur durch die Führung und die Mitarbeitenden vorzunehmen, sondern auch Externe – Stakeholder, Kooperationspartner, Beraterinnen und sogar Kunden – daran zu beteiligen. Vor allem Letzteres hilft, Betriebsblindheit zu vermeiden. Der letzte Schritt – die Restabilisierung – ist die strukturelle Absicherung der ausgewählten Neuerungen, damit diese dauerhaft für die organisationalen Routinen zur Verfügung stehen. Dafür können entsprechende organisationale Restrukturierungen erforderlich sein. Durch Prozessmonitoring, Evaluationen und Controlling ist sicherzustellen, dass sich der organisationale Wandel im Verhältnis zu den Umweltanforderungen bewährt und nicht wieder in bereits überholte Verfahrensweisen zurückfällt. Die Chancen, Neues in die Strukturen der Organisation dauerhaft zu implementieren, werden größer, wenn die Neuerungen die strategische Ausrichtung der Organisation unterstützen und dabei einem Zukunftsbild der Organisation entsprechen, das motivierende Kraft für die Beschäftigten ausübt. Das Management darf die Überwachung der Neuerungen allerdings so lange nicht zurückfahren, bis das Neue wieder zur Routine geworden ist. Die erfolgreich restabilisierte strukturelle Situation der Organisation ist dann wieder der Ausgangspunkt für neue Variationen. Als agil wäre eine Organisation dann zu bezeichnen, wenn ihr die kontinuierliche Selbsterneuerung auf der Basis der systematischen Nutzung des evolutionären Potenzials dauerhaft gelingt. »Nur wer seine Lernfähigkeit im beschriebenen Sinne stimulieren kann, wird als Unternehmen seine eigene Zukunft noch aktiv mitgestalten können« (Wimmer, 2007, S. 62).

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Die Doppellogik der Qualitätsentwicklung

5D  ie Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen der Qualitätsentwicklung

Etwas gelingen lassen zu können, ist mehr als ein Machen. Es bedarf spezifischer struktureller Voraussetzungen und besonderer individueller Fähigkeiten. Könnerschaft zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass der Einsatz von Kompetenzen unter gegebenen Bedingungen nicht mehr bewusst erfolgt, sondern als eine Art spielerischer Automatismus. »Wer darauf achtet, wie er etwas macht, kann nichts mehr machen – er verliert die Fähigkeit der Ermöglichung, des Gelingenlassens« (Menke, 2013, S. 26). Wer daran denkt, wie er tanzen soll, kann nicht mehr tanzen! Unser Handeln glückt vor allem dann, wenn sich unsere subjektiven Kompetenzen spielerisch im Rahmen der objektiven Handlungsbedingungen entfalten können. Das Können, etwas gelingen zu lassen, verdankt sich zwar einer selbstbewussten Tätigkeit – Bildung und Übung sind ihre Voraussetzungen –; Könnerschaft bedeutet dann aber Virtuosität. Das Gelingen entsteht aus dem Können auf der Basis entsprechender Fähigkeiten, die nicht mehr bewusst eingesetzt werden müssen. Dennoch ist die Fähigkeit, etwas gelingen zu lassen, kein Automatismus, sondern bleibt in der Praxis immer ein Experiment, das auch scheitern kann. Welche Voraussetzungen erforderlich sind und welche entsprechenden Fähigkeiten ein Gelingen befördern, ist Gegenstand dieses Kapitels. Dazu werden in Kapitel 5.1 die Grundlagen für den Verständigungsprozess zwischen der Organisation und ihren Gutachtenden geschaffen, die ihren Fokus in der Wiederbeschreibung der Organisationen aus einer Beratungsperspektive zweiter Ordnung haben. Das folgende Kapitel 5.2 beschäftigt sich mit der Frage der Motivation der Organisationsmitglieder und ihrer Partizipation an der Qualitätsentwicklung. Anschließend wird in Kapitel 5.3 die unerlässliche Bedeutung von Reflexivität und Reflexion für die organisationale Qualitätsarbeit erläutert. Und abschließend geht es in Kapitel 5.4 um die herausragende Funktion von Führung und Kooperation für diesen Prozess. 111

5.1 Kommunikation und Verstehen Die Lerner- und Kundenorientierte Qualitätsentwicklung und die Testierung der dabei erreichten Erfolge ist kein Verfahren, bei dem sich Organisationen an fremdgesetzten Normen abarbeiten müssen, deren Erreichung anschließend von einer externen Prüfstelle genehmigt oder nicht genehmigt wird. Zunächst ist Qualitätsentwicklung eine professionelle Aufgabe einer jeden Organisation unabhängig davon, ob eine externe Zertifizierung oder Testierung verlangt bzw. angestrebt wird oder nicht. Im Gegenteil, der Zertifizierungswahn der vergangenen Jahre hat eher dazu beigetragen, dass innerhalb der Organisationen die jahrzehntelang als selbstverständlich betrachtete interne Arbeit an der eigenen Qualität heute wie eine Zusatzaufgabe betrachtet wird, die man absolvieren muss, weil vorgesetzte Instanzen oder finanzierende Institutionen dies verlangen. Mit der Lerner- und Kundenorientierten Qualitätsentwicklung wollen wir an das professionelle Selbstverständnis der Organisationen anknüpfen, um die Arbeit an der je eigenen Qualität zu unterstützen und durch gezielte Beratung zu fördern. Wenn Organisationen sich auf ihrem Weg dazu entscheiden, sich ihre Erfolge von außen bestätigen zu lassen, ist die diesbezügliche Testierung natürlich auch eine Prüfung – mit dem Unterschied allerdings, dass die Prüfkriterien und Prüfinhalte weitgehend vorher von den Organisationen selbstbestimmt inhaltlich ausgefüllt wurden. Die Prüfung bezieht sich dann auf die Einhaltung der organisationseigenen Standards und nicht auf von außen gesetzte Normen. Es geht um die Stimmigkeit der eigenen Ansprüche mit der eigenen Praxis auf der Grundlage von inhaltlich auszufüllenden Mindestanforderungen, nicht um Richtig/Falsch-Bewertungen (vgl. Kapitel 1.3). Qualitäts- und Organisationsentwicklung ist in erster Linie ein kommunikativer Prozess innerhalb der Organisationen, und die Testierung, so wie wir sie verstehen, ist dann daran anschließend ebenfalls ein kommunikativer Diskurs mit Gutachtenden, deren Aufgabe nicht nur in der Prüfung der Erfüllung der Anforderungen besteht, sondern vor allem in der Entwicklungsunterstützung der Organisationen durch Beratung. Welche Fähigkeiten und Vorgehensweisen dieser Kommunikationsprozess auf beiden Seiten impliziert, ist Gegenstand dieses Teilkapitels. 112

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

5.1.1 Kommunikation Kommunikation – insbesondere in und zwischen Organisationen – ist ein anspruchsvolles Konzept, das auf komplexen psychischen und sozialen Voraussetzungen basiert. Wie anspruchsvoll dies ist, lässt sich im Alltag immer wieder schmerzhaft erleben, wenn Kommunikation scheitert, wenn Missverständnisse entstanden sind und zeitraubend metakommunikativ aufgelöst werden müssen, wenn auch das noch scheitert und das Scheitern von den frustrierten Beteiligten in personalisierender Manier sich wechselseitig zum Vorwurf gemacht wird, sodass persönliche Verletzungen zurückbleiben, die den Kooperationsprozess noch zusätzlich behindern. Die Schlichtvariante der Kommunikationstheorie geht davon aus, dass ein Sender eine Botschaft sendet, die vom Empfänger aufgenommen und entsprechend verstanden wird. Störungen werden den Unklarheiten der Beteiligten zugerechnet oder störenden Übertragungsbedingungen, die die Informationsübermittlung beeinträchtigt haben. Die jeweilige Information im Übertragungsprozess wird als objektive Größe betrachtet, und es wird unterstellt, dass sie, wie der Taler in dem Kinderspiel, von Hand zu Hand wandert. So einfach ist es leider nicht. Wir gehen von einem anderen, dem systemtheoretischen Kommunikationsverständnis aus (Luhmann, 1991, S. 193 ff.). Dessen Voraussetzung ist die Erkenntnis, dass die an der Kommunikation beteiligten Bewusstseine operativ geschlossene psychische Systeme sind, zwischen denen nicht einfach eine fixe Information übertragen werden kann. Um es alltagssprachlich auszudrücken: Jeder und jede lebt monadisch zunächst im eigenen Kopf und macht sich auf der Grundlage von Beobachtungen seine bzw. ihre eigene Welt. Zwischen diesen Welten gibt es keine einfachen Übertragungen wie zwischen zwei Computern, die Daten versenden und empfangen. Vielmehr handelt es sich bei der Kommunikation um einen komplizierten Prozess, bei dem zwei interne Welten, die füreinander undurchsichtig sind und die unabhängig und überschneidungsfrei existieren und operieren, aneinander anschlussfähig gemacht werden müssen. Die wechselseitige Undurchschaubarkeit der an der Kommunikation beteiligten psychischen Systeme nennt Luhmann im Anschluss an Parson doppelte Kontingenz. Das bedeutet: Was immer eine Seite sagen mag, Kommunikation und Verstehen

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die jeweils andere Seite hat immer die Möglichkeit zuzustimmen, abzulehnen oder die Kommunikation erst gar nicht aufzunehmen bzw. sie an jeder beliebigen Stelle auch wieder abzubrechen. Was mein Gegenüber tun wird, kann ich vielleicht aufgrund vielfältiger Erfahrungen mit der betreffenden Person ahnen, aber nie mit auch nur einiger Sicherheit wissen. Denn erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Um diesen komplizierten Prozess angemessen zu theoretisieren, wird Kommunikation von Luhmann als Einheit der drei Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen gefasst und von hinten nach vorn betrachtet, also nicht vom Sender her, sondern vom Empfänger und dessen spezifischem Verstehen. Deswegen startet der Kommunikationsprozess – in der Luhmann`schen Terminologie – mit Alter und nicht mit Ego. Praktisch heißt das zunächst, dass unabhängig davon, was gesagt wurde, die Kommunikation damit beginnt, was verstanden wurde. Wir alle kennen die leidigen Streitereien darüber, was denn während einer Auseinandersetzung gesagt wurde. Schleifen aus Rechtfertigungen des Gesagten oder aus rückwärtigen Erklärungen des eigentlich Gemeinten verhindern geradezu, dass die Kommunikation lösungsorientiert nach vorn weitergeht. Am Ende sind die Beteiligten oft dermaßen verwirrt, dass sie gar nicht mehr wissen, worum sie sich denn streiten oder gestritten haben. An dieser Stelle wird die abstrakte Systemtheorie mit ihrer kommunikativen Einheit aus den drei Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen ungeheuer praktisch. Wie ist das gemeint? Zunächst zur Information: Diese wird nicht als übertragbare Datenmenge angesehen, sondern als eine individuelle Zurechtlegung im Bewusstsein desjenigen, der etwas verstanden zu haben glaubt. Der Konjunktiv weist darauf hin, dass der oder die Beteiligte davon ausgeht, etwas richtig verstanden zu haben, aber in sich selbst gar keine Größe hat, um dies einschätzen oder überprüfen zu können. Luhmann (1996b, S. 173) formuliert deshalb zugespitzt: »Verstehen ist praktisch immer ein Mißverstehen ohne Verstehen des Miß.« Die Information wird deshalb als etwas betrachtet, was sich jemand auf der Basis seiner bisherigen Erfahrungen und Kenntnisse in einer sehr spezifischen Weise zurechtgelegt hat, also als eine sehr subjektive Angelegenheit. Mit einer Information hat sich ein psychisches Sys114

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

tem selbst in Form gebracht. Diese je eigene Form ist in Gänze nie an andere Bewusstseine anschlussfähig und zum mehr oder weniger großen Teil sogar sich selbst undurchsichtig. Ein individuelles Bewusstsein ist immer ein subjektives Bewusstsein, weil die Informationen ihre Spezifik erst aus der besonderen Konstellation des je individuellen Bewusstseins mit seinen einzigartigen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Vorstellungen erhalten. »Man kann es auch so ausdrücken, dass die Bewußtseinsinhalte eines jeglichen derartigen individuellen Bewußtseins nicht substituierbar durch die Bewußtseinsinhalte eines anderen sind« (Adorno, 1974, S. 141). Adorno vergleicht diese Einzigartigkeit und Nichtersetzbarkeit jedes Bewusstseins mit einer Melodie, die zwar immer aus den gleichen zwölf Tönen besteht, wobei jeder Ton allerdings erst in seiner besonderen Stellung zu den anderen Tönen seine eigentümliche Färbung erhält und in diesem Zusammenhang mit anderen Tönen zu der je vorliegenden besonderen Melodie wird. Aus dieser spezifischen Konstellation innerpsychischer Informationen wählt eine Person etwas aus, das sie als Mitteilung sendet. Und diese Mitteilung ist dann auch nicht mehr identisch mit der Information im Bewusstsein der sendenden Person. Man kann sich diese Selektionen und die Verluste, die im Kommunikationsprozess entstehen, an einem einfachen Beispiel illustrieren. Stellen Sie sich vor, Sie erleben einen Sonnenuntergang aktuell als lebendig und sinnlich wahrgenommenen Eindruck – vielleicht sogar im Zustand einer frischen Verliebtheit. Wenn Sie sich dann später diesen lebendigen Eindruck im Bewusstsein vorstellen, dann ist die Vorstellung in Gedanken schon weniger, schwächer, blasser als der ehemalige Eindruck. Wenn Sie nun diese Vorstellungen anderen vermitteln wollen, dann verliert diese Mitteilung wiederum an Fülle gegenüber Ihrer Vorstellung. Es ist unmittelbar einsichtig, dass der Empfänger Ihrer Mitteilung kaum noch eine Vorstellung entwickeln kann, die mit Ihren ehemaligen Eindrücken Ihres Sonnenuntergangs etwas zu tun hat. Sein Verstehen ist bereits seine eigene Konstruktion, die mehr mit seinen Erfahrungen zu tun hat als mit Ihren. Aus der Differenz von Information und Mitteilung konstruiert sich der Empfänger also seine eigene Information, die als Teil der besonderen Konstellation seines Bewusstseins eine andere InformaKommunikation und Verstehen

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tion ist als die des Senders. Der Empfänger hat zwar etwas verstanden; dieses Etwas ist aber ein anderes Etwas als das des Senders. Diesen Sachverhalt legt Luhmann nun so aus, dass die Kommunikation nicht mit der Mitteilung oder gar der Ausgangsinformation startet, sondern mit dem Verstehen des Empfängers und seiner anschließenden Mitteilung. Ego, üblicherweise Sender genannt, erfährt erst aus der Reaktion von Alter, üblicherweise Empfänger genannt, was verstanden wurde und wie es deshalb weitergeht. Wir kennen das aus dem Alltag, wenn eine witzig gemeinte Bemerkung auf der anderen Seite zu einer Verletzung führt. Wir sagen dann, der andere hätte es in den falschen Hals gekriegt, was schon deshalb nicht stimmt, weil er ja nur seinen einen Hals hat, in den er etwas kriegen kann, und der ist eben so, wie er zu diesem Zeitpunkt eben ist. Eine Mitteilung kann ein Ego, das auch ein kollektives sein kann, zum Beispiel eine Rundfunkanstalt, zwar absenden. Zur Kommunikation kommt es aber erst, wenn auf einer anderen Seite irgendein Verstehen stattgefunden hat, und nur von diesem spezifischen Verstehen aus geht es anschlussfähig weiter oder nicht. Weil die Grundlage des partnerschaftlichen Diskurses zwischen den Gutachtenden/Beratenden der Lerner- und Kundenorientierten Qualitätstestierung und den Organisationen, die ihre Qualitätsentwicklung in einer Selbstbeschreibung niedergelegt haben, das wechselseitige Verstehen ist, wollen wir uns mit diesem Verstehen nun etwas genauer beschäftigen. Und wenn es ums Verstehen geht, dann ist Hans-Georg Gadamer eine bevorzugte Adresse. 5.1.2 Verstehen Für Gadamer ist Verstehen »der ursprüngliche Seinscharakter des menschlichen Lebens selber« (1990, S. 264), die Struktur des menschlichen In-der-Welt-Seins. Als »Vollzugsform des menschlichen Soziallebens« (Gadamer, 1993, S. 255) betrifft es »das allgemeine Verhältnis der Menschen zueinander und zur Welt« (S. 330). Das Phänomen des Verstehens durchzieht alle menschlichen Weltbezüge und hat deshalb auch innerhalb der Wissenschaft eine selbstständige Geltung; es geht aber über jeden Versuch, sich vollständig in eine Methode umdeuten zu lassen, hinaus. Das Ziel des Verstehens ist es, Erscheinungen in ihrer einmaligen und geschichtlichen Konkretion zu erschließen, 116

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

das heißt zu verstehen, wie es kommen konnte, dass ein beobachteter Gegenstand oder eine bestimmte Aussage so sind, wie sie sind. Im Verstehen geht es darum, die volle Wirklichkeit des Einzelfalls zu erschließen, denn dieser »ist nie ein bloßer Fall; er erschöpft sich nicht darin, die Besonderung eines allgemeinen Gesetzes oder Begriffs zu sein« (Gadamer, 1990, S. 45). Vielmehr bestimmt, ergänzt, berichtigt die Individualität des Einzelfalls das Allgemeine, um das es in der Erkenntnis geht. Verstehen ist ein Prozess aus Rekonstruktion und Interpretation. Daher ist Verstehen immer Andersverstehen – eine »neue Schöpfung« (Gadamer, 1990, S. 477). Es gibt kein Besserverstehen im Sinne der grundsätzlichen Überlegenheit von Alter gegenüber Ego. »Es genügt zu sagen, daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht« (Gadamer, 1990, S. 302). Nehmen wir die kommunikative Mitteilung, die verstanden werden soll, so müssen wir zunächst unterstellen, dass auch diese bereits das Ergebnis eines vorangegangenen Verstehensprozesses ist. Und die Person, die eine Mitteilung versteht, kann ihre Perspektive auch nicht beliebig wählen, sondern versteht von ihrem vorgegebenen Standpunkt aus, auch wenn dieser sich in seinem Verstehensprozess verändern mag. Verstehen ist deshalb immer durch die Beobachterposition des Verstehenden bestimmt. Das führt Heinz von Foerster zu der extremen Formulierung, dass es »das sogenannte Mißverstehen« gar nicht gibt (von Foerster, 1997, S. 24), weil jede Person eben versteht, was sie versteht. Ein Missverstehen muss ja davon ausgehen, dass in der Kommunikation eine Information unverändert übertragen werden kann, was – wie wir im vorherigen Teilkapitel gesehen haben – gar nicht möglich ist. Verstehen muss daher immer als ein Teil eines die Beteiligten übergreifenden, kommunikativen Sinnsystems gedacht werden, in dem sich der Sinn aller mitgeteilten Informationen in der Kommunikation erst bildet. Der Sinn von etwas steht also nicht ein für alle Mal fest, sondern entsteht, prozessiert und verändert sich in der Kommunikation. Da Organisationen, um die es in unserem Kontext geht, von der Systemtheorie als soziale Systeme, das heißt als Sinnsysteme, konzipiert sind, ist die Gadamer’sche Hermeneutik für uns methodisch anschlussfähig. Diese Art des Verstehens lässt sich als Strukturverstehen von einem Kausalverstehen unterscheiden, das Kommunikation und Verstehen

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lineare Wenn-Dann-Zusammenhänge unterstellt. Als Struktur wird dabei der gesamte Wirkungszusammenhang verstanden, in dem der Sinn sich bildet (Gadamer, 1993, S. 358). Ein Bewusstsein ist ein psychisches System, das in individueller Logik Gedanken an Gedanken anschließt; das psychische System ist das Netzwerk dieser verketteten Gedanken. Eine Organisation ist ein soziales System, das – wie wir bereits in Kapitel 4.1 sahen – aus Kommunikation besteht. Beide Systeme gehen nie ineinander über; sie arbeiten jeweils operativ geschlossen völlig überschneidungsfrei. Aber zwei oder mehr psychische Systeme können sich zu einem Kommunikationssystem strukturell koppeln. Der Kopplungsmechanismus ist die Sprache. Sprachlichkeit ist der Modus des menschlichen In-der-Welt-Seins. In der besonderen Sprache eines Beobachters (Spezialsemantik) kommt daher seine Sicht der Welt zur Darstellung. Es gibt für den Menschen keinen Standort außerhalb seiner sprachlichen Welterfahrung. »Vielmehr ist, was die Welt selber ist, nichts von den Ansichten, in denen sie sich darbietet, Verschiedenes« (Gadamer, 1990, S. 451). Wenn es darum geht, nicht eine einzelne Aussage, sondern eine Organisation zu verstehen, dann muss man sich den Äußerungen dieser Organisation zuwenden, in der sie sich selbst in ihrem Verhältnis zu ihrer Umwelt beschreibt (Zech, 2016b). Jede Organisation ist eine individuelle Einheit, ein Einzelfall, der so, wie er ist und sich darstellt, nur ein einziges Mal vorkommt. Auch eine Organisation hat ihre Individualität und ihre spezifische Identität. Im Verstehen von Organisationen geht es daher ebenfalls um die Rekonstruktion der besonderen Wirklichkeit des Einzelfalls. Der individuelle Fall »ist nicht eine bloße Folge der verursachenden Faktoren«, sondern »eine in sich verständliche Einheit […], die in jeder ihrer Äußerungen zum Ausdruck kommt und daher aus einer jeden verstanden werden kann« (Gadamer, 1990, S. 229). Eine organisationale Selbstbeschreibung ist daher bereits der Ausdruck eines bestimmten Verstehens, und eine Wiederbeschreibung dieser Selbstbeschreibung aus einer Beobachterposition zweiter Ordnung ist der Versuch, das Verstandene in seiner Struktur zu rekonstruieren, das heißt das Allgemeine des Einzelfalls herauszuarbeiten und nicht das Besondere des Einzelfalls durch Subsumtion unter abs118

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

trakte Begriffe wegzuverallgemeinern. Das Ergebnis der verstehenden Wiederbeschreibung besteht dabei nicht in einer Aufdeckung einer objektiven Wahrheit, sondern in der Erreichung einer höheren Reflexionsstufe in einem gemeinsamen Kommunikationsprozess. Allerdings ermöglicht das Verstehen des individuell verallgemeinerbar Typischen des Einzelfalls durchaus eine Prognose von zukünftig Erwartbarem. Verstehen wird geleitet durch Fragen. »Im Wesen der Frage liegt, daß sie einen Sinn hat. Der Sinn ist mithin die Richtung, in der die Antwort allein erfolgen kann, wenn sie eine sinnvolle, sinngemäße Antwort sein will. Mit der Frage wird das Befragte in eine bestimmte Hinsicht gerückt« (Gadamer, 1990, S. 368). Deshalb ist richtiges Fragen auch schwerer als Antworten. Auf der anderen Seite signalisiert eine Frage die Offenheit in Bezug auf die Antwort. Der, der es bereits besser zu wissen meint, verzichtet auf die Offenheit seiner Fragen, kann also nicht wirklich fragen und schon gar nicht den anderen verstehen. Fragen setzen Offenheit voraus, aber geben zugleich eine gewisse Begrenzung der Antwortrichtung vor. Alles Fragen setzt daher ein Wissen des Nichtwissens in Bezug auf den befragten Gegenstand voraus, allerdings bereits ein durch die Frage bestimmtes Nichtwissen. Absolutes Nichtwissen nimmt die Welt fraglos hin. Verstehen heißt deshalb auch, »die Frage verstehen, auf die etwas die Antwort ist« (Gadamer, 1990, S. 380). Es handelt sich um eine zirkuläre Bewegung, in der Antworten wieder in Fragen zurückschlagen und neue Antworten provozieren. Wenn Verstehen die »Vollzugsform des menschlichen Soziallebens« ist, ist dieses »in letzter Formalisierung eine Gesprächsgemeinschaft« (Gadamer, 1993, S. 255), ein Dialog, ein Diskurs – eben ein Kommunikationsprozess. Das Verstehen wird von der Dialogsituation aus gedacht, von der Dialektik von Frage und Antwort. »Nun liegt es im Wesen des wirklichen Sprechens, daß das Meinen das Gesagte stets übertrifft« (Gadamer, 1993, S. 19). Das bedeutet in unserer verwendeten Kommunikationsterminologie (vgl. Kapitel 5.1.1), im Kommunikationsprozess zwischen Ego und Alter verändert sich die gemeinte Information durch ihre Mitteilung und das anschließende Verstehen. Wer versteht, baut das Gehörte/Gelesene »in das Universum von Sinn ein, auf das hin er selbst geöffnet ist« Kommunikation und Verstehen

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(S. 19). Denn alles Verstehen ist schon Auslegen, ein Interpretieren auf der Basis von perspektivenabhängigen Beobachtungen. Inwieweit Alter etwas verstanden hat, zeigt sich dann in der Anschlussfähigkeit des von ihm Gesagten an das zuvor von Ego Gesagte. Die Reflexion dieses Kommunikationsprozesses ist ein integrales Moment des Verstehens und mit der menschlichen Praxis allgemein verwoben. 5.1.3 Selbstbeschreibung und Wiederbeschreibung4 Wenn Verstehen die Struktur des menschlichen In-der-Welt-Seins bzw. die Vollzugsform des menschlichen Soziallebens ist, dann konstituiert sich dieses Verstehen – wie wir bereits sahen – auf der Grundlage von Beobachtungen, die mit Unterscheidungen arbeiten und die eine Seite der Unterscheidung bezeichnen. Die einzelnen Beobachtungen verdichten sich dann zu Beschreibungen, in denen die Welt und die eigene Stellung in der Welt ihren Ausdruck findet. In gewisser Weise sind daher alle Beschreibungen auch Selbstbeschreibungen, sie sagen nur etwas über die Welt aus in der Weise, wie diese von dem individuellen Beobachtungsstandpunkt aus sich darstellt. »Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt«, hat Humberto R. Maturana (1998, S. 25) deshalb festgestellt. Nun ist das mit dem Verstehen von Alter bezogen auf die Beschreibungen von Ego nicht grundsätzlich anders. Deshalb hat Heinz von Foerster (1993, S. 85) ergänzt: »Alles, was gesagt wird, wird zu einem Beobachter gesagt.« Auch Alter ist in Bezug auf Ego nur ein Beobachter, der auf der Basis seiner eigenen Unterscheidungen das, was er beobachtet, bezeichnet. Wenn Alter also Ego signalisieren will, dass er verstanden hat, gibt er eine Wiederbeschreibung der Beschreibung von Ego ab. Für diese gilt dann auch das Gleiche wie für die Beschreibung von Ego: Auch die Wiederbeschreibung ist in einem eminenten Sinne Selbstbeschreibung. In der Kommunikation zwischen Ego und Alter reden die beiden Protagonisten anhand eines Themas also auch immer implizit über sich selbst.

4 Dieses Unterkapitel ist eine leichte Überarbeitung eines Kapitels aus unserer ersten »Grundlegung der Lernerorientierten Qualitätstestierung«, die inzwischen vergriffen ist (vgl. Zech, 2006, S. 74–81).

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Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

Wenn also jede beschriebene Beobachtung im gewissen Sinn immer auch eine Aussage über den Beobachter ist, dann gilt das für explizite Beschreibungen des eigenen Selbst in noch höherem Maße. Im Kontext der Lerner- und Kundenorientierten Qualitätsentwicklung geht es nun um die Selbstbeschreibung von Organisationen (hier Selbstreport genannt), mit der die Organisation ihre Qualitätsentwicklung und deren Ergebnisse darstellt. Dieser Selbstreport bildet dann die Grundlage für den Diskurs mit der gutachtenden und beratenden Person. »Unter ›Selbstbeschreibung‹ wollen wir die Produktion eines Textes […] verstehen, mit dem und durch den die Organisation sich selbst identifiziert« (Luhmann, 2000, S. 417). Diese Selbstbeschreibungen verdichten Beobachtungen verschiedener Situationen, Anlässe und Umstände zu einer Aussage über das Selbst bzw. die Identität einer Organisation in einem geschlossenen Text. Texte sind das Gedächtnis sozialer Systeme; in der Selbstbeschreibung konstituiert sich das System als Einheit aller seiner Operationen. Die Funktion von Selbstbeschreibungen liegt darin, die laufend anfallenden Selbstreferenzen zu bündeln und zu zentrieren, um deutlich zu machen, um welches Selbst es bei der Identität der Organisation geht. Jedes System ist als Gesamtheit für sich selbst unerreichbar und intransparent; in der Selbstbeschreibung reduziert die Organisation ihre Komplexität, Widersprüchlichkeit und Kontingenz auf eine handhabbare und kommunizierbare Einheit. Organisationale Identitäten sind nicht gegeben, sie müssen formuliert werden. Über Reflexionsschleifen werden Selbstbeobachtungen daher in Selbstbeschreibungen transformiert. Mit einer Selbstbeschreibung stellt die Organisation ihre individuelle Besonderheit nach innen und außen dar. Selbstbeschreibungen sind Sinnkonstruktionen, die sich in der Sach-, Zeit- und Sozialdimension entfalten (Luhmann, 1997, S. 1139 f.). In der Sachdimension fokussieren die organisationalen Selbstreporte anhand der Qualitätsbereiche bestimmte Inhalte, die es wert sind, hervorgehoben und berichtet zu werden. In der Zeitdimension stellen die Reporte auf ein Vorher/Nachher der erreichten Organisationsentwicklung ab. In der Sozialdimension wird der Prozess der Qualitätsentwicklung in seinen förderlichen und h ­ inderlichen Aspekten beschrieben. Kommunikation und Verstehen

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Die Begutachtung dieses Selbstreports im Rahmen der Lerner- und Kundenorientierten Qualitätstestierung ist – jenseits der Prüfung der Erfüllung der Qualitätsanforderungen – ein hermeneutisches Verfahren des Verstehens der beschriebenen Praxis der Organisationen und – auf dieser Basis – ein rekonstruierendes und kommentierendes Wiederbeschreiben der von den Organisationen vorgelegten Selbstbeschreibung. Diese Wiederbeschreibung enthält zahlreiche Anregungen, Hinweise und Vorschläge für die weitere Qualitätsentwicklung der Organisationen. Das hermeneutische Verstehen schließt aus, dass die Gutachtenden von einem Standpunkt vermeintlich besseren Wissens Vorschriften machen. Es geht darum, die Entwicklungslogik der jeweiligen Organisation zu verstehen und von diesem Standpunkt aus deren je spezifische weitere Entwicklung zu fördern. Allgemeinverbindliche Ratschläge schließen sich da aus. Das Gutachten ist der Versuch des hermeneutischen Verstehens der organisationalen Selbstbeschreibung und bringt dieses Verstehen in einer Wiederbeschreibung zum Ausdruck. Wie wir bereits in Kapitel 5.1.2 sahen, ist Verstehen die reflexive Steigerung von Beobachtungen und Voraussetzung für kommunikative Anschlussfähigkeit. Das Verstandene muss wiederum in der Form einer Beschreibung kommuniziert werden. Dabei gilt – wie ausgeführt –, dass Kommunikation keine Übertragung einer Information von einem Sender zu einem Empfänger ist, sondern ein Prozess dreifacher Selektion. Bereits die ausgewählte Information ist eine Selektion aus einem Repertoire von Möglichkeiten; ohne diese Selektivität der Information kommt kein Kommunikationsprozess zustande. Danach wird ein Verhalten gewählt, das diese Information mitteilt und dadurch beeinflusst. Entscheidend wiederum bleibt die dritte Selektion, denn der, der in der Kommunikation adressiert ist, muss in der Unterscheidung zwischen Information und Mitteilung den kommunizierten Sinn rekonstruieren. Verstehen kann eine Adressatin wiederum nur im Rückbezug auf ihr eigenes Bewusstsein, das heißt indem sie aus dem Mitgeteilten für sich eine Information macht. Diese letzte Selektion ist entscheidend, weil hier über die Folgen disponiert wird, und deshalb kann nur von hier aus Kommunikation verstanden werden, denn nur in den Resultaten kann wieder beobachtbar werden, ob Verständigung gelungen ist oder nicht. Wichtig bleibt aber festzuhalten, dass gelingende Kom122

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munikation ein höchst unwahrscheinlicher Vorgang ist. In der Kommunikation zwischen der Organisation und dem/der Gutachtenden haben wir es also mit zwei Verstehensprozessen zu tun. Die gutachtende Person muss die Selbstbeschreibung der Organisation verstehen und die Organisation die Wiederbeschreibung des/der Gutachtenden. Weil Selbstbeschreibungen bereits Simplifikationen der in Gänze unbeschreibbaren vollen Wirklichkeit der Identität einer Organisation sind, bleiben sie empfindlich gegen Störungen, die einerseits aus nicht berücksichtigten Umständen und andererseits aus Widersprüchen in der Selbstbeschreibung resultieren. Die Beobachtung zweiter Ordnung einer Selbstbeschreibung und ihre anschließende Wiederbeschreibung aus der Gutachterperspektive ist deshalb weiterführend, weil sie sich von den Beobachtungen der Organisation unterscheidet. Wiederbeschreibungen dürfen die beschriebene Praxis der Organisationen deshalb nicht einfach verdoppeln und den Organisationen nur das zurückspiegeln, was diese über sich selbst bereits wissen. Die Beobachtung zweiter Ordnung benutzt im Verhältnis zur Beobachtung der Organisation eine »inkongruente Perspektive« (Luhmann, 1991, S. 88). Wiederbeschreibungen sollen – wenn sie nützlich sein wollen – ihre inkongruente Perspektive nutzen, um auf Latenzen und Widersprüche in den Selbstbeschreibungen aufmerksam zu machen und damit Lernen durch angemessene Verstörungen anzuregen. Solche Wiederbeschreibungen von Selbstbeschreibungen sollen allerdings keine inhaltlichen Bewertungen im Sinne einer positiven oder negativen Charakterisierung der im Selbstreport beschriebenen Organisation sein, denn dies würde eine Position des einzig richtigen Beobachtens voraussetzen, das heißt einen externen Beobachter auf einem aristotelischen Hochsitz, der weiß, wie es wirklich ist. Vielmehr geht es darum, den Organisationen auf diese Weise zurückzuspiegeln, wie sie von außen wahrgenommen werden. Für jede Wiederbeschreibung von Selbstbeschreibungen (wie für jede Beobachtung von Beobachtungen) ist es daher wichtig, darauf zu achten, mit welchen Unterscheidungen in der Selbstbeschreibung gearbeitet wird und welche Folgen dies für die Organisation hat, denn das Selbst der Selbstbeschreibung konstituiert sich in diesem Prozess, das heißt die Organisation präsentiert hier ihre Identität (Luhmann, 1997, S. 912, S. 1140 f.). Kommunikation und Verstehen

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Beobachtung ist – auch das wurde schon deutlich – kein neutraler Vorgang. Einerseits ist sie von den verwendeten Unterscheidungen des Beobachters abhängig, andererseits wirkt sie auf das Beobachtete zurück – in gewisser Weise konstituiert sie es erst. Bereits in der Quantenphysik verändert die Beobachtung das Beobachtete; Licht kann entweder als Welle oder als Teilchen erscheinen. Vor allem lassen sich Personen, Organisationen und Märkte davon beeindrucken, dass sie beobachtet werden – deutlich wird dies zum Beispiel an den Börsen (Simon, 2004, S. 64). Beschreibungen sind das Resultat von Beobachtungen. So wie Beschreibungen das Beschriebene erst schaffen, so setzt sich die Kommunikation von Beschreibungen einem Veränderungsprozess aus. Wiederbeschreibungen wirken auf die Beschreibungen zurück. Psychische und soziale Systeme reagieren sensibel, wenn sie feststellen, dass sie beobachtet werden. Die Begutachtung geht von den vorgelegten Selbstbeschreibungen aus und sieht ihre Aufgabe darin, diese zu dekonstruieren und zu rekonstruieren. Die Organisation beobachtet ihre Umwelt und zieht daraus entsprechende Schlüsse. Der/die Gutachtende beobachtet die Organisation beim Beobachten und zieht daraus seiner- bzw. ihrerseits Schlüsse, die die Basis für seine/ihre Wiederbeschreibung und die kommentierenden Entwicklungsvorschläge sind. Ebenso wie eine systemische Beratung ist die Begutachtung eine Beobachtung zweiter Ordnung, das heißt eine Beobachtung von Beobachtungen, die nicht nur auf das Was der Beobachtung fokussiert, sondern auch den Unterscheidungsgebrauch des beobachteten Beobachters, das Wie seiner Beschreibung berücksichtigt. »Der Beobachter des Beobachters ist kein ›besserer‹ Beobachter, nur ein anderer« (Luhmann, 1997, S. 1142). Der wechselseitige Beobachtungsprozess funktioniert dabei in zwei Richtungen: Die begutachtende Person beobachtet die Organisation und die Organisation beobachtet den/die Gutachter/in. Die Organisation beobachtet also den/die Gutachter/in beim Beobachten der Organisation. In ihrem Gutachten beschreibt die gutachtende Person auch immer sich selbst, daher wird sich die Organisation über das Gutachten ein Bild des/der Gutachtenden machen, ebenso wie sich diese/r über den Selbstreport ein Bild der Organisation gemacht hat. Wir haben es hier also mit wechselsei124

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tigen Beobachtungsverhältnissen zu tun, die über Kommunikation zu einem beidseitigen Lernprozess führen. Dieses Prinzip der Koppelung von Selbstbeschreibung und Wiederbeschreibung macht sich der Qualitätsentwicklungs- und Begutachtungsprozess zunutze, denn dadurch wird Kommunikation angeregt, die ihren diskursiven Ausdruck in der Diskussion von Selbstreport und Gutachten zwischen den Mitgliedern der Organisation und dem/der Gutachtenden findet. Die Diskussion des Gutachtens, das die Gutachtenden über den Selbstreport angefertigt haben, mit den Beschäftigten der Organisationen ist ein entscheidender Meilenstein des organisationalen Lernprozesses. Das Gutachten ist implizit in Gänze eine Wiederbeschreibung der organisationalen Selbstbeschreibung, enthält aber zusätzlich einen besonderen Abschnitt, der explizit die Identität der Organisation rekonstruiert und zurückspiegelt, so wie die Gutachtenden sie verstanden haben. Im Gutachten wird also die Selbstreflexion der Organisation mit einer externen Beobachtungsperspektive der Gutachtenden konfrontiert. In solchen reflexiven Feedbackprozessen liegen die größten Lernchancen (vgl. Kapitel 5.3). Es kann erörtert und verstanden werden, warum die Umwelt die Organisation so wahrnimmt, wie sie sie wahrnimmt, sogar warum sie sie gegebenenfalls missverstehen muss, denn zwischen dem Selbstbild des Systems und dem Fremdbild der Umwelt kann es durchaus zu Diskrepanzen kommen. Aber auch diese Diskrepanzen sind Lernchancen, weil reflektierend geklärt werden kann, wie sie zustande kommen mussten und wie sie in Zukunft zu vermeiden sind. Organisationen (vgl. Kapitel 4.1) sind codierte Systeme; sie funktionieren in der Semantik des gesellschaftlichen Funktionsbereichs, zu dem sie gehören, das heißt Wirtschaftsunternehmen orientieren ihre internen Prozesse und Operationen am Geld, Kirchen am Glauben und Bildungseinrichtungen am Lernen. Darüber hinaus haben einzelne Organisationen noch eine spezifische Melodie, einen besonderen Klang, was ihren Operationen eine einzigartige Tönung gibt; sie kommunizieren in einer Spezialsemantik, das heißt ihrer besonderen Sprache, die intern Anschlussfähigkeit und extern Ausschlüsse produziert. Diese allgemeine und besondere Funktionslogik von Organisationen gilt es zu verstehen und aufzunehmen, wenn man sie wirksam zum Lernen anregen will. Schon Marx formulierte, »man muß diese Kommunikation und Verstehen

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versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt!« (Marx, 1974c, S. 381). Damit wurde bereits die systemtheoretische Erkenntnis vorformuliert, dass Veränderungen von Systemen dadurch ausgelöst werden, dass diese sich in der Rückspiegelung von außen sowohl wiedererkennen als auch irritiert fühlen. Solche Rückspiegelungen wirken dann als angemessene Verstörungen, weil sie Organisationen weder mit unvermittelter Fremdheit konfrontieren, die abgestoßen würde, noch einverständig verdoppeln, was nicht sonderlich zur Kenntnis genommen wird. Wie bei Wiederbeschreibungen methodisch vorzugehen ist, wurde von uns in einem internen »Leitfaden Begutachtung und Entwicklungsförderung« niedergelegt und muss hier in dieser Grundlegung nicht im Einzelnen dargestellt werden. Um aber wenigstens das Grundprinzip einer Wiederbeschreibung zu verstehen, kann man den Begriff der Konstellation von Adorno (1990) zu Hilfe nehmen. Adorno geht davon aus, dass Bedeutung sich nicht aus einzelnen Begriffen oder Aussagen erschließen lässt, sondern nur aus dem Zusammenhang, in dem diese Begriffe oder Aussagen stehen. Zu einer gelungenen Wiederbeschreibung einer Selbstbeschreibung kommt man nur, wenn man die Aussagen einer Selbstbeschreibung nicht einfach wiedergibt, sondern sie in eine andere gedankliche Versuchsanordnung überführt, die eine andere Sicht der Dinge preisgibt. Aussageelemente der Selbstbeschreibung werden dabei – ohne sie zu verändern oder zu interpretieren – in eine veränderte Konstellation gebracht, sodass etwas anderes, zum Beispiel bisher Verdecktes oder Latentes, dabei deutlich wird. Es geht nicht darum, die Aussagen von Selbstreporten zu enttarnen oder ideologiekritisch zu überführen, sondern Sichtweisen von Organisationen in andere Konstellationen zu transformieren, die neue Möglichkeiten für diese Organisationen eröffnen, ohne die einzelnen Aussagen an sich zu verändern. Es geht gewissermaßen um neue Anordnungen der Aussageelemente auf einer Fläche, nicht um Bohrungen in eine vermeintliche Tiefe. Schon die Tatsache, dass man etwas auch anders sehen kann, ist Verstörung genug, um Potenzial für Veränderungsprozesse freizusetzen. Organisationales Lernen wird also über spezifische Feedbackprozesse angeregt. Das erfordert von den Gutachtenden die Fähigkeit, kommunikativ an die Logik und die Sprache der Organisationen 126

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

(Spezialsemantik) anzuschließen, zugleich aber durch Hinweise auf Latenzen und Widersprüche, aber auch durch Einspielen anderer Sichtweisen auf das von der Organisation Beschriebene gezielte Perturbationen (Verstörungen) als Auslöser für Reflexionsprozesse zu produzieren. Angesichts moderner sowohl informationstechnologischer als auch neurophysiologischer Erkenntnisse könnte man hier auch von Taktgefühl sprechen. Die Taktung ist bei der Informationsverarbeitung im Computer und im Gehirn von besonderer Bedeutung. In der Kommunikation zwischen psychischen und/oder sozialen Systemen gehört es zu den »wichtigen Funktionen, daß wir uns auf den ›Eigentakt‹ des Anderen einstellen können, um ihn in seinen Eigenheiten nicht zu verletzen und um überhaupt seine vielfältigen emotionalen und stimmungsmäßigen Eigenheiten angemessen zu erfassen« (Linke, 2005, S. 48 f.). Es geht weder darum, die Sichtweisen der Organisationen einverständig zu verdoppeln, noch sie mit abschreckender Fremdheit zu konfrontieren. Wertschätzung und kalkulierte Aufstörung müssen gekonnt zusammen kommuniziert werden. Insgesamt werden Potenziale entfaltet und nicht Probleme gewälzt; solution talk versus problem talk heißt dies in der Sprache der systemischen Beratung. Die Fähigkeit zur Beobachtung zweiter Ordnung, das heißt der Beobachtung, wie die Organisation selbst beobachtet und an welchen dabei benutzten Grundunterscheidungen sie ihre Handlungen ausrichtet, ist hierfür eine Grundvoraussetzung, über die Gutachtende und Beratende verfügen müssen. Hermeneutisches Verstehen zielt nicht auf beobachterunabhängige Objektivität, die es – wie bereits gezeigt werden sollte – in der menschlichen Welt ohnehin nicht geben kann. Dennoch ist eine Objektivierbarkeit des Vorgehens zu fordern. Die Objektivierbarkeit von Beschreibungen und Wiederbeschreibungen erweist sich nicht bereits an sich, sondern erst im Diskurs, unterliegt also einer kommunikativen Validierung zwischen den Beteiligten.

5.2 Partizipation und Motivation Das Streben nach guter Qualität ist Voraussetzung und Ausdruck guter Arbeit und somit ein inhärenter Teil jeglicher Professionalität. Qualitätsentwicklung ist keine Zusatzaufgabe, sondern Arbeiten Partizipation und Motivation

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und die Arbeit weiterentwickeln und verbessern, sind zwei Seiten ­derselben Medaille. Qualitätsentwicklung betrifft daher ohne Ausnahme alle Beschäftigten. Jeder und jede Einzelne ist in Verantwortung für die Menschen, mit denen und für die gearbeitet wird, und für die Produkte und Leistungen, die dabei erstellt werden, gehalten, sich zu beteiligen. Qualitätsentwicklung ist ein untrennbarer Teil der eigenen Arbeit und nicht an andere zu delegieren. Lediglich das Management der Bedingungen organisationaler Qualitätsentwicklung kann an Qualitätsbeauftragte abgegeben werden. Motivierte Mitarbeit aller kann allerdings nur entstehen und tragfähig bleiben, wenn die Beteiligten dabei die Erfahrung machen, dass sich ihre Arbeitsbedingungen auch tatsächlich verbessern und dabei Leistungen entstehen, die auf echte Bedarfe treffen und deshalb von den Kunden wertgeschätzt werden. Ohne Beteiligung daher keine Motivation und ohne Verbesserung der je eigenen Arbeitsbedingungen keine Kontinuität. Für andere gute Leistungen zu erbringen, ist zwar auch eine wichtige Motivationsquelle, wenn sich in der Qualitätsentwicklung allerdings auch die eigenen organisationalen Arbeitsbedingungen verbessern, hat die Motivation mehr Tragfähigkeit. 5.2.1 Partizipation Partizipation wird üblicherweise als aktive Teilhabe von Menschen an all den Prozessen, die ihr Leben betreffen, und – bezogen auf Organisationen – als ein wichtiges Strukturprinzip verstanden, das flache Hierarchien begünstigt und die aktive Teilhabe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an organisationalen Steuerungs- und Entscheidungsprozessen unterstützt. Partizipation soll die Selbstorganisation von Organisationen dadurch fördern, dass die individuellen Potenziale aller Beteiligten eingebunden werden. Partizipation wird deshalb auch als eine wichtige Voraussetzung für organisationale Lernprozesse und somit als etwas grundsätzlich Gutes verstanden (Weber, Göhlich, Schroer, Fahrenwald u. Macha, 2013). Wenn man weniger grundsätzlich Beteiligung nicht als das schlechthin Gute betrachtet, dann muss man aus der Perspektive der Organisation nach der Funktion fragen, die Partizipation für die Organisation hat, und aus der Perspektive der Individuen, welchen Nutzen sie für ihre Arbeit aus der Partizipation ziehen (Schunter u. Zech, 128

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

2013). Organisation verstehen wir dabei systemtheoretisch als soziales System der Kommunikation von Entscheidungen (vgl. Kapitel 4.1). »Organisationen sind soziale Systeme, die mithilfe von Entscheidungen Entscheidungen produzieren. Die Verstärkung von Partizipationsmöglichkeiten in Organisationen läuft deshalb auf eine Vermehrung von Entscheidungen hinaus« (Luhmann, 1987, S. 155). Beispielsweise muss entschieden werden, ob Mitarbeitende an der Entscheidung teilnehmen sollen, an welchen sie teilhaben sollen, wer genau mitentscheiden darf, wie entschieden werden soll usw. Zwangsläufig erhöht sich damit die Komplexität, die eine Organisation verarbeiten muss. Das macht das Management, also die Organisation der Bedingungen der Arbeit, zwangsläufig komplexer und aufwändiger, aber nicht in jedem Fall schon besser. Man kann zwar davon ausgehen, dass die Bindung der individuellen Mitarbeiterpotenziale an die Organisation für die Autopoiesis, also die Selbstreproduktion, der Organisation generell von hohem Interesse ist. Partizipation ist aber trotzdem kein Selbstzweck; vielmehr muss sehr sorgfältig abgewogen und entschieden werden, wo Partizipation der Mitarbeitenden sinnvoll ist und wo sie die Organisation der Bedingungen der Arbeit eher behindert. Da es bei der Qualitätsentwicklung allerdings zentral auch um die Verbesserung der organisationalen und individuellen Arbeitsbedingungen geht, ist die Beteiligung der Arbeitenden in diesem Fall unerlässlich. Beteiligen wird sich aber nur, wer eine grundsätzlich positive Bindung an die Organisation und deshalb eine hohe Identifikation mit ihr hat. Niklas Luhmann weist darauf hin, dass Partizipation nichts anderes bedeutet, als Teil eines Ganzen zu sein, und fragt: »Wie können aber Individuen, mit Körper und Seele, mit Organismus und Bewußtsein, Teil der Gesellschaft [und damit auch ihrer Organisationen] sein oder werden?« (1987, S. 153). Um diesen Gedanken nachzuvollziehen, muss man sich in Erinnerung rufen, dass die Systemtheorie psychische Systeme – also Bewusstsein – und soziale Systeme – also Organisationen – als unterschiedliche Systemtypen behandelt, die vollkommen überschneidungsfrei operieren. Eine Organisation ist ein Kommunikationssystem und ein Bewusstsein ist ein Gedankensystem; beide Systeme arbeiten selbstreferenziell, operativ geschlossen und autopoietisch, das heißt sie reproduzieren sich nur aus sich selbst, indem Kommunikationen an KommuPartizipation und Motivation

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nikationen bzw. Gedanken an Gedanken anschließen. Menschen gehören in diesem Verständnis nicht zur Organisation, sondern zu deren Umwelt. Oder anders formuliert: Kommunikationssysteme und Gedankensysteme sind wechselseitig füreinander Umwelt; sie gehen nie ineinander über. Die Grenze zwischen ihnen ist operativ nicht überschreitbar. Die beiden Systemtypen können sich aber wechselseitig anregen, wobei die jeweilige Anregung dann allerdings im jeweils eigenen Modus verarbeitet wird. Wir fragen also zunächst aus der Perspektive der Organisation: Wie gelingt es Organisationen, das Potenzial des Bewusstseins ihrer Mitglieder im Sinne der Organisation produktiv zu nutzen? Der Begriff, der im Design der Systemtheorie an dieser Nahtstelle ansetzt, ist: strukturelle Kopplung. Diese meint, dass zwei Systeme ihre strukturelle Komplexität für die Entwicklung des jeweils anderen Systems zur Verfügung stellen, ohne dass sie allerdings in irgendeiner Art ineinander übergehen. Die beiden Systeme können nur dadurch aufeinander einwirken, dass sie Störungen (Irritationen bzw. Perturbationen) produzieren, die vom jeweils anderen System dann innerhalb seiner eigenen Strukturen, das heißt nach seiner jeweils eigenen Funktionslogik, verarbeitet werden (Luhmann, 1997, S. 92 ff.). »Für den Fall, dass sich solche Verhältnisse wechselseitig koevolutiv entwickeln und keines der in dieser Weise strukturell gekoppelten Systeme ohne sie existieren könnte, kann man auch von Interpenetration sprechen« (S. 108). Dies ist bei Bewusstsein und Kommunikation zweifellos der Fall. Die strukturelle Kopplung von Bewusstseinssystem und Kommunikationssystem wird durch Sprache ermöglicht. Kommunikation wird als Einheit der drei Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen begriffen (vgl. Kapitel 5.1.1). Sie funktioniert so, dass Ego aus einer Menge von Informationen eine Mitteilung selegiert, die von Alter über diese Unterscheidung als Verstehen rekonstruiert und mit einer Anschlusskommunikation beantwortet wird. Diese Anschlusskommunikation hat grundsätzlich die Möglichkeit, als Zustimmung oder als Ablehnung an die vorausgegangene Kommunikationsofferte anzudocken, was auch vice versa gilt. Die grundsätzliche Ja/Nein-Möglichkeit des kommunikativen Anschlusses heißt binäre Codierung. Es gibt immer einen Positivbzw. Designationswert, an dem ein System sich herauskristallisiert 130

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

und der dem System zur Selbstbezeichnung dient, und einen Negativwert, der der Reflexion dient. Für das Bildungssystem ist Lernen der Designationswert und Nicht-Lernen dient der Reflexion darüber, wodurch Lernen verhindert wurde. Das Beratungssystem beobachtet seine Umwelt mit der Unterscheidung beraten/unberaten (Zech, 2013b, S. 85), um für sich Anschlussmöglichkeiten zu schaffen. Und das System der Sozialen Dienstleistung sucht nach Fällen von Hilfebedürftigkeit, die es von nicht hilfebedürftigen unterscheidet. Soziale Systeme sind Kommunikationssysteme, die sich an einem spezifischen Code im Sinne der das System konstituierenden dualen Grundunterscheidung herauskristallisieren. Wie bereits in Kapitel 4.1 ausgeführt, werden Organisationen als Kommunikationssysteme behandelt. Die Grundunterscheidung (den Code) übernehmen Organisationen aus dem gesellschaftlichen Funktionssystem, dem sie angehören. Weiterbildungsorganisationen kommunizieren im Code des Bildungssystems, der Lernen von Nicht-Lernen unterscheidet. Sie können darüber hinaus auch eine Zweitcodierung entwickeln, die sich in der Regel aus dem gesellschaftlichen Funktionssystem speist, auf das sich die jeweilige Weiterbildungsorganisation mit ihren Leistungen bezieht. Eine betriebliche Bildungseinrichtung kann als Zweitcodierung zum Beispiel auf die marktwirtschaftliche Unterscheidung von effizient und nicht effizient zurückgreifen (Schunter u. Zech, 2013, S. 120 ff.). Auf der Basis ihres jeweiligen Codes und gegebenenfalls ihrer Zweitcodierung bilden Organisationen dann spezielle Sprachen heraus – sogenannte Spezialsemantiken (Willke, 1994, S. 61, vgl. auch Kapitel 5.1) –, um ihre Kommunikationen aneinander anschließen zu können, also um unterscheiden zu können, ob eine bestimmte Kommunikation zur Organisation gehört oder der Umwelt zugerechnet werden muss. Soziale Systeme können nun allerdings ihre eigene Autopoiesis nur gewährleisten, wenn an den positiven Codewert angeschlossen wird und nicht an den negativen. In Bildungsorganisationen geht es um Lernen und nicht um Nicht-Lernen; und Soziale Dienstleistungsorganisationen können sich nur reproduzieren und erhalten, wenn genügend hilfebedürftige Fälle vorhanden sind. Weil aber in Kommunikationen generell nicht sichergestellt ist, dass wechselseitig an den positiven Pol des Codes angeschlossen wird (Warum sollte ich zustimmen, wenn ich ebenso gut und ohne Partizipation und Motivation

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negative Folgen auch ablehnen könnte und dies für mein Gegenüber genauso gilt?), spricht man von doppelter Kontingenz. Um diese Unkalkulierbarkeit kommunikativ handhabbar zu machen, entwickeln Sozialsysteme sogenannte symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien (Luhmann, 1997, S. 359 ff.). Diese machen es im Kommunikationsprozess wahrscheinlich, dass an den positiven Wert der Codierung angeschlossen wird. Im wirtschaftlichen Kontext sichert das Kommunikationsmedium Geld, dass Mitarbeitende das tun, was die Organisation von ihnen verlangt. Dass die zum Lernen zu motivierenden Individuen auf das Vermittlungsangebot der Bildungsorganisationen mit Aneignungshandeln reagieren und nicht mit Lernverweigerung, wird durch das Medium des Versprechens, durch den Lernzuwachs ein besseres Leben führen zu können, unterstützt. Das Beratungssystem unterstellt, dass ihr Kunde durch Beratung (wieder) entscheidungs- und handlungsfähig wird; und das System der Sozialen Dienstleistung sucht Einverständnis dadurch zu gewinnen, dass es Autonomie seiner Klienten verspricht, auch wenn diese gelegentlich nur noch in eingeschränkter Form möglich ist. Codierung und symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien ermöglichen also, »die Einheit eines Systems im Unterschied zu anderen Systemen seiner Umwelt zu definieren« (Luhmann, 1997, S. 388). Wenn Menschen respektive Individuen mit ihrem Bewusstsein zur Umwelt von Organisationen gehören bzw. wenn soziale Systeme und psychische Systeme überschneidungsfrei operieren, dann bleibt als letzte Frage unserer theoretischen Begriffsarbeit zu klären, wie Menschen/Individuen in die Kommunikation einer Organisation gelangen können. Hierfür hat die Systemtheorie den Begriff der Person bereitgestellt (vgl. Kapitel 4.1). Ausgehend vom lateinischen persona, das die Maske der Schauspieler bezeichnete, durch deren trichterförmige Mundöffnung ihre Stimmen hindurchtönten (personare), meint Person hier nicht die Einzigartigkeit eines Menschen oder eine Ganzheit einer individuellen Persönlichkeit, sondern eine in der und durch die Kommunikation erzeugte semantische Repräsentanz. Personen sind kommunikative Adressen. »Die Form der Person dient ausschließlich der Selbstorganisation des sozialen Systems, der Lösung des Problems der doppelten Kontingenz durch Einschränkung des Verhaltensrepertoires der Teilnehmer« ­(Luhmann, 132

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

1995b, S. 152). »Personen dienen der strukturellen Kopplung von psychischen und sozialen Systemen« (S. 153, Hervorh. entf.). Die Form der Person kann als Autor oder Adressat einer Mitteilung oder als Thema einer Kommunikation beobachtet werden. Im kommunikativen Netzwerk der Organisationen sind mit Personen also keine Menschen aus Fleisch und Blut gemeint, sondern gewissermaßen Funktionsbündel oder nach traditioneller Terminologie Rollen. Um ihre Mitarbeitenden an die Organisation zu binden, brauchen Organisationen also eine gemeinsame Sprache, die mithilfe identitätsstiftender symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien eine gemeinsame kohärente Identität der Organisationen herausbildet, mit der sich die Beschäftigten identifizieren können. Das kann neben der organisationalen Grundunterscheidung/dem Code, der unmittelbar leistungsbezogen ist, beispielsweise bei konfessionellen Organisationen dadurch geschehen, dass über das Kommunikationsmedium Menschenwürde oder Nächstenliebe eine organisationale Kernidentität geschaffen wird, die es den Beschäftigten ermöglicht, ihre personale Identität mit der Organisationsidentität zu verbinden, um so die erforderliche Arbeitsmotivation, die nicht ausschließlich über Geld laufen kann, abzusichern. Ein weiteres Beispiel ist eine Organisation, die sich kommunikativ familiär strukturiert. Sie bindet ihre Beschäftigten über das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Harmonie in der Unterscheidung Konsens/Dissens, wodurch sie ihren Beschäftigten signalisiert, dass sie konsensual in alle Entscheidungen eingebunden werden bzw. dass nicht gegen sie entschieden wird. 5.2.2 Motivation Damit kommen wir zur Perspektive der Individuen und der Frage, welchen Nutzen Beteiligung für ihre Arbeit hat. Warum also sollten die Beschäftigten nicht nur ihre unmittelbare Arbeit gut machen, sondern sich auch noch für die Weiterentwicklung ihrer Organisation einsetzen? Dass die diesbezügliche Motivation der B ­ eschäftigten für das Gelingen der organisationalen Qualitätsentwicklung der wesentliche Faktor ist (vgl. Kapitel 6.4), ist unmittelbar einsichtig und wurde auch in verschiedenen Studien empirisch nachgewiesen (z. B. Dieninghoff, 2014). Während einerseits das Ausbleiben Partizipation und Motivation

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der intendierten Wirkungen des Qualitätsmanagements in mangelnder Partizipation und Motivation der Beschäftigten gesehen wird, kann andererseits auch festgestellt werden, dass durch gelungene Qualitätsentwicklungsprozesse die Mitarbeiterorientierung zunimmt und die Arbeitszufriedenheit der Beschäftigten steigt (Zech u. Braucks, 2004, S. 23). Gemeinhin gilt es »als unbestrittene Tatsache, dass herausragende Unternehmensleistungen nicht ohne eine motivierte Mitarbeiterschaft erbracht werden können« (Schreyögg u. Koch, 2010, S. 188). Damit sind wir bei der zweiten Frage: Was also motiviert Beschäftigte zur Beteiligung an der organisationalen Qualitätsentwicklung? Motivationstheorien gibt es in großer Zahl. So kann man Motivation an ein unterstelltes Bedürfnis nach Selbstverwirklichung rückbinden (Maslow, 1981), wobei die Frage zu klären ist, worin dieses Bedürfnis begründet ist. Wir wollen dazu auf das Konzept der sogenannten produktiven Bedürfnisse der Kritischen Psychologie zurückgreifen (Holzkamp, 1983; Holzkamp-Osterkamp, 1978). Da das Gelingen als funktionale und sinnhafte Dimension individueller Handlungs­ fähigkeit entschlüsselt wurde (vgl. Kapitel 1.2), erscheint der kritischpsychologische Ansatz deshalb geeignet, weil er die menschlichen Bedürfnisse als Motivationsgrundlage in ein umfassendes Verständnis menschlicher Handlungsfähigkeit und Emotionalität einbindet. Handlungsfähigkeit wird verstanden als gesamtgesellschaftlich vermittelte Verfügung über die individuell relevanten Lebensbedingungen, worin die Arbeitsbedingungen als ein bedeutender Teil aufgehoben sind. Menschliche Bedürfnisse als subjektive Handlungsnotwendigkeiten unterteilen sich nach Ansicht der Kritischen Psychologie in sinnlich-vitale, die der unmittelbaren Befriedigung und dem Lebensgenuss dienen, und in produktive Bedürfnisse, die eine Erweiterung der Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen grundlegen (Holzkamp, 1983, S. 239 ff.). Handlungsfähigkeit wird in diesem Kontext deshalb als erstes menschliches Lebensbedürfnis (S. 243) bezeichnet, weil sie die allgemeinste Grundlage eines menschlichen und menschenwürdigen Lebens ist, das sich nicht einer Ausgeliefertheit an die gesellschaftlichen Lebensbedingungen unterwerfen will. Die Arbeit, die Marx (1976b, S. 21) als »das erste Lebensbedürfnis« bezeichnet, ist dies nur insofern, als sie den Ein134

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

zelnen eine Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess und damit ihre individuelle Selbsterhaltung ermöglicht. Gute Arbeit kann allerdings auch unter dem Gesichtspunkt als Lebensbedürfnis angesehen werden, weil sie als bedeutsame Dimension zu einem gelingenden Leben dazugehört (vgl. Kapitel 2). Eine weitere Grundlage für Motivation wird von der Kritischen Psychologie in der menschlichen Emotionalität gesehen. Gefühle werden als Bewertungen individueller Wahrnehmungen am Maßstab ihrer subjektiven Bedeutung und der eigenen H ­ andlungsmöglichkeit konzipiert und als emotional-motivationaler Funktionsaspekt des Handelns betrachtet (Holzkamp, 1983, S. 402 ff.). Dabei sind Gefühle allerdings nur insofern eine Grundlage für motiviertes Handeln, als es zu einer positiven Bewertung der wahrgenommen Handlungs­ herausforderungen kommt, weil man sich ihnen beim aktuellen Stand der individuellen Handlungsfähigkeit gewachsen fühlt. Fühlt man sich durch die Herausforderungen überfordert, weil es an den erforderlichen Kompetenzen mangelt, wird Motivation geradezu verkehrt in Vermeidungsverhalten. Motivation entsteht also unter drei Voraussetzungen. Erstens muss ein Individuum seine Lebens- oder Arbeitssituation als subjektiv unbefriedigend erleben. Schon diese Bedingung ist nicht so einfach zu erfüllen, wie es scheint, weil die Erfahrung zeigt, dass man sich zum Beispiel auch in unbefriedigenden Arbeitsbedingungen durch innere Distanz noch relativ behaglich einrichten kann. Zweitens muss das Individuum über eine Vorstellung oder eine Vision verfügen, wie ein befriedigenderer Zustand aussehen könnte. Fehlt diese Voraussetzung, entsteht ein Zustand wunschlosen Unglücks, der keine Handlungsmotivation freisetzt. Und drittens müssen die Wege zum antizipierten Ziel für das Individuum gangbar sein, das heißt es muss über die Kompetenzen verfügen, die den Handlungsanforderungen entsprechen. Fehlt eine der drei Voraussetzungen, kann keine Motivation entstehen, den Herausforderungen durch gestaltendes Handeln zu begegnen. Es wird vielmehr entweder zu Handlungsvermeidungen oder zu Handeln unter äußerem Zwang in mehr oder weniger erfolgreicher Anpassung an unveränderte Lebens- und Arbeitsbedingungen kommen. Partizipation und Motivation

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Für die Partizipation der Beschäftigten bedeutet das in der Konsequenz, dass von oben verordnete Qualitätsentwicklung nicht gelingen kann. Vielmehr müssen die Beschäftigten ihre Arbeit grundsätzlich als sinnvollen Beitrag für die Gesellschaft und ihre organisationale Teilleistung als sinnvollen Beitrag zur Gesamtleistung der Organisation erleben. Zu Letzterem gehört Relationsbewusstsein und Kontextwissen (Schäffter, 2001, S. 119 ff.). Die komplexe zielgesteuerte Arbeitsteilung in einer Organisation verlangt von allen Beteiligten diese doppelte Perspektive. Das Wissen um die eigenen Aufgaben und den eigenen Wirkungshorizont (Relationsbewusstsein) muss mit dem Bewusstsein der Verschränkung der eigenen Tätigkeit mit den Leistungsanteilen der anderen Beschäftigten (Kontextwissen) verbunden sein. Die bereits genannten drei Voraussetzungen von Motivation bedeuten – übersetzt für die Mitarbeiterpartizipation an der Qualitätsentwicklung –, dass die Beschäftigten ihre Arbeitsbedingungen als verbesserungsbedürftig ansehen und über eine Vision des besseren Zustandes verfügen. Dann müssen die von ihnen erwarteten Beiträge so in den Arbeitsalltag integriert sein, dass sie als leistbar eingeschätzt werden, und die erzielten Verbesserungen müssen individuell spürbar sein. Phasenweise erforderliche Zusatzarbeit muss im Effekt zu einer langfristigen Entlastung führen, sonst ist eine Motivation zur Beteiligung an der organisationalen Qualitätsentwicklung nicht auf Dauer tragfähig. 5.2.3 Der/die Einzelne und das Ganze der Organisation Die Systemtheorie kommt beim Verständnis von Organisationen zwar ohne Menschen aus, denn Organisationen werden – wie wir in Kapitel 4.1 sahen – als das Netzwerk rekursiv vernetzter Entscheidungskommunikation und nicht als Akteursnetzwerk betrachtet. Andererseits werden aber die Organisationen selbst als gesellschaftliche Akteure bzw. als Mitteilungshandelnde von Kommunikation in Anspruch genommen. Organisationen haben eine Adresse; man kann ihnen schreiben und man bekommt von ihnen eine autoritative Antwort, auf die man sie wiederum verpflichten, im Extremfall sogar verklagen kann. Organisationen werden in der gesellschaftlichen Kommunikation als juristische Personen behandelt; sie müssen also ein Selbst haben, das kommunikativ adressiert und/oder als handelndes 136

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

beobachtet werden kann. Dies bedeutet, dass auch Organisationen als Ganze eine wiedererkennbare Identität ausbilden müssen. Dies geschieht vor allem dadurch, dass Organisationen im Prozess des rekursiven Verknüpfens von Entscheidungen mit der Zeit unvermeidlich sogenannte »Eigenwerte« (von Foerster, 1993, S. 241) kondensieren, die als Selbst bzw. Identität der Organisation erscheinen, wodurch sich die Organisation selbst und ein anderer Beobachter die Organisation wiedererkennt. Organisationen individualisieren sich durch die Geschichte ihrer kommunizierten Entscheidungen, die durch Entscheidungsprämissen, die auf Entscheidungen beruhen, dirigiert werden. Die Identität einer Organisation wird also gebildet durch die Selektivitätsgeschichte ihrer Entscheidungen, und sie schlägt sich narrativ in ihren Selbstbeschreibungen (vgl. Kapitel 5.1.3) nieder. Obwohl wir ausgeschlossen haben, dass Menschen als komplexe geistig-körperliche Einheit Teil einer Organisation werden können, müssen sie doch im Rahmen des organisationalen Entscheidungssystems ihren Ort finden, mit dem sie sich identifizieren und von dem aus sie sich an der organisationalen Praxis beteiligen können. Das Ganze einer Organisation findet seinen Ausdruck in einer konsistenten Selbstbeschreibung, die die Identität einer Organisation formuliert und in der internen Kommunikation mit einer gemeinsamen Sprache erfahrbar prozessiert. Die einzelnen Beschäftigten erleben sich zugehörig zum Ganzen, sofern sie sich als Beteiligte der organisationalen Sprachgemeinschaft integriert fühlen. Dies gelingt unter anderem dadurch, dass die Organisation in ihrer je besonderen Spezialsemantik Zweitcodierungen mit symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien ausbildet, die die kommunikative Zustimmung der Beteiligten zum organisationalen Unterscheiden und Entscheiden wahrscheinlich machen. Als Beispiel können wir eine konfessionelle Soziale Dienstleistungsorganisation in der Altenpflege oder der Kinder- und Jugendarbeit anführen. Grundsätzlich beobachten Soziale Dienstleistungsorganisationen ihre Umwelt mit der Grundunterscheidung, ob etwas oder jemand für sie einen Fall darstellt oder nicht. Dies ergibt sich über den Code hilfebedürfig/nicht hilfebedürftig. Bereits diese Unterscheidung hat motivationale Folgen, weil die Beschäftigten im Fall der Hilfebedürftigkeit davon ausgehen können, dass sie eine gesellschaftlich sinnvolle Arbeit verrichten. Wenn die Spezialsemantik der Organisation, nehmen wir an, es handele sich Partizipation und Motivation

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um eine konfessionelle, die Beteiligten auf diese Grundunterscheidung aufbauend beispielsweise über eine Zweitcodierung mit dem Kommunikationsmedium Menschenwürde und/oder Nächstenliebe bindet, kann dies die Identifikation mit der Organisation und die Motivation für die eigene Arbeit zusätzlich unterstützen, weil die Arbeit so mit einem übergeordneten, allgemein bedeutsamen Zweck assoziiert werden kann. Die Beteiligten können sich als individuell wichtig und wirksam in Bezug auf ihre Unterstützungsleistungen für die Hilfebedürftigen im Sinne eines übergeordneten allgemein menschlichen Ziels erleben. Dies sind – wie wir eben sahen – grundsätzliche Voraussetzungen für eine Motivation und Partizipation von Beschäftigten. Wenn man die Identifikation mit der Organisation und die Beteiligung der Beschäftigten an der Qualitätsentwicklung befördern will, ist daher eine der Grundvoraussetzungen, dass neben der Kenntnis des Organisationszwecks und des eigenen Aufgabenanteils ein gemeinsames Verständnis von Qualitätsentwicklung und eine diesbezügliche gemeinsame Sprache geschaffen werden. Was Qualitätsentwicklung ist und wie sie funktionieren soll, darüber gibt es allerdings so viele Varianten wie sogenannte Qualitätsmanagementsysteme auf dem Markt sind – und die Situation ist in Bezug auf solche Systeme durchaus unübersichtlich. Schon die Qualitätsvorstellung in diesen Systemen ist disparat und uneinheitlich. Durch die ideologische Hegemonie des wirtschaftsnahen ISO-Systems hat sich das Missverständnis verbreitet, das Qualitätsentwicklung mit diesem System und seiner Zertifizierung identifiziert. Was die Qualitätsentwicklung in Organisationen der Bildung, Beratung und Sozialen Dienstleistung – insbesondere was die Lerner- und Kundenorientierte Qualitätsentwicklung – betrifft, will dieses Buch Abhilfe schaffen, indem ein in sich konsistentes System mit der entsprechenden Begrifflichkeit begründet wird, das die besondere Logik menschenbezogener Dienstleistungen aufnimmt und die diesbezüglichen Organisationen nicht auf standardisierte Prozesseffizienz trimmt. Qualitätsentwicklung wird dabei als Organisationsentwicklung zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Dienstleistungen im Sinne der Kunden verstanden (vgl. Kapitel 4.4). Die entsprechende Spezialsemantik orientiert sich an einem Verständnis von Qualität als Gelingen, wobei Gelingen als realisierter Beitrag zu einem guten 138

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

Leben in einer gerechten Gesellschaft oder enger als gute Arbeit im Sinne einer Teilleistung für diesen Zweck verstanden wird (vgl. Kapitel 1 und 2). Der Code und das diesbezügliche Kommunikationsmedium, mit dem dabei die Arbeit und die diesbezüglichen Anteile der Organisationsmitglieder beobachtet und bewertet werden, ist die Unterscheidung von gelungen/misslungen als Sinnerfüllung und nicht nur als bloßes Funktionieren. Die dazugehörigen Werkzeugbegriffe der Qualitätsentwicklung werden als Klaviatur des Gelingens in diesem Kapitel herausgearbeitet und begründet. Die gesellschaftlichinstitutionellen, organisationalen, interaktionalen und personalen Bedingungen des Gelingens folgen dann abschließend in Kapitel 6. Qualitätsentwicklung ist also ohne die motivierte Beteiligung aller Organisationsmitglieder grundsätzlich nicht möglich. Im Rahmen ihrer Beteiligung müssen sich die Organisationsmitglieder ebenso wie die Organisation selbst als Lernende verstehen. Qualitätsentwicklung ist dann zugleich die Entwicklung der Qualitätsentwickler und die kontinuierliche Weiterentwicklung der Organisation als Ganze. Als Mitglieder ihrer Organisation erleben sich die Einzelnen durch ihre Integration in eine gemeinsame Selbstbeschreibung auf der Basis einer dazugehörigen Spezialsemantik. Es reicht nicht, wenn man in einer Organisation eine/n Beauftragte/n für Qualitätsentwicklung abstellt, der oder die mehr oder weniger von der Sache versteht; die ganze Organisation muss in einem gemeinsamen Verständnis und einer diesbezüglich gemeinsamen Sprache leben. Die Reflexionen im Rahmen der Qualitätsentwicklung – zum Beispiel in regelmäßigen Evaluations- und Entwicklungsworkshops oder kontinuierlich tagenden Qualitätszirkeln – sorgen einerseits dafür, dass das Qualitätsverständnis lebendig bleibt, und andererseits, dass das gemeinsame Verständnis durch die Reflexionen auf eine immer höhere, immer bewusstere und auf eine immer praxisrelevantere Ebene gehoben wird. Die Werkzeugbegriffe Reflexion und Reflexivität werden daher im folgenden Teilkapitel behandelt.

5.3 Reflexion und Reflexivität Der Begriff Reflexion wird häufig als Synonym für Nachdenken gebraucht, das unpopulärere Wort Reflexivität bleibt dahinter deutReflexion und Reflexivität

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lich blasser und meint in einer ersten Annäherung die Möglichkeit des Sichrückbeziehens (Duden, 1982, S. 655). Manchmal gilt aber auch etwas als reflektiert, was reflexiv ist, oder man sieht Reflexivität am Werk, wo sich Reflexion vollzieht. Was genau meint also Reflexion und was Reflexivität? Was ist das Gemeinsame und was das Unterscheidende dieser beiden Begriffe? Gibt es Reflexion ohne Reflexivität und Reflexivität ohne Reflexion? Und was ermöglicht das eine oder das andere, das eine mit dem anderen für die Entwicklung der organisationalen Qualität? Nach einer Klärung der Begriffe Reflexion und Reflexivität wird in Kapitel 5.3.3 dargestellt, wie reflektierte Reflexivität einen klaren Bezug aller Qualitätsmaßnahmen zur Organisation schafft und damit die Sinnhaftigkeit von Qualitätsentwicklung erhöht. 5.3.1 Reflexion Gemeinsam haben Reflexion und Reflexivität den Wortstamm Reflex. Ein Reflex ist eine unwillkürliche, rasche und gleichartige Reaktion eines Organismus auf einen bestimmten Reiz. Sowohl Reflexion als auch Reflexivität bleiben allerdings nicht bei einer quasiautomatischen Reaktion stehen und können damit beide als eine verfeinerte Art der Antwort auf etwas Einwirkendes betrachtet werden. Reflexion bzw. das Verb reflektieren geht etymologisch auf das lateinische reflectere zurück und besteht aus den beiden Bestandteilen re = wieder, zurück und flectere = biegen, beugen. Reflektieren ist also nicht einfach gleichbedeutend mit nachdenken, sondern verweist darauf, dass etwas in einer wiederholten Bewegung geschieht (re) und zu einer Veränderung, einer Biegung, einer Beugung führt (flectere). Damit etwas wieder- oder zurückkehren kann, muss es sich von einem zum anderen bewegt haben. Reflexion ist also ein relationaler Begriff, der mindestens zwei verschiedene Aspekte zueinander in ein Verhältnis setzt und bestimmt wird »in einem notwendigen Wechsel der Bewegung nach Außen und nach Innen« (Schällibaum, 2001, S. 62). Ein reflektierendes Denken ist demnach eines, das unterschiedliche Gesichtspunkte betrachtet und dank dieser Denkbewegung zwischen verschiedenen Aspekten Neues hervorbringen kann. Schopenhauer beschreibt diese relationale Bewegung der Reflexion als ein Pendeln zwischen dem Leben in concreto und dem in abstracto. In concreto, in seiner realen Lebenswirklichkeit, erlebt und erleidet der 140

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

Mensch unmittelbar die Höhen und Tiefen seines Lebens, während er in abstracto, in der abstrahierenden Distanz, die Möglichkeit hat, zurückzutreten und »in diesem Zurückziehen in die Reflexion […] einem Schauspieler [gleicht], der seine Scene gespielt hat und bis er wieder auftreten muß, unter den Zuschauern seinen Platz nimmt, von wo aus er was auch immer vorgehen möge […] gelassen ansieht« (Schopenhauer zit. nach Strässle, 2013, S. 77). Reflexion ist also nie unmittelbar, sondern bedarf gerade eines Rückzugs vom ­Unmittelbaren, einer Distanzierung von der Vereinnahmung durch das Faktische, um die Pendelbewegung nach außen und nach innen zu ermöglichen. Reflexion hat damit auch immer mehrere Bezugspunkte, zu denen sie sich hin- und wegbewegt, die sie einkreist, deren wiederholte und miteinander kombinierte Betrachtung die Betrachtung verändert. Ähnlich argumentiert Kant (1974, S. 24), wenn er die reflektierende Urteilskraft bzw. reflektieren definiert als »gegebene Vorstellungen entweder mit andern, oder mit seinem Erkenntnisvermögen, in Beziehung auf einen dadurch möglichen Begriff, zu vergleichen und zusammen zu halten«. Mit anderen Worten sieht Kant reflektieren dadurch definiert, dass das Denken bzw. der Denkende mehrere Aspekte miteinander in Beziehung setzt. Das können entweder mehrere voneinander verschiedene Denkinhalte bzw. Gegenstände sein, oder das Denken vergleicht seine eigenen Gedanken und Vorstellungen mit den Gedanken, Standpunkten, Handlungen anderer. Der entscheidende Punkt ist, dass diese mehrdimensionale Betrachtung Neues hervorbringt, oder – wie Kant es ausdrückt – »einen dadurch möglichen Begriff«. In jüngerer Zeit hat Daniel Kahnemann (2012) mit seiner Kritik des schnellen, quasi-automatischen Denkens, das sich auf vordergründige Plausibilität verlässt und deshalb häufig Verzerrungen unterliegt, und seinem Plädoyer für den bewussten Einsatz der ergänzenden Fähigkeiten des langsamen Denkens, das multidimensional vorgeht sowie seine eigenen Fallstricke zumindest teilweise kennt und dank dieser Kenntnis zu treffenderen Denkergebnissen kommt, im Grunde exakt die Vorzüge der Reflexion gepriesen, die nicht eindimensional nur Vordergründiges betrachtet, sondern mehrere Aspekte miteinander in Beziehung setzt. Der für die Reflexion unerlässliche Wechsel der Denkbewegung nach außen und nach innen und umgekehrt ist nicht zwangsläuReflexion und Reflexivität

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fig als der Wechsel zwischen der Betrachtung eines äußeren und eines inneren Bezugspunkts zu verstehen, sondern die Reflexion ermöglicht es nach Seel (2006, S. 134) auch in der Selbstbeobachtung, das eigene Befinden und Verhalten zu objektivieren. Das heißt, die Bezugspunkte bleiben innere, aber durch die abstrahierende Distanzierung werden sie wie äußere betrachtet. Damit Selbstreflexion möglich ist, bedarf es einer Differenz von Betrachtetem und Betrachter. Was betrachtet wird und wer betrachtet, darf nicht identisch sein, denn bei einer Identität der Bezugspunkte kann sich die Reflexion weder von einem zum anderen bewegen noch käme es zur Flexion, zur Beugung, zur Veränderung. Nach Charles Taylor (2016, S. 316) erfordert es das neuzeitliche Ideal des Desengagements, »uns durch Selbstobjektivierung von uns selbst zu trennen«, sodass das Selbst aus der »Objektivierung unserer gegebenen Natur und der Abtrennung von ihr hervorgeht« und sich dadurch »ohne weiteres als einer unter vielen Bestandteilen der natürlichen Welt auffassen lässt« (S. 317). Damit kann das Selbst zum Gegenstand der Reflexion werden. Von der Systemtheorie wird Bewusstsein als psychisches System konzipiert. Dieses psychische System ist »an keiner aktuellen Zeitstelle sich selbst zugänglich, es ist immer blind, bezogen auf das, was für es selbst aktuell der Fall ist« (Fuchs, 2010, S. 116). Mit dem Selbst bildet das psychische System deshalb ein Subsystem aus, um eine wiedererkennbare Identität und eine zeitüberdauernde Ansprechbarkeit in der Kommunikation zu ermöglichen: »Die Funktion des Systems SELBST haben wir […] gedeutet als Lösung des Problems, wie das psychische System sich im Kontakt mit Kommunikation auf eine (Wieder)Erkennbarkeit reduzieren und wie es damit als zurechnungsfähige, adressable Einheit fungieren kann« (S. 84 f.). Selbstreflexion ist damit möglich durch die Differenzierung zwischen psychischem System und Selbst. Denn zur Reflexion gehört unverzichtbar eine Bewegung von etwas zu etwas anderem, damit eine Veränderung (der denkenden Betrachtung) stattfinden kann. Derjenige, der reflektiert, ist so verstanden immer etwas anderes, in gewissem Sinne mehr als das, was reflektiert wird – das psychische System als Ganzes geht nicht in der Selbstreflexion auf, sondern reflektiert wird das Subsystem Selbst. 142

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

5.3.2 Reflexivität Wenn in diesem Sinne von Selbstreflexion gesprochen wird, dann entsteht eine inhaltliche Nähe zum Begriff der Reflexivität. Denn reflexiv bedeutet zunächst nichts anderes als in Relation zu sich selbst stehend; und in Relation zu sich selbst stehen kann ein Selbst durchaus, auch wenn es sich – wie bereits ausgeführt – nicht vollumfänglich selbst reflektieren kann. Reflexivität als ein Verhältnis zu sich selbst wird in dem Maße, in dem das Bewusstsein für Komplexität und wechselseitige Abhängigkeiten gewachsen ist und weiter wächst, in unterschiedlichen Feldern zunehmend sichtbar. Themenbereiche aus Mathematik, Sprachwissenschaft, Biologie, Ökonomie und Soziologie gelten als reflexive Phänomene. Tatsächlich sind es ja auch die Mathematik und die Sprachwissenschaft, in denen schon längst wie selbstverständlich reflexive Relationen oder reflexive Verben verhandelt werden. Ein reflexives Verb zum Beispiel drückt die Tätigkeit eines Subjekts aus, die sich auf es selbst bezieht, wie im Satz ›Max weigert sich‹. Und auch für die Fachlichkeit der Sozialen Dienstleistung wird eine reflexive Professionalität als »Re-Professionalisierung im Zeitalter des Neoliberalismus« gefordert (Dewe, 2016). Doch nicht nur Wissenschaftsbereiche, sondern unsere gesamte sogenannte zweite Moderne wird als reflexiv aufgefasst (Beck, Giddens u. Lash, 1996). Damit ist unter anderem gemeint, dass nicht mehr »die Steigerung von Zweckrationalität durch immer bessere Naturerkenntnis (Reflexion) und die damit verbundene Möglichkeit zum immer effizienteren Einsatz wissenschaftlich-technischer Produktivkräfte, sondern die ungesehenen Nebenfolgen industrieller Produktion […] mehr und mehr zum eigentlichen Movens der Gesellschaft (Reflexivität)« werden (Dörre, 2002, S. 58). Das heißt, die zweite Moderne ist dadurch charakterisiert, dass sie sich zunehmend um die von ihr selbst produzierten Risiken und Nebenfolgen kümmern muss. Mehr noch: Die reflexive Modernisierung beschäftigt sich nicht nur mit ihren selbst geschaffenen Phänomenen, sondern schafft sich auch selbst ab, indem »die ›Traditionen‹ und Sicherheiten der Industriegesellschaft selbst zum Gegenstand von Auf- und Ablösungsprozessen werden. Genau dies meint Selbstanwendung« (Beck et al., 1996, S. 39). Damit steht die zweite Moderne in Relation Reflexion und Reflexivität

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zu sich selbst, sie ist eindeutig reflexiv, nicht aber reflektiert, da ihre Nebenfolgen ungewollt und unbeabsichtigt sind. Auch Schäffter (2001) sieht in unserer von ihm so bezeichneten Transformationsgesellschaft reflexive Prozesse am Werk, wenn er feststellt, dass Lernprozesse in der Weiterbildung zunehmend als reflexive Transformationen gestaltet werden. Die reflexive Transformation fasst Lernen als permanente Selbstvergewisserung mit kontinuierlicher reflexiver Orientierung auf, bei der sowohl der Ausgangspunkt des Lernens (Zustand A) als auch dessen Zielvorstellung (Zustand B) nicht eindeutig bekannt bzw. (wiederholt) bestimmungsbedürftig sind (Schäffter, 2001, S. 32). Luhmann (1991, S. 600 ff.) sieht Reflexivität und Reflexion neben der sogenannten basalen Selbstreferenz als zwei Erscheinungsformen von insgesamt drei Arten der Selbstreferenz: Reflexivität als prozessuale Selbstreferenz ist gekennzeichnet durch eine zeitliche Unterscheidung von vorher und nachher, während Reflexion auf der Unterscheidung von System und Umwelt, von innen und außen basiert. Als Beispiel für Reflexivität nennt Luhmann Kommunikationsprozesse, in deren Verlauf über den Kommunikationsprozess kommuniziert wird. Das stimmt überein mit den bisherigen Ausführungen zu der Pendelbewegung der Reflexion zwischen innen und außen und der Charakterisierung der Reflexivität als zu sich selbst in Relation stehendem Prozess. Wenn also – zusammenfassend ausgedrückt – Reflexion eine denkende Erkundung, eine Bewegung zwischen zwei oder mehr Bezugspunkten ist, und Reflexivität aufgefasst werden kann als ein Sichrückbeziehen auf sich selbst, dann stellt sich erneut ein Teil der Eingangsfragen, und zwar: Was ist das Gemeinsame und was das Unterscheidende dieser beiden Begriffe? Gibt es Reflexion ohne Reflexivität und Reflexivität ohne Reflexion? Und wozu ist das wichtig? Was ermöglicht das eine oder das andere, das eine mit dem anderen für die Entwicklung der organisationalen Qualität? 5.3.3 Reflektierte Reflexivität: Wie Qualitätsentwicklung Sinn macht Die für unsere Überlegungen spannende Frage lautet, wie die Verschränkung von Reflexion und Reflexivität zu denken ist und welche Rolle Reflexion und Reflexivität bei der Qualitätsentwicklung 144

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

spielen. Offenbar ist Reflexion auch ohne Reflexivität sinnvoll möglich, denn eine reflektierende Bewegung zwischen verschiedenen Bezugspunkten, zwischen außen und innen, ist möglich, ohne dass die Bezugspunkte zu sich selbst in Beziehung stehen. Dennoch sind Reflexionsstrukturen denkbar, bei denen Reflexivität eine Rolle spielt. Umgekehrt sollte Reflexivität – will sie nicht wie im Fall der reflexiven Modernisierung blind bleiben für ihre eigenen Verursachungen – reflektiert sein, womit sie als ein Sonderfall der Reflexion betrachtet werden kann, nämlich als ein Reflexionsprozess mit Bezugspunkten, die in Relation zu sich selbst stehen und eine reflexive Verschiebung bewirken. Diese Differenz in der Identität ist das, was Reflexivität kennzeichnet (Schällibaum, 2001, S. 327). Reflexive Verschiebung bedeutet, dass sich die Betrachtung nicht wie in der Reflexion zwischen mehreren klar unterschiedenen Aspekten bewegt, sondern dass der Bezugspunkt in Relation zu sich selbst steht, sich aber gleichzeitig ein Unterschied, eine Verschiebung, ergibt. Diese reflexive Verschiebung entsteht entweder durch eine zeitliche Differenz (so wie die reflexive Modernisierung mit zeitlicher Verschiebung ihre eigenen Probleme reflexiv schafft) oder durch eine Differenz zwischen Betrachtetem und Betrachter (so wie in der Selbstreflexion, bei der der Betrachtende sein Selbst reflektiert, als psychisches System jedoch niemals identisch ist mit dem Reflektierten). Reflexion und Reflexivität können also miteinander verbunden sein innerhalb einer besonders gearteten Reflexionsstruktur, die eine reflektierende Bewegung auf sich selbst hin vollzieht. Reflexion und Reflexivität können sich aber auch ganz unabhängig voneinander vollziehen. Im Falle der Reflexion ist das sinnvoll möglich durch die Wahl zweier oder mehrerer Bezugspunkte, die reflektiert werden, während die Isolierung der Reflexivität von der Reflexion zwar möglich, aber mit Risiken verbunden ist, die ohne die Einbettung in eine Reflexionsstruktur unreflektiert bleiben. Zur erhellend erkenntnisfördernden und fundiert handlungsleitenden Funktion von Reflexion und Reflexivität hat Kierkegaard mit seiner Untersuchung der sogenannten Doppelreflexion aufschlussreiche Aspekte beigesteuert (Thurnher, Röd u. Schmidinger, 2002, S. 34). Kierkegaard beschreibt das reflektierende Denken als ein Hinausgehen über das Wirkliche, das faktisch Gegebene, in Richtung auf Reflexion und Reflexivität

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das Mögliche, das Allgemeine und Normative. Die Reflexion vollzieht sich nach Kierkegaard also in der für sie typischen Pendel­ bewegung zwischen Konkretem und Abstraktem, zwischen tatsächlicher Lebenswirklichkeit und dem, wie es sein könnte (Möglichem) und sein sollte (Normativem). Bleibt das Denken bei dieser reflektierenden Erkundung stehen, so ist es ein objektives Denken ohne Handlungsrelevanz. Der subjektive Denker jedoch muss die Grenzen des Denkens erkennen, muss es als Denken suspendieren, »um dem Handeln und der Entscheidung sowie einer neuen, heterogenen Qualität des Erfassens Raum zu geben« (Thurnher et al., 2002, S. 35). Die Doppelreflexion, die das objektive, reine Denken überschreitet, verlangt einen Sprung vom denkend Erkannten in die Unsicherheit des Handelns unter konkreten lebensweltlichen Bedingungen. Das bedeutet, das reflektierte Allgemeine muss vom Individuum ergriffen werden, das faktisch Gegebene wird erst durch handelnde Aneignung zur subjektiven Wahrheit. Dieser Aspekt ist besonders wichtig, wenn wir ihn auf Reflexivität übertragen. Insbesondere das, was in Relation zu sich selbst steht, muss ergriffen und angeeignet werden, wenn es sich im Handeln als sichtbarer Ausdruck der Identität zeigen soll. Weder eine unbewusste Reflexivität (also eine solche, die sich urwüchsig ohne Reflexion vollzieht) noch eine abstrakt bleibende Reflexivität (die sich nicht in einem veränderten Handeln manifestiert) kann als gelungen gelten. Anzustreben ist also eine reflektierte Reflexivität mit klarer Handlungsleitung. Denn wie am Beispiel der reflexiven Modernisierung gezeigt wurde, birgt die Reflexivität der zweiten Moderne Gefahren, weil sie zwar reflexiv, aber nicht reflektiert ist und ihre unbeabsichtigten Nebenfolgen unerkannt bleiben bzw. erst nach ihrem Eintreten erkennbar werden. Einer unreflektierten reflexiven Modernisierung fehlt die klare Reflexion als Denkbewegung zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, wozu auch die reflektierende Erkundung der möglichen Auswirkungen geplanter Handlungen gehört. Das volle Potenzial des Zusammenspiels von Reflexion und Reflexivität ausschöpfen würde eine Gesellschaft, die das urwüchsige Wuchern ihrer Selbstbezüglichkeit (Reflexivität) durch Reflexion auf andere Bezugspunkte eindämmen würde (wie alternative Wirtschafts- und 146

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

sozialpolitische Formen oder verschiedene, nicht nur kurzfristige, sondern auch mittel- und langfristige Zeitpunkte des Eintretens der zu erwartenden Wirkungen). Insbesondere problematische ökologische Auswirkungen ließen sich durch eine reflektierende Berücksichtigung größerer Zeitspannen besser vorwegnehmen, womit eine verändernde Zurückwirkung (Re-Flexion) auf die Ausgangspunkte der Überlegungen ermöglicht würde. Der Kierkegaard’sche Sprung als Kennzeichen der Doppelreflexion wäre dann noch erforderlich, damit das denkend Erkannte in Handlungen münden kann. Unbeabsichtigte Nebenfolgen sind auch aus dem Change Management bekannt, wenn Abweichungen vom geplanten Verlauf als vermeintliche Fehlentwicklungen häufig so lange wie möglich ignoriert werden und unreflektiert bleiben. Die Reflexivität des Prozesses sorgt in diesen Fällen als unreflektierte Selbstbezüglichkeit für ein Weitermachen mit Scheuklappen, für mehr desselben trotz der Warnsignale des Systems, und verhindert, dass Abweichungen als Lernchancen erkannt werden und nachhaltige Veränderung stattfinden kann. Wie können nun Organisationen Reflexion und Reflexivität für ihre eigene Entwicklung nutzbar machen? Für die Qualitätsentwicklung in Organisationen der Bildung, Beratung und Sozialen Dienstleistung gilt, dass diese umso nachhaltiger wirkt, wenn ihre Themen und Maßnahmen in eindeutigem Bezug zur Organisation selbst stehen, also wenn sie die Identität ihres Gegenstands fokussieren und entfalten. Damit wird mit Blick auf die Qualitätsentwicklung deutlich, dass es weniger um das Was als um das Wie und Warum geht. Irreflexiv ist ein eher quantifizierender Fokus, der die Anzahl der Qualitätsmaßnahmen (das Was) stolz vorweist, ohne zu untersuchen, wie Qualität umgesetzt wird und warum zur Entfaltung des Qualitätsverständnisses bzw. zur Veränderung der Organisation genau diese Maßnahmen ausgewählt wurden. Es geht also nicht nur um das Tun, sondern auch um ein Bewerten und Schlussfolgern. Wenn es in der Qualitätsentwicklung vorrangig um die Erfüllung extern gesetzter Anforderungen geht, dann gerät das Wie und Warum und damit die Reflexivität in den Hintergrund. Was die Qualitätsentwicklung mit der organisationalen Identität zu tun hat und wie e­ rstere die Organisationsidentität schärfen und zum Ausdruck bringen kann, bleibt bei dieser Blickrichtung unerkannt. Reflexion und Reflexivität

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Des Weiteren wurde deutlich, dass zu einem gelungenen Zusammenspiel von Reflexion und Reflexivität gehört, dass die Reflexivität reflektiert wird und damit eine Denkbewegung vollzieht von dem, was ist, zu dem, was sein könnte. Es geht bei der Qualitätsentwicklung von Organisationen also nicht nur um eine fortwährende Reproduktion ihrer Identität, wie sie bei alleiniger Berücksichtigung des Postulats der Reflexivität entstehen könnte. Vielmehr ist die Organisation bei ihrer Qualitätsentwicklung aufgerufen, die Fesseln des Faktischen zu überwinden und ihr Denken zu bewegen zwischen dem, wie sie ist, und dem, wie sie sein will. Damit sich diese Denkbewegung zwischen Realem und Möglichen vollziehen kann, braucht eine Organisation einen ausgeprägten Möglichkeitssinn. Mit anderen Worten: Sie braucht Kenntnisse und Kreativität, und zwar vielfältige Kenntnisse zum Beispiel über eigene und andere Organisationstypen und -kulturen, über interne Ansprüche und externe Anforderungen ihrer relevanten Umwelten, über eigene latente Wertvorstellungen und andere denkbare Wertewelten etc. Kreativität braucht die Organisation, um experimentell zu denken, um ungewöhnliche Zukunftsentwürfe zu gestalten, um Entwicklung jenseits der gewohnten Pfade zu denken. Handlungsrelevant werden diese reflektiert-reflexiven Überlegungen durch den Kierkegaard`schen Sprung vom objektiven Denken zum subjektiven, situationsgebundenen Handeln. Wenn eine Organisation sich reflexiv zu sich selbst verhält, wenn sie zugleich in dieser Reflexivität reflektiert vorgeht und eine Denkbewegung vom Faktischen zum Möglichen und zurück vollzieht, so kann dies absolut folgenlos bleiben ohne den Sprung in die Handlung. Im Change Management ist bekannt, dass sich organisationale Veränderung nur dann vollzieht, wenn Strukturen geändert werden, also wenn strukturelle Voraussetzungen für anderes Handeln geschaffen werden (z. B. in Form veränderter Entscheidungsverfahren oder anderer Kommunikationswege). Ähnliches gilt auch für gelingende Reflexivität. Damit Reflexivität kein Selbstzweck ist, sondern den roten Faden der Organisations- und Qualitätsentwicklung bildet, muss die Organisation ihren spezifischen Weg finden, das als wünschenswert Erkannte in ihrer konkreten Situation zum Ausdruck zu bringen, also genau die (Qualitäts-)Maßnahmen zu entwickeln oder auszuwählen, die ihre Identität erkennbar machen und weiterentwickeln. 148

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

Die Lerner- und Kundenorientierung ist so eine Figur der reflektierten Reflexivität. Dabei geht es zunächst nicht um eine Orientierung an empirischen individuellen Lernenden bzw. Kunden, sondern um eine Reflexion, die auf sich zurückwirkt. Ausgehend vom eigenen professionellen Selbstverständnis der Leistungserbringung wird in einem ersten Schritt eine allgemeine Zielbestimmung vorgenommen, in der und mit der die Qualität der eigenen Leistungen – bezogen auf einen gedanklich eingenommen Kundenstandpunkt – als bestmögliches Leistungsergebnis definiert wird. Diese Definition des Gelungenen dient dann als regulierende Idee – oder wie man auch alltagssprachlich sagen kann: als roter Faden –, anhand dessen die Bedingungen der Leistungserbringung gestaltet werden. In einem zweiten Schritt wird dann mithilfe von aus der Definition abgeleiteten Indikatoren das Gelingen der Leistungserbringung evaluiert, wobei das Ergebnis der Evaluation nicht nur Maßstab der Messung der Zielerreichung ist, sondern auch Anlass bietet, auf die vorausgegangene Definition des Gelungenen zurückzublicken, um gegebenenfalls Veränderungen der eigenen Zielbestimmung in Bezug auf die konkreten, jetzt empirisch vorfindlichen Kundenbedürfnisse vorzunehmen. Diese sich spiralförmig wiederholende Reflexionsbewegung vollzieht sich gewissermaßen iterativ (schrittweise) mit dem Ergebnis, dass die Definition des Gelungenen mit empirischer Erfahrung aufgeladen und verbessert wird. Dadurch verbessert sich wiederum die eigene professionelle Zielbestimmung zur Gestaltung der organisationalen Leistungsbedingungen kontinuierlich. Dazu ist ausdrücklich nicht erforderlich, dass sich die Organisation vor dem Handeln unerschütterlich sicher ist, welche Maßnahmen die richtigen sind und welche nicht. Vielmehr hört die Erkundung der Möglichkeiten mit der Entscheidung für bestimmte Maßnahmen nicht auf, sondern nach der Wahl ist erneut zu überprüfen, ob die gewählten Optionen die eigene Identität passend zum Ausdruck bringen und ob sie tatsächlich auf einer angemessenen Denkbewegung zwischen Faktischem und Möglichem basieren, oder ob sich die Organisation möglicherweise getäuscht hat, beispielsweise über bestimmte Erwartungshaltungen ihrer Anspruchsgruppen. Reflektierte Reflexivität hört also nie auf, sondern ist zyklisch zu verstehen, jedoch nicht zirkulär als ewige Wiederholung des Gleichen, sondern als Kreislauf Reflexion und Reflexivität

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und Qualitätsspirale, das heißt als kontinuierliche Qualitätsentwicklung, die sich immer weiter annähert an das nie gänzlich erreichbare Ideal der gewünschten spezifischen Organisationsidentität, die sich im Leitbild und der Definition des Gelungenen ausdrückt. Damit ist etwas skizziert, was als generative Reflexivität bezeichnet werden kann, als eine Art von Reflexivität, die es ermöglicht, in Beziehung zu sich selbst zu stehen, wie man künftig sein könnte und möchte. Organisationen sollten bei ihrer Qualitätsentwicklung also unbedingt dafür sorgen, dass Reflexion und Reflexivität bzw. reflektierte Reflexivität in den Prozess strukturell integriert sind. Bei den Modellen der Lerner- und Kundenorientierten Qualitätsentwicklung ist die reflektierte Reflexivität zum Beispiel durch die im Selbstreport geforderte Selbstbeschreibung und die Anforderung, die gewählten Qualitätsmaßnahmen immer auf das eigene, organisationale Leitbild und die Definition des Gelungenen zurückzubeziehen, bereits integraler Bestandteil. Erst wenn Qualitätsentwicklung reflektiert reflexiv ist, also den Kern der organisationalen Identität als Reflexionspunkt erfasst und auf diesen entwickelnd zurückwirkt, macht sie Sinn und ist nicht länger Erfüllungsgehilfin fremd gesetzter Normen. Deshalb ist Qualitätsentwicklung eben sinnvoll nur als Organisationsentwicklung möglich (vgl. Kapitel 4.4). Joachim Merchel beklagt Sinndefizite in der Praxis des Qualitätsmanagements und verweist auf die Funktion der Reflexion zur Schaffung von Sinnhaftigkeit »durch das Erzeugen und das organisationale Verankern von Reflexionsimpulsen im Hinblick auf vorangegangene Prozesse und Ergebnisse« (2017, S. 368). Damit werde nach der Reduktion von Komplexität (z. B. durch definierte Prozessabläufe) als erster Ausrichtung bei der Sinnzuschreibung an Qualitätsmanagement die zweite Ausrichtung der Erweiterung von Komplexität ermöglicht, indem Qualitätsentwicklung »zur Erzeugung von Irritationen, zur reflektierten und – wenn es methodisch klug eingesetzt wird – maßvollen, d. h. in der Organisation verarbeitbaren Destabilisierung« dient (S. 368). Reflexion kann nach Merchel also Sinnhaftigkeit der Qualitätsentwicklung schaffen durch die Erzeugung der beiden Sinnausrichtungen Reduktion von Komplexität und Erweiterung von Komplexität. Bei genauem Lesen finden sich hier auch Hinweise auf reflexive Prozesse, denn wie bereits gezeigt 150

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

wurde, kann eine reflexive Verschiebung durch eine zeitliche Differenz entstehen, also auch »im Hinblick auf vorangegangene Prozesse und Ergebnisse«. Diesen Gedanken der Erzeugung von Sinnhaftigkeit in der Qualitätsentwicklung aufgreifend, könnte die Reduktion bzw. Erweiterung von Komplexität auch als Mittel zum Zweck einer grundlegenderen Sinnausrichtung aufgefasst werden. Diese grundlegende Sinnausrichtung besteht nach unserer Auffassung im Zweck der Qualitätsentwicklung, der guten Arbeit (vgl. Kapitel 2). Gute Arbeit ist neben der Identität und Praxis der jeweiligen Organisation einer der wesentlichen Bezugspunkte, zwischen denen sich das reflektierende Denken bewegen kann, um Qualität so zu entwickeln, dass die Ermöglichungsbedingungen guter Arbeit geschaffen werden und gute Arbeit als Ergebnis wahrscheinlicher wird. Damit Qualitätsentwicklung nicht auf der Ebene vermeintlich universal gültiger Erfolgsrezepte und nachzuahmender Best-Practice-Beispiele verbleibt, sondern organisationsspezifisch wird, muss noch das Element der Reflexivität hinzukommen. Reflexivität als die Möglichkeit des Sichrückbeziehens beantwortet in der Qualitätsentwicklung die Frage danach, was die Qualitätsarbeit mit der eigenen Organisation und ihren Mitarbeitenden zu tun hat und wie die Qualitätsmaßnahmen dazu beitragen können, die organisationale Identität auszudrücken und weiterzuentwickeln. Reflexivität ist dabei kein äußerliches Phänomen oder eines, das überlegt konstruiert werden kann. Ob die reflektierte Reflexivität tatsächlich den Identitätskern der Organisation berührt, ob sie das Feuer der Mitarbeitenden zu entfachen vermag, zeigt sich am Vorhandensein oder am Fehlen von Resonanz. Resonanz ist »eine durch Affizierung und Emotion, intrinsisches Interesse und Selbstwirksamkeitserwartung gebildete Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren und zugleich transformieren« (Rosa, 2016, S. 298). Äußere Reize allein bringen keine reflexiven Prozesse in Gang (höchstens reflektierende), sondern die innere Resonanz, die inneren Verhältnisse, die sich in der Reflexivität zu sich selbst verhalten. Vermittelt über Resonanzerfahrungen – also dem Gefühl, dass etwas re-soniert, wiedertönt, etwas innerlich zum Klingen gebracht wird – werden Reflexionen als reflexiv erkannt und Reflexion und Reflexivität

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zeigen Organisationen den Weg zu einer sinnhaften Qualitätsentwicklung, die die Entfaltung der Organisationsidentität zum Maßstab des Gelingens macht und eine spezifische Ausformung des Zwecks der Qualitätsentwicklung, der guten Arbeit, ermöglicht.

5.4 Führung und Kooperation Gegenstand von Führung ist das jeweilige Gesamtsystem Organisation und dessen Zukunftsfähigkeit. Führung versorgt die Organisation mit anschlussfähigen Entwicklungsimpulsen und behält sowohl die internen Ressourcen als auch die externen Erwartungen und Ansprüche im Blick. Damit fokussieren Führung und Qualitätsentwicklung auf sehr ähnliche Aspekte bzw. stehen miteinander in einem Mittel-ZweckVerhältnis: Ohne wirksame Führung kann Organisations- und Qualitätsentwicklung nicht gelingen. Wie es die Kernleistung von Führung ist, unter den beteiligten Akteuren ein tragfähiges Ja zu entwickeln und zu kommunizieren (Baecker, 2003, S. 281), so dient interne und externe Kooperation dazu, die konsentierten Fortsetzungsbedingungen des Systems in gemeinsame Handlungen umzusetzen. 5.4.1 Führung Je nach Disziplin, historischem Bezugspunkt und zugrunde liegendem Organisationsverständnis kommen Wissenschaftlerinnen und Praktiker in Bezug auf das Phänomen der Führung zu äußerst unterschiedlichen Bewertungen und Schlussfolgerungen. Diese mitunter verwirrende Vielfalt zeigt sich schon daran, dass in der Fachliteratur teilweise zwischen Management und Führung unterschieden wird (Wimmer, 2016; Baecker, 2011), während andere Autoren die »Differenzierung der handelnden Akteure: auf der einen Seite hemdsärmelige Praktiker, die bereit sind, die entsprechenden Programme effizient umzusetzen, und auf der anderen Seite Leader, die für Überblick sorgen, visionär in die Zukunft schauen und das entsprechende Zutrauen mobilisieren, indem sie signalisieren, die Dinge im Griff zu haben« (Krusche, 2008, S. 107), für wenig hilfreich halten. In der Tat scheint die Abgrenzung von Führung und Management vor allem aus einer historischen bzw. länderspezifischen Perspektive erhellend zu sein und bildet sich heutzutage und hierzulande in der Praxis vie152

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

ler Organisationen – insbesondere der Organisationen aus Bildung, Beratung und Sozialer Dienstleistung – nicht ab. In der amerikanischen Denktradition ging die Differenzierung zwischen Eigentümern und angestellten Managern einher mit einer Unterscheidung zwischen Führung (Leadership) und Management, wobei es sich bei dieser Leitdifferenz nicht um konträre Optionen handelt, »sondern um zwei einander ergänzende Steuerungsmuster, die nur zusammen für den nachhaltigen Erfolg von Unternehmen sorgen« (Wimmer, 2016, S. 5). Vereinfacht ausgedrückt, soll das Management nach dieser Betrachtungsweise dafür sorgen, dass die in der Organisation zu erledigenden Aufgaben richtig im Sinne eines ökonomischen Nutzenkalküls gemacht werden, während Leadership die grundlegende Definition der richtigen Aufgaben liefert. Damit befindet sich die Unterscheidung zwischen Leadership und Management in auffälliger inhaltlicher Nähe zu der bekannten Differenzierung zwischen effektiv und effizient: Während Effektivität den Grad der Zielerreichung bzw. der Wirksamkeit von Organisationen, Projekten oder Maßnahmen beschreibt, drückt Effizienz das Maß der Wirtschaftlichkeit als Kosten-Nutzen-Relation aus. Eine Nebenwirkung dieses Verständnisses von Leadership und der klaren Abgrenzung zum Management ist die enge Verknüpfung unternehmerischer Gestaltungsdimensionen wie Strategieentwicklung, visionärer Sinnstiftung und der Organisationstransformation mit »genau dazu passenden Großartigkeitsvorstellungen der handelnden Personen« (Wimmer, 2016, S. 6). Das Führungsparadigma der Great-Man-Theory war geboren; Leadership erschien damit vor allem als Ausdruck bestimmter angeborener Führungseigenschaften und weniger als erlernbare Steuerungsaufgabe von Organisationen. Obwohl die Great-Man-Theory bereits 1860 von Herbert Spencer mit dem Hinweis auf den Einfluss historisch-situationaler Aspekte relativiert worden ist und sich auch empirisch in ihrer universellen Gültigkeit nicht belegen ließ, finden sich bis heute in leicht abgewandelter Form Auswirkungen der Eigenschaftstheorie der Führung, beispielsweise wenn Künstler, Handwerker und Technokraten im Management unterschieden werden (Pitcher, 1998). Auch scheint der in manchen Unternehmen betriebene Personenkult und die damit einher gehende Machtzuschreibung an einzelne Personen ungebrochen. Führung und Kooperation

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Entschieden vom Heroismus insbesondere amerikanischer Managementtheorien abgewendet hat sich Dirk Baecker (2011) mit seinem Konzept der postheroischen Führung. Heroische Führung widmet sich einer klaren Idee bzw. einem definierten Ziel und verfolgt diese um jeden Preis – Triumph oder Untergang lautet die Alternative: »Die erfolgreiche heroische Führung unterwirft die Welt der eigenen Organisation, die erfolglose lässt die eigene Organisation in der Welt verschwinden« (S. 269). Demgegenüber konzipiert die postheroische Führung Organisationen »nicht mehr als zieldefinierte, sondern als zielsuchende Systeme« (S. 273), das heißt sie »tasten gleichsam ihre relevanten Umwelten nach ungelösten Fragestellungen ab, die sich dafür eignen, die Organisation als Organisation zu reproduzieren« (Wimmer, 2009, S. 23). Postheroische Führung agiert situativ und prozessorientiert, sie überprüft immer wieder neu, welche Analysen, Ideen, Maßnahmen in welcher Situation wirksam sind. Dabei soll sich die Fähigkeit zur situationsbezogenen Problemlösung nicht auf wenige einzelne Führungskräfte beschränken, sondern diese Ressource soll organisational verteilt und verallgemeinert werden. Baecker unterscheidet postheroisches Management von postheroischer Führung: Während der postheroische Manager die beiden Seiten der Unterscheidung Organisation und Wirtschaft stärkt, »also sowohl die Komplexität der Organisation als auch die Komplexität der Wirtschaft bedient, um dann ebenso selektiv wie konstruktiv […] Organisation und Wirtschaft aufeinander zu beziehen und Entscheidungen zu treffen« (2011, S. 278), unterscheidet die postheroische Führung in einer vergleichbaren Denkfigur die Organisation von der Gesellschaft und bezieht diese aufeinander. Im weiteren Verlauf der Führungsforschung sorgten insbesondere institutionenökonomische Ansätze dafür, dass andere Gesichtspunkte als individuelle Eigenschaften als Einflussfaktoren funktionierender Führung in den Blickwinkel gerieten. Als eine Spielart davon hat die Prinzipal-Agent-Theorie relationale Aspekte von Führung analysiert, also die Führungsbeziehungen als das Verhältnis von Leitungskräften zu ihren Mitarbeitenden. Diese Beziehungen werden »über alle Hierarchieebenen hinweg als vertragsbasierte Beziehungen zwischen Auftraggebern (Principal) und Auftragnehmern (Agents) konstruiert« (Wimmer, 2016, S. 8), sodass es bei Führung vorran154

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gig um Aushandlungsprozesse geht mit dem Ziel, zu bearbeitende Aufgaben und zu erreichende Ziele möglichst eindeutig festzulegen. Um die organisationalen Ziele zu erreichen, soll die Arbeitsbereitschaft der Mitarbeitenden durch Anreize sichergestellt und damit ein Abgleich geschaffen werden zwischen organisationalen Leistungserwartungen einerseits und den persönlichen Interessen und Zielen der Mitarbeiter/-innen andererseits. Führung wird im Prinzipal-Agent-Paradigma vorrangig als Interaktion zwischen Leitung und Geführten betrachtet, die Besonderheit von Organisationen als soziale Systeme bleibt ein blinder Fleck. Der Grundgedanke, dass Führung vor allem ein interaktionales Geschehen ist und von der individuellen Motivation der Beteiligten abhängt, kennzeichnet auch das aktuellere Stewardship-Prinzip der Führung (Donaldson u. Davis, 1991). Doch während die PrinzipalAgent-Theorie davon ausgeht, dass die Akteure vor allem eigennützigen Antrieben folgen und ökonomisch-extrinsisch motiviert werden müssen, um sich von übergeordneten organisationalen Interessen leiten zu lassen, ist das Menschenbild der Stewardship Theory of Management positiver. Leitgedanke des Stewardship-Prinzips ist es, dass Akteure von sich aus intrinsisch motiviert sind, »im Sinne der übernommenen Aufgaben erfolgreich wirksam werden zu können und dafür die erforderlichen Kooperationsbedingungen selbst aktiv bereitzustellen, ohne dabei den persönlichen Nutzen ständig vor Augen zu haben« (Wimmer, 2016, S. 12). Vor diesem Hintergrund ist es die primäre Aufgabe von Führung, vertrauensvolle zwischenmenschliche Verhältnisse herzustellen, die den gemeinsamen Erfolg als Resultat gelingender Kooperation belohnen. Vertrauen ist ein wesentlicher Faktor für die Überlebensfähigkeit von Organisationen, denn Vertrauen weitet den Zeithorizont eines Systems aus: »Ohne Vertrauen sind nur sehr einfache, auf der Stelle abzuwickelnde Formen menschlicher Kooperation möglich […]. Vertrauen ist unentbehrlich, um das Handlungspotential eines sozialen Systems über diese elementaren Formen hinaus zu steigern. […] Durch Vertrauen gewinnt ein System Zeit, und Zeit ist die kritische Variable auf den Aufbau komplexer Systemstrukturen« (Luhmann, 2014, S. 117). Das Stewardship-Prinzip ist offensichtlich anschlussfähig insbesondere für Organisationen in Bildung, Beratung und Sozialer DienstleisFührung und Kooperation

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tung, da die Mitarbeitenden dieses Organisationstyps in den meisten Fällen hoch identifiziert mit ihrer Arbeit und interessiert an deren gesellschaftlichem Nutzen sind. Als weitere Spielart der Analyse nützlichen Führungsverhaltens ist die Unterscheidung zwischen Aufgaben- bzw. Ergebnisorientierung auf der einen Seite und Beziehungsorientierung auf der anderen Seite bekannt geworden. Da sich immer mehr die Erkenntnis durchsetzt, dass es keinen einzig richtigen Führungsstil für alle Situationen gibt, wird aktuell »im Rahmen eines situativen Modells der adäquate Einsatz transformationaler bzw. transaktionaler Führung gefordert« (Achouri, 2011, S. 186) und damit auch je nach Situation eine stärkere Gewichtung von Aufgaben- oder Beziehungsorientierung. Transaktionale Führung basiert wie der Prinzipal-Agent-­Ansatz auf der Gestaltung von Austauschprozessen zwischen Führungskräften und ihren Mitarbeitenden. Entscheidend sind eher nüchterne Aspekte des angemessenen Ausgleichs der Interessen beider Seiten; Führung wird als Gestaltung eines sachlichen Austauschverhältnisses (Transaktion) zwischen Leistung (der Mitarbeitenden) und Reaktion der Führungskräfte betrachtet in Form positiver wie negativer Sanktionen (Lob, Anreizsysteme, Tadel, Einkommenseinbußen). Das von dem Amerikaner Bernard M. Bass entwickelte Konzept der transformationalen Führung wird als Weiterentwicklung des transaktionalen Ansatzes gesehen und bezeichnet einen Führungsstil, bei dem durch das Transformieren, also die Umgestaltung von Werten und Einstellungen der Geführten – weg von egoistischen, individuellen Zielen hin zu langfristigen, übergeordneten Zielen – eine Leistungssteigerung im Sinne der organisationalen Zwecke stattfinden soll. Transformationale Führungskräfte wollen ihre Mitarbeitenden motivieren, indem sie attraktive Visionen vermitteln, den gemeinsamen Weg zur Zielerreichung kommunizieren, als Vorbild auftreten und die individuelle Entwicklung der Mitarbeiter/-innen unterstützen. Anders als beim Stewardship-Prinzip geht die transformationale Führung nicht davon aus, dass Menschen von sich aus ein Interesse an sinnvollem Arbeitsengagement haben, sondern es ist Aufgabe der Führungskraft, dieses Interesse zu schaffen. Aufschlussreich ist, dass bei der transformationalen Führung das Relikt der charismatischen Führungskraft mit besonderen Führungseigen156

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

schaften erneut ins Spiel kommt, wenn auch abgeschwächt durch den Hinweis auf die Bedeutsamkeit der Geführten, also »die individuelle Berücksichtigung von Mitarbeitern sowie deren intellektuelle Herausforderung« (Achouri, 2011, S. 188). Die situative Gebundenheit wirksamen Führungsverhaltens führte in den letzten Jahren verstärkt dazu, dass nicht mehr einzelne Stile propagiert werden, sondern eine Fülle an möglicherweise funktionalen Verhaltenselementen, also »das Spektrum der möglichen Zutaten und nicht das konkrete Rezept« präsentiert wird (Kell, 2005, S. 7). Auch Fredmund Malik (2001) beschreibt eine Vielzahl von Grundsätzen, Aufgaben und Werkzeugen wirksamer Führung, die ohne zugrunde liegende Theorie oder verbindende konzeptionelle Idee etwas unverbunden wirken. Eine stärkere Orientierung entsteht durch die Fokussierung auf Metafähigkeiten von Managern bzw. Führungskräften, wie sie unter anderem in der Förderung von Achtsamkeit (Weick u. Sutcliffe, 2003) oder einer Erhöhung der Eigenkausalität (Scharmer, 2009, S. 375) gesehen werden. Auch das »Denken im zweiten Futur«, also die Fähigkeit, »ein zukünftiges Ereignis so zu behandeln, als sei es schon vorüber«, ist nach Weick (1998, S. 282 f.) für den Erfolg von Managern unverzichtbar. Gemeinsam ist den bisher dargestellten Führungstheorien eine gewisse Organisationsvergessenheit, die Führung vorrangig als personales oder interaktionales Phänomen fasst und unberücksichtigt lässt, dass »Führung und Organisation in hochentwickelten Gesellschaften zwei Seiten ein und derselben Medaille« sind (Wimmer, 2009, S. 21). Wir betrachten Führung in der funktionellen Dimension als Steuerungsaufgabe von Organisationen und schließen uns einem systemtheoretischen Organisationsverständnis an, das Organisationen als rekursive Netzwerke der Kommunikation von ­Entscheidungen begreift (vgl. Kapitel 4.1). Organisationen bestehen systemtheoretisch betrachtet nicht aus Menschen, sondern aus Entscheidungen, die getroffen, kommuniziert und wiederum die Grundlage für weitere Entscheidungen werden. Die alleinige Betrachtung personaler oder interaktionaler Aspekte der Führung greift bei einem systemtheoretischen Organisationsverständnis also zu kurz oder sogar daneben. Vielmehr prägen Organisationen »ein eigenes Aufmerksamkeitspotenzial aus, das die Organisation als soziales SysFührung und Kooperation

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tem im Hinblick auf die Frage im Blick hat, wie die eigene (d. h. organisationale) Antwortfähigkeit auf die spezifischen Herausforderungen der relevanten Umwelten gesichert und weiterentwickelt werden kann« (Wimmer, 2016, S. 18). So wie Organisationen autopoietische Systeme sind, deren vorrangiges Interesse ihre eigene Reproduktion und damit ihr Überleben ist, so gehört Führung zur Selbstorganisation des Systems: »Führung ist somit jener Teilaspekt eines sich selbst organisierenden, sich selbst erzeugenden Systems, der dieses System selbst zum Gegenstand hat und es zur Aufrechterhaltung der eigenen Funktionstüchtigkeit kontinuierlich mit den erforderlichen Entwicklungsimpulsen versorgt« (S. 18). Führung hat also die Aufgabe, die Organisation in ihrer Binnenlogik der Autopoiese zu stören und ihr Perturbationen zu liefern, also verwirrend-anregende Störungsimpulse, die sie offen und wach halten im Interesse ihrer Zukunftsfähigkeit (vgl. Kapitel 4.5). Konsequenterweise ist daher für Baecker (2011, S. 7) auch »Störung, nicht Steuerung, […] der Oberbegriff für Führung und Management, seit sich die Organisation von der klassisch pyramidalen Hierarchie auf die postklassische Netzwerkorganisation umstellt. Steuerung setzt auf eine lineare Zweck/Mittel-Relation, Störung auf eine oszillierende Innen/Außen-Differenz.« Aus diesem Grund zeigt die primäre Einflussrichtung der Führung auch nicht – wie oft angenommen wird – von oben nach unten im Sinne einer klassischen Hierarchie. Führung passiert nicht nur top-down, sondern jenseits formaler Hierarchien auch bottom-up, also von unten nach oben, von den vermeintlich Geführten zu den Führungskräften, und lateral durch die Beeinflussung seitlich nebengeordneter Interaktionspartner/-innen (Gruber, 2017). Doch noch wichtiger ist die Einflussrichtung von außen nach innen, denn »Führung mobilisiert im Inneren eine kontinuierliche Auseinandersetzung über die Frage, was kennzeichnet gerade unsere externen Umwelten und wie werden wir als Organisation dafür antwortfähig« (Wimmer, 2016, S. 20). Entsprechend sind einige der wesentlichen Aufgabenfelder der Führung notwendigerweise auf den Blick von außen nach innen angewiesen, wie bei der Strategieentwicklung und der darauf aufbauenden Organisationsentwicklung sowie beim Marketing und Branding. Als weitere Aufgabenfelder von Führung bezeichnen Wimmer und Schumacher (2009) Personalmanagement, 158

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

Ressourcenmanagement und Controlling. Wir haben mit dem ArtSet-Managementmodell ein weiterbildungsspezifisches Modell vorgestellt, zu dem 17 Managementdimensionen gehören (Zech, 2010). Zusammenfassend ausgedrückt, verstehen wir unter Führung eine unverzichtbare organisationale Funktion, die auf das jeweilige Gesamtsystem Organisation fokussiert. Führung versorgt die Organisation mit anschlussfähigen Entwicklungsimpulsen und wirkt damit vor allem in der Einflussrichtung von außen nach innen. Führung gestaltet und entscheidet die relevanten Aspekte der Zukunftsfähigkeit der Organisation und kommuniziert diese anschlussfähig und motivierend an alle – extern wie intern – Beteiligten. Damit ist Führung die »Kommunikation des Jas unter der Bedingung, daß im System nichts unwahrscheinlicher ist als das Ja. Führung bedeutet, Fortsetzungsbedingungen des Systems in den Kommunikationen des Systems abzubilden« (Baecker, 2003, S. 281). Führung wählt die richtigen Aufgaben für das soziale System Organisation aus und sorgt für deren richtige Umsetzung, womit für uns die Unterscheidung zwischen Führung und Management überflüssig wird. Denn Führungsleistungen zielen in einem umfassenden Sinne »auf das Erfolgreichmachen des kooperativen Miteinanders in Organisationen« (Wimmer, 2016, S. 21). Wie schon bei dem allgemeinen Organisationskapitel (vgl. Kapitel 4.1) wollen wir hier mit ein paar Bemerkungen zur Führung von Expertenorganisationen abschließen, die durchaus einige Besonderheiten aufweisen. Expertenorganisationen, die Wissen in unterschiedlichen, lose gekoppelten Subsystemen generieren und kommunizieren, sind generell nur sehr eingeschränkt über Hierarchie zu führen. In Expertenorganisationen arbeiten sogenannte Wissensarbeiterinnen und -arbeiter, die sich dadurch auszeichnen, dass ihre spezifische Expertise sehr stark an ihre Person geknüpft ist (Zech, 2010, S. 25 ff.). Die individuelle Weiterentwicklung dieser Kompetenzen ist daher für diese Personen ebenso von besonderer Bedeutung wie für ihre Organisationen, wenn sie nicht den Anschluss an die Wissensentwicklung ihres jeweiligen Fachs verlieren wollen. Organisationale Kernkompetenzen und individuelle Kompetenzen sind weitestgehend deckungsgleich, was zu spezifischen Herausforderungen beim Management solcher Organisationen führt. Der Wert von Führung und Kooperation

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Expertenorganisationen selbst wird – wie wir bereits in Kapitel 4.1 sahen – durch die in ihnen beschäftigten Menschen verkörpert, die die Fähigkeit haben, individualspezifisch maßgeschneiderte Leistungen zu erbringen. Deshalb haben Expertenorganisationen auch meistens sehr flache Hierarchien und können nur schlecht über Linienstrukturen gesteuert werden. In der Regel hat die Aufbauorganisation netzwerkartige, heterarchische Strukturen. Die Strukturen müssen die nötigen Freiräume für die individuellen und kooperativen Leistungsprozesse schaffen. Expertenorganisationen müssen davon ausgehen, dass die zusammenarbeitenden Expertinnen und Experten für den Erfolg wesentlicher sind als die Organisation. Expertenorganisationen können ihre spezifischen Dienstleistungen nur erbringen, wenn in ihnen die humane vor der betriebswirtschaftlichen und der technischen Logik dominiert. Sie brauchen interne Kooperationsverhältnisse, die frei von Konkurrenzdruck sind, und Zeitverhältnisse, die der zu erledigenden Arbeit entsprechen und nicht dem finanziellen Sparzwang. Die Personalführung muss partnerschaftlich erfolgen, mehr mit diskursiven Formen arbeiten, die Konsens anstreben, als mit Dienstanweisungen und Verordnungen. Eine Anweisung zur kreativen Leistungserbringung kommt schnell an ihre Grenzen. Die Motivation der Beschäftigten und ihre Loyalität der Organisation gegenüber sind essenzielle Faktoren guter wissensbasierter Dienstleistungen. Nötig ist darüber hinaus eine änderungsfreundliche Lernkultur, weil zu viele Routinen und zu sehr formalisierte Prozesse einer Weiterentwicklung von Expertenorganisationen im Wege stehen. Die Umweltkontakte von Expertenorganisationen können also nicht allein über die Spitze geregelt werden. Aus der direkten Interaktion mit den Kundinnen und Kunden auf fast allen Arbeitsplätzen ergeben sich poröse Strukturen, die an vielen Stellen offen sind für Anregungen und Irritationen von außen. Es bedarf einer top down gut organisierten Bottom-up-Kommunikation, damit die an vielen Stellen in der Organisation generierten Informationen gebündelt und für die gemeinsame Leistungserstellung wirksam werden können. Die vom Management zu gewährenden Freiräume für die Wissensarbeiterinnen und -arbeiter in lose gekoppelten Subsystemen dürfen aber nicht zu organisationalen Inselbildungen führen, wo 160

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

wechselseitige Abschottungen zu selbstherrlichen Fürstentümern werden. Notwendige Autonomie der Beschäftigten und zugleich ebenso notwendige systematische und verbindliche Kooperationsstrukturen mit wechselseitig ausgeglichenem Geben und Nehmen sind zwei Seiten derselben Medaille. Gut integrierte Organisationen haben ihre internen Schnittstellen so geregelt, dass Informationen und Leistungen intern gleichberechtigt und wechselseitig ausgeglichen getauscht werden. Die Schnittstellen nach außen sind so organisiert, dass Irritationen den organisationsinternen Entwicklungsprozess anregen und für die Selbstentwicklung der Organisation systematisch genutzt werden können (vgl. Kapitel 4.5). 5.4.2 Kooperation Das 21. Jahrhundert wurde von amerikanischen Wissenschaftlern zum »Age of Alliances«, also zum Zeitalter der Bündnisse ausgerufen. So soll die Existenz insbesondere von Non-Profit-Organisationen zunehmend davon abhängen, dass sie sich dauerhaft kooperationsfähig und -bereit zeigen (Franz, 2013, S. 32). Der Begriff Kooperation leitet sich ab aus dem lateinischen cooperatio (Zusammenwirkung, Mitwirkung) und bezeichnet das zweckgerichtete Zusammenwirken von Handlungen zweier oder mehrerer Lebewesen, Personen oder Systeme, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Ist die wechselseitige Einwirkung der Akteure nicht intentional oder zweckgerichtet, spricht man hingegen von Interaktion. Kooperation meint also eine gleichberechtigte, arbeitsteilig organisierte Zusammenarbeit, die problemorientiert strukturiert sowie sachlich und zeitlich begrenzt ist. Im Vergleich zu lockeren Formen der Vernetzung weist Kooperation einen höheren institutionellen Organisations- und Formalisierungsgrad auf (Balz u. Spieß, 2009, S. 25). Für Kooperation kennzeichnend ist nicht nur die Zusammenarbeit, sondern die gemeinsame Zielorientierung. Kooperationen treten auf zwischen »Klienten und Mitarbeitern, zwischen Mitgliedern eines Teams und zwischen Mitgliedern von Organisationseinheiten einer oder verschiedener Organisationen« (S. 13). Kooperationsbündnisse können in verschiedenen Formen gestaltet sein wie Teams, Arbeits- und Projektgruppen (z. B. Qualitätszirkel), Intervisionsgruppen zur kollegialen Beratung oder Führung und Kooperation

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v­ erbindlich gestalteten Netzwerken. Der hohe Kooperationsbedarf insbesondere von Organisationen aus Bildung, Beratung und Sozialer Dienstleistung ergibt sich dabei aus den komplexen Problemlagen der Kunden, der hohen Spezialisierung der Professionen sowie der Vielfalt der bereitgestellten Angebote und der Zergliederung der Institutionen, die an diesen Angeboten bzw. an der Finanzierung der Förderung beteiligt sind. Neben diesen inhaltlichen Erfordernissen leiten sich Kooperationsanforderungen vielfach auch aus gesetzlichen Vorgaben beispielsweise im Kinder- und Jugendhilfegesetz und dem Sozialgesetzbuch ab (Balz u. Spieß, 2009, S. 27). Kooperationsformen wie Gruppen- und Teamarbeit gelten in der Tradition der Organisationsentwicklung wegen »der Entdeckung des außergewöhnlichen Leistungsvorteils arbeitsfähiger Teams und Gruppen« (Wimmer, 2016, S. 15) als etwas grundsätzlich Positives. Innovative IT-Unternehmen sind sogar bestrebt, die Organisationsform selbststeuernder Gruppen und Teams auf wesentlich komplexere soziale Systeme wie ganze Organisationen zu übertragen. Doch fußt diese Übertragung auf der »Illusion, man könnte im Kontext von Führung asymmetrische Kooperationsbeziehungen zur Gänze vermeiden« (Wimmer, 2016, S. 16). Dabei gehören kompetentes Management und klar definierte Zuständigkeiten zu den Erfolgsvoraussetzungen von Kooperationsbündnissen (Strobl u. Lobermeier, 2012, S. 164). Kooperationen sind unverzichtbar und ermöglichen unter günstigen Bedingungen gemeinschaftlich erbrachte Leistungen, die einzelnen Organisationen, Teams oder gar Personen nicht möglich wären. Allerdings gelingen Kooperationen nicht von selbst, sondern erfordern von den Beteiligten gute Kenntnisse der spezifischen Dynamik und der Gestaltungserfordernisse dieser Formationen. Denn Kooperationen stellen gewachsene Strukturen und eingespielte Abläufe infrage und erhöhen damit zunächst die subjektive Unsicherheit (Franz, 2013, S. 33), was sie zu einer potenziell angstbesetzten Arbeitsform macht. Gerade in der Vorphase und in der Transformationsphase der Kooperation als letzter Phase nach der gemeinsamen Leistungserbringung steigt auch die Konfliktwahrscheinlichkeit an (Schmidt, 2007, S. 91), wenn nicht durch klare Zielvereinbarungen, die Gestaltung eines ausgewogenen Gebens und Nehmens und recht162

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

zeitige Fortschreibungen der Ziele und Maßnahmen gegengesteuert wird. Kooperationsverhältnisse können unterschieden werden in strategische Kooperationen, empathische Kooperationen und Pseudokooperationen (Balz u. Spieß, 2009, S. 35 f.). Obwohl bei Pseudokooperationen die Grundlagen für eine echte Kooperation (wie gemeinsame Interessen oder Ziele) nicht (oder nicht mehr) gegeben sind, handeln die Beteiligten so, als hätten sie ein gemeinsames Anliegen. Strategische Kooperation ist gekennzeichnet durch ein rationales, zielgerichtetes Handeln, das die anderen Akteure zur Erreichung der eigenen bzw. der organisationalen Ziele instrumentalisiert und nicht offen ist für abweichende Perspektiven und Ansätze. Empathischer Kooperation liegen ebenfalls Ziele zugrunde, doch sind diese und auch der Weg zur Zielerreichung durch offene Aushandlungsprozesse aller Beteiligten entstanden. Da gerade soziale Dienstleistungen auf die kooperative Mitwirkung aller Beteiligten mit ihren jeweiligen Wahrnehmungen und Ressourcen angewiesen sind (vgl. Kapitel 3.3), ist empathische Kooperation unverzichtbar für eine tragfähige Leistungserbringung. Kooperationen und Netzwerke brauchen zwar Führung, doch lassen sie sich nicht vorrangig über Hierarchie steuern. Helmut Willke (1995, S. 134 ff.) unterscheidet die drei Steuerungstypen Markt, Hierarchie und Netzwerk mit jeweils spezifischen Kooperations- und Beziehungsformen. Während marktförmige Steuerung auf vertraglichen Regelungen basiert und die vorrangige Beziehungsform die der Konkurrenz ist, ist der Steuerungstyp Hierarchie durch Über- und Unterstellungsverhältnisse und eine Beziehungsform der Abhängigkeit charakterisiert. Netzwerke hingegen kooperieren über partnerschaftliche Vereinbarungen mit interdependenten Beziehungen. Die vorrangigen Steuerungsmedien von Markt, Hierarchie bzw. Netzwerk sind entsprechend Geld, Macht bzw. Vertrauen. Auch wenn sich die strikte Abgrenzung der drei Steuerungstypen in Zeiten hybrider Organisationen im Bereich sozialer Dienste, die sich im Spannungsfeld gegensätzlicher Steuerungslogiken behaupten müssen (Evers u. Ewert, 2010, S. 109 ff.), nicht mehr in Gänze aufrechterhalten lässt, verdient insbesondere das für Kooperationsverhältnisse wie Netzwerke postulierte Steuerungsmedium des Vertrauens eine nähere Betrachtung. Führung und Kooperation

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Vertrauen gilt als Gelingensvoraussetzung sowie als primäre Steuerungsform in Kooperationsverhältnissen. Dabei ist sowohl das Vertrauen zwischen den beteiligten Personen als auch das in die beteiligten Organisationen unverzichtbar. Um die für den Erfolg kooperativer Prozesse erforderlichen Merkmale wie offener Austausch und Akzeptanz der Meinungsvielfalt zu ermöglichen, bedarf es des Aufbaus eines »erfahrungsbasierten Vertrauens: Vertrauen leitet unsere soziale Informationsverarbeitung und reduziert auf diese Weise die wahrgenommene Komplexität des Geschehens« (Schweer u. Siebertz-Reckzeh, 2012, S. 18 f.). Durch die intraorganisationale Kooperation (also die Zusammenarbeit innerhalb einer Organisation) und noch stärker durch organisationsübergreifende Kooperationen entstehen eigene soziale Kooperationssysteme mit spezifischen Regeln, Mustern und Dynamiken (Schmidt, 2007, S. 63 ff.). Dieser »neu entstehende Interaktionsraum der Kooperation ist […] durch eine Vertrauensdynamik gekennzeichnet, die über die interpersonalen Bedingungen« hinausgeht (Schweer u. Siebertz-Reckzeh, 2012, S. 19). Nicht nur Sympathie oder Antipathie unter den Akteuren spielen eine Rolle beim Aufbau von Vertrauen, sondern auch organisationale Aspekte wie eine überzeugende Wertefundierung zum Beispiel in Form eines gelebten Leitbilds oder verlässliche Prozessabläufe, die gleichzeitig organisationale Achtsamkeit als Fähigkeit von Organisationen zur Selbstbeobachtung und Selbstreflexion (Weick u. Sutcliffe, 2003) fördern. Vertrauen in Kooperationsverhältnissen entsteht zwar einerseits erfahrungsbasiert durch die gemeinschaftliche Bewältigung von Aufgaben und Herausforderungen, andererseits muss es für gelingende Kooperationen auch quasi als Vorschusslorbeere vorausgesetzt werden, denn Vertrauen »riskiert eine Bestimmung der Zukunft. Im Akt des Vertrauens wird die Komplexität der zukünftigen Welt reduziert. Der vertrauensvoll Handelnde engagiert sich so, als ob es in der Zukunft nur bestimmte Möglichkeiten gäbe« (Luhmann, 2014, S. 24). Vertrauen in andere (Personen wie Organisationen) kann gesetzt werden unter der Erwartung, »dass der andere konsistent dahingehend ist, als was er sich selbst dargestellt hat, um das Vertrauen zu erwerben. […] Vertrauen hat somit nicht mehr viel mit Faktizität oder Wahrheit zu tun. Vertrauen ist ein Abkommen, in dem man 164

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

den anderen in seiner dargestellten Subjektivität als gegeben nimmt, im Wissen, dass dieser sich selbst dadurch bindet« (Geramanis, 2002, S. 97). Vertrauen in die Selbstverpflichtung anderer Personen und Organisationen braucht als Grundvoraussetzung wiederum Transparenz (Glatzel, 2013, S. 204) – allein schon deshalb, damit überhaupt erkennbar wird, worauf die Beteiligten wechselseitig zählen können, was als deren Selbstbindung als Ausdruck einer organisationalen Identität und Wertefundierung wirksam wird. Schon 1980 konnte durch Computersimulationen überzeugend belegt werden, dass Strategien der Kooperation dann am erfolgreichsten sind, wenn sie mit – zunächst unbegründetem – Vertrauen starten. Als »Tit for tat« (etwa: Wie du mir, so ich dir.) bekannt geworden ist eine von Anatol Rapoport entwickelte Kooperationsstrategie, die erstens mit einer kooperativen Wahl beginnt und zweitens im weiteren Verlauf immer das wiederholt, was der andere Spieler im vorangegangenen Zug gemacht hat, also entweder kooperiert oder defektiert, das heißt das Angebot zur Zusammenarbeit ablehnt (Axelrod, 2000, S. 28). Tit for tat basiert auf diesen beiden einfachen Entscheidungsregeln in potenziell kooperativen Zusammenhängen und hat »die angenehmen Eigenschaften, kaum ausgebeutet werden zu können und gute Resultate zu erzielen, wenn sie auf ihr eigenes Gegenstück trifft« (S. 28). Trifft eine kooperative Haltung auf eine ebensolche, entsteht eine positive Verstärkung; trifft sie auf Defektion, defektiert sie selbst und schützt sich damit vor Ausbeutung, ohne jedoch nachtragend zu werden. Eine Gesinnungsänderung des Gegenübers von Defektion zu Kooperation wird sofort positiv mit Kooperation beantwortet. Noch erfolgreicher als Tit for tat ist eine bei der Computersimulation nicht eingereichte Strategie, die als Tit for two Tats bezeichnet werden könnte: Diese Strategie »defektiert nur, wenn der andere Spieler bei den vorangegangenen zwei Zügen defektiert hat. Es ist in dem Sinne eine nachsichtigere Version von TIT FOR TAT, daß isolierte Defektionen nicht bestraft werden« (Axelrod, 2000, S. 35). Axelrod schlussfolgert aus diesem bemerkenswerten Befund, dass »auch erfahrene Strategen die Bedeutung der Nachsicht nicht ausreichend beachten« (S. 35). Wenn diese Art von Grundvertrauen und wohlwollender Nachsicht in Kooperationsverhältnisse eingebracht wird, ist es für die Beteiligten auch aushaltbar, dass sich die jeweiligen Beiträge der Führung und Kooperation

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Akteurinnen und Akteure nicht unmittelbar ausgleichen, sondern dass auf mittlere Sicht ein ausgeglichenes Geben und Nehmen entstehen wird. Der zentrale Begriff dafür lautet Reziprozitätserwartung – erwartet wird in gelingenden Kooperationen ein Prinzip der Gegenseitigkeit, das für alle Beteiligten Nutzen stiftet und den eigenen Ressourcenaufwand mehr als rechtfertigt. Die notwendige relative Autonomie der Subsysteme von Expertenorganisationen bringt zwangsläufig Koordinationsprobleme hervor und fordert von den beteiligten Personen ein hohes Maß an Verbindlichkeit und Ambiguitätstoleranz (Zech, 2010, S. 27 f.). Leicht können aus Abstimmungsnotwendigkeiten bei Einzelnen Frustrationen entstehen. Wissensorganisationen sind daher tendenziell konfliktträchtig. Das ist der Preis für das Dilemma des notwendig hohen Freiheitsgrades bei der Aufgabenerledigung bei gleichzeitig notwendiger Verbindlichkeit der internen Abstimmung. Die Prozesse der kooperativen Leistungserbringung sind deshalb besonders sorgfältig zu definieren, um Abstimmungsprobleme, die aus – subjektiv durchaus funktionalen – Grauzonen entstehen, möglichst zu begrenzen. Individuelle Wissensarbeiter/-innen neigen dazu, den erforderlichen Freiraum ihrer Aufgabenerledigung zu überschätzen; sie haben eine Aversion gegen jegliche Form der Kontrolle. An die Stelle eng­ maschiger Kontrolle von oben muss wechselseitiges Vertrauen und verbindliche Einhaltung der Absprachen treten – allerdings bei einem Durchgriffsrecht der Leitung im Abweichungsfall. Freiheit und Autonomie auf der einen Seite erhöhen auf der anderen Seite die Abhängigkeit voneinander und die Notwendigkeit wechselseitiger Zuverlässigkeit. Auf Hierarchie kann deshalb nicht ganz verzichtet werden; sie hat hier eine unverzichtbare Steuerungsfunktion. Allerdings ist sie mehr als eine dienstanweisende Vorgesetztenposition; sie hat vor allem die Autonomie der Aufgabenerledigung der Subsysteme und zugleich die Erreichbarkeit jeder Stelle der Organisation durch jede andere Stelle sicherzustellen. Außerdem braucht es Hierarchie zur Entscheidung eventueller Konflikte (Baecker, 1999, S. 198 ff.). 5.4.3 Vertrauen in Führung und Kooperation »Wenn aufgrund von Wettbewerbs- und Optimierungszwängen der über den Austausch von Informationen und die funktionale Koope166

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

ration hinausgehende Kontakt zur Arbeit, zu den Kollegen und/oder den Klienten verlorengeht, wenn das Gefühl für die Qualität der Arbeit unter dem Druck der Kennziffern verschwindet und keine Zeit für das Genießen von und die Erholung nach Erfolgen bleibt, während Anerkennungssignale durch Vorgesetzte nur noch als strategisch, zur Aktivierung noch größerer Anstrengungen wahrgenommen werden, droht für die Betroffenen in der Tat eine zentrale Resonanzachse des modernen Lebens zu versiegen« (Rosa, 2016, S. 399). Gute Arbeit leisten zu können, ist ein Grundbedürfnis von Menschen und gleichzeitig der Zweck von Qualitätsentwicklung (vgl. Kapitel 2). Gute Arbeit ihrerseits ist nicht möglich ohne gelingende Führung und Kooperation, wobei Führung in der funktionalen Steuerungsdimension wiederum angewiesen ist auf empathische Kooperation, um ihre zentralen Aufgabenfelder wie Strategieentwicklung, Marketing, Ressourcenmanagement, Organisationsentwicklung, Personalmanagement und Controlling ausfüllen zu können (Wimmer u. Schumacher, 2009, S. 177). »Vor allem professionell verwaltete Organisationen wie Behörden, Armeen, Krankenhäuser, Opernhäuser, Redaktionen, Schulen und Universitäten verzichten [allerdings] meist auf Führung und verlassen sich statt dessen auf die immer neue Inszenierung des professionellen Selbstbildes« (Baecker, 2003, S. 285). Das muss nicht ganz falsch sein, denn wie gezeigt wurde, sind professionelle Selbstbilder bzw. Selbstbeschreibungen als Mechanismus der Selbstverpflichtung eine Voraussetzung für Vertrauen in Organisationen. So hat ein handlungsleitendes Leitbild und die Definition gelungener Bildung, Beratung oder Sozialer Dienstleistung in den Modellen der Lerner- und Kundenorientierten Qualitätsentwicklung eine fundamentale Funktion als Reflexionsmedium, auf das Organisationen die Maßnahmen und Instrumente ihrer Qualitätsarbeit in Begründungszusammenhängen immer wieder beziehen, um sich zu vergewissern, dass sie das Richtige tun (im Sinne des Leaderships) und nicht nur eine beliebige Maßnahme im Sinne eines ökonomischen Nutzenkalküls richtig managen. Transparente, Vertrauen schaffende Selbstbeschreibungen sind allerdings nur ein Gelingensfaktor von Führung und Kooperation, weshalb die Lerner- und Kundenorientierte Qualitätsentwicklung weitere Führungs- und Kooperationserfordernisse durch die erforderliche Führung und Kooperation

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Bearbeitung in weiteren Qualitätsbereichen strukturell absichert – nicht nur im Qualitätsbereich Führung selbst, sondern auch zum Beispiel in den Qualitätsbereichen Externe Dienstleister und Kooperationen, Personal, Controlling und Strategische Entwicklungsziele. Grundsätzlich ist eine gelingende Qualitätsentwicklung nicht denkbar ohne die Selbstverpflichtung und das Vorbild der Führungskräfte, die die zu Unrecht in Misskredit gebrachte Qualitätsentwicklung in ihren Organisationen zustimmungsfähig und in ihrer Sinnhaftigkeit nachvollziehbar machen müssen. Qualitätsentwicklung ist des Weiteren nicht denkbar ohne Kooperation, Partizipation und Motivation (vgl. Kapitel 5.2). Die Gelingenswahrscheinlichkeit von Führung und Kooperation lässt sich erhöhen über die Gestaltung der unterschiedlichen Ausprägungen der Interdependenz als wechselseitiger Abhängigkeit bei der Arbeitsausführung bzw. der Erzielung des Arbeitsergebnisses. Differenzieren lässt sich zwischen Aufgaben-, Ergebnis- und Feedbackinterdependenz (Balz u. Spieß, 2009, S. 104 f.). Aufgabeninterdependenz ist die Grundlage für den Kooperationsbedarf und entsteht – wie bereits gezeigt wurde – aufgrund der Komplexität der Arbeitsaufgaben und der Vielzahl der Leistungserbringenden. Die häufig vernachlässigte Ergebnisinterdependenz ist eine Voraussetzung für die Motivation zur Kooperation, denn nur wenn die Qualität des gemeinsam erbrachten Ergebnisses zählt und dem in Einzelarbeit erbrachten überlegen ist (bzw. das Ergebnis einzeln überhaupt nicht erzielt werden könnte), ist der Nutzen von Kooperationsverhältnissen nachvollziehbar. Feedbackinterdependenz bezeichnet die wechselseitige Rückmeldung über Prozess und Ergebnis der Kooperation und ist unverzichtbar, wenn Kooperationsverhältnisse nicht zur Pseudokooperation degradieren sollen. Zu den zentralen Funktionen des Managements interorganisationaler Beziehungen gehören die Integration der für die Zielerreichung notwendigen Kooperationspartner, klar definierte Zuständigkeiten, die Regulation der Zusammenarbeit, die Evaluation der Kooperation und eine gemeinsame strategische Zielplanung (Zech, 2010, S. 455; Strobl u. Lobermeier, 2012, S. 164). Alle diese Aspekte sind auch für die gelingende intraorganisationale Kooperation unverzichtbar, also für die Zusammenarbeit in Teams und Arbeitsgruppen inner168

Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

halb einer Organisation. Die funktionale Analyse von Vertrauen zeigt, dass dieses sowohl für Führungs- als auch für Kooperationsprozesse ein grundlegendes Steuerungsmedium ist. Denn Führung muss innerhalb der Organisation wie auch in externen Kooperationen dafür sorgen, dass die eigene Organisation zukunftsfähig bleibt und ihre Offenheit für die Überraschungen der Außenwelt behält – wir hatten dies in Anlehnung an Baecker (2011, S. 7) bezeichnet als Steuerung durch Störung bzw. als primäre Einflussrichtung der Führung von außen nach innen (Wimmer, 2016, S. 20). Um sich verstören zu lassen, um den Blick angstfrei und unvoreingenommen nach außen wenden zu können, ist Vertrauen in Führung und Kooperation, in beteiligte Personen wie Organisationen nötig. Vertrauen ist damit etwas anderes als Vertrautes. Während in vertrauten Welten die Vergangenheit über Gegenwart und Zukunft dominiert, ist »Vertrauen in die Zukunft gerichtet. Zwar ist Vertrauen nur in einer vertrauten Welt möglich; es bedarf der Geschichte als Hintergrundsicherung. […] Aber Vertrauen ist keine Folgerung aus der Vergangenheit, sondern es überzieht die Informationen, die es aus der Vergangenheit besitzt und riskiert eine Bestimmung der Zukunft« (Luhmann, 2014, S. 23 f.). Vertrauen speist sich aus scheinbar widersprüchlichen Quellen: Zwar braucht es Transparenz und Kontinuität, um Selbstverpflichtungen erkennbar zu machen und darauf mit Vertrauensvorschuss reagieren zu können. Die Reflexivität des Vertrauens zielt darauf, dass die kooperierende Organisation bzw. ihre durch Führung geschaffene Repräsentanz konsistent bleibt in ihrer Selbstdarstellung, sodass »persönliches Vertrauen zu einer Variante des Systemvertrauens« wird (S. 80). Doch tragfähiges Vertrauen entsteht nicht allein durch die Reflexivität der Selbstdarstellung, sondern erst im Zusammenspiel mit der Reflexion (vgl. Kapitel 5.3): »Erst Vertrauen in die Reflektiertheit der Selbstdarstellung enthält eine Gewähr für angepaßte Verhaltenskontinuität unter schwierigen, wechselnden Bedingungen. […] Nur diese Form des Vertrauens kann sich die Funktion des Vertrauens, die Funktion der Komplexitätsreduktion […], bewußt machen und darin eine Orientierung finden« (S. 80). Wie es die Kernleistung von Führung ist, unter den beteiligten Akteuren ein tragfähiges Ja zu entwickeln und zu kommunizieren Führung und Kooperation

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(Baecker, 2003, S. 281), so dient interne und externe Kooperation dazu, die konsentierten Fortsetzungsbedingungen des Systems in gemeinsamen Handlungen umzusetzen. Vertrauen ist dabei das Steuerungsmedium, das es in Bezug auf Organisationen als generalisiertes Systemvertrauen ermöglicht, durch Führung und Kooperation koordinierte Arbeitsprozesse zu gestalten. Die durch vertrauensvolle und vertrauenswürdige Führung unterstützten kooperativen Prozesse geben den beteiligten Organisationen die Freiheit zu werden, was sie sein wollen, sich reflexiv, also ihrer eigenen Identität bewusst, und reflektiert, also mit Achtsamkeit für Anforderungen in Markt und Gesellschaft, zu entwickeln.

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Die Klaviatur des Gelingens: Die Herausforderungen und Kompetenzen

6D  as Ganze und seine Teile: Die Gelingensbedingungen der Qualitätsentwicklung

Wir kommen nun zum abschließenden Kapitel und wollen den bisherigen Zusammenhang unserer Argumentation kurz resümieren. Der Anspruch dieses Buchs bestand darin, für die Branchen Bildung, Beratung und Soziale Dienstleistung die Möglichkeit einer in sich konsistenten Qualitätsentwicklung zu begründen, die die ethische Dimension von Arbeit, die direkt für und am Menschen geleistet wird, aufnimmt. Dazu sollte eine gemeinsame Sprache mit dem Netz der erforderlichen grundlegenden Werkzeugbegriffe geschaffen werden. Entsprechend wurde im ersten Kapitel zunächst der Qualitätsbegriff als gutes Gelingen einer sinnerfüllten Praxis herausgearbeitet. Hintergrund waren ethische Überlegungen zu einem gelingenden Leben in einer gerechten Gesellschaft. Das zweite Kapitel begründete den Zweck der Qualitätsentwicklung in der Unterstützung guter Arbeit im doppelten Sinne – als Schaffung guter Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten mit dem Ziel, gute Arbeit für die eigenen Zielgruppen zu leisten. Im dritten Kapitel wurden die Gegenstände der Qualitätsentwicklung als gelungene Bildung, gelungene Beratung und gelungene Soziale Dienstleistung definiert. Dem folgte im vierten Kapitel die Erläuterung des Verständnisses von Qualitätsentwicklung als umfassende Organisationsentwicklung und Professionalisierung. Im fünften Kapitel wurden die grundlegenden Werkzeugbegriffe theoretisch aufgespannt, mit deren Hilfe man die Herausforderungen einer solchen Qualitätsentwicklung erschließen und bewältigen kann. Als Abschluss des Buchs werden nun die Gelingensbedingungen der Qualitätsentwicklung als gesellschaftlich-institutionelle, organisationale, interaktionale und personale Faktoren dargestellt. Diese Gelingensbedingungen beruhen auf 17 Jahren Erfahrungen in über 1000 Fällen der Lerner- und Kundenorientierten Qualitätstestierung und einer Reihe diesbezüglicher empirischer Untersuchungen ­(z. B. 171

Zech u. Braucks, 2004; Tödt, 2006; Rädiker, 2006, 2011, 2013; Jander, 2013; Kammerer, 2016).5

6.1 Gesellschaftlich-institutionelle Bedingungen Hier bedarf es einer Vorbemerkung. Grundsätzlich ist es so, dass gute Arbeit gesellschaftlich-institutioneller Rahmenbedingungen einer nachhaltig produzierenden Wirtschaft bedarf, die einer sinnvollen und gerechten gesellschaftlichen Bedarfsbefriedigung folgt und nicht dem Profit und dem Kapitalverwertungsprinzip. Hierauf haben einzelne Organisationen, die sich um gute Arbeit bemühen, allerdings keinen nennenswerten Einfluss. Sie sind also darauf verwiesen, ihre jeweilige Qualitätsentwicklung in mancher Hinsicht gegen restriktive Rahmenbedingungen zu realisieren. Dennoch gibt es einige Bedingungsfaktoren des unmittelbaren gesellschaftlich-institutionellen Umfeldes, die sich unter dem Gesichtspunkt abprüfen lassen, ob sie der eigenen organisationalen Qualitätsentwicklung förderlich sind oder diese eher hemmen. Auch wenn der Einfluss auf diese gesellschaftlich-institutionellen Bedingungen gering ist, mag ein Bewusstmachen dieser Bedingungen helfen, einen realistischen Blick für die eigenen Möglichkeiten und Grenzen zu entwickeln, um die sich dennoch bietenden Chancen der Einwirkung auf vorgesetzte Instanzen nicht ungenutzt zu lassen. Aber auch, wenn man hier zu einer eher pessimistischen Einschätzung kommen sollte, ist dies kein Grund, auf die Entwicklung guter Arbeit und eine entsprechende Qualitätsentwicklung in den Organisationen zu verzichten. Generell hat es sich als bedauerlich und – wie die Erfahrungen in der Praxis zeigen – auch als wenig hilfreich erwiesen, wenn externe Qualitätszertifizierungen auf gesetzlichem oder Verordnungsweg erzwungen und an Mittelzuweisungen gekoppelt werden, ohne dass inhaltliche Anreize und fachliche Unterstützungsangebote damit verbunden werden. Eine selbstbestimmte Qualitätsentwicklung der Professionen hat durch dieses administrative Vorgehen eher gelitten 5 Weitere Literatur zur Lerner- und Kundenorientierten Qualitätsentwicklung unter: http://www.qualitaets-portal.de/literatur-zu-lkqt/ [Zugriff am 26.03.2017].

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bzw. sich zu einer Tendenz entwickelt, auf dem schnellsten Wege an das erforderliche Zertifikat zu kommen, ohne praktische Veränderungen in der Arbeit der Organisationen vorzunehmen. Ein Verhalten, auf der Schauseite der Organisationen legitimatorische Handlungen zu vollziehen, ohne dass dem im Inneren der Organisationen praktische Konsequenzen folgen, ist aus der neoinstitutionalistischen Theorie als Unterschied von talk und action seit Jahrzehnten bekannt. Andererseits konnten wir vielfach feststellen, dass dort, wo administrative Anforderungen mit entsprechenden Unterstützungsleistungen – zum Beispiel durch externe Beratung – unterlegt wurden, Qualitätsentwicklung im eigenen Interesse mit viel Engagement und sogar Freude erfolgreich durchgeführt wird. Ein zentraler gesellschaftlich-institutioneller Gelingensfaktor wäre also in förderlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen zu sehen, die begründete Anforderungen an die Qualität von Organisationen und deren Arbeit mit entsprechenden Unterstützungsmaßnahmen kombinieren. Dazu gehört auch die Ausstattung der Organisationen mit angemessenen finanziellen, sächlichen, zeitlichen und personellen Ressourcen.

6.2 Organisationale Bedingungen Auf die Gestaltung der organisationalen Bedingungen der Qualitätsentwicklung haben Führung und Mitarbeiterschaft auch unter tendenziell restriktiven äußeren Rahmenbedingungen immer noch einen weitgehenden Einfluss. Vor allem das Vorbildverhalten des Managements gegenüber den Mitarbeitenden ist in diesem Kontext stilbildend. Die organisationalen Voraussetzungen bestehen in der Schaffung der Bedingungen für gute Konzeptions-, Prozess- und Strukturqualität der Bildungs-, Beratungs- und Sozialen Dienstleistungsanbieter, die sich schlussendlich in der Ergebnisqualität ihrer Produkte und Dienstleistungen realisieren. Folgende organisationale Gelingensfaktoren haben sich als wichtig erwiesen: ȤȤ Ein die Praxis tatsächlich leitendes Leitbild: Ein partizipativ erstelltes und praktisch wirksames Leitbild mit einem expliziten Selbstverständnis als lernende Organisation, geteilten Werten und einer handlungsleitenden Definition des Gelungenen ist eine unerlässOrganisationale Bedingungen

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liche Orientierungsgrundlage, um die unterschiedlichen Aktivitäten einer Organisation auf ein gemeinsames Ziel auszurichten. Eine konsentierte und praktisch wirksame Definition des Gelungenen: Eine gemeinsame Zielvorstellung dessen, was im Idealfall als Ergebnis der eigenen Arbeit angestrebt wird, ist unerlässlich, um die vielen Teilaufgaben einer Organisation zu koordinieren und ihr Gelingen bewerten zu können. Die gemeinsame Vorstellung des Gelungenen soll als regulierende Idee die Praxis leiten, auch wenn die unterschiedlichen Bedingungen des jeweiligen Einzelfalls in der Regel dazu führen, dieses Ziel nur annäherungsweise zu erreichen. Ohne zu wissen, was man im besten Fall erreichen will, wird man Ziele nur zufällig erreichen, ohne zu wissen, ob es überhaupt die richtigen sind. Regelmäßige Evaluation der Praxis anhand von Indikatoren: Deshalb ist es auch zwingend, die eigene Arbeit regelmäßig anhand von Indikatoren, die aus der Leitvorstellung des Gelungenen abgeleitet sind, zu überprüfen, die Prüfergebnisse zu bewerten und entsprechende Schlussfolgerungen für die zukünftige Praxis daraus abzuleiten – sei es, um Veränderungen der Vorgehensweise zu vereinbaren oder die Geeignetheit der bisherigen Arbeit, inklusive der dabei verwendeten Methoden und Verfahren, zu bestätigen. Gut definierte und in der Praxis funktionierende Strukturen und Prozesse der Arbeitserledigung: Organisationale Strukturen und Prozesse sollen die alltägliche Arbeit unterstützen und führen. Daher sollte in der Organisation Klarheit darüber herrschen, in welcher Weise die einzelnen Arbeitsschritte innerhalb und zwischen Abteilungen geregelt sind. Begründete Abweichungen von diesen Prozessdefinitionen im Einzelfall sind dabei nicht nur legitim, sondern eine wertvolle Quelle für Weiterentwicklungen. Eindeutige Zuständigkeiten und gerechte Verteilung der Aufgaben: Verteilungsgerechtigkeit bei der gemeinsamen Arbeitserledigung ist eine wichtige Voraussetzung einer förderlichen Organisationskultur. Die Tatsache, dass jede/r weiß, was er oder sie zu tun hat und welche Aufgaben andere erfüllen, darf allerdings nicht davon abhalten, andere zu unterstützen, wenn es sich im Sinne des gemeinsamen Ziels als erforderlich erweist. Das Ganze und seine Teile

ȤȤ Kontinuierliche, in die alltägliche Praxis integrierte Qualitätsentwicklung: Qualitätsentwicklung ist keine Zusatzarbeit neben der alltäglichen Aufgabenerledigung, sondern integrierter Bestandteil guter Arbeit. Damit dies gelingt, sollte sie allerdings auch in die normalen Strukturen und Prozesse der Organisation integriert sein, zum Beispiel als regelmäßiger Tagesordnungspunkt von Konferenzen oder regelmäßiges Thema von Supervisionssitzungen. ȤȤ Fest installierte Strukturen und Prozesse für die kontinuierliche Qualitätsentwicklung: Damit die Qualitätsentwicklung in der Praxis nicht dem scheinbar immer Dringlicheren zum Opfer fällt, sind auch die Prozesse der Qualitätsentwicklung, zum Beispiel als regelmäßig tagende Qualitätszirkel, fest in die Prozessstruktur der Organisation zu verankern. ȤȤ Systematische Vor- und Nachbereitung der Qualitätstreffen und Entwicklungsworkshops: Wie bei anderen Konferenzen und Arbeitstreffen auch entscheidet eine gute Vor- und Nachbereitung sowohl über eine effektive Sitzungskultur als auch über praxisrelevante und nachhaltige Ergebnisse der Zusammenkünfte. Gut gemanagte und protokollarisch aufgearbeitete Besprechungen sind das A und O einer effektiven Qualitätsentwicklung. ȤȤ Qualifizierte Qualitätsmanager/-innen, die sich mit dem angewendeten Qualitätsmodell gut auskennen: Mindestens eine Person in der Organisation sollte ausgewiesene Kompetenzen im jeweils angewendeten Qualitätsentwicklungsverfahren haben, damit sie die Qualitätsarbeit entsprechend organisieren und managen kann. Diese Spezialistenrolle enthebt allerdings nicht die anderen Beschäftigten von der Verantwortung, mindestens so viele Grundkenntnisse im jeweiligen Qualitätsmodell zu haben, um die eigenen Teilleistungen mit den anderen Teilleistungen der Kolleginnen und Kollegen kompatibel verschränken zu können. ȤȤ Geeignete Fortbildungen/Personalentwicklungsmaßnahmen für die Beschäftigten: Wenn Qualitätsentwicklung wesentlich auch Professionalisierung der Beschäftigten bedeutet, dann müssen Fortbildungen und Personalentwicklungsmaßnahmen ein integrierter Bestandteil der organisationalen Verbesserungsanstrengungen sein. Organisationsentwicklung und Personalentwicklung Organisationale Bedingungen

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sind zwar verschieden, aber zwei Seiten derselben Medaille, denn sie zielen auf eine strukturelle Kopplung von Subjektlernen und Organisationslernen. ȤȤ Nutzung von Instrumenten des Projekt- und Zeitmanagements und von anderen Instrumenten der Qualitätsentwicklung: Zur Strukturierung der gesamten Arbeitserledigung helfen die entsprechenden Managementwerkzeuge. Deren Kenntnis und Anwendung ist unabdingbarer Teil professionellen Arbeitens.6 ȤȤ Externe Unterstützung durch Beratung und/oder kollegiale Beratung: Der unvoreingenommene Blick auf die eigene Praxis ist aus systemischen Gründen verstellt. Daher hilft ein fremder Blick von außen, blinde Flecken der eigenen organisationalen Praxis aufzuhellen. Peer reviews durch befreundete Kollegen und Kolleginnen vergleichbarer Organisationen oder professionelle externe Beratung helfen, Fehler und unnötige Umwege in der eigenen Qualitätsentwicklung zu vermeiden bzw. aus ihnen zu lernen; sie sparen Zeit und damit Geld.

6.3 Interaktionale Bedingungen Die interaktionalen Voraussetzungen gelingender Qualitätsentwicklung bestehen im Wesentlichen in gelungenen Kooperationsformen, die weitgehend in der Hand der Beschäftigten, also der Führung und der Mitarbeiterschaft, liegen. Wie wir bereits in Kapitel 5.2.2 gezeigt haben, gehört dazu Relationsbewusstsein und Kontextwissen, also das Wissen darum, wie die eigene Arbeit mit der Arbeit der anderen zusammenhängt und was von den Kolleginnen und Kollegen zur gemeinsamen Gesamtleistung beigetragen wird. Voraussetzungen sind weiterhin ein gemeinsames Verständnis von Qualitätsentwicklung und entsprechende gemeinsame Ziele. In diesem Zusammenhang sollten folgende Bedingungen berücksichtigt werden: 6 Auf unserer Website www.qualitaets-portal.de stellen wir eine große Anzahl von Arbeitshilfen und Qualitätswerkzeugen für die Qualitätsentwicklung kostenfrei zur Verfügung. Darüber hinaus bietet unser »Handbuch Management in der Weiterbildung« (Zech, 2010) circa 100 Managementinstrumente, die sich auch problemlos in anderen Kontexten personenbezogener sozialer Dienstleistungen einsetzen lassen.

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ȤȤ Eindeutige Positionierung und aktive Unterstützung durch die Leitung: Qualitäts- und Organisationsentwicklung ist eine Führungsaufgabe des Managements. Das heißt nicht, dass dieses alle dazugehörigen Teilaufgaben selbst erledigen muss. Aber der klare und offen propagierte Wille zur Veränderung, das entsprechende Vorbildverhalten und die Letztverantwortung lassen sich nicht delegieren. ȤȤ Funktionierende interne und externe Kooperation der Beschäftigten: Kooperation bezieht sich sowohl auf die strukturell abgesicherten Formen gemeinsamer Arbeitserledigung als auch auf die unmittelbaren Umgangsformen zwischen den Beschäftigten. Beides muss einerseits der sachlichen Aufgabenerledigung entsprechen und andererseits durch eine Organisationskultur der wechselseitigen Hilfe und Unterstützung abgesichert werden. ȤȤ Individuelles Feedback mit einem konstruktiven Umgang mit Kritik: Zur Zusammenarbeit gehört auch die sachbezogene Kritik der zu erledigenden Aufgaben, die sich an den gemeinsamen Zielen und nicht an vermeintlich persönlichen Eigenschaften orientiert. Taktvolles Feedback-Geben und konstruktiver Umgang mit etwaiger Kritik sind die beiden Seiten gelingender Interaktion und kontinuierlicher Qualitätsarbeit. ȤȤ Produktiver Umgang mit Widerständen und offener Umgang mit abweichenden Meinungen: Widerstände bei Einzelnen oder ganzen Abteilungen bedeuten oft gar nicht, dass diese insgesamt gegen ein beschlossenes Vorgehen sind, sondern sie sind zunächst einmal ein wichtiges Anzeichen dafür, dass womöglich noch nicht alle Bedingungen ausreichend berücksichtigt oder die Ziele noch nicht für alle einsichtig sind. Widerstände sollten also nicht in Frontstellungen zwischen Befürwortern und Gegnern fixiert werden, sondern als Reflexionsanlass mit dem Ziel einer verbesserten Bedingungsanalyse genutzt werden. Gerade abweichende Meinungen sind in Organisationen eine wertvolle Quelle, um auf neue Ideen zu kommen, die Gegebenes auf ein gemeinsames Ziel hin weiterentwickeln. ȤȤ Transparente Kommunikation und gute wechselseitige Information aller Beteiligten: Wissen ist Macht, heißt es oft. Geteiltes Wissen ist dann logischerweise potenzierte Macht. Die HandlungsfähigInteraktionale Bedingungen

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keit einer Gesamtorganisation steigt in dem Maße, wie Informationen in transparenter Kommunikation für alle, die sie brauchen, verfügbar sind. Nur wer weiß, warum er oder sie etwas, in welcher Art und Weise, in Abstimmung mit anderen und in Bezug auf ein gemeinsames Ziel macht, wird dauerhaft gute Arbeit leisten können. ȤȤ Wertschätzung von Engagement und Leistung: Jenseits von Konkurrenz ist die Anerkennung des Engagements und der Leistungen der Beschäftigten ein wesentlicher Faktor von Arbeitszufriedenheit der Einzelnen. Neben der alltäglichen wechselseitigen Wertschätzung der Arbeitenden sind aber auch formale Anerkennungsformen hilfreich, die herausragende L ­ eistungen würdigen. ȤȤ Würdigung von Erfolgen und gelungener Praxis: Zu einer Anerkennungskultur gehört auch die Würdigung der Erfolge und der Zielerreichung der Gesamtorganisation, zu denen alle beigetragen haben. Das kann sich in materiellen Gratifikationen für die Beschäftigten ausdrücken, aber vor allem sollte es organisationale Formen der Würdigung geben, zum Beispiel Betriebsfeiern, die den gerechtfertigten Stolz auf die gemeinsame Leistung zum Ausdruck bringen und ihrerseits die Identifikation der Beschäftigten mit der Organisation und die Loyalität ihr gegenüber fördern.

6.4 Personale Bedingungen Qualität beginnt bei den Menschen und ihrer Verantwortung für die anderen Menschen, mit denen oder für die sie arbeiten, und in der Verantwortung für die Dinge, die sie umgeben, und die Produkte und Leistungen, die sie für ihre Zielgruppen erstellen. Vor allem personenbezogene Dienstleistungen, die direkt für und am Menschen erbracht werden, hängen unmittelbar von der arbeitenden Person ab, von ihren Einstellungen, Fähigkeiten, Kommunikationsformen und Handlungen. Wie wir in Kapitel 5.2.1 zeigen konnten, ist eine gelungene Qualitätsentwicklung in Organisationen letztendlich nur zu realisieren, wenn sich alle im Rahmen ihrer Aufgaben und Zuständigkeiten daran beteiligen. Entsprechende Gelingensfaktoren sind dafür im Einzelnen: 178

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ȤȤ Ein Qualitätsethos der Beschäftigten: Die jeweils eigene Arbeit gut machen zu wollen, kann nicht von oben verordnet werden, sondern muss einem Bedürfnis der Arbeitenden entspringen, die in ihrer Arbeit einen Sinn sehen und sie deshalb im Interesse ihrer Zielgruppen und Kunden bestmöglich erledigen wollen. Allerdings kann ein Qualitätsethos der einzelnen Beschäftigten durch die informale und formale Anerkennung guter Arbeit erheblich gefördert werden. ȤȤ Ein Verständnis der Qualitätsentwicklung als Teil der alltäglichen Arbeit: Dass die Weiterentwicklung inhärenter Teil guter Arbeit ist, wurde von uns in Kapitel 2 hinreichend begründet. Diese Tatsache muss sich allerdings auch im Bewusstsein der Arbeitenden niederschlagen, was wiederum nur gelingen kann, wenn Qualitätsentwicklung nicht übergestülpt, sondern durch die Organisationen selbstbestimmt und mit geeigneten Methoden in die alltägliche Praxis integriert wird. ȤȤ Aktive Mitarbeit aller Beschäftigten bei der Qualitätsentwicklung: Wenn der Nutzen der Qualitätsentwicklung in der jeweils eigenen Aufgabenerledigung spürbar ist, ist die aktive Mitarbeit aller wahrscheinlich, weil die Motivation dazu der Erfahrung entspringt, die eigenen Arbeitsbedingungen mitbestimmen und gestalten zu können. ȤȤ Wissen um die Aufgaben der anderen und den eigenen Anteil am Gesamten: Wissen darum, was die anderen tun, und Interesse am Tun der anderen sowie die Kenntnis des Zusammenhangs der eigenen Leistungen mit der Gesamtleistung der Organisation ist die Voraussetzung einer koordinierten und kooperativen Arbeitserledigung. ȤȤ Veränderungsbereitschaft in Bezug auf die Organisation und die eigene Person: Nicht stehen zu bleiben, sondern sich in der eigenen Arbeit weiterzuentwickeln, ist unverzichtbar, wenn man auch auf längere Sicht mit seiner Arbeit zufrieden sein oder sich in ihr sogar – soweit es eben geht – verwirklichen will. Und das, was für die Einzelnen gilt, gilt auch für die ganze Organisation: Nur was sich entsprechend der sich wandelnden Umweltherausforderungen ändert, kann seine Identität bewahren. Was seine Fähigkeit zu weiterem Werden und ­Sichwandeln verliert, ist zum Absterben verPersonale Bedingungen

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urteilt, heißt es deshalb in dem pädagogischen Roman »Das Glasperlenspiel« (2012) von Hermann Hesse. ȤȤ Reflektierte Reflexivität, Teamfähigkeit sowie aktive und passive Feedbackfähigkeit: Zur individuellen Entwicklungsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft gehört als wichtigste Kompetenz die Reflexivität (vgl. Kapitel 5.3), womit die Fähigkeit bezeichnet ist, aus den eigenen Erfahrungen zu lernen, die Rückspiegelungen der Umwelt auf die eigenen Handlungen zu erkennen und daraus Schlussfolgerungen für die eigene Person bzw. für die Organisation zu ziehen. Dies kann allerdings nur gelingen in einem Team, in dem Vertrauen herrscht und das eine entsprechende Feedbackkultur ausgebildet hat. Dazu kann jede/r Einzelne beitragen. Nun kann es in der Praxis der Organisationen nicht nur darum gehen, die genannten Gelingensfaktoren an die jeweilige Qualitätsentwicklung anzulegen und mit einem einfachen vorhanden/nicht vorhanden feststellend abzuprüfen. Vielmehr wird es erforderlich sein, zunächst gemeinsam zu reflektieren, welche Faktoren als Messgrößen für die eigene Organisation sinnvoll sind, um sich dann darüber zu verständigen, woran genau – im Sinne eines beobachtbaren Indikators – man das Gegebensein eines Faktors erkennt. Nicht das Messen bzw. Evaluieren an sich ist wichtig, sondern nur, wenn es in einen gemeinsamen Qualitätsdiskurs der Organisation eingebunden ist. Die qualitative Weiterentwicklung der Organisation ist eine Gesamtaufgabe aller Beteiligten. Für das gemeinsame Abenteuer Qualität will dieses Buch die theoretischen Voraussetzungen schaffen; das konkrete Vorgehen einer so verstandenen Qualitätsentwicklung wurde andernorts in den entsprechenden »Leitfäden für die Praxis« dargestellt (Zech, 2007, 2009, 2013a, 2014, 2015; Tödt, 2008)7.

7 Diese »Leitfäden für die Praxis« können auch kostenfrei von unserem Qualitätsportal heruntergeladen werden: http://www.qualitaets-portal.de/leitfaeden-fuer-die-praxis/ [Zugriff am 29.12.2016].

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