Moralische Erneuerung: Über Erziehung und Bildung in John Stuart Mills sozialer Philosophie 9783495817070, 9783495489090, 9783495489093


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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
1. Forschungsstand
2. Aufbau der Studie
3. Präludium: Wirkungen der Zivilisation
Erstes Kapitel
1. ›Erziehung zur Denkmaschine‹
2. Moralische Einflüsse der Erziehung
3. Mündigkeit und liberaler Kampf
4. Mills Kritik an Benthams Philosophie
5. Coleridges konservative Philosophie
Zweites Kapitel
1. Wissen, Glück, Entwicklung
2. Säkulare Schulen
3. Universitäten
4. Vom Unterricht
5. Erziehung der arbeitenden Klassen
Drittes Kapitel
1. Methodologischer Monismus
2. Freiheit und Notwendigkeit
3. Wissenschaft vom Menschen
a) Psychologie
b) Ethologie
c) Soziologie
4. Zur Logik der Kunst
Viertes Kapitel
1. Einleitende Bemerkungen
2. Verteidigung des Utilitarismus
3. Über die letzte Sanktion des Nützlichkeitsprinzips
4. Über den Beweis des Nützlichkeitsprinzips
5. Zum Verhältnis von Nützlichkeit und Gerechtigkeit
Fünftes Kapitel
1. Einleitende Bemerkungen
2. Vom Recht der freien Rede
3. Individualität als Element der Wohlfahrt
4. Über die Grenzen des Staates
5. Anwendungen des Freiheitsprinzips
Schluss
Siglen
Literatur
Primärliteratur
Sekundärliteratur
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Moralische Erneuerung: Über Erziehung und Bildung in John Stuart Mills sozialer Philosophie
 9783495817070, 9783495489090, 9783495489093

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Pädagogik und Philosophie 9

Manfred Böge

Moralische Erneuerung Über Erziehung und Bildung in John Stuart Mills sozialer Philosophie

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817070

.

B

Manfred Böge Moralische Erneuerung

PÄDAGOGIK UND PHILOSOPHIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

Pädagogik und Philosophie 9 Wissenschaftlicher Beirat: Daniela G. Camhy, Ursula Frost, Ekkehard Martens, Käte Meyer-Drawe, Hans-Bernhard Petermann, Matthias Rath, Volker Steenblock, Barbara Weber und Franz Josef Wetz

https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

Manfred Böge

Moralische Erneuerung Über Erziehung und Bildung in John Stuart Mills sozialer Philosophie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

Manfred Böge Moral Renewal On upbringing and education in John Stuart Mill’s social philosophy Not only has John Stuart Mill written fundamental works on liberalism, utilitarian ethics, and political economy, he has also written about upbringing and education. Although, these thoughts have not been acknowledged by educational science until now. Against the background of Mills criticism of civilization progress, which is virtue-ethical oriented, the study asks about the systematic importance of education in the context of his social philosophy. For this purpose Mill’s unusual education is addressed as well as his epistemological writings, his views on education policies and his attitudes to utilitarianism and freedom.

The Author: Manfred Böge is Research Assistant for General Pedagogy at Kiel University.

https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

Manfred Böge Moralische Erneuerung Über Erziehung und Bildung in John Stuart Mills sozialer Philosophie John Stuart Mill hat nicht nur grundlegende Arbeiten zum Liberalismus, zur utilitaristischen Ethik und Politischen Ökonomie verfasst, in seinen Werken finden sich auch zahlreiche Gedanken zur Erziehung und Bildung. Gleichwohl sind diese bisher kaum erziehungswissenschaftlich gewürdigt worden. Vor dem Hintergrund von Mills tugendethisch orientierter Kritik am zivilisatorischen Fortschritt fragt die Studie nach der systematischen Bedeutung von Erziehung und Bildung im Rahmen seiner sozialen Philosophie. Hierzu wird nicht nur Mills außergewöhnliche Erziehung diskutiert, auch seine erkenntnistheoretischen Schriften und bildungspolitischen Ansichten sowie seine Denkweisen zum Utilitarismus und zur Freiheit kommen zur Sprache.

Der Autor: Manfred Böge ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von:

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48909-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81707-0

https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

Vorwort

Bei der hier vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine geringfügig überarbeitete Version meiner Dissertation, die im Jahre 2016 von der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel angenommen wurde. Da der Erfolg eines solchen Vorhabens immer auch von der Unterstützung anderer abhängt, gilt folgenden Personen und Institutionen mein besonderer Dank: Für die Gewährung eines dreijährigen Promotionsstipendiums (2012–2015) bin ich der Hans-Böckler-Stiftung zu großem Dank verpflichtet. Ohne ihre materielle und ideelle Förderung wäre es mir kaum möglich gewesen, die Arbeit in angemessener Zeit fertigzustellen. Auch wurde die Drucklegung großzügig von der Stiftung durch einen Druckkostenzuschuss unterstützt. Ebenso danke ich Alumni Kiel e. V., dem fakultätsübergreifenden Netzwerk an der Christian-Albrechts-Universität, für die finanzielle Förderung der Publikation. Besonderer Dank gilt meinen wissenschaftlichen Betreuern Frau Prof. Dr. Nicole Welter und Herrn Prof. Dr. Axel Honneth. Frau Welter hat mit großem Interesse und akademischer Leidenschaft den bildungstheoretischen Teil meiner Arbeit betreut. Sie hat mich nicht nur in fördernder Weise an ihrem Lehrstuhl beschäftigt, sondern mir auch den nötigen Freiraum für meine akademische Entwicklung gegeben. Dafür möchte ich ihr an dieser Stelle herzlich danken. Herr Honneth hat die wissenschaftliche Betreuung der sozialphilosophischen Argumentation meiner Dissertation übernommen. Obwohl der akademische Austausch aufgrund der Entfernung zwischen Kiel und Frankfurt am Main nicht immer einfach war, hatte ich stets das Gefühl, im Sinne sozialer Freiheit unterstützt zu werden. Für seine fachliche Begleitung und sein Engagement danke ich ihm ebenso herzlich. Meinen langjährigen Weggefährten Christian Hyza und Bastian Gerich danke ich für die letzten Jahre tiefer Freundschaft. Christian 7 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

Vorwort

bin ich darüber hinaus für die vielen fachlichen Gespräche und seinen anhaltenden Einsatz zu Dank verpflichtet, als es am Ende der Wegstrecke darum ging, der Arbeit den letzten Schliff zu geben. Für den sozialphilosophischen Austausch habe ich außerdem Herrn Dr. Hilmar Schmiedl-Neuburg zu danken. Meinem Kollegen Nicolaus Wilder danke ich für die Durchsicht des Manuskripts; durch sein Engagement und seine Fähigkeit, unter Bedingungen zeitlicher Knappheit zu arbeiten, hat die Arbeit noch einmal an Deutlichkeit und Klarheit gewonnen. Herrn Lukas Trabert danke ich ganz herzlich für die Aufnahme der Studie in die Reihe Pädagogik und Philosophie des Verlags. Einen besseren Ort für meine Arbeit hätte ich mir nicht wünschen können. Frau Wetti Malin und Herrn Dr. Jürgen Schall, der aufgrund einer langen schweren Krankheit die Fertigstellung der Arbeit leider nicht mehr erleben durfte, möchte ich ebenfalls danken. Ihr fester Glaube an meine persönlichen und intellektuellen Fähigkeiten hat mir das Vertrauen gegeben, das es braucht, um ein solches Projekt zu beginnen, über Jahre aufrechtzuerhalten und erfolgreich abschließen zu können. Ohne sie würde es dieses Buch nicht geben. Meinen Eltern und Schwiegereltern danke ich von Herzen für die jahrelange Unterstützung und ihr Vertrauen in den Erfolg meiner wissenschaftlichen Arbeit; ihr familiärer Rückhalt hat vieles leichter gemacht. Besonderer Dank gilt meiner Frau Christina. Sie hat mir in den letzten Jahren nicht nur zwei wundervolle Kinder geschenkt, die unser Leben auf mannigfache und besondere Weise bereichern; durch ihre kritische Würdigung und melodische Stilsicherheit hat sie auch die Fließgeschwindigkeit und Lesbarkeit des Textes an vielen Stellen verbessert. Manche inhaltlichen und argumentativen Unwägbarkeiten konnten auf diese Weise vermieden werden. Bei den Höhen und Tiefen, die ein jahrelanger Schreibprozess wohl unweigerlich mit sich bringt, stand sie mir stets zuversichtlich und aufmunternd zur Seite. Ihr ist dieses Buch gewidmet.

8 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

1. 2. 3.

Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präludium: Wirkungen der Zivilisation . . . . . . . . . .

23 32 36

Erstes Kapitel John Stuart Mill: Ein Erziehungsexperiment . . . . . . . . .

48

1. 2. 3. 4. 5.

»Erziehung zur Denkmaschine« . . . Moralische Einflüsse der Erziehung . Mündigkeit und liberaler Kampf . . . Mills Kritik an Benthams Philosophie Coleridges konservative Philosophie

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. 48 . 66 . 74 . 91 . 101

Zweites Kapitel Bildungspolitische Ansichten oder der Triumph des Wissens

116

1. 2. 3. 4. 5.

116 123 134 155 161

Wissen, Glück, Entwicklung . . . Säkulare Schulen . . . . . . . . . Universitäten . . . . . . . . . . . Vom Unterricht . . . . . . . . . Erziehung der arbeitenden Klassen

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Drittes Kapitel Von der Logik der Moralwissenschaften: Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 1. 2.

Methodologischer Monismus . . . . . . . . . . . . . . . Freiheit und Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . .

171 174

9 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

Inhalt

3.

Wissenschaft vom Menschen a) Psychologie . . . . . . b) Ethologie . . . . . . . c) Soziologie . . . . . . Zur Logik der Kunst . . . .

. . . . .

178 183 189 193 216

Viertes Kapitel Von der Nützlichkeit und ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit

221

1. 2. 3. 4. 5.

221 225 240 244 249

4.

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Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . Verteidigung des Utilitarismus . . . . . . . . . . Über die letzte Sanktion des Nützlichkeitsprinzips Über den Beweis des Nützlichkeitsprinzips . . . . Zum Verhältnis von Nützlichkeit und Gerechtigkeit

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Fünftes Kapitel Über die Freiheit des Individuums und die Grenzen des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 1. 2. 3. 4. 5.

Einleitende Bemerkungen . . . . . . . Vom Recht der freien Rede . . . . . . Individualität als Element der Wohlfahrt Über die Grenzen des Staates . . . . Anwendungen des Freiheitsprinzips . .

. . . . .

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Schluss Die systematische Bedeutung von Erziehung und Bildung

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266 273 287 297 307

. 321

Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

10 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

»Alles, was wir Gefahr laufen zu verlieren, können wir erhalten, alles, was wir verloren haben, wiedergewinnen und zu einer bis dahin noch nicht gekannten Vollendung bringen, aber nicht, indem wir schlafen und die Dinge sich selbst überlassen, ebenso wenig durch lächerliche Vergeudung unserer Kräfte im Kampf gegen ihre unvermeidlichen Tendenzen, sondern nur durch Aufstellung von Gegenbestrebungen, die sich mit jenen Bestrebungen verbinden und sie modifizieren können.« (John Stuart Mill, Zivilisation, 1836)

https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

Einleitung

Wenn es um eine sozialphilosophische Beschäftigung mit dem Liberalismus, die Weiterentwicklung des klassischen Utilitarismus, die Etablierung einer kapitalistischen Marktwirtschaft und den ersten historischen Einsatz für die emanzipatorischen Rechte der Frauen geht, stößt man schnell auf den Namen John Stuart Mill, jenen durch die schottische Aufklärung und den englischen Empirismus inspirierten Denker, der durch sein umfangreiches Werk und politisches Engagement die Vorstellungen einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung nachhaltig geprägt hat. »John Stuart Mill ist unbestritten der wichtigste politische Theoretiker, den Großbritannien, das Mutterland der parlamentarischen Demokratie und der liberalen Staats- und Gesellschaftstheorie, im 19. Jahrhundert hervorbrachte.« 1 Während seine Schriften zur Sprachphilosophie, zum Utilitarismus, zur Freiheit und Politischen Ökonomie sowie seine Arbeiten zur Wissenschaftstheorie in vielfältiger Weise in die akademischen Diskurse Eingang gefunden haben 2 , ist er in der Erziehungswissenschaft bisher weitestgehend unbekannt. 3 Die vorliegende Studie trägt diesem Umstand Rechnung und stellt Mills Überlegungen zur ErzieGregory Claeys (Hg.), Der soziale Liberalismus John Stuart Mills, aus dem Englischen v. Christine Lattek, Baden-Baden 1987, S. 9. 2 »In seinen Hauptschriften, dem System der Logik, den heute noch vielgelesenen Schriften Über die Freiheit und Utilitarismus, in seiner Überprüfung der Philosophie Sir William Hamiltons und in seinen Drei Essays über Religion gibt er Antwort auf die Grundfragen der Philosophie nach der Sprache und der Wahrheit, dem richtigen und guten Leben, dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, dem Wesen der Welt und der Wirklichkeit, nach der Existenz und den Attributen eines höchsten Wesens und nach der Unsterblichkeit der Seele. Mills Antworten auf diese Fragen werden bis in die Gegenwart hinein diskutiert.« Peter Rinderle, John Stuart Mill, München 2000, S. 9. 3 Ausnahmen bilden Rössner und Wehrmann, die versuchen, Mill auch für die pädagogische Forschung fruchtbar zu machen. Vgl. Lutz Rössner, Reflexionen zur pädagogischen Relevanz der Praktischen Philosophie John Stuart Mills, Frankfurt am 1

13 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

Einleitung

hung und Bildung ins Zentrum der theoretischen Auseinandersetzung. Die Studie möchte mit der wissenschaftlichen Behandlung dieses Themas eine Forschungslücke schließen. Zwar liegen bereits diverse Untersuchungen zu Mill vor, aber diese konzentrieren sich hauptsächlich auf die philosophischen, politischen und ökonomischen Aspekte seiner Werke und diskutieren die erziehungswissenschaftliche Dimension seiner Sozialphilosophie nur am Rande. Die Arbeit vertritt die These, dass, obgleich Mill keine systematische Erziehungslehre hinterlassen hat, pädagogische Begrifflichkeiten für sein gesellschaftstheoretisches Denken von zentraler Bedeutung sind. Der gewählte Zugriff auf Mills Werk besteht darin, nach der systematischen Bedeutung von Erziehung und Bildung im Rahmen seiner sozialen Philosophie zu fragen. Da es sich um eine begriffliche Arbeit handelt, kommt eine texthermeneutische Methode zur Anwendung. Die Aufgabe besteht darin, aus den primären Schriften Mills die Inhalte herauszuarbeiten, die für eine adäquate Antwort auf die vorgelegte Fragestellung erforderlich sind. Eine ideengeschichtliche Kontextualisierung pädagogischer Ideen findet folglich nicht statt. Die Arbeit bleibt Mill-immanent. Mit der vorgelegten Fragestellung sind drei Prämissen verbunden, die im Folgenden erläutert werden sollen. Dabei kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese der Untersuchung zugrunde gelegten Annahmen ihre erkenntnistheoretische Evidenz bereits an dieser Stelle entfalten; sie müssen sich vielmehr erst im Laufe der Arbeit als belastbar erweisen. Da sie aber zum besseren Verständnis der gedanklichen Rahmung der Studie beitragen, sollen sie den einzelnen Kapiteln vorangestellt werden. Die erste Prämisse besagt, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Mills erzieherischer Bildungslaufbahn und seinem sozialphilosophischen Werk. Sein Leben, das seit dem Tag seiner Geburt im Jahr 1806 unter dem Einfluss der utilitaristischen Philosophie Jeremy Benthams steht, lässt sich in drei Perioden einteilen. Die erste Periode reicht bis 1826 und umfasst die ersten vier Kapitel seiner Autobiographie. Diese Zeit ist durch seine außergewöhnliche Erziehung und seine jugendliche Begeisterung für die Ideen der philosophischen Radikalen geprägt, die auf der Grundlage des Utilitarismus für die Etablierung einer liberalen Ordnung der Gesellschaft kämpfen. Im ZenMain 1983; Karl Wehrmann, John Stuart Mill’s Lehre von der Erziehung, Beilage zu dem Programm des Kgl. Gymnasiums zu Kreuznach, Ostern 1890. Nr. 440.

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Einleitung

trum dieses politischen Programms stehen die Ausbuchstabierung des neuzeitlichen Individualismus einerseits und die Durchsetzung der kapitalistischen Marktwirtschaft andererseits. Die zweite Periode reicht bis ins Jahr 1834. Dieser Abschnitt seines geistigen Fortschritts zeichnet sich hauptsächlich durch eine kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen intellektuellen Strömungen aus, deren Einsichten sein sozialphilosophisches Denken zum Teil modifizieren. Von dieser Zeit legen insbesondere das fünfte und das sechste Kapitel seiner Autobiographie Zeugnis ab. Vor dem Hintergrund seiner seelischen Krise findet nicht nur eine kritische Beschäftigung mit den Erziehungsmethoden seines Vaters statt, er nimmt seinen Zusammenbruch auch zum Anlass, die Nützlichkeitslehre Jeremy Benthams generell in Frage zu stellen. Mills Denken ist ein Denken, das sich beständig in Richtung geistiger Vollkommenheit entwickelt, mit der Folge, dass er im Laufe seines Lebens gesellschaftstheoretische Ansichten abändert. Während er sich als Heranwachsender den Ideen der philosophischen Radikalen verpflichtet fühlt und sozialistische Strebungen in der Gesellschaft ablehnt, verändert sich seine Einstellung in den mittleren und späten Jahren zunehmend in Richtung eines sozialen Liberalismus 4 , der nicht nur das Privateigentum und das Erbrecht verteidigt, sondern auch die soziale Gerechtigkeit in den Blick nimmt. Die Kapitel zum Sozialismus (1879) sind das Resultat dieser geistigen Entwicklung. 5 Die Veränderung seines Denkens steht im unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Freundin und späteren Ehefrau, Harriet Taylor. 6 »In dieser (wie ich sie nennen kann) dritten Periode meines geistigen Fortschritts, der nun Hand in Hand mit dem ihrigen ging, gewannen meine Anschauungen an Breite und Tiefe; ich verstand mehr Dinge, und diejenigen, die ich vorher verstanden hatte, erkannte ich jetzt gründlicher.« 7 Die Ansichten, die Mill vor seinem geistigen Wandel vertritt, orientieren sich an einer von Bentham inspirierten liberalen Philosophie, in deren Zentrum die Überzeugung steht, dass die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft eine nicht zu ändern-

Vgl. dazu Claeys, Der soziale Liberalismus John Stuart Mills, a. a. O., S. 181–219. Vgl. KzS, AW, Band 3.2, S. 641–715. 6 Vgl. Ringo Narewski, John Stuart Mill und Harriet Taylor. Leben und Werk, Wiesbaden 2008. 7 Au, AW, Band 2, S. 174. 4 5

15 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

Einleitung

de Tatsache ist, die sich allenfalls durch eine freiwillige Geburtenkontrolle der arbeitenden Klassen abmildern lässt. 8 Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Vorstellungen des Frühsozialismus ändern Mill und seine Gefährtin ihre Meinung jedoch und entwickeln sich zu sozialistischen Liberalen: »Während wir mit allem Nachdruck die Tyrannei der Gesellschaft über das Individuum verwarfen, die man den meisten sozialistischen Systemen unterstellt, nahmen wir doch eine Zeit in Aussicht, in welcher die Gesellschaft sich nicht mehr in Arbeiter und Müßiggänger unterteilen würde – in welcher die Regel ›Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‹ nicht bloß auf die Armen, sondern unparteiisch auf alle Anwendung findet – in welcher die Verteilung des Arbeitszeugnisses statt, wie es jetzt in so hohem Maße geschieht, vom Zufall der Geburt abzuhängen, durch einstimmige Beschlüsse oder nach anerkannten gerechten Grundsätzen vor sich geht – in welcher es nicht länger unmöglich sein oder für unmöglich gehalten werden wird, dass menschliche Wesen sich eifrig anstrengen, Wohltaten zu schaffen, die nicht ausschließlich ihnen, sondern auch der Gesellschaft, der sie angehören, zugutekommen.« 9 Da Mills geistiger Fortschritt einen Einfluss auf sein gesamtes Denken hat, müssen seine autobiographischen Zeugnisse gelegentlich herangezogen werden, um den persönlichen Hintergrund seiner sozialphilosophischen Thesen zu verdeutlichen. Viele seiner gesellschaftstheoretischen Motive finden ihren geistigen Ursprung in seiner außergewöhnlichen Bildungsbiographie und müssen insofern berücksichtigt werden. Die systematische Bedeutung von Mills bildungspolitischem Programm, so die zweite Prämisse der vorliegenden Arbeit, kann nur dann angemessen verstanden werden, wenn dieses vor dem Hintergrund seiner Auffassung einer sich fortwährend entwickelnden Gesellschaft diskutiert wird. Die Vorstellung »von einer natürlichen Ordnung des menschlichen Fortschritts« 10 übernimmt er von Henri de Saint-Simon, einem französischen Intellektuellen, der nicht nur die wissenschaftliche Soziologie mitbegründet, sondern auch zum Namensgeber des Saint-Simonismus wird, einer philosophischen Denkschule, die einen utopischen Sozialismus propagiert. Mill begegVgl. ebd., S. 175. Ebd. 10 Ebd., S. 132. 8 9

16 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

Einleitung

net dem charismatischen Frühsozialisten auf seiner einjährigen Bildungsreise nach Frankreich im Hause des bekannten Nationalökonomen Jean-Babtiste Say, wo er einige Tage verbringt, bevor er 1821 nach England zurückkehrt. Zwar hat Saint-Simon zu dieser Zeit noch keine Philosophie begründet, aber seine Ansichten zur natürlichen Ordnung und zum Fortschritt der Gesellschaft hinterlassen auf den jungen Mill einen bleibenden Eindruck. Mit den gesellschaftstheoretischen Schriften des Saint-Simonismus kommt er aber erst 1829 in Berührung. Obwohl Mill zu diesem Zeitpunkt nicht die antikapitalistische »Anfechtung des Grundsatzes vom erblichen Eigentum« 11 teilt, übernimmt er von den Frühsozialisten die dynamische Anschauung, dass sich die Geschichte in organische und kritische Perioden einteilen lässt: »Ich war keineswegs vorbereitet, mit ihnen so weit zu gehen; doch machte die damit zusammenhängende Anschauung von einer natürlichen Ordnung des menschlichen Fortschritts, der ich hier zum ersten Mal begegnete, und insbesondere die Zerlegung aller Geschichte in organische und kritische Perioden, einen bedeutenden Eindruck auf mich.« 12 Wichtiger als Saint-Simon sollte für Mill aber einer seiner Schüler werden: Auguste Comte. 13 Dieser entwickelt in seinen soziologischen Schriften das Dreistadiengesetz, welches das Zentrum seiner Fortschrittstheorie bildet. Das Prinzip des Fortschritts besagt, dass jede Entwicklung, gleichgültig ob es sich dabei um die Entwicklung eines Individuums oder um die Entwicklung einer Gesellschaft handelt, drei Zustände durchläuft. Während Comte den ersten Zustand theologisch, den zweiten metaphysisch nennt, bezeichnet er den dritEbd., S. 131. Ebd., S. 131 f. 13 »Comte schlug sich als Nachhilfelehrer durch, bis er 1817 Sekretär von Henri de Saint-Simon wurde. Einem uralten Adelsgeschlecht entstammend, hatte sich dieser als Opportunist durch Republik und Kaiserreich gebracht. Nachdem er sich vergebens Ludwig XVIII. angedient hatte, führte er das Leben eines Privatgelehrten und Publizisten. […] Das Verhältnis beider Männer kann als Symbiose verstanden werden, als ein Austausch von sozialem und kulturellem Kapital. Saint-Simon hatte Kontakte zur Gesellschaft, die Comte nutzen konnte. Im Gegensatz betätigte sich Comte, der über solidere Bildung verfügte und besser schreiben konnte, als Ghostwriter. Er entfaltete eine rege schriftstellerische Tätigkeit, in deren Verlauf er sich allerdings mehr und mehr von Saint-Simon und den Ideen emanzipierte, die dieser in den Pariser Salons aufschnappte.« Gerhard Wagner, Auguste Comte zur Einführung, Hamburg 2001, S. 20 f. 11 12

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Einleitung

ten als positiv; »das feudale und katholische System sei die Schlussphase des theologischen Zustandes der sozialen Wissenschaft, der Protestantismus der Anfang und die Lehren der Französischen Revolution die Vollendung des metaphysischen, und der positive Zustand stehe uns noch bevor« 14 . Indem Comte den Fortschritt des Individuums analog zum Fortschritt der Gesellschaft versteht, bedient er sich eines aufklärerischen Motivs, das bereits Pascal in die Diskussion eingeführt hat: »Die ganze Folge der Menschen während der langen Reihe der Jahrhunderte muß wie ein einziger Mensch betrachtet werden, welcher immer fortlebt und ununterbrochen lernt.« 15 Wenn man davon ausgeht – was im vorliegenden Fall getan wird –, dass Mill sich diese Art des Denkens aneignet, steht die zweite Prämisse im direkten Zusammenhang mit der ersten Voraussetzung, nämlich, dass Mills sozialphilosophisches Werk nicht unabhängig von seinem geistigen Fortschritt betrachtet werden kann. Individuelle und gesellschaftliche Entwicklung müssen zusammen gedacht werden. Ein Beleg für diese These findet sich darin, dass Mill die von Comte in die wissenschaftliche Diskussion eingeführten Begriffe der sozialen Statik und sozialen Dynamik übernimmt. Während die soziale Statik die Beschaffenheit des gegenwärtigen Zustands einer Gesellschaft untersucht, fällt der sozialen Dynamik die Aufgabe zu, die Gesetze zu ermitteln, die dafür sorgen, dass ein gesellschaftlicher Zustand einem anderen nachfolgt. 16

Au, AW, Band 2, S. 133. Auguste Comte, Soziologie. Der dogmatische Teil der Sozialphilosophie, Band 1, Jena 1911, S. 171; hier zitiert nach Wagner, Auguste Comte zur Einführung, a. a. O., S. 50. 16 »Ordnung und Fortschritt fasste er [Comte] nicht primär als interessengeleitete Prinzipien auf, sondern als zwei Arten von Gesetzmäßigkeiten des ›natürlichen‹ Systems der Gesellschaft, dargestellt als die zwei Teile der Soziologie: soziale Statik und soziale Dynamik. Die soziale Statik hat es mit der Ordnung zu tun, die aufgefasst wird als Harmonie der Elemente, beruhend auf solidarischen Beziehungen. Familienbeziehungen und Arbeitsteilung sind die grundlegenden Relationen der gesellschaftlichen Ordnung. Für die soziale Dynamik nahm Comte eine festliegende Abfolge der Entwicklungsschritte an. Er stützte sich auf die Lamarcksche Evolutionstheorie und verstand Entwicklung als durch Kultur unterstützten Aufschwung der Fähigkeiten. […] Die soziale Dynamik bedient sich neben den Methoden der allgemeineren Wissenschaften auch der historischen Methode, also des Vergleichs zeitlich differenzierter Zustände, aus dem Entwicklungsgesetze abgeleitet werden sollen.« Gertraude MiklHorke, Soziologie – Historischer Kontext und soziologische Theorie-Entwürfe, München 2011, S. 25. 14 15

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Einleitung

Obwohl Mill den Gedanken, dass in der Geschichte organische und kritische Perioden einander immer wieder ablösen, mit den Saint-Simonisten teilt, erweitert er diese den Fortschritt erklärende Ansicht; »ich schaute darüber hinweg in eine Zukunft, welche die besten Eigenschaften der kritischen Periode mit den besten Eigenschaften der organischen vereinigen würde – eine ungehinderte Freiheit des Gedankens und eine schrankenlose Freiheit des individuellen Handelns in jeder Weise, die nicht anderen einen Nachteil bringt, aber auch Überzeugungen von Recht und Unrecht, Nützlichem und Schädlichem, die durch die Erziehung und allgemeine Einmütigkeit der Gesinnung den Gefühlen tief eingegraben sind, dabei so fest gegründet in der Vernunft und in den wahren Bedürfnissen des Lebens, dass kein Bedürfnis mehr vorliegt, sie wie die früheren und gegenwärtigen religiösen, ethischen und politischen Glaubensbekenntnisse periodisch abzuwerfen und durch andere zu ersetzen.« 17 Aufgrund seiner zivilisatorischen Fortschrittstheorie wird es daher nötig sein, an geeigneter Stelle danach zu fragen, wie Mill die gesellschaftlichen Verhältnisse seines Zeitalters beurteilt. Die zweite Prämisse beinhaltet die These, dass die systematische Bedeutung von Erziehung und Bildung in Mills Sozialphilosophie nur verstanden werden kann, wenn sie in eine Erörterung über die historische Situation des sozialen, ökonomischen und politischen Fortschritts eingebunden ist. Die dritte Prämisse der Untersuchung besagt, dass Mill einen erzieherischen Bildungsbegriff entfaltet, der sich aus verschiedenen Richtungen speist. Diese Annahme steht im unmittelbaren Zusammenhang mit einem in der wissenschaftlichen Mill-Forschung bekannten Phänomen, nämlich dem Vorwurf des Eklektizismus. Vor dem Hintergrund seiner utilitaristischen Erziehung geht es Mill vor allem darum, die Nützlichkeitslehre auf ein neues Fundament zu stellen und sie gegen Angriffe von außen zu verteidigen. »Gleichzeitig kommt er jedoch rivalisierenden und mit dem Utilitarismus unvereinbaren Positionen und Bestrebungen so weit entgegen, dass er die Philosophie der Gründungsväter des Utilitarismus, seines Vaters James Mill und Jeremy Benthams, stets wieder zu verraten und die reine Lehre Benthams in ein unreines Gemisch nur schwer miteinander verträglicher Ingredienzen aufzulösen scheint: Hedonismus und Stoizismus, Individualismus und Kollektivismus, Fortschrittsglauben

17

Au, AW, Band 2, S. 133.

19 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

Einleitung

und Wachstumskritik, Liberalismus und Sozialismus, Agnostizismus und Deismus.« 18 Mills Denken ist ein Denken, das sich von Anfang an im Modus des Sowohl-als-auch bewegt. Auch wenn es unbestritten ist, dass er sich in seinen sozialphilosophischen, politischen und ökonomischen Analysen mit verschiedenen Strömungen beschäftigt und durchweg versucht, die divergenten Theorien in eine dritte Position zu integrieren, bleibt doch die Frage nach der Lesart dieses seine Schriften kennzeichnenden Umstandes. Negativ betrachtet, offenbart die eklektizistische Kritik seiner Interpreten eine Reihe von Vorhaltungen: den Vorwurf der intellektuellen Unredlichkeit genauso wie den Vorwurf der Entscheidungsschwäche, der Oberflächlichkeit oder der Blindheit. 19 Im Gegensatz dazu gibt es auch die Möglichkeit einer positiven Lesart: die Annahme, dass Mill das Ziel verfolgt, die besten Ideen seiner Zeit zu vereinen. Legt man diese Sichtweise zugrunde, erscheint Mill weniger unentschlossen; sein Vorgehen erhält einen methodischen Charakter. Im vorliegenden Kontext wird diese zweite Lesart vertreten. Die These lautet, dass Mills Eklektizismus das Resultat seines methodischen Zugriffs ist. Er ist davon überzeugt, dass jede Theorie nützliche und weniger förderliche Erkenntnisse hervorbringt. Es wäre ihm zufolge ein Fehler, wenn man sich nur einer einzigen Denkrichtung anschließt, während andere Strömungen auch erkenntnisförderndes Material bereithalten. Den größten Nutzen erzielt man, wenn man die besten Ideen der einen Konzeption mit den besten Gedanken der anderen Schule verbindet und sie in einer dritten Position aufgehen lässt. »Was die Kritiker als Eklektizismus kritisieren, erscheint aus dieser Perspektive als das Suchen nach einer Synthese, die das Beste von dem, was die zu seiner Zeit verfügbaren philosophischen, politischen und ökonomischen Doktrinen zu bieten hatten, übernimmt und zu einer neuen Einheit verschmilzt.« 20 Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass sich auch Mills Bildungsbegriff aus verschiedenen Strömungen zusammensetzt. In seinen Abhandlungen präsentiert er kein homogenes Bild seiner bildungspolitischen Ansichten. Dieter Birnbacher, »John Stuart Mill zu Eigentum, Erbrecht und Besteuerung – Utilitarismus oder Eklektizismus?«, in: Peter Ulrich/Michael Aßländer (Hg.), John Stuart Mill – Der vergessene politische Ökonom und Philosoph (St. Galler Beiträge zur Wirtschaftsethik), Bern 2006, S. 57–77, hier S. 57 f. 19 Vgl. ebd., S. 58. 20 Ebd., S. 59. 18

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Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass er sich diverser Ansätze bedient. Er entfaltet ein mehrdimensionales Verständnis von Erziehung und Bildung, das versucht, das Beste aus den unterschiedlichen Denkweisen zu vereinen. Mills pädagogische Ansichten sind nicht aus einem Guss. Bis zu dieser Stelle ist allerdings noch nicht gesagt, welche der zahlreichen Schriften Mills in die Analyse Eingang finden und welche nicht. Neben der Autobiographie (1873), die nicht nur Mills eigene Erziehung offenlegt, sondern auch von den verschiedenen Stationen seines Lebens berichtet, werden vor allem seine bildungspolitischen Artikel (1835–1870) herangezogen. Sie enthalten wichtige Gedanken über die zeitgenössischen Bildungsstätten und deren Reformbedürftigkeit, über den Zusammenhang von Wissen und Glück und über das pädagogische Ziel, den Menschen zum selbstständigen Denken zu erziehen im Kontext der individuellen Selbstverwirklichung und des zivilisatorischen Fortschritts. Um Mills wissenschaftstheoretisches Verständnis darzustellen, wird auf seine Schrift Zur Logik der Moralwissenschaft (1843) zurückgegriffen. Dieses Werk ist für die vorliegende Untersuchung deshalb von Bedeutung, weil Mill darin die Grundzüge seiner Wissenschaft von der menschlichen Natur entwirft und grundlegende Fragen des gesellschaftlichen Miteinanders klärt. Auch stellt er hier die Lehre von der Entstehung des individuellen und nationalen Charakters vor, die im Hinblick auf das vorliegende Thema besonders relevant ist. Sodann wird sich zeigen, dass Mills sozialphilosophische Gedanken in eine allgemeine Theorie des historischen Fortschritts eingebunden sind, in deren Zentrum die individuelle und gesellschaftliche Verbesserung steht. Da Mill seine erkenntnistheoretischen Ausführungen mit einer Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Kunst (Ethik) beschließt, wird ferner die Schrift Utilitarismus (1863) diskutiert. Als sittliche Verfassung des individuellen Charakters hat die Nützlichkeitslehre einen direkten Einfluss auf die Frage nach der systematischen Bedeutung von Erziehung und Bildung im Kontext seiner Philosophie. Eine Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Gehalt der Mill’schen Sozialphilosophie ist ohne eine Freilegung der Gedanken zum Utilitarismus nicht zu haben. Da Mills Auffassung zur Erziehung und Bildung in eine Vorstellung bürgerlicher Freiheit eingebunden ist, muss eine Auseinandersetzung mit dem Werk Über Freiheit (1859) ebenfalls erfolgen. Hier werden nicht nur die Konturen seines sozia21 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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len Freiheitsbegriffs offengelegt, es erfolgt auch eine Diskussion über den gesellschaftlichen Wert der Meinungsfreiheit, ihre gesellschaftlichen Grenzen und ihren Nutzen für den zivilisatorischen Fortschritt des Menschengeschlechts. Der Umstand, dass Mill den neuzeitlichen Individualismus als ein Element der menschlichen Wohlfahrt betrachtet, reflektiert in spezifischer Weise die Ansicht, dass es für den gesellschaftlichen Fortschritt erforderlich ist, den Menschen in Richtung geistiger und intellektueller Vollkommenheit zu erziehen. Alle übrigen Arbeiten Mills, wie beispielsweise die aufschlussreichen Aufsätze Zivilisation (1836) und Die Universitäten (1826) sowie die Kapitel zum Sozialismus (1879) fließen in die Argumentation ein, soweit sie der These der Arbeit dienen und Erkenntnisse zum Thema liefern. Das gleiche gilt für die Abhandlungen Die Rechtsansprüche der Arbeiterschaft (1845). Obwohl damit wichtige Schriften Mills in die Untersuchung eingebunden sind, ein breites Spektrum seines sozialphilosophischen Denkens zur Darstellung kommt, können einige Aspekte seines umfassenden Werks im vorliegenden Kontext nur am Rande beachtet werden. Das ergibt sich aus dem Umstand, dass nicht alle Abhandlungen Mills für das hier verhandelte Thema relevant sind. Zwar enthalten die Drei Essays über Religion (1874), die posthum erscheinen, interessante Gedanken, hinsichtlich bildungspolitischer Fragen sind sie aber eher nachrangig. Ähnlich verhält es sich mit der Schrift Die Unterwerfung der Frauen (1869), die Mill mit seiner langjährigen Lebensgefährtin, Harriet Taylor, verfasst, und in der sie sich als eine der Ersten überhaupt mit den Rechten der Frau und deren Unterdrückung beschäftigen. Auch dieses Werk wird nur zur Sprache kommen, wo es die Argumentation des Themas stützt. In gleicher Weise wird mit den Betrachtungen über die repräsentative Demokratie (1861) verfahren, die zwar als Klassiker der Demokratietheorie betrachtet werden können, im vorliegenden Kontext aber nur wenig zur systematischen Frage von Bildung und Erziehung beitragen. Dass Mill nicht nur politischer Intellektueller und Sozialphilosoph, sondern auch Ökonom ist, zeigt sich in seinen Grundsätzen der Politischen Ökonomie, die 1848 veröffentlicht und schon zu Lebzeiten mehrmals – teilweise überarbeitet – neu aufgelegt werden. In nur wenigen Jahren avanciert die Schrift zum Standardwerk der Politischen Ökonomie. Wenngleich das vorliegende Thema auf den ersten Blick mit ökonomischen Fragen nur wenig zu tun hat, kann die Ana22 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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lyse nicht gänzlich frei bleiben von Mills Ansichten zur Wirtschaft. Dies liegt vor allem daran, dass Mill die Marktwirtschaft als Teil der Gesellschaft versteht, der nicht isoliert von allen anderen Bereichen des sozialen Lebens untersucht werden kann. »Die Politische Ökonomie stand nicht da als ein Ding für sich, sondern als Fragment eines größeren Ganzen, als ein Zweig der sozialen Philosophie, welcher so verwoben war mit allen anderen, dass seine Folgerungen selbst auf dem ihm eigenen Gebiet nur unter Vorbehalt wahr und der Einmengung und Gegenwirkung von Ursachen unterworfen sind, die nicht unmittelbar in ihrem Rahmen liegen.« 21 Freilich können nicht alle Gedanken zur Politischen Ökonomie diskutiert werden. Im Rahmen der systematischen Bedeutung von Erziehung und Bildung in der Sozialphilosophie Mills kommt es darauf an festzustellen, wie die Lage der arbeitenden Klassen vor dem Hintergrund des sich ausbreitenden Kapitalismus durch Bildung verbessert werden kann. Die bildungspolitische Diskussion kann insofern nicht unabhängig von einigen wirtschaftlichen Fragen geführt werden, obgleich viele Aspekte der Politischen Ökonomie unbehandelt bleiben müssen wie beispielsweise die Frage nach der gerechten Verteilung des in der Gesellschaft Erwirtschafteten oder die des Privateigentums, welches das Problem von Kapitalismus und Sozialismus berührt. Diese Aspekte können nur am Rande diskutiert werden. Ein eigenes Kapitel erhält die Politische Ökonomie nicht.

1.

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Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass es im vorliegenden Kontext darum geht, die deutschsprachige Forschungslage darzustellen. Dieser Schritt basiert auf dem Umstand, dass die wissenschaftliche Diskussion um Mills Werk im deutschsprachigen Raum derzeit eine Renaissance erfährt. Dies zeigt sich u. a. daran, dass eine Reihe von Neuübersetzungen erscheinen, die Texte zugänglich machen, die bisher nur in englischer Sprache vorlagen. 22 Hier sind vor allem zwei AU, AW, Band 2, S. 178. Vgl. Hans G. Nutzinger/Herwig Unnerstall/Gotlind Ulshöfer (Hg.), Ökonomie Nach-Denken. Zur Aktualität von John Stuart, Marburg 2014; vgl. ferner John Stuart Mill, Liberale Gleichheit. Vermischte politische Schriften, hrsg. v. Hubertus Buchstein/Antonia Geisler, Berlin 2013; Simon Derpmann, Mill. Einführung und Texte, Paderborn 2014.

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Projekte zu nennen: Zum einen das auf fünf Bände angelegte Editionsprojekt von Ackermann und Schmidt, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, Mill als Denker der Freiheit vorzustellen. 23 Freilich hat diese Sichtweise ihre Berechtigung, gleichwohl besteht hier die Gefahr einer einseitigen Lesart, die Mill nicht immer gerecht wird. Sein Denken ist mehr als der Versuch, den Liberalismus gegen sozialistische und konservative Feinde zu verteidigen. Auch postuliert Mill keineswegs ein rein negatives Verständnis von Freiheit; seine liberale Anschauung umfasst neben der Grammatik des neuzeitlichen Individualismus auch eine Berücksichtigung des Gemeinwohls und der sozialen Gerechtigkeit. Damit orientiert er sich im Rückgriff auf die bildungstheoretischen Arbeiten Humboldts auch am Ideal der Selbstverwirklichung, wie Honneth feststellt. 24 Das zweite Übersetzungsprogramm 25 , das unter der Leitung von Aßländer, Birnbacher und Nutzinger betrieben wird, verfolgt das Ziel, Mills Schriften zur Politischen Ökonomie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen: »Anliegen einer deutschsprachigen Werkauswahl ist es, mit den ökonomischen Schriften wichtige Schlüsseltexte der ökonomischen Wissenschaft in zeitgemäßer Form erneut verfügbar zu machen.« 26 Die ebenfalls auf fünf Bände angelegte Werkauswahl enthält alle relevanten ökonomischen Schriften Mills. Die Herausgeber beider Übersetzungsprojekte sind offenkundig bestrebt, die bisher einzige deutschsprachige Gesamtausgabe (1869–1886, Neudruck: Aalen 1968) zu ersetzen, um die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Mills sozialphilosophischem und ökonomischem Werk im deutschsprachigen Raum zu fördern. 27 Vor dem Hintergrund dieser Absicht wird deutlich, dass die meisten wissenschaftlichen Arbeiten, die im deutschsprachigen Raum zu Mill erschienen sind, einen philosophischen oder ökonomischen Charakter aufweisen. Dem Desiderat eines genuin pädagogischen Zugriffs Vgl. John Stuart Mill, Ausgewählte Werke in 5 Bänden, hrsg. v. Ulrike Ackermann/Christoph Schmidt-Petri, Hamburg 2016. 24 Vgl. Axel Honneth, Das Recht der Freiheit, Berlin 2011, S. 75. 25 Vgl. John Stuart Mill, Ökonomische Schriften, 5 Bände, hrsg. v. Michael S. Aßländer/Dieter Birnbacher/Hans G. Nutzinger, Marburg 2014–2016. 26 Ebd., Band 1, S. 7. 27 Vgl. John Stuart Mill, Gesammelte Werke, 12 Bände, hrsg. v. Theodor Gomperz, Leipzig 1869–1886 (Neudruck: Aalen 1968); die englische Standardausgabe seiner gesammelten Werke bleibt von den Übersetzungsprogrammen unangetastet, vgl. John Stuart Mill, Collected Works of John Stuart Mill, 33 Bände, hrsg. v. J. M. Robson, Toronto 1963–1991. 23

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auf sein Werk ist bisher kaum Rechnung getragen worden. Im Rahmen der Wiedergeburt des akademischen Interesses an Mill möchte die vorliegende Studie einen bescheidenen Beitrag zum besseren Verständnis der pädagogischen Reichweite seines sozialphilosophischen Denkens leisten. Der Vollständigkeit halber werden im Folgenden aber auch die Untersuchungen vorgestellt, die keine dezidiert pädagogische Fragestellung behandeln. Bereits 1890 unternimmt Wehrmann den Versuch, Mills Lehre von der Erziehung in Ansätzen zu skizzieren. 28 Der knapp 40-seitige Essay ist allerdings kaum mehr als eine Einführung in seine Erziehungslehre. Eine sozialphilosophische Kontextualisierung seiner Pädagogik findet nicht statt, weshalb der Beitrag im vorliegenden Kontext nur am Rande berücksichtigt wird. Er übersieht, dass Mills Gedanken zur Erziehung und Bildung ihre volle Geltung nur entfalten, wenn sie vor dem Hintergrund seines gesellschaftstheoretischen Denkens diskutiert werden. Gleichwohl legt die Schrift Zeugnis ab von Mills Interesse an Erziehung und soll daher genannt werden. Eine neuere Studie, die ebenfalls im Bereich der Pädagogik anzusiedeln ist, behandelt die Frage nach der Funktion der Literatur in der Pädagogik der Utilitaristen zur Zeit John Stuart Mills. 29 Die Arbeit widmet sich dem lange vernachlässigten Thema, ob Pädagogik und menschliches Glück stärker aufeinander Bezug nehmen sollten. Dabei reflektiert sie in gelungener Weise die Funktion, die die schöne Literatur übernehmen kann. Dem Autor der Studie gelingt es, auf der Grundlage der utilitaristischen Philosophie des 19. Jahrhunderts die Verbindung zwischen Dichtung, Pädagogik und menschlichem Glück herauszuarbeiten. John Stuart Mill dient ihm dabei als Referenzobjekt seiner pädagogischen Argumentation, weil in seiner Erziehung die Nützlichkeitslehre der philosophischen Radikalen direkt zur Anwendung kommt. Wenn es um die Frage geht, in welcher Weise sich Mills ökonomische Anschauungen im Laufe seiner geistigen Entwicklung verändern, liefert die Studie von Roerig einen guten Überblick. 30 Im Rückgriff auf seine Autobiographie diskutiert sie die drei Perioden Vgl. Wehrmann, John Stuart Mills Lehre von der Erziehung, a. a. O. Vgl. Karlheinz Biller, Pädagogik, schöne Literatur und menschliches Glück. Die Funktion der Literatur in der Pädagogik der Utilitaristen zur Zeit John Stuart Mills, Münster/New York 1991. 30 Vgl. Franziska Roerig, Die Wandlungen in der geistigen Grundhaltung J. St. Mills zu volkswirtschaftlichen Problemen, Bergisch Gladbach 1930. 28 29

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seines originellen Fortschritts und stellt sie in Beziehung zu seiner Auffassung des Liberalismus. Nicht zuletzt sind es die Meinungen Comtes und die der Saint-Simonisten, die Mill dazu bewegen, den Standpunkt der philosophischen Radikalen zu verlassen und sozialistische und liberale Ideen miteinander zu verbinden. Eine eher sozialwissenschaftliche Perspektive wählt Bartsch, wenn er in seiner interessanten Studie nach dem Verhältnis von Liberalismus und arbeitenden Klassen in Mills Werk fragt. 31 Seine These lautet, dass sich die Einheit seiner Gesellschaftstheorie nicht über den Zusammenhang der Widersprüche seiner individuellen intellektuellen Entwicklung herstellen lässt. »Sie ergibt sich vielmehr aus dem Versuch, die entscheidenden sozialen und politischen Probleme der englischen Gesellschaft zwischen 1830 und 1870 zu lösen.« 32 Es ist leicht einzusehen, dass diese Fragestellung nur vor dem Hintergrund des Kapitalismus und der damit einhergehenden sozialen Frage behandelt werden kann. Mills soziale Philosophie bewegt sich damit im historischen Spannungsfeld zwischen Liberalismus und Sozialismus. Seine Lösung besteht bekanntlich in einer Harmonisierung dieser Antagonismen zu Lasten gedanklicher Kohärenz. Dass Mill auch für die Jurisprudenz bedeutsam ist, zeigt Jacobs, der die politische Philosophie und die Rechtsphilosophie des englischen Denkers erfasst und in einen inneren Zusammenhang stellt. 33 Sein Ziel ist, die in Mills Schriften verteilten Gedanken zur Politik und zum Recht zu systematisieren und sie im Hinblick auf ihren erkenntnistheoretischen Wahrheitsgehalt zu prüfen. Spätestens hier zeigt sich, wie inhaltsreich Mills Werk ist. Es enthält sowohl eine ökonomische und sozialethische 34 als auch eine juristische Dimension, auch wenn diese aufgrund seines methodischen Eklektizismus nicht in geschlossener Form vorliegt, sondern mit seiner Politik verwoben ist. Im Gegensatz zu Jacobs, der einen rechtsphilosophischen Zugriff wählt, verhandelt Buner in seiner Arbeit das moralische Engagement Mills unter Berücksichtigung seiner sozialphilosophischen und nationalökonomischen Lehren. 35 Die StuVgl. Volker Bartsch, Liberalismus und arbeitende Klassen. Zur Gesellschaftstheorie John Stuart Mills, Opladen 1982. 32 Ebd., S. 13. 33 Vgl. Herbert Jacobs, Rechtsphilosophie und Politische Philosophie bei John Stuart Mill, Bonn 1965. 34 Vgl. Mario Ludwig, Die Sozialethik des John Stuart Mills, Zürich 1963. 35 Vgl. Robert Buner, Das moralische Engagement von John Stuart Mill unter Be31

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die bewegt sich im Feld der Wirtschaftsethik und fragt nach der Vereinbarkeit von ökonomischer Rationalität und moralischem Handeln unter den gesellschaftlichen Bedingungen einer auf individuelle Nutzenmaximierung ausgerichteten kapitalistischen Marktwirtschaft. Aufgrund seiner exponierten Stellung in der Geschichte der Nationalökonomie und der Überzeugung, dass die liberale Wirtschaft sich nicht allein auf die wohlstandsmehrenden Kräfte der unsichtbaren Hand verlassen darf, sondern durch eine entsprechende moralische Einrahmung vor den negativen Auswirkungen des Kapitalismus geschützt werden muss, eignet Mill sich in hervorragender Weise dazu, Ökonomie und Ethik in ein konstruktives Gespräch miteinander zu bringen. Dieser Ansicht ist auch Buner, wenn er Mill als »Brückenbauer« 36 bezeichnet und versucht, seine moralphilosophischen und ökonomischen Schriften für wirtschaftsethische Fragestellungen fruchtbar zu machen. »Was Mill auszeichnet ist sowohl sein unbedingter Drang zur intellektuellen Redlichkeit, sein Wille zur Erlangung von objektiver, wissenschaftlich-exakter Wahrheit wie auch sein ebenso starkes Bedürfnis, normativ zu wirken und in diesem Zusammenhang zu Erkenntnissen zu gelangen, die sich für die Praxis als unmittelbar nützlich erweisen.« 37 Ähnlich wie Wehrmann versucht auch Rössner als einer der Wenigen Mills Ansichten für die Pädagogik gewinnbringend nutzbar zu machen. Vor dem Hintergrund einer »Beschäftigung mit wissenschaftstheoretischen Problemen im Rahmen der Analytischen Philosophie und vor allem mit dem Technologie-Problem in den Sozialwissenschaften und speziell in der Pädagogik (als Sozialwissenschaft)« 38 präsentiert Rössner Mill als Klassiker der wissenschaftlichen Pädagogik, wobei er Pädagogik hauptsächlich als empirische Erziehungswissenschaft versteht. Aufgrund des interdisziplinären Charakters der Studie und ihres wissenschaftstheoretischen Einschlags handelt es sich allerdings nicht um eine rein pädagogische Arbeit; will man sie dennoch innerhalb des universitären Fächerkanons verorten, »so kann man sie als philosophisch-psychologisch-

rücksichtigung seiner sozialphilosophischen und nationalökonomischen Lehren, St. Gallen 1983. 36 Ebd., S. 11. 37 Ebd., S. 12. 38 Rössner, Reflexionen zur pädagogischen Relevanz der Praktischen Philosophie John Stuart Mills, a. a. O., S. 7.

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(grundlagen-)pädagogische etikettieren« 39 . Rössners Arbeit zu Mill liefert den ersten Teil zu einer zweiteiligen Studie mit dem Titel Philosophische Studien zur Geschichte der empirischen Pädagogik, in der er sich das Ziel setzt, die Pädagogik der utilitaristischen Schule im 19. Jahrhundert zu rekonstruieren. Während der erste Band sich ausschließlich mit Mills sozialer Philosophie beschäftigt, werden im zweiten Buch 40 auch die Ansätze seines Vaters sowie die Ansichten Jeremy Benthams, Georg Grotes und Alexander Bains diskutiert. Rössner führt in die Geschichte der empirischen Erziehungswissenschaft ein, wobei Mill zweifellos eine Schlüsselrolle zukommt. Claeys hingegen trägt mit dem Gemeinschaftswerk Der soziale Liberalismus John Stuart Mills 41 dem Umstand Rechnung, dass in der Forschung vielfach ein Bild von Mill gezeichnet wird, das ihn als radikalen Marktliberalen darstellt. Im Kern möchten Claeys und seine Mitautoren zeigen, dass Mill bei genauerer Betrachtung einen sozialen Liberalismus entfaltet, der private Eigentumsrechte genauso verteidigt wie die Grundsätze sozialer Gerechtigkeit. Mill ist kein Vertreter des Wirtschaftsliberalismus, seine Ansicht der Politischen Ökonomie liefert vielmehr eine sozialliberale Modifikation: »Mills Leistung besteht darin, das Prinzip individueller Freiheit und Unabhängigkeit mit allen seinen Implikationen über rein formale politische und wirtschaftliche Beziehungen hinaus in den gesamten Bereich der Gesellschaft hineingetragen zu haben, bis das Ziel, das größtmögliche Maß an Gleichheit mit dem größtmöglichen Maß an Freiheit zu vereinbaren, zu einer Grundannahme in allen Beziehungen geworden war, ob zwischen Männern und Frauen oder zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.« 42 Dass Mills sozialphilosophisches Werk auch im Hinblick auf Fragen sozialer Gerechtigkeit von Bedeutung ist, zeigt Peter Hauer. Im Rückgriff auf die marktwirtschaftlichen Konzeptionen von Adam Smith, John Stuart Mill und Alfred Müller-Armack diskutiert er »Gerechtigkeit als regulative Idee einer politisch-sozialen Gemeinschaft« 43 . Ähnlich wie Buner bewegt Hauer sich damit im SpanEbd. Vgl. Lutz Rössner, Die Pädagogik der empiristisch-utilitaristischen Philosophie Englands im 19. Jahrhundert. Philosophische Studien zur Geschichte der empirischen Pädagogik II, Frankfurt am Main 1984. 41 Vgl. Claeys, Der soziale Liberalismus John Stuart Mills, a. a. O. 42 Ebd., S. 12 f. 43 Peter Hauer, Leitbilder der Gerechtigkeit in den marktwirtschaftlichen Konzeptio39 40

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nungsfeld von politischer Ökonomie und moralischer Philosophie: »Die zeitgenössische Wirtschaftsethik versucht in ihren Arbeiten eine erneute Synthese von ökonomischer Rationalität und philosophisch reflektierter Moralität im Sinne einer ethisch-normativen Fundierung moderner Ökonomie.« 44 Eine nicht weniger aufschlussreiche Studie hat Gaulke vorgelegt, obwohl es ihm nicht um eine genuin wirtschaftsethische Programmatik geht. Er hat sich vielmehr das Ziel gesetzt, die zwei vielleicht einflussreichsten Denker einer liberalen Ordnung der Gesellschaft miteinander zu vergleichen: John Stuart Mill und den Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek. 45 Und in der Tat verbindet diese beiden Liberalen weit mehr, als auf den ersten Blick zu sehen ist. Als einer der einflussreichsten neoliberalen Architekten des 20. Jahrhunderts hat Hayek sich intensiv mit der Sozialphilosophie Mills beschäftigt, »auch wenn sich in die Bewunderung für den vielseitigen Ökonomen, Philosophen und Politikwissenschaftler zunehmend kritische Wahrnehmungen einmischten, bis Hayek ihn schließlich für das Abdriften des klassischen Liberalismus in den Sozialismus verantwortlich machte« 46 . Gaulke weist zu Recht darauf hin, dass der größte Unterschied zwischen Mill und Hayek im Verständnis sozialer Gerechtigkeit liegt. 47 Während Mill versucht, seinen Utilitarismus mit den Grundsätzen der Gerechtigkeit in Einklang zu bringen, lehnt Hayek ein soziales Engagement ab: »Im Fall der ›sozialen Gerechtigkeit‹ haben wir es schlicht und einfach mit einem quasi-religiösen Aberglauben der Art zu tun, den wir respektvoll auf sich beruhen lassen sollten, solange er die, die daran glauben, glücklich macht, gegen den wir aber ankämpfen müssen, wenn er zum Vorwand wird, gegen andere Menschen mit Zwang vorzugehen.« 48 Den Befürwortern sozialer Gerechtigkeit wirft Hayek vor, dass die Betonung des Sozialen das Gefühl nen von Adam Smith, John Stuart Mill und Alfred Müller-Armack, Frankfurt am Main 1991, S. 11. 44 Ebd. 45 Vgl. Jürgen Gaulke, Freiheit und Ordnung bei John Stuart Mill und Friedrich August von Hayek, Frankfurt am Main 1994. 46 Hans Jörg Hennecke, Friedrich August von Hayek, Hamburg 2008, S. 35. 47 Vgl. Gaulke, Freiheit und Ordnung bei John Stuart Mill und Friedrich August von Hayek, a. a. O., S. 375. 48 Friedrich August von Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit. Eine Neufassung der liberalen Grundsätze der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie, Band 4, hrsg. v. Viktor Vanberg, Tübingen 2003, S. 217.

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individueller Selbstverantwortung zerstöre. 49 Auch teilt er nicht die Ansicht, dass Fragen der Produktion und Fragen der Verteilung des Erwirtschafteten getrennt voneinander behandelt werden können. Ein wohlfahrtsstaatlicher Umverteilungsapparat zum Ausgleich natürlicher Ungleichheiten ist mit Hayek nicht zu haben. Die Entstehung und Verteilung des Sozialprodukts gehören zusammen und können nicht aus Gründen der Gerechtigkeit auseinanderdividiert werden. »Während in methodologisch und ökonomisch relevanten Fragen die Abgrenzung zu Mill überwiegt, lassen sich die Übereinstimmungen am deutlichsten in der Verfassungstheorie und Verfassungspolitik nachvollziehen.« 50 Einen anderen Schwerpunkt legt Hottinger, indem er in seiner Studie das Eigeninteresse und individuelle Nutzenkalkül in den Theorien von Smith, Bentham und Mill diskutiert. 51 Die drei ökonomischen Autoren werden in einen vergleichenden Zusammenhang gestellt und im Hinblick auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede befragt. Die Arbeit liefert einen guten Überblick über die konzeptionellen Elemente einer liberalen Gesellschaftsordnung im Kontext einer im Entstehen begriffenen kapitalistischen Marktwirtschaft. Es werden nicht nur Fragen des methodischen Ansatzes und des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, sondern auch ethische Probleme und die schwierige Beziehung zwischen Ökonomie und Staat erörtert. Klein bedient sich ebenfalls der Tradition sozialphilosophischen Denkens, wenn sie in den Schriften von Platon, Aquin, Locke, Hume, Kant, Mill, Popper und Hayek die Relation von Erkenntnistheorie und Ordnungstheorie untersucht. 52 In ihrer gelungenen Analyse geht sie von der weitreichenden These aus, dass unsere erkenntnistheoretische Basis unmittelbare Folgen für unser ordnungspolitisches Verständnis und die Ausgestaltung einer effizienten Wettbewerbsordnung hat. »Die erkenntnistheoretische Position [der miteinander verglichenen Autoren] wird als methodologische Grundlage skizziert, um anschließend aufzuzeigen, welche ordnungspolitische Konzeption sich als Konsequenz aus deren charakteristischen Vgl. Henneke, Friedrich August von Hayek, a. a. O., S. 122. Ebd., S. 156. 51 Vgl. Olaf Hottinger, Eigeninteresse und individuelles Nutzenkalkül in der Theorie der Gesellschaft und Ökonomie von Adam Smith, Jeremy Bentham und John Stuart Mill, Marburg 1998. 52 Vgl. Nina Klein, Ökonomische Erkenntnistheorie und ordnungspolitische Implikationen, Lohmar 2000. 49 50

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Elementen ergibt.« 53 Klein erweist sich als profunde Kennerin Mills, wenn sie feststellt, dass er vor dem Hintergrund seiner empirischen Erkenntnistheorie das Bild einer wandelbaren Gesellschaft entfaltet, die durch den geplanten Einsatz von Wissen in Richtung eines vollkommeneren Zustands verändert werden kann. »Als Basis dieser Methode schreibt Mill dem Menschen die Fähigkeit zu, die gesellschaftlichen Institutionen beeinflussen und nach ihren Vorstellungen und mit einer bestimmten Zielsetzung anordnen zu können.« 54 Dieser Aspekt ist, wie sich zeigen wird, für die Beantwortung der in dieser Arbeit vorgelegten Fragestellung durchaus von Bedeutung. Um eine Gesamtdarstellung der Moralphilosophie Mills ist Pazos bemüht, der sich in eine Beschäftigung mit dem Utilitarismus begibt und seine Stärken und Schwächen analysiert. 55 Es geht ihm um eine Stärkung der utilitaristischen Philosophie. Zu diesem Zweck werden die verschiedenen Facetten von Mills Werk dargestellt und in einen inhaltlichen Zusammenhang gebracht. Diskutiert werden nicht nur seine Autobiographie und die Kritik an Benthams Philosophie, sondern auch die Übertragung der naturwissenschaftlichen Methode auf die Geisteswissenschaften. Den Kern aber bildet die Beschäftigung mit den Schriften Utilitarismus und Über die Freiheit, die das geistige Zentrum Mills bilden. Insgesamt liefert das Werk, was es leisten möchte: eine Gesamtdarstellung der Moralphilosophie John Stuart Mills. Aßländer und Ulrich versammeln hingegen eine Reihe von Artikeln, die das Ziel verfolgen, die diversen Aspekte der Sozialphilosophie Mills näher zu beleuchten und sie für die gegenwärtige Debatte um eine zukunftsfähige Ordnung der Wirtschaft fruchtbar zu machen. Den Autoren geht es vor allem darum, der unter dem Diktat der neoliberalen Doktrin um sich greifenden Absage der Grundsätze einer sozialen und gerechten Marktwirtschaft alternative Denkanstöße entgegenzustellen; »im Hinblick auf die saubere gedankliche Ordnung des Verhältnisses von bürgerlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, von Markt und Staat, wirtschaftlicher Produktivitätssteigerung und gesellschaftlichem Fortschritt, hat J. St. Mill uns heute wieder viel zu sagen« 56 . Ebd., S. 10. Ebd., S. 353. 55 Vgl. Manuel G. Pazos, Die Moralphilosophie John Stuart Mills: Utilitarismus, Marburg 2001. 56 Ulrich/Aßländer, John Stuart Mill – Der vergessene politische Ökonom und Philosoph, a. a. O., S. 8. 53 54

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Im Gegensatz zu Aßländer und Ulrich nimmt Höntzsch eine politikwissenschaftliche Perspektive ein, wenn sie nach der sozialen Dimension in Mills Freiheitsbegriff fragt. 57 Vor dem Hintergrund der Diagnose, dass die Mill-Forschung von einer gewissen Einseitigkeit geprägt ist, unternimmt sie den Versuch, diese zu überwinden. Zum einen macht sie sich daran, die ideengeschichtliche Vielseitigkeit in Mills Werk darzustellen, zum anderen formuliert sie die Annahme, dass man Mill nicht gerecht wird, solange man seinen sozialphilosophischen Arbeiten inhaltliche Inkompatibilität unterstellt. »Die Interpretation baut auf der revisionistischen These der systematischen Vereinbarkeit auf und geht davon aus, dass Mill seine nach wie vor liberale Theorie durch einen modifizierten Utilitarismus begründet.« 58 Aufgrund der sozialen Ausgestaltung seines Liberalismus kann es nicht verwundern, dass Höntzsch Mill in die Nähe zum Kommunitarismus 59 bringt, der vor dem Hintergrund der Atomisierung des Sozialköpers und dem allgemeinen Werteverfall die Prämissen der neoklassischen Theorie kritisiert und sich der Ausbreitung des Laissez-faire-Kapitalismus entgegenstellt.

2.

Aufbau der Studie

Die Arbeit gliedert sich in sechs Abschnitte. Der erkenntnistheoretische Mehrwert der einzelnen Kapitel liegt in der besonderen Art des Zugriffs auf Mills Werk begründet: Indem nach der systematischen Bedeutung von Erziehung und Bildung im Rahmen seiner sozialen Philosophie gefragt wird, liegt der Fokus auf den Erkenntnissen, die für die Beantwortung ebenjener Frage relevant sind, während andere Erkenntnisse im vorliegenden Kontext nur am Rande berücksichtigt werden. Zusätzlich müssen die drei zugrunde gelegten Prämissen auf ihre Belastbarkeit hin überprüft werden. Die Studie beginnt mit einer Auseinandersetzung mit Mills Aufsatz Zivilisation aus dem Jahr 1836. Sinnvoll erscheint dieses Vor-

Vgl. Frauke Höntzsch, Individuelle Freiheit zum Wohle Aller – Die soziale Dimension des Freiheitsbegriffs im Werk des John Stuart Mill, Wiesbaden 2010. 58 Ebd., S. 15. 59 Zum Kommunitarismus siehe Axel Honneth (Hg.), Kommunitarismus – Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt am Main 1993. 57

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Aufbau der Studie

gehen deshalb, weil Mill darin die politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse seiner Zeit kritisch beurteilt. Insofern liefert der Artikel eine zeitdiagnostische Rahmung, vor dessen Hintergrund die einzelnen Kapitel ihre Bedeutung erhalten. Der Aufsatz gehört nicht zuletzt aus systematischen Gründen zu Mills wichtigsten Arbeiten und ist daher im vorliegenden Kontext von besonderer Relevanz. Im ersten Kapitel wird Mills außergewöhnliche Erziehung behandelt, die durch seinen ehrgeizigen Vater vollzogen wird und unter dem direkten Einfluss der utilitaristischen Philosophie Benthams steht, einem engen Freund der Familie. Die Beschäftigung mit Mills Autobiographie findet ihren Grund vor allem in der Prämisse, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Mills Bildungsgang und seinem sozialphilosophischen Werk. Das Ziel besteht darin, gesellschaftliche und bildungspolitische Motive freizulegen, von denen angenommen werden kann, dass sie in der strukturellen Entfaltung seiner sozialphilosophischen Gedanken eine wichtige Rolle spielen. Zu diesem Zweck werden die ersten vier Kapitel seiner Autobiographie diskutiert, weil sie die entscheidenden Jahre seiner Erziehung beinhalten und einen einzigartigen Blick auf seine Sozialisation werfen. Es werden ideengeschichtliche Einflüsse genauso sichtbar wie der starke charakterliche Einfluss seines vom Utilitarismus geprägten Vaters, der seinen Sohn praktisch im Alleingang erzieht. Mills Kritik an der utilitaristischen Philosophie Benthams gefolgt von einer Beschäftigung mit der romantischen Philosophie Coleridges bilden den Schlusspunkt des Kapitels. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den bildungspolitischen Schriften Mills. Es beginnt mit einer Diskussion über den Zusammenhang von allgemeinem Erkenntnisgewinn, individuellem Glück und persönlicher Entwicklung. Im Anschluss daran werden Mills Ansichten zur Säkularisierung im Kontext der öffentlichen Schulen verhandelt. Dabei steht vor allem im Vordergrund, dass Bildung für ihn ein Gut ist, das allen Mitgliedern der Gesellschaft in gleicher Weise offenstehen sollte und nicht nur dem Geistesadel. Um die Frage zu beantworten, inwieweit Mill die Humboldt’sche Idee ganzheitlicher Bildung ins Zentrum des Interesses rückt, werden seine Ansichten zum Bildungsauftrag der Universitäten ebenfalls diskutiert. Eine Beschäftigung mit der dieses Ideal unterstützenden Unterrichtsmethode soll diesen Aspekt ergänzen. Am Ende des Kapitels findet zudem eine bildungspolitische Diskussion vor dem Hintergrund der sich ausbreitenden Industrialisierung und der damit einhergehenden sozialen 33 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

Einleitung

Frage statt. Im vorliegenden Kontext ist vor allem die Frage interessant, auf welche Weise Mill fordert, die arbeitenden Klassen mit Bildung zu versorgen, während die konträre Position auf eine zivilgesellschaftliche Kultur der Mildtätigkeit setzt, um das Elend der Arbeiterschaft zu lindern. Das dritte Kapitel stellt Mills erstes großes Werk vor. In der Logik unternimmt er den Versuch, den von ihm diagnostizierten Rückstand der Moralwissenschaften (Geisteswissenschaften) durch eine Übertragung der naturwissenschaftlichen Methoden zu beseitigen. Die Schrift ist aus mehreren Gründen von Interesse. Zum einen liefert Mill darin einen Überblick über die von ihm vorgestellte Wissenschaft von der menschlichen Natur, die aus den Disziplinen der Psychologie, Ethologie und Sozialwissenschaft besteht, wobei die Ethologie als Lehre von der Entstehung des menschlichen Charakters im vorliegenden Kontext von besonderer Bedeutung ist. Zum anderen findet hier auch eine Beschäftigung mit den Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung von Gesellschaften im Rahmen des zivilisatorischen Fortschritts statt, was insofern wesentlich ist, als dass Mills Gedanken zur Erziehung und Bildung nur verstanden werden können, wenn sie vor dem Hintergrund seiner allgemeinen Fortschrittstheorie diskutiert werden. Abgerundet wird das Kapitel durch eine Beschäftigung mit der Stellung der Kunst (Ethik), die von der Wissenschaft abzugrenzen ist, aber in enger Beziehung zu ihr steht. Es ist offenkundig, dass dieser Punkt das wissenschaftstheoretische Gelenkstück zu seinem Utilitarismus bildet. Daran anschließend liefert das vierte Kapitel eine Beschäftigung mit Mills Auffassung der Nützlichkeitslehre. Es beginnt mit einigen Bemerkungen zu Mills jugendlicher Depression, die insofern relevant ist, als dass sie bei ihm zu einer Reihe von geistigen und charakterlichen Veränderungen führt, die ihren Niederschlag in einer inhaltlichen Korrektur des klassischen Utilitarismus finden, in dessen Geist er von seinem Vater erzogen worden ist. Der Abschnitt möchte zeigen, inwiefern Mills persönliche Entwicklung einen Einfluss auf den Fortschritt seines sozialphilosophischen Denkens hat. Auch soll untersucht werden, wie es Mill gelingt, die Nützlichkeitslehre mit Elementen der griechischen Tugendlehre zu verbinden. Dass dabei die Differenz zwischen niederen und höheren Freuden sowie die Kultivierung des Charakters im Zentrum stehen, ist im vorliegenden Untersuchungskontext ebenso von Bedeutung. Das Kapitel schließt mit Mills Überlegungen zum Verhältnis von Gerechtigkeit und Nützlich34 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

Aufbau der Studie

keit. Will man die Bedeutung seiner bildungspolitischen Anstrengungen im Rahmen seiner Sozialphilosophie verstehen, muss man eine Vorstellung davon entwickeln, dass für Mill alle Fälle der Nützlichkeit zugleich Fälle der Gerechtigkeit sind. Die Schrift Utilitarismus liefert den moralischen Gehalt der Verfassung der Gesellschaft und kann nicht losgelöst von den erzieherischen Gedanken der Bildung des Geistes und Charakters nicht betrachtet werden. Das fünfte Kapitel nimmt sich Mills Abhandlung Über die Freiheit vor. Hier soll es darum gehen, den charakterlichen Einfluss seiner langjährigen Lebenspartnerin und späteren Ehefrau, Harriet Taylor, sichtbar zu machen, der sich nicht zuletzt in Mills Hinwendung zum Sozialismus und dem Versuch zeigt, kameradschaftliche Gedanken mit dem Liberalismus zu verbinden. Auch soll Mills Freiheitsbegriff dargestellt werden, denn für die Beantwortung der Frage nach der systematischen Bedeutung von Bildung und Erziehung im Rahmen seiner Sozialphilosophie muss geklärt werden, in welchem Verhältnis Bildung und Freiheit zueinander stehen. An dieser Stelle soll auch untersucht werden, inwiefern Mill sich an Humboldts Bildungsidee anlehnt und den neuzeitlichen Individualismus im Rahmen seiner gesellschaftlichen Fortschrittstheorie als ein wichtiges Element der menschlichen Wohlfahrt erkennt. Meinungsfreiheit und der Schutz des Individuums vor staatlicher Willkür sind kein Selbstzweck, als Werte sind sie fester Bestandteil einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung sowie Elemente einer allgemeinen Theorie der zivilisatorischen Entwicklung des Menschengeschlechts. Die Erziehung des menschlichen Charakters ist dabei von Relevanz und kann von einer Diskussion über die Ausgestaltung bürgerlicher Freiheiten nicht getrennt werden. Im letzten Abschnitt der Arbeit werden die Ergebnisse dokumentiert. Vor dem Hintergrund der Leistungen der vorigen fünf Kapitel soll hier zunächst geklärt werden, wie Mill die Begriffe Bildung und Erziehung versteht. In einem zweiten Schritt wird der Versuch unternommen, eine Antwort auf die vorgelegte Fragestellung zu formulieren. An dieser Stelle der Arbeit wird sich dann auch zeigen, ob sich die eingangs dargelegten drei Prämissen als belastbar erwiesen haben.

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Einleitung

3.

Präludium: Wirkungen der Zivilisation

Will man Mills sozialphilosophisches Werk angemessen verstehen, muss sein bekannter Aufsatz Zivilisation aus dem Jahr 1836 berücksichtigt werden. 60 Der Essay ist insofern von Bedeutung für seine Arbeit, als dass er darin die politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse seiner Zeit reflektiert und beurteilt. Es erscheint daher zweckmäßig, ihn den nachfolgenden Kapiteln, in denen Mills sozialphilosophisches Werk im Detail diskutiert wird, voranzustellen, nicht zuletzt aus systematischen Gründen. Der Aufsatz wird zu einer Zeit verfasst, in der Mill sich vor allem mit Fragen der englischen Politik beschäftigt und die demokratischen Reformbemühungen der philosophischen Radikalen unterstützt. 61 Zu seinem Engagement gehört zunächst das Schreiben von Zeitungsartikeln und Diskussionsbeiträgen, mit deren Hilfe die freiheitlichen Ideen der Radical Party einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen. Die philosophischen Radikalen, welche sich regelmäßig im Haus der Mills treffen, um über politische und philosophische Probleme zu diskutieren, wollen jedoch noch einen Schritt weiter gehen und fassen den Entschluss, ein eigenes Magazin herauszugeben 62 ; dieses soll das bisherige Fachblatt der Liberalen, die Westminster Review, ablösen. Nachdem ein Mitglied der Partei, Sir William Molesworth, 1834 angeboten hat, die Anstrengungen der Vereinigung sowohl durch seine Feder als auch durch seinen Geldbeutel zu unterstützen, setzt die intellektuelle Interessengemeinschaft ihre Idee in die Tat um. Die einzige Bedingung, die Molesworth an die Finanzierung knüpft, ist, dass der junge Mill die Leitung der Redaktion übernimmt. In seiner Autobiographie schreibt Mill dazu: »Ein solcher Antrag ließ sich nicht zurückweisen, und das Journal Viele der Gedanken, die Mill in diesem Aufsatz ausführt, sind bereits in einigen publizierten Artikeln unter dem Titel Der Geist der Zeit aus dem Jahr 1831 vorbereitet worden. Wie manche seiner Zeitgenossen beobachtet auch Mill gesellschaftliche Veränderungen. In seinen Beiträgen geht es ihm darum, »einige von meinen neuen Anschauungen zu integrieren und gerade im Charakter der gewärtigen Zeit Anomalien und schlimmen Züge des Übergangs aus einem System von Meinungen, die sich abgenutzt haben, zu einem andern darzulegen, das erst im Werden begriffen ist.« Au, AW, Band 2, S. 138 f. Zum Inhalt der einzelnen Aufsätze siehe GdZ, AW, Band 5, S. 47–104. 61 Vgl. dazu Simon Maccoby, The English Radical Tradition 1763–1914, Nicholas Kaye, London 1952. 62 Vgl. Au, AW, Band 2, S. 154 f. 60

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Präludium: Wirkungen der Zivilisation

entstand, anfangs unter dem Namen London Review, später unter dem der London and Westminster Review, da Molesworth das Westminster-Blatt seinem Eigentümer, dem General Thompson, abkaufte und die beiden zu einem verschmolzen.« 63 Ganze sechs Jahre widmet Mill sich dieser nicht immer befriedigenden Aufgabe, bis das ehrgeizige Vorhaben, eine radikal demokratische Zeitung im öffentlichen Diskurs zu etablieren, schließlich 1840 scheitert. Mill übergibt das Journal an William E. Hickson, einen englischen Philanthropen und Anhänger der philosophischen Radikalen, mit der Auflage, es unter der alten Bezeichnung Westminster Review weiterzuführen. »Unter diesem Namen führte Mr. Hickson die Zeitung noch zehn Jahre nach dem Plan fort, dass nur der Reinertrag der Zeitung unter die Mitarbeiter verteilt werden sollte, während er selbst als Beiträger und Herausgeber auf ein Honorar verzichtete.« 64 Im Anschluss an die Zeitungsübergabe wendet Mill sich neuen Aufgaben zu. Die Logik der Moralwissenschaften, welche im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit verhandelt wird, kann als erstes größeres Ergebnis dieser Neuorientierung angesehen werden, auch wenn sich darin viele Themen und Gedanken aus der Zeit des politischen Kampfes wiederfinden. Im Gegensatz dazu fällt der Aufsatz Zivilisation noch in die Blütezeit der philosophischen Radikalen. Das Manuskript zur Abhandlung wird von Mill im Herbst 1835 im Alter von 29 Jahren verfasst 65 ; veröffentlicht wird der Aufsatz dann – nicht ohne eine gewisse Symbolik – in der ersten Ausgabe der gerade von den Liberalen gegründeten Zeitung London und Westminster Review unter dem Titel Civilisation – Signs of the Time. Der Essay ist für Mills sozialphilosophisches Werk vor allem aus zwei Gründen von Bedeutung. 66 Zum einen liefert der Aufsatz ein gutes Bild von Mills Auffassung einer zivilisierten Gesellschaftsordnung in Abgrenzung zu halbzivilisierten und unzivilisierten Formen des Zusammenlebens. Zum anderen enthält die Abhandlung vor dem Hintergrund einer allgemeinen Zeitdiagnose eine Reihe von Reformvorschlägen, welche er in seinen späteren Werken wieder aufgreift und vertieft. In diesem Sinne lässt sich der Aufsatz als »eine Art Regieanweisung an ihn

63 64 65 66

Ebd., S. 155. Ebd., S. 167. Vgl. Mill, Liberale Gleichheit. Vermischte politische Schriften, a. a. O., S. 15. Vgl. zu den folgenden zwei Punkten ebd.

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Einleitung

selbst im Hinblick auf die thematischen Schwerpunkte seiner zukünftigen Arbeit« 67 verstehen. Der Aufsatz beginnt mit einer Definition des Begriffs der Zivilisation: 68 Mill möchte den Ausdruck nicht »als Synonym von Vervollkommnung, sondern als direkte Kehrseite oder als das Gegenteil von Rohheit und Barbarei« 69 verstanden wissen. Unzivilisierte und halbzivilisierte Verbände bestehen für ihn aus einer Handvoll von Individuen, die in kleinen Gruppen umherwandern. Die Wilden 70 , wie Mill Ebd. Zum Prozess der Zivilisation siehe auch Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation – Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bände, Frankfurt am Main 2010. 69 Zi, AW, Band 2, S. 395. 70 Diese durchaus problematische Begriffsverwendung muss vor dem wissenschaftlichen und kulturellen Hintergrund einer historischen Einordnung gesehen werden. Ein gegenwärtiger Gebrauch müsste zweifellos reflektiert und überaus kritisch bewertet werden. Beim Wilden, den Mill heranzieht, um den Unterschied zwischen Gesellschaften herauszuarbeiten, die sich seiner Meinung nach auf unterschiedlichen Stufen der zivilisatorischen Entwicklung befinden, handelt es sich ferner nicht um eine empirische Tatsache, sondern um ein theoretisches Konstrukt, das sich beispielsweise auch bei Rousseau findet – hier allerdings als Ideal. »Fassen wir kurz zusammen, durch welche Eigenschaften sich Rousseaus Mensch im ›Zustande der Natur‹ definiert. Die Hauptsorge des Naturmenschen besteht darin, für seine lebenswichtigen Bedürfnisse aufzukommen, was ihm nicht allzu schwerfällt, da sich seine Sinnesorgane und körperlichen Fähigkeiten schnell entwickeln und die Natur alles bereit hält, dessen er bedarf, und zwar in so reichlichem Maße, daß keiner die Befriedigung des andern in Frage stellt. Der Instinkt des Naturmenschen entspricht demjenigen der Tiere, ja er bildet in sich die spezifischen Instinkte und Fähigkeiten der Tierarten gleichzeitig aus; der Naturmensch ist kräftig, sein gesundes Dasein im Freien macht ihn widerstandsfähig gegenüber Krankheiten, er fürchtet das Alter nicht und denkt kaum je an den Tod. Der Naturmensch lebt nicht in Gesellschaft, hat mit niemandem einen Besitz zu teilen und folglich keinen Grund, irgendwen zu beneiden. Er ist wenig Leidenschaften unterworfen, seine Liebe ist frei von beunruhigenden Wunschvorstellungen und beschränkt sich auf das einfachste physische Bedürfnis; er ist genügsam, und es fällt ihm nicht ein, mit seinem Schicksal zu hadern.« Urs Bitterli, Die Wilden und die Zivilisierten – Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1991, S. 281 f. Eine dieser Auffassung entgegengesetzte Ansicht findet sich bei Condorcet, einem von Mill sehr geschätzten Autor; siehe dazu Au, AW, Band 2, S. 99. Condorcet liefert eine kulturgeschichtliche Betrachtung, die ihren Anfang beim Wilden nimmt und sich dann in Richtung des zivilisatorischen Fortschritts entwickelt. »Die Erfindung von Sprache und Schrift, die Einführung der Arbeitsteilung, die Entwicklung und Spezialisierung der Wissenschaften und Künste, die Fortschritte in der Technik und damit die Erleichterung des internationalen Handels sind die Hauptfaktoren gewesen, die nach und nach dazu beigetragen haben, den Menschen von einer anfänglichen Unmündigkeit zu befreien, 67 68

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Präludium: Wirkungen der Zivilisation

sie nennt, leben nicht in Siedlungen oder Städten, sondern besiedeln dünn verstreut weite Landstriche. Auch betreiben sie kaum Handel miteinander und besitzen keine Volkswirtschaft im eigentlichen Sinne des Wortes; »dagegen nennen wir ein Land, das reich ist an Produktion des Ackerbaus, des Handelns und der Industrie, zivilisiert« 71 . Im wilden Leben kümmert jedes Stammesmitglied sich ausschließlich um sich selbst und um die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse, weshalb es bei den Barbaren auch keine Rechtspflege und »keine systematische Anwendung der Kollektivkraft der Gesellschaft« 72 gibt. Lediglich im Krieg überwinden sie für kurze Zeit ihre Selbstzentriertheit, um von dieser im Frieden erneut profitieren zu können. Die Folge des eine Gemeinschaft verhindernden Egoismus ist, dass die Individuen keinen Schutz vor gegenseitig zugefügtem Unrecht genießen; hier ist jeder auf sich allein gestellt und einzig auf seine Gewalt und seine Fähigkeit zur Machtmittelakkumulation angewiesen. Unter naturzustandsähnlichen Bedingungen ist Sicherheit nur durch präventive Gewaltanwendung zu haben. Im Gegensatz dazu findet sich, laut Mill, in zivilisierten Gesellschaften nicht nur eine ausgeprägte Neigung zur Geselligkeit, sie sind auch so organisiert, dass das Individuum und dessen Eigentum durch Rechtstaatlichkeit geschützt sind. Die Bürger zivilisierter Gesellschaften vertrauen auf die staatlichen Institutionen und deren Fähigkeit, den Frieden im Land zu sichern, wobei zivilisatorische Entwicklungen mit anderen Fortschritten Hand in Hand gehen. Mill vertritt die Auffassung, dass alle Elemente des Zusammenlebens in einer Wechselwirkung zueinander stehen. Wo gesellschaftliche Erneuerungen zu beobachten sind, kann geschlossen werden, dass diese durch andere Fortschritte begleitet werden. »Die Geschichte und ihre eigene Natur beweisen hinlänglich, dass sie immer zusammen beginnen, zugleich existieren und einander in ihrem Wachstum begleiten.« 73 Allerdings sind nur solche Verbindungen möglich, die dem Prinzip der Gleichförmigkeit folgen. Es die ursprünglich sozialen Ungleichheiten zu mindern, das Behagen am Dasein zu vergrößern, – man beachte die bezeichnende Verschiebung von Condorcets Gesichtspunkt gegenüber den Auffassungen Rousseaus.« Bitterli, Die Wilden und die Zivilisierten – Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, a. a. O., S. 291. 71 Ebd., S. 395. 72 Ebd. 73 Ebd., S. 396.

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Einleitung

zeigt sich, dass die Elemente der Gesellschaft nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können, sondern stets im Rahmen ihrer Interdependenzen untersucht werden müssen. Dieser Gedanke findet seinen Ausdruck vor allem im Bild der Gesellschaft als physischen Körper, wo die Zustände einzelner Organe die Beschaffenheit des gesamten Organismus beeinflussen. 74 Doch wie sieht Mill seine eigene Epoche, wie beurteilt er die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen er selbst lebt? Generell lässt sich sagen, dass er sein Zeitalter aufgrund der Entwicklungen positiv bewertet. Allerdings macht er zugleich eine Einschränkung: Es ist zwar richtig, dass der menschliche Fortschritt mit einer allgemeinen Tendenz zur Verbesserung in vielen Bereichen der Gesellschaft einhergeht, gleichzeitig lässt sich aber auch beobachten, »dass unsere Zeit auf vielen anderen Gebieten menschlicher Vervollkommnung nicht dieselben Fortschritte oder dieselben Aussichten auf Fortschritte aufzuweisen hat« 75 . Der zivilisatorische Fortschritt scheint auf einigen Gebieten stillzustehen, auf anderen gar zurückzugehen, während er auf wieder anderen Gebieten voranschreitet, so Mills Zeitdiagnose. Der Fortschritt, so die paradoxe Einsicht, erzeugt neben Besserungen offenbar auch gesellschaftliche Tatsachen, die dem Prozess der Zivilisation an bestimmten Stellen in der Gesellschaft entgegenlaufen, umfassenden Fortschritt verhindern. Bevor Mill sich jedoch den Folgen der Zivilisation im Einzelnen zuwendet, diskutiert er noch zwei grundsätzliche Aspekte moderner Gesellschaften in Abgrenzung zu den Stämmen der Wilden. Zunächst macht er darauf aufmerksam, dass es in der Menschheitsgeschichte schon immer zwei wesentliche Grundbedingungen für Macht und Einfluss gegeben hat, das Eigentum einerseits und die Bildung andererseits. Am Anfang jeder gesellschaftlichen Entwicklung, so seine These, sind Eigentum und Bildung fast ausschließlich in den privilegierten Klassen zu finden, während den arbeitenden Klassen der Zugang zu diesen wohlstandsbildenden Ressourcen in der Regel verwehrt bleibt. Erst im Laufe der zivilisatorischen Entwicklung entsteht in der Gesellschaft allmählich das, was Mill als die Erstarkung des Mittelstandes bezeichnet. 76 Mit steigendem Zivilisationsgrad spielen die Massen in der Gesellschaft eine immer größere 74 75 76

Vgl. Mill, Zur Logik der Moralwissenschaft, a. a. O., S. 118. Zi, AW, Band 2, S. 394. Vgl. ebd., S. 397.

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Präludium: Wirkungen der Zivilisation

Rolle, nicht zuletzt deshalb, weil sie durch den historischen Zuwachs an Eigentum und Geisteskraft an politischer Macht und ökonomischen Einfluss gewinnen. Es ist erkennbar, dass diese Entwicklung mit einer Schwächung des Individuums verbunden ist, weil alle gesellschaftlichen »Resultate mehr und mehr durch Bewegungen der Massen erzielt werden müssen« 77 . Wie aber entsteht menschlicher Fortschritt, welche Bedingungen sorgen dafür, dass aus einem unzivilisierten oder halbzivilisierten Verbund von Individuen eine zivilisierte Gesellschaft wird? Um eine Antwort auf diese Frage zu geben, wendet Mill sich erneut der Lebensweise der Barbaren zu. Im Rahmen seiner Analyse kommt er zu dem Schluss, dass es hauptsächlich ein soziales Element ist, das bei nicht zivilisierten Gemeinschaften kaum entwickelt ist: die Kooperation. »Alle Vereinigung ist Kompromiss: die Aufgabe eines Teils des persönlichen Willens zugunsten eines gemeinsamen Zwecks.« 78 Dass die Fähigkeit zur Kooperation ein Bestandteil menschlicher Grammatik ist, zeigt sich auch in Mills Utilitarismus, wenn er von der Natürlichkeit sozialer Gefühle spricht. »Soziales Zusammenleben ist dem Menschen […] so natürlich, so notwendig und so vertraut, dass er sich […] nie anders denkt denn als Bestanteil eines Körpers.« 79 Doch dazu ist der Wilde nicht fähig, seine charakterliche Beschaffenheit gestattet ihm nicht, seine privaten Nutzenüberlegungen den Zwecken des Kollektivs unterzuordnen, seine lustbetonte Selbstsucht durchzieht sein ganzes Wesen; sein Denken ist allein auf den eigenen Vorteil gerichtet, orientiert sich allein an den strategischen Einsichten aristotelischer Klugheit und ist insofern von jeder die berechnende Vernunft schwächende Emotionalität gereinigt. Den Grund für die nicht vorhandene Kooperationsfähigkeit des Wilden erblickt Mill allerdings nicht im anthropologischen Ausgangspunkt des Menschen, da dieser, wie bereits gezeigt worden ist, aufgrund seiner sozialen Gefühle prinzipiell auf Kooperation ausgelegt ist; vielmehr erblickt er das im Wilden verortete Gemeinschaftsdefizit im niedrigen Zivilisationsgrad der Gesellschaft. Anders formuliert, auf einer frühen Stufe des zivilisatorischen Fortschritts ist der Mensch noch nicht daran gewöhnt, mit anderen zusammenzuarbeiten. In unzivilisierten und halbzivilisierten Gesellschaften wird 77 78 79

Ebd. Ebd., S. 398. Ebd., S. 477.

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Einleitung

nicht miteinander, sondern nebeneinander gearbeitet: »Ein Mann gräbt ein Stück Land um und ein anderer dicht bei ihm ein gleiches Stück.« 80 Vor dem Hintergrund seiner allgemeinen Fortschrittstheorie geht Mill davon aus, dass die natürliche Fähigkeit zur Zusammenarbeit zunimmt, je weiter der zivilisatorische Prozess vorangeschritten ist. Kooperation, so seine weitreichende These, kann durch Erziehung und praktische Übung erlernt werden. »Der ganze Gang der fortschreitenden Zivilisation ist […] eine Reihe solcher Übungen.« 81 Damit stellt Mill eine direkte Verbindung her zwischen menschlichem Fortschritt, gesellschaftlicher Kooperation und individueller Erziehung. Ihren einstweiligen Höhepunkt erreicht die »große Schule der Kooperation« 82 in der arbeitsteiligen Gesellschaft des Industriezeitalters. Im Gang der Zivilisation lernt der Mensch seine Selbstsucht umzuarbeiten und sein Wirkungsvermögen nicht nur zur Steigerung des eigenen, sondern auch des kollektiven Glücks einzusetzen. Auf diese Weise wird die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt gesteigert. »Die Kennzeichen eines Zustands hoher Zivilisation sind demnach die Ausbreitung von Besitz und Intelligenz und das Vermögen des Zusammenwirkens.« 83 Mill geht es nun darum zu zeigen, welche Entwicklung die Zivilisation in den letzten Jahrzehnten genommen hat. Als Beleg für den Erfolg der Zivilisation verweist er auf die Kapitalmenge, die in den größten europäischen Ländern und besonders in Großbritannien in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. Auch ist zu beobachten, dass der Mittelstand und die arbeitenden Klassen ihre Eigentumsquote und ihr Bildungsniveau im Vergleich zu den Jahren davor spürbar anheben konnten. Die Zivilgesellschaft hat ihr soziales Engagement weiter ausgebaut und eine Vielzahl von Vereinen für politische, religiöse und philanthropische Zwecke gegründet. Die Zeitung als erstes Mittel der Meinungsbildung ist jetzt allgemein zugänglich, so dass nicht nur die Eliten, sondern auch die Massen an den politischen, sozialen und ökonomischen Debatten partizipieren können. Den größten Fortschritt erblickt Mill jedoch in den Reihen der arbeitenden Klassen. Im Geist solidarischer Kooperation 80 81 82 83

Ebd., S. 399. Ebd. Ebd. Ebd., S. 400.

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Präludium: Wirkungen der Zivilisation

haben sie nicht nur Hilfsvereine zur Unterstützung arbeitsunfähiger Kollegen und deren Familien gegründet, sie beginnen auch, Gewerkschaften zu gründen, um für bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne und soziale Anerkennung zu kämpfen. Während bei den Massen insgesamt eine begrüßenswerte Entwicklung zu verzeichnen ist, der Mittelstand und die arbeitenden Klassen ihre gesellschaftliche und soziale Situation verbessern konnten, stellt Mill bei den privilegierteren Klassen eine gegenläufige Entwicklung fest. Ihre geistige und sittliche Energie hat nicht zu-, sondern abgenommen. Doch wie ist es zu erklären, dass der Fortschritt sich nicht in allen Klassen der Gesellschaft gleichermaßen niederschlägt? Mill formuliert die These, »dass auch diese Tatsache von den Tendenzen der Zivilisation zu erwarten ist, solange kein Versuch gemacht wird, diese zu berichtigen« 84 . Die zivilisatorische Entwicklung erzeugt also nicht nur wünschenswerte Umstände, sondern bringt auch eine Reihe gesellschaftlicher Tatsachen hervor, die konträr zum menschlichen Fortschritt verlaufen, solange ihnen keine korrigierenden Kräfte entgegengestellt werden. Mill unterscheidet grundsätzlich zwei Arten von Wirkungen: einerseits Wirkungen, die durch den zivilisatorischen Fortschritt direkt erzeugt werden und sich im Charakter der Menschen niederschlagen, andererseits Wirkungen, die sich aus der mit dem Fortschritt einhergehenden Erstarkung der Massen und dem damit verbundenen Bedeutungsverlust des Individuums ergeben. Eine erste Wirkung besteht beispielsweise im Nachlassen persönlicher Energie, was sich vor allem daran zeigt, dass die Individuen sich hauptsächlich auf den Gelderwerb konzentrieren, während sie nur wenig Bereitschaft zeigen, sich für die Bedürfnisse und Interessen anderer Menschen einzusetzen. Den Grund für diese selbstsüchtige Verhaltensdisposition erblickt Mill in dem Umstand, dass mit dem Voranschreiten der Zivilisation das Individuum mehr und mehr von den Institutionen der Gesellschaft abhängig wird. Während der Wilde noch im hohen Maße auf seine körperliche Kraft und Klugheit angewiesen ist, um seine Familie und sein Eigentum zu schützen, haben in zivilisierten Gesellschaften jene Aufgaben die staatlichen Institutionen übernommen, mit der Folge, dass die Menschen bequem geworden sind. Und da Geld ein hervorragendes Mittel ist, den Zustand mühelosen

84

Ebd., S. 402.

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Einleitung

Wohlbefindens zu verstetigen, kümmern sich die Bürger in erster Linie um die Vermehrung ihrer Finanzmittel. Gleichwohl gilt dies nicht für alle. Insbesondere die höheren Klassen, so Mill, haben bereits so viel Reichtum angehäuft, dass sie nicht mehr dazu bereit sind, ihren Wohlstand durch Arbeit zu steigern. Auch besitzen sie durch ihren gesellschaftlichen Status bereits so viel Einfluss, dass weitere persönliche Anstrengungen in ihren Augen nicht mehr nötig sind, außer wenn es um die Besetzung der höchsten politischen Ämter im Staat geht. Waren sie ursprünglich noch Bürger einer emporstrebenden Mittelschicht, sind sie jetzt zu Privatiers geworden, die ihr Geld, ihre Macht und ihre Begabungen der Allgemeinheit und dem zivilisatorischen Fortschritt nicht mehr zur Verfügung stellen. »So kommt es, dass in hochzivilisierten Ländern die Energie des Mittelstandes fast ganz auf den Gelderwerb gerichtet ist, die der höheren Klassen aber nahezu erloschen ist.« 85 Eine weitere Wirkung der Zivilisation ist die »moralische Verweichlichung« 86 der höheren Klassen. Diese gesellschaftliche Tatsache schreibt Mill dem Umstand zu, dass die Menschen der privilegierteren Klassen so gut wie keinerlei persönlichem Kampf mehr ausgesetzt sind. »Sie können keine Beschwerde auf sich nehmen, sie können keinen Spott ertragen, keiner bösen Zunge Trotz bieten, sie haben nicht den Mut, jemandem, den sie häufig um sich sehen, etwas Unangenehmes zu sagen oder selbst, mit einer großen Menge hinter sich, der Kälte einer kleinen Intrige, die sie umgibt, Trotz zu bieten.« 87 Im Gegensatz zum Wilden, der durch die rauen Lebensumstände an Härte und Heftigkeit angepasst ist, ist das moderne Individuum kaum noch an die Erduldung und Bewältigung von Schmerz gewöhnt, mit der kulturellen Wirkung, »dass sich im Vergleich zu früheren Zeiten in den wohlhabenden Ständen der neuzeitlichen zivilisierten Staaten viel mehr des Liebeswürdigen und des Menschlichen als des Heroischen findet« 88 . Allerdings darf hier nicht der Eindruck entstehen, als würde Mill sich dafür aussprechen, dass die Menschen sich untereinander wieder mehr Leid zufügen sollten, es geht ihm vielmehr darum zu zeigen, dass der »Zustand immerwäh-

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Ebd., S. 407. Ebd., S. 409. Ebd. Ebd., S. 408 f.

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Präludium: Wirkungen der Zivilisation

render persönlicher Reibungen« 89 ein gutes Mittel zur Kultivierung des Charakters und eine »Quelle großer Tugenden« 90 ist. Um dem Fortschritt zu dienen, muss man sich zuweilen unter den Schmerz begeben. In den höheren Klassen jedoch hat sich ein Charakter herausgebildet, der sie vollkommen untauglich macht für jede Art von Kampf. Dieses gesellschaftliche Phänomen ist zwar neu in der Welt, ist aber in Mills Augen eine »natürliche Folge der fortschreitenden Zivilisation« 91 und muss als solche analysiert werden. Auch hat der zivilisatorische Fortschritt eine Situation erzeugt, in der das Individuum zunehmend an Bedeutung verliert, während die Massen immer wichtiger werden. Dadurch wird es für den Einzelnen immer schwieriger, einen festen Charakter herauszubilden, weil das Individuum im Gegensatz zu den Massen leicht zu entbehren ist. 92 Hinzu kommt, dass die Menschen sich immer weniger kritisch mit den öffentlichen Meinungen auseinandersetzen, obwohl diese zunehmen. Und wenn sie es doch einmal tun, dann mit solchen Meinungen, die gar nicht oder schlecht begründet sind, worunter die Qualität der Debatte insgesamt leidet. »Das Einzelwesen verliert sich so in der Menge, dass es, obgleich immer abhängiger von Meinungen im Allgemeinen, dazu neigt, sich immer weniger auf wohlbegründete Meinungen, auf die Meinung derer zu stützen, die es kennen.« 93 Die Meinungsbildung wird vor allem durch das kapitalistische Marktsystem geschwächt, das sich immer weiter ausbreitet. Um diesen Gedanken zu illustrieren, verweist Mill auf einen Kaufmann in einer kleinen Stadt. Hier haben die Kunden die Möglichkeit, sich über den Kaufmann nach und nach eine begründete Meinung zu bilden, denn für den Fall, dass der Kaufmann seine Kunden über die Qualität seiner Waren täuscht, muss er damit rechnen, dass sich dies in der kleinen Stadt schnell herumsprechen wird, mit der Folge, dass seine Kunden kein zweites Mal in sein Geschäft kommen werden. Er wird also darauf achten, ehrlich und gerecht zu sein, um seine Kunden und damit seine Existenz nicht zu verlieren; gleichzeitig kultiviert er seinen Charakter, indem er sich in tugendhaftem Verhalten übt. Anders verhält es sich jedoch bei einem Mann, der in einer großen Stadt ein

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Ebd., S. 407. Ebd., S. 409. Ebd. Vgl. ebd., S. 410. Ebd.

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Einleitung

Geschäft eröffnet. Aufgrund der hohen durch den Kapitalismus geförderten Konkurrenz nützt ihm seine Ehrlichkeit und Treue nicht viel. Im Gegensatz zum dörflichen Kaufmann ist er gezwungen auszurufen, dass seine Waren weit und breit die besten sind, gleichgültig, ob dies nun stimmt oder nicht. Und so lange es ihm gelingt, die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden für sich zu gewinnen, »kann er einen einträglichen Handel treiben, wenn auch kein Kunde seinen Laden zum zweiten Mal betritt« 94 . Mit der Ausbreitung des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs und des damit einhergehenden Reklamewesens ist eine Entwicklung verbunden, die zwar die allgemeine Wohlfahrt steigert, aber zu Lasten der moralischen Qualität des individuellen und nationalen Charakters geht, was wiederum die sittliche Qualität der gesamten Gesellschaft herabsetzt. »Erst in unserer Zeit ist der ehrliche Händler durch harte Notwendigkeit und durch die Gewissheit, vom unehrlichen unterboten zu werden, zur lauten Reklame getrieben worden.« 95 Der Kapitalismus untergräbt aber nicht nur die Herausbildung eines tugendhaften Charakters, er hat auch einen Einfluss auf die Bildung, insbesondere auf die Produktion und das Lesen von Büchern, die die Hauptquelle der Meinungsbildung sind. Während es früher nur wenige Bücher gab und die Menschen sich die Zeit nahmen, das Gelesene mit den eigenen Gedanken in Reflexion zu bringen, geht es heute, so Mill, nur noch darum, möglichst viele Bücher zu konsumieren. »Und das Publikum ist in der misslichen Lage eines trägen Menschen, der es sich nicht abringen kann, seinen Geist kraftvoll auf seine eigenen Angelegenheiten zu richten, und über den deshalb nicht der, der am klügsten, sondern der, der am meisten spricht, Einfluss gewinnt.« 96 Abschließend lässt sich festhalten, dass Mill die zivilisatorischen Missstände seiner Zeit vor allem auf zwei Gebieten entdeckt: Zum einen beobachtet er eine zunehmende Erstarkung der Massen, die zu Lasten des Individuums und seiner heroischen Leistungsfähigkeit geht, zum anderen erzeugt der gesellschaftliche und kulturelle Fortschritt nicht nur wünschenswerte, sondern auch negative Wirkungen, die sich hauptsächlich in den dargelegten Phänomenen zeigen.

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Ebd., S. 411. Ebd. Ebd., S. 413.

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Präludium: Wirkungen der Zivilisation

Für den vorliegenden Zusammenhang wird die Frage interessant sein, welche Antworten Mill für diese sozialen Probleme bereithält und welche Rolle dabei Erziehung und Bildung spielen.

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Erstes Kapitel John Stuart Mill: Ein Erziehungsexperiment

1.

»Erziehung zur Denkmaschine«

Es ist ein Glücksfall der Geschichte, dass wir die außergewöhnliche Erziehung John Stuart Mills nicht anhand überlieferter Dokumente rekonstruieren müssen, sondern auf seine Autobiographie zurückgreifen können, die am 17. Oktober 1873, fünf Monate und zehn Tage nach seinem Tod, von seiner Stieftochter Helen Taylor veröffentlicht wird. 1 Die historische Schrift umfasst insgesamt sieben Kapitel, wobei hier vor allem die ersten drei Kapitel von Interesse sind, weil Mill darin detailliert auf das Erziehungsexperiment eingeht, das sein Vater an ihm vollzogen hat. 2 Mill ist sich seiner für die Erziehungswissenschaft bedeutsamen intellektuellen Ausbildung durchaus bewusst, wenn er zu Beginn seiner Autobiographie darauf hinweist, dass es ihm beim Verfassen der Schrift nicht um seine eigene Person geht; »allein ich dachte, dass es in einer Periode, in welcher die Erziehung und ihre Förderung sorgsamer und vielleicht auch gründlicher studiert werden als in irgendeinem anderen Abschnitt der englischen Geschichte, nützlich sein dürfte, die Darlegung eines ungewöhnlichen und erstaunlichen Bildungsganges zu geben, welcher immerhin den Beweis liefert, wie viel mehr, als man gewöhnlich glaubt, gelehrt – und zwar besser gelehrt – werden könnte, in jenen frühen Jahren, in welchen durch die althergebrachte Unterrichtsmethode eine wertvolle Zeit fast nutzlos verschwendet wird« 3 . Bereits hier wird verständlich, warum Gaulke die Autobiographie des bekannten Philosophen als einen »der berühmtesten Quel-

Vgl. Au, AW, Band 2, S. 26, Fußnote. Vgl. Michael S. Aßländer/Hans G. Nutzinger, »John Stuart Mill« (1806–1873), in: Heinz D. Kurz (Hg.), Klassiker des ökonomischen Denkens, Band 1: Von Adam Smith bis Alfred Marshall, München 2008, S. 176–195. 3 Au, AW, Band 2, S. 26. 1 2

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lentexte der historischen Pädagogik« 4 betrachtet. Nicht nur, dass Mill sich bereits am Anfang seiner Abhandlung als Vordenker frühkindlicher Bildung präsentiert. Mit seinem Hinweis, dass bei traditionellen Unterrichtsmethoden zuweilen wertvolle Zeit verschwendet wird, offenbart er zugleich auch den erzieherischen Leitgedanken seines Vaters: Nützlichkeit. Dieses pädagogische Motiv ist keineswegs zufällig. Mills Vater, James Mill, war nicht nur ein angesehener Historiker und Ökonom, der einen hohen Posten bei der East India Company 5 bekleidet hat, sondern er war auch ein enger Freund Jeremy Benthams, dem berühmten Sozialreformer und Begründer des Utilitarismus. Im Zentrum dieser teleologischen Ethik steht der Nutzen des Einzelnen und der Gesellschaft; oder, anders formuliert, »die Erzeugung des größtmöglichen menschlichen Glücks« 6 . Der junge Mill, der am 20. Mai 1806 in London zur Welt kommt, wird nun insofern zum Erziehungsexperiment, als dass sein Vater sich das Ziel setzt, seinen Sohn im Geist eben jenes Utilitarismus zu erziehen. Dass James Mill nicht den geringsten Zweifel am Erfolg seines historisch wohl einmaligen Vorhabens hegt, beweist ein Brief vom 7. Juli 1806 an seinen Freund, William Forbes, der ebenfalls gerade Vater geworden ist: »Ich beabsichtige, mit Ihnen einen fairen Wettbewerb in der Erziehung eines Sohnes zu führen. Lassen Sie uns einen wohlerwogenen Versuch unternehmen, wer von uns, von jetzt an gerechnet, in zwanzig Jahren den fähigsten und tugendhaftesten jungen Mann vorweisen kann.« 7

Jürgen Gaulke, John Stuart Mill, Hamburg 1996, S. 16. Siehe dazu Jürgen G. Nagel, Abenteuer Fernhandel. Die Ostindienkompanien, Darmstadt 2007, insbesondere S. 71 ff.; siehe auch Kirti N. Chaudhuri, The English East India Company, London 1965. 6 BBP, AW, Band 3.1, S. 40. 7 Anna J. Mill, »The Education of John – Some further Evidence«, in: Mill Newsletter 11 (1976), Heft 1, S. 10–14, hier S. 11, zitiert nach Hans Jörg Schmidt, AW, Band 2, Einleitung, S. 13. »James Mill war ein großer Bewunderer Platons, er glaubte an die unbegrenzte Formbarkeit des Menschen durch die Erziehung. Seine Assoziationspsychologie führte ihn zur Annahme, daß man den Egoismus durch die Erziehung eliminieren könne. Gemäß dieser Theorie wurde John Stuart zum Objekt eines wissenschaftlichen Experiments gemacht. Er sollte in idealen Umständen zu einem Mustermenschen geformt werden. Er sollte ein lebender Beweis für die These sein, daß alle selbstsüchtigen Neigungen, alle Vorurteile des Menschen auf schlechte äußere Einflüsse zurückzuführen seien. John Stuart muß im Elternhaus bleiben und wird von Gleichaltrigen ferngehalten. Statt Spielsachen bekommt er Bücher.« Rinderle, John Stuart Mill, a. a. O., S. 15. 4 5

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Mills Vater, der Verfasser der Geschichte von Britisch-Indien 8 , ist zu dieser Zeit ein Gewerbetreibender, der eine kleine Bauernwirtschaft unterhält. Als Knabe besitzt er einiges Talent, so dass er Sir John Stuart zu Fettercairn, einem Baron der schottischen Schatzkammer, zur Förderung vorgestellt wird. Da die Ehefrau des Adligen mit einigen anderen Damen einen Fonds zur Unterstützung schottischer Theologen unterhält, wird er auf die Universität nach Edinburgh geschickt, um Theologie zu studieren. Es ist also kein Zufall, dass James Mill seinen Erstgeborenen John Stuart nennt, denn schließlich ist es Sir John Stuart zu Fettercairn gewesen, der ihm eine akademische Ausbildung ermöglicht hat. Obwohl er sein Studium erfolgreich abschließt und die Erlaubnis zum Predigen erhält, entschließt er sich, nicht als Geistlicher tätig zu sein, weil seine Überzeugungen nicht mit den Lehren der Kirche im Einklang stehen. In den nächsten Jahren arbeitet er in verschiedenen schottischen Familien als Hauslehrer, bis er schließlich nach London übersiedelt, um sich seinen historischen, ökonomischen und philosophischen Studien zu widmen. Das Schreiben bleibt lange Zeit seine einzige Einnahmequelle, bis er 1819 eine Anstellung als hoher Verwaltungsbeamter bei der British East India Company erhält. 9 Nicht ohne Bewunderung berichtet Mill in seiner Autobiographie von den Leistungen, die sein Vater in jenen Jahren unter den schwierigen Bedingungen einer Schriftstellerexistenz vollbringt. Es sind vor allem zwei Aspekte, auf die er in diesem Zusammenhang aufmerksam macht: Da ist zum einen die Gründung einer großen Familie »unter Verhältnissen, in welchen er sich bloß auf die unsicheren Hilfsquellen angewiesen sah, die ihm durch das Schreiben für periodische Blätter geboten wurden« 10 ; da ist zum anderen die große Tatkraft seines Vaters im Hinblick auf die Bewältigung dieser widrigen Umstände. Die ohnehin schon schwierige finanzielle Lage der Familie wird noch dadurch verschärft, dass James Mill eine Reihe von liberalen Ansichten in der Öffentlichkeit vertritt, die den Überzeugungen vieler einflussreicher Personen des gesellschaftlichen Lebens zuwiderlaufen. Es ist leicht einzusehen, dass dies seine schriftstellerische Auftragslage nicht gerade verbessert. Hinzu kommt, dass er über einen festen Charakter verfügt, welJames Mill, The History of British India, 3 Bände, London 1817/18. Vgl. Au, AW, Band 2, S. 41 f. 10 Ebd., S. 28. 8 9

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cher es ihm unmöglich macht, etwas zu schreiben, was gegen seine Gewissheit ist. Im Gegenteil: Sein Schreiben ist beständig mit dem Anspruch verknüpft, möglichst viel von seiner Meinung darzulegen. »Überhaupt betrieb er alles, was er angriff, sei es auf dem Boden der Literatur oder anderweitig, nie nachlässig, sondern widmete seinem Gegenstand gewissenhaft stets alle die Mühe, die zu einer tüchtigen Vollendung erforderlich war.« 11 Diese Tugendhaftigkeit zeigt sich auch in seinem wissenschaftlichen Hauptwerk, in dem er sich mit der Geschichte Indiens auseinandersetzt und für dessen Fertigstellung er zehn Jahre benötigt. Laut Mill handelt es sich hierbei um ein herausragendes Werk, nicht nur aufgrund des Umfanges, sondern auch aufgrund der erschöpfenden Quellenarbeit. Aber James Mill ist nicht nur im Beruflichen engagiert, er widmet sich auch fast jeden Tag der Erziehung seiner Kinder, wobei der Autobiograph Mill zu berichten weiß, dass er dabei mit derselben Mühe und Beharrlichkeit zu Werke geht wie bei seinen historischen Studien. 12 Wie bereits angeführt, fühlt James Mill sich der utilitaristischen Lehre 13 Benthams verpflichtet, weshalb es nicht verwundern kann, dass er keine Zeit bei der Ausbildung seiner Kinder vergeudet: »Von einem Mann, der in seinem Leben so nachdrücklich an dem Grundsatz festhielt, keine Zeit zu verlieren, stand zu erwarten, dass er dieselbe Regel auch bei der Unterweisung seines Schülers bestätigte.« 14 Dieser Hinweis ist insofern von Bedeutung, als dass Mill hier davon Zeugnis ablegt, dass er keine Schule besucht hat, sondern stattdessen zu Hause von seinem Vater unterrichtet worden ist. 15 Aus Erzählungen weiß der junge Mill, dass seine intellektuelle Ausbildung im Ebd. Vgl. ebd. 13 Zur Einführung in die utilitaristische Ethik siehe u. a. Otfried Höffe (Hg.), Einführung in die utilitaristische Ethik. Klassische und zeitgenössische Texte, Tübingen 2003; Jörg Schroth, Texte zum Utilitarismus, Stuttgart 2016; Jack Nasher, Die Moral des Glücks. Eine Einführung in den Utilitarismus, Berlin 2009. 14 Au, AW, Band 2, S. 28. 15 Wehrmann weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Mill der Besuch einer regulären Schule dadurch erspart geblieben ist. Auch wurde er auf diese Weise schon früh an das selbstständige Arbeiten und Forschen herangeführt und dies in einem Alter, in dem andere Kinder ihre Zeit mit Spielen verbringen. Die Erziehung seines Vaters versetzt Mill in die Lage, sich intellektuell schnell zu entwickeln. Gleichwohl, so Wehrmann, ist der Preis dafür, die Abwesenheit der Erinnerung an eine unbeschwerte Kindheit. Vgl. Wehrmann, John Stuart Mills Lehre von der Erziehung, a. a. O., S. 3. 11 12

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Alter von drei Jahren mit der Erlernung des Griechischen beginnt. Mills früheste Erinnerung besteht nach eigenen Angaben darin, dass sein Vater ihn griechische Wörter auswendig lernen ließ. Dieses Vokabelpauken findet bis auf das Einüben der syntaktischen Bedeutung der Haupt- und Zeitwörter ohne die Bekanntschaft der entsprechenden Grammatik statt. Nachdem das Vokabellernen beendet ist, schreitet der Vater in der akademischen Ausbildung seines zweifellos begabten Sohnes zügig voran, indem er die ersten Übersetzungen von ihm verlangt; »und es dämmert noch matt in meiner Erinnerung, dass Aesops Fabeln das erste griechische Buch war, welches ich las; das zweite, dessen ich mich deutlicher entsinne, war die Anabasis« 16 . Bis zu seinem achten Lebensjahr verbringt der junge Mill seine Zeit unter der Anleitung seines ehrgeizigen Vaters vor allem damit, die Schriften griechischer Gelehrter zu studieren. Neben der Auseinandersetzung mit Herodot, Xenophons Kyropädie und den Denkwürdigkeiten des Sokrates gehört es zu den Aufgaben Mills, einige der Biographien der Philosophen von Diogenes Laertius, einen Teil des Lukian sowie die Reden an den Demonikus und an den Nikokles zu lesen. Mit sieben Jahren liest Mill die ersten sechs Dialoge Platons, wobei er darauf hinweist, dass er den Theiatetos aufgrund seiner Komplexität und Schwierigkeit nicht verstanden hat; »allein mein Vater verlangte von mir bei seinem Unterricht nicht nur das Äußerste, was ich zu leisten vermochte, sondern auch viel, das weit über meinen Horizont ging« 17 . Offenbar ist James Mill der lerntheoretischen Überzeugung, dass der Intellekt sein Potenzial nur entfaltet, wenn er überfordert wird, wenn die inhaltliche und strukturelle Beschaffenheit des Gegenstandes die Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit des Verstandes bisweilen übersteigt. Zur Bildung seines begabten Sohnes trägt James Mill auch insofern bei, als dass er für ihn immer ansprechbar ist, selbst dann, wenn er gerade an einem seiner Bücher arbeitet. Der junge Mill nimmt dies, wie er berichtet, gerne in Anspruch, vor allem, wenn es darum geht, die Bedeutung eines noch unbekannten Wortes zu erfragen. Auch wenn dieser Umstand auf den ersten Blick auf einen gefühlvollen Umgang zwischen Vater und Sohn hinweist, darf nicht übersehen werden, dass die Beziehung des Jungen zu seinem Vater in erster Linie durch eine Unterrichtssituation geprägt ist. 16 17

Au, AW, Band 2, S. 29. Ebd.

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Neben dem Griechischen wird Mill bis zu seinem achten Lebensjahr vor allem in Arithmetik unterrichtet. »Das war eine Aufgabe für die Abendstunden, und ich entsinne mich, dass ich dabei viel Unlust hatte.« 18 Neben den zahlreichen Büchern, die Mill während seiner Kindheit liest, sind es vor allem die Spaziergänge mit seinem Vater, die ihm einen Erkenntnisgewinn bringen. Zwischen 1810 und 1813 leben die Mills in Newington Green, einem Landstrich, der für seine Natur bekannt ist. Wie Mill in seiner Autobiographie dokumentiert, ist sein Vater zu jener Zeit aus gesundheitlichen Gründen dazu angehalten, sich viel zu bewegen. Und so kommt es, dass Mill mit seinem Vater schon vor dem Frühstück ausgedehnte Spaziergänge unternimmt, auf denen er ihm die Inhalte jener Bücher referiert, welche er am Tag zuvor gelesen hat; »die ersten Eindrücke also, welche grüne Felder und wilde Blumen auf mich machten, vermischen sich daher stets mit den Erinnerungen an die Berichte, die ich täglich über das abgab, was ich tags zuvor gelesen hatte« 19 . Diese Zeit ist für Mill wahrscheinlich auch deshalb in lebendiger Erinnerung geblieben, weil die Unterhaltungen nicht zum akademischen Pflichtprogramm gehörten, sondern eher den Charakter eines persönlichen Gesprächs hatten, bei dem man den Vater neben der Wiedergabe des Gelernten zum Erzählen der einen oder anderen Anekdote animieren konnte. Die Bücher, mit denen Mill sich während dieser Zeit auseinandersetzt, sind überwiegend historischer Natur. Neben den Schriften von Robertson, Hume und Gibbon studierte er auch die Geschichte Philipps des Zweiten und des Dritten von Watson, die ihn am meisten anspricht. Aber auch Hookes Geschichte von Rom zählt, wie Mill hinzufügt, zu seinen Lieblingsbüchern. Ferner liest er Rollins Geschichte des Altertums, ein Werk, das die griechische Geschichte abdeckt, während Burnets Geschichte seiner eigenen Zeit ihm die englische Historie erörtert. Mills Vater verbindet dieses umfangreiche Geschichtsstudium gelegentlich mit einer Darlegung der gesellschaftlichen Prinzipien, nach denen seiner Auffassung zufolge das menschliche Leben organisiert, eine demokratische Regierung errichtet und ein liberales Marktsystem etabliert werden sollte: »In den Gesprächen über die von mir gelesenen Bücher pflegte mein Vater, je nachdem sich Gelegenheit bot, vor mir seine Ansichten über Zivilisation,

18 19

Ebd. Ebd., S. 30.

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Regierung, Moral und Geisteskultur zu entwickeln, die ich ihm nachher in meinen eigenen Worten wiedergeben sollte« 20 . Darüber hinaus muss der junge Mill auf Anweisung seines ehrgeizigen Vaters eine Reihe von Büchern lesen, die ihn nicht besonders interessieren. Unter diese Kategorie fallen nicht nur Millars historischer Überblick über die englische Regierung und Monheims Kirchengeschichte, sondern auch McCries Leben des John Knox und Sewels und Ruttys Quäkergeschichte. Dass Mill dem heroischen Individualismus 21 eine herausragende Stellung in seinen Schriften einräumt, ist wohl auch dem Umstand geschuldet, dass sein Vater ihn immer wieder auffordert, Bücher zu lesen, in denen es um tatkräftige Männer und die Bewältigung schwieriger Umstände geht, »zum Beispiel die Afrikanischen Denkwürdigkeiten von Beaver und Collins Bericht über die erste Ansiedlung in Neusüdwales« 22 . Abgerundet werden diese Berichte durch die Werke von Anson und Hawkesworth, in denen es vor allem um militärische Schifffahrt und Reisen geht. Obwohl James Mill bei der Auswahl der Literatur wohl weniger das Vergnügen als vielmehr die Charakterbildung seines Sohnes vor Augen hat, erlaubt er ihm auch einige Kinderbücher. »Mein Vater wollte Unterhaltungsliteratur nicht gänzlich aus seinem Erziehungsplan streichen, aber doch nur spärlich zulassen, und borgte dann einzelne Schriften für mich, soweit ich mich erinnere, Tausend und eine Nacht, Cazottes Arabische Märchen, Don Quijote, Miss Edgeworths Erzählungen und ein Buch, das seinerzeit viel gelesen wurde: Brookes Narr von Stand.« 23 Mills Lieblingsbuch aber, Robinson Crusoe, das für ihn zur Hauptquelle des Vergnügens während seiner gesamten Kindheit wird, erhält er als Geschenk von Verwandten. Im Alter von sieben Jahren erfolgt dann der nächste Schritt in seiner außergewöhnlichen Bildungslaufbahn. Er beginnt Latein zu lernen und erhält von seinem Vater den Auftrag, eine jüngere Schwester ebenfalls in dieser Sprache zu unterrichten. Auf diese Weise wird aus dem einstigen Schüler ein Lehrer. »Von dieser Zeit an kamen der Reihe nach andere Schwestern und Brüder unter mein Schulzepter, so dass ein beträchtlicher Teil meiner Tagesarbeit auf Ebd., S. 31. Siehe dazu ÜdF, AW, Band 3.1, S. 369–391; vgl. auch Richard F. Ladenson, »Der Individualitätsbegriff bei J. S. Mill«, in: Claeys (Hg.), Der soziale Liberalismus John Stuart Mills, a. a. O., S. 139–156. 22 Au, AW, Band 2, S. 31. 23 Ebd. 20 21

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diesen Sonderzweig entfiel.« 24 Mill hat wenig Freude an der unterrichtenden Tätigkeit, nicht zuletzt deshalb, weil er für die Fortschritte seiner Geschwister verantwortlich und seinem Vater gegenüber Rechenschaft schuldig ist, wenn die Ergebnisse nicht den Erwartungen entsprechen. Obwohl Mill einräumt, dass das Lehrerdasein ihm den Vorteil einbrachte, das Gelernte vertiefen zu können, kommt er zu dem Ergebnis, dass das Experiment, Kinder durch Kinder zu unterrichten, gescheitert ist. Nicht nur, dass der Unterricht im Allgemeinen wirkungslos ist, auch die enge Beziehung zwischen Lehrer und Schüler ist zum Nachteil, weil sie »weder auf den einen noch auf den anderen Teil hebend einwirkt« 25 . Neben seinen Aufgaben als Lehrer studiert Mill die griechischen Dichter, wobei er mit Iliade beginnt. Zunächst muss er das Werk im Original lesen, aber als er einige Fortschritte gemacht hat, gibt ihm sein Vater die Übersetzung von Pope, mit der Folge, dass es zu einem seiner Lieblingsbücher wird, welches er im Laufe der Jahre 20- bis 30mal liest. Daraufhin verlagert sich sein Forschungsschwerpunkt abermals und er wendet sich unter der Aufsicht seines Vaters dem griechischen Mathematiker Euklid und wenig später der Algebra zu. Zwischen seinem achten und zwölften Lebensjahr liest Mill eine ganze Reihe lateinischer und griechischer Werke: 26 Die Bucolica des Vergil, die ersten sechs Bücher der Aeneis, der ganze Horaz mit Ausschluss der Epoden ebenso wie die Fabeln des Phaedrus, die ersten fünf Bücher des Livius, Ovids Metamorphosen, einige Komödien des Terenz, zwei bis drei Bücher von Lukrez und diverse Reden des Cicero sowie seine Schriften über Beredsamkeit und seine Briefe an Attikus; im Griechischen: Die Ilias und die Odyssee, einige Stücke von Sophokles, Euripides und Aristophanes, Thukydides, die Hellenika des Xenophon, einen großen Teil des Demosthenes, Aeschines und Lysias, den Theokrit, den Anakreon sowie einen Teil der Anthologie, ein wenig von Dionysios, mehrere Bücher des Polybius und die Rhetorik des Aristoteles. »Dies war die erste ausdrücklich wissenschaftliche Abhandlung über moralische und psychologische Gegenstände, die ich je gelesen habe, und da sie viele von den besten Beobachtungen der Alten über die menschliche Natur und das Leben enthielt, so empfahl sie mir mein Vater zu besonders sorgfältigem Studium und ver24 25 26

Ebd. Ebd., S. 32. Vgl. zum Folgenden ebd., S. 32 f.

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anlasste mich, das Material in übersichtliche Tabellen zusammenzustellen.« 27 Es ist festzuhalten, dass Mill eine klassisch-humanistische 28 Ausbildung genossen hat, wenngleich zu Hause und nicht in der Schule. Vor diesem Hintergrund wird dann auch verständlich, warum er sich in seinen späteren Schriften immer wieder am Humboldt’schen Bildungsideal orientiert. 29 Die Forderung nach einer umfassenden Bildung bei gleichzeitiger charakterlicher Vervollkommnung ist, wie sich noch zeigen wird, ein Motiv, das Mills Sozialphilosophie auf allen Ebenen durchzieht. Neben dem Lesen griechischer und lateinischer Bücher beschäftigt er sich zu jener Zeit mit der Elementargeometrie und der Algebra. Zudem unternimmt er den Versuch, sich fundierte Kenntnisse in der Differenzialrechnung und in anderen Zweigen der höheren Mathematik anzueignen. Allerdings lassen die Erfolge hier auf sich warten, nicht zuletzt deshalb, weil sein Vater auf diesen Gebieten kaum Kenntnisse besitzt, so dass er seinen Sohn beim Verstehen der komplizierten Operationen nicht unterstützen kann. Der junge Mill muss sich die Antworten auf seine Fragen wiederholt selbst erarbeiten, was gelegentlich mit Frustrationen auf beiden Seiten verbunden ist. »Meine Unfähigkeit, die schwierigen Probleme zu lösen, reizte dabei oft seinen Unwillen, denn er konnte sich nicht klarmachen, dass mir dafür die erforderlichen Vorkenntnisse fehlten.« 30 Hier wird nicht nur der ungeduldige Charakter des Vaters erkennbar, sondern auch der enorme Anspruch, mit dem er seinem Sohn begegnet, wenn es darum geht, sich Wissen gleich welcher Art anzueignen. Dass etwas nicht unmittelbar zu verstehen ist, liegt offenbar jenseits der Vorstellungskraft von James Mill. Ein Unterrichtsfach, das den häuslichen Frieden weniger stört, ist Geschichte. Ebd., S. 33. Zur aktuellen Diskussion des humanistischen Bildungsideals siehe Julian Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung, Hamburg 2013; auch ders., Humanistische Reflexionen, Berlin 2016. 29 Zur Bildungstheorie Humboldts siehe Dietrich Benner, Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform, Weinheim/München 1995. Vgl. auch Christina M. Sauter, Wilhelm von Humboldt und die deutsche Aufklärung, Berlin 1989. Zum Einfluss Benthams und Humboldts auf Mill siehe Frauke Höntzsch, »Vorgeschichte und Querverbindungen: Der Einfluss Benthams und Humboldts auf Mill«, in: Michael Schefczyk/Thomas Schramme (Hg.), John Stuart Mill: Über die Freiheit, Berlin 2015, S. 137–157. 30 Au, AW, Band 2, S. 33. 27 28

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Im Laufe der Jahre entwickelt Mill für dieses Fach eine gewisse Vorliebe, wobei er sich zunehmend mit dem Altertum beschäftigt. Dass er vom griechischen Denken beeindruckt ist, zeigt sich auch an dem Umstand, dass sein späteres sozialphilosophisches Werk einen starken tugendethischen 31 Einschlag aufweist. Bildung erschöpft sich für Mill nicht im bloßen Wissenserwerb, sie muss, wenn ihre Aneignung umfassend sein soll, durch die Ausbildung eines sittlichen Charakters ergänzt werden, damit das Individuum nicht nur ein mündiges, sondern auch ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft wird. Ein Buch, das Mill in diesem Zusammenhang besonders gerne liest, ist Mitfords Geschichte Griechenlands; »doch warnte mich mein Vater vor den aristokratischen Vorurteilen dieses Schriftstellers, der so gerne die Tatsachen verkehrte, wenn es galt, die Despoten weißzuwaschen und die volkstümlichen Institutionen anzuschwärzen« 32 . Mills Interesse an Geschichte geht so weit, dass er unter Berücksichtigung der historischen Werke von Hook seine ersten Versuche in der Geschichtsschreibung unternimmt. Zunächst verfasst er eine römische Geschichte, einen Auszug aus der Weltgeschichte und eine Geschichte Hollands. Nachdem er einige Geschicklichkeit im Schreiben erworben hat, macht er sich zwischen seinem elften und zwölften Lebensjahr daran, eine Geschichte der römischen Regierungsgrundlagen zu schreiben, die neben ausführlichen Berichten über die Kämpfe der Patrizier und Plebejer auch eine umfangreiche Diskussion der Verfassungen und ihrer Entstehung enthält. Obwohl James Mill von seinem Sohn niemals die Vorlage der Schriften zur Verbesserung verlangt, entscheidet Mill sich einige Jahre später dazu, seine jugendlichen Abhandlungen zu vernichten; »denn ich dachte nicht, dass es einst Interesse für mich haben könnte, zu sehen, wie meine Erstlingsversuche in Schriftstellerei und Räsonnement ausgefallen waren« 33 . Ein weiteres Unterrichtsfach, das James Mill auf den humanistischen Lehrplan seines Sohnes setzt, ist das Verfassen von Versen. Der junge Mill berichtet, dass ihm diese Arbeit wenig Freude einbringt und er sich nur unter großen Anstrengungen mit dem ihm auferleg31 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Stuttgart 2003; Otfried Höffe (Hg.), Nikomachische Ethik, Berlin 2010; zu den Möglichkeiten und Grenzen der Tugendethik siehe Christoph Halbig, Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Berlin 2013, insbesondere S. 279 ff. 32 Au, AW, Band 2, S. 33. 33 Ebd., S. 34.

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ten Gegenstand beschäftigt. Gleichwohl muss er keine griechischen und lateinischen Verse schreiben, weil sein Vater dies in Anbetracht des fehlenden praktischen Nutzens für Zeitverschwendung hält. Dagegen verlangt er von seinem Sohn, englische Verse zu verfassen. Der Vater begründet den poetischen Unterricht vor allem mit zwei Argumenten: Zum einen lassen manche Dinge sich besser in versförmiger Literatur als in Prosa vorbringen; zum anderen legen die Menschen im Allgemeinen mehr Wert auf Verse als auf schlichtes Schrifttum, obwohl dies unangemessen ist. Auch wenn Mill sich den Lektionen fügt und sich nach Maßgabe seiner Fähigkeiten bemüht, die ästhetischen Ansprüche seines Vaters zu erfüllen, bleibt das Verfassen von Gleichklängen eine Aufgabe, die alles in allem mehr Frustration als Lust erzeugt. »Die Verse, die ich schrieb, waren natürlich der helle Schund, und ich habe es nie zu einiger Fertigkeit im Versbau gebracht« 34 . Dass Lyrik für Mill eher zum akademischen Pflichtprogramm als zur freien Wahl gehört, erklärt sich wohl auch aus dem Umstand, dass sein Vater durchweg ein schwieriges Verhältnis zur Dichtung hat. Shakespeare gibt er seinem Sohn lediglich wegen der historischen Stücke, und auch sonst lässt er an den englischen Dichtern kaum etwas Gutes; allein bei »Milton, den er hoch verehrte, mit Goldsmith, Burns und Grays Bard, welchen er seiner Elegy vorzog, vielleicht noch mit Cowper und Beattie« 35 machte er eine Ausnahme. Daneben liest Mill noch dichterische Werke von Spenser, Walter Scott und Drydens sowie Cowpers kleine Gedichte, die ihm viel Vergnügen bereiten. Sein größtes Vergnügen während jener Jahre findet er aber in den Experimentalwissenschaften, wobei er darauf hinweist, dass er keine naturwissenschaftlichen Versuche macht, sondern vor allem Bücher über diese Art der wissenschaftlichen Vorgehensweise liest. »Nie hatte mich ein Buch so hingerissen, wie Joycè Wissenschaftliche Dialoge, und ich nahm es meinem Vater sehr übel, dass er so geringschätzig vom schlechten Grübeln über die ersten Grundsätze der Physik sprach, das im ersten Teil dieses Werks allerdings eine Schwäche darstellt.« 36 Mit Chemie kommt er in dieser Zeit durch Dr. Thompson in Berührung, welcher nicht nur der Autor von System

34 35 36

Ebd., S. 35. Ebd., S. 36. Ebd., S. 36 f.

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der Chemie, sondern auch ein alter Freund und Schulkamerad seines Vaters ist. Im Alter von zwölf Jahren tritt Mill in das höhere Studium seiner außerordentlichen Bildungslaufbahn ein. Während bisher die Hilfsmittel des Denkens im Vordergrund standen, rückt jetzt das Denken selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Und da James Mill in der intellektuellen Ausbildung seines Sohnes auf Bewährtes setzt, kann es nicht verwundern, dass Mills Vermessung der Vernunft mit der aristotelischen Logik beginnt. 37 Wie bei allem, was er seinem Sprössling beibringt, versucht der Vater seinem Sohn auch den Nutzen dieser Wissenschaft zu erläutern, wobei dies im Fall der Logik umso wichtiger ist, weil viele bedeutende Personen den Wert dieser Disziplin in Frage stellen. Denn im Gegensatz zu den Naturwissenschaften hat sie es nicht mit wahrheitsfähigen Aussagen zu tun, die die Kenntnis über die Welt vermehren; stattdessen beschäftigt die Logik sich mit der Analyse logischer Beziehungen im Hinblick auf die Vernünftigkeit einer Schlussfolgerung. Dass der wissenschaftstheoretische Nützlichkeitsnachweis des Vaters den jungen Mill aber überzeugt, zeigt sich schon daran, welchen hohen Stellenwert er der Logik in seiner Erziehung und akademischen Ausbildung einräumt. »Ich bin überzeugt, dass in der modernen Erziehung bei richtigem Gebrauch nichts so geeignet ist, exakte Denker zu bilden, welche den Worten und Sätzen eine präzise Bedeutung beilegen, ohne sich durch unbestimmte, verschwommene oder zweideutige Ausdrücke beirren zu lassen.« 38 Weil die Exaktheit des Denkens nicht zuletzt das Resultat der Schulung der Vernunft ist, bezeichnet Mill die Logik auch als »einen der Haupthebel seines Erziehungsplanes« 39 . Interessant ist auch, dass für ihn die Urteilslehre in Bezug auf die Ausbildung des Denkvermögens nützlicher ist als die Mathematik, denn die mathematischen Operationen sind seiner Ansicht nach im Wesentlichen frei von den Schwierigkeiten, die mit dem vernünftigen Schlussfolgern im Allgemeinen verbunden sind. Demzufolge vertritt Mill die Auffassung, dass das geeignete Instrumentarium zur Schulung der Reflexion nicht die Mathematik, sondern die Logik ist. Ferner hält er sie für ein förderliches Propädeutikum im Hinblick auf ein philosophisches Studium, weil sie den Schüler wesentlich schneller 37 38 39

Vgl. Aristoteles, Organon, Berlin 2013. Au, AW, Band 2, S. 38. Ebd.

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dazu befähigt, verwickelte Gedanken zu entwirren als die langwierige Herausbildung eigener Meinungen. Es ist verständlich, dass Mill während dieser Zeit von seinem Vater hauptsächlich Bücher zum Lesen bekommt, die sich sowohl durch ihre Sprache als auch durch ihre Gedanken auszeichnen. Dazu gehören in erster Linie lateinische und griechische Bücher von berühmten Rednern, vorzugsweise Demosthenes, dessen Reden Mill nach eigenen Angaben gleich mehrmals durcharbeitet. Dabei lernt er nicht nur etwas über die Grundsätze der Gesetzgebung, sondern auch etwas über Rhetorik, über die Fähigkeit, seine Gegner mit den Mitteln der Redekunst von der Wahrheit der eigenen Meinung zu überzeugen. Es ist wohl kein Zufall, dass Mill sich im Laufe seines Lebens immer wieder in Form von Reden und Debattierbeiträgen an das politisch-interessierte Publikum wendet, um seine Ansichten zu sozialen, ökonomischen und bildungstheoretischen Themen öffentlich zu machen. Im Alter von zwölf Jahren liest Mill dann auch zum ersten Mal einige der wichtigsten Dialoge Platons 40 , wobei sein Vater vor allem auf den Gorgias, den Protagoras und die Republik Wert legt. James Mill ist sich der Bedeutung der platonischen Dialoge für das abendländische Denken durchaus bewusst, weshalb er die Literatur nicht nur seinem Sohn, sondern jedem jungen Studenten empfiehlt. Auch der junge Mill kommt zu dem Ergebnis, dass die Schriften des griechischen Philosophen ein unerlässliches Hilfsmittel sind, wenn es darum geht, das reflexive Denken zu schulen: »Die sokratische Methode, die in Platons Dialogen eine musterhafte Illustration gefunden hat, findet nicht ihresgleichen als Disziplin zur Verbesserung von Irrtümern und zur Sicherung der Wirrnis, in welche der Intellectus sibi permissus so leicht verfällt, wenn er sein ganzes Paket an Assoziationen unter der Leitung einer populären Phraseologie zusammengetragen hat.« 41 Nachdem Mill sich einige inhaltliche Kenntnisse der anspruchsvollen Texte erworben hat, geht sein Vater dazu über, ihn laut vorlesen zu lassen, um einerseits die richtige Modulation des Gesagten zu üben und um andererseits die allgemeine Vortragsfähigkeit zu kultivieren.

40 Vgl. Platon, Die großen Dialoge, aus dem Griechischen v. Friedrich Schleiermacher, Köln 2013; zum Verhältnis von platonischer Philosophie, utilitaristischer Lehre und Bildung siehe Robin Barrow, Plato, Utilitarism and Education, London 1970. 41 Au, AW, Band 2, S. 39.

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Abgesehen davon, dass Mill diesen schulischen Übungen insgesamt mit wenig Begeisterung begegnet, verweist er in diesem Zusammenhang auf eine pädagogische Unfähigkeit seines Vaters, die im Wesentlichen darin besteht, dass er zu viel Gewicht auf das Verstehen des Abstrakten legt bei gleichzeitiger Vernachlässigung der anschaulichen Darstellung des zu vermittelnden Sachverhalts. Konkret kritisiert Mill am Sprachunterricht seines Vaters, dass dieser ihm die korrekte Betonung des Ausgedrückten zwar begrifflich erläutert, es ihm aber selbst niemals beispielhaft vormacht. Oder, anders formuliert, die theoretische Erkenntnis steht im Vordergrund und wird zum Nachteil derselben kaum durch empirische Daten verifiziert. Ein Buch allerdings, das Mill im Kontext seiner Erziehung besonders lobt, ist die Geschichte Indiens, das von seinem Vater über viele Jahre niedergeschrieben wird und Anfang des Jahres 1818 erscheint. An der Publikation der Abhandlung ist Mill insofern beteiligt, als dass er seinem Vater im Jahr vor der Veröffentlichung das Manuskript vorliest, während dieser die Erstschrift korrigiert. Er findet darin viele Anregungen für seine eigene intellektuelle Entwicklung, obgleich er einräumt, dass die Schrift ihre Mängel hat; »aber dennoch halte ich sie wo nicht für die belehrendste, so doch für eine der belehrendsten Geschichten, die je gedruckt wurden, da nicht leicht ein Buch sich in so hohem Grade dazu eignet, zu der Bildung eigener Ansichten beizutragen« 42 . Mill verweist in diesem Zusammenhang nicht nur auf die schwierigen Umstände, unter denen sein Vater die Untersuchung schreibt, sondern macht auch darauf aufmerksam, dass er darin viele radikale Ansichten vertritt, die zwar im Sinne des zivilisatorischen Fortschritts nützlich sind, ihm aber insgesamt wenig Freunde unter den damaligen Machthabern einbringen. Umso bedeutender ist, dass James Mill nur ein Jahr nach der Veröffentlichung von den Direktoren der Indischen Kompanie eine Anstellung erhält, zunächst als Assessor, später als Chef der Prüfungskommission. Im Laufe der Jahre führt er eine Reihe von behördlichen Neuerungen durch, die in Indien eine positive Entwicklung einläuten. »In seiner Geschichte Indiens hatte er zum ersten Mal viele von den richtigen Grundsätzen einer indischen Administration aufgestellt, und da er bei Ausfertigung seiner Depeschen diesen Grundsätzen folgte, so tat er mehr als je zuvor für den Auf-

42

Ebd., S. 41.

61 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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schwung Indiens und für die Verbesserung des Verwaltungswesens.« 43 Dass der neue Posten keinerlei Folgen im Hinblick auf die Erziehung seines Sohnes hat, zeigt sich schon daran, dass er noch im selben Jahr mit ihm einen Kurs in politischer Ökonomie absolviert. Im Zentrum des volkswirtschaftlichen Studiums steht die gerade publizierte Politische Ökonomie David Ricardos, der nicht nur ein Freund von Mills Vater ist, sondern im Fortgang der Geschichte auch zu einem der wichtigsten Vertreter der klassischen Nationalökonomie avanciert. 44 Um sich dem Unterrichtsstoff zu nähern, verlangt James Mill von seinem Sohn zunächst, dass er Teile der Ökonomie auf den gemeinsamen Spaziergängen referiert und zusammenfasst. »Er erklärte mir jeden Tag einen Teil des Gegenstandes, über den ich am anderen einen schriftlichen Bericht abgeben und dann diesen wieder und wieder umschreiben musste.« 45 Diese sorgfältig ausgearbeiteten Rechenschaftsberichte lieferten James Mill die Basis zu seinen 1820 veröffentlichten Elementen der politischen Ökonomie. Nachdem Mill den Grundlagenkurs in Volkswirtschaftslehre beendet hat, studiert er die nationalökonomische Abhandlung Ricardos. Auf den Spaziergängen muss er seinem Vater in gewohnter Weise Bericht über das Gelesene erstatten und die Gedanken mit verwandten Themen wie der nationalen Geldpolitik in Beziehung setzen. Während dieser Zeit beschäftigt er sich auch mit den wirtschaftstheoretischen Schriften Adam Smiths 46 , wobei sein Vater dieses Studium nur deshalb vorsieht, um »die oberflächlichere Anschauungsweise dieses Autors mit den gediegeneren Lehren Ricardos« 47 zu vergleichen. Nicht nur, dass Mill sich in diesen Jahren ein umfangreiches Wissen in den spekulativen Zweigen der Logik und Nationalökonomie verschafft, er profitiert auch im hohen Maße von

Ebd., S. 42. Vgl. dazu Thomas S. Hoffmann, Wirtschaftsphilosophie, Ansätze und Perspektiven von der Antike bis heute, Wiesbaden 2009, S. 159–161. 45 Au, AW, Band 2, S. 43. 46 Vgl. dazu Jens Harms, »Konzeptionen des Liberalismus und der Sozialstaat. John Stuart Mill und Adam Smith«, in: Jens Harms (Hg.), Über Freiheit. John Stuart Mill und die Politische Ökonomie des Liberalismus, Frankfurt am Main 1984, S. 133–150; ferner Erik Kan, Die Unterwanderung des Wirtschaftsliberalismus. Adam Smith, David Ricardo und John Stuart Mill und ihre Instrumentalisierung durch den Manchester- und Neoliberalismus, Marburg 2011. 47 Au, AW, Band 2, S. 43. 43 44

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der Pädagogik seines Vaters, in dessen Zentrum die aufklärerische Anleitung zum Selbstdenken steht. Mills akademische Ausbildung ist, wie er in seiner Autobiographie festhält, mit 14 Jahren weitgehend beendet, nicht zuletzt deshalb, weil er England dann für ein Jahr verlässt; »und nach meiner Rückkehr war der Vater, obschon ich meine Studien unter seiner allgemeinen Leistung fortsetzte, nicht mehr mein Schulmeister« 48 . Diesen vorläufigen Endpunkt seines Bildungsganges nimmt er zum Anlass, einige lerntheoretische Aspekte zu reflektieren, die in direkter Beziehung zu seinem Lernerfolg stehen. Zunächst bemerkt Mill, dass seine Entwicklung ein gutes Beispiel dafür ist, was man bereits als Kleinkind alles leisten kann, während in der Schule oft wertvolle Zeit mit dem ausgedehnten Pauken griechischer und lateinischer Vokabeln vergeudet wird. Ein Kritiker könnte hier nun einwenden, dass der beispiellose Erkenntniszuwachs des Sprösslings nur aufgrund seines überaus klugen Verstandes möglich ist. Dieses auf die genetischen Anlagen abzielende Argument entkräftet Mill, wenngleich wenig überzeugend, mit dem Hinweis, dass er im Hinblick auf seine geistige Ausstattung lediglich Mittelmaß sei; »allein in allen diesen natürlichen Vorteilen stand ich eher unter als über dem Durchschnitt, und was ich zu leisten vermochte, hätte sicherlich ebensogut von jedem Knaben oder Mädchen, das mit einer gesunden physischen Konstitution nur ein durchschnittliches Auffassungsvermögen besitzt, geleistet werden können« 49 . Abgesehen davon ist Mill sich seines geistigen Vorsprungs vollkommen bewusst, wenn er schreibt, dass er aufgrund seiner Ausbildung von einem Punkt ins Leben startet, der ihn gegenüber seinen Zeitgenossen um ein Vierteljahrhundert vorausbringt. 50 Ein weiterer Aspekt, auf den Mill an dieser Stelle seiner Autobiographie eingeht, ist, dass er alles Gute aus seiner Erziehung dem Umstand zuschreibt, dass sein Vater ihn stets zum Selbstdenken ermuntert hat, anstatt, wie es beim klassischen Schulunterricht üblich ist, von ihm zu verlangen, bekanntes Wissen zu lernen und wiederzugeben. »So werden denn die Söhne ausgezeichneter Männer, an deren Erziehung nichts gespart worden ist, sehr häufig zu Papageien dessen, was sie gelernt haben, und wissen es nicht, ihren Geist anders 48 49 50

Ebd., S. 44. Ebd., S. 44 f. Vgl. ebd., S. 45.

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zu brauchen als in den ihnen vorgezeichneten Bahnen.« 51 Im Gegensatz dazu legt James Mill großen Wert darauf, dass sein Sohn eigene Gedanken entwickelt, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass er ungehalten wird, wenn sein Schüler die zu erfassenden Sachverhalte mit Begriffen erklärt, von denen er kein Verständnis hat. Es genügt dem Vater nicht, wenn Mill den Unterschied zwischen theoretischer Erkenntnis und praktischer Wahrheitsfindung begreiflich macht, er verlangt auch von ihm, den Begriff »Theorie« zu definieren, weil dieser die Voraussetzung für den eigentlichen Erkenntnisgewinn ist. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Mills Vater sich hier an der sokratischen Methode 52 orientiert, denn offenbar geht er von der Annahme aus, dass eine der Bedingungen für Erkenntnis eine möglichst konkrete Definition der gebrauchten Begrifflichkeiten ist. Diese pädagogische Grundhaltung wird noch dadurch unterstützt, dass er seinem Sohn Einsichten zuweilen vorenthält, solange dieser seine eigenen Gedanken noch nicht erschöpft hat. Nicht selten erzeugt ein bis zu dieser Stelle vorgestellter Bildungsgang beim Schüler eine gewisse Überheblichkeit, weil dieser seinen Altersgenossen im Hinblick auf die bildende Erkenntnis weit voraus ist. James Mill ist sich der Gefahr der Selbstbeweihräucherung durchaus bewusst und sorgt deshalb dafür, dass sein Sohn einen Charakter erhält, dessen Merkmal die Bescheidenheit und nicht der Hochmut ist. Auch achtet er darauf, dass der junge Mill sich im gesellschaftlichen Verkehr in Zufriedenheit übt. Ferner lenkt er die Aufmerksamkeit seines Sohnes bei leistungsbezogenen Vergleichen weg von den persönlichen Verdiensten hin zu Fragen, wie der Mensch sein sollte. Dahinter verbirgt sich zweifellos die Vorstellung einer perfektionistischen Ethik, deren wesentliches Kennzeichen darin besteht, dass der augenblickliche Zustand immer noch verbessert werden kann. Das menschliche Ideal, das hier präsentiert wird, ist derart hoch, dass die Vorstellung der eigenen Unvollkommenheit geradezu immanent ist. Es spielt überhaupt keine Rolle, wie viel man zu leisten im Ebd. »Die sokratische Methode, die in Platons Dialogen eine musterhafte Illustration gefunden hat, findet ihresgleichen als Disziplin zur Verbesserung von Irrtümern und zur Sichtung der Wirrnis, in welche der intellectus sibi permissus so leicht verfällt, wenn er sein ganzes Paket an Assoziationen unter der Leitung einer populären Phraseologie zusammengetragen hat.« Ebd., S. 39; vgl. dazu auch Dieter Birnbacher/Dieter Krohn (Hg.), Das sokratische Gespräch, Hamburg 2002.

51 52

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Stande ist oder wie viel man schon weiß, die eingebaute Nichterreichbarkeit des Ideals erzeugt beständig das Gefühl der eigenen Verbesserungswürdigkeit. Dies gilt für die Vervollkommnung des Geistes und die Veredelung des Charakters gleichermaßen. Folglich ist jede Form der Einbildung völlig unangebracht, nicht nur, weil das sich im existenziellen Modus der Anmaßung bewegende Individuum übersieht, dass es sich, wie alle Menschen, in der Entwicklung befindet, sondern auch, weil das angestrebte Ziel nicht erreicht werden kann. Es geht hier nicht darum, sich im Glanz seiner Leistungen zu spiegeln, sondern darum, den einmal erreichten Zustand im Sinne des zivilisatorischen Fortschritts zu verbessern. Es ist kein Zufall, dass der Begriff der Demut eine frei gewählte Haltung bezeichnet, die sich aus dem Bewusstsein des unendlichen Zurückbleibens hinter der angestrebten Vollkommenheit speist. Mills Vater wird im Rahmen seines Erziehungsprogramms nicht müde zu betonen, dass sein Sohn trotz seiner intellektuellen Leistungen keinen Grund zur Anmaßung hat: »Wenn ich mehr als andere wisse, so dürfe ich es nicht den eigenen Verdiensten, sondern nur dem sehr ungewöhnlichen Vorteil zuschreiben, dass ich einen Vater habe, der mich zu unterrichten imstande und auch geneigt sei, diesem Werk die erforderliche Mühe und Zeit zu widmen« 53 . Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass James Mill nicht nur großen Wert auf eine umfassende akademische Ausbildung legt, sondern dass er auch darauf achtet, dass sein Sohn einen tugendhaften Charakter herausbildet. Wissensvermittlung und Charaktererziehung sind im Erziehungsplan des Vaters eng miteinander verbunden und ergänzen sich wechselseitig. Bevor Mill im zweiten Kapitel seiner Autobiographie auf die moralischen Einflüsse seiner Jugend und den Charakter seines Vaters genauer eingeht, berichtet er noch davon, was in seiner Erziehung nicht berücksichtigt wird. Zunächst macht er darauf aufmerksam, dass er als Kind so gut wie keinen Kontakt zu Gleichaltrigen hat, weil sein Vater ihn vor den verderbenden Einflüssen des freien Spiels beschützen wollte. Gleichwohl besitzt der junge Mill einen gesunden Körper, was er vor allem auf die täglichen Spaziergänge mit seinem Vater zurückführt. Da James Mill sich bei der Erziehung seines Sohnes auf die Schulung des Intellekts konzentriert, kann es nicht verwundern, dass dieser im Hinblick auf die Ausübung praktischer Tä53

Au, AW, Band 2, S. 47.

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tigkeiten eher ungeschickt bleibt. »Die Erziehung, die mein Vater mir gab, zielte mehr auf das Wissen als auf das Können ab.« 54 Im Gegensatz dazu, ist James Mill ein energetischer Charakter, der seine Zeitgenossen nicht zuletzt durch seinen starken Willen und seine Durchsetzungskraft beeindruckt.

2.

Moralische Einflüsse der Erziehung

Was die Charaktererziehung betrifft, macht Mill gleich zu Beginn seiner Ausführungen darauf aufmerksam, dass die moralischen Einflüsse seiner Ansicht nach Vorrang vor allen anderen haben, weil sie im Rahmen der Erziehung die wichtigsten sind. Gleichzeitig verweist er darauf, dass sein Bericht zu keinem Zeitpunkt den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Bei der Bezeichnung der Umstände, die seinen Charakter geformt haben, begrenzt er sich auf diejenigen, die ihm am bedeutsamsten erscheinen. Mill wächst, wie er sagt, ohne irgendeinen religiösen Glauben im gewöhnlichen Sinne des Wortes auf. 55 Den Grund dafür erblickt er in der Haltung seines Vaters, der zwar nach den Dogmen des Presbyterianismus erzogen wird, aber aufgrund seiner Studien schon früh den Glauben an eine göttliche Offenbarung sowie die Grundlagen der gewöhnlichen Religion ablehnt. Eingeläutet wird diese Abkehr durch die Lektüre von Butlers Analogie, ein Buch, in dem die Religion nicht aus der Offenbarung, sondern aus der Vernunft und Naturbeobachtung abgeleitet wird. Obwohl er zunächst am Deismus festhält, wird ihm auch dieser mit der Zeit immer zweifelhafter, so dass er sich schließlich vom Glauben auch aus Verstandesgründen abwendet. Gleichwohl geschieht die religiöse Trennung des Vaters, wie Mill in seiner Autobiographie dokumentiert, weniger aus intellektuellen als vielmehr aus moralischen Gründen: »Er fand es unmöglich zu glauben, dass eine Welt so voll Übel das Werk eines Urhebers sei, der mit der Allmacht eine unendliche Güte und Gerechtigkeit verbinde, und sein Verstand wies die Spitzfindigkeiten zurück, durch welche die Ebd., S. 48. Vgl. ebd., S. 49; siehe auch John Stuart Mill, Drei Essays über Religion. Natur – Die Nützlichkeit der Religion – Theimus, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen v. Dieter Birnbacher, Stuttgart 1984; ferner Alan Millar, »Mill on Religion«, in: John Skorupski (Hg.), The Cambridge Companion to Mill, Cambridge 1998, S. 176–202.

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Menschen sich gegen diesen offenen Widerspruch zu verblenden suchten.« 56 James Mill handelt insofern konsequent, als dass sich der Widerspruch zwischen einem gerechten Gott und einer bedürftigen Welt mit der Vernunft in der Tat nicht auflösen lässt. Es gehört zur Wesenhaftigkeit Gottes, dass er sich der begründeten Einsicht entzieht. Mills Vater gelangt letztlich zu der Auffassung, dass die christliche Religion der größte Feind der Moral sei. Einerseits, weil sie sich auf gekünstelte Tugenden stütze, die sich in frommen Ritualen ausdrückten, mit einer Beziehung zum Wohl der Menschen aber nichts zu tun hätten; »vor allem aber, weil sie das Richtmaß der Moral zu einem falschen mache, indem sie das Ziel derselben in die Erfüllung des Willens eines Wesen setze, das sie zwar mit allen Phrasen der Schmeichelei überhäufte, in nüchternem Ernst aber als ihm hohen Grade hassenswert schildere« 57 . Damit möchte Mill sagen, dass sein Vater ihn immer wieder darauf aufmerksam gemacht hat, dass die Menschen in allen Zeitaltern ihre Götter als boshaft dargestellt haben, bevor sie sie dann angebetet haben. »Denke dir, pflegte er zu sagen, ein Wesen, das eine Hölle schaffen konnte und daneben bei seiner Allwissenheit, folglich mit vorbedachter Ansicht die größte Mehrzahl der von ihm geschaffenen Menschen einer schrecklichen, endlosen Qual anheimgab.« 58 Gleichwohl hindert dieser Widerspruch die Christen im Allgemeinen nicht daran, an ihrem Glauben festzuhalten. Obgleich sie vielleicht ein doppelsinniges Gefühl von ihrem Gott besitzen, so Mill, verhindert ihre geistige Trägheit, dass sie sich über die Folgen ihrer unlogischen Auffassung im Klaren sind. Ohne ihr Handeln in Frage zu stellen, sind sie bereit, ihre widersprüchlichen Gefühle der christlichen Liebe, Furcht und Hoffnung unterzuordnen, um sich den Gründen der Vernunft nicht stellen und die Gemeinschaft der Gläubigen nicht verlassen zu müssen. Vor einem klareren Begriff der Vollkommenheit schrecken sie zurück, weil sie fühlen, dass dieser sie in Konflikt mit ihren religiösen Überzeugungen bringen würde. Zudem erfordert diese Art des Nachdenkens nicht nur Mut, sondern ist auch schwer auszuhalten, weil das Rütteln am Fundament der sich in der Welt haltenden Vorurteile in der Regel Angst erzeugt. 56 57 58

Au, AW, Band 2, S. 50. Ebd. Ebd., S. 51.

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Der Charakter von Mills Vater ist dagegen von anderer Art, denn er verbietet diesem, sich Glaubenssätzen und Gefühlen hinzugeben, die nicht im Einklang mit dessen Vorstellung von Pflicht stehen. Im Hinblick auf die letzten Fragen des Menschengeschlechts antwortet er seinem Sohn, »dass man über die Art, wie die Welt ins Dasein gekommen sei, nichts wisse und auf die Frage, wer den Menschen geschaffen habe, nicht antworten könne, weil wir darüber weder Erfahrung noch authentische Berichte hätten« 59 . Vor diesem Hintergrund gesteht Mill, dass er seinen Glauben nicht aufgrund irgendwelcher Gründe oder Erfahrungen verloren habe; er habe vielmehr niemals einen gehabt, weil er in einem Umfeld religiöser Negation aufgewachsen sei. 60 Mit dieser Tatsache ist indes eine erzieherische Konsequenz verbunden. Obwohl James Mill seinen Sohn zum Atheismus ermuntert, rät er ihm zugleich aus Gründen der Klugheit, diese Überzeugung nicht in der Öffentlichkeit kundzutun. Erst Jahre später beobachtet er derart große Fortschritte in der Redefreiheit, dass er zu dem Ergebnis kommt, dass heute wohl niemand mehr einen persönlichen oder gesellschaftlichen Nachteil fürchten muss, wenn er unerwünschte Meinungen vertritt. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und spricht sich dafür aus, dass gebildete Bürger jetzt sogar die Pflicht haben, den demokratischen Entwicklungsprozess der Gesellschaft zu unterstützen, indem sie ihre Auffassungen öffentlich zum Ausdruck bringen, »wenigstens wenn sie ihrem Ruf eine Stellung verdanken, welche ihrer Anschauung Beachtung in Aussicht stellt« 61 . Mill ist davon überzeugt, dass eine solche Kultur der Debatte viel dazu beitragen kann, den begründeten Unglauben oder zumindest den religiösen Skeptizismus gesellschaftsfähig zu machen, was wiederum die Meinungsfreiheit stärken und den zivilisatorischen Fortschritt weiter voranbringen wird. Abgesehen davon ist er der Überzeugung, dass die HerausbilEbd., S. 52. »So bin ich denn eines der sehr wenigen Beispiele in England, die den religiösen Glauben nicht etwa abgestreift, sondern gar nie gehabt haben, da ich in dem Zustand der Verneinung heranwuchs. Die neuen Religionen erschienen mir in demselben Licht wie die alten, als Dinge, die mich nichts angingen, und es schien mir nicht befremdlich, wenn Engländer glaubten, was ich nicht glaubte, denn dasselbe war ja auch bei den Menschen, von denen ich im Herodot gelesen hatte, der Fall. Aus der Geschichte kannte ich die Verschiedenheit und Wandelbarkeit der menschlichen Meinungen, und so ging es eben auch jetzt noch fort.« Ebd. 61 Ebd., S. 53. 59 60

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dung eines tugendhaften Charakters weit mehr für die Vermehrung des Glücks in der Gesellschaft tun kann als die unreflektierte Orientierung an religiösen Glaubensätzen, die zu allem Überfluss in sich auch noch widersprüchlich sind. Dieser Umstand hat wahrscheinlich auch damit zu tun, dass James Mill sich im Hinblick auf die moralischen Grundsätze seines Erziehungsplans an den griechischen Philosophen orientiert. Nicht nur, dass der junge Mill mit seinem Vater zusammen schon früh die Memorabilien von Xenophon liest, in Sokrates erblickt er auch das Musterbild moralischer Vortrefflichkeit. Im Anschluss daran kommt er, wie bereits weiter oben angeführt, mit den philosophischen Schriften Platons in Kontakt, die ebenfalls eine hohe moralische Wirkung auf ihn ausüben. Wie er in seiner Autobiographie festhält, sind die ethischen Lehren seines Vaters hauptsächlich die der »Socratici viri« – »Gerechtigkeit, Mäßigung, welchen er ein sehr umfassendes Gebiet anwies, Wahrheitsliebe, Beharrlichkeit, die vor keinem Schmerz, keiner Arbeit zurückschrickt, Eifer für das Gemeinwohl, Würdigung der Person nach ihren Verdiensten und der Dinge nach ihrem innerlichen Wert, ein Leben der Tätigkeit im Gegensatz von jeder verweichlichenden Ruhe und Trägheit« 62 . Diese moralischen Grundsätze fasst der Vater zu kurzen Lehrsätzen zusammen, und wann immer der junge Mill ein Verhalten an den Tag legt, das in Widerspruch zu diesen Dogmen steht, werden sie vom Vater zur Charaktererziehung benutzt. Neben dem Unterricht der Moral ist es aber vor allem die Person des Vaters selbst, welche auf die Herausbildung seines Charakters einen entscheidenden Einfluss ausübt. Wie Mill berichtet, ist der Charakter seines Vaters im Wesentlichen von den Anschauungen des Stoikers, des Epikureers und des Kynikers geprägt. »Seine persönlichen Eigenschaften waren vorzugsweise stoisch, und seine Moral gipfelte in der des Epikur, sofern sie utilitaristisch war und den ausschließlichen Probierstein des Guten und Schlechten in der Tendenz der Handlungen erkannte, Vergnügen oder Schmerz zu bereiten.« 63 Das kynische Element seines Charakters zeigt sich hauptsächlich darin, dass er sich weitgehend das Vergnügen versagt und auch sonst wenig Verständnis dafür aufbringt. Da er der Auffassung ist, dass dem Vergnügen im Leben insgesamt zu viel Bedeutung beigemessen wird, fühlt er sich in erster 62 63

Ebd., S. 54 f. Ebd., S. 55.

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Linie der Mäßigung verpflichtet. Es kann daher nicht verwundern, dass die Zügelung der Leidenschaften zu einem der wichtigsten Eckpfeiler in Mills Erziehung wird. Wenn James Mill überhaupt irgendeine Art von Vergnügen schätzt, dann sind es geistige Freuden, denn diese Beschäftigungen bringen nicht nur einen sinnlichen Genuss, sondern sind auch nützlich im Sinne der intellektuellen Ausbildung. Die erzieherische Konzentration auf rationale Fähigkeiten erklärt dann auch seinen ablehnenden Standpunkt gegenüber allen aufgeregten Gefühlen. »Für leidenschaftliche Gefühle jeder Art und alles, was darüber geschrieben oder gesagt wurde, um sie hochzuhalten, hatte er nur die allergrößte Verachtung übrig.« 64 Diese Haltung basiert auf der Überzeugung, dass Gefühle kein angemessener Gegenstand für Lob und Tadel sind; nur im Handeln und im Unterlassen erkennt James Mill Recht und Unrecht, das Gute und das Schlechte; damit erweist er sich als treuer Anhänger des klassischen Utilitarismus, der allein die Handlungsfolgen in den Blick nimmt. Das Bemerkenswerte an dieser Ethik ist, dass sie eine Handlung nur im Hinblick auf ihre Wirkungen beurteilt, eine Analyse der Motive, die zum Verhalten geführt haben, findet nicht statt, so dass selbst eine Handlung aus Pflicht moralisch zu verurteilen ist, wenn die Folgen derselben nicht dazu beitragen, das größte Glück der größten Zahl zu vermehren; »der Inquisitor, der aus Gewissensrücksichten Ketzer verbrennen ließ, erschien in seinen Augen ebenso verantwortlich wie der aus freier Willkür wütende Tyrann« 65 . Allerdings führt diese Auffassung nicht dazu, dass Mills Vater vollkommen unempfindlich gegenüber der Herausbildung eines edlen Charakters wird. Im Gegenteil: Die Orientierung an den antiken Philosophen bewirkt nicht nur, dass die Charakterbildung ein fester Bestandteil seines Erziehungsplans wird; er lässt auch keinen Zweifel daran, dass Gewissenhaftigkeit und Redlichkeit für ihn hohe moralische Werte sind, die nicht nur der Person, sondern der ganzen Gesellschaft zum Vorteil gereichen. Die größte Schwäche in Mills Erziehung ist zweifellos die nicht vorhandene Zärtlichkeit bei gleichzeitiger Überbetonung der intellektuellen Schulung. Man könnte auch sagen, dass seine Erziehung von einer kühlen Einseitigkeit geprägt ist, von dem Wunsch des Vaters, seinen Sohn zu einer Denkmaschine zu erziehen. 66 Wie alle Kinder 64 65 66

Ebd., S. 56. Ebd. Vgl. ebd., S. 96.

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schützt auch Mill seinen Vater; den Mangel an emotionaler Zuwendung begründet er mit dem Hinweis, dass es ihm, obgleich er reich an Gefühlen ist, schwerfällt, diese zu zeigen. Auch macht er auf den Umstand aufmerksam, dass sein Vater einen sehr reizbaren Charakter besitzt und sich in der schwierigen Lage des alleinigen Lehrers befindet. Am Ende kann Mill sich »eines Gefühls aufrichtigen Mitleids nicht erwehren gegen einen Vater, der so viel für seine Kinder tat und zu tun sich mühte, auch ihre Liebe zu schätzen wusste, aber zugleich stets das peinliche Gefühl in sich trug, dass die Furcht vor ihm diese Liebe in ihrer Quelle erstickte« 67 . Obwohl der Vater seine strenge Haltung mit den Jahren etwas ablegt und insbesondere seinen jüngeren Kindern mit mehr emotionaler Wärme begegnet, berichtet Mill, dass seine Beziehung zu ihm bis zum Schluss weniger auf Liebe als vielmehr auf »pflichtgemäßem Gehorsam« 68 basiert. Ob die Strenge des Vaters einen negativen oder positiven Einfluss auf seine Entwicklung ausübt, vermag Mill nicht zu sagen; er verweist lediglich darauf, dass sie ihn nicht davon abgehalten hat, ein glückliches Kind zu sein. Abgesehen davon ist er überzeugt, dass Kinder nicht durch freundliches Bitten zum Lernen gebracht werden. Zwar gibt es einige neuere Erziehungsmethoden, die sich das Ziel gesetzt haben, den Schülern das Lernen zu erleichtern, aber dieser Grundsatz darf nicht so verstanden werden, dass sie nur noch das lernen sollten, was ihnen leicht fällt, denn das würde bedeuteten, dass ein wichtiger Aspekt der Erziehung verlorenginge. Während die althergebrachten Unterrichtsmethoden gewiss zu tyrannisch sind, befürchtet Mill, dass die modernen Ansätze dazu führen, dass die Jugendlichen zu Menschen heranwachsen, die nicht mehr in der Lage sind, in Dingen, die ihnen schwerfallen, etwas zu leisten. Mills Ansicht hinsichtlich erzieherischer Strenge kulminiert in dem Gedanken, dass die Furcht ein wichtiges Element der Erziehung ist, wenngleich sie nicht im Zentrum stehen sollte. Diesen Standpunkt begründet er damit, dass bei einer Überbetonung der Strenge die Gefahr besteht, dass das Kind eine Angst vor der freien Rede entwickelt, was weder im Sinne der Persönlichkeitsbildung noch im Sinne einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung sein kann. Im Laufe der Jahre lernt Mill auch die Freunde seines Vaters 67 68

Ebd., S. 58. Ebd.

71 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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kennen, von denen einige zu angesehenen Bürgern der Geschichte Englands werden. Da ist zum einen David Ricardo, der nicht nur einer der wichtigsten Nationalökonomen ist, sondern den jungen Mill auch in seinem Studium der politischen Ökonomie unterstützt. Da ist zum anderen Joseph Hume, der sich nach seiner Rückkehr aus Indien in der Politik engagiert und in das Parlament eintritt, um sich für eine Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen 69 einzusetzen. Ferner gibt es da noch Jeremy Bentham, den Begründer des klassischen Utilitarismus, der ein enger Vertrauter der Familie ist, so dass Mill ihm bei den verschiedensten Gelegenheiten begegnet. Es ist wohl nicht falsch zu behaupten, dass neben seinem Vater vornehmlich Bentham den größten Einfluss auf Mills Charakter ausübt, möglicherweise auch deshalb, weil er mit beiden Männern mehrere Urlaube verbringt. Im Jahr 1820 verlässt der junge Mill England für einen einjährigen Aufenthalt in Frankreich; ein Umstand, der für seine Erziehung und intellektuelle Ausbildung besonders glücklich ist. Die Ursache für diesen Auslandsaufenthalt ist der General Sir Samuel Bentham, der Bruder von Jeremy Bentham. Mill lernt ihn auf einem Ausflug kennen und wird von ihm für sechs Monate in sein Haus nach Südfrankreich eingeladen, wobei aus dem ursprünglich geplanten halben Jahr am Ende zwölf Monate werden. Er fühlt sich wohl bei Sir Samuel Bentham, der mit der Tochter des berühmten Chemikers Fordyce verheiratet ist; gemeinsam haben sie einen Sohn und drei Töchter, von denen die jüngste zwei Jahre älter ist als Mill. Während seiner Zeit in Frankreich kommt Mill zum ersten Mal mit Landschaften des Hochgebirges in Kontakt, die einen tiefen Eindruck auf ihn machen. »Ich begleitete sie [die Familie Bentham] auf einen Ausflug in die Pyrenäen, einschließlich eines längeren Aufenthalts in Bagnères, auf einer Reise nach Pau, Bayonne und Bagnères de Luchon und bei einer Besteigung des Pic du Midi des Bigorre.« 70 Ferner lernt er während seines Aufenthalts die französische Sprache, die er insoweit beherrscht, als dass er sich mit den Ansässigen unterhalten und die gewöhnliche französische Literatur lesen kann. Abgerundet wird sein Studium durch das Hören der Wintervorträge der Faculté des Sciences; neben Vorlesungen zur Chemie und Zoologie hört Zum Verhältnis zwischen Liberalismus und arbeitenden Klassen bei Mill siehe Bartsch, Liberalismus und arbeitende Klassen, a. a. O. 70 Au, AW, Band 2, S. 61. 69

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Moralische Einflüsse der Erziehung

er dort auch Vorträge zur Philosophie und Logik. Hinzu kommt, dass Mill die Gelegenheit erhält, bei Lenthéric, einem Professor am Lycée de Montpellier, Privatstunden in höherer Mathematik zu nehmen. Als größtes Glück jedoch betrachtet er den Umstand, dass er ein ganzes Jahr die »fröhliche Atmosphäre des Kontinentallebens« 71 atmen kann. Obwohl viele der Unterschiede zwischen England und Frankreich ihm erst Jahre später in ihrer Bedeutung bewusst werden, fällt Mill von Anfang an auf, dass die Franzosen im Gegensatz zu den Engländern an eine »Übung der Gefühle« 72 gewöhnt sind. Während sich in England hauptsächlich die höheren Klassen mit kulturellen Erzeugnissen beschäftigen und die Engländer sich in der Regel nur um die Verfolgung ihrer eigenen Interessen kümmern, sind in Frankreich auch die ungebildeten Klassen in den Kulturbetrieb eingebunden, mit der Folge, dass die Franzosen wesentlich geselliger sind im gewöhnlichen Verkehr. 73 Sowohl auf dem Hin- als auch auf dem Rückweg seiner Bildungsreise verbringt der junge Mill einige Zeit bei dem Nationalökonomen Jean-Baptiste Say 74 , der ein Freund und Korrespondent seines Vaters ist. Der Knabe ist voller Achtung für ihn, nicht nur, weil er ein Anhänger der französischen Revolution ist, sondern auch, weil er das Ideal eines Republikaners verkörpert, der im Kreis seiner Familie ein den Büchern gewidmetes Leben führt und sich für die Verbreitung liberaler Ideen einsetzt. Im Haus des Ökonomen kommt Mill auch mit Saint-Simon 75 in Kontakt, dessen Gefährten später den SaintEbd., S. 62. Ebd. 73 Vgl. ebd., S. 62 f. 74 Vgl. dazu Vera Linß, Die wichtigsten Wirtschaftsdenker, Wiesbaden 2007, S. 31– 34; vgl. ferner Arnold Heertje/Evert Schoorl, »Jean-Baptiste Say and the Education of John Stuart Mill«, in: Mill Newsletter 8 (1972), Heft 1, S. 10–15. 75 Mills Engagement für die Bildung der Massen geht nicht zuletzt auf den Einfluss der Frühsozialisten zurück: »[W]enn aber die Demokratie einen großen und vielleicht den Hauptanteil an der öffentlichen Gewalt erringen würde, so müsse es auch im Interesse der reichen Klassen liegen, die Volksbildung zu fördern und dadurch wirklich unheilvolle Irrtümer, insbesondere diejenigen, welche zu ungerechten Verletzungen des Eigentums führen, abzuwehren. Aus diesen Gründen eiferte ich nicht nur weiterhin für demokratische Institutionen, sondern hoffte auch sehr darauf, dass die Antieigentumsdoktrinen Owens, Saint-Simons und anderer unter den ärmeren Klassen Verbreitung gewinnen möchten, nicht, weil ich sie für wahr oder ihre Durchführung für wünschenswert hielt, sondern weil dann die Reichen lernen konnten, dass sie von den Armen weit mehr zu fürchten hatten, wenn sie ungebildet blieben, als wenn 71 72

73 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

John Stuart Mill: Ein Erziehungsexperiment

Simonismus begründen, eine Denkschule, die eine mertiokratische Gesellschaft anstrebt. Die Wirkung dieser Bekanntschaft besteht darin, dass Mill »ein bleibendes Interesse am kontinentalen Liberalismus« 76 entwickelt, das sich in erster Linie darin zeigt, dass er nach seiner Heimkehr versucht, sich regelmäßig über die Entwicklungen desselben zu informieren. Im Juli 1821 kehrt Mill schließlich nach England zurück, nachdem er einige Tage bei dem Ökonomen Joseph Lowe verbracht hat, der ein Schulfreund seines Vaters ist.

3.

Mündigkeit und liberaler Kampf

Nachdem Mill von seiner einjährigen Bildungsreise nach Hause gekommen ist, setzt er seine akademische Ausbildung in gewohnter Weise fort. Von seinem Vater, der gerade dabei ist, seine Elemente der politischen Ökonomie 77 zu beenden, erhält er sogleich den Auftrag, die Randglossen zu schreiben, eben jene kurzen Kapitelzusammenfassungen, die es dem Autor erlauben, die gedankliche Ordnung seines Werkes zu überblicken, um entsprechende Verbesserungen vornehmen zu können. Neben einigen Schriften des Aufklärers Condillacs liest Mill nach seiner Rückkehr auch zum ersten Mal die Geschichte der Französischen Revolution, die einen tiefgreifenden Eindruck auf ihn macht. 78 Ohne Zweifel sieht Mill sich als Anhänger dieses historischen Ereignisses, dessen Ziel die Aufhebung der Ständeordnung und die Etablierung der Menschenrechte ist. »Was so kürzlich erst geschehen war, konnte ja leicht sich wiederholen, und ich vermöchte mir nichts Rühmlicheres zu denken, als in einem englischen Konvent einer Gironde anzugehören, die entweder siegte oder mit Ehre unterging.« 79 Mills liberale Grundhaltung wird noch gefördert, als er John man auf ihre Bildung hinarbeitete.« Au, AW, Band 2, S. 137; zum Einfluss des SaintSimonismus auf Mill siehe John R. Hainds, »John Stuart Mill and the Saint-Simonians«, in: Journal on the History of Ideas 7 (1946) S. 103–112. 76 Au, AW, Band 2, S. 63. 77 Vgl. James Mill, Elements of Political Economy, London 1825. 78 Vgl. dazu John Coleman, »John Stuart Mill on the French Revolution«, in: History of Political Thought 4 (1983) S. 94–114; siehe auch Marion Filipiuk, »John Stuart Mill and France«, in: Michael Laine (Hg.), A Cultivated Mind. Essays on John Stuart Mill Presented to John M. Robson, Toronto 1991, S. 80–120. 79 Au, AW, Band 2, S. 66.

74 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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Austin, einen englischen Juristen und Rechtsphilosophen, bei seinen Studien zum römischen Recht unterstützen darf. Mills Vater fördert diese Interessengemeinschaft vor allem deshalb, weil Austin als Freund der Familie den utilitaristischen Ideen Benthams nahesteht. Überhaupt ist Mills Erziehung, wie in seiner Autobiographie dokumentiert, bis dahin »ein Kurs in Benthamismus gewesen, da man mich stets gelehrt hatte, an das höchste Glück das Bentham’sche Richtmaß anzulegen« 80 . Es ist dann auch eben dieser Utilitarismus, in dem Mill das Integral seines Denkens findet; in ihm entdeckt er eine Philosophie, die seinen Überlegungen und seinem Handeln eine einheitliche Form gibt. Die Schriften Benthams, die durch den französischen Herausgeber Dumont einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, bleiben seine wertvollste Lektüre, auch in den Jahren seines späteren Studiums, das den höheren Zweigen der analytischen Psychologie gewidmet ist. Zu dieser Zeit liest Mill außerdem die Schriften Lockes 81 ; er versieht einzelne Auszüge der Abhandlungen mit Bemerkungen und diskutiert diese dann mit seinem Vater. Ähnlich verfährt Mill bei der Lektüre des Helvétius, wobei James Mill auch hier die Rolle des Kritikers übernimmt. Abgerundet wird das Psychologiestudium durch die Analyse des Geistes; ein Werk, das Mills Vater während jener Jahre auf der Grundlage der Hartley’schen Methode schreibt und das 1829 veröffentlicht wird. Daneben liest Mill noch eine Reihe weiterer philosophischer Schriftsteller, namentlich Berkeley, Hume, Reid, Stewart und Brown; alles Köpfe, die nicht nur wegweisende Werke auf dem Gebiet der Philosophie des Geistes verfasst, sondern sich auch einen Platz in der abendländischen Geschichte des Denkens gesichert haben. Ein Buch übt auf Mill allerdings einen derart nachhaltigen Einfluss aus, dass er es in diesem Zusammenhang ausdrücklich erwähnt; die Rede ist von der Analyse des Einflusses der Natur auf das zeitliche Glück der Menschheit, ein Werk, das unter dem Pseudonym Philipp Beauchamp auf der Grundlage einiger Manuskripte von Bentham veröffentlicht wird. In diesem Buch geht es, wie Mill festhält, weniger um die Wahrheit als vielmehr um die Zweckdienlichkeit eines religiösen Glaubens; obwohl die Religiosität, so die utilitaristische These des Buches, im gegenwärtigen Zeitalter auf äußerst waEbd. Zur Erziehungslehre bei Locke siehe Heike Barakat, John Lockes Education. Erziehung im Dienste der Bildung, Münster 2011.

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ckeligen Füßen steht, besitzt sie dennoch eine gewisse Nützlichkeit im Hinblick auf moralische und soziale Zwecke. Mill ist von diesem Werk so überzeugt, dass er es zu den bedeutendsten Publikationen seines Zeitalters zählt. Im Alter von 16 Jahren beginnt Mill damit, seine Studien, die bisher fast ausschließlich lesend erfolgt sind, durch das Verfassen von kleineren Abhandlungen zu vertiefen: »Von nun an begann ich die Kultur meines Geistes mehr durch Schreiben als durch Lesen fortzusetzen.« 82 Im Sommer 1822 beendet er sein Erstlingswerk, eine Schrift vom Charakter einer beweisführenden Untersuchung. Bereits am Anfang seiner Karriere als sozialphilosophischer Schriftsteller stellt Mill fest, dass er wenig Talent für das Poetische hat, das Sachliche liegt ihm mehr als jener Zweig der Rhetorik, der sich um eine Schreibweise bemüht, die weniger durch Rechtfertigung als vielmehr durch »Deklamation« überzeugt; »trockne Argumentation war das Einzige, was ich bewältigen konnte oder aus freien Stücken versuchte, obwohl ich passiv sehr empfänglich war für die Wirkung jeder schriftstellerischen Arbeit, die sich auf der Grundlage der Vernunft an die Gefühle wandte, mochte es nun in der Form der Poesie oder der Redekunst geschehen« 83 . James Mill ermuntert seinen Sohn trotzdem, sich auch in der Redekunst zu probieren; auf der Grundlage seiner Kenntnisse der griechischen Geschichte verfasst Mill daher zwei juristische Reden: eine zur Anklage und eine »zur Verteidigung des Perikles vor einem hypothetischen Volksgericht, weil er bei Gelegenheit eines Einfalls in Attika nicht gegen die Lakedämonier ins Feld gerückt sei« 84 . Im Anschluss daran verbringt er nach eigenen Angaben viel Zeit damit, über Gegenstände zu schreiben, deren Verständnis seine intellektuellen Fähigkeiten oft weit übersteigt. Gleichwohl sind diese Anstrengungen nicht umsonst; denn durch die Auseinandersetzung mit dem schwierigen Material gewöhnt er seinen Geist nicht nur an die Herausforderung, sondern schult auch seine argumentativen Kräfte, wenn er mit seinem Vater auf den gemeinsamen Spaziergängen über das Geschriebene diskutiert. Während jener Jahre pflegt Mill auch einen fortschrittlichen Austausch mit verschiedenen Personen des öffentlichen Lebens, wel82 83 84

Au, AW, Band 2, S. 71. Ebd. Ebd.

76 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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che stets in enger Beziehung zur liberalen Bewegung stehen. Hier sind vor allem Grote, von dem bereits unter seinem Pseudonym Philipp Beauchamp die Rede gewesen ist, und der unlängst erwähnte Rechtsphilosoph und Freund der Familie, John Austin, zu nennen. Grote wird 1819 im Alter von 25 Jahren durch den bekannten Nationalökonomen David Ricardo in das Haus der Mills eingeführt; er freundet sich schnell mit dem jungen Mill an, und die beiden verbringen viel Zeit mit dem Diskutieren über politische, moralische und philosophische Themen. Grote hat sich zu dieser Zeit bereits einen Namen in der Politik gemacht, und zwar durch eine Flugschrift zur Verteidigung liberaler Reformen, was umso bemerkenswerter ist angesichts der Tatsache, dass sein Vater, ein wohlhabender Bankier, ein Anhänger der konservativen Tories ist. Austin ist, wie bereits weiter oben erwähnt, ein überaus begabter Jurist und Rechtsphilosoph; er ist einige Jahre älter als Grote und der älteste Sohn eines in den Ruhestand zurückgezogenen Müllers, welcher mit Lieferungen während des Krieges sein Vermögen gemacht hat. Der Advokat fasziniert Mill vor allem wegen seines Charakters, der eine seltsame Mischung aus Tatkraft und Melancholie ist; »ich meine zunächst die Energie und den Reichtum seiner Rede, durch die er Feuer in die Behandlung der allgemeinsten Fragen zu bringen gewohnt war, und die wohlüberlegte Willenskraft mit einem gewissen Beigeschmack von Bitterkeit, die teilweise Temperamentssache, teilweise aber auch ein Ausfluss seiner allgemeinen Fühl- und Denkweise war« 85 . Auch freundet Mill sich mit dem jüngeren Bruder von Austin an; Charles, der nur wenige Jahre älter ist, kommt eben von der Universität zurück, wo er sich einen Ruf als kluger Kopf und begabter Redner erworben hat. Nicht ohne Bewunderung berichtet Mill davon, wie der junge Charles Austin einen großen Einfluss auf seine Kommilitonen ausübt. »Seine Einwirkung auf seine Zeitgenossen aus Cambridge verdient als historisches Ereignis notiert zu werden, denn teilweise hängt damit die Tendenz zum Liberalismus im Allgemeinen und zu dessen Bentham’scher und nationalökonomischer Form im Besonderen zusammen, welche von dieser Zeit an bis 1830 sich so vieler regsamer junger Männer aus den höheren Klassen bemächtigt hat.« 86 Obwohl Cambridge zu jener Zeit eine ganze Reihe von bedeutenden Persönlichkeiten hervorbringt, von denen einige 85 86

Ebd., S. 73. Ebd., S. 74.

77 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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ihre volle Wirkmächtigkeit auf dem Feld der Politik entfalten, lässt Mill keinen Zweifel daran, dass es Charles Austin ist, der die Anhänger des bekannten Debattierclubs auch in späteren Tagen zusammenhält. Abgesehen von den neuen Einsichten und geistigen Anregungen, die Charles Austin ihm vermittelt, findet Mill in ihm auch einen Freund, der ihn als gleichberechtigten Partner anerkennt. Wie Mill in seiner Autobiographie dokumentiert, fühlt er sich in der Gegenwart des jungen Austin zum ersten Mal als Mann unter Männern und nicht als Schüler unter Lehrern, die obendrein auch noch wesentlich älter sind als er. Es ist wohl nicht gänzlich falsch zu behaupten, dass Charles Austin Mills erster wirklicher Freund gewesen ist, was sich nicht zuletzt auch an der Art und Weise zeigt, wie er über ihn berichtet. 87 Im Winter 1822/23 entwirft Mill den Plan zu einer kleinen Gesellschaft, die aus mehreren jungen Männern bestehen soll, die sich im Hinblick auf einige generelle Grundsätze insofern einig sind, als dass sie diese zur Grundlage ihres gesellschaftlichen Denkens und Handelns machen; »als Prinzip galt sowohl in der Ethik als auch in der Politik die Utilität nebst einer gewissen Anzahl von daraus abgeleiteten logischen Folgen der von mir akzeptierten Philosophie« 88 . Die Vereinigung gibt sich den Namen »Utilitaristische Gesellschaft« und ihre Mitglieder werden alsbald als »Utilitarier« bezeichnet, wobei Mill darauf hinweist, dass er den Ausdruck nicht erfunden hat; er hat ihn in Das Pfarrregister, einer Novelle von Galts, gefunden. »Mit knabenhafter Freude an einem Namen und einem Banner griff ich diese Bezeichnung auf, belegte einige Jahre lang mich und andere damit, und im Laufe der Zeit wurde sie auch von einzelnen weiteren Personen adoptiert, welche sich zu den entsprechenden Ansichten bekannten.« 89 Obwohl die Vereinigung, deren Treffen im Haus von Jeremy Bentham stattfinden, nur drei Jahre besteht und nie mehr als zehn Personen umfasst, zieht Mill einen Nutzen aus diesem Experiment, der neben der Übung in freier Rede vor allem darin besteht, dass er als Anführer der Gruppe einen großen Einfluss auf die Entwicklung der anderen Mitglieder der Gesellschaft ausübt. Im Mai 1823 verschafft James Mill seinem Sohn einen Posten in der von ihm geleiteten Prüfungskommission der Ostindischen Kom87 88 89

Vgl. ebd., S. 74 ff. Ebd., S. 76. Ebd., S. 77.

78 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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panie 90 ; hier arbeitet Mill ganze 35 Jahre, zunächst unter väterlicher Aufsicht, bis ihm nach wenigen Jahren die Verantwortung für die Korrespondenz eines der wichtigsten Departements übertragen wird. Zwei Jahre bevor die Kompanie ihre politische Handelsarbeit niederlegt, wird Mill noch zum Aufsichtsbeamten der Korrespondenz befördert. Es ist allerdings weniger der Posten, der ihn zufriedenstellt, als vielmehr die freie Zeit für eigene Studien. Die Arbeit nimmt ihn offenbar nicht allzu sehr in Anspruch, so dass ihm noch genügend Zeit bleibt, um seine intellektuelle Ausbildung und charakterliche Vervollkommnung voranzubringen. Abgesehen davon garantiert ihm die Anstellung ein regelmäßiges Einkommen; auch muss er sich hinsichtlich seiner publizistischen Ambitionen nicht den gängigen Moden anpassen, wie dies vielleicht Auftragsschriftsteller tun müssen. »Wer von der Feder leben will, sieht sich auf literarische Plackerei oder im besten Fall auf Schriftstellerei für den großen Haufen verwiesen und kann auf frei gewählte Gegenstände nur so viel Zeit verwenden, wie ihm von dieser Fronarbeit übrig bleibt« 91 . So gesehen tut James Mill gut daran, seinem Sohn zu einer sicheren Anstellung zu verhelfen, die zugleich viel Zeit zur Selbstbildung lässt. Es gibt aber auch etwas, das Mill während seiner Arbeit lernt und das ihm später beim Entwurf seiner gesellschaftlichen Reformvorschläge als wertvolle Erfahrung dient; die Rede ist von dem Umstand, dass er sich immer nur als ein Element der Gemeinschaft begreift; die Arbeitsvorgänge sind in der Regel viel zu komplex, als dass eine Person sie vollkommen überschauen und handhaben könnte; »vor allem aber lernte ich in diesem Teil meiner Tätigkeit, mich bloß als ein Rad in einer Maschine zu betrachten, in welcher alle Teile zusammenarbeiten mussten« 92 . Es ist evident, dass Mill hier von nichts Geringerem spricht als von der Notwendigkeit sozialer Kooperation. Nicht atomistischer Eigensinn, sondern reziproke Zusammenarbeit bringt Erfolg. Wie bereits angeführt, findet Mill neben seinen Verpflichtungen bei der Ostindischen Kompanie genügend Zeit, um seine politischen, moralischen und sozialphilosophischen Studien zu vertiefen. Er verfasst einige schriftliche Arbeiten, von denen zwei Briefe 1822 in der Vgl. Robin J. Moore, »John Stuart Mill at East India House«, in: Historical Studies 20 (1983), S. 497–519. 91 Au, AW, Band 2, S. 79. 92 Ebd., S. 80. 90

79 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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Traveller Evening Newspaper veröffentlicht werden. Die Zeitung, welche nach dem Kauf des Globe in Globe and Traveller umbenannt wird, gehört dem bekannten Nationalökonomen Oberst Torrens, wobei Walter Coulson, ein ehemaliger Schreibgehilfe Jeremy Benthams, die Geschäfte führt. Den Anlass zum Verfassen der Briefe gibt der Zeitungsbesitzer Torrens, der es sich nicht nehmen lässt, in seiner Zeitung zu politischen und ökonomischen Themen zuweilen selbst Stellung zu beziehen. Nachdem er eine wirtschaftliche Ansicht von David Ricardo und James Mill angefochten hatte, ermuntert der Vater seinen Sohn, eine entsprechende Antwort zu formulieren. Neben nationalökonomischen Problemen verhandelt Mill aber auch andere Themen, wie beispielsweise die Frage, welchen Stellenwert die Meinungsfreiheit in der Gesellschaft haben sollte. Unter dem Namen »Wickliffe« schreibt er fünf Briefe, in denen er der Frage nachgeht, inwieweit es erlaubt sein sollte, religiöse Ansichten im freien Meinungsaustausch zu diskutieren; diese bietet er dann dem Morning Chronicle an, der im Januar und Februar drei der fünf Briefe abdruckt. Im Laufe des Jahres 1823 werden weitere seiner Artikel sowohl im Chronicle als auch im Traveller publiziert, »bisweilen zu Notizen über Bücher, aber weit öfter Briefe mit Auslassungen über irgendeinen im Parlament gesprochenen Unsinn, über Mängel der Gesetzgebung oder über Fehler der Magistrate und der Gerichtshöfe« 93 . Insgesamt lässt sich festhalten, dass Mill sich neben seiner Arbeit in die politischen, sozialen und ökonomischen Debatten seiner Zeit einmischt, um die Idee einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung voranzubringen. 94 Zu dieser Zeit ist der Chronicle nicht mehr das ausschließliche Organ der Whigs; für die nächsten zehn Jahre wird er für die politische Bewegung der philosophischen Radikalen zum wichtigsten Medium, um ihre liberalen Ansichten einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die darin publizierten Artikel zielen vor allem auf eine Verbesserung der allgemeinen Gesetzgebung und Rechts-

Ebd., S. 83. Vgl. John Stuart Mill, Betrachtungen über die Repräsentativregierung, hrsg. v. Hubertus Buchstein/Sandra Seubert, Berlin 2013; siehe auch Peter Rinderle, »John Stuart Mill über die Grundlagen, Gestalten und Gefahren der Demokratie«, in: Olaf Asbach (Hg.), Vom Nutzen des Staates. Staatsverständnisse des klassischen Utilitarismus: Hume – Bentham – Mill, Baden-Baden 2009, S. 183–209.

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80 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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pflege, denn obwohl in der Gesellschaft das Bild vorherrscht, dass die englischen Einrichtungen zu den mustergültigsten überhaupt gehören, sind die Liberalen anderer Ansicht; nach ihrer Auffassung bestehen im Rechtsapparat erhebliche Mängel, die zu korrigieren sind. Das Zentrum der philosophischen Radikalen ist das Haus der Mills; hier treffen ihre Mitglieder sich, um über die Verfehlungen der englischen Gerichtshöfe zu diskutieren. Während James Mill den größten geistigen Einfluss auf die Reformer ausübt, sind Jeremy Bentham und John Black, der Herausgeber der Zeitung, unermüdlich damit beschäftigt, die leeren Seiten mit Buchstaben zu füllen, um die Wirkung ihrer Missbilligungen zu erhöhen. Die liberale Vereinigung gelangt durch das Verfassen gesellschaftskritischer Texte zu einigem Ansehen, insbesondere Mills Vater kommt »zu einer Macht im Lande, wie sie selten einem Mann in einer Privatstellung durch die bloße Kraft seines Geistes und Charakters zufällt, zu einer Macht, die oft da am nachdrücklichsten wirkt, wo sie am wenigsten gesehen und vermutet wird« 95 . Neben ihren meinungsbildenden Publikationen im Chronicle verfolgt die Reformbewegung das Ziel, eine eigene Zeitung zu gründen, die sich als radikal-liberales Organ zwischen den beiden etablierten Zeitungen, der Edinburgh Review einerseits und der Quarterly Review andererseits, bewegen soll. 1823 ist es soweit: Nachdem die Idee schon einige Zeit auf dem Tisch liegt, entschließt Bentham sich, die Review auf eigene Kosten ins Leben zu rufen, wobei James Mill die Leitung übernehmen soll; dieser lehnt aber ab, weil er der Überzeugung ist, dass die Tätigkeit sich mit den Pflichten in der Ostindischen Kompanie nicht in Einklang bringen lässt; die Führung erhält daraufhin John Browning, ein Kaufmann, welcher zwar ein Vertrauter Benthams ist, den James Mill aber im Hinblick auf das Lenken einer Zeitung für vollkommen ungeeignet hält. Und so kommt es, dass Mills Vater sich trotz seiner beruflichen Verpflichtungen bereit erklärt, einen Artikel für die erste Ausgabe zu schreiben. In seinem Beitrag kritisiert er nicht nur die Edinburgh Review, sondern liefert auch eine differenzierte Analyse der politischen Eliten, denen es weniger um eine Verbesserung der Gesellschaft als vielmehr um bloßen Machterhalt geht. »Nie zuvor hatte die Whig-Partei und ihre Politik einen so gewaltigen Angriff erfahren, und nie zuvor war in England eine so mächtige Lanze für den 95

Au, AW, Band 2, S. 84.

81 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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Radikalismus eingelegt worden« 96 . Aber nicht nur James Mill unterstützt die Zeitung nach Leibeskräften, auch andere Mitglieder der philosophischen Radikalen liefern regelmäßig Beiträge, um die Verbesserung des liberalen Organs voranzubringen. Insbesondere der junge Mill schreibt in den ersten Monaten nach der Gründung zahlreiche Artikel; von der zweiten bis zur 18. Ausgabe verfasst er insgesamt 13 Beiträge; neben Rezensionen zu historischen und ökonomischen Büchern schreibt er vor allem kritische Stellungnahmen zu politischen Themen wie der Ausgestaltung der Korngesetze. Mit der Zeit wird die Review zu einer Zeitung, die im öffentlichen Bewusstsein eine immer größere Rolle spielt, wohl auch, weil die Ziele der Radikalen durch die historische Entwicklung unterstützt werden. Es ist der aufkommende Liberalismus, der das Bewusstsein der Bürger neu einstellt und sie für eine Erneuerung der staatlichen Einrichtungen sensibilisiert. Auch die Entschlossenheit, welche die Schriften der radikalen Bewegung im Allgemeinen kennzeichnen, und die Kühnheit, mit der die Mitglieder ihre Kritik vorbringen, tragen mit dazu bei, dass ihre Lehren sich in der Gesellschaft bald verbreiten und zu einer Stimme werden, die nicht mehr überhört werden kann – »alles das bewirkte, dass die sogenannte philosophisch-politische Schule Benthams eine weit höhere Bedeutung in der öffentlichen Meinung als je zuvor gewann, eine Bedeutung, wie sie auch spätere ernsthafte Denkschulen in England nie wieder errungen haben« 97 . Von den etablierten Parteien, den liberalen Whigs einerseits und den konservativen Tories andererseits, setzen die philosophischen Radikalen sich in erster Linie durch ihre denkerische Radikalität ab. Was die Galionsfiguren der Bewegung betrifft, sind es zweifellos Jeremy Bentham und James Mill, die die Gemeinschaft zusammenhalten und die politische Marschrichtung vorgeben. Während Bentham durch seine theoretischen Arbeiten die intellektuelle Munition für den liberalen Kampf liefert, überzeugt Mills Vater vor allem durch seine Persönlichkeit. Das utilitaristische Gedankengut wird hauptsächlich von drei Seiten in die englische Gesellschaft gegossen. Zum einen von Austin und einigen seiner Kommilitonen aus Cambridge; zum anderen von einer jüngeren Generation, die nicht von Austin, sondern von Eyton Tooke angeführt wird. 96 97

Ebd., S. 86. Ebd., S. 91.

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Der dritte Strom ist der junge Mill, der nicht nur ein Produkt des utilitaristischen Geistes ist, sondern sich auch unermüdlich für die Verbreitung jener Gedanken einsetzt. Obwohl die philosophischen Radikalen nach außen geschlossen auftreten, macht Mill darauf aufmerksam, dass sie nach innen nicht immer der gleichen Meinung sind, obgleich der Ursprung des Streitgesprächs meistens die Ansichten seines Vaters sind, »welche dem Bentham’schen oder utilitaristischen Propagandismus seiner Zeit ihren ausgezeichneten Charakter verliehen« 98 . Wie bereits angeführt, ist der zweite Kopf der radikalen Bewegung Jeremy Bentham, weshalb die Anhänger der Vereinigung gelegentlich auch als Benthamianer bezeichnet werden; allerdings ist diese Kennzeichnung nur insofern angemessen, als dass Bentham ein Theoriegeber unter anderen ist. Es ist keineswegs so, dass die philosophischen Radikalen sich allein auf die Lehren Benthams beziehen. Im Gegenteil: Das Bevölkerungsprinzip von Malthus 99 gilt ihnen genauso zur Orientierung ihres Denkens wie das Nützlichkeitsprinzip. Allerdings verkehren die Utilitaristen die Malthusgleichung in ihr Gegenteil; wenn nämlich jene Lehre besagt, dass die Menschen in ihrer Vervollkommnungsfähigkeit gehindert werden, weil das Nahrungsangebot nicht proportional zur Weltbevölkerung wächst, dann folgt daraus, dass die Chancen der Menschen erhöht werden, wenn sie sich einer fakultativen Geburtenkontrolle unterwerfen. Die menschliche Verbesserungsfähigkeit kann verwirklicht werden, »indem man der ganzen arbeitenden Bevölkerung volle Beschäftigung durch die freiwillige Beschränkung des Zahlenzuwachses sicherte« 100 . Mills Vater vertritt die Ansicht, dass eine repräsentative Regierung und eine rechtlich abgesicherte Meinungsfreiheit die allgemeine Lage des Menschengeschlechts deutlich verbessern würden. Er ist davon überzeugt, dass die Gesellschaft auf eine neue Stufe des Fortschritts gehoben wird, wenn alle Menschen lesen und schreiben können, ihnen die freie Verwendung ihrer Vernunft gestattet wird und sie mit einem Grundrecht ausgestattet werden, das ihnen erlaubt, eine Regierung zu wählen, die nicht die Interessen der Wenigen, sondern die der Vielen vertritt. Auch prophezeit er einen Fortschritt in Ebd., S. 92. Vgl. Thomas Robert Malthus, Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz, 2 Bände, Jena 1905. 100 Au, AW, Band 2, S. 94. 98 99

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den Geschlechterbeziehungen, derart, dass die Gleichheit von Mann und Frau zunimmt. Ferner vertritt er die Auffassung, dass der menschliche Charakter vor allem durch zwei Aspekte gebildet wird: durch die ihn umgebenden Umstände und den psychologischen Vorgang der Assoziation; daraus leitet er den Grundsatz ab, dass die moralische und intellektuelle Situation des Menschen durch eine Erziehung verbessert werden kann, welche sich die Gesetze der Ideenverknüpfung zunutze macht und darauf achtet, dass der Mensch unter gesellschaftliche Verhältnisse gesetzt wird, die seine Vervollkommnung begünstigen. Es sind diese Kernansichten, die sich der halbwüchsige Nachwuchs der radikalen Bewegung zu eigen macht, wobei es nicht verwundern kann, dass insbesondere der junge Mill zu den Ehrgeizigsten gehört. Um ein realitätsgerechtes Bild der utilitaristischen Vereinigung zu zeichnen, gibt Mill auch einen Einblick in das Innere der philosophischen Bewegung. Dabei reagiert er zugleich darauf, dass die Benthamiten in der Gesellschaft oft als »bloße Denkmaschinen« 101 bezeichnet werden; auch wenn dieser Ausdruck im Allgemeinen sicherlich eine unangebrachte Bezeichnung ist, muss Mill einräumen, dass dieses Prädikat, sofern man es auf zwei oder drei Jahre seines Lebens bezieht, durchaus zutreffend ist. 102 Dass jener Ausdruck für den jungen Mill passend ist, verdankt sich wohl auch dem Umstand, dass sein Vater im Rahmen seines Erziehungsprogramms größten Wert auf die Herausbildung eines scharfen Intellekts legt, während er die Seite des Gefühls vernachlässigt; nicht weil sie keinen Wert besitzt, sondern weil er der Überzeugung ist, dass man dem zivilisatorischen Fortschritt am besten dient, wenn man den menschlichen Verstand zur Mündigkeit erzieht; diese pädagogische Grundhaltung führt allerdings dazu, dass den Vertretern der utilitaristischen Lehre zwischenmenschliche Kälte, kalkulierende Rationalität und barbarische Unmenschlichkeit vorgeworfen wird: »Die Utilität wurde verschrien als kalte Berechnung, die politische Ökonomie als hartherzig und die Überbevölkerungslehre als im Widerspruch stehend mit den natürlichen Gefühlen der Menschheit« 103 . Obwohl die Anhänger des Utilitarismus die Angriffe rhetorisch geschickt abwehren, muss Mill zugeben, dass die »Kultur des Ge101 102 103

Ebd., S. 96. Vgl. ebd. Ebd., S. 97.

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fühls« 104 von den philosophischen Radikalen nicht sonderlich geachtet wird, sofern man vom privaten und öffentlichen Pflichtgefühl einmal absieht. Mit der Vernachlässigung des Gefühls geht eine Geringschätzung der Poesie einher, die ihren Grund allerdings weniger in der Dichtkunst selbst als vielmehr in der Abwesenheit der Theorie findet. Insbesondere Bentham hält wenig von den Produkten der Phantasie, so dass in der Gesellschaft alsbald das Bild entsteht, dass die Utilitaristen die Poesie im Allgemeinen verschmähen. Dass dies jedoch nur auf Bentham und vielleicht noch auf James Mill zutrifft, wird schon daran deutlich, dass es viele Radikale gibt, die poetische Werke lesen. Bingham, der für den literarischen und künstlerischen Teil der Westminster Review verantwortlich ist, schreibt sogar selbst Gedichte. Was den jungen Mill angeht, so gibt dieser zu Protokoll, dass ihm die Poesie nicht zuwider, sondern aus theoretischen Gründen gleichgültig ist, wenngleich er seine Meinung, wie wir noch sehen werden, im Laufe seines Lebens ändern wird. Obwohl er keine ästhetischen Bücher liest, bildet Mill dennoch eine bilderreiche Kultur heraus, die in einer Bewunderung für die großen Charaktere der abendländischen Philosophie ihren Ausdruck findet. Es sind vor allem die Schriften Platons, in denen er die lebendigen Bilder seines Vorbildes Sokrates findet. Ein weiteres Werk, das ihn ebenfalls beeindruckt, ist das Leben des Turgots von Condorcet. »Die heroische Tugend dieser glorreichen Vertreter der Anschauungen, für welche auch ich schwärmte, ergriff mich tief, und ich kehrte, wie andere zu einem Lieblingsdichter, stets zu ihnen zurück, wenn ich mich in höhere Regionen des Gedankens und des Gefühls aufschwingen wollte.« 105 Am Anfang des Jahres 1824 beschließt Bentham, eines seiner Manuskripte für die Veröffentlichung einzurichten; er bittet den 18-jährigen Mill, ihm bei dem Vorhaben behilflich zu sein; dieser nimmt das Angebot dankbar an, mit der Folge, dass er das ganze Jahr damit beschäftigt ist, die Satzvorlage für den Druck vorzubereiten, wobei die Zeit nicht mitgerechnet ist, die Mill auf die Korrektur der insgesamt fünf Bände verwendet. Nicht nur, dass Bentham sein Werk immer wieder umschreibt, es finden sich auch eine Reihe von Stellen darin, die inhaltlich noch unvollständig sind, so dass Mill sich gezwungen sieht, sich tief in die rechtswissenschaftliche Materie ein104 105

Ebd. Ebd., S. 99.

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zuarbeiten, um dem Leser eine argumentative Nachvollziehbarkeit und angenehme Leseführung zu ermöglichen. Sein Engagement geht weit über das eines normalen Schreibgehilfen hinaus; neben den redaktionellen Tätigkeiten verfasst er Stellungnahmen, in denen er die Einwände der Rezensenten diskutiert; auch fügt er ergänzende Bemerkungen zu einigen Bereichen des Buches hinzu, insbesondere zu jenen, die den abstrakten Teil der Untersuchung bilden. Dass Bentham von der Arbeit Mills überzeugt ist, zeigt sich allein schon daran, dass er ihn zum Herausgeber seiner Werke macht. Die publizistische Tätigkeit hat aber noch einen anderen Vorteil, sie verschafft dem ehrgeizigen Schüler Mill die Möglichkeit, seinen Intellekt weiter auszubilden, denn es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass das Rationale of Judicial Evidence 106 zu den wichtigsten Werken Benthams gehört; dies liegt hauptsächlich daran, dass er in dieser Abhandlung die Theorie des Beweises formuliert, welche in fast alle anderen Bereiche seines utilitaristischen Denkens hineinreicht; während das Werk im Allgemeinen seine besten Gedanken beinhaltet, liefert es im Besonderen eine auf die englischen Gesetze gerichtete Missbilligung, welche sich nicht nur auf den juristischen Beweis, sondern auf die ganze parlamentarische Praxis bezieht. Der persönliche Gewinn, den Mill aus der Beschäftigung mit dem Manuskript Benthams zieht, besteht in erster Linie aus zwei Gesichtspunkten: Zum einen verschafft ihm das Lesen der Schrift neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Rechtswissenschaften. Zum anderen, und dieser Umstand ist weit wichtiger, verändert die Arbeit seinen eigenen Schreibstil dahingehend, dass seine Formulierungen lebendiger werden; diese Entwicklung seines literarischen Geistes wird durch die Auseinandersetzung mit anderen Autoren, namentlich Goldsmith, Fielding, Pascal, Voltaire und Courier, noch unterstützt. »Unter solchen Einflüssen verlor mein Stil die Nüchternheit meiner früheren Darstellungsart; die Knochen und Knorpel begannen sich mit Fleisch zu bekleiden, und mein Stil wurde mitunter lebhaft, ja fast leicht.« 107 Etwa zur gleichen Zeit bekommt John Marshall, ein reicher Geschäftsmann und Politiker, Benthams Buch der Trugschlüsse in die Hände; er findet daran so viel Wohlgefallen, dass er ihm den Vor106 Jeremy Bentham, Rationale of Judicial Evidence, Specially Applied to English Practice, hrsg. v. John Stuart Mill, 5 Bände, London 1827. 107 Au, AW, Band 2, S. 101.

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schlag unterbreitet, jährlich die Parlamentsdebatten zu veröffentlichen, allerdings nicht in chronologischer Reihenfolge, wie es derzeit von Hansard, dem Herausgeber von Hansard’s Parliamentary, getan wird, sondern nach Angelegenheiten geordnet und mit Anmerkungen versehen. Marshall wendet sich mit seinem Angebot direkt an Bentham, und nachdem dieser von der Idee überzeugt ist, übernimmt Bingham die Redaktion, wobei er von Austin unterstützt wird. Obwohl die Parliamentary History and Review einen hoffnungsvollen Start hinlegt, wesentlich ehrgeiziger als Westminster Review betrieben wird und bei den Politikern und Parlamentsmitgliedern einiges Aufsehen erregt, wird sie nach drei Jahren wieder eingestellt, weil die Absatzzahlen zu niedrig sind und die Schrift insgesamt mehr Kosten als Gewinn verursacht. Für Mill hat die Mitarbeit an dem ehrgeizigen Projekt insofern einen Nutzen, als dass er durch das Verfassen der Beiträge, insbesondere für die erste und die zweite Nummer, sein schriftstellerisches Geschick weiter verfeinern kann. Wie er selbst dokumentiert, zeigen seine jetzigen Veröffentlichungen eine »Reife und Tüchtigkeit« 108 wie keine seiner früheren Arbeiten. Neben den Bemühungen, die Parliamentary History and Review gemeinsam mit den übrigen Mitgliedern der philosophischen Radikalen am Leben zu erhalten, versäumt Mill es nicht, seine moralische, intellektuelle und charakterliche Selbstausbildung auch auf anderen Wegen weiter voranzutreiben. Nicht nur, dass er während dieser Zeit Deutsch lernt, er schließt sich auch mit einigen Freunden zusammen und gründet eine Vereinigung, welche das Ziel verfolgt, interessante Wissenschaftszweige durch gemeinsames Lesen und freien Meinungsaustausch zu erschließen. Die Clubmitglieder, von denen einige der zuvor gegründeten »Utilitaristischen Gesellschaft« 109 angehören, treffen sich zweimal in der Woche jeweils morgens von halb neun bis zehn in einem Zimmer in Grotes Haus, um über wechselnde Gegenstände zu sprechen. Die jungen Männer beginnen ihr kollektives Studium mit dem ökonomischen Lehrbuch von Mills Vater, welches unter dem Namen Elemente der politischen Ökonomie publiziert worden ist und einen tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung der Nationalökonomie ausgeübt hat. 108 109

Ebd., S. 102. Ebd., S. 103.

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John Stuart Mill: Ein Erziehungsexperiment

Im Anschluss daran nimmt die Gemeinschaft sich die Grundsätze der politischen Ökonomie von Ricardo vor, gefolgt von Baileys Abhandlung über den Wert. Dass diese Diskussionsrunden mehr sind als bloßer Zeitvertreib, zeigt sich daran, dass Mill darauf aufmerksam macht, dass insbesondere seine ökonomischen Aufsätze, die später unter dem Titel Essays über einige ungelöste Probleme der politischen Ökonomie 110 publiziert werden, von dieser Zeit beeinflusst sind. Nach der Beschäftigung mit der Nationalökonomie machen die Mitglieder der Gesellschaft sich daran, die syllogistische Logik zu studieren, wobei sie auf Handbücher über Schullogik zurückgreifen, nachdem sie von Aldrichs Lehrbuch enttäuscht worden sind. Die wissenschaftlichen Diskussionen mit seinen Kommilitonen fallen bei Mill auf fruchtbaren Boden, weshalb es nicht verwundern kann, dass vieles von dem, was er später in seinem System der Logik schreibt, seinen Ursprung in jenen geistreichen Auseinandersetzungen findet. Nach der Logik studieren die jungen Männer die analytische Psychologie. Nachdem sie die Schriften von Hartley, dem Begründer der Assoziationspsychologie, durchgearbeitet haben, beendet die Gruppe allerdings ihre gewohnten Treffen; als Mills Vater jedoch seine Analyse des Geistes publiziert, nehmen die Schüler den Faden der Gelehrsamkeit noch einmal auf, um ihn dann am Ende der letzten Seite endgültig fallenzulassen. Es sind die Jahre des gemeinsamen Studiums, die Mill in die Höhen eines spekulativen Denkens führen, das sich aus der Abhängigkeit fremder Gedanken und Vorstellungen weitestgehend befreit hat; auch lernt er während jener Jahre viele Dinge, die für seine weitere Beschäftigung mit sozialphilosophischen und ökonomischen Fragestellungen überaus wichtig sind – »dass ich nämlich nie die halbe Lösung einer Schwierigkeit für vollständig hinnahm, dass ich nie von einem wahren Punkt abließ, sondern immer und immer auf denselben zurückkam, bis mir völlig klar war, dass ich keinen dunklen Winkel eines Gegenstandes unerforscht ließ, weil er mir unerheblich schien, und dass ich die einzelnen Teile eines Themas nie für selbstverständlich betrachtete, wenn ich nicht das Ganze in hellem Licht vor mit hatte« 111 . Zwischen 1825 und 1830 formt Mill seinen Charakter, indem er 110 John Stuart Mill, Einige ungelöste Probleme der politischen Ökonomie, hrsg. v. Hans G. Nutzinger, Marburg 2008. 111 Au, AW, Band 2, S. 105.

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Mündigkeit und liberaler Kampf

sich gemeinsam mit seinen utilitaristischen Freunden an öffentlichen Auseinandersetzungen beteiligt, nur dass es diesmal nicht darum geht, Standpunkte schriftlich vorzubringen, sondern sich in öffentlicher Rede zu üben. Neben der Vereinigung um Bentham und James Mill hat sich um den britischen Frühsozialisten 112 Robert Owen ebenfalls eine Gesellschaft herausgebildet, die sich die Cooperation Society nennt und sich für eine kollektive Verwaltung der ökonomischen Produktionsmittel einsetzt. 113 Zwischen den zwei politischen Gruppen ergibt sich zufällig ein Kontakt, und die jungen Akademiker nutzen die Gelegenheit, um sich mit ihren theoretischen Widersachern intellektuell zu duellieren. Während in den ersten Wochen die Bevölkerungsfrage auf der Tagesordnung steht, wird in den folgenden Monaten intensiv über die allgemeine Bedeutung von Owens System debattiert. Die politischen Auseinandersetzungen werden von vielen Anhängern begrüßt, so dass einige die Idee des politischen Ökonomen McCulloch, dass London eine ähnliche Gesellschaft benötigt, aufgreifen und überlegen, wie eine solche Vereinigung vernünftigerweise zu gründen ist. Nachdem Mill mit einigen Schülern, welche von McCulloch in politischer Ökonomie unterrichtet werden, über das Vorhaben gesprochen hat, beschließen die jungen Männer, von November bis Juni alle 14 Tage in einer Freimaurergaststätte zusammenzukommen, um Kandidaten ausfindig zu machen, welche geeignet sind, an den politischen Streitgesprächen teilzunehmen; bald befinden sich auf ihrer Liste nicht nur einige achtbare Parlamentsmitglieder, sondern auch fast alle Hauptredner der Cambridge Union und der Oxford United Debating Society. Die einzige Schwierigkeit besteht darin, eine zufriedenstellende Anzahl von Tory-Rednern zu finden, während an Liberalen kein Mangel herrscht, ein Umstand, der wohl auch darauf zurückzuführen ist, dass die Zeichen der Geschichte auf Liberalismus und nicht auf Konservatismus stehen. Die gewonnenen Teilnehmer sind allesamt anerkannte Männer, von denen viele später Karriere in der Politik machen; nicht zuletzt deshalb geht Mill davon aus, dass der Debattierclub ein voller Erfolg wird. Aber das Blatt wendet sich, nachdem die Tories einen ihrer ausVgl. Michael Vester (Hg.), Die Frühsozialisten 1789–1848, 2 Bände, Reinbek 1970. Vgl. Christa Uhlig, »Robert Owen (1771–1858)«, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Klassiker der Pädagogik: Von Erasmus bis Helene Lange, Band 1, München 2003, S. 160–171. 112 113

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sichtsreichsten Kandidaten zum Präsidenten machen und dieser eine Eröffnungsrede hält, die nicht einmal durchschnittlich ist. Einige der wichtigsten Wortführer verlassen daraufhin die Veranstaltung und kommen nicht mehr zurück, was das Vorhaben fast zum Scheitern bringt und Mill zwingt, eine aktivere Rolle einzunehmen. »Ich hatte nicht einkalkuliert, dabei eine hervorragende Rolle zu spielen oder viel und oft zu sprechen, vor allem anfangs nicht; doch jetzt sah ich, dass der Erfolg des Planes von den neuen Männern abhing, und ich legte mich ordentlich ins Zeug.« 114 Nach anfänglichen Schwierigkeiten beginnen die Dinge sich in den Jahren 1826 und 1827 zu verbessern; sowohl die Tories als auch die Liberalen erhalten namenhafte Unterstützung, nachdem die politische Gesellschaft ins öffentliche Gerede gekommen ist. Vom traditionellen Debattierclub unterscheidet die Vereinigung sich dadurch, dass die Kämpfe nicht durch die Mittel der Rhetorik, sondern durch die besseren Argumente und Prinzipien gewonnen werden, was nichts anderes heißt, als dass bei den Zusammenkünften zwei divergente philosophische Schulen aufeinandertreffen. Der Nutzen dieser Unternehmung besteht für Mill darin, dass er seine sprachlichen Fähigkeiten ausbilden kann; obwohl er anfangs nicht viel Erfahrung im Halten von Reden hat, entwickelt er schnell ein Gefühl dafür, welche Argumente er vorbringen und auf welche Grundsätze er sich berufen muss, um seine Gegner zu verunsichern und das Publikum auf seine Seite zu ziehen. Es ist leicht einzusehen, dass dieses Engagement viel Zeit in Anspruch nimmt, nicht zuletzt deshalb, weil er alle seine Reden, bevor er sie hält, niederschreibt. Mill ist daher fast froh, als er im Frühling 1828 aufhört, Artikel für die Westminster Review zu schreiben; die Zeitung war in finanzielle Schwierigkeiten geraten, wobei einer der Redakteure bereits aufgehört hatte; mehrere der Schreiber, darunter Mill und sein Vater, lieferten zwar noch Beiträge, erhielten aber kein Honorar mehr. Vor diesem Hintergrund treffen die Mills sich mit Bowring, um über die Neuordnung der redaktionellen Geschäfte und die Zukunft der Review zu sprechen. Mill und sein Vater sind bereit, alles zu tun, um die Zeitung als Sprachrohr der philosophischen Radikalen zu retten, wenngleich sie Bowring die Leitung der Redaktion nicht mehr übertragen wollen. Noch während der Verhandlungen knüpft Bowring Kontakt zu Oberst Thomas Perronet Thompson; er einigt sich 114

Au, AW, Band 2, S. 108.

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Mills Kritik an Benthams Philosophie

mit ihm über die Zukunft der Review und fordert von den Mills die Einreichung neuer Artikel unter der Zusicherung, dass alle Autoren von nun an wieder bezahlt würden. Sowohl James als auch John Stuart Mill empfinden diese hinter ihrem Rücken getätigte Einigung als Beleidigung, auch weil es zunächst so ausgesehen hatte, als wäre man sich im Hinblick auf eine andere Lösung einig. Während James Mill sich einige Jahre später noch einmal darauf einlässt, einen politischen Artikel für das Blatt zu schreiben, ist die Absage des jungen Mill deutlicher; »und damit endigte meine Beziehung zu der ursprünglichen Westminster Review« 115 . Von nun an wendet Mill sich der Französischen Revolution zu, auch wenn er den Plan, ein Buch über dieses für Europa so folgenreiche Ereignis zu schreiben, nicht umsetzt und seine Aufzeichnungen dem schottischen Historiker Thomas Carlyle anvertraut, für den das Material sich als äußerst nützlich erweist. 116

4.

Mills Kritik an Benthams Philosophie

Obwohl Mill im Geist des Utilitarismus erzogen wird und sich als glühender Anhänger der philosophischen Radikalen einen Namen macht, versäumt er es nicht, Bentham und seine Lehre auch zu kritisieren. Will man sein sozialphilosophisches Denken verstehen, ist es daher nützlich, einen Blick in zwei Arbeiten zu werfen, in denen er sich kritisch mit der Philosophie Benthams auseinandersetzt. Der Aufsatz Bemerkungen zu Benthams Philosophie aus dem Jahr 1833 und der Essay Bentham aus dem Jahr 1838 bilden praktisch die Hintergrundfolie für seine eigene Auffassung des Utilitarismus. 117 Seine Kritik an der klassischen Auffassung des Utilitarismus beEbd., S. 111. Vgl. Thomas Carlyle, The French Revolution, 3 Bände, London 1837. 117 In der ersten Schrift (1833) ist Mills Kritik noch von einer gewissen Zurückhaltung geprägt, weil sein Vater, der ein glühender Anhänger des klassischen Utilitarismus ist, noch lebt. Nach dessen Tod (1836) formuliert Mill die Kritik im zweiten Aufsatz (1838) deutlich schärfer. Vgl. Pazos, Die Moralphilosophie John Stuart Mills, a. a. O., S. 65 f. Zur theoretischen Einordnung des Utilitarismus Mills siehe Martha C. Nussbaum, »Mill between Aristotle and Bentham«, in: Daedalus 133 (2004) S. 60–68. Zu Bentham und seinem Werk siehe Charles M. Atkinson, Jeremy Bentham. His Life and Work, New York 1969. Zur Entwicklung der Utilitaristen im Kontext der Politik in England vgl. Wilhelm L. Davidson, Political Thought in England. The Utilitarians from Bentham to John Stuart Mill, London 1957. 115 116

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ginnt Mill mit dem Hinweis, dass Bentham in die metaphysischen Grundlagen seiner eigenen Theorie nicht besonders tief eingedrungen ist, denn bei einer genaueren Betrachtung des Prinzips des größten Glücks zeigt sich, dass er die Bausteine seiner Lehre zum großen Teil einfach von anderen Theoretikern übernommen hat. 118 Gleichzeitig begründet Bentham sein Nützlichkeitsprinzip nicht hinreichend, sondern stellt es auf das Fundament einer oberflächlichen Kritik an den Lehrmeinungen seiner Vorgänger. »Der größte Mangel Mr. Benthams, seine unzureichende Kenntnis und Wertschätzung der Gedanken anderer Menschen, zeigt sich beständig in seinem Ringen mit irgendwelchen trügerischen Schatten der Überzeugung eines Widersachers, lässt aber die eigentliche Substanz unbeeinträchtigt.« 119 Vor diesem Hintergrund gelangt Mill zu dem Ergebnis, dass eine Begründung für das Nützlichkeitsprinzip wohl eine Aufgabe für die Nachwelt ist. Wie ernst es ihm mit dieser Aussage ist, zeigt sich am fünften Kapitel des Utilitarismus, in dem Mill den Versuch unternimmt, einen Beweis für jenes Prinzip nachzuliefern. Ein weiterer Punkt, auf den Mill im Rahmen seiner Kritik aufmerksam macht, bezieht sich auf den Umstand, dass die Leistungen Benthams weniger in der Moralphilosophie zu finden sind als vielmehr in der Gesetzgebung; »denn die Art und Weise, wie er das Nützlichkeitsprinzip aufgefasst und angewandt hat, scheint mir der Erzielung von wahren und wertvollen Ergebnissen im ersteren dieser beiden Untersuchungszweige viel förderlicher zu sein als im letzteren« 120 . Dies zeigt sich auch daran, dass er das Prinzip des größten Glücks fast ausschließlich vor dem Hintergrund der Berechnung der Handlungsfolgen diskutiert; ob eine Handlung gut oder schlecht ist, hängt in erster Linie davon ab, ob sie in ihrer Konsequenz das allgemeine Glück befördert oder nicht; eine Berücksichtigung des moralischen Charakters der Person, die diese Handlung hervorbringt, findet nicht statt. Indem Bentham das Augenmerk allein auf die Handlungsfolgen legt und den menschlichen Charakter unberücksichtigt lässt, übersieht er, so Mill, dass zwischen einer Handlung und dem Charakter, der diese erzeugt, eine direkte Verbindung besteht; denn jede Handlung besitzt die Tendenz, den Charakter zu festigen, was nichts anderes heißt, als dass schlechte Handlungen einen 118 119 120

Vgl. BBP, AW, Band 3.1, S. 40 f. Ebd., S. 43. Ebd.

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schlechten und gute Handlungen einen guten Charakter auf Dauer stellen. Während die Konzentration auf die Folgen einer Handlung im Rahmen der Gesetzgebung ausreicht, weil es hier darauf ankommt, die Menschen durch Abschreckung dazu zu bringen, keine Verbrechen zu begehen, wird dieses einseitige Vorgehen bei der Betrachtung komplexer sozialer Phänomene versagen. Es gehört zu den großen Versäumnissen Benthams, die Bildung und Kultivierung des menschlichen Charakters unbehandelt gelassen und das Augenmerk allein auf die spezifischen Konsequenzen einer Handlung gelegt zu haben. Indes Mill die Leistungen Benthams auf dem Gebiet der Gesetzgebung uneingeschränkt anerkennt, schätzt er seine Arbeiten zur menschlichen Natur nicht sehr hoch ein. »Er hat in dieser Abteilung wenig getan, was über die Einführung einer, wie mir scheint, sehr irreführenden Phraseologie und die Darstellung eines Katalogs von »Triebfedern des Handelns« hinausgeht, in dem einige der wichtigsten fehlen.« 121 Obwohl Mill mit Bentham darin übereinstimmt, dass die Handlungen empfindender Wesen von Lust und Unlust bestimmt werden, ist mit dieser Überzeugung eine Implikation verbunden, der er nicht einfach zustimmen kann, nämlich, »dass unsere Handlungen durch die in Aussicht stehende Lust und Unlust bestimmt werden, durch Lust und Unlust, der wir als Konsequenz unserer Handlungen entgegentreten« 122 . Zwar gibt es durchaus Fälle, in denen der Mensch aus Furcht vor einer der Handlung nachfolgenden Bestrafung davon abgehalten wird, die Tat auszuführen, aber es gibt mindestens genauso viele Fälle, in denen jemand bereits vor dem bloßen Gedanken der Handlungsausführung zurückschreckt. »Sein Verhalten ist durch Unlust bestimmt, doch durch eine Unlust, die der Handlung vorausgeht, nicht durch eine, von der erwartet wird, dass sie auf sie folgt.« 123 Diesen Gedanken verknüpft Mill mit der Tugendhaftigkeit, indem er darauf hinweist, dass nur derjenige wirklich tugendhaft handelt, der sich an einer Vorstellung von Unlust orientiert, die dem eigentlichen Verhalten vorausgeht. »Mit welchem Recht man das Zurückschrecken vor einer Handlung ohne Überlegung als sich einem Interesse fügen bezeichnen kann, kann ich nicht erkennen.« 124 Vor diesem 121 122 123 124

Ebd., S. 50. Ebd., S. 51. Ebd. Ebd.

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Hintergrund gelangt Mill zu der Einsicht, dass es sinnvoll ist, zwischen Interesse und Impuls zu unterscheiden. Während das Interesse mit der Vorstellung eines Zwecks korrespondiert, verfolgt der Impuls kein besonderes Ziel, so dass die Handlung zum Selbstzweck wird. Eine solche begriffliche Differenzierung ist in den Schriften Benthams nicht zu finden. Ferner kritisiert Mill, dass Bentham den Anspruch erhebt, ausnahmslos alle menschlichen Begierden und Missachtungen aufgezählt zu haben. Diese Auffassung ist deshalb ein Irrtum, weil durch die psychologischen Gesetze der Assoziation praktisch alles zum Gegenstand des Begehrens oder der Abneigung werden kann, eine vollständige Aufzählung aller Handlungsmotive ist völlig ausgeschlossen. Mit den assoziativen Verknüpfungen im Geist korrespondiert eine Anzahl von Möglichkeiten in der Welt, die unmöglich alle zu ermitteln sind. Ein weiterer Punkt ist, dass Bentham sich im Hinblick auf das Motiv einer Handlung ausschließlich am Prinzip des größten Glücks orientiert, mit der Folge, dass er das Gewissen und das Pflichtgefühl in seiner philosophischen Theorie unberücksichtigt lässt. 125 Damit ist die unbegründete Vorstellung verbunden, dass die Menschen ihr Handeln allein am Prinzip der Nützlichkeit ausrichten. In Wahrheit aber, so Mills Auffassung, gibt es neben dem Glück noch eine ganze Reihe anderer Maßstäbe, wie beispielsweise die Überzeugung, dass eine Handlung dann moralisch richtig ist, wenn sie den eigenen Charakter kultiviert. Auch hätte Bentham bei seinen konzeptuellen Überlegungen berücksichtigen sollen, »dass diejenigen, die einen anderen Maßstab für richtig und falsch als das Glück anerkennen, oder die sich über dieses Thema überhaupt keine Gedanken gemacht haben, sehr oft starke Empfindungen der moralischen Verpflichtung hegen« 126 . Ein weiterer Kritikpunkt, der mit dieser Diskussion eng verbunden ist, bezieht sich auf den allgemeinen Vorwurf, dass Bentham das »selbstbezogene Interesse« 127 des Individuums in den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellt und dadurch keinen Platz für das »soziale

125 »In seiner Liste der Motive übergeht er, obwohl er Sympathie einschließt, Gewissen oder Pflichtgefühl: Man käme, wenn man ihn liest, nie auf den Gedanken, dass irgendein menschliches Wesen jemals eine Handlung bloß deshalb ausgeführt hätte, weil sie richtig ist, oder sie unterlassen hätte, weil sie falsch ist.« Ebd., S. 52. 126 Ebd. 127 Ebd., S. 54.

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Interesse« 128 des Menschen lässt. Zieht man in diesem Zusammenhang die Schriften Benthams heran, dann zeigt sich, dass dieser Vorwurf nicht ganz unberechtigt ist: »Das Ganze des menschlichen Lebens zusammengenommen, gibt es keinen Menschen und kann es auch keinen geben, der ein Beispiel dafür geben würde, dass irgendein soziales Interesse, das er gehabt haben kann, nicht, soweit es von ihm selbst abhängt, seinem eigenen persönlichen Interesse geopfert worden ist.« 129 Dieser Position widerspricht Mill entschieden. Seiner Auffassung zufolge gibt es zweifellos viele Individuen, die ihr Handeln nicht an persönlichen, sondern an sozialen Motiven ausrichten, und »[e]s gibt nichts in der Verfassung der menschlichen Natur, das verbieten würde, dass das bei der gesamten Menschheit der Fall sein könnte« 130 . Er geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er die Ansicht vertritt, dass die Individuen hinter ihrem natürlichen Glückspotenzial zurückbleiben, wenn sie neben dem selbstbezogenen Interesse nicht auch das soziale Interesse zur axiomatischen Grundlage ihres alltäglichen Handelns machen. Dass Bentham nicht nur seine Morallehre, sondern auch seine Theorie der politischen Herrschaft am Nützlichkeitsprinzip ausrichtet, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er zu dem Ergebnis kommt, dass eine repräsentative Demokratie für die individuelle Nutzenmaximierung wohl die zweckmäßigste ist. 131 Obwohl Mill grundsätzlich mit dem Ergebnis dieser spekulativen Deduktion einverstanden ist, übt er dennoch Kritik an den zugrunde gelegten Prämissen, denn die Schlussfolgerung beruht im Wesentlichen auf den Annahmen, »dass die Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten gleich sind, dass sie dieselben Bedürfnisse haben und denselben Übeln ausgesetzt sind« 132 . Diese Voraussetzungen laufen aber nicht nur unserer Erfahrung zuwider, sie berücksichtigen auch in keiner Weise den allgemeinen Fortschritt des Menschengeschlechts. Auch übersieht Bentham offenbar völlig, dass die politischen und gesellschaftlichen Institutionen eines der wichtigsten Mittel zur Hervorbringung des nationalen Charakters sind. »Wie der bereits erreichte Grad an Zivilisation sich unterscheidet, so auch die Art des gesellschaftlichen Ebd. Ebd. 130 Ebd., S. 55. 131 Vgl. Wilhelm Hoffmann, Politik des aufgeklärten Glücks. Jeremy Benthams philosophisch-politisches Denken, Berlin 2002, insbesondere S. 157 ff. 132 BBP, AW, Band 3.1, S. 56. 128 129

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Einflusses, der notwendig ist, um die Gemeinschaft auf die nächste Stufe ihres Fortschritts zu führen.« 133 Gesellschaften sind dynamische Gebilde, die den allgemeinen Gesetzen des zivilisatorischen Fortschritts unterliegen. Die Annahme, dass die kulturellen Entwicklungen keinerlei Wirkungen auf die Menschen und ihren Charakter haben, sie weder in ihren Meinungen noch in ihren Bedürfnissen beeinflussen, ist in den Augen Mills geradezu absurd. Betrachtet man die unterschiedlichen Zeitalter des Menschengeschlechts, zeigt sich, dass der Mensch in einer Wechselbeziehung zum zivilisatorischen Fortschritt steht: So wie der Fortschritt auf das Individuum einwirkt, so beeinflusst der Mensch wiederum die Zivilisation. Doch warum übersieht Bentham diese Tatsachen, warum finden sie in seiner Theorie keinerlei Berücksichtigung? Laut Mill resultiert dieses fehlerhafte Vorgehen aus einer irrigen Annahme über die menschliche Natur. Zum einen unterliegt Bentham dem Irrtum, dass die Menschen von nur einigen wenigen Ursachen beeinflusst werden, die Motive ihres Handelns also überschaubar sind. Zum anderen geht er davon aus, dass Menschen rationale Automaten sind, die sich bei ihren Entscheidungen ausschließlich von privaten Nutzenüberlegungen leiten lassen. Diese zwei Annahmen haben ihn dazu veranlasst zu folgern, dass Menschen sich nur deshalb unter eine Regierung begeben, weil sie zu der Einsicht gelangt sind, dass es vorteilhaft ist, ein Teil ihrer freiheitlichen Gewalt an einen Souverän abzugeben, damit dieser ihre Sicherheit garantiert. Die vertragsmäßige Gründung eines Staates ist demzufolge das Resultat einer egoistischen Interessenverfolgung, denn die Errichtung einer Regierung liegt im Interesse aller Menschen. Bei aller Kritik darf aber nicht übersehen werden, dass Mill die Arbeiten Benthams im Allgemeinen sehr schätzt, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass er sie im hohen Maße als Ausgangspunkt für seine eigene sozialphilosophische Forschung verwendet. 134 Dies gilt insbesondere für sein methodisches Vorgehen. »Es ist die Einführung der Methode der Detailerörterung in die praktische Philosophie – die Durchführung des Grundsatzes, jedes Ganze auf seine Teile zurück-

Ebd., S. 57. Vgl. dazu Frederick Rosen, »From Jeremy Bentham’s Radical Philosophy to J. S. Mill’s Philosophical Radicalism«, in: Gareth Stedman Jones/Gregory Claeys (Hg.), The Cambridge History of Nineteenth-Century Thought, Cambridge 2011, S. 257– 294. 133 134

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zuführen, jede Abstraktion in Wirklichkeiten zu übersetzen –, in der die Originalität Benthams liegt, die ihn zu dem großen Reformer der moralischen und politischen Abteilung der Philosophie gemacht hat.« 135 Dieses Verfahren, das Bentham selbst als erschöpfende Methode bezeichnet, beruht im Wesentlichen darauf, dass man schrittweise aussagt, was der in Frage stehende Gegenstand nicht ist; »indem er der Reihe nach alles zurückweist, was das Ding nicht ist, gelangt er allmählich zu einer Definition dessen, was es ist« 136 . Es handelt sich also um eine Definition ex negativo. Auch wenn man nicht weiß, was etwas ist, kann man zumindest sagen, was es nicht ist. Obwohl es laut Mill das Verdienst Benthams ist, die Methode der Detailerörterung in einer gänzlich neuen Qualität in die praktische Philosophie eingeführt zu haben, unternimmt er seine Analysen ohne Bezugnahme auf die Meinungen seiner Vorgänger, was insgesamt zu Lasten seiner Theorie geht. Dies gilt insbesondere für Ergebnisse, die in direkter Beziehung zum Menschengeschlecht stehen. »Wenn er in seiner Durchmusterung der menschlichen Natur und des Lebens irgendein Element übersehen hat, so werden seine Schlussfolgerungen sich überall da, wo dies Element sich irgendwie geltend macht, in Anwendung als mehr oder minder unzulänglich erweisen.« 137 Um eine Theorie der Moral und Gesetzgebung aufzubauen, braucht man Material, und dieses holt man sich am besten aus den Steinbrüchen der Philosophie. Wenn man sich mit einem so schwierigen Thema wie der Natur und das Leben des Menschen beschäftigt, hängt die Aussicht auf Erfolg laut Mill im Wesentlichen von zwei Dingen ab: zum einen von den eigenen Fähigkeiten, sich selbst ein angemessenes Bild der menschlichen Natur zu verschaffen, zum anderen von der Fähigkeit, die Einsichten anderer zu verarbeiten. »Diese Gabe, von anderen Köpfen Licht zu empfangen, besaß Bentham nicht.« 138 Ein weiterer Punkt, den Mill anführt, ist Benthams eigentümliches Unvermögen, für andere Menschen irgendeine Form von Sympathie zu empfinden. Dieser Mangel an sozialer Wärme macht es ihm unmöglich, sich in andere hineinzuversetzen, mit der Folge, dass seine Untersuchungen zur menschlichen Natur dort an ihre Grenzen 135 136 137 138

Be, AW, Band 3.1, S. 132. Ebd., S. 135. Ebd., S. 137. Ebd.

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kommen, wo sie tief werden. Er beschränkt sich darauf, seine Schlussfolgerungen aus nur einigen wenigen Prämissen zu ziehen. Der Grund dafür findet sich in einem Mangel an Erlebnissen; »von vielen der schwerwiegendsten Erfahrungen blieb er ganz abgeschnitten, und die Gabe, durch welche der Geist einen Geist verschiedener Art zu begreifen und sich in seine Gefühle hineinzuversetzen vermag, war ihm versagt, weil es ihm an Vorstellungskraft fehlte« 139 . Bentham führt bis ins hohe Alter ein zurückgezogenes und gleichförmiges Leben. Er kommt nur selten mit den Meinungen anderer Denkschulen in Kontakt, und wenn es sich doch einmal ereignet, dann hat er für alle Gedanken, die sich nicht unter das Nützlichkeitsprinzip subsumieren lassen, nur Verachtung übrig. 140 »Er war ein Mann mit bemerkenswerter Befähigung zur Philosophie und ebenso bemerkenswerter philosophischer Beschränktheit.« 141 Die Folge dieser charakterlichen Eigentümlichkeit ist, dass Bentham sich nur mit einem Teil der Wahrheit beschäftigt, während er die andere Hälfe ignoriert. Er hat den Menschen nie als ein Wesen gesehen, das fähig ist, geistige Vollkommenheit um ihrer selbst willen anzustreben. Auch richtet er sein Augenmerk nur auf die äußeren Sanktionen; das Gewissen als Instanz der inneren Handlungsregulierung lässt er in seiner Theorie unberücksichtigt. Obwohl er sich in seinem Verzeichnis der Triebfedern des Handelns bemüht, eine vollständige Liste menschlicher Beweggründe zu liefern, sucht man Ausdrücke wie »moralische Prinzipien«, »moralische Rechtschaffenheit«, »moralische Pflicht« oder »Selbstachtung« vergeblich. 142 »Dass es ein Gefühl moralischer Billigung oder Missbilligung im eigentlichen Sinne gibt, deren Gegenstand wir selbst oder unsere Mitmenschen sind, scheint er gar nicht zu ahnen« 143 . Er kann sich offenbar nicht vorstellen, dass der Mensch sein Handeln nicht allein an den Gesetzen strategischer Nutzenmaximierung ausrichtet, sondern sich auch von anderen idealen Zielen leiten lässt wie Bildung oder der Liebe zur Tugend. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Bentham kein Gespür für die Seite des Gefühls hat. Seine Ausführungen zeichnen das Bild eines rationalen Entscheidungsautomaten, nicht eines Menschen, der

139 140 141 142 143

Ebd., S. 139. Vgl. ebd. Ebd., S. 142. Vgl. ebd., S. 144 f. Ebd., S. 145.

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in einer sozialen Gemeinschaft mit anderen lebt und für die Beschaffenheit geistiger Welten empfänglich ist. Es ist evident, dass die Sympathie – das einzige uneigennützige Gefühl, das er überhaupt anführt – dieses Defizit nicht kompensieren kann, nicht zuletzt deshalb, weil persönliche Zuneigung auch zur Schädigung der Interessen Dritter führen kann. 144 Bentham lebt in einer Welt, in der jeder sich ausschließlich um seine privaten Belange kümmert. Das Einzige, was im Sinne der Erhaltung der Gesellschaft geleistet werden muss, ist, die Menschen »daran zu hindern, sich gegenseitig mehr zu stoßen und zu drängen, als unvermeidlich ist« 145 . Um zwischenmenschlichen Schaden im täglichen Verkehr zu verhindern, setzt er im Wesentlichen auf drei Sanktionsquellen: 1) das Gesetz, 2) die Religion und 3) die öffentliche Meinung. Während die politische Sanktion ihre Aufgabe durch die Anwendung der Gesetzestexte ausübt, besorgt die religiöse Sanktion dies durch die Berufung auf die göttliche Autorität. Die Sanktion der öffentlichen Meinung findet ihren sozialen Ausdruck schließlich in der Gunst oder Ungunst unserer Mitmenschen, die unser Handeln billigen oder missbilligen. Das Gewissen, wie bereits angeführt, findet bei Bentham keine Berücksichtigung. 146 Es ist leicht einzusehen, dass eine solche Theorie im Hinblick auf die Handlungsweisen der Individuen nur wenig zu leisten vermag, weil sie keinen Raum für die tugendhafte Ausgestaltung des Charakters bietet und sich ausschließlich an den persönlichen Präferenzen der Menschen orientiert. Laut Mill besteht die Moralität hauptsächlich aus zwei Teilen. Zum einen besteht sie aus der Fähigkeit zur Selbsterziehung, zum anderen aus der äußeren Regelung der Handlungsweisen des Menschen. Wenn aber eine Theorie den ersten Teil unberücksichtigt lässt, wird dies stets zu Lasten des zweiten Teils gehen, so wie es bei der Moraltheorie Benthams der Fall ist. Zwar wird ein Anhänger des klassischen Utilitarismus ohne Mühe zu der Einsicht gelangen, dass Mord oder Diebstahl zu verbieten sind, weil es sich hierbei um Handlungsweisen handelt, die das allgemeine Glück verringern, aber er wird keinerlei Gespür für die Aspekte des menschVgl. ebd., S. 147. Ebd. 146 Zu den unterschiedlichen Positionen des Utilitarismus siehe u. a. Ross Harrison, »Bentham, Mill and Sidgwick«, in: Nicholas Bunnin/E. P. Tsui-James (Hg.), The Blackwell Companion to Philosophy, Oxford 1996, S. 627–642. 144 145

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lichen Lebens haben, die in Beziehung mit der Kultivierung des Charakters stehen, »wie zum Beispiel das Verhältnis der Geschlechter, Familienbeziehungen im Allgemeinen und jede andere gesellschaftliche und sympathische Verbindung intimer Art« 147 . Für diese persönlichkeitsbildenden Zwischentöne des sozialen Miteinanders ist in Benthams Theorie der Moralität kein Platz. Indem er die Fragen der Charakterbildung offenlässt, schwächt er auch seine Gedanken zur Staatskunst, denn der Erfolg oder Misserfolg eines Landes hängt im hohen Maße vom nationalen Charakter ab. »Eine Philosophie der Gesetze und Staatseinrichtungen, die sich nicht auf eine Philosophie des Nationalcharakters stützt, ist eine Absurdität.« 148 Ein weiterer Irrtum Benthams ist, dass er sich ganz und gar auf die moralische Seite einer Handlung und deren Folgen konzentriert, während andere Aspekte des Verhaltens vernachlässigt werden. Laut Mill besteht eine Handlung im Wesentlichen aus drei Gesichtspunkten: 1) der moralischen Seite, die Recht oder Unrecht verkörpert, 2) der ästhetischen Seite, die Schönheit oder Hässlichkeit ausdrückt, und 3) der sympathischen Seite, die Liebenswürdigkeit oder Missachtung anzeigt. »Die Moralität einer Handlung hängt von ihren voraussehbaren Folgen ab; ob sie schön und liebenswürdig oder das Gegenteil ist, hängt von den Eigenschaften ab, deren Vorhandensein sie bekundet.« 149 Mill illustriert diesen Gedanken an einer Lüge. Zunächst ist die Lüge ein Unrecht, weil sie etwas aussagt, was nicht der Fall ist; sie ist aber auch schäbig, weil sie einen schwachen Charakter offenbart, der sich der Wahrheit nicht zu stellen vermag. Schließlich zeigt die Lüge das Gegenteil von Liebenswürdigkeit an, weil sie das Vertrauen unter den Menschen zerstört. Bentham begeht den Fehler, dass er sein Augenmerk ausschließlich auf den ersten Aspekt der Handlung legt und die beiden anderen Einstellungen vollkommen ignoriert. Für ihn ist eine Handlung moralisch richtig, wenn sie das Glück befördert, und moralisch falsch, wenn sie es nicht befördert; ob der Handelnde über einen edlen Charakter verfügt, ist nicht von Bedeutung, allein die Konsequenz der Handlung zählt. Benthams Einseitigkeit zeigt sich auch darin, dass er niemals auf die Idee gekommen wäre, jemanden hinsichtlich seines guten oder schlechten Geschmacks zu beurteilen, »als ob das, was ein Mensch 147 148 149

Be, AW, Band 3.1, S. 148. Ebd., S. 150. Ebd., S. 167.

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Coleridges konservative Philosophie

unter den an sich weder guten noch schlechten Dingen liebt oder nicht liebt, nicht die wichtigsten Schlüsse auf seine Charaktereigentümlichkeiten« 150 erlaubt. Vor diesem Hintergrund wird auch seine Verachtung für Poesie verständlich, obgleich er den Genuss von Musik und anderen Künsten durchaus zu schätzen weiß. Da Bentham der Auffassung ist, dass eine metaphorische Sprache der Aufgabe der Wissenschaft, nämlich eine bestimmte logische Wahrheit auszudrücken, zuwiderläuft, kann es nicht verwundern, dass er sich stets bemüht, seine eigenen Schriften so nüchtern wie möglich zu halten. Allerdings gelangt Mill zu dem Ergebnis, dass dieser Versuch gescheitert ist und zum großen Teil zu Lasten der Leseführung geht, nicht zuletzt deshalb, weil jedes gedankliche Übermaß eilig im nächsten Satz korrigiert wird. Im Rückgriff auf den schottischen Schriftsteller Carlyle bezeichnet Mill Bentham daher als sympathisches Beispiel für die Vollständigkeit eines begrenzten Menschen. 151

5.

Coleridges konservative Philosophie

Mills Kritik an der utilitaristischen Philosophie Benthams wird durch einen Aufsatz über Coleridge 152 ergänzt; es handelt sich dabei um einen Artikel, der zum ersten Mal 1840 in der London and Westminster Review publiziert wird und dessen Inhalt insofern überrascht, als dass Mill darin die konservativen Ansichten des romantischen Schriftstellers, der stark durch deutsche Literaten wie Lessing und Schiller und durch deutsche Philosophen wie Schlegel, Schelling und Kant beeinflusst ist, würdigt. 153 Er ist sich der damit verbundenen Irritation, die er unter den Liberalen durch das offenherzige Betreten des feindlichen Lagers auslöst, durchaus bewusst. In seiner Autobiographie schreibt er: »[W]as den Artikel über Coleridge betrifft, so muss ich zu meiner Verteidigung hervorheben, dass ich für die Radikalen und Liberalen schrieb und dass es mir ein Anliegen war, bei den Ebd., S. 168. Vgl. ebd., S. 169. 152 Zur geistigen Haltung Coleridges siehe Hans Werner Breunig, Verstand und Einbildungskraft in der englischen Romantik. S. T. Coleridge als Kulminationspunkt seiner Zeit, Münster 2002. Zur weiteren Auseinandersetzung mit Coleridge und Mill siehe u. a. Christopher Turk, Coleridge and Mill, Aldershot 1988. 153 Vgl. Beate John, »Mill, Kant und der liberale Internationalismus«, in: Asbach (Hg.), Vom Nutzen des Staates, a. a. O., S. 249–268. 150 151

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Schriftstellern einer anderen Schule hauptsächlich das zu betonen, aus dessen Kenntnisnahme am meisten Nutzen für den Fortschritt gewonnen werden konnte« 154 . Die Auffassungen von Coleridge bilden zu denen Benthams eine Ergänzung, denn während Benthams Denken den Versuch unternimmt, im Hinblick auf die überlieferten Meinungen zu prüfen, ob diese wahr sind, geht es Coleridge darum zu untersuchen, welche Bedeutung sie haben. Beide beschäftigen sich mit dem gleichen Gegenstand, haben aber divergierende theoretische Einstellungen. Bentham betrachtet seinen Untersuchungsgegenstand von einem externen Standpunkt aus. Dieses methodische Vorgehen ermöglicht es ihm, die traditionellen Meinungen danach zu beurteilen, ob sie mit seinem gegenwärtigen Überzeugungssystem übereinstimmen oder nicht, ob sie im Hinblick auf die Untermauerung seiner eigenen Wahrheiten nützlich sind oder nicht. Coleridge dagegen vertritt die Auffassung, dass allein die Tatsache, dass eine Meinung einmal geglaubt worden ist, bereits ein Phänomen ist, das es zu untersuchen gilt, während für ihn die Frage, ob jene Wahrheit heute noch zweckdienlich ist, nur eine untergeordnete Rolle spielt. Im Gegensatz zu Bentham nimmt er einen internen Analysestandpunkt ein. Au, AW, Band 2, S. 167. Dieser Hinweis ist verständlich, führt man sich Coleridges konservative Haltung vor Augen: »Wie alle Konservativen trat Coleridge gegen abstrakte Theorien auf. Es galt sie nicht nur in Frankreich zu bekämpfen, wie die Schule Burkes das propagierte. Er polemisierte gegen die englischen abstrakten Theorien der Politischen Ökonomie ebenso wie gegen den Utilitarismus. In wirtschaftlichen Fragen war er schon aus sozialer Gesinnung gegen den modernen Kapitalismus der Smith-Ricardo-Schule.« Klaus von Beyme, Konservatismus – Theorien des Konservatismus und Rechtsextremismus im Zeitalter der Ideologien 1789–1945, Wiesbaden 2013, S. 83. Obwohl Mill einige Ansichten Coleridges übernimmt und für seine sozialphilosophische Arbeit fruchtbar macht und er »Coleridge neben Bentham als einen der zwei größten epochemachenden Köpfe seines Zeitalters ehrte« (ebd., S. 85), distanziert er sich an einigen Stellen auch von ihm: »In seinem Werk über die Repräsentative Demokratie hat Mill sich […] von der politischen Philosophie des Dichters distanziert. Für einen Positivisten war der Staat als ›Idee in den Köpfen der Bürger‹ und als ›Prinzip der Einheit in sich selbst‹ […] zu metaphysisch. Dass Menschen ohne Patriotismus keine wahren Menschen sein könnten […] war mit der utilitaristischen Philosophie ebenfalls nicht recht vereinbar. Mill hielt die Gegenüberstellungen bei Coleridge von ›Ordnung und Fortschritt‹, ›Kirche und Staat‹ für ›unwissenschaftlich und inkorrekt‹ […]. Ordnung in einer engen Definition bedeutete für Mill ›Gehorsam‹ und in einer weiteren Definition ›das Ende der privaten Gewalt‹. Aber beide Definitionen waren für ihn nur isolierte Bedingungen von Herrschaft. Mill bezweifelte, dass die Erwartungen, welche die Bürger an ihre Regierungen herantrügen, in das Schema ›Fortschritt und Ordnung‹ gepresst werden könnten.« Ebd., S. 85. 154

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Spätestens hier wird deutlich, dass die beiden Denker unterschiedlicher nicht sein könnten, sich aber auf der anderen Seite auch wechselseitig ergänzen, weil beide Teilwahrheiten ein und desselben Gegenstandes liefern, deren ganzes Potenzial sich erst dann zeigt, wenn sie in Verbindung miteinander gebracht werden. »In jeder Beziehung ist der eine der beiden Männer immer der Gegensatz, welcher den anderen vervollständigt.« 155 Dass Mill mit der unparteiischen Behandlung der theoretischen Schriften Benthams und Coleridge das Ziel verfolgt, sein sozialphilosophisches Denken der Vollständigkeit zu übergeben, zeigt sich auch daran, dass er die integrierende Überzeugung vertritt, dass man, wenn man sich die spekulativen Prämissen der beiden Denker zu eigen macht, die gesamte englische Philosophie jener Zeit besitzt, nicht zuletzt deshalb, weil sich mit Fug und Recht sagen lässt, dass jeder Engländer entweder ein Benthamianer oder ein Coleridgianer ist. 156 Zwischen Bentham und Coleridge gibt es aber noch einen Unterschied. Während die Leistung Benthams darin besteht, das philosophische System, auf dessen Boden er seine Studien beginnt, zu verbessern, besteht das Verdienst Coleridges darin, den Engländern die Gedanken des europäischen Festlands in einer ganz spezifischen Weise zu vermitteln. »Obgleich also Coleridge für uns Engländer der Typus und die Hauptquelle dieser Lehre ist, hat er doch nicht sowohl die Lehre selbst als die Form geschaffen, in der sie unter uns aufgetreten ist.« 157 Den Hintergrund für Mills intellektuelle Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen des romantischen Dichters 158 bildet die Beobachtung, dass in der akademischen Gesellschaft eine Neigung zur Sektiererei herrscht, mit der Folge, dass sich politisch divergente Gruppen bilden, die sich nur mit ihren eigenen Ideengebern beschäftigen, während sie Autoren aus feindlichen Lagern meiden. Gleichwohl liegt das Problem nicht in den Vereinigungen selbst, sondern darin, dass die isolierte Meinungsbildung dazu führt, dass die vertretenen Standpunkte für die ganze Wahrheit gehalten werden, und Co, AW, Band 3.1, S. 177. Vgl. ebd. 157 Ebd., S. 177 f. 158 Zum Programm der englischen Romantiker und zur konservativen Haltung Coleridges bei Themen der Politik des geschichtlichen Wandels und des gesellschaftlichen Fortschritts siehe einführend Rolf Breuer, Englische Romantik – Literatur und Kultur 1760–1830, München 2012, insbesondere S. 67 ff. 155 156

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nicht anerkannt wird, dass das eigene Überzeugungssystem nur ein Konglomerat von Teilwahrheiten ist, das einer Vervollkommnung durch andere Teilwahrheiten bedarf. Aufgrund der Ansicht, dass jede Teilwahrheit durch ihr Gegenstück ergänzt werden muss, plädiert Mill dafür, sich auch die gegnerische Position anzueignen. Mit dem Studium der fortschrittlichen Philosophie Benthams gibt Mill sich folglich nicht zufrieden; er ergänzt sie durch die konservativen Arbeiten Coleridges 159 , wobei er ein solches Vorgehen prinzipiell allen philosophischen Köpfen empfiehlt, gleichgültig, welcher politischen Couleur sie sich verpflichtet fühlen. Die von Kant, Fichte und Schelling beeinflusste kontinentale Schule verkörpert laut Mill die ganze Auflehnung des menschlichen Geistes gegen die Philosophie des 18. Jahrhunderts: »Sie ist ontologisch, weil diese experimentell; konservativ, weil diese neuerungssüchtig war; religiös, weil so vieles von dieser ungläubig; konkret und historisch, weil diese abstrakt und metaphysisch; poetisch, weil diese auf das Tatsächliche gerichtet und prosaisch war.« 160 Um sich den wesentlichen Unterscheidungspunkten dieser beiden sich opponierenden philosophischen Richtungen zu nähern, stellt Mill im weiteren Verlauf seiner Untersuchung die deutsche Lehre Coleridges in Kontrast zur Philosophie des 18. Jahrhunderts; er beginnt zunächst mit den theoretischen Generalisierungen, um in einem zweiten Schritt zu den praktischen Folgerungen überzugehen. So wie jede andere theoretische Wissenschaft hat auch die Philosophie des 18. Jahrhunderts eine Erkenntnistheorie, eine Theorie, die festlegt, welche Gegenstände dem menschlichen Erkenntnisvermögen zugänglich sind und auf welchem Weg das Gegenstandswissen gewonnen werden kann. Die Theorie des 18. Jahrhunderts geht von der Annahme aus, dass jede Einsicht eine auf Empirie basierende Generalisierung ist, eine Verallgemeinerung, die aus der menschlichen Erfahrung stammt. Es ist vor allem Locke, der im Rückgriff auf die erkenntnistheoretischen Arbeiten des Aristoteles eine aposteriorische Erkenntnistheorie stark macht und sich gegen die ontologische Vorstellung wendet, dass es ein Wissen gibt, das unabhängig 159 Zum Verhältnis zwischen Mill, Bentham und Coleridge siehe F. R. Leavis, Mill on Bentham and Coleridge, London 1980; zum Programm des Konservatismus im 19. Jahrhundert vgl. Gerhard Göhler, »Konservatismus im 19. Jahrhundert – eine Einführung«, in: Bernd Heidenreich (Hg.), Politische Theorien des 19. Jahrhunderts, Berlin 2002, S. 19–32. 160 Co, AW, Band 3.1, S. 182 f.

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von Erfahrung gewonnen werden kann. Der englische Empirismus besagt, dass der Mensch von den Gegenständen der Natur nur auf dem Weg der sinnlichen Erfahrung ein Verständnis erlangen kann 161 ; der einzige Weg, der noch zur Verfügung steht, ist der des Analogieschlusses, obgleich auch dieser auf einer empirischen Datenmenge basiert. »Es gibt keine Kenntnis a priori, keine Wahrheiten, die sich durch das innere Licht des Geistes erkennen lassen und auf intuitiven Grundlagen ruhen.« 162 Gegen jene Auffassung wendet Coleridge mit Kant und anderen Vertretern der deutschen Schule ein, dass der menschliche Geist innerhalb gewisser Grenzen sehr wohl die Fähigkeit besitzt, etwas von den »Dingen an sich« wahrzunehmen. Während der Verstand das Talent hat, aufgrund eines gefällten Urteils eine rationale Verallgemeinerung zu bilden, kommt der Vernunft die Aufgabe zu, die Wahrheiten zu erkennen, die erfahrungsunabhängig sind. Obwohl die Anhänger der kontinentalen Lehre in ihren Postulaten nicht so weit gehen, dass sie behaupten, dass diese Perzeptionen angeboren sind, also gänzlich ohne Erfahrung auskommen, vertreten sie im Gegensatz zum Empirismus dennoch die Ansicht, dass es eine Art der apriorischen Erkenntnisgewinnung gibt. »Die Erfahrung ist nicht ihr Prototyp, sondern nur die Veranlassung, die sie uns mit unwiderstehlicher Kraft aufnötigt.« 163 Dass die philosophischen Schulen bei so 161 »Ohne Erfahrung gibt es keinerlei Erkenntnis von der Wirklichkeit, alle Gewißheit gründet in der sinnlichen Gewißheit; die Erkenntnis wird aus Elementen aufgebaut, die unmittelbar gegeben und somit unbezweifelbar sind; die induktiven Verfahren der Naturwissenschaft sind beispielhaft.« Günter Gawlick (Hg.), Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung: Empirismus, Stuttgart 1980, S. 11. Dem gegenüber steht der Rationalist: »Der ideale Rationalist glaubt an die Stärke des natürlichen Lichtes der Vernunft, das ihm weit über die Leistung der Sinne hinaus bei unmittelbarer wie demonstrativer begrifflicher Erkenntnis (auch solcher, die die Natur betrifft) Gewißheit garantierende Evidenz vermittelt. Für ihn ist das natürliche Licht etwas inhaltlich Bestimmtes. Es verfügt ursprünglich und sicher über die obersten Begriffe und Prinzipien. Er neigt zu dem Glauben, daß im Prinzip die natürliche Vernunft mit Hilfe des natürlichen Lichtes alle ihr gestellten Probleme zu lösen vermag. Sein erkenntnistheoretisches Interesse liegt stärker auf Theorien und Systembildungsverfahren (wie ›Analysis‹ und ›Synthesis‹) als auf dem, was man heute empirische Basis nennt. Sein natürliches Licht kann gegebenenfalls aus angeborenen Prinzipien und Begriffen bestehen (was immer das im einzelnen bedeuten mag).« Rainer Specht (Hg.), Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung: Rationalismus, Stuttgart 2002, S. 16. 162 Co, AW, Band 3.1, S. 183. 163 Ebd., S. 184.

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viel Gegensätzlichkeit in einen erbitterten Streit miteinander geraten, ist nicht nur nachvollziehbar, sondern geradezu vorprogrammiert. Was Mill betrifft, so lässt er keinen Zweifel daran, dass er die Lehren von Locke und Bentham für die richtigen hält; der Ursprung aller natürlichen Erkenntnis muss die menschliche Erfahrung sein. In seinen Augen ist nicht nur die Idee eines apriorischen Erkenntnisgewinns strittig, auch an der Terminologie der Transzendentalisten findet er wenig Gefallen, weil sie seiner Ansicht nach mehr von ihrem Untersuchungsgegenstand verdunkelt als erhellt. Während Mill im ersten Teil seiner Analyse den abstrakten Teil der beiden philosophischen Schulen behandelt, geht er in einem zweiten Schritt dazu über, den konkreten Teil jener Lehren zu diskutieren. Um Coleridge und seine Anhänger angemessen zu verstehen, wird ihr Denken von Mill vor dem Hintergrund des allgemeinen Zustands der praktischen Philosophie zu jener Zeit verhandelt. Coleridges Lehre muss als Reaktion auf die damals herrschenden Ansichten verstanden werden und kann nicht unabhängig von der damaligen französischen Philosophie betrachtet werden. Die kontinentale Philosophie geht aufgrund ihrer historischen Erfahrung davon aus, dass sich Menschen, wenn sie eine Nation bilden, den Gesetzen und Regeln unterwerfen, die ihnen von einigen Wenigen aus ihrer Mitte gegeben werden; dass Menschen bereitwillig Gehorsam leisten und auf ihre eigenen Wünsche und Begierden verzichten, wenn diese nicht mit der herrschenden Meinung in Einklang stehen. Sie übersieht aber laut Mill vollkommen, dass sowohl der gegenwärtige als auch der zukünftige Zustand der Gesellschaft keine verbürgte Natürlichkeit ist, sondern von einer ganzen Reihe von zivilisierenden Einflussgrößen abhängt. »Selbst das allererste Element einer sozialen Vereinigung, Gehorsam gegen eine Regierung irgendeiner Art, hat durchaus nicht ohne große Schwierigkeiten in der Welt Eingang gefunden.« 164 Gesellschaften stellen sich nicht von allein auf Dauer, ihr Bestehen ist von mannigfachen Bedingungen abhängig. Zunächst lässt sich festhalten, dass in allen Gesellschaften, in denen Menschen nicht durch Gewalt unterdrückt werden, ein System der Erziehung besteht; es soll das Individuum gemeinschaftsfähig machen, die persönlichen Triebe und Begierden mit den Zwecken der Gesellschaft in Einklang bringen; kurzum: das Besondere mit dem

164

Ebd., S. 193.

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Allgemeinen versöhnen. Erziehung ist ein unerlässliches Hilfsmittel für das dauerhafte Bestehen einer Gesellschaft. Wo immer ihre hemmenden Einflüsse nachlassen, bricht entweder die Anarchie aus oder die Regierung ist bald so geschwächt, dass sie von einer fremden Macht übernommen wird. Zu glauben, dass es zur anthropologischen Grammatik des Menschen gehört, sich gefällig unter eine Regierung zu begeben, ist nicht nur naiv, sondern entbehrt auch jeder historischen Erfahrung. Das zweite Element, das eine beständige Gesellschaft kennzeichnet, ist das Gefühl der Treue; diese Empfindung bezieht sich allerdings nicht auf einen bestimmten Gegenstand oder eine bestimmte Person. Das Gefühl kann in seinen Bezügen wechseln und sich unterschiedlichen Dingen zuwenden; »es beruht nämlich darauf, dass es in der Verfassung etwas Festes und Dauerhaftes gibt, was nicht in Frage gestellt werden darf, etwas, dem man allgemein das Recht zugesteht, so zu sein, wie es ist, und trotz aller Wechsel von jeder Störung verschont zu bleiben« 165 . Das Gefühl der Treue kann sich nicht nur an die Vorstellung eines Gottes heften, der als Schutzherr des Gemeinwesens betrachtet wird, es kann sich auch auf Menschen beziehen, die wegen ihrer Fähigkeiten oder ihrer Autorität eine besondere Bedeutung für das Kollektiv haben. Aber auch Gesetze, Gebote oder individuelle Freiheiten können von dem Gefühl der Treue besetzt, können zum Repräsentanten der persönlichen und gesellschaftlichen Verbindlichkeit werden. Dass es ein wie auch immer geartetes Element der Treue in der Gesellschaft geben muss, begründet Mill damit, dass die gesellschaftlichen Klassen sich meist in ihren Interessen erheblich unterscheiden, was nichts anderes bedeutet, als dass es soziale Kämpfe um Anerkennung gibt; in der Grammatik des Kollektivs muss es daher etwas geben, das von allen Antagonismen unberührt bleibt, das von allen Bürgern gleichermaßen respektiert wird, gleichgültig, welcher sozialen Schicht sie angehören. Dieser klassenübergreifende Bezugspunkt garantiert nicht nur, dass die Grundprinzipien der Gemeinschaft der Bürger unangetastet bleiben, er sorgt auch dafür, dass die Gesellschaft dauerhaft bestehen kann, auch wenn um einen gerechten Interessenausgleich der unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen immer wieder gestritten werden muss. Die dritte Bedingung, die für ein dauerhaftes Bestehen eines Gemeinwesens notwendig ist, ist das Gefühl der Zusammengehörigkeit 165

Ebd., S. 195.

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unter den ungleichen Gesellschaftsmitgliedern. Allerdings weist Mill ausdrücklich darauf hin, dass darunter nicht ein vaterlandsliebendes Nationalbewusstsein zu verstehen ist, derart, dass dieses Gefühl sich gegen alles Fremde im eigenen Land wendet. »Wir verstehen darunter, dass nicht alle Mitglieder einer Klasse des Gemeinwesens sich einer anderen Klasse gegenüber als Ausländer betrachten, dass sie einen Wert auf ihre Zusammengehörigkeit legen, sich als ein Volk fühlen, dessen Angehörige Leid und Freude miteinander zu teilen haben, und dass sie nicht den selbstsüchtigen Wunsch hegen, eine Sonderstellung einzunehmen, um ihren Anteil an den gemeinsamen Lasten von sich auf andere abwälzen zu können.« 166 Um seine These empirisch zu untermauern, macht Mill auf die Größe der alten Republiken aufmerksam, insbesondere Rom ist es durch die Verbreitung der Idee eines gemeinsamen Heimatlandes gelungen, seinen Herrschaftsanspruch über viele Jahrhunderte aufrechtzuerhalten. Auch in modernen Zeiten finden sich Gesellschaften, die durch den Besitz des Zusammengehörigkeitsgefühls zu den mächtigsten geworden sind, namentlich England und Frankreich. Das Versagen der Philosophen des 18. Jahrhunderts besteht darin, dass sie die eine Gesellschaft auf Dauer stellenden Bedingungen nicht berücksichtigt haben; sie haben nicht erkannt, dass Institutionen, die von der Geschichte bereits überwunden worden sind, dennoch einen wertvollen Beitrag für heutige und zukünftige Gesellschaften leisten können. Das Verdienst der deutschen Schule besteht darin, dass sie die Aspekte, die von den Philosophen des 18. Jahrhunderts übersehen worden sind, in ihren konservativen Theorien miteinbezieht. Als einer der ersten machen Coleridges Anhänger es sich zur Aufgabe, die induktiven Gesetze des Bestehens und des Wachstums menschlicher Gesellschaften zu erforschen. Im Rückgriff auf die Arbeiten Bacons gelingt es ihnen, eine Philosophie der gesellschaftlichen Entwicklung zu entfalten, welche einen Beitrag zur Philosophie der menschlichen Kultur liefert. Nicht nur, dass die Coleridgianer erkennen, dass das Bestehen und das Wachstum einer Gesellschaft von induktiven Gesetzen abhängt, und dass man, wenn man diese Gesetze kennt, in der Lage ist, die Entwicklung einer Gesellschaft approximativ vorherzusagen, sie verstehen auch, dass die nationale Erziehung eine der Hauptursachen sowohl für die Dauerhaftigkeit als auch für den Fortschritt einer Gesellschaft ist. Für sie steht fest, dass die na166

Ebd., S. 196.

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tionale Erziehung mit ihren hemmenden und stärkenden Einflüssen sowohl die gegenwärtige als auch die zukünftige Gesellschaft prägt, weil der menschliche Charakter die gemeinschaftlichen Verhältnisse bestimmt und diese wiederum den Charakter der nachfolgenden Generation erzeugen. Nachdem Mill in die Grundgedanken dieser reaktionären Philosophie eingeführt hat, geht er dazu über, den Zustand der Philosophie zu kennzeichnen, die Coleridge in England vorfindet, wobei sich diese in einigen Punkten von der kontinentalen Philosophie unterscheidet. Das England jener Zeit ist ein England, das die Extreme meidet und sich in Kompromissen übt sowohl in weltlicher als auch in geistiger Hinsicht. 167 Diese Situation führt dazu, dass sich zwei philosophische Schulen herausbilden, eine, die sich dem Fortschritt verschreibt und eine, die das Alte bewahren will. »Der erste Typus fand seinen höchsten Ausdruck in Bentham, der letztere in Coleridge.« 168 Offenbar führt gerade das Nichtauseinandersetzen mit extremen Positionen, das Dahindümpeln im Mittelweg in England dazu, dass sich am Ende zwei adversative Schulen gründen. Während Bentham und Coleridge sich zweifellos für philosophische Erzfeinde halten, ist Mill überzeugt, dass sie in Wahrheit Verbündete sind, da beide, an entgegengesetzten Polen, am Fortschritt arbeiten. Ihre Überzeugungen schließen sich nicht aus, sie ergänzen einander. Vor diesem Hintergrund diskutiert Mill die konservative Politik Coleridges 169 , wenngleich er sie nicht in allen ihren Verästelungen, sondern nur im Hinblick auf die liberale Philosophie Benthams erörtert. Zunächst macht er auf die allgemeine Ansicht aufmerksam, welche Coleridge von der Staatskirche hat. Wie bei allen Institutionen fragt Coleridge auch hier zunächst nach der in dieser Einrichtung verkörperten Idee. Diese wird von ihm in einem zu verwaltenden und zu verteilenden Fonds erblickt, wobei sich zugleich die Frage stellt, zu welchem Zweck dieses von ihm so bezeichnete Nationalgut verwendet werden sollte. Entgegen der allgemeinen Meinung vertritt er die Überzeugung, dass der Fonds nicht für den Gottesdienst oder für religiöse Zeremonien, »sondern für die Förderung der Kenntnis, der Zivilisation Vgl. ebd., S. 204 ff. Ebd., S. 210. 169 Vgl. John Marrow, Coleridge’s Political Thought: Property, Morality and the Limits of Traditional Discourse, Basingstoke 1990. 167 168

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und der Bildung des Gemeinwesens« 170 gebraucht werden sollte. Das Geld sollte laut Coleridge genutzt werden, um berufsmäßige Lehrer zu bezahlen, damit diese ihrer standesgemäßen Aufgabe nachkommen können: »die von einer früheren Zivilisation überkommenen Vorräte und Schätze aufzubewahren und zu behüten und so die Gegenwart mit der Vergangenheit zu verknüpfen« 171 . Aus dieser Zweckbestimmung folgt, dass die Einrichtung nicht zwingend eine religiöse Vereinigung sein muss, wobei die Sichtweise noch dadurch untermauert wird, dass die Nationalkirche in ihrer ursprünglichen Bedeutung nicht allein auf religiöse Ziele festgelegt war. Sie versammelte eine ganze Reihe von Wissenschaftlern, die sich neben Theologie auch mit anderen Wissensgebieten wie Medizin oder Recht beschäftigten und auf diese Weise vieles zum zivilisatorischen Fortschritt beitrugen. Laut Mill besteht das konservative Verdienst Coleridges im Hinblick auf die Ausgestaltung der Staatskirche hauptsächlich aus zwei Dingen: Zum einen macht er in seinen Schriften darauf aufmerksam, was eine Staatskirche sein sollte, nämlich eine Körperschaft, die es sich nicht notwendigerweise unter religiösen Vorzeichen zur Aufgabe macht, das Wissen der Vergangenheit mit dem Wissen der Gegenwart zu verbinden. Nur auf diese Weise wird es möglich sein, eine grundlegende Reform der Kirche von innen heraus anzuregen, damit die Sektiererei in der Gesellschaft ein Ende findet. Zum anderen ist es Coleridge nicht nur zu verdanken, dass er die Idee der Pflege des Althergebrachten rettet, sondern auch, dass er sie gegen die progressiven Angriffe von Bentham, Adam Smith und anderer Fortschrittlicher verteidigt, gegen jene Denker also, die die konservativen Wissensbestände lieber ignorieren als sie den Heranwachsenden mitzuteilen, damit die Vergangenheit ein Teil der Zukunft bleibt. Was also die Frage nach dem gesellschaftlichen Zweck der Staatskirche angeht, vertritt Mill die Ansicht Coleridges und anderer Verteidiger nationaler Stiftungen. Der Ertrag des Nationalgutes sollte nicht allein den Geistlichen und Staatsdienern, sondern allen Bürgern der Gesellschaft zugutekommen. 172 So wie es den Geistlichen erlaubt sein muss, sich auch zu nichtreligiösen Themen zu äußern, so muss es den übrigen Lehrern erlaubt sein, auch zu religiösen Fragen Stellung zu beziehen. 170 171 172

Co, AW, Band 3.1, S. 212. Ebd. Vgl. ebd., S. 215.

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Ein Erziehungssystem, das diese intellektuelle Freizügigkeit nicht gestattet, ist verbesserungswürdig. »Einstweilen aber hat der Staat nur die Wahl zwischen der Annahme eines solchen unvollständigen Systems oder der Überweisung des ganzen Geschäfts an eine Körperschaft, die vielleicht unter allen, welche auf eine gewisse Bildung Anspruch erheben können, die allerungeeignetste ist, es gehörig zu besorgen, nämlich an die Geistlichkeit der Staatskirche, wie sie gegenwärtig zusammengesetzt und für ihren Beruf geschult worden ist.« 173 Mit anderen Worten: Aufgrund der nicht vorhandenen Beziehung zu ihren eigenen Wurzeln kann die Nationalkirche ihr Geld nicht für frei gewählte Zwecke ausgeben, sondern muss es an den Klerus der Staatskirche überweisen, auch dann, wenn diese nicht das beste Bildungsangebot zu bieten hat. Mit dieser Kritik verbindet Coleridge die Forderung, dass es eine intellektuelle Elite geben sollte, deren Vertreter sich über das ganze Land verteilen müssten, »so dass selbst der kleinste Bruchteil des Gemeinwesens nicht ohne einen ständigen Führer, Wächter und Lehrer bliebe« 174 . Diesen Gedanken greift Mill in seiner viel beachteten Schrift Über die Freiheit wieder auf, um ihn zu vertiefen und mit seiner Vorstellung von einem wohlfahrtssteigernden Individualismus zu verknüpfen. Ebenso interessant ist Coleridges Theorie der Verfassung, in der er die Grundzüge einer politischen Philosophie umreißt, die davon ausgeht, dass ein Land, das privaten Besitz anerkennt, von zwei rivalisierenden Mächten bestimmt wird: vom Interesse der Dauer und vom Interesse des Fortschritts. Das Interesse der Dauer steht in einer direkten Beziehung zum Land und zum Grundbesitz, während das Interesse des Fortschritts in Verbindung mit den vier Berufen gebracht wird: den handelstreibenden, den industriellen, den verteilenden und den gelehrten Berufen. 175 Die Regierung setzt sich aus Grundbesitzern zusammen, die das Interesse der Dauer vertreten, und aus einer »Vertretung des persönlichen Eigentums und erworbener geistiger Befähigung« 176 . Coleridge schlägt vor, dass ein Zweig der gesetzgebenden Gewalt vollkommen von der ersten Klasse beherrscht wird, während die Vertreter des Fortschritts »die unzwei-

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Ebd., S. 216. Ebd., S. 212. Vgl. ebd., S. 220. Ebd.

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deutige und wirksame Majorität des Unterhauses bilden« sollten, um ein politisches Gleichgewicht herzustellen. Auch wenn es sich hier nur um einen Ansatz einer politischen Philosophie handelt, schätzt Mill die Arbeit Coleridges sehr, schon deshalb, weil sie in Richtung einer Parlamentsreform weist, die nicht zuletzt im Reform Act von 1832 einen ersten Ausdruck findet, wobei festgehalten werden muss, dass Coleridge dem Gesetz zur Wahlkreiseinteilungsänderung äußerst kritisch gegenüber steht, weil es mehr einer Revolution gleichkommt als dass dadurch die Mängel tatsächlich beseitigt werden. Und in der Tat gelangt auch Mill zu der Überzeugung, dass der Reform Act nicht zu einer Verbesserung der Zusammensetzung der gesetzgebenden Gewalt im Land geführt hat: »Jedes Gute, was dem selbstsüchtigen Interesse der herrschenden Klasse zuwiderläuft, lässt sich noch immer nur durch einen langen und mühevollen Kampf erreichen.« 177 Obwohl Coleridges verfassungsbildende Überlegungen nur die Anfänge einer politischen Theorie darstellen, gelangt Mill zu dem Schluss, dass die Philosophie des Romantikers das Beste ist, was die Gegenwart zu bieten hat. Diese Auffassung findet ihren Grund in der Überzeugung, dass die Regierungslehre Benthams in ihren politischen Begrifflichkeiten analytisch unscharf ist. Im Rahmen seiner utilitaristischen Philosophie vertritt Bentham die Überzeugung, dass denjenigen die Herrschaft über das Gemeinwesen übertragen werden sollte, »deren Interesse mit dem allgemeinen Interesse zusammenfällt« 178 . Nun bleibt allerdings vollkommen unklar, was unter »Interesse« und »allgemeines Interesse« zu verstehen ist. Eine politische Philosophie ist daher gut beraten, wenn sie vor sich selbst Rechenschaft über die Bestandteile ablegt, die jenen Begriffen zugrunde liegen. Eine derartige Arbeit am Begriff lässt die Regierungslehre des Utilitarismus aber vermissen. Im Gegensatz zu Bentham verwendet Coleridge den Begriff »Interesse« abgestuft, indem er zwischen den Interessen der Dauer und den Interessen des Fortschritts unterscheidet. Was die Ausbreitung des ökonomischen Prinzips des Laissezfaire betrifft, schlägt Coleridge einen Mittelweg ein; einerseits sieht er keinen Grund, warum der Staat in die Marktwirtschaft eingreifen sollte, solange das volkswirtschaftliche Treiben sich im Rahmen der

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Ebd., S. 221. Ebd.

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geltenden Gesetze bewegt; andererseits sieht er aber auch keinen Grund, warum der Staat auf eine »freie Tätigkeit« 179 verzichten sollte. Die Regierung sollte ihre Bürger beim Versuch der Wohlfahrtsteigerung unterstützen, insbesondere dann, wenn sie sich nicht aus eigener Kraft helfen können. Sobald der Staat seine primären Aufgaben der Existenzsicherung, des Bürger- und des Eigentumsschutzes erfüllt hat, muss er sich laut Coleridge noch um weitere Obliegenheiten kümmern: »nämlich erstens, den einzelnen Individuen die Mittel zu ihrer Existenz zugänglicher zu machen, zweitens, jeden seiner Mitglieder Aussicht auf Besserung seiner eigenen Lage und der seiner Kinder zu gewähren, und drittens, ihm die Entwicklung derjenigen Fähigkeiten sicherzustellen, die für ihn als Menschen, das heißt als vernunftbegabtes, moralisches Wesen, wesentlich sind« 180 . Der Staat ist eine Art Hilfsverein, der sich um die Sorgen und Nöte seiner Bürger kümmert und sie nicht den ökonomischen Gesetzen des kapitalistischen Marktsystems überlässt. Abgesehen davon gebührt Coleridge aber vor allem Anerkennung für die Wiederbelebung des alten Gedankens, dass Grundbesitz ein Gut ist, das lediglich anvertraut ist; Grund und Boden sind kein Privateigentum, denn unter diese wohlstandsmehrende Kategorie fallen nur Gegenstände, die durch eigene Arbeit erzeugt werden. Im Rahmen seiner konservativen Philosophie verweist Coleridge darauf, dass Land früher von einem Amt verwaltet worden ist, dass Eigentumsrechte nur erworben werden konnten, wenn man sich verpflichtete, einem öffentlichen Zweck zu dienen, weil Grundbesitz die Grundlage für Ackerbau und Ackerbau wiederum die Grundlage für Nahrung ist. Mill greift diesen Gedanken auf und hofft, dass sich die Menschen im Rahmen des zivilisatorischen Fortschritts wieder auf diesen Umgang besinnen, da mit Grundbesitz das Recht auf freie Verfügung verbunden ist, ohne Rücksicht darauf, ob alle Bürger gleichermaßen davon profitieren oder nicht; das ist umso bedenklicher, da Grund und Boden auch jedem anderen gehören könnten, wenn der Zufall die Besitzverhältnisse anders geordnet hätte. Folglich können Grundbesitz und Handel nicht nach denselben Prinzipien betrieben werden, müssen feste Gegenstände anders behandelt werden als bewegliche. Der Grundbesitzer hat kein Recht, mit dem Land so umzugehen, »als wenn es nur

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Ebd., S. 225. Ebd., S. 226.

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dazu vorhanden wäre, um ein Erträgnis für ihn und nicht auch für diejenigen zu liefern, deren Hände es bestellen« 181 . Gleichwohl redet Mill hier nicht einer staatlichen Enteignung das Wort, es geht ihm vielmehr darum sicherzustellen, dass durch die Eigentumsverhältnisse keine sozialen Ungerechtigkeiten entstehen; er ist sich vollkommen bewusst darüber, dass es insbesondere die Verteilung von Grund und Boden ist, die einen hohen Einfluss auf das moralische Klima der Gesellschaft hat. 182 Was die Frage nach der allgemeinen Sektiererei betrifft, weist Coleridge darauf hin, dass es im Land die Tendenz gibt, sich ausschließlich in den Grenzen der eigenen theoretischen Schule zu bewegen, während man Ansichten jenseits dieser von den jeweiligen Autoritäten festgelegten Schranke als Irrtümer deklariert. Diese den Geist isolierende Sichtweise muss überwunden werden, weil die Wahrheiten jeder Sekte immer nur Teilwahrheiten sind, die durch die Teilwahrheiten ihrer jeweiligen Gegner ergänzt werden müssen. Coleridge postuliert eine Erkenntnistheorie, die ihre Wahrheiten nicht aus einer, sondern aus unterschiedlichen Denkschulen zusammensetzt. Auch seine Morallehre scheint mit dem Utilitarismus in Einklang zu stehen, denn der höchste Zweck der Tugend, so seine Auffassung, ist die Hervorbringung von menschlichem Glück. 183 Von der Philosophie Coleridges ist Mill überzeugt, weil er durch sie seine Grundsätze aus den sektiererischen Grenzen des Utilitarismus befreien und sie mit Wahrheiten verknüpfen kann, die seinem Denken nicht zuwiderlaufen, sondern es ergänzen. Dies gilt auch für Coleridges Bemühen, die Religion mit der Philosophie zu versöhnen. Während die Religion »die Vollendung menschlicher Einsicht« 184 repräsentiert, kommt der Philosophie die Aufgabe zu, die Grundsätze des Glaubens mit Hilfe der Vernunft zu beweisen. Obwohl Mill keinen Zweifel daran lässt, dass er das romantische Vorhaben, religiöse Fragen durch philosophische Reflexion zu beantworten, für gescheitert hält, sieht er keinen Grund, eine in dieser Bemühung implizite Wahrheit abzuweisen, nämlich dass keine Philosophie allgemeine Anerkennung unter den Menschen finden wird, die nicht mit der Religion in Einklang steht. 181 182 183 184

Ebd., S. 228. Vgl. ebd., S. 226 ff. Vgl. ebd., S. 230. Ebd.

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Coleridges konservative Philosophie

Während Mill mit seiner Kritik an der liberalen Philosophie Benthams auf die inhaltlichen Schwächen der utilitaristischen Lehre hinweist, will er mit seinem Lob an der kontinentalen Philosophie Coleridges den Utilitarismus stärken, nicht zuletzt dadurch, dass er die Wahrheiten der Liberalen mit den Wahrheiten der Konservativen verbindet. »Vielleicht haben wir etwas dazu beigetragen, den Nachweis zu liefern, dass ein Toryphilosoph nicht ganz und gar ein Tory sein kann, sondern mitunter ein besserer Liberaler sein muss, als manche Liberale selbst sind, während er das natürliche Organ dafür ist, Wahrheiten vor dem Untergang zu schützen, welche die Tories vergessen und welche die herrschenden Schulen der Liberalen nie gekannt haben.« 185

185

Ebd., S. 234 f.

115 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

Zweites Kapitel Bildungspolitische Ansichten oder der Triumph des Wissens

1.

Wissen, Glück, Entwicklung

Für Mill gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen dem zivilisatorischen Fortschritt des Menschengeschlechts, dem allgemeinen Glück der Bürger und der gesellschaftlichen Verbreitung von Wissen, wobei er zwischen wirklichem Wissen und bloßem Vorurteil unterscheidet. Diejenigen, die behaupten, dass Wissen ein Feind des Fortschritts ist, die behaupten, dass dem Glück mehr gedient ist, wenn man die Verbreitung von Wissen aufhält, übersehen zweierlei: zum einen, dass sie den Begriff des Wissens irrtümlich verstehen, zum anderen, dass das Gegenteil richtig ist: die Expansion von Wissen bremst die gesellschaftliche Entwicklung und die menschliche Wohlfahrt nicht, sie befördert beide. Damit hat Mill darauf hingewiesen, dass die Probleme einer bildungspolitischen Diskussion in erster Linie auf eine fehlende Analyse des Wissensbegriffs zurückzuführen sind. Gegenüber einem Vorurteil zeichnet wirkliches Wissen sich dadurch aus, dass es nützlich ist, und zwar in dem Sinne, dass es menschliches Glück befördert. »Das einzige nützliche Wissen ist jenes, das uns lehrt, wie wir uns um das Gute bemühen und das Schlechte vermeiden können, kurz, wie die Summe des menschlichen Glücks zu vermehren ist.« 1 Wissen versetzt den Menschen also in die Lage, zwischen guten und schlechten Handlungen zu unterscheiden, zwischen solchen, die das allgemeine Glück in der Gesellschaft vermehren und solchen, die es verhindern. Dieses utilitaristische Ziel »mag auf gute oder schlechte Weise verfolgt werden, aber zu sagen, dass Wissen ein Feind des Glücks sein kann, kommt der Behauptung gleich, dass die Menschen weniger Glück genießen werden, wenn sie wissen, wie es zu suchen ist, als wenn sie es nicht wissen« 2 . 1 2

NvW, AW, Band 2, 376 f. Ebd., S. 377.

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Wissen, Glück, Entwicklung

Es wäre geradezu absurd, vor dem Hintergrund eines derartigen Begriffsverständnisses die Auffassung zu vertreten, dass die gesellschaftliche Verbreitung von Wissen der Beförderung von Glück zuwiderläuft. Es sind nicht zuletzt die im gegenwärtigen Zeitalter emporsteigenden Künste und Wissenschaften, die dem Menschen nicht nur neue Erkenntnisse im Hinblick auf das bessere Verständnis seiner eigenen Gattung liefern, sondern die ihn auch darüber unterrichten, wie die moralische Beschaffenheit der Gesellschaft verbessert werden kann. Der allgemeine Zustand der bürgerlichen Moral wird vor allem durch zwei Aspekte bestimmt: durch eine Erhöhung des allgemeinen Wohlstands und durch die Verbreitung von Informationen. 3 Damit ist allerdings nicht gemeint, dass die Reichen moralischer sind als die Armen, im Gegenteil, gerade in den höheren Klassen der Gesellschaft stellt Mill einen eklatanten Niedergang der Sittlichkeit fest, den er mit einer selbstsüchtigen Finanzmittelakkumulation in Verbindung bringt. Seiner Ansicht nach darf die Zunahme des Reichtums sich nicht auf einige wenige ohnehin schon privilegierte Klassen beschränken. Der in der Gemeinschaft der Bürger erwirtschaftete Gewinn muss in der Gesellschaft gerecht verteilt werden, damit alle, insbesondere die arbeitenden Klassen, an den positiven Effekten des freien Marktsystems partizipieren können; nur auf diese Weise wird es möglich, dass die Arbeiter einen Teil ihrer Zeit darauf verwenden können, sich um ihre intellektuelle und moralische Bildung zu kümmern. Bildung kostet Geld, weil Bildung Zeit kostet und Zeit Geld ist. Wenn es aufgrund des wissenschaftlichen Fortschritts gelingt, ein soziales Umfeld zu schaffen, in dem jeder Bürger einen Teil seiner Zeit für seine geistige Vervollkommnung gebrauchen kann, wird der Mensch künftig in der Lage sein, Wahrheit von Falschheit, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Die moralischen Wirkungen dieser Bildungsreform, die mit der wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft eng verknüpft sind, betreffen nicht nur das Individuum, sondern die ganze Gesellschaft. »Daher fördert der Fortschritt der Naturwissenschaften, indem er den Wohlstand hebt und verteilt, indirekt die Moral.« 4 Wissenschaftliche Erkenntnis, ökonomischer Wohlstand und moralische Entwicklung gehen in der Gesellschaft Hand in Hand, so die sozialpolitische Auffassung Mills. Im Fortgang seiner Untersuchung macht er noch auf zwei As3 4

Vgl. ebd., S. 378. Ebd.

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Bildungspolitische Ansichten oder der Triumph des Wissens

pekte aufmerksam, die den Menschen in der Vergangenheit zwar Unheil gebracht haben, durch Wissen aber beseitigt werden können, wenngleich es dafür sowohl des kollektiven Kampfes als auch der individuellen Geduld bedarf. Die Rede ist von der Regierung und der Religion. Es ist leicht einzusehen, dass das Streben nach persönlichem Glück durch nichts stärker behindert wird als durch eine tyrannische Regierung. Es kann daher nicht überraschen, dass Mill den von der Aufklärung bekämpften Feudalismus des früheren Zeitalters missbilligt und sich für eine Aufhellung der mit diesem Herrschaftssystem einhergehenden Beschränkungen ausspricht. Auch sind die Menschen in der Regel gut beraten, wenn sie die religiösen Dogmen der Kirche sowie die Handlungsempfehlungen der Priester hinterfragen, die ihren jeweiligen Gemeinden vorstehen. Mills Misstrauen gegenüber einem unreflektierten Obrigkeitsgehorsam basiert vor allem auf der banalen Einsicht, dass Priester Menschen sind, was bedeutet, dass auch Priester Interessen haben; allerdings gibt es kein Naturgesetz, das regelt, dass die Interessen des Priesters mit den Interessen der Gemeinde übereinstimmen. Daraus zieht Mill den Schluss, dass Kleriker in den Fällen, in denen ihr Interesse nicht mit dem Interesse der Menschheit in Einklang steht, so handeln würden, wie der Nutzen es vorsieht: »Sie würden ihre eigenen Interessen zum Nachteil der Menschheit verfolgen.« 5 Darin liegt aber eine Gefahr. Wenn die Menschen den Priestern ihrer Gemeinde restlos glauben, ohne das Gesagte auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen, sind die Diener Gottes leicht verführt, den Mitgliedern ihrer Gemeinde nur die Dinge mitzuteilen, die ihren eigenen Interessen dienlich sind. Auch kann es der Fall sein, dass die religiösen Lehren sich nicht gut dazu eignen, eine gewisse Verehrung für den Geistlichen zu wecken; dann, so Mills These, wird der Hüter der göttlichen Wahrheit seinen Predigten ein wenig Falschheit beimischen, um sein persönliches Ansehen unter den Mitgliedern seiner Kirchengemeinde zu verbessern. »Auf diese Weise hat die katholische Priesterschaft ihrer Religion die profitable Lehre vom Purgatorium und den Messen für die Toten hinzugefügt, die zu Verbrechen führende Lehre vom Ablass und vor allem die furchtbaren Institutionen der Ohrenbeichte und der Absolution.« 6 Das Wort Gottes bietet offenbar keinen Schutz 5 6

Ebd., S. 380. Ebd.

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Wissen, Glück, Entwicklung

vor den Eitelkeiten und der Habgier der Menschen. Jene Dinge, die das menschliche Glück nicht befördern, sondern behindern, können aber leicht durch die gesellschaftliche Verbreitung von Wissen verhindert werden, weil der aufgeklärte Mensch zwischen Recht und Unrecht, Wahrheit und Falschheit unterscheiden kann. Der Grund, warum Mill auf den Unterschied von Vorurteil und Wissen hinweist, er darlegt, dass Wissen nur dann Wissen ist, wenn es das allgemeine Glück befördert, liegt darin, dass zu seiner Zeit vermehrt Stimmen laut werden, die eine aristokratische Politik fordern; »diese Ausrufung des Zeitalters der Barbarei im Zeitalter der Zivilisation« 7 wird vor allem von denjenigen getätigt, die sich einen Vorteil von der despotischen Herrschaft des Adels versprechen, die ihre Interessen mit der feudalen Tyrannei in Einklang sehen und die die Freiheit nur so lange verteidigen, wie es ihre Freiheit ist; eine Freiheit, die es sich leisten kann, andere Menschen auszuschließen. Obwohl der zivilisatorische Fortschritt viel dazu beigetragen hat, dass die politische Willkürherrschaft des Adels und der Aberglaube an gesellschaftlichem Boden verloren haben, ist Mill überzeugt, dass die konservativen Ideen noch immer genug Kraft haben, um neue Wurzeln zu schlagen. Es kann daher nicht verwundern, dass die Konservativen die Verbreitung von Informationen bekämpfen. »Das Wissen hat viel verändert, aber noch nicht alles.« 8 Mit dem Wissen und Glück ist die individuelle Entwicklungsfähigkeit verbunden. Im Zentrum der Anthropologie Mills steht die Annahme, dass der Mensch grundsätzlich zur Verbesserung fähig ist, er in der Lage ist, seine Moral und Vernunft auf eine höhere Stufe der menschlichen Entwicklung zu heben. Diese Überzeugung steht im krassen Widerspruch zu der Ansicht, dass der Mensch eher zum Schlechten als zum Guten neigt, dass er aufgrund seiner Menschlichkeit geradezu dazu bestimmt ist, ein Leben in Unvollkommenheit zu führen. Und wenn es dem Menschen doch einmal gelingt, etwas zu tun, dass das menschliche Glück und den zivilisatorischen Fortschritt befördert, wird es im Allgemeinen als Ausnahme, nicht als Regel betrachtet; »wann immer es zwei Möglichkeiten gibt, eine Tatsache zu erklären, wählen verständige und praktische Menschen immer die,

7 8

Ebd., S. 381. Ebd.

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Bildungspolitische Ansichten oder der Triumph des Wissens

die der Masse der Menschheit die größte Dummheit und größte Immoralität zuschreibt« 9 . Gegen diese Auffassung wendet Mill sich, indem er darauf hinweist, dass insbesondere die Menschen eine negative Meinung von der menschlichen Natur vertreten, die aufgrund ihrer geistigen Trägheit nicht bereit sind, ihre eigenen Irrtümer zu korrigieren. Diejenigen, die kein Zutrauen in die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen besitzen, zeichnen sich dadurch aus, dass sie unfähig sind, sich Rechenschaft über sich selbst zu geben; sie verbleiben im Gewohnten und können sich nicht vorstellen, ein anderer zu werden, indem sie ihren Charakter verändern. Im Rahmen seiner Analyse geht Mill zunächst auf die Frage der moralischen Verbesserung des Menschen ein, wobei es ihm nicht darum geht, eine ideale Vorstellung ethischer Vortrefflichkeit zu skizzieren. Er verfolgt nicht das Ziel, ein moralisches Musterbild zu entwerfen, das jenseits menschlicher Möglichkeiten liegt; seine Argumentation basiert auf der Annahme, dass es historische Persönlichkeiten gegeben hat, die ein hohes Maß an Tugendhaftigkeit verwirklicht haben. Ein Kritiker könnte nun einwenden, dass selbst diese tugendhaftesten Menschen immer noch unvollkommen sind, aber diesen Umstand bestreitet Mill auch nicht; denn letztlich kann kein Zweifel darüber bestehen, dass es diese meisterhaften Menschen der Geschichte tatsächlich gegeben hat, gleichgültig wie unvollkommen sie im Angesicht der Vollkommenheit auch sein mögen. »Ich werde nicht behaupten, dass die Menschen im Allgemeinen besser gemacht werden können als die besten Menschen, die das Menschengeschlecht bislang hervorgebracht hat.« 10 Wenn es aber Menschen von hoher Tugendhaftigkeit gegeben hat, stellt sich die Frage, was sie so tugendhaft gemacht hat. Welches sind die sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen, die bei einem Menschen dazu führen, dass er einen hohen Grad an Moral und Vernunft herausbildet? Laut Mill sind es hauptsächlich zwei Ursachen, die für eine das menschliche Glück befördernde Entwicklung verantwortlich sind: im Kindesalter ist es die Erziehung, im Erwachsenenalter die Gesellschaft. »Es ist eindeutig erwiesen, dass diese beiden Kräfte, Erziehung und öffentliche Meinung, wenn beide recht ins Spiel gebracht werden und in Harmonie miteinander wirken können, 9 10

Ver, AW, Band 2, S. 384. Ebd., S. 387.

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Wissen, Glück, Entwicklung

in der Lage sind, hohe moralische Vortrefflichkeit hervorzubringen.« 11 Aber wie ist es zu erklären, dass diese Ursachen nur bei wenigen und nicht bei allen Menschen eine Wirkung erzeugt haben, dass Erziehung und öffentliche Meinung nur vereinzelt dazu geführt haben, dass der menschliche Geist auf eine neue Stufe des Fortschritts gehoben wurde? Mill gibt darauf eine Antwort, wenn er konstatiert, dass jene Ursachen nicht auf alle, sondern nur auf manche Menschen eingewirkt haben. Die moralische Erziehungswissenschaft steckt noch in den Kinderschuhen; bisher ist völlig unklar, welche Ursachen zu einer allgemeinen Verbesserung des menschlichen Charakters führen. »Das große Geschäft der moralischen Erziehung, tugendhafte Gewohnheiten des Geistes auszubilden, ist, wie ich sagen muss, völlig vernachlässigt worden« 12 . Freilich werden Kinder für schlechtes Verhalten bestraft, um eine Verhaltensänderung zu bewirken, aber diese Maßnahmen bleiben an der Oberfläche und treffen nicht den eigentlichen Kern; eine Beschäftigung damit, wie das unerwünschte Verhalten entstanden ist, findet nicht statt; fände es statt, würde man zu der Einsicht kommen, dass menschliche Handlungen vor allem durch den Charakter bestimmt werden; Erziehung müsste infolgedessen in erster Linie Charaktererziehung sein. Damit die Pädagogik ihren Auftrag aber erfüllen kann, müssten zunächst die an der Herausbildung des Charakters beteiligten Gesetze ermittelt werden. Es ist keinesfalls so, dass die Menschen kein Interesse daran haben herauszufinden, wie die »Gewohnheiten des Geistes« 13 erzeugt werden; es ist vielmehr so, dass die Wissenschaft, die ihnen diese charakterbildenden Erkenntnisse liefern könnte, erst noch zu begründen ist. Wenn es um die zweite Ursache moralischer Verbesserung, das öffentliche Bewusstsein, geht, stellt Mill ernüchtert fest, dass es darum noch schlechter steht als um das kooperative Erziehungswesen: »beinahe überall, wo die Ziele des Ehrgeizes, welche die Belohnungen von hoher intellektueller und moralischer Vortrefflichkeit sein sollten, anzutreffen sind, sind sie entweder Belohnungen des Reichtums […] oder der privaten Gunst« 14 . Es kann daher nicht überraschen, dass in der Geschichte sich bisher nur einige wenige Menschen durch 11 12 13 14

Ebd., S. 388. Ebd. Ebd. Ebd., S. 388 f.

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Bildungspolitische Ansichten oder der Triumph des Wissens

eine außerordentliche Tugendhaftigkeit ausgezeichnet haben; gleichwohl ist Mill davon überzeugt, dass jene schlechten Umstände, sofern sie mit einer besseren moralischen Erziehung kombiniert werden, ausreichen, um das Menschengeschlecht auf eine neue Stufe des zivilisatorischen Fortschritts zu heben. 15 Der Kritiker wird an dieser Stelle einwenden, dass, selbst wenn es gelingt, eine bessere moralische Erziehung zu etablieren, sie nicht auf alle Menschen eine positive Wirkung haben wird. Mill widerlegt diesen Einwand, indem er darauf aufmerksam macht, dass es bereits jetzt einige Menschen gibt, die sich durch ein hohes Maß an Tugendhaftigkeit auszeichnen und das, obwohl das Erziehungssystem in einem beklagenswerten Zustand ist, das Rechtssystem erhebliche Lücken ausweist und die politischen Institutionen den gesellschaftlichen Reichtum zum alleinigen Ziel ausgerufen haben. Was wäre, wenn die Verhältnisse so eingerichtet wären, dass sie die charakterliche Veredelung begünstigen, wenn es ein Erziehungswesen gäbe, das sich allein um die moralische Erziehung der Bürger kümmert; sollte man dann nicht annehmen, dass die sittliche Wesensart der Gesellschaft sich deutlich verbessern würde und dass Menschen von außerordentlicher Tugendhaftigkeit in Zukunft die Regel und nicht mehr die Ausnahme sind? Das Gegenargument, das besagt, dass die Menge an Laster in der Gesellschaft nicht verringert werden kann, weil die Ursache des Lasters die Leidenschaft ist, hat für Mill keinen Bestand. Zunächst, so sein Einwand, ist es eine äußerst einseitige Sichtweise auf die menschliche Natur, anzunehmen, dass Leidenschaften besiegt werden müssen, um das individuelle und gesellschaftliche Gute hervorzubringen. Zum anderen können Leidenschaften durch eine geeignete Erziehung leicht in den Dienst einer tugendhaften Lebensführung gestellt werden. »Die Leidenschaften sind die Triebfeder, das moralische Prinzip ist nur die Regulierung des menschlichen Lebens.« 16 Mill geht stets davon aus, dass der Mensch grundsätzlich die Fähigkeit zur Entwicklung besitzt; auch ist er, wie die Geschichte hinlänglich beweist, zu außergewöhnlichen Leistungen fähig. Die Annahme, dass die menschliche Natur, wenn nicht auf Rückschritt, so doch zumindest auf Stillstand programmiert ist, ist mit der Anthropologie Mills nicht vereinbar. Doch was sind die Ursachen dafür, dass 15 16

Vgl. ebd., S. 389. Ebd., S. 390.

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Säkulare Schulen

der Mensch große Leistungen vollbringt, sich bereitwillig den Gesetzen des zivilisatorischen Fortschritts unterwirft und sich in Richtung individueller Vollkommenheit bewegt? Laut Mill sind es im Wesentlichen drei Ursachen, die daran beteiligt sind: die Religion, das Gewissen und die öffentliche Meinung, wobei die öffentliche Meinung die größte unter ihnen ist. Allerdings lässt sich fragen, was noch fehlt, denn der Einfluss der öffentlichen Meinung ist ja bereits gegeben, hat aber bisher kaum zu einer moralischen Verbesserung der Individuen geführt. Den Grund dafür erblickt Mill im mangelhaften Erziehungswesen. Statt Institutionen, die auf alles Wert legen, nur nicht auf Moralität, sollte ein System lebendig sein, »das die Masse der Menschen nicht lernen lässt, sondern ihr Menschenverstand beibringt, praktisches Urteilsvermögen in Alltagsdingen« 17 . Würden die Menschen eine solche Erziehung erhalten, würden sie Falsches als Falsches erkennen; würden keine ehrlosen Ausflüchte bei der Verletzung einer sittlichen Pflicht akzeptieren; würden nicht glauben, dass die Beschenkung von Politikern rechtens ist, wenn es darum geht, Privateigentum zu schützen; würden Männer nicht nach ihren Worten, sondern nach ihren Taten beurteilen; und würden keine Anerkennung für Leistungen zollen, die auf Kosten anderer erworben worden sind. Darüber hinaus ist es notwendig, die Menschen aus ihrer wohltemperierten Privatheit zu holen und dafür zu sorgen, dass sie sich dem Gericht der öffentlichen Vernunft stellen. Auch ist es nötig, »keine Klasse im Besitz von Macht zu lassen, die ausreicht, um sich gegenseitig dabei zu schützen, sich über die öffentliche Meinung hinwegzusetzen und sich einen separaten Moralkodex für ihre private Orientierung zuzulegen« 18 . Abschließend muss gesichert sein, dass der Staat nicht die Interessen einer privilegierten Minderheit, sondern die des ganzen Volkes vertritt, da sonst die Demokratie gefährdet ist.

2.

Säkulare Schulen

Aus Mills bildungspolitischen Reden, Artikeln, Einlassungen und Rezensionen lässt sich die Ansicht entnehmen, dass er ein Bildungssystem favorisiert, das allen Menschen in derselben Weise offenstehen 17 18

Ebd., S. 391. Ebd., S. 392.

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Bildungspolitische Ansichten oder der Triumph des Wissens

und nicht von den Angehörigen des geistigen Standes kontrolliert werden sollte. Es kann daher nicht verwundern, dass er die Entwicklung der in Manchester begonnenen Bewegung zur nationalen Erziehung, die von Samuel Lucas, einem Bildungsautor, und William McKerrow, einem liberalen presbyterianischen Pfarrer, ins Leben gerufen wird, genau beobachtet. Als die Times am 4. November 1850 einen Artikel veröffentlicht, in dem der Erfolg der Bewegung prophezeit wird und in dem die Organisation verkündet, sich auf Anraten von Mr. Cobden, dem Vater der Anti-Corn-Law-Kampagne, nicht mehr Vereinigung für säkulare Erziehung zu nennen, sondern in Zukunft die Bezeichnung nicht konfessionsgebunden zu verwenden, fühlt Mill sich verpflichtet, dazu Stellung zu nehmen. 19 Obwohl er die Bewegung hinsichtlich ihrer Ziele unterstützt, findet er es bedauerlich, dass ein solches Unternehmen, das durchaus Aussicht auf Erfolg hat, »mit einem Akt von Kriecherei und Kompromiss« 20 beginnt, zumal die Umbenennung der Vereinigung seiner Ansicht nach am Ende mehr schadet als nützt. Dies ist umso unglücklicher, als dass gerade im Hinblick auf den Begriff säkular keine Unklarheit besteht; säkular bezeichnet all das, was sich auf dieses Leben bezieht; säkularer Unterricht ist Unterricht, der die Begebenheiten dieses Lebens achtet; säkulare Themen sind damit alle Themen, die nicht die Religion als solche betreffen. Folglich sind auch die Wissenschaften und Künste säkular. Es ist daher ein Fehler zu behaupten, dass säkular gleichbedeutend ist mit irreligiös. »Es gibt einen Unterschied zwischen irreligiös und nicht religiös, sosehr es auch den Absichten vieler Personen zupasskommen mag, beides zu verwechseln.« 21 Indem die bildungspolitische Bewegung sich weigert, ihre Bildungsreform säkular zu nennen und sie stattdessen mit dem Ausdruck nicht konfessionsgebunden belegt, hat sie laut Mill das Prinzip der religiösen Freiheit preisgegeben. Doch was verstehen die Anhänger der Vereinigung der nationalen Erziehung darunter, wenn sie sagen, dass das öffentliche Bildungssystem all denjenigen offenstehen Vgl. SE, AW, Band 2, S. 236. Zum Zustand des englischen Bildungswesens im 19. Jahrhundert siehe Klaus Hoffmann, Die Grundlegung der englischen Elementarerziehung im 19. Jahrhundert. Bildungs- und sozialgeschichtliche Entwicklungstendenzen im Kräftefeld von kirchlichen, staatlichen und restaurativ-reformistisch pädagogischen Einflüssen in England, Frankfurt am Main 1978. 20 SE, AW, Band 2, S. 236. 21 Ebd., S. 237. 19

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Säkulare Schulen

sollte, die nicht konfessionsgebunden sind? Nun, zunächst wohl so viel: Das Fach Religion soll unterrichtet werden, aber nicht konfessionsgebunden sein. Die Schüler sollen zwar Religionsunterricht erhalten, aber keinen katholischen, baptistischen, methodistischen oder unitarischen, wohl aber christlichen; »das heißt, alle gemeinsamen Elemente des Christentums, die in all diesen Konfessionen gleichermaßen zu finden sein sollen« 22 . Diese Absicht hält Mill für falsch. Nicht nur, dass er bezweifelt, dass die Religionen einen Unterricht schätzen werden, der alle Meinungsunterschiede unbehandelt lässt, er behauptet auch, dass, wenn man die ungleichen Konfessionen in einem Kompromiss vereinigt, nicht mehr gewinnt, als dass die großen Religionen sich zusammenschließen werden, um die schwachen Glaubensrichtungen zu bekämpfen. Mit anderen Worten: »Man hätte eine nationale Erziehung nicht für alle zuwege gebracht, sondern für die, die ans Neue Testament glauben.« 23 Religionsgemeinschaften, deren Glaube nicht auf christlichen Werten basiert, werden von dieser Art des religiösen Unterrichts genauso ausgeschlossen wie der Ungläubige, der sich mit seinen atheistischen Überzeugungen in diesem System überhaupt nicht mehr wiederfindet. Für Mill steht fest, dass die Bewegung der nationalen Erziehung damit den Grundsatz der Gleichheit verletzt und sich gesellschaftlichen Minderheiten gegenüber schändlich verhält. »Ich dachte, das Prinzip der Vereinigung sei Gerechtigkeit gewesen, aber ich stelle fest, dass es darin besteht, nur gegenüber denen ungerecht zu sein, die nicht zahlreich genug sind, um Widerstand zu leisten.« 24 Die Forderung der Bewegung der nationalen Erziehung würde die Reformbemühungen der Religionslosen am härtesten treffen. Dies ist umso bedauerlicher, als dass es gerade die Atheisten sind, die sich dem Fortschritt und der Wahrheit verpflichtet fühlen; gerade die Ungläubigen zeichnen sich häufig durch ihr unerschütterliches Vertrauen in ihre Meinungen und Überzeugungen aus. »Diejenigen, die nicht dem christlichen Glauben anhängen, begrüßen beinahe immer den Fortschritt öffentlicher Informiertheit als vorteilhaft für sie.« 25 Die Christen sehen dies freilich anders. Ihrer Ansicht zufolge ist der 22 23 24 25

Ebd. Ebd., S. 238. Ebd. Ebd.

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Bildungspolitische Ansichten oder der Triumph des Wissens

Ungläubige »in einem Zustand der bedauernswertesten, verhängnisvollen Unwissenheit, von der man überhaupt nur betroffen sein kann, und aus diesem Grund verweigern sie ihm den Unterricht, verweigern ihm Wissen und die Kultivierung und Disziplin des Verstandes, als würden sie glauben, geistige Kultivierung könnte dem Christentum nicht förderlich sein, solange der Geist nicht zuerst stark zu seinen Gunsten voreingenommen ist« 26 . In dieser Haltung erblickt Mill wenig Schmeichelhaftes, weder für das christliche Glaubensbekenntnis noch für den Umgang mit Ungläubigen. Der Gedanke, dass man Gottlose am besten zu verständigen und kultivierten Menschen macht, indem man sie vom religiösen Schulunterricht fernhält, leuchtet ihm ebenso wenig ein wie der Gedanke, dass man der Gerechtigkeit am besten dient, indem man Minderheiten ihre partizipatorischen Rechte nimmt. Auch wenn es so aussieht, dass die Gründer der »Lancaster Association« 27 durch ihre Hinwendung zum Ausdruck nicht konfessionsgebunden von diesen Werten Abschied genommen haben, hat Mill die Hoffnung, dass sie zu ihren alten Idealen zurückkehren und eine nationale Erziehung fordern werden, die nicht nur allen Menschen der Gesellschaft gleichermaßen offensteht, sondern auch von einem Geist durchdrungen ist, der den Namen säkular verdient. Vor diesem Hintergrund sind auch die Einwände zu verstehen, die Mill am 25. März 1870 gegen den »Gesetzentwurf zur Versorgung mit öffentlicher Grundschulbildung in England und Wales« vorbringt. Die Regierung will zu dieser Zeit einen Gesetzestext verabschieden, der billigt, dass konfessioneller Unterricht weiterhin von Lehrern gegeben werden kann, die aus staatlichen Mitteln bezahlt werden. Laut Mill führt dieses politische Vorhaben »eine neue religiöse Ungleichheit ein« 28 , die es zu bekämpfen gilt. »Lehrer werden immer noch von der gesamten Gemeinschaft beschäftigt und bezahlt, um die Religion eines Teils von ihr zu lehren.« 29 Für Mill reflektiert der Gesetzesentwurf eine unbefriedigende Situation, weil er den Klerus in die komfortable Lage versetzt, alle zur Schule gehenden Kinder in ihrer eigenen Religion zu unterrichten. Obwohl dieser Umstand für diejenigen, die diesen Glauben tei26 27 28 29

Ebd., S. 238 f. Name der Bewegung für nichtkonfessionelle Bildung. GzB, AW, Band 2, S. 260. Ebd., S. 261.

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Säkulare Schulen

len, eine begrüßenswerte Festigung ihrer gottgefälligen Vorstellungen bedeutet, kann dies »nur für Personen mit dem vorherrschenden Glaubensbekenntnis zufriedenstellend sein« 30 , nicht jedoch für alle anderen Mitglieder der Gesellschaft. Gleichwohl möchte Mill die Schulen nicht abschaffen, an denen Religion unterrichtet wird; sein Bemühen richtet sich vielmehr darauf, neben religiösen auch säkulare Schulen zu gründen. Und wo immer Religion unterrichtet wird, sollten die Anhänger dieses Glaubens und nicht alle Staatsbürger für diesen Unterricht zahlen: »Lasst alle Parteien den Religionsunterricht haben, den ihr Gewissen verlangt und für den sie bereit sind zu bezahlen.« 31 Ein weiterer Punkt, der ebenfalls die Schule betrifft, ist die Qualität der Bildung im Allgemeinen. Es zeigt sich, dass Mill dafür eintritt, große Schulen zu unterhalten. Diese, so seine Auffassung, sind im Gegensatz zu kleineren Einrichtungen effizienter und ökonomischer. Er ist ein Verfechter der Idee, Klassenräume mit möglichst vielen Schülern zu füllen, auch wenn sie nicht so voll sein sollten, dass regelmäßig zwei Lehrer benötigt werden. Obendrein sollten die Schüler einer Klasse dasselbe Leistungsniveau besitzen. Mit dieser Empfehlung möchte Mill erreichen, dass die Lehrer nicht allein die begabten Schüler fördern, während die langsamen auf der Strecke bleiben. Dass Mill keinen Unterschied zwischen Kindern aus reichen und Kindern aus armen Häusern macht, zeigt sich daran, dass er sich dafür ausspricht, die Kinder nicht nur in denselben Klassen, sondern auch von denselben Lehrern unterrichten zu lassen. »Reiche Kinder [brauchen] kein anderes Lesen und Schreiben als arme Kinder oder eine andere Art, es zu lernen.« 32 Der einzige Unterschied ist, dass reiche Eltern ihren Kindern ermöglichen können, länger zur Schule zu gehen, was nichts anderes bedeutet, als dass diese Kinder aufgrund ihrer höheren Ausbildung einen gesellschaftlichen Vorteil gegenüber Kindern aus ärmeren Familien besitzen. Mill fordert, das Schulsystem grundlegend zu reformieren, so dass alle Kinder die Möglichkeit haben, höhere Bildung zu erwerben, unabhängig davon, ob die Eltern vermögend sind oder nicht. 33 30 31 32 33

Ebd., S. 262. Ebd., S. 265. Ebd., S. 269. »Das Elementarschulsystem war der erste Bildungsbereich, dem die Regierung ihre

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Bildungspolitische Ansichten oder der Triumph des Wissens

Um mehr Kindern eine wohlstandsmehrende Schulkarriere zu ermöglichen, müssen die örtlichen Schulbezirke vergrößert werden. Derzeit sind die ländlichen Bezirke so klein, dass die Förderung begabter Schüler aus armen Familien fast unmöglich ist. »Der Bezirk jeder Schulbehörde sollte groß genug sein, um eine akzeptable Aussicht zu gewähren, dass sich in jedem Bezirk wenigstens eine Person befände, die wisse, was gute Ausbildung sei, und sich darum kümmere.« 34 Aber selbst wenn die Bezirke vergrößert werden, würde Mill die Ausbildung der Armen den ländlichen Schulbehörden nicht anvertrauen. Obwohl die örtlichen Aufsichtsbehörden in den letzten Jahrzehnten die Kontrolle über die Bildung hatten, haben sie diese Macht nicht genutzt, um die bildungspolitische Situation der arbeitenden Klassen zu verbessern. »Wenn die Aufsichtsbehörden ihre Pflicht erfüllt hätten, sollten wir derzeit keine Bildungsfrage haben.« 35 Aber nicht nur die ländlichen Gemeinden sind ihren öffentlichen Pflichten nicht nachgekommen, auch die städtischen Bezirke haben kaum etwas getan, um den allgemeinen Bildungsstand in der Gesellschaft anzuheben. So wurde ihnen vom Parlament das Recht gegeben, freie Bibliotheken zu gründen. Obwohl sich diese Orte des Wissens im Kampf gegen den unmündigen Bürger als schlagkräftige Institutionen erwiesen haben, haben nur sehr wenige Städte von ihrem bibliothekarischen Gründungsrecht Gebrauch gemacht. Laut Mill reicht es nicht, Schülern das Lesen, Schreiben und Rechnen beiAufmerksamkeit zuwandte. Für die gehobenen Bildungsbereiche (Sekundarschulen, Universitäten) vermochten die bessergestellten Schichten selbst zu sorgen. Die Elementarschule blieb in ihren Inhalten sehr begrenzt und kam erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts über die Grundfächer Lesen, Schreiben und Rechnen (the three ›Rs‹) hinaus; religiöse Unterweisung dominierte. Die Elementarschulen befanden sich vollständig in freier Trägerschaft (Voluntary Schools), vor allem in den Händen der anglikanischen und katholischen Kirche, aber auch von weltlichen Organisationen. Es bedeutete einen Durchbruch, daß im Jahr 1839 die Regierung erstmals Geld zur Förderung dieser Einrichtungen bereitstellte. Die angemessene Verwendung der Mittel wurde einem Komitee übertragen, aus dem später das Erziehungsministerium hervorging; für die Kontrolle der Entwicklung im Schulwesen wurde 1840 eine Inspektion eingerichtet (Her Majesty’s Inspectorate = HMI), die für 150 Jahre eine wichtige Rolle spielen sollte.« Detlef Glowka, »England«, in: ders. u. a. (Hg.), Bildungssysteme in Europa. Entwicklung und Struktur des Bildungswesens in zehn Ländern: Deutschland, England, Frankreich, Italien, Niederlande, Polen, Rußland, Schweden, Spanien, Türkei, Weinheim/Basel 1996, S. 57–81, hier S. 57 f. 34 GzB, AW, Band 2, S. 269. 35 Ebd., S. 270.

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Säkulare Schulen

zubringen. Wenn man will, dass die Gesellschaft aus Menschen besteht, die das, was sie in der Schule gelernt haben, auch anwenden können, muss man ihnen über die Schulzeit hinaus die Möglichkeit geben, Bücher zu lesen. »Es wird nie eine echte Volksbildung geben, solange es nicht in jedem Schulbezirk eine öffentliche Bibliothek gibt, nicht notwendig kostenlos, aber zugänglich gegen einen Betrag, den jede arme Familie in einem durchschnittlichen Beschäftigungsverhältnis bezahlen kann.« 36 Wenn die ländlichen und städtischen Bezirke im Hinblick auf die Förderung der arbeitenden Klassen aber unfähig sind, stellt sich die Frage, wer für das Bildungssystem in Zukunft verantwortlich sein soll? Das gesellschaftliche Schulsystem, so Mills reformerische Antwort, sollte den bisher zuständigen Aufsichtsbehörden entzogen und einer neu zu gründenden übergeordneten Behörde anvertraut werden. Bei der personalen Besetzung der Behörde kommt es dann darauf an, Menschen auszuwählen, »die die Bildungsfrage zum Gegenstand ihres Studiums gemacht [haben], und die auch in anderen notwendigen Bereichen gut qualifiziert« 37 sind. Auch wenn Mill Verständnis dafür hat, dass die Anhänger verschiedener Konfessionen und die Freidenker ihre behördlichen Vertreter recht unterschiedlich auswählen, sollte es seiner Ansicht zufolge hauptsächlich darum gehen, allen Bürgern die gleichen Bildungschancen einzuräumen. Der Gedanke eines sozial gerechten Bildungssystems darf den religiösen Machtkämpfen, die innerhalb der Gesellschaft herrschen, nicht zum Opfer fallen. Das Ziel von Mill ist es, verbesserte Bildung allen Mitgliedern der Gesellschaft gleichermaßen zugänglich zu machen, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer finanziellen Ausstattung. Dazu ist es aber erforderlich, dass die Behörde aus Menschen besteht, die den Wert der Bildung erkennen und sich sowohl für ihre Verbesserung als auch für ihre Verbreitung einsetzen. Mill weiß sehr genau, dass die für die bildungspolitische Gerechtigkeit in der Gesellschaft verantwortliche Behörde nur dann vernünftig arbeiten kann, wenn die personalen Verhältnisse so eingerichtet sind, dass keine Klasse die Mehrheitsverhältnisse zu ihren Gunsten beeinflussen kann. Anders formuliert, die Verantwortlichen sind gut beraten, wenn sie Menschen aus allen gesellschaftlichen Klassen in der Behörde einsetzen. 36 37

Ebd., S. 271. WdS, AW, Band 2, S. 274.

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Auf diese Weise wird dem Ziel der Behörde am besten gedient. Doch welche Qualifikationen sollten potenzielle Kandidaten der Behörde haben, über welche Fähigkeiten sollten die Menschen verfügen, die für die zukünftige Bildungsgerechtigkeit im Land verantwortlich sind und über den bildungspolitischen Erfolg oder Misserfolg der Bürger aller gesellschaftlicher Klassen entscheiden? Auch bei der Beantwortung dieser Frage verweist Mill darauf, dass es bei der Erziehung in steuerfinanzierten Schulen nicht um Religion gehen sollte, nicht darum, ob Bildung konfessionsgebunden sein sollte oder nicht, denn darüber gibt es bekanntlich verschiedene Meinungen. Zwar ist der Glaube bedeutsam, aber bei der Wahl der Schulbehörde sollte das Augenmerk auf anderen Dingen liegen als in der Feststellung der Kirchenzugehörigkeit. Bei den Bewerbern sollte es sich um Personen handeln, »die Bildung wirklich wollen und wirklich etwas davon verstehen« 38 . Im Gegensatz dazu sollten alle Kandidaten für ungeeignet für den Posten befunden werden, die glauben, dass die Bildung der arbeitenden Klassen der Gesellschaft schadet. »Ich würde meine Stimme jedem verweigern, wer es auch sein mag, der befürchtet, die Armen können zu gebildet sein, der glaubt, dass sie in Gefahr sind, mehr zu wissen, als nötig für sie ist, oder mehr, als ihren Lebensverhältnissen angemessen ist.« 39 Wer den Mittellosen nur wenig Wissen geben will, übersieht, dass Bildung langfristig vor Arbeitslosigkeit und Armut schützt. Ein Arbeiter, der seine Hände und seinen Geist ausgebildet hat, findet schneller Arbeit, auch, weil er aufgrund seiner Bildung sich neues Wissen leichter aneignen kann. Ein weiterer Aspekt ist, dass sich für die Posten in der Schulbehörde wahrscheinlich viele Personen bewerben werden, deren Bildungsinteresse sich ausschließlich aus religiösen Quellen speist. Mill möchte diesen Menschen den Zugang zur Behörde keinesfalls verwehren, allein aus Gründen sozialer Gerechtigkeit müssen alle gesellschaftlichen Interessen vertreten sein. Er ist allerdings dagegen, Personen an der Umsetzung des Gesetzes zu beteiligen, die sich ausschließlich um den religiösen Unterricht kümmern, während sie den säkularen Unterricht gering schätzen. Auch ist grundsätzlich solchen Kandidaten zu misstrauen, die zwar die Anzahl der Schulen erhöhen, die Qualität derselben aber nicht verbessern wollen. 38 39

Ebd., S. 277. Ebd.

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Säkulare Schulen

Wenn es um die Frage geht, was einen Anwärter für einen Platz in der Schulbehörde letztlich qualifiziert, verweist Mill auf dessen Taten für die Bildung: »Wir sollten all diejenigen, die sich uns zur Wahl anbieten, fragen: Was habt ihr für die Bildung getan?« 40 Auch sollten die Bewerber gefragt werden, ob sie fähig sind, Lehrerinnen und Lehrer im Hinblick auf ihre didaktischen und fachlichen Kompetenzen zu beurteilen. Abgesehen davon sollte es in der Behörde »einen Anteil an Arbeitern« 41 geben. Die öffentlichen Schulen sind in erster Linie für die arbeitenden Klassen gedacht und niemand kennt die Belange der arbeitenden Klassen besser als die, die aus dieser Klasse stammen. Dass Mill seiner Zeit weit voraus ist, zeigt sich auch daran, dass er fordert, einige der Plätze mit Frauen zu besetzen. Da es das gesellschaftliche Ziel ist, Mädchen und Jungen gleichermaßen zu unterrichten, ist es unangebracht, alle Plätze der Schulbehörde an Männer zu vergeben. Auch haben Frauen naturgemäß mehr Erfahrung im Umgang mit Kindern. Darauf zu verzichten, wäre zum Nachteil des gesamten Schulsystems. Bei der Bewerberauswahl sollte die fachliche Qualifikation im Mittelpunkt stehen. Die Frage, ob der Kandidat aus einem fremden Bezirk stammt, sollte hingegen keine Rolle spielen. Es zeigt sich, dass Mill ein Bildungssystem favorisiert, dass allen Klassen der Gesellschaft gleichermaßen offensteht und sich allein dem Gedanken der Leistungsgerechtigkeit verpflichtet fühlt. Den Hintergrund dafür liefert die Überzeugung, dass dem zivilisatorischen Fortschritt am besten gedient ist, wenn alle Bürger in derselben Weise vom Bildungssystem profitieren. Ein Schulsystem, zu dem nur die privilegierten Klassen Zugang haben, ist sozial ungerecht und widerspricht den Gedanken individueller Selbstentfaltung und gesellschaftlicher Nützlichkeit. Mill ist bestrebt, das Bildungswesen effizienter zu gestalten. Er erweist sich als echter Liberaler, wenn er fordert, Lehrern kein festes Gehalt zu zahlen. Eine leistungsunabhängige Bezahlung führt in seinen Augen nur dazu, dass die Lehrer ein Interesse daran haben, ihr Arbeitsaufkommen und die ihnen anvertrauten Klassen möglichst klein zu halten. »Der einzig wahre Grundsatz für die Besoldung von Lehrern aller Klassen und Altersstufen besteht darin, sie, wo irgend möglich, nach den Ergebnissen zu be-

40 41

Ebd., S. 279. Ebd., S. 280.

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Bildungspolitische Ansichten oder der Triumph des Wissens

zahlen.« 42 Die im Unterricht erzielten Ergebnisse können am besten durch einen unabhängigen Ausschuss ermittelt werden, wobei die Resultate dann mit denen anderer Schulen verglichen werden sollten. Auf diese Weise stehen die Schulen in einem Wettbewerb miteinander, wodurch die Qualität des Unterrichts insgesamt verbessert wird. Was die gestifteten Schulen betrifft, spricht Mill sich dafür aus, dass der Schulbesuch nicht umsonst sein sollte, da die Schüler hauptsächlich aus den höheren Einkommensklassen kommen. Mit anderen Worten: Die Eltern dieser Kinder können sich Bildung leisten. Abgesehen davon hätte es eine »hochgradig demoralisierende Tendenz« 43 , wenn man die Eltern aus ihrer Pflicht entlassen würde, für das geistige Wohl ihres eigenen Nachwuchses zu sorgen. Auf der anderen Seite möchte Mill leistungsstarken Schülern aus den arbeitenden Klassen ein Stipendium geben, damit sie ihre Schullaufbahn fortsetzen und einen höheren Bildungsabschluss erwerben können. Den Schlüssel für sozialen Aufstieg erblickt Mill in der Schulbildung, unabhängig davon, in welche Klasse jemand hineingeboren wird. Das für den Schulbesuch zu zahlende Geld sollte verwendet werden, um die Qualität des Unterrichts zu verbessern: »Obwohl der Nutzen von Stiftungen, wie ich sie verstehe, nicht in der Ausbildung von Schülern der Mittelklasse ohne Kosten für die Eltern besteht, halte ich es für sehr angemessen, sie zu verwenden, um diesen Klassen eine bessere Qualität der Ausbildung zu ermöglichen, als sie allein aufgrund der Zahlungen von Eltern möglich wäre.« 44 Wie bereits angedeutet, hat Mill das Interesse, die gestifteten Schulen effizienter zu gestalten, was nichts anderes bedeutet, als dass er sie davor bewahren möchte, in einen Zustand der Ineffizienz zurückzufallen. In diesem Zusammenhang schlägt er vor, dass alle Stiftungsschulen unter die Kontrolle eines »politischen Beratungsgremium[s] des jeweiligen Regenten« 45 gestellt werden sollten. Indem man dieser staatlichen Behörde die Macht über die Einstellung und Entlassung der Lehrer überträgt, stellt man sicher, dass die gestifteten Schulen nicht in jenem prekären Zustand verbleiben, aus dem man sie eigentlich herausholen wollte. Die Effizienz des Schulwesens hängt vom Können und der Leistungsfähigkeit des Lehrkör42 43 44 45

EzS, AW, Band 2, S. 243. Ebd. Ebd., S. 244. Ebd., Fußnote.

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Säkulare Schulen

pers ab, weshalb der Auswahl desselben größtmögliche Aufmerksamkeit und Sorgfalt geschenkt werden sollte. In jedem örtlichen Bezirk, so Mills Vorschlag, sollte es einen Schulausschuss geben, der aus den Einwohnern zusammengesetzt ist, die das größte Interesse an der Sache haben. Auch sollte aus dem politischen Beratungsgremium ein Repräsentant in den örtlichen Schulausschuss entsandt werden, um die Bewohner in fachlichen Fragen zu beraten. Ein weiteres Anliegen ist es, größere Schulen zu gründen. Damit diese aber finanziert werden können, fordert Mill, alle Schulstiftungen und alle anderen gemeinnützigen Stiftungen in einem einzigen Fonds zu versammeln. Große Schulen bieten, wie bereits angemerkt, verschiedene Vorteile. Zum einen können bei großen Schülerzahlen große Klassen gebildet werden, in denen Schüler versammelt werden können, die in etwa dasselbe Leistungsniveau haben. Auch besitzen wenige große Schulen den Vorteil, dass sie wirtschaftlicher sind als viele kleine Institute. Darüber hinaus werden im Rahmen der Schaffung großer Schulen weniger Lehrer benötigt, so dass die leistungsabhängige Bezahlung erhöht werden kann, was sich wiederum positiv auf die allgemeine Qualität des Unterrichts auswirkt. Was den Umgang mit Stiftungsgeldern angeht, fordert Mill, dass diese nicht als Almosen an Bedürftige gegeben, sondern in die Beseitigung der Hauptursache für Armut investiert werden: in die Bildung. Damit die Schulen hochwertigen Unterricht erteilen können, ist es außerdem unerlässlich, die Strukturen für eine gute Lehrerausbildung zu schaffen. »Es wäre sehr wichtig, Lehrschulen für Lehrer einzurichten, an denen sie nicht nur die Dinge lernen können, die sie zu unterrichten haben werden, sondern auch, wie sie zu unterrichten sind.« 46 Vor dem Hintergrund der allgemeinen Liberalisierung der Gesellschaft sollte auch die in vielen Stiftungen bestehende Beschränkung aufgehoben werden, nach der nur diejenigen Lehrer werden können, die ihre Zugehörigkeit zu einer anerkannten Konfession nachweisen können. Nicht der allgemeine Glaube, sondern die individuelle Befähigung sollte das Kriterium sein, nach dessen Maßgabe die Anwärterplätze in den Schulen besetzt werden. Auch sollten alle angehenden Lehrer eine universitäre Prüfung ablegen, die im Rahmen eines Wettbewerbs stattfindet. In den Augen Mills gibt es nichts Wichtigeres als die fachliche und didaktische Qualität des Lehr46

Ebd., S. 249.

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Bildungspolitische Ansichten oder der Triumph des Wissens

körpers. Daher schreckt er auch nicht davor zurück, für die Möglichkeit zur Entlassung eines Lehrers einzutreten, wenn sich zeigt, dass dieser für die Arbeit an Schulen ungeeignet ist.

3.

Universitäten

Aufgrund seines bildungspolitischen Engagements wird Mill 1866 auf dem Höhepunkt seines Ansehens von den Studenten der schottischen Universität St. Andrews ehrenhalber zum Rektor gewählt. Am 1. Februar 1867 hält er seine Antrittsrede, die zugleich seine wichtigsten Ansichten zur Bildung versammelt. Der Vortrag enthält viele Gedanken und Anschauungen, die seiner Meinung nach zu einer liberalen Erziehung gehören. Es geht ihm in erster Linie darum aufzuzeigen, wie eine solche Erziehung vollzogen werden sollte, damit sie ihren vollen Nutzen für die Gesellschaft und den Fortschritt entfaltet. Mit seiner Position hofft Mill, »dem Aufschwung, welcher glücklicherweise in den nationalen Institutionen der höheren Bildung begonnen hat, Hilfe zu leisten« 47 . Den Anfang seiner Rede bilden einige Bemerkungen über den Gegenstand, mit dem es die Universität im Allgemeinen zu tun hat. 48 Zunächst macht Mill darauf aufmerksam, dass Bildung nichts ist, über das bereits alles gesagt worden ist. Der Begriff ist von solcher Wichtigkeit, dass jede Generation sich da capo mit ihm auseinandersetzen muss, nicht zuletzt deshalb, weil Bildung das Fundament des gesellschaftlichen Wohlstands und des zivilisatorischen Fortschritts ist. Auch handelt es sich hierbei um eine Angelegenheit, die sich nur schwer erschöpft, »denn von allen mannigfaltigen Themen ist sie dasjenige mit der größten Anzahl an Facetten« 49 . Auch wenn nicht alle Menschen einer Gesellschaft wissen, welche Aufgaben eine Universität im Einzelnen hat, auf welche Weise sie den menschlichen Geist bildet und den gesellschaftlichen Fortschritt vorantreibt, besteht im Allgemeinen doch Einigkeit darüber, was eine Universität nicht ist. In den Anstalten höherer Bildung findet keine

Au, AW, Band 2, S. 225. Zur Geschichte der Universität siehe Walter Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa: Vom 19. Jahrhundert zum Zweiten Weltkrieg 1800–1945, Band 3, München 2004. 49 Re, AW, Band 2, S. 300. 47 48

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zu einem Beruf führende Erziehung statt. »Ihre Aufgabe ist es nicht, geschickte Rechtsgelehrte oder Ärzte oder Ingenieure zu bilden, sondern fähige und gebildete menschliche Wesen.« 50 Damit ist aber nicht gemeint, dass es keine Schulen geben sollte, in denen solche Berufsgruppen ausgebildet werden; im Gegenteil: Mill hält es geradezu für wünschenswert, dass die Gesellschaft sich darüber verständigt, wie die berufliche Bildung verbessert werden kann, nicht zuletzt deshalb, weil gerade in den Ländern, die ein solches Ausbildungssystem unterhalten, der zivilisatorische Gewinn besonders hoch ist. Wenn die Gesellschaft sich entscheidet, einen Unterricht zu etablieren, der zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung unterscheidet, ist sie gut beraten, wenn sie die Praxiseinrichtungen der Universität angliedert, damit sie von der Grundlagenforschung profitieren können. Worauf es Mill aber vor allem ankommt, ist, dass die Art und Weise, wie Menschen ihre Berufe ausüben, weniger dadurch bestimmt wird, wie sie ausgebildet werden, als vielmehr dadurch, welche Erziehung sie im Allgemeinen genossen haben – »in welchem Umfang das allgemeine Erziehungssystem den Verstand und das Gewissen in ihnen entwickelt hat« 51 . Nicht die Ausbildung entscheidet, ob jemand seinen Beruf als Broterwerb oder als Quelle neuer Erkenntnis betrachtet, ob jemand sein Handeln an ethischen Prinzipien ausrichtet oder nicht. Es ist die geistige und charakterliche Tiefengrammatik, die bestimmt, welche Einstellung jemand im Hinblick auf die Ausübung seines Berufs hat. Die Universität soll nicht das Wissen vermitteln, das nötig ist, um den Beruf auszuüben, sie soll ein Wissen vermitteln, das als Bildung die Anwendung beruflicher Kenntnisse leitet. »Erziehung macht einen Mann zu einem intelligenten Schuhmacher, wenn dies seine Berufstätigkeit ist, aber nicht dadurch, dass sie ihn Schuhe machen lehrt; sie erzielt dies durch die Übung des Geistes, welcher sie ihm gibt, und durch die Gewohnheiten, welche sie einprägt.« 52 Die universitäre Erziehung hört dort auf, wo das Wissen aufhört, allgemeiner Natur zu sein, wo es sich in spezielle Zweige aufspaltet und beginnt, den Geist in besonderer Weise anzusprechen. Während so die obere Grenze des universitären Unterrichts leicht bestimmt werden kann, stellt sich folglich die Frage, wo die untere 50 51 52

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Grenze der Wissensvermittlung gezogen werden muss. Was darf die Universität an Bildung von ihren Erstsemestern voraussetzen, gehört der Elementarunterricht zum Aufgabenbereich universitärer Einrichtungen oder ist die Vermittlung von Grundlagenkenntnissen Aufgabe der Schulen? Es ist nicht ungewöhnlich anzunehmen, dass eine Universität sich darauf beschränken sollte, den Geist im höheren Denken zu trainieren, während der Schule die Aufgabe zukommt, die nötigen Grundlagen zu vermitteln: »Eine Universität hat nichts mit Elementarunterricht zu tun; es wird vorausgesetzt, dass ein Universitätshörer denselben bereits empfangen hat, bevor er dorthin geht.« 53 Die Vertreter dieser Ansicht sind der Meinung, dass es nicht zu den Aufgaben höherer Bildungsanstalten gehört, sich den Forschungsgegenständen auf einer grundlegenden Ebene zu nähern. Die Hochschule verfolgt in ihren Augen das Ziel, das bereits vorhandene Wissen in einen größeren Zusammenhang zu stellen, um zu erkennen, dass alle Teile desselben miteinander verbunden sind, dass dem zivilisatorischen Fortschritt nicht gedient ist, wenn man die Fachrichtungen gesondert voneinander betrachtet; auch soll den Studierenden beigebracht werden, mit welchen Methoden sie neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewinnen können. Während das Individuum in der Schule mit verschiedenen Teilen des Wissens auf einer elementaren Stufe in Kontakt kommt, erfährt es an der Universität eine auf Ganzheit gerichtete Bildung. Im Gegensatz zum einfachen Schulunterricht beinhaltet die universitäre Ausbildung ein »philosophisches Studium der wissenschaftlichen Methoden« 54 , mit deren Hilfe das erkenntnisschwangere Wissen auf seine Belastbarkeit und seinen zivilisatorischen Nutzen hin befragt werden kann. Obwohl Einigkeit darüber besteht, dass die Vermittlung von Elementarwissen den Schulen überlassen werden sollte, stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob es im Land überhaupt Schulen gibt, die diese Aufgabe übernehmen können. Mills ernüchternde Antwort lautet: »Seit die Wissenschaft ihren modernen Charakter angenommen hat, nirgends; und auf den Britischen Inseln sogar weniger als anderswo« 55 . Daher ist die Vorstellung, dass Studierende grundlegendes Wissen besitzen, bevor sie die Universität besuchen, 53 54 55

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eher ein Ideal als die Realität. Jede Universität muss deshalb nicht nur einen akademischen, sondern auch einen einfachen Bildungsauftrag erfüllen, weil keine Schule da ist, die den Elementarunterricht übernehmen könnte. Dies gilt sowohl für schottische als auch für englische Hochschulen. Der einzige Unterschied ist, dass Schottland seinen Bildungsauftrag ernst nimmt, während England die geistigen Defizite seiner Studenten nicht ausgleicht. »Die Jugend kommt unwissend auf die schottischen Universitäten und wird dort belehrt. Die Mehrzahl derer, welche eine englische Universität beziehen, kommt dahin noch unwissender und geht unwissend wieder ab.« 56 Dass die schottischen Universitäten in der Hervorbringung hervorragender Denker erfolgreicher sind als die englischen, liegt nach Mill vor allem daran, dass sie neben den klassischen Sprachen und der Mathematik auch Naturwissenschaft und die moralische Wissenschaft in ihren Lehrplan aufgenommen haben. Um einen Einblick in die geistige Ausbildung an den schottischen Universitäten zu geben, macht Mill sich daran, einige der dort gelehrten Fächer sowie ihren Einfluss auf den menschlichen Fortschritt zu diskutieren. Er beginnt seine Analyse mit einigen Bemerkungen über den Streit, der zwischen den Reformern und den Konservativen herrscht und die bildungspolitische Debatte seit einiger Zeit dominiert; die Rede ist von der Frage, ob das universitäre Studium literarisch oder wissenschaftlich sein soll. Was Mill angeht, so möchte er sich in diesem Punkt nicht für die eine oder für die andere Seite entscheiden. Er weist vielmehr darauf hin, dass es Sinn macht, im Rahmen allgemeiner Erziehung beide Ausrichtungen gleichermaßen zu berücksichtigen. »Wenn man auch weiter nichts sagen könnte, als dass die wissenschaftliche Bildung uns denken lehrt und die literarische Bildung, unsere Gedanken auszudrücken – bedürfen wir da nicht beider?« 57 Mill hat wenig Verständnis für die Auffassung der Reformer, die ihre Argumentation darauf aufbauen, dass die Wissenschaft im gegenwärtigen Lehrplan unterrepräsentiert ist. In den Augen der Erneuerer ist es nutzlos, sich mit Griechisch und Latein zu beschäftigen, zumal diese Sprachen bekanntermaßen tot sind und nur wenig zum menschlichen Fortschritt beizutragen haben. Die Kritik der Reformer wird von Mill zwar nicht völlig zurückgewiesen; ihm wäre es aber lieber, die Kritiker würden ihre Angriffe auf die »schändliche Ineffi56 57

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zienz der Schulen« 58 richten; denn bevor man darüber entscheidet, welche Inhalte an einer Schule oder Universität gelehrt werden sollten, sollte man sich zunächst darüber verständigen, worin ein guter Unterricht eigentlich besteht. Dass wissenschaftlicher Unterricht im Lehrplan nur am Rande vorkommt, während Griechisch und Latein den Großteil der Zeit in Anspruch nehmen, liegt für Mill daran, dass die Lernmethoden verkehrt sind. Für ihn besteht kein Zweifel daran, dass, wenn die Unterrichtsmethoden der menschlichen Natur angepasst würden, genügend Zeit wäre, um klassische Sprachen und Wissenschaft zu lehren. Der Irrtum des gegenwärtigen Bildungssystems besteht darin zu glauben, dass man die besten Lernmethoden bereits gefunden hat und den Unterricht nicht mehr produktiver gestalten kann. Es ist evident, dass man vor dem Hintergrund dieser Annahme zu der Überzeugung gelangt, dass man zwischen Wissenschaft und Sprachen wählen muss, da für beide Dinge offenbar kein Platz ist. Durch eine solche Auffassung wird laut Mill nicht nur der Erziehungsbegriff verfälscht, auch die Aussichten auf den Fortschritt des Menschengeschlechts werden auf diese Weise eingetrübt, insbesondere wenn man davon ausgeht, dass das Wissen in Zukunft weiter anwachsen wird. Wie soll der Mensch mit der technischen, kulturellen und ökonomischen Revolution Schritt halten, wenn das Bildungssystem die Vermittlung von Erkenntnissen auf einige wenige Dinge beschränkt? Abgesehen davon hat die Einseitigkeit des Unterrichts negative Folgen für die geistige Entwicklung: »Die Erfahrung beweist, dass es kein Studium, keine Art der Tätigkeit gibt, die, wenn sie unter Ausschuss aller übrigen geübt wird, den menschlichen Geist nicht beschränkt und verkehrt macht« 59 . Dies ist umso bedauerlicher, als dass der Mensch eine höhere Aneignungsfähigkeit besitzt, als allgemein angenommen wird. Sein geistiges Vermögen erschöpft sich keineswegs in der Aneignung einzelner Erkenntnisse; seine intellektuelle Stärke liegt vielmehr darin, spezielle Wahrheiten »mit der einer allgemeinen Kenntnis vieler Dinge zu verbinden« 60 . Das Bildungssystem sollte sich den Anlagen der menschlichen Natur anpassen und nicht, wie es jetzt der Fall ist, ihr entgegenarbeiten. Die Vervollkommnung des Men58 59 60

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schengeschlechts erreicht man nicht dadurch, dass man die Individuen mit Spezialwissen ausstattet, während man sie über allgemeine Wahrheiten aus anderen Gebieten des Lebens in Unkenntnis lässt. Die Kunst besteht eher darin, ihnen allgemeine Kenntnisse über viele verschiedene Dinge zu vermitteln und sie zugleich mit besonderen Kenntnissen über einige wenige Dinge zu versorgen. Auf diese Weise wird das individuelle Spezialwissen in den Kontext allgemeiner Lebenswahrheiten eingebettet. Was das Lernen betrifft, so sollte der Mensch sich also nicht allein mit dem Gegenstand beschäftigen, der sein Tagwerk bestimmt, er sollte sich auch mit anderen Dingen auseinandersetzen und über sie ebenfalls Einsichten gewinnen, obwohl diese niemals von gleicher Qualität und Tiefe sein werden, wie dies bei dem vertrauten Gegenstand der Fall ist. Nun möchte Mill diese Haltung aber nicht als Aufforderung verstanden wissen, alles Wissen in die Lehrpläne aufzunehmen, was als allgemein zu betrachten ist und im Gegensatz zum Berufswissen steht. Eine solche Sichtweise wäre nicht nur naiv, sondern auch unangebracht, da es eine ganze Reihe von Dingen gibt, die man besser außerhalb der Schule lernen kann und vielleicht auch sollte. Daher ist Mill auch nicht mit den geforderten Reformen einverstanden, nach denen neueren Sprachen eine größere Bedeutung in den Schulen und Universitäten eingeräumt werden soll. Diese Auffassung vertritt er nicht, weil er von ihrer Nutzlosigkeit überzeugt ist, sondern deshalb, weil er der Ansicht ist, dass Sprachen besser durch einen Auslandsaufenthalt gelernt werden können. Was in vielen Jahren Schulunterricht vermittelt wird, kann oft in nur wenigen Monaten gelernt werden, wenn man im direkten kommunikativen Austausch mit anderen Nationen steht. Um das Erlernen neuerer Sprachen zu fördern, sollten an den Universitäten alte Sprachen gelehrt werden; durch die Vermittlung von Griechisch und Latein wird es den Studierenden leichter fallen, im Rahmen einer Studienreise eine oder mehrere kontinentale Sprachen zu lernen. Überdies vertritt Mill die bildungspolitische Ansicht, dass an Schulen weder Geographie noch Geschichte unterrichtet werden sollte; nicht, weil er diese Fächer im Hinblick auf die Entwicklung des menschlichen Geistes für unbedeutend hält, sondern weil er der Ansicht ist, dass diese beiden Disziplinen am leichtesten zu verstehen sind, weshalb die Vermittlung von Wissen am besten durch das private Lesen geeigneter Bücher geschehen sollte. Auch fordern Geographie und Geschichte vor allem das Gedächtnis und weniger den 139 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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Verstand, so dass eine didaktische Anleitung zum Zwecke der Verständnisförderung nicht erforderlich ist. Allein bei den Kindern der arbeitenden Klassen sollte aufgrund der finanziellen Lage der Eltern eine Ausnahme gemacht werden, da sie, nach Beendigung der Schule, nur begrenzte Aussichten haben, sich Bücher zu verschaffen. »Die einzigen Sprachen und die einzige Literatur, welchen ich einen Platz in dem regelmäßigen Lehrplan erlauben würde, sind also die der Griechen und der Römer; und diesen möchte ich die Stellung bewahren, welche sie gegenwärtig einnehmen.« 61 Aus der Kenntnis neuer Sprachen ergibt sich eine Zweckmäßigkeit, die nicht nur einen positiven Effekt auf den menschlichen Verstand hat, sondern auch am zivilisatorischen Fortschritt beteiligt ist. Unter den Menschen gibt es die Neigung, Worte und Dinge gleichzusetzen. Damit möchte Mill sagen, dass wir an den alltäglichen Gebrauch der Sprache in einer Weise gewöhnt sind, dass wir nicht auf die Idee kommen zu fragen, ob die Worte, die wir benutzen, in uns und im Gegenüber auch eine klare Vorstellung von dem erzeugen, was wir tatsächlich meinen. »Es ist eine fehlerhafte Gewohnheit des Menschen, Vertrautheit für genaue Kenntnis zu nehmen.« 62 Das Lernen neuer Sprachen kann dabei helfen, die semantischen Undeutlichkeiten aufzudecken, nämlich immer dann, wenn ein Wort aus dem vertrauten Wortschatz in eine andere Sprache übersetzt werden muss. Gleichzeitig ist mit dem Erlernen einer neuen Sprache die erkenntnistheoretische Einsicht verbunden, dass Worte und Dinge nicht identisch sind; Begriffe bezeichnen zwar Dinge, sie haben aber nicht denselben ontologischen Status: »Für den weisen Mann vertritt ein Wort die Sache, welche es bezeichnet; für den Toren ist es die Sache selbst.« 63 Der Erwerb fremder Sprachen ist aber noch aus einem anderen Grund wichtig. Ohne die Sprache fremder Kulturen zu kennen, kann keine Erkenntnis darüber gewonnen werden, wie andere Völker denken, ihre Gefühle beschaffen sind und welchen Charaktertypus sie besitzen. Wenn ein Heranwachsender niemals seine Familie und seinen Heimatort verlassen hat, zu keiner Zeit mit fremden Völkern in Kontakt gekommen ist und auch sonst nicht das Ziel verfolgt hat, eine fremde Sprache zu lernen, dann werden ihm die gewohnten Ansich61 62 63

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ten und Meinungen seiner sozialen Umgebung wie unumstößliche Gewissheiten vorkommen, deren Wahrheitsgehalt er nie in Frage stellen wird. »Was die Anschauungen und Gewohnheiten einer einzelnen Familie für einen Knaben sind, der keinen Verkehr außerhalb derselben gehabt hat, das sind die Ansichten und Gewohnheiten des eigenen Landes für den, welcher kein anderes kennt.« 64 Auch aus Gründen des zivilisatorischen Fortschritts macht es Sinn, sich mit anderen Kulturen zu beschäftigen. Denn um zu erkennen, dass von uns vertretene Auffassungen verbesserungswürdig sind, müssen wir sie zunächst in Beziehung zu uns fremden Meinungen setzen. Diese Art des Vergleichens geht weit über die bloße Feststellung hinaus, dass wir uns von anderen unterscheiden. Ohne ein Verständnis davon, warum fremde Völker so sind, wie sie sind, wird der Mensch die kulturelle Differenz nur nutzen, um nationale Eitelkeiten weiter zu festigen. Für Mill besteht der zivilisatorische Fortschritt vor allem darin, dass wir unsere Meinungen mit den äußeren Tatsachen in Einklang bringen; dafür aber ist wenig Hoffnung gegeben, solange wir die Gegebenheiten durch eine Brille sehen, die durch unsere eigenen Vorurteile eingefärbt ist. Das beste Mittel, um sich von vorgefassten Überzeugungen zu befreien, besteht darin, die Dinge, wann immer es möglich ist, aus einer anderen Perspektive zu betrachten, was wiederum nur denkbar ist, wenn man bereits mit Menschen aus anderen Kulturkreisen in Kontakt gekommen ist. Die Perspektivenübernahme bildet eine wichtige Voraussetzung für das Erkennen kultureller Verschiedenheit, auf deren Grundlage ein Vergleich möglich wird, der im besten Fall dazu führt, dass der erkannte Mangel zugunsten menschlicher Verbesserung beseitigt wird. Es ist offenkundig, dass dieser die Zivilisation befördernde Vorgang durch die Kenntnis fremder Sprachen unterstützt wird. Obwohl Mill in dem Erlernen moderner Sprachen einen überaus wichtigen Beitrag zur Förderung der menschlichen Erkenntnis und des zivilisatorischen Fortschritts sieht, vertritt er die Ansicht, dass den alten Sprachen im Hinblick auf die Kultivierung des Charakters und der Verbesserung des Menschengeschlechts ein noch höherer Stellenwert zukommt. Es sind vor allem die Schriften der griechischen Philosophen, die durch die Tiefe ihres politischen und metaphysischen Denkens die abendländische Kultur bis in die Gegenwart hinein geprägt haben. Wo immer es möglich ist, sollten sie daher 64

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gelesen werden, wobei Mill wenig davon hält, die griechischen Einsichten mit Hilfe von Lehrbüchern oder Übersetzungen zu studieren. »Wir müssen bis zu einem gewissen Grad fähig sein, in griechischer Sprache zu denken, wenn wir uns vorstellen wollen, wie ein Grieche gedacht hat, und dies nicht nur in dem abstrakten Gebiet der Metaphysik, sondern auch in Dingen des politischen, religiösen und selbst des häuslichen Lebens.« 65 Ein weiterer Zweig, den Mill für unentbehrlich hält, wenn es darum geht, das menschliche Erkenntnisreservoir anzureichern, ist die Geschichtswissenschaft. Sie ist mit dem Studium griechischer Texte eng verbunden, weshalb er auch hier empfiehlt, keine Schriften zweiter Ordnung zu verwenden, sondern auf Originalquellen zurückzugreifen, wenn diese vorhanden sind. Ein Kritiker könnte nun die Frage stellen, warum die Aufmerksamkeit nicht in gleicher Weise auch auf die moderne Geschichte gerichtet wird. Anders formuliert: Warum stehen die alten Quellen hinsichtlich der Kultivierung des menschlichen Geistes derart im Vordergrund? Was die Beantwortung dieser Frage angeht, lässt Mill keinen Zweifel daran, dass das Studium der modernen Geschichte für ihn ebenso von Bedeutung ist wie das Studium der alten Geschichte. Gleichzeitig macht er deutlich, dass auch dieses Studium die Vertrautheit mit alten Sprachen voraussetzt, da viele historische Dokumente noch immer in lateinischer Sprache verfasst sind. Der von Mill identifizierte Nutzen beim Lesen griechischer und lateinischer Schriften liegt darin, dass beim Studieren der Originaltexte zugleich historisches Wissen vermittelt wird. Es sind Kenntnisse aus erster Hand; es ist kein Wissen, das durch einen anderen Geist modifiziert worden ist und sich nun in Form eines Lehrbuches oder einer Übersetzung der Öffentlichkeit präsentiert. Die alten Sprachen bieten aber noch einen weiteren Vorteil. Im Gegensatz zu den modernen Sprachen zeichnen sie sich durch eine überaus differenzierte Grammatik aus, eine Eigenschaft, die gerade im Hinblick auf die logische Darstellung begrifflicher Strukturen von Nutzen ist. »Die Grundsätze und Regeln der Grammatik sind die Mittel, durch welche die Formen der Sprache mit den allgemeinen Formen des Denkens in Übereinstimmung gebracht werden.« 66 Für Mill steht fest, dass nicht nur die alten Sprachen, sondern 65 66

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auch die Literatur selbst eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die freiheitliche Erziehung des Menschengeschlechts hat. Zwar hat der Fortschritt der Wissenschaft die Erkenntnisse der Alten bereits in sich aufgenommen und mit modernen Wahrheiten in Verbindung gebracht. Was aber immer noch einen nicht zu ersetzenden Wert besitzt, sind die bewährten Lebensweisheiten der griechischen Kultur. Hierzu zählen die Schriften der großen Philosophen genauso wie die Reden berühmter Politiker und die Komödien und Dramen begabter Dichter; diese Klassiker sind »eine Fundgrube der besten Gedanken, der alten Welt über alle mit der Erziehung verknüpften Gegenstände« 67 . Im Zentrum des Ansehens steht die Dialektik, die als wissenschaftliche Methode vor allem bei Gegenständen genutzt wird, die sich einer Beobachtung entziehen und deren Wahrheit nicht durch Experimente ermittelt werden kann. Das Studium der alten Schriften ist für die freie Erziehung des Individuums auch deshalb von Bedeutung, weil die Griechen im Hinblick auf die künstlerische Ausdrucksweise bis heute unübertroffen sind. »In Prosa und in Poesie, in der epischen, lyrischen oder dramatischen, wie in der historischen, philosophischen und rednerischen Kunst ist die Zinne, auf der sie standen, eine gleich hervorragende.« 68 Dieses Lob bezieht sich allerdings nur auf die Handhabung und nicht auf das Material selbst. Speziell bei der Poesie lässt Mill keinen Zweifel daran aufkommen, dass er die moderne Dichtung höher schätzt als die der alten Griechen. Die Gefühle des neuzeitlichen Menschen, so sein historischer Befund, sind vielfältiger und differenzierter und gehen mit einer Art von aufgeklärtem Selbstbewusstsein einher, das die antiken Völker in dieser Weise nicht besitzen. Der Wert des griechischen Erbes liegt in der Ausdrucksform, mit der sie dem Gedanken Gegenwart verleihen. Ihre Diktion ist dem modernen Menschen ein Beispiel expressiver Vollendung. Obwohl das zeitgemäße Individuum das Ideal dichterischer Vollkommenheit unter den Bedingungen arbeitszeitlicher Verdichtung nicht mehr erreichen kann, seine Verfolgung unter dem Einfluss kapitalistischer Strebungen geradezu ineffizient wird, dient das antike Bild sprachlicher Meisterschaft noch immer als Anreiz dafür, seine geistigen und intellektuellen Fähigkeiten wenigstens in diese Richtung zu entwickeln, auch wenn das Ziel unerreichbar ist. 67 68

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Bildungspolitische Ansichten oder der Triumph des Wissens

Das stilistische Geschick der griechischen und römischen Schriftsteller besteht darin, den Gedanken klar und deutlich auszudrücken. Auf diese Weise werden semantische Ambiguitäten eliminiert und der Gedanke in seiner erkenntnistheoretischen Struktur offengelegt, in seiner Bedeutung erfasst. Neben der Erkenntnis, sich um Klarheit des Ausdrucks zu bemühen, verweist Mill auf die zweite Einsicht, die sich aus den Werken der antiken Autoren ableiten lässt; die Rede ist von der Empfehlung, in seinen Ausführungen nicht allzu detailliert zu sein. »Die Alten waren kurz, infolge der außerordentlichen Mühe, welche sie auf ihre Kompositionen verwandten; fast alle Modernen sind weitschweifig, weil sie sich diese Mühe nicht geben.« 69 Es sind diese beiden Gründe, warum Mill sich dafür ausspricht, die alten Sprachen auch weiterhin im Lehrplan der höheren Bildungsanstalten zu verankern. Aus seiner Sicht gibt es kein besseres Mittel liberaler Erziehung, um die Jugend in der Vollkommenheit ihres Denkens zu unterstützen. Die allgemeine Erziehung darf aber nicht allein aus alten Sprachen bestehen; dies wäre nicht nur töricht, sondern auch Zeitverschwendung, da nicht jeder Philologe werden möchte und noch weniger sich zum Dichter berufen fühlt. Der Unterricht der antiken Sprachen findet seine Grenze dort, wo die individuelle Fähigkeit erworben ist, die großen Werke der Vergangenheit in Zukunft selbst zu lesen. Es macht keinen Sinn, die kostbare Zeit der geistigen Ausbildung mit dem Pauken altertümlicher Gedichte zu verschwenden, während die kindliche Neugier der Persönlichkeitsbildung und dem zivilisatorischen Fortschritt nicht zur Verfügung steht. Auch wenn das Lernen altertümlicher Sprachen ein unverzichtbarer Teil des Unterrichts ist, es das Individuum in die Lage versetzt, sich mit der expressiven Vollkommenheit griechischer und römischer Texte zu beschäftigen, lässt Mill keinen Zweifel daran, dass es vor allem das Studium der Wissenschaften ist, das dem Menschen das nötige Wissen vermittelt, um die Gesetze zu verstehen, die nicht nur sein Leben, sondern auch die ihn umgebene Umwelt bestimmen. Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Erziehung, den Heranwachsenden mit den Gesetzmäßigkeiten der physikalischen Tatsachen vertraut zu machen, damit dieser ein grundlegendes Verständnis für die kausalen Zusammenhänge alltäglicher Gegebenheiten entwickelt. Die den Menschen umgebende Welt darf nicht unverständlich bleiben. Die Erziehung hat die Aufgabe, Licht in das Dunkel 69

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der natürlichen Phänomene zu bringen, um die Erkenntnisse der Naturwissenschaften zu mehren und den zivilisatorischen Fortschritt voranzubringen. Viel wichtiger als die Aneignung von physikalischem Wissen ist aber der wissenschaftliche Unterricht selbst, denn dabei wird der menschliche Verstand in einer Weise geschult, die es ihm erlaubt, Urteile zu bilden und den erkenntnistheoretischen Nutzen einzuschätzen. Für eine Schulung des Denkens setzt Mill sich ein, weil er der Überzeugung ist, dass das menschliche Sein in fast allen Lebenslagen damit beschäftigt ist herauszufinden, »was an dieser oder jener Sache wirklich wahr ist« 70 . Um aber zu ermitteln, was wirklich wahr ist, ist das Individuum darauf angewiesen, sich Rechenschaft über das abzulegen, was sein Denken ihm präsentiert. Diese Haltung bezieht sich nicht allein auf die wissenschaftliche Forschung, sie gilt auch für das alltägliche Leben, insbesondere, wenn es darum geht, divergierende Meinungen gegeneinander abzuwägen oder sich für oder gegen eine Sache zu entscheiden. Obwohl die Menschen nicht alle dieselbe Wahrheit suchen, ihr Erkenntnishunger individuell verschieden ist und von persönlichen Präferenzen abhängt, gibt es im Wesentlichen nur zwei Wege, auf denen Wahrheit gefunden werden kann: durch »Beobachtung und logisches Denken, wobei unter Beobachtung selbstverständlich auch das Experiment eingeschlossen ist« 71 . Es sind die überaus erfolgreichen Verfahren des Schließens und des Beobachtens, der die Naturwissenschaft ihren Erfolg verdankt. Während die Mathematik das Schließen in Vollendung praktiziert, findet die Experimentalwissenschaft ihre Veredelung in der Beobachtung. Doch warum ist die Naturwissenschaft so erfolgreich, warum möchte Mill ihre Methoden zum Gegenstand des erzieherischen Unterrichts machen? Die Antwort findet sich in der Exaktheit der Ergebnisse, die durch die Anwendung der Verfahren erzeugt wird. Sobald wir das Schließen und das Beobachten unter der Berücksichtigung wissenschaftlicher Standards anwenden, können wir von einer gewissen Exaktheit der Befunde ausgehen, besonders, weil wir hier die Möglichkeit haben, unsere Schlüsse einer Verifikation zu unterziehen. Mills Forderung, den Naturwissenschaften einen festen Platz im Lehrplan der höheren Bildungsanstalten einzuräumen, gründet 70 71

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sich auf der Überzeugung, dass der menschliche Verstand seine volle Kraft nur entfaltet, wenn er mit der Fähigkeit ausgestattet wird zu urteilen; dies gilt speziell bei der Beurteilung von Aussagen, deren Wahrheitsgehalt durch die Verifikation noch nicht gesichert ist, der Erkenntnisgewinn noch zur Disposition steht. Es ist Aufgabe der Erziehung, die natürlichen Defizite der menschlichen Urteilsfähigkeit auszugleichen, indem sie den Verstand im Umgang mit naturwissenschaftlichen Methoden schult. Hierfür sind das Beispiel, die Regel und die entsprechende Praxis unentbehrliche Hilfsmittel. Wenn es um die Frage geht, welche Wissenschaft sich hinsichtlich des logischen Schlussfolgerns besonders auszeichnet, muss die Antwort nach Mill lauten: die Mathematik, auch wenn die deduktive Methode lange unter dem Umstand zu leiden hatte, dass die logischen Folgerungen sich des Wahrheitsnachweises in der Regel entziehen. Erst durch die Anwendung der Mathematik konnte die Geringschätzung gegenüber der Deduktion überwunden werden, da sich gezeigt hat, dass die spekulativen Resultate der mathematischen Operationen die Tatsachen realitätsgerecht abbilden. »Mathematik, die reine wie die angewandte, ist immer noch das maßgebende Beispiel davon, was durch Schließen geleistet werden kann.« 72 Anders als die Mathematik, die uns die Wahrheit durch logisches Schließen offenbart, zeigen uns die nichtmathematischen Wissenschaften wie die Chemie einen anderen Weg der Wahrheitsfindung: die experimentelle Beobachtung. Zu wissen, wie ein naturwissenschaftliches Experiment durchgeführt wird, gehört deshalb zur höheren Bildung, weil es uns den Weg der gewohnten Erkenntnisgewinnung zeigt: die Folgerung aus Erfahrung. Wenn wir beispielsweise eine Tatsache erblicken und kurze Zeit später eine zweite Tatsache, gehen wir oft mit einer naiven Selbstverständlichkeit davon aus, dass diese beiden Phänomene in einer kausalen Verbindung miteinander stehen, dass die eine die Ursache der anderen ist. Diejenigen aber, die ein naturwissenschaftliches Studium absolviert haben, wissen, dass eine auf Erfahrung basierende Folgerung fehlerhaft sein kann. Wer im Experimentieren geübt ist, weiß, dass es eine Reihe von Begleitumständen gibt, die beachtet werden müssen, dass Wirkungen in der Regel nicht von einer einzigen, sondern von vielen Ursachen erzeugt werden und dass Einflussgrößen, die das Experiment stören, vom Messergebnis abgezogen werden müssen, um belastbare Daten zu 72

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erhalten. Die Wirklichkeit der Tatsachen ist in der Regel komplexer als der alltägliche Blick erkennt. Um wirkliches Erfahrungswissen zu generieren, braucht es mehr als Alltagswissen, es braucht Wissen darüber, wie natürliche Prozesse ablaufen und wie man sie möglichst realitätsgerecht im Experiment abbildet. Wenn es darum geht, welche der Methoden im Hinblick auf die Erkenntnisgewinnung die bessere ist, lässt sich sagen, dass Mill sich prinzipiell für eine Kombination von beiden ausspricht, weil es ein erkenntnistheoretischer Gewinn ist, wenn deduktive Schlüsse sich verifizieren lassen. Indem das Individuum sich mit dem methodischen Rüstzeug der Mathematik und Experimentalwissenschaft vertraut macht, schult es nicht nur seinen Verstand, sondern schafft zugleich auch die Voraussetzung, um den zivilisatorischen Fortschritt weiter voranzutreiben. Am besten gelingt die Schulung des Verstandes durch die Beschäftigung mit Beispielen aus den jeweiligen Fächern. Allerdings reichen Beispiele nicht aus, um die geistigen Fertigkeiten vollends auszubilden. Neben dem mathematischen und experimentellen Wissen wird ein formallogisches Wissen benötigt, ein Wissen, welches sich durch die Regeln der Logik definiert. Die Wissenschaft der Logik lässt sich in Deduktion und Induktion einteilen. Während die Deduktion ein Ableiten auf der Grundlage gegebener Prämissen ist, handelt es sich bei der Induktion um ein Folgern aus Beobachtung. Bei der Deduktion wird vom Allgemeinen auf das Besondere geschlossen, bei der Induktion vom Einzelfall auf die allgemeine Erkenntnis. Die Logik ist deshalb von Bedeutung, weil das Denken durch sie an Klarheit gewinnt: »Die Logik ist die große Zerteilerin des nebligen und verworrenen Denkens; sie zerstreut die Wolken, die uns unsere eigene Ungewissheit verbergen und uns glauben machen, dass wir ein Ding verstehen, während wir es nicht verstehen.« 73 Ein Kritiker könnte hier nun einwenden, dass das Denken nicht durch die Anwendung von Regeln, sondern durch die Praxis gelernt wird. Dieser Einwand ist insofern richtig, als dass die praktische Übung im Denken ein wichtiges Hilfsmittel ist, wenn es darum geht, die intellektuellen Fähigkeiten zu kultivieren. Zugleich gibt es aber auch Regeln, die den Ablauf festlegen, wie beispielsweise beim Holzsägen, das zwar durch Übung gelernt, aber nur beherrscht wird, wenn die dazugehörigen Anwendungsregeln bekannt sind. Die Logik ist das 73

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Mittel, um die menschliche Urteilsfähigkeit zu schulen, sie für das deduktive und induktive Geschäft der Wissenschaft vorzubereiten. Für Mill besteht kein Zweifel daran, dass durch das Lernen des vernünftigen Schließens die Menge an falschen Beweisführungen in der Forschung deutlich reduziert werden kann. »Wie die eine Logik uns gegen falsche Deduktion schützt, so die andere gegen falsche Generalisierungen, die ein noch viel allgemeinerer Irrtum sind.« 74 Eine weitere Wissenschaft ist ebenfalls von Bedeutung, auch wenn diese noch am Anfang steht: die Physiologie, »die Wissenschaft von den Gesetzen des organischen und animalischen Lebens und insbesondere vom Bau und den Funktionen des menschlichen Körpers« 75 . Die Physiologie liefert uns nicht nur neue Begrifflichkeiten, sondern sie gibt uns auch eine Vorstellung davon, was mit Evolution gemeint ist. Sie tut dies, indem sie uns beispielsweise das Wachstum einer Pflanze erklärt, das seinen Anfang in einem Samen nimmt und dann zur Vervollkommnung voranschreitet. Mill geht es bei der Auseinandersetzung mit der Physiologie vor allem darum, die Gesetzmäßigkeiten dieser neuen Wissenschaft aufzugreifen und sie auf ihre soziologische und historische Zweckdienlichkeit hin zu befragen. Musterhaft stellt sich die Frage, ob der historische Verlauf der menschlichen Gesellschaft nicht analog zum vegetativen Wachstum gedacht werden kann: »Zunahme der Funktionsfähigkeit infolge einer Ausdehnung und Differenzierung der Struktur durch Kräfte, die von innen heraus wirken.« 76 Die Physiologie unterhält eine enge Beziehung zur Psychologie, denn als Wissenschaft vom Aufbau des menschlichen Körpers hat sie ein fundamentales Interesse an der Funktionsweise der Nerven und des Gehirns. Die Psychologie als Wissenschaft von den Phänomenen des Geistes profitiert von diesen Forschungen; sie kann die Erkenntnisse für die Bildung neuer Theorien nutzen und so ihre Vorhersagen im Hinblick auf das menschliche Verhalten verbessern. Wenn es um die Frage geht, ob die Psychologie als Fach an den höheren Bildungsanstalten gelehrt werden sollte, weist Mill darauf hin, dass sich darauf keine einfache Antwort geben lässt. Denn auf der einen Seite beruhen die Erkenntnisse der Psychologie auf Experimenten, mit deren Hilfe die Gesetze der Gedankenassoziation ermittelt werden können. So74 75 76

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weit die Psychologie sich mit der Ermittlung dieser Gesetzmäßigkeiten beschäftigt, kann sie wie die Chemie als sichere Wissenschaft betrachtet werden, deren Zugehörigkeit zur akademischen Erziehung nicht zur Disposition steht. Auf der anderen Seite verändert sich die Situation, wenn wir uns mit Fragen beschäftigen, die über die Assoziationspsychologie hinausgehen; dann betreten wir ein Gebiet, auf dem noch viele Fragen unbeantwortet sind: Inwieweit sind die Gesetze der Assoziation an den höheren Tätigkeiten des Geistes beteiligt? Ist der menschliche Wille frei oder durch eine Reihe von Ursachen bedingt? Existieren Raum und Zeit oder sind sie das Produkt zusammengesetzter Vorstellungen des Geistes? Diese Fragen gehen über das Gebiet der Assoziationspsychologie hinaus; sie betreffen Probleme, die zum Bereich der Metaphysik gehören. Obwohl wir es hier nicht mit gesicherten Wahrheiten zu tun haben, gehört es laut Mill zur Allgemeinbildung, solche von der Wissenschaft noch nicht beantworteten Fragen zu kennen und zu wissen, welche Argumente für die eine Seite und welche für die andere Seite sprechen. »Es ist belehrend, ebenso wohl die Fehltritte des menschlichen Verstandes zu kennen als seine Erfolge, ebenso wohl seine unvollkommenen wie seine vollkommenen Leistungen, sich der offenen Fragen ebenso bewusst zu sein wie der bereits endgültig gelösten.« 77 Nachdem Mill einen Überblick über einige Wissenschaften und deren Aufgaben im Rahmen akademischer Erziehung gegeben hat, erörtert er die Inhalte anderer Disziplinen, die ebenfalls dem Ziel geistiger Erziehung, der Übung im Denken in ethischen und politischen Fragen, dienen. Allerdings handelt es sich bei diesen Disziplinen nicht um etablierte Wissenschaften. Ethik und Politik stehen noch am Anfang ihrer Universitätskarriere, die Erkenntnisse reichen noch nicht aus, um von der Forschungsgemeinde als Wissenschaft anerkannt zu werden. Die Politik verfügt über keine gesicherten Generalisierungen, auf denen sie ihre Forschung aufbauen könnte. Der wissenschaftlichen Erziehung kommt daher die Aufgabe zu, die Studierenden mit den wenigen Konzepten vertraut zu machen, so dass sie mit Hilfe ihres Verstandes fähig sind, die Wahrheit im jeweils vorliegenden Einzelfall zu erkennen. Neben der Regierungslehre sollte das Studium der Politik auch eine Analyse der Entstehung der Zivilisation beinhalten, in deren Zentrum der Vergleich der verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung steht. Das Ziel des Stu77

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diums der Geschichte besteht nicht nur darin, eine Vorstellung von den unterschiedlichen Zeitaltern zu bekommen, es geht auch darum, in der Geschichte die Gesetze zu ermitteln, die für den zivilisatorischen Fortschritt verantwortlich sind. Geschichte sollte nicht als Erzählung zufälliger Begebenheiten verstanden werden, sondern als Ergebnis von Kausalitätsverhältnissen, von Ursachen und Wirkungen; »diese Abwicklung einer großen epischen und dramatischen Handlung, die mit dem Glück oder Elend, der Erhöhung oder Erniedrigung der menschlichen Spezies enden wird, ist ein unaufhörlicher Kampf zwischen guten und bösen Mächten, in welchem jede unserer Handlungen, so unbedeutend wir auch sind, ein Kettenglied bildet« 78 . Es ist evident, dass in diesem Bild der Gedanke enthalten ist, dass der Mensch mit seinem Handeln einen Einfluss auf den Verlauf der Geschichte hat, dass er für die Entwicklung der Zivilisation verantwortlich ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, dass das neuzeitliche Individuum sich mit den Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Entwicklung vertraut macht. Mill spricht sich dafür aus, alle Zweige zu studieren, in denen bereits eine hinreichende Anzahl gesicherter Erkenntnisse vorliegt; dies gilt besonders für die politische Ökonomie, die für die Ermittlung der Gesetze zuständig ist, die an der Hervorbringung des gesellschaftlichen Wohlstands beteiligt sind. Dem Studium der politischen Ökonomie kommt im Kapitalismus eine Schlüsselrolle zu, da es den Menschen in die Lage versetzt, die gesellschaftliche Ordnung des Liberalismus zu verstehen. Mill ist nüchtern genug, um zu erkennen, dass die menschliche Natur nur dann verstanden werden kann, wenn neben den psychologischen und soziologischen Gesetzen auch die der politischen Ökonomie offengelegt werden, wenn die Prinzipien des privaten und gesellschaftlichen Strebens nach Reichtum einen festen Platz im Kanon höherer Bildung haben. Ein anderes akademisches Gebiet, welches Mill ebenfalls zum Studium empfiehlt und mit der politischen Ökonomie in unmittelbarer Beziehung steht, ist die Rechtswissenschaft. Das Rechtswesen beschäftigt sich nicht nur mit der Auslegung der Gesetze, es liefert auch einen Beitrag zur Ausgestaltung des sozialen Lebens, indem es die Handlungskoordinaten der alltäglichen Geschäftigkeit festlegt und jedem Bürger dabei hilft, seine Rechte gegenüber anderen durchzusetzen. Gesetze und Gerichtshöfe, die der freiheitlich-demokratischen Grundordnung dienen, sind wichtige Eckfeiler 78

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für die Etablierung einer kapitalistischen Marktwirtschaft. Der Erfolg des Liberalismus basiert im Wesentlichen auf der individuellen Interessenverfolgung, und diese ist durch das Rechtswesen und die Gerichtsbarkeit geschützt, solange die Rechte anderer Menschen nicht durch die private Nutzenmaximierung verletzt werden. Das rechtswissenschaftliche Studium sollte durch das internationale Recht ergänzt werden, wobei Mill bemerkt, dass das Völkerrecht kein Bestandteil des Rechts, sondern der Ethik ist, denn beim internationalen Recht geht es weniger um das Recht im eigentlichen Sinne als um »eine Reihe moralischer Regeln, welche von zivilisierten Staaten als verbindlich angenommen wurden« 79 . Zur Ethik gehört das internationale Recht deshalb, weil es sich hier um Vorschriften handelt, die nicht für immer festgelegt werden, sondern sich im Laufe der Geschichte verändern. Diese Regeln, die das Verhalten gegenüber anderen Staaten bestimmen, basieren auf Prinzipien der Menschlichkeit und gehören daher eher zur Ethik als zum Recht. Da jedes Volk in Beziehung zu anderen Nationen steht, fordert Mill, sich Kenntnisse darüber anzueignen, wie diese Verhältnisse rechtlich ausgestaltet sind; dies gilt speziell für Länder, die als Kolonialmacht auftreten, da bei ihnen das sensible Thema der Fremdherrschaft hinzukommt. Wenn die Universitäten jene Fachrichtungen zum Studium anbieten, haben sie bereits einen Teil ihrer Aufgabe erfüllt. Der andere Teil wissenschaftlicher Erziehung besteht darin, die Studierenden zu befähigen, ihrem Wissen gemäß zu handeln. Offenbar ist Mill davon überzeugt, dass es einen Zusammenhang zwischen theoretischer Einsicht und praktischem Handeln gibt. Sein Argument lautet, dass es kaum denkbar ist, dass Menschen trotz erkannter Wahrheit nach dem Schlechten streben. Oder mit anderen Worten: Einsicht bindet, von erkannten Wahrheiten kann man sich nicht einfach wieder abwenden, die Erkenntnis beeinflusst unser Handeln. Allerdings reicht es nicht, nur den Verstand zu unterweisen, der Wille muss ebenfalls gebildet werden. Zu einer umfassenden Erziehung gehört nicht nur die intellektuelle Ausbildung, sondern auch eine Anleitung in ethischen Fragen. Diese Erziehung findet als moralische oder als religiöse statt; Philosophie und Religion können getrennt voneinander unterrichtet werden, sie können aber auch zusammen auftreten und sich wechselseitig ergänzen. Gleichwohl ist hier nicht von umfassender, sondern nur von akademischer Erziehung die Rede, was die Frage 79

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aufwirft, für welchen Bereich Schule und Universitäten verantwortlich sind. Freilich findet in der Universität eine gewisse moralische oder religiöse Erziehung statt, laut Mill gehört es aber nicht zu ihren Aufgaben, die moralischen und religiösen Gefühle der Heranwachsenden zu kultivieren. Es ist die Familie, keine öffentliche Einrichtung, die für die moralische und religiöse Erziehung zuständig ist. Die im Elternhaus erworbene Ethik wird durch die Gesellschaft, die Meinungen und Gefühle anderer lediglich gepflegt und verändert. Die Universität sollte sich daran nur insofern beteiligen, als dass sie alles Wissen mit einem Ton der Pflichterfüllung vermittelt; »sie sollte jedwedes Wissen in der Art darbieten, das es hauptsächlich als Mittel zu einem würdigen Leben erscheint, in der doppelten Absicht dargereicht, jenen Einzelnen von uns seinen Mitmenschen praktisch nützlich zu machen und den Charakter der Gattung selbst zu heben, unsere Natur erhabener und würdevoller zu machen« 80 . Vor diesem Hintergrund fordert Mill, dass die Universitäten neben naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Professuren auch einen Lehrstuhl für Moralphilosophie unterhalten sollten. Eine moraltheoretische Präsenz an den Hochschulen ist wünschenswert, um dem Streitgespräch zwischen den divergierenden Moraltheorien einen wissenschaftlichen Rahmen zu geben. Zu Mills Zeiten wird die Auseinandersetzung eher unsachlich und dogmatisch geführt, was der Frage nach den Vor- und Nachteilen der jeweiligen Theorie in keiner Weise zuträglich ist. Es macht wenig Sinn, ein Moralsystem aufgrund von Vorurteilen abzulehnen, jedes hat seine speziellen Vorzüge, auch wenn die Mängel überwiegen sollten. Die Studierenden, so Mills Forderung, sollten sich mit den ungleichen Ethiken vertraut machen, ihre Prämissen und Begründungsmuster studieren und sich mit den Vor- und Nachteilen auseinandersetzen, gleichgültig, ob es sich um die aristotelische, epikureische, stoische, christliche oder jüdische Morallehre handelt. Es geht darum, die Heranwachsenden mit den moralischen Maßstäben vertraut zu machen, vor denen sich rechtmäßiges und unrechtmäßiges Handeln verantworten muss. Der Dozent sollte sich mit der Äußerung persönlicher Meinungen zurückhalten, wenngleich er das Recht hat, für die moralische Haltung einzutreten, die er selbst für die richtige hält. Aber auch abgelehnte Theorien haben ihre Zweckmäßigkeit und sollten nicht aufgrund von Engstirnigkeit 80

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leichtfertig verworfen werden. Hierbei geht es nicht darum, einen »skeptischen Eklektizismus« 81 zu betreiben, sondern darum, von einem spekulativen Standpunkt aus unterschiedliche Ethiken im Hinblick auf ihre soziale Nützlichkeit zu untersuchen. Obwohl nicht alle Ethiken wahr sein können, sollten alle erörtert werden, weil falsche Lehren Aspekte enthalten können, die zur Ergänzung wahrer Auffassungen wichtig sind. Die Aufgabe des Hochschullehrers besteht darin, die Studierenden beim Prozess individueller Wahrheitsfindung zu unterstützen. Die Aufgabe der Universität ist die akademische Erziehung des Verstandes, nicht das unreflektierte Wiederkäuen privater Meinungen. Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Mill hinsichtlich der Frage, in welcher Weise Religion unterrichtet werden sollte. Da das alte Thema, ob Religion überhaupt an Schulen gelehrt werden sollte, überwunden ist, sollten Glaubensgrundsätze seiner Ansicht zufolge als Kirchengeschichte vermittelt werden. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass das jugendliche Denken mit den unterschiedlichsten Vorstellungen von Religion in Kontakt kommt und in Auseinandersetzung mit den ungleichen Glaubenssätzen seine eigene religiöse Wahrheit findet. Zur freien Erziehung gehört die freie Religionswahl. In liberalen Gesellschaften ist es nicht hinnehmbar, dass Religion in dogmatischer Art und Weise gelehrt wird. Die Aufgabe der Universität liegt nicht darin, die Halbwüchsigen aufzufordern, ihr Leben in den Dienst eines bestimmten Gottes zu stellen, stattdessen müssen sie in die Lage versetzt werden, ihre Religiosität durch den aufgeklärten Gebrauch ihrer Vernunft selbst zu finden. Was die Mitgliedschaft in einer Kirche betrifft, ist Mill der Auffassung, dass es generell sinnvoll ist, sich in dieser Form zum Glauben zu bekennen, auch deshalb, weil die meisten Reformen der Kirche von Menschen angestoßen werden, die tief in den Strukturen verankert sind. Mill empfiehlt: »Lasst alle, die es mit guten Gewissen tun können, in der Kirche bleiben.« 82 Neben der intellektuellen und moralischen Erziehung haben die Universitäten noch eine dritte Aufgabe: die ästhetische Erziehung. Obwohl dieser Teil der Bildung, der durch Literatur und Kunst vermittelt wird und für die Veredelung der Gefühle verantwortlich ist, den anderen beiden Gebieten untergeordnet ist, darf seine Stellung und Nützlichkeit nicht unterschätzt wer81 82

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den. Dass ihr Wert bisher nicht gewürdigt worden ist, liegt daran, dass der Begriff der Kunst erst seit kurzem den Kreis der Bildnerei und Malerei überschritten hat und nun auch Gebiete wie die Poesie umfasst. Freilich hat das britische Volk durch die Werke Shakespeares und Miltons schon seit langem eine besondere Beziehung zur Dichtung, aber die Poesie wurde auf der Insel hauptsächlich aus Gründen der Unterhaltung und nicht wegen ihrer Ästhetik geschätzt. Anders verhält es sich hingegen auf dem kontinentalen Festland, hier wird die Lyrik ebenso als »Bildungsmittel der Zivilisation« 83 betrachtet wie Philosophie und Wissenschaft. Diese Differenz erklärt Mill mit den Einflüssen, wie sie in Großbritannien unter der Herrschaft der Stuarts begründet worden sind: der Konzentration auf den Gelderwerb und dem englischen Puritanismus. Die Menschen bezeichneten alle Gefühle als sündhaft, sofern sie nicht auf eine demütige Haltung gegenüber Gott gerichtet waren. Auf diese Weise ist ein nationaler Charakter entstanden, dessen ganzes Streben auf seinen persönlichen Vorteil gerichtet ist und dessen Wohltätigkeit ausschließlich im Geben von Almosen besteht; für soziales Unrecht fehlt ihm das Gefühl. Obwohl sich beobachten lässt, dass Menschen in anderen Ländern ihr Handeln an edleren Zwecken ausrichten wie beispielsweise der Liebe zum Fortschritt, geht es Mill nicht darum, die nationalen Charaktere im Hinblick auf ihre Nützlichkeit zu untersuchen. Sie sind das Ergebnis einer kulturellen Entwicklung, deren originärer Wert nicht herabgesetzt werden sollte. Es geht ihm vielmehr darum, darauf hinzuweisen, dass Gewissen und Gefühl ex aequo ausgebildet werden können; eine Konzentration auf eine der beiden Qualitäten ist nicht erforderlich. Der Mensch kann in der Ausbildung seines Gewissens geschult, zugleich aber auch in der Kultivierung der Gefühle unterrichtet werden, die ihm einen höheren Begriff von dem geben, was im Leben wünschenswert ist. Das eine schließt das andere nicht aus. Warum die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht so einrichten, dass sie einen nationalen Charakter erzeugen, der die Vorteile verschiedener Völker vereinigt, der dem zivilisatorischen Fortschritt und der Entwicklung des Menschengeschlechts nützlich ist? »Wenn wir wünschen, dass die Menschen Tugend üben sollen, so ist der Wunsch die Mühe wert, sie die Tugend lieben und als einen Zweck

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an sich betrachten zu lehren, anstatt als eine Art Ablass, mit dem man sich die Erlaubnis erkauft, andere Zwecke zu verfolgen.« 84 Aber wer sind die Lehrmeister der Poesie, wer versetzt das Individuum in den Zustand erhabener Gesinnung? Es sind die großen Philosophen und Schriftsteller, allerdings nur insoweit sie künstlerisch sind, es vermögen, den menschlichen Charakter durch die Anmut ihrer Kunst zu veredeln. Obwohl Mill den Schwerpunkt seiner Ausführungen auf die erhöhende Wirkung der Literatur legt, lässt er keinen Zweifel daran, dass auch alle anderen Künste geeignet sind, die Gefühle in einer Weise anzusprechen, die zu ihrer Kultivierung führen. Die Gefühlsveredelung führt am Ende dazu, dass der Mensch versucht, die in der Kunst erblickte Schönheit im eigenen Leben zu verwirklichen. »Die Kunst, wenn sie wirklich als solche betrieben und nicht bloß empirisch geübt wird, erhält das lebendig, wovon sie zuerst eine Vorstellung gab: eine ideale Schönheit, nach welcher in alle Ewigkeit zu streben ist, wenn sie auch alles hinter sich lässt, was wirklich erreicht werden kann.« 85 Der Künstler strebt nach vollkommener Einheit im Bewusstsein, diese niemals zu erreichen; darin liegt nicht nur seine Schaffenskraft, sondern auch seine Melancholie begründet.

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Wie bereits angeführt, geht Mill von der anthropologischen Annahme aus, dass der Mensch generell zur geistigen Entwicklung fähig ist, wobei sein Fortschritt durch ein Erziehungswesen begünstigt wird, das nicht nur die intellektuellen, sondern auch die moralischen Fähigkeiten verbessert. Doch wie muss ein gesellschaftliches Erziehungssystem aussehen, das es sich zur Aufgabe macht, das Individuum im Hinblick auf seine charakterliche Vervollkommnung zu fördern? 86 Ebd., S. 358. Ebd., S. 361. 86 Laut Anatoli Rakhkochkine sind »Individualisierung, Pragmatismus und Handlungsorientierung des Unterrichts, sowie eine relativ hohe Flexibilität der Unterrichtsorganisation« und eine »ausgeprägte Orientierung an der grundsätzlichen Unabgeschlossenheit des eigenen Lernprozesses« tragende Werte des englischen Bildungssystems im 19. Jahrhundert, um die charakterliche Bildung der Schüler zu fördern. Anatoli Rakhkochkine, Das pädagogische Konzept der Offenheit in internationaler Perspektive. Die Idee der Offenheit in der westeuropäischen Pädagogik 84 85

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Auf diese Frage versucht Mill im Rahmen einer Rezension, die am 23. Oktober 1835 im Globe and Traveller publiziert wird, eine erste Antwort zu geben. In dieser Besprechung diskutiert er zwei Arbeiten von Horace Grant. 87 Grant, der ein Kollege und Freund Mills im Examiner’s Office der Ostindischen Kompanie war, hatte im selben Jahr einen Text im Literary Examiner publiziert mit dem Titel Arithmetik für kleine Kinder, eine Reihe von Übungen, die Beispiele für die Art und Weise geben, auf die kleinen Kindern Arithmetik gelehrt werden soll. Die zweite Schrift, die in einem der fünf von Grant verfassten Lehrbücher veröffentlicht wurde, trägt die Überschrift Übungen zur Verfeinerung der Sinne, für kleine Kinder. Für Mill sind diese beiden didaktischen Schriften eine wissenschaftliche Rezension wert, weil sie in seinen Augen einer Reform der Grundschulbildung gleichkommen; sie sind die ersten Werke, die den Versuch unternehmen, die theoretischen Erkenntnisse früher Bildung in die Praxis zu übertragen. 88 Die Kunst des Unterrichts kennt zwei Methoden. Diese sind nicht nur völlig unterschiedlich, sondern markieren auch die zwei Pole, zwischen denen sich das Lernen abspielt: »Eine der beiden ist das System des Paukens, die andere das System des Kultivierens geistiger Fähigkeiten.« 89 Während die erste Methode das Ziel verfolgt, das Kind mit Ergebnissen vollzustopfen, zu denen das Menschengeschlecht gelangt ist, setzt die zweite Methode sich das Ziel, das Individuum so auszubilden, dass es durch eigene geistige Anstrengungen zu Resultaten kommt. Die Methode des Paukens betrachtet den Menschen offenbar als reines Gedächtnis; das Ziel des Schulunterrichts besteht allein darin, die Person mit möglichst vielen Informationen zu versorgen, in der Hoffnung, dass sie sich die Bedeutung des Wissens später einmal selbst erschließen wird. Im Gegensatz dazu geht das Verfahren des Selbstdenkens davon aus, dass Menschen nicht nur ein Gedächtnis haben; sie besitzen auch Intelligenz; das Ziel im Hinblick auf die gegenwärtige pädagogische Diskussion in Russland, Münster 2003, S. 129. 87 Siehe dazu SsP, AW, Band 2, S. 232, Fußnote. 88 Ein wesentlicher Punkt, der in der bildungspolitischen Diskussion über die Verbesserung des englischen Schulwesens im 19. Jahrhundert angeführt wird, ist die lerntheoretische Überzeugung, dass mit dem Schulunterricht möglichst früh begonnen werden sollte. Vgl. Biller, Pädagogik, schöne Literatur und menschliches Glück, a. a. O., S. 27 ff. 89 SsP, AW, Band 2, S. 232.

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der Bildung besteht hier nicht im Sammeln von Wissen, sondern in der Stärkung der Intelligenz durch den vernünftigen Gebrauch derselben. Mill gibt ein Beispiel, wenn er auf das kindliche Lernen lateinischer Sprache verweist. Der Lehrer, der die Methode des Paukens anwendet, fordert seinen Schüler auf, die Regeln der Grammatik zu lernen; erst im Anschluss daran wendet er sich dem Sprechen zu. Der Anhänger der Idee des Selbstdenkens dagegen verlangt kein Einüben der Grammatik; er lässt den Schüler die Theorie lernen, »indem er sie in seiner eigenen Praxis wirken sieht, und statt mit Abstraktionen zu beginnen, hilft sie ihm, allmählich zu diesen Abstraktionen aufzusteigen« 90 . Durch die Arbeiten des französischen Pädagogen und Mathematikers Joseph Jacotot (1770–1840) erreicht die Methode des Paukens ihren vorläufigen Höhepunkt. Während die Anhänger der Idee des Auswendiglernens der Auffassung sind, dass es im Sinne der Bildung ausreicht, das Kind mit Wahrheiten aus den verschiedenen Wissensgebieten anzufüllen, vertritt Jacotot die Ansicht, dass jene Gewissheiten so lange unverstanden bleiben, bis die entsprechenden Begründungen hinzukommen. Die Kinder sollten daher nicht nur die Wahrheiten, sondern auch die dazugehörigen Begründungen lernen. Das unbefriedigende Ergebnis des geistlosen Lernens soll verbessert werden, indem man weiteres totes Material hinzufügt. Dadurch wird die Methode des Paukens ad absurdum geführt. Im Gegensatz dazu reduziert Grant das Kind nicht auf sein Erinnerungsvermögen, sondern stellt die Vernunft ins Zentrum seiner lerntheoretischen Schriften. Der Schüler sollte keine abstrakten Begriffe auswendig lernen; er sollte vielmehr – beispielsweise in der Arithmetik – zunächst nur mit einer anschaulichen Vorstellung von Zahlen und Rechenoperationen konfrontiert werden, um dann allmählich zu den Höhen der Verallgemeinerung vorzudringen. Der Unterricht sollte so gestaltet werden, dass die Begriffsbildung und die Ordnung des Wissens stets mit dem vernünftigen Gebrauch des Erlernten in Beziehung steht; Gedächtnis und Intelligenz sollten in einem lebendigen Austausch miteinander stehen, um die beigebrachten Wahrheiten auch zur charakterlichen Verbesserung nutzen zu können; »auf jeder Stufe erwirbt das Kind nicht nur eine Menge von Tönen, sondern Begriffe, und mit diesen Begriffen die Gewohnheiten, Wahrheiten wirklich für sich selbst zu entdecken, sei90

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ne Augen zu gebrauchen, seine Hände, sein gesamtes Wahrnehmungsvermögen und seine aufkeimenden Fähigkeiten, zu urteilen und zu argumentieren« 91 . Das heißt nicht, dass das Kind sich keine abstrakten Begriffe aneignen darf, die Methode des Selbstdenkens möchte den Schüler lediglich dort abholen, wo er sich entwicklungsmäßig gerade befindet. Gedächtnis und Klugheit sollen miteinander verknüpft werden; gelegentlich müssen auch hier Wahrheiten zunächst unreflektiert übernommen werden, aber wo immer die Möglichkeit zum Selbstdenken besteht, sollte sie zur Kultivierung der geistigen Fähigkeiten auch genutzt werden. Dass das bloße Pauken von Wissen nicht ausreicht, um ein Verständnis von der menschlichen Natur zu erlangen, zeigt sich vor allem an der Geschichtswissenschaft, die für Mill einen besonderen Stellenwert hat. Die Frage nach der Bedeutsamkeit dieser Disziplin ist eng mit der Frage verbunden, auf welche Weise menschliche Erkenntnis überhaupt gewonnen werden sollte, sofern man davon ausgeht, dass es sich dabei um nützliches Wissen handelt, um Wissen also, das sowohl zur individuellen als auch zur gesellschaftlichen Vermehrung des Glücks beiträgt. Prinzipiell sind zwei Wege denkbar, auf denen Wissen erworben werden kann: durch die Theorie einerseits und die Erfahrung andererseits. Für Mill steht zweifelsfrei fest, dass der Mensch sich vor allem durch die Schule der Empirie leiten lassen soll. »Die ganze Menschheit erkennt Erfahrung als einzigen Führer in den menschlichen Angelegenheiten an, die Vergangenheit als unser einziges Kriterium zur Beurteilung der Zukunft« 92 . Allerdings gibt es einen richtigen und einen falschen Weg, die Erfahrung zu befragen; die Frage ist, welches der richtige und welches der falsche Weg ist. Während die einen argumentieren, dass die Erfahrungswahrheit in den Schriften der Geschichtswissenschaft verborgen ist, und man diese durch die richtige Interpretation zutage fördern kann, vertreten die anderen – zu denen auch Mill sich zählt – die Ansicht, dass ein solches Unterfangen sinnlos ist, da Erfahrung mehrdeutig ist und eine verlässliche Wahrheit nicht zu haben ist. Es ist evident, dass das Selbstdenken an dieser Stelle unerlässlich ist. Betrachtet man die Regierungskunst, zeigt sich, dass es für einen Staatsmann notwendig ist, die Natur des Menschen zu kennen, denn der Sozialkörper besteht aus Individuen, und die Zukunft der Gesell91 92

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Vom Unterricht

schaft hängt im hohen Maße vom Handeln der Bürger ab; es gilt, »dass der, der die Menschen am besten kennt, wenn seine Absichten lauter sind, am besten für das Amt des Staatsmanns geeignet ist, und dass das Buch, das ihn leiten sollte, nicht das Geschichtsbuch ist, sondern das Buch der menschlichen Natur« 93 . Damit meint Mill aber kein Wissen, das sich auf die Abgründe des menschlichen Herzens bezieht, kein Wissen, das im Allgemeinen als Weltwissen bezeichnet wird und auch kein Wissen, das in der Kenntnis äußerer Anzeichen menschlicher Leidenschaften besteht. Das Wissen, das er meint, ist ein Wissen, das sich auf Ursachen, Regeln und Einflüsse bezieht; das Verständnis dieser die Gesellschaft determinierenden Einflussgrößen hilft dem Politiker, menschliches Handeln approximativ vorherzusagen; es ist ein »Wissen über die Spielarten des menschlichen Charakters« 94 , es hilft ihm, die Geschicke der Gesellschaft zu lenken. Laut Mill sind diese die menschliche Natur erhellenden Informationen nicht im Dunkel der Geschichte verborgen, sondern können durch ein entsprechendes Selbst- und Fremdstudium leicht ermittelt werden. Diese Ansicht widerspricht der Meinung, dass aus geschichtlichen Einzelfällen allgemeine Regeln abgeleitet werden können. »Es ist kaum nötig zu sagen, dass in der Geschichtswissenschaft kein einzelner Fall eine Regel für einen anderen sein kann.« 95 Der Einzelfall könnte nur dann als allgemeine Regel auftreten, so Mills Auffassung, wenn sich zeigt, dass den jeweiligen Fällen dieselben Umstände zugrunde liegen. Die Erfahrung zeigt aber, dass das Gegenteil der Fall ist. Die historischen und regionalen Unterschiede der sozialen Tatsachen sind immer ungleich und lassen sich nicht einfach auf dieselben Ursachen zurückführen. Die Gegner argumentieren nun, dass nicht alle Umstände gleich sein müssen, es reicht, wenn die wesentlichen Umstände gleich sind, während die Nebenumstände verschieden sein können. Auf diesen Einwand entgegnet Mill, dass es grundsätzlich richtig ist anzunehmen, dass Wirkungen hauptsächlich von einigen wenigen Ursachen bestimmt werden, aber der Sozialforscher kann niemals wissen, ob er wirklich alle entscheidenden Einflussgrößen berücksichtigt hat. Damit möchte Mill sagen, dass wir soziale Phänomene immer nur als Ganzes sehen; wir können zwar beobachten, dass die Verabschiedung bestimmter Gesetze auf die Bür93 94 95

Ebd. Ebd., S. 368. Ebd.

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Bildungspolitische Ansichten oder der Triumph des Wissens

ger in der einen oder anderen Weise wirkt, dass eine Veränderung des Wirtschaftssystems mit diesen oder jenen Reaktionen verbunden ist, was wir aber nicht sehen, ist, »wie viele verborgene Ursachen zu diesem Ereignis beigetragen haben« 96 . Es ist durchaus möglich, dass wir bei unserer Untersuchung einige Kraftquellen übersehen haben. Anders formuliert: In der sozialwissenschaftlichen Forschung ist die naturwissenschaftliche Exaktheit nicht zu haben; »die großartigen Instrumente, mit denen wir die Geheimnisse der physikalischen Welt durchdrungen haben, lassen uns in der politischen Welt im Stich, wenigstens wenn die Geschichtswissenschaft unsere Führerin ist« 97 . Vor diesem Hintergrund kommt Mill zu dem Ergebnis, dass die Erfahrung der Geschichte, sofern sie unter politischen Vorzeichen zur Anwendung kommt, zu vernachlässigen ist. Die Geschichtswissenschaft ist aber nicht gänzlich zu verwerfen; obwohl sie dem Politiker keine für eine erfolgreiche Führung der Gesellschaft verallgemeinerbaren Erkenntnisse liefert, ist sie im Hinblick auf ihre moralische Bedeutung kaum zu überschätzen. Es gehört zu den Verdiensten der Geschichte, dass sie »die Taten der Großen der Erde« 98 für die Nachwelt konserviert, damit die Gegenwart ein Vorbild hat, an welchem die Menschen ihr Handeln messen können. Die Geschichte liefert Erzählungen großer menschlicher Leistungen und Tugenden und trägt auf diese Weise dazu bei, die moralische Qualität der Gesellschaft zu verbessern. Es gehört zu den politischen Tatsachen der Geschichte, dass das Volk von einigen wenigen Menschen beherrscht wird, und dass das Wohl der Staatsbürger im hohen Maße von ihrem Charakter abhängt. Auch liefert die Geschichte zahllose Beispiele dafür, wie schwer es ist, die Herrscher auf dem Pfad der Tugend zu halten; den Verführungen der Macht ist nur schwer zu widerstehen, wenn man keinen gefestigten Charakter hat. Die Geschichtswissenschaft liefert ein moralisches Gegengewicht, indem sie die politischen Führer der Gegenwart an die Tugendhaftigkeit großer Männer der Vergangenheit erinnert. Die moralische Bedeutung der Geschichtswissenschaft besteht darin, dass die Herrscher in dem Bewusstsein der »Anwesenheit der Nachwelt« 99 leben, in dem Bewusstsein, dass ihre Taten nicht vergessen, sondern als Erinnerung 96 97 98 99

Ebd. Ebd., S. 369. Ebd., S. 370. Ebd.

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Erziehung der arbeitenden Klassen

im kollektiven Gedächtnis gespeichert werden. Die Zivilisation ist noch nicht so weit fortgeschritten, dass die Menschen auf solche Anreize moralischer Tugendbildung verzichten könnten; »auch ist das Verhalten der Herrscher über die Menschen nicht immer so vorbildlich und rein, dass wir ohne irgendeines der Motive auskommen könnten, die diese Eigenschaften verstärken könnten« 100 . Gegen diese Ansicht könnte ein Kritiker laut Mill nun einwenden, dass der historische Einfluss auf die Handlungsweisen gegenwärtiger Machthaber gering ist, dass die Herrscher sich um ihr künftiges Ansehen wenig kümmern, wenn es darum geht, Herrschaftsansprüche abzusichern. Was den Einfluss großer Männer der Geschichte betrifft, soweit er sich auf schlechte Menschen bezieht, räumt Mill ein, dass es einen solchen wohl tatsächlich nicht gibt. Die Anwesenheit tugendhafter Männer der Vergangenheit in Form eines historischen Gewissens vermag die charakterlichen Defizite schlechter Menschen in der Gegenwart nicht zu kompensieren. Machtmittelakkumulation steht hier höher als posthumes Ansehen. Anders verhält es sich jedoch, so Mills Überzeugung, bei guten Menschen. Sie werden sich die moralische Vortrefflichkeit großer Männer zum Vorbild nehmen, auch wenn ein Leben in Größe seinen Lohn häufig nicht in der Gegenwart, sondern erst in der Zukunft erhält; oft sind es gerade die Größten der Gattung, die für ihre Ansichten verspottet und aus der Gesellschaft der Gleichen ausgeschlossen werden; sie sind ihrer Zeit voraus und haben einen Blick auf eine Zukunft geworfen, von der noch niemand etwas wissen will. Ohne die Geschichtswissenschaft würden die Menschen nichts von jenen Personen wissen, die ihren Charakter fast bis zur Vollendung entwickelt haben; ohne die Geschichte »hätten wir nie erfahren, zu welch hohem Grad an Vortrefflichkeit unsere Gattung fähig ist« 101 . Darin liegt ihr Nutzen.

5.

Erziehung der arbeitenden Klassen

Es hat sich bereits gezeigt, dass Mill ein begründetes Interesse hat, die arbeitenden Klassen mit Bildung zu versorgen. Seine bildungstheoretischen Gedanken vertieft er in der Besprechung des von Arthur 100 101

Ebd. Ebd., S. 372.

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Helps verfassten Buchs The Claims of Labour (1847). Das Werk reflektiert nicht nur die soziale Frage vor dem Hintergrund der bevölkerungstheoretischen Erkenntnisse Malthus, es liefert auch eine Reihe wohlfahrtsstaatlicher Argumente zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter. Mit der Ausbreitung des Kapitalismus stellt sich zunehmend die Frage, »wie die große Masse des Volkes genährt, gekleidet und unterrichtet wird und ob die Verbesserung ihrer Lage mit der Verbesserung in der Lage der mittleren und oberen Klassen irgendwie gleichen Schritt hält« 102 . In Anbetracht der Situation der Arbeiterschaft hat sich eine philanthropische Bewegung gegründet, die sich dafür einsetzt, die Lebensbedingungen der arbeitenden Klassen zu verbessern. Auch wenn Mill diese sozialpolitischen Anstrengungen im Allgemeinen begrüßt, ist er dennoch skeptisch, ob es sich bei den verlangten Maßnahmen um soziale Fortschritte handelt, die der Arbeiterschaft dabei helfen, ihre Armut dauerhaft zu überwinden. Das Aufkommen der sozialen Frage ist eng mit der Schrift An Essay on the Principle of Population (1798) von Thomas R. Malthus verbunden 103 . Darin erörtert er das Problem der Überbevölkerung und der damit einhergehenden Armut. Während der Mensch sich unbegrenzt vermehrt, sind die Unterhaltsmittel, welche die Gattung zum Überleben benötigt, begrenzt. Da laut Malthus die Mittel des Fortdauerns nicht proportional zur Bevölkerungszahl anwachsen, halten viele die Armut der Massen »für unvermeidlich, für eine Vorkehrung der Natur oder, wie manche sagten, für eine Fügung Gottes, für einen Teil der menschlichen Bestimmung, der nur in einzelnen Fällen eine teilweise Milderung durch private oder öffentliche Wohltätigkeit zulasse« 104 . Malthus Arbeit ist aber nicht der einzige Grund, warum das Armutsproblem zur Tagesfrage avanciert. Es gibt noch weitere Gründe; »und wir glauben, diese Gründe in der Bewegung und Aufregung des öffentlichen Geistes zu finden, die auf den Sieg RdA, AW, Band 3.2, S. 34. Zu Malthus Theorie schreibt Mill: »Diese große Lehre, welche ursprünglich als Argument gegen die endlose Verbesserungsfähigkeit der menschlichen Angelegenheiten aufgestellt wurde, nahmen wir mit glühendem Eifer im entgegengesetzten Sinne, als einen Hinweis auf die einzigen Mittel, um die Verbesserungsfähigkeit zu verwirklichen, indem man der ganzen arbeitenden Bevölkerung volle Beschäftigung durch die freiwillige Beschränkung des Zahlenzuwachses sicherte.« Au, AW, Band 2, S. 94. 104 RdA, AW, Band 3.2, S. 37. 102 103

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Erziehung der arbeitenden Klassen

der Reformbill folgte« 105 . Zu dieser Zeit entsteht der Chartismus 106 , eine demokratische Bewegung, die für die Rechte der Arbeiter kämpft und glaubt, ihre Ansprüche durch politische Reformen durchsetzen zu können. Die mittleren und oberen Klassen wurden auf diese Weise gezwungen, sich mit der Lage der Arbeiterschaft auseinanderzusetzen: »Wenn die Klagen der Armen berechtigt waren, so hatten die höheren Klassen ihre Herrscherpflichten nicht erfüllt; waren sie unbegründet, so hatten jene Klassen ebenfalls ihre Pflicht versäumt, indem sie die Armen so unkultiviert und unwissend aufwachsen ließen, dass sie solchen schädlichen Täuschungen zugänglich wurden.« 107 Neben der Bevölkerungstheorie von Malthus und dem Aufkommen des Chartismus führt Mill noch einen dritten Grund für die Aktualität der sozialen Frage an: den Umstand, dass die Lage der arbeitenden Klassen bis vor kurzem nur wenigen Menschen überhaupt bekannt gewesen ist. 108 Vor diesem Hintergrund sind diverse wohltätige Vereine und Organisationen entstanden, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die unwürdige Situation der Arbeiterschaft zu verbessern. Gegen diese Form sozialer Mildtätigkeit in liberalen Gesellschaften hat Mill grundsätzlich nichts einzuwenden. Was ihn nachdenklich stimmt, ist der Umstand, dass die Wohltäter nicht weiterdenken als bis zu dem Punkt, an dem der Arme die Almosen angenommen hat. Das Pflichtgefühl der mittleren oder oberen Klassen endet an der Hand des Nehmenden, gleichgültig, ob die Zuwendung vernünftig ist oder nicht. Ebd., S. 39. Die Chartisten treten neben der Zulassung von Gewerkschaften und der Verbesserung der Arbeitsbedingungen auch für eine klassenübergreifende Ausweitung des Wahlrechts ein. Der Chartismus lässt sich folglich als sozialdemokratische Reformbewegung verstehen. Vgl. dazu Herman Schlüter, Die Chartisten-Bewegung. Ein Beitrag zur sozialpolitischen Geschichte Englands, New York 1916. 107 RdA, AW, Band 3.2, S. 41. 108 Die Lage der Arbeiterschaft wird im Wesentlichen durch die Höhe des Arbeitslohns bestimmt. Dieser hängt hauptsächlich von zwei Faktoren ab: »von dem für Lohnzwecke zur Verfügung stehenden Kapital und von der Bevölkerungszahl respektive der Konkurrenz der Arbeiter um Arbeitsplätze. Entsprechend kann der Durchschnittslohn innerhalb einer Volkswirtschaft nur fallen, wenn die Anzahl der Bewerber zunimmt oder der Lohnfonds sinkt, und er kann nur steigen, wenn die Anzahl der Bewerber abnimmt oder der Lohnfonds zunimmt«. Michael S. Aßländer, »Zwischen Liberalismus und Sozialismus – John Stuart Mill und die Beschäftigungsfrage«, in: ders./Ulrich (Hg.), John Stuart Mill – Der vergessene politische Ökonom und Philosoph, a. a. O., S. 155–194, hier 168 f. Siehe dazu auch Ferdinand von Degenfeld-Schonburg, Die Lohntheorien von Ad. Smith, Ricardo, J. St. Mill und Marx, München 1914. 105 106

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Doch was sind die Forderungen der mitfühlenden Bewegung, welche Verbesserungen sollen umgesetzt werden, damit die Lage der Arbeiter sich zum Positiven wendet? Einigkeit besteht darüber, dass die Arbeitgeber gute Löhne zahlen sollten, wobei allen Fabrikanten die sozialen Vorteile entzogen werden sollten, die dies nicht tun; auch sollten Unternehmer so viele Arbeiter wie möglich einstellen und keine Arbeitsplätze unbesetzt lassen; die tägliche Arbeitszeit sollte auf ein annehmbares Maß begrenzt werden, so dass noch genügend Zeit zur körperlichen Erholung und Freizeitbeschäftigung bleibt; ferner sollten Arbeitgeber Wohneigentum den eigenen Mitarbeitern kostengünstig zur Verfügung stellen. Das sind die wichtigsten Forderungen der philanthropischen Bewegung. Allerdings möchte Mill nicht prüfen, ob diese Ansprüche erreichbar sind, ihm geht es vielmehr darum zu fragen, ob die Gesellschaft auch bereit ist, die Konsequenzen ihres wohltätigen Handelns zu tragen. Zunächst weist er darauf hin, dass es in der Geschichte des Menschengeschlechts nicht ungewöhnlich ist, dass die höheren Klassen zur Fürsorge derjenigen verpflichtet werden, die nichts anderes besitzen als ihre Arbeitskraft. So gab es beispielsweise Länder, in denen es üblich war, dass Landbesitzer ihre Arbeiter mit Nahrung und Kleidung versorgten und für deren allgemeine Lebensführung verantwortlich waren. Mill geht es bei seinen Ausführungen darum, dass diese Art der Beziehung seinen Preis hat: die Herabwürdigung des abhängigen Teils des Empfangenden. Freilich möchte auch Mill eine Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft, aber nicht um den Preis einer asymmetrischen und gedankenlosen Versorgung der Arbeiter, die zu nichts weiter führt als dazu, dass die Lohnabhängigen sich weiterhin in geistiger Inaktivität bewegen. Die Wohltäter können »unmöglich der Ansicht sein, dass die arbeitenden Klassen die Freiheit der Handlung unabhängiger Bürger mit den Sicherheiten der Sklaven verbinden sollten« 109 . Mill kritisiert vor allem, dass das Armutsproblem gelöst werden soll, indem man die Mittellosen von den materiellen Wohltaten der Reichen abhängig macht, statt sie in die Lage zu versetzen, sich in Zukunft selbst zu versorgen. Es gibt nur zwei Existenzweisen für Menschen; »sie müssen entweder die natürlichen Folgen ihrer Missgriffe im Leben tragen, oder die Gesellschaft muss solche Missgriffe durch Vorkehrungen oder

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RdA, AW, Band 3.2, S. 47 f.

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Erziehung der arbeitenden Klassen

Strafen zu verhüten suchen« 110 . Solange die Armen aufgrund ihrer Bedürftigkeit glauben, die Reichen wären dazu verpflichtet, sie mit Almosen zu versorgen, sieht Mill »keinen Ausweg als Beschränkungen der Eheschließung in Verbindung mit Strafbestimmungen wegen unehelicher Geburten« 111 . Nur auf diese Weise, so seine Überzeugung, kann vor dem Hintergrund des Malthus’schen Bevölkerungsgesetzes verhindert werden, dass die Armut sich im Land ausbreitet. Aber dazu muss es nicht kommen, wenn die Mittellosen einsehen, dass nicht freiwillige Zuwendungen, sondern Bildung das geeignete Mittel ist, um ihre Situation zu verbessern. Auch viele Reiche müssen ihre Haltung ändern. Sie müssen die Meinung ablegen, dass Bildung den Armen mehr schadet als nützt; obwohl es ausreichend Schulen gibt, werden noch immer viel zu wenig Schüler auf eine höhere Bildungslaufbahn vorbereitet. Noch immer herrscht in der Gesellschaft die weit verbreitete Meinung, dass die arbeitenden Klassen sich weniger in geistiger Arbeit als vielmehr im Handwerk üben sollten. Diese Haltung wird noch verstärkt, indem viele Wohltäter fürchten, dass die Arbeiterschaft »überbildet« 112 werden könnte. Hinzu kommt, dass an vielen Stellen der Gesellschaft der Wille fehlt, die Armen mit instruktivem Unterricht zu versorgen, so dass sie im Anschluss eine Hochschule besuchen könnten. Das geringe Bildungsniveau der Arbeiterschaft hat auch Auswirkungen auf ihren Charakter. Nicht nur, dass sie in naiver Art und Weise alles aufnehmen, was aus ihrer eigenen Klasse kommt, während sie für Meinungen anderer Klassen merklich unempfindlich sind, ihnen fehlt es auch an Gespür Ebd., S. 48. Ebd. Mill erblickt in der Gesellschaft ein fehlendes Bewusstsein für die menschliche Pflicht, nur so viele Kinder in die Welt zu setzen, wie man durch seine Arbeit auch ernähren kann. Während moralische Menschen den Trunkenbold verabscheuen, haben sie häufig Verständnis, wenn jemand eine große Familie hat, obgleich er sie nicht versorgen kann. In der ungezügelten Triebhaftigkeit liegt für Mill aber einer der Hauptgründe für menschliche Armut, wobei sein Argument nicht auf die Anzahl der Kinder beschränkt ist, sondern sich grundsätzlich auf grenzenloses Verhalten bezieht. »Wenig Verbesserung kann in der Moral erwartet werden, solange nicht die Erzeugung großer Familien mit denselben Gefühlen angesehen wird wie Trunksucht oder eine andere physische Ausschweifung.« PÖ, AW, Band 3.2, S. 129, Fußnote. Allerdings gibt es in der Gesellschaft auch kaum Vorbilder, da der Adel und die Geistlichkeit sich keineswegs in Mäßigung üben. »Aber solange Aristokratie und Klerus zuvorderst das Beispiel derartiger Hemmungslosigkeit geben, was kann man da von den Armen erwarten?« Ebd. 112 RdA, AW, Band 3.2, S. 51. 110 111

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für die Gesinnungen anderer Menschen und für das, was ihnen vor Augen liegt. 113 Als Beispiel dafür, welchen positiven Einfluss die gesellschaftliche Versorgung mit Bildung auf die arbeitenden Klassen haben kann, führt Mill die schottischen Gemeindeschulen an; mit ihrer Hilfe ist es gelungen, den Bauern das Lesen und Diskutieren beizubringen, was zu einer moralischen Anhebung ihrer charakterlichen Ausstattung geführt hat. Es ist leicht einzusehen, dass Mill sich daher besonders über die im eigenen Land neu gegründeten Bibliotheken freut, auch wenn er die Ansicht vertritt, dass reine Leseschulen nicht ausreichen, um den arbeitenden Charakter zu veredeln. Was aus seiner Sicht hinzukommen muss, sind Gewerbeschulen, damit das theoretische Wissen sich mit der praktischen Tätigkeit verbindet. Indem Mill den Wert beruflicher Bildung erkennt, ist er in gewisser Weise ein Vordenker der dualen Ausbildung: »Was uns nottut, sind Schulen, in denen die Kinder der Armen nicht nur lernen, ihre Hände, sondern zur Leitung ihrer Hände auch ihren Geist zu brauchen.« 114 Noch wichtiger als die geistige und emotionale Ausbildung der Arbeiterschaft sind die sozialen Verhältnisse, in denen sie leben und arbeiten. Es gehört zu den wertvollsten Einsichten der philanthropischen Bewegung, dass es »einen gesunden Zustand der Gesellschaft« 115 nur geben kann, wenn Arbeiter und Kapitalisten sich nicht als Feinde behandeln, sondern miteinander kooperieren. Obwohl Mill die Lage nicht ganz so dramatisch einschätzt und der Arbeiterschaft weit mehr Zutrauen entgegenbringt als diejenigen, die sich im Allgemeinen für die demokratischen Rechtsansprüche der arbeitenden Klassen einsetzen, stimmt er mit ihnen darin überein, »dass ›klingende Münze‹ nicht länger ›ausschließlich das Band zwischen Mensch und Mensch bilden‹« 116 sollte. Um die Situation zwischen ArbeitVgl. ebd., S. 52. Ebd., S. 53. 115 Ebd., S. 54. 116 Ebd., S. 55. In der Lösung der sozialen Frage in England zwischen 1830 und 1870 erblickt Bartsch das eigentliche Motiv der sozialphilosophischen Bemühungen Mills. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Schwächung der Aristokratie, der Etablierung einer neuen Mittelschicht und dem historischen Aufkommen der arbeitenden Klassen steht Mill für ihn vor der historischen Herausforderung, die divergierenden Interessen der Gesellschaftsmitglieder in ein harmonisches Gesamtgefüge zu integrieren. Vgl. Bartsch, Liberalismus und arbeitende Klassen, a. a. O. S. 10 ff. »Die Einbindung der konträren Interessen der arbeitenden Klassen in die allgemeine Vernunft der bürgerlichen Gesellschaft kann kaum widerspruchsfrei gelingen. Aber es ist dieser 113 114

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gebern und Arbeitnehmern zu verbessern, sollte sich zunächst das Benehmen ändern, das der Arbeiterschaft entgegengebracht wird. Diese Forderung findet ihren Ursprung im englischen Nationalcharakter, der dafür bekannt ist, nicht besonders freundlich gegenüber den Gefühlen anderer Menschen zu sein. Es ist evident, dass es Mill bei diesem Vorschlag darum geht, neues Sozialverhalten einzuüben, um eine Veränderung des individuellen und nationalen Charakters zu erzeugen. Um zu illustrieren, wie eine Verhaltensänderung aussehen kann, weist er auf den Unternehmer Samuel Greg hin, der in seinem Leben stets bestrebt war, mit seinen Arbeitern bekannt zu werden – sei es durch das Bauen von Wohnungen, das Errichten von Schulen oder einer Einladung ins Eigenheim; immer ging es darum, seine Arbeiter kennenzulernen und etwas von ihrem Leben und ihren Meinungen zu erfahren. Obwohl Mill diese Art des Umgangs mit der Arbeiterschaft begrüßt, möchte er ihr nicht zu viel Bedeutung beimessen, wenn es darum geht, soziale Missstände zu beseitigen. Das Armutsproblem ist zu groß, als dass einige fortschrittliche Arbeitgeber etwas daran ändern könnten. Was Mill vorschlägt, ist tiefgreifender Natur. Er möchte die Arbeiter aus der Rolle der passiven Lohnempfänger herausholen und sie zu Teilhabern machen. »In irgendeiner Form dieses Verfahrens sehen wir das einzige oder wenigstens das durchführbarste Mittel, die ›Rechte des Fleißes‹ mit den Rechten des Eigentums in Einklang zu bringen.« 117 Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen sich Imperativ der Gesellschaftstheorie Mills, Liberalismus und arbeitende Klassen zu einer funktionsfähigen Gesellschaft zusammenzufügen«. Ebd., S. 17. Zur Entwicklung von Mills Ansichten zum Sozialismus siehe Gregory Claeys, »Gerechtigkeit, Unabhängigkeit und industrielle Demokratie: Die Entwicklung von John Stuart Mills Ansichten über Sozialismus«, in: ders. (Hg.), Der soziale Liberalismus John Stuart Mills, a. a. O., S. 181–220. 117 RdA, AW, Band 3.2, S. 59. Den Hintergrund für diese Auffassung liefert Mills Auseinandersetzung mit dem Frühsozialismus, der in England zu seiner Zeit gerade entsteht und von den philosophischen Arbeiten der französischen Sozialisten Charles Fourier (1772–1837) und Henri de Saint-Simon (1760–1825) beeinflusst ist. Dass Mill den Ideen des Sozialismus offen gegenübersteht, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er sich eine gemeinsame Verwaltung der Produktionsmittel durchaus vorstellen kann. »Keine vernünftige Person kann anzweifeln, dass eine Dorfgemeinschaft von ein paar tausend Einwohnern, die in gemeinsamem Eigentum das gleiche Stück Land bestellt, das gegenwärtig diese Personenzahl ernährt, und die durch gemeinsame Arbeit und die fortgeschrittensten Verbesserungen die erforderlichen Güter herstellt, eine Produktionsmenge hervorbringen könnte, die ausreicht, ihnen ein angenehmes Leben zu ermöglichen, und dass sie die Mittel finden würde, die für ihren Zweck

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in Zukunft zusammenschließen und die Produktionsmittel gemeinsam verwalten. Auch sollten beide Seiten lernen zu kooperieren. Durch den gemeinsamen Umgang sind Kapitalisten und Arbeiter angehalten, sich gefühlsmäßig anzunähern. Auch ändern sie auf diese Weise ihren Charakter, so dass zu erwarten ist, dass der Grad sozialer Gerechtigkeit sich in der Gesellschaft in Zukunft erhöhen wird. Mill geht es in erster Linie um die gesellschaftliche Etablierung sozialer Gerechtigkeit, denn seiner Ansicht nach bewirken menschliche Wohltaten, auch wenn sie noch so gut gemeint sind, nur wenig, solange die Ursachen sozialer Ungerechtigkeiten nicht beseitigt sind. Es gibt Fabrikanten, die sich in Mitgefühl üben und sich auf der anderen Seite die Almosen zurückholen, indem sie niedrige Löhne zahlen. »Was wir […] nicht begreifen können, sind Menschen, die mit der einen Hand Almosen geben und mit der anderen dem Arbeiter sein Brot nehmen.« 118 Es gehört zu Mills fundamentalen Überzeugungen, dass eine gefühlsmäßige Annäherung zwischen den Besitzern der Produktionsmittel und den Besitzern der Arbeitskraft sinnlos ist, solange ein pekuniäres Ungleichgewicht die sozialen Beziehungen beherrscht. Zu diesem Aspekt gehört auch, dass die unterschiedlichen Klassen der Gesellschaft ihre Freizeitaktivitäten nicht länger getrennt voneinander betreiben sollten. Eine Annäherung wäre auch hier von Vorteil, gerade wenn es darum geht, die Lebenswelt der jeweils anderen Schicht besser zu verstehen. Dass in den höheren Klassen aber nach wie vor eine Doppelmoral herrscht, zeigt sich daran, dass man sich auf nötige Arbeitsmenge von jedem arbeitsfähigen Mitglied der Vereinigung zu erhalten und nötigenfalls zu erzwingen.« PÖ, AW, Band 3.2. S. 74 f. 118 RdA, AW, Band 3.2, S. 60. Interessanterweise spricht Mill sich für einen Mindestlohn aus, um die Unabhängigkeit der Arbeiterschaft gegenüber den Arbeitgebern zu erhöhen. Vgl. Robert B. Ekelund jr./Robert D. Tollison, »J. S. Mills neue politische Ökonomie: Mittel und Wege sozialer Gerechtigkeit«, in: Claeys (Hg.), Der soziale Liberalismus John Stuart Mills, a. a. O., S. 221–245. »Die Garantie eines existenzsichernden Mindesteinkommens würde nach Mill in zweifacher Hinsicht Impulse geben: Eine unmittelbare Folge wäre die Sicherstellung der Unterstützung selbst, während längerfristig bewirkt würde, daß sich die Unterstützten auf den gesicherten Lebensunterhalt verlassen.« Ebd., S. 236 f. Obwohl Mill aus liberalen Gründen fürchtet, die Arbeiter könnten von der staatlichen Fürsorge abhängig werden, glaubt er, »daß der Staat aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit ein Existenzminimum garantieren und sich nicht auf ein System privater Wohltätigkeit verlassen sollte, da dieses Unterstützung nur ›ungleichmäßig‹ verteile, so daß sicher einige Menschen verhungern würden«. Ebd., S. 239.

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Erziehung der arbeitenden Klassen

der einen Seite dafür ausspricht, für »die Armen Parks und Ziergärten anzulegen« 119 , damit auch sie in den Genuss des landschaftlichen Flanierens kommen, auf der anderen Seite die »Einfriedung von Gemeinland« 120 aber fortwährend vorantreibt, so dass den mittellosen Klassen immer weniger Grünflächen zur Verfügung stehen. Ferner sollten alle gesetzlichen Beschränkungen aufgehoben werden, die es der Arbeiterschaft unmöglich machen, ihre unverschuldete Situation aus eigener Kraft zu verbessern. Als Beispiel nennt Mill die Idee, dass die Arbeiter ihre Lage zum Positiven wenden könnten, indem sie ihre finanziellen Mittel bündeln und ein eigenes Unternehmen gründen. Auf diese Weise würden einige Arbeiter den Aufstieg in die höheren Klassen schaffen und sich frei machen von den Zwängen der Lohnarbeit. Und selbst wenn dieses in den Augen Mills wünschenswerte Experiment nicht gelingt, verspricht es einen Gewinn, nämlich das Wissen der Erfahrung, das für die Zukunft nützlich ist. Leider kann diese Idee nicht realisiert werden, solange die »Gesetzgebung über Kompagniegeschäfte« 121 derart mangelhaft ist, dass sie auf Unternehmen mit mehreren Mitgliedern nicht angewendet werden kann. Neben persönlichen Schwierigkeiten gibt es eine Reihe struktureller Hindernisse, die es den arbeitenden Klassen schwer machen, ihre soziale Situation zu verbessern. Wenn die Gesellschaft also ein Interesse daran hat, Bedingungen zu schaffen, welche es der Arbeiterschaft erlauben, sich in Zukunft selbst zu helfen, dann sollte sie derartige Gesetze reformieren. »Der Erlass eines guten Gesetzes über Kompagniegeschäfte, das die Bildung von Kapitalien für Zwecke der Industrie durch die Vereinigung von kleinen Ersparnissen in jeder nur möglichen Weise erleichtern würde, wäre eine wirkliche Wohltat.« 122 Ein weiterer Nachteil, den Mill für die arbeitenden Klassen identifiziert, ist die Tatsache, dass es die »bäuerlichen Freigutbesitzer« 123 nicht mehr gibt, jene ländliche Mittelschicht, die lange Zeit als Bindeglied zwischen den Feldarbeitern und den Großgrundbesitzern fungiert hat. Nicht nur, dass diese Klasse der Arbeiterschaft am nächsten stand, mit ihr verband sich auch stets die Hoffnung des sozialen Aufstiegs, der durch Arbeit und Sparsamkeit

119 120 121 122 123

RdA, AW, Band 3.2, S. 61. Ebd. Ebd., S. 63. Ebd. Ebd.

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Bildungspolitische Ansichten oder der Triumph des Wissens

möglich schien. Die Ersparnisse sind dem Landarbeiter eine Last geworden, weil er nicht weiß, wie er sein Geld anlegen soll, »wenn er nicht einen Kaufladen in einer Stadt oder einem Dorf eröffnen will, wo man wahrscheinlich einen weiteren Laden nicht braucht, wo er sich erst mit geringer Aussicht auf Erfolg neue Lebensgewohnheiten bilden muss und wo er selbst im Falle des Gelingens nicht länger seinesgleichen als ermutigendes Vorbild dienen kann« 124 . Und selbst wenn er eine Gelegenheit findet, sein Geld zu investieren, tritt die Behörde dazwischen und verlangt ihren Anteil am Geschäft. Wohin die Arbeiterschaft sich auch wendet, stets muss sie erkennen, dass die Gesetze ihr Streben nach Wohlstand eher behindern als befördern, während die höheren Klassen auch dann gewinnen, wenn sie scheinbar verlieren. Mill geht es also nicht darum, die arbeitenden Klassen mit Almosen zu versorgen. Um die Lage der Arbeiterschaft zu verbessern, bedarf es neben ihrer Erziehung auch gerechter Gesetze in der Gesellschaft. Abgesehen davon sollte die Qualität jeder Hilfe durch ein einfaches Kriterium geprüft werden: Eine Unterstützung ist dann nützlich, wenn sie dazu führt, dass in Zukunft keine weitere Unterstützung gebraucht wird.

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Ebd.

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Drittes Kapitel Von der Logik der Moralwissenschaften: Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kunst

1.

Methodologischer Monismus

Im Frühling 1843 wird Mills Werk System der deduktiven und induktiven Logik. Eine Darstellung der Prinzipien und Methoden wissenschaftlicher Forschung von dem englischen Verleger John William Parker herausgegeben. 1 Diese Publikation markiert den Endpunkt einer langjährigen Auseinandersetzung mit der klassischen Urteilslehre, die Mill bereits in jungen Jahren begonnen hat. Wie bereits angeführt, tritt er im Alter von zwölf Jahren in das höhere Studium seiner Bildungslaufbahn ein. »Dies begann mit der Logik, zunächst mit dem Organon bis einschließlich zur Analytik« 2 . Gleichzeitig bekommt er von seinem ehrgeizigen Vater die Aufgabe, Auszüge aus mehreren lateinischen Abhandlungen über die scholastische Logik zu lesen; auf den gemeinsamen Spaziergängen muss er dem Vater dann ausführlich Rechenschaft über das Gelesene ablegen und prüfende Fragen beantworten. Abgerundet wird das Studium der Urteilslehre durch die Computatio sive Logica, »ein Werk, das an Gedankenschärfe viel höher steht als die gewöhnlichen Schullogiken« 3 , weshalb es vom Vater besonders geschätzt wird. Vgl. Au, AW, Band 2, S. 170. Die Logik stellt einen Versuch dar, das Wiedererstarken der aristotelischen Logik zu schwächen, welche durch die zeitgenössische Arbeit des Erzbischofs Richard Whatley (Elements of Logic) einigen Zuspruch erfahren hat. Vgl. Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 16. »Für Mill ist Logik Wissenschaft des Beweises oder der Evidenz, nicht des Glaubens. Die Logik ist Schiedsrichter aller speziellen Forschung; sie beobachtet nichts, sie entdeckt nichts, sie erfindet nichts – sie urteilt. Sie ist Wissenschaft der Verstandesoperationen im Erreichen der Wahrheit.« Ebd., S. 16. Zur tiefergehenden Beschäftigung mit Mills theoretischer Philosophie siehe John Skorupski, John Stuart Mill, London/New York 1989. Zur Einführung in Mills theoretische Philosophie siehe Ralph Schumacher, John Stuart Mill, Frankfurt am Main/New York 1994, S. 14–102. 2 Au, AW, Band 2, S. 37. 3 Ebd. 1

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Von der Logik der Moralwissenschaften

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Mills Logik keinesfalls zufällig entsteht. Auch ist sie sein erstes großes Werk und begründet seinen Ruf als begabten Philosophen und Schriftsteller. Obwohl das Buch neben den zwei Schriften Über die Freiheit (1859) und Utilitarismus (1863) zumindest in England zu seinen erfolgreichsten Arbeiten gehört 4 , enthält es keine Revolution im Hinblick auf die Grundsätze wissenschaftlicher Forschung. Wie Mill in der Vorrede festhält, erhebt die Schrift zu keinem Zeitpunkt den Anspruch, »der Welt eine neue Theorie der Geistesoperationen zu geben« 5 ; sein Ziel besteht vielmehr darin, die besten Ideen spekulativer Forschung einer kritischen Prüfung zu unterziehen und sie »zu einem Ganzen zu verweben und zu einem System zu vereinigen« 6 . Die Logik entspricht Mills Bedürfnis, der zu seiner Zeit vorherrschenden Doktrin, nach der die Verstandeswahrheiten fast ausschließlich unabhängig von Beobachtung und Erfahrung gewonnen werden, etwas entgegenzusetzen. Seine Kritik richtet sich in erster Linie gegen die metaphysische Schule des europäischen Festlands, die bei ihren Untersuchungen des menschlichen Erkenntnisapparats weitestgehend auf empirische Daten verzichtet und sich stattdessen an den Zeugnissen der erfahrungsarmen Mathematik und den ihr verwandten Zweigen der Naturwissenschaften orientiert. 7 Als wissenschaftliches Lehrbuch vertritt die Logik die entgegengesetzte Ansicht, »welche alles Wissen aus der Erfahrung und alle moralischen und intellektuellen Qualitäten hauptsächlich aus der Richtung ableitet, die durch die Assoziation gegeben wird« 8 . Anders als die Syllogistik steht Mills Logikauffassung unter dem Einfluss der empirischen und sensualistischen Strömungen der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts und ist damit an die Funktion von Sinneseindrücken, Empfindungen und Wahrnehmungen gekoppelt. 9 Auch ist sein Verständnis der Urteilskraft maßgeblich durch die Assoziationspsychologie seines Vaters beeinflusst, der in seiner

Vgl. Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 9. John Stuart Mill, System der deduktiven und induktiven Logik. Eine Darstellung der Prinzipien und Methoden wissenschaftlicher Forschung, nach der Übersetzung v. J. Schiel (Brandenburg) aus dem Jahr 1886, Norderstedt 2008, S. 5. 6 Ebd., S. 5. 7 Vgl. Au, AW, Band 2, S. 172. 8 Ebd., S. 171. 9 Vgl. Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 15. 4 5

172 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

Methodologischer Monismus

Analyse des Geistes den Boden für die Psychologisierung der Logik bereits vorbereitet hat. 10 Während die ersten fünf Bücher der Logik die Problematik von Namen, Urteilen und Fehlschlüssen sowie die erkenntnisgenerierenden Verfahren der Induktion und Deduktion behandeln, diskutiert Mill im sechsten Buch die Frage, »ob es Moralwissenschaften gibt oder geben kann, zu welchem Grad der Vollendung sie sich bringen lassen, und durch welche Auswahl oder Anpassung der in den früheren Teilen dieses Werkes vorgeführten Methoden diese Vollendung zu erreichen ist« 11 . Den Hintergrund für dieses Vorhaben liefert die Erkenntnis, dass die Moralwissenschaften sich gegenüber den Naturwissenschaften in einem Zustand der Rückständigkeit befinden. Mills Ausgangsthese besagt, dass eine Angleichung der zwei Forschungszweige möglich ist, indem das methodische Rüstzeug der Naturwissenschaften auf das Gebiet der Geisteswissenschaften übertragen wird. 12 Sein Ziel besteht demzufolge in der Schaffung einer Einheitswissenschaft nach dem Vorbild der komplexen Naturwissenschaften. Was die Gewichtung des sechsten Buches betrifft, weist er in den einleitenden Bemerkungen darauf hin, dass alles Wesentliche bereits in den vorangegangenen Büchern geleistet worden ist, so dass das sechste Buch als Appendix konzipiert ist. 13 Allein dieses ist im vorliegen-

Vgl. Au, AW, Band 2, S. 172. Die Assoziationspsychologie seines Vaters und dessen Freund Alexander Bain dient Mill als Fundament für seine Auffassung der Psychologie. Er geht von wenigen Elementen des Mentalen aus wie Gedanken, Willensakten, Emotionen und Wahrnehmungen. Durch die Assoziationsgesetze, so die erkenntnistheoretische Annahme, lässt sich dann bestimmen, welcher mentale Zustand einem anderen nachfolgt. Die Gesetze der Assoziation lassen sich auf dem Weg der experimentellen Beobachtung ermitteln. Um aber menschliches Handeln im gesellschaftlichen Kontext approximativ vorherzusagen, müssen die Ergebnisse der Psychologie mit den Erkenntnissen der Charakterlehre und der Sozialwissenschaft in Verbindung gebracht werden. Vgl. dazu Dominique Kuenzle/Michael Schefczyk, John Stuart Mill zur Einführung, Hamburg 2009, S. 117 ff. 11 Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 40. 12 Vgl. ebd., S. 37 ff. 13 Das erste Buch der Logik behandelt das Problem der Bedeutung von Namen und Urteilen. Das zweite Buch beschäftigt sich mit dem logischen Schließen. Das dritte Buch bildet den Kern der Abhandlung, weil hier das Verfahren der Induktion diskutiert wird, welches das Zentrum einer von Mill favorisierten erfahrungsnahen Forschungslogik darstellt, die als Erweiterung der klassischen Syllogistik betrachtet werden kann, die auf Aristoteles zurückgeht. Das vierte Buch stellt eine Ergänzung zum vorigen Kapitel dar, indem es die Hilfsoperationen des induktiven Verfahrens behan10

173 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

Von der Logik der Moralwissenschaften

den Kontext von Interesse; eine Diskussion der übrigen fünf Bücher findet nicht statt.

2.

Freiheit und Notwendigkeit

Nachdem Mill den Rahmen seiner Untersuchung abgesteckt und die Forschungsfrage umrissen hat, wendet er sich der Frage zu, ob das Kausalgesetz ausschließlich naturwissenschaftliche Phänomene umfasst oder ob auch menschliche Handlungen dieser Gesetzmäßigkeit unterworfen sind. 14 Diese Herangehensweise ist konsequent, weil er sich die Aufgabe gestellt hat, dass methodische Instrumentarium der Naturwissenschaften auf das Gebiet der Geisteswissenschaften zu übertragen; wenn dies gelingen soll, muss er zeigen, dass nicht nur die Erscheinungen der Natur, sondern auch soziale Phänomene letztlich nichts anderes sind als Wirkungen von Ursachen. Damit betritt Mill den philosophischen Kampfplatz der menschlichen Willensfreiheit, auf dem sich seit Beginn des Streits zwei feindliche Lager unversöhnlich gegenüberstehen. Während die Anhänger der Notwendigkeitslehre argumentieren, dass Willensakte und Handlungen durch Kausalgesetze erklärt werden können, vertreten die Metaphysiker der Willensfreiheit die Überzeugung, dass der Wille in Freiheit sich selbst bestimmt, »daß unsere Willensakte nicht im eigentlichen Sinne des Wortes Wirkungen von Ursachen [sind], oder daß sie wenigstens keine Ursachen haben, denen sie gleichmäßig und bedingungslos gehorchen« 15 . Da Mill sich in erster Linie den empirischen Wissenschaften verpflichtet fühlt, kann es nicht verwundern, dass er sich als Anhänger delt. Das fünfte Buch handelt von den Fehlschlüssen und deren Klassifikation. Vgl. ebd., S. 15 f. 14 Was Mills Kausaltheorie betrifft, vertritt Siegfried Becher die These, dass diese an einer gewissen Inkonsistenz leidet. Metaphysische, logische und psychologische Betrachtungen stünden unverbunden nebeneinander und führten teilweise zu widersprüchlichen Resultaten. Seine Aufgabe sieht Becher deshalb darin, »zu zeigen, wie Stuart Mill, auf rein logischem Weg einer richtigeren Auffassung des Kausalgesetzes nahe gekommen, nicht imstande ist, die Verwandtschaft derselben mit ähnlichen Ansichten seiner Gegner zu erkennen, weil er sie bei ihnen mit anderen von ihm als falsch erkannten Anschauungen verbunden zu sehen gewohnt ist.« Siegfried Becher, Erkenntnistheoretische Untersuchungen zu Stuart Mills Theorie der Kausalität, Hildesheim/New York, 1980, S. 5. 15 Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 41.

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Freiheit und Notwendigkeit

der ersten Auffassung präsentiert: »Ich habe bereits hinlänglich angedeutet, daß die erstere dieser Meinungen diejenige ist, die ich für die richtige halte« 16 . Die von Philosophen aufgestellte metaphysische Lehre vom freien Willen ist im Gegensatz dazu nur erdacht worden, weil die Vorstellung, dass Willensakte vollständig durch Kausalgesetze beschrieben werden können, als zu demütigend für die menschliche Natur empfunden wurde. Auch wenn Mill für diese die menschliche Würde schützende Auffassung durchaus Verständnis aufbringt, so lässt er doch keinen Zweifel daran, dass das Problem der Willensfreiheit letztlich auf einem begrifflichen Missverständnis basiert, welches es zu überwinden gilt. Die Lehre von der Notwendigkeit besagt, dass die Art und Weise, wie jemand an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit handeln wird, erschlossen werden kann, sobald die Psychologie, der Charakter und die sozialen Umstände, in denen das Individuum sich bewegt, eruiert sind. Mit anderen Worten: Wenn wir alle Bestimmungsgründe kennen, die auf das Individuum einwirken, könnten wir seine Handlungsweise mit derselben Gewissheit vorhersagen wie irgendein Naturereignis. 17 Diesen Gedanken hält Mill für die Auslegung einer universalen Erfahrung, die alle entscheidungsrelevanten Daten bereitstellt. Menschliche Willensakte können demzufolge mit der gleichen Exaktheit vorhergesagt werden wie jedwedes natürliches Phänomen; gezweifelt werden kann allein an der Vollständigkeit oder Richtigkeit der Daten, nicht jedoch an der Vorhersagbarkeit der Handlungsweise, wenn alle tatsächlichen Einflussgrößen vorliegen. Auch steht diese Auffassung keinesfalls im Widerspruch zur Freiheit des Menschen. Mills Argument lautet, dass wir uns als Menschen nicht weniger frei fühlen, nur weil die, die uns kennen, sich ein Urteil darüber gebildet haben, wie wir in bestimmten Situationen handeln werden. »Wir können frei sein, und doch kann ein anderer volle Gewißheit darüber haben, wie wir unsere Freiheit gebrauchen werden.« 18 Die Anhänger der philosophischen Notwendigkeitslehre unterliegen einem Irrtum, wenn sie glauben, »daß im Kausalverhältnis nichts anderes enthalten ist als unabänderliche, gewisse und unbe-

16 17 18

Ebd. Vgl. ebd., S. 42. Ebd.

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Von der Logik der Moralwissenschaften

dingte Folge« 19 . Da ein solches Verständnis die Bedeutung der Unwiderstehlichkeit miteinschließt, sind sie der Überzeugung, dass es ihnen aufgrund eines geheimnisvollen Zwanges nicht möglich ist, Ursachen zu widerstehen oder ihnen zumindest konträre Kräfte entgegenzustellen. Diese Auffassung teilt Mill nicht, er möchte den Begriff der Notwendigkeit anders verstanden wissen: »Wenn wir sagen, daß alle menschlichen Handlungen mit Notwendigkeit stattfinden, so meinen wir bloß, daß sie gewiß eintreten werden, wenn nichts dazwischen tritt« 20 . Um sein Begriffsverständnis zu illustrieren, stellt er seine Überzeugung zu der eines schicksalsgläubigen Menschen in Kontrast. Ein solches Individuum, das sich im Modus existenzieller Passivität eingerichtet hat, geht wie selbstverständlich davon aus, dass seine Handlungen durch seine psychologische und charakterliche Ausstattung und diese wiederum durch seine Erziehung und die ihn umgebenden sozialen Umstände determiniert werden. Das Ergebnis ist, dass dieser Mensch glaubt, sich nicht in Freiheit für die eine oder andere Handlung entscheiden zu können; sein Verhalten ist für ihn durch das Kausalprinzip notwendig vorherbestimmt und kann durch keine dazwischentretende Kraft verhindert oder modifiziert werden. Der Anhänger der Notwendigkeitslehre ist ein Fatalist, »sein Charakter ist für ihn und nicht durch ihn gebildet, daher ist sein Wunsch, daß er anders gebildet wäre, nutzlos; er hat keine Gewalt ihn zu ändern« 21 . Diese Sichtweise hält Mill allerdings für einen Irrglauben. Als Freund der Freiheit ist er der Überzeugung, dass der Mensch nicht nur die Macht hat, seinen Charakter bis zu einem gewissen Grad selbst zu bilden, sondern er ist auch der Meinung – und das ist noch viel wirkungsreicher –, dass er in der Lage ist, die ihn umgebenden Verhältnisse der Gesellschaft zu gestalten. Die Macht anderer Menschen ist lediglich eine Kraft mit begrenzter Reichweite; »sie machten uns zu dem, wozu sie uns machten, nicht indem sie den Zweck, sondern indem sie die erforderlichen Mittel wollten« 22 . Und wenn unsere Gewohnheiten in uns nicht zu tief verankert sind, können wir uns leicht wieder anders machen, und zwar dadurch, indem wir genau die Mittel wollen, die für eine Umgestaltung des Charakters notwendig sind. 19 20 21 22

Ebd., S. 43. Ebd., S. 45. Ebd., S. 46. Ebd.

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Freiheit und Notwendigkeit

»Wenn sie uns unter den Einfluss gewisser Umstände setzen konnten, so können wir uns in gleicher Weise unter den Einfluss anderer Umstände stellen« 23 , wenn wir es wollen. Doch woher kommt der Wunsch, seinen Charakter zu ändern? Laut Mill wird dieser weder durch die gesellschaftliche Organisation im Allgemeinen noch durch unsere Erziehung im Besonderen geweckt, sondern durch unsere persönliche Erfahrung, beispielsweise durch die schädlichen Folgen eines Charakters, den wir vor der Umgestaltung besaßen oder durch das Gefühl der Bewunderung für die Tugendhaftigkeit eines anderen Menschen. Es ist leicht einzusehen, dass das Gefühl der Veränderungsfähigkeit eine enge Beziehung zur Freiheit hat. »Und in der Tat: wenn wir genau prüfen, werden wir finden, daß dieses Gefühl unserer Fähigkeit, unseren eigenen Charakter, wenn wir es wünschen, umzugestalten, selbst das Gefühl sittlicher Freiheit ist, dessen wir uns bewußt sind.« 24 Ein sittlich freier Mensch hat nicht das Gefühl, von Gewohnheiten beherrscht zu werden, er spürt, dass er fähig ist, Regelmäßigkeiten und Verlockungen zu widerstehen und Handlungsweisen zu verändern oder abzulegen, wenn er dies wünscht. Das Gefühl sittlicher Freiheit findet seine Vervollkommnung in der Erfahrung, dass es uns in der Vergangenheit bereits gelungen ist, unseren Charakter zu ändern; »haben wir dies nur gewünscht und nicht erreicht, so besitzen wir keine Gewalt über unseren Charakter, wir sind nicht frei« 25 . Neben der Fähigkeit zur Selbstbildung diskutiert Mill noch den Einfluss der Ideenassoziation, die für ihn nicht nur in direkter Beziehung mit der Herausbildung individueller Gewohnheiten steht, sondern auch mit einem Problem verbunden ist, das seinen Ursprung in den Gesetzmäßigkeiten der Ideenassoziation hat. Zunächst konstatiert er, dass der menschliche Wille durch Beweggründe bestimmt wird, die an die Erwartungen von Lust und Schmerz gekoppelt sind. Das Problem entsteht dadurch, dass wir durch die Wiederholung einer Handlung in einen Zustand geraten können, in dem wir nur noch die Mittel wollen, ohne jedoch an das Ziel zu denken, d. h. »die Handlung selbst wird ein Gegenstand unseres Begehrens und wird ohne Beziehung auf irgendeinen Zweck außer ihr selbst voll-

23 24 25

Ebd., Ebd., S. 47. Ebd., S. 48.

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Von der Logik der Moralwissenschaften

bracht« 26 . Mit anderen Worten: Indem wir uns daran gewöhnen, eine bestimmte Handlung zu wollen, weil sie durch den Einfluss der Ideenassoziation mit der Erwartung der Lust verknüpft ist, laufen wir Gefahr, diese Handlungsweise auch in Zukunft zu wollen, ohne Rücksicht darauf, ob sie uns auch weiterhin Freude einbringen wird. Durch den psychologischen Vorgang der assoziativen Verknüpfung kann demzufolge nicht nur gutes, sondern auch schlechtes Verhalten zur Gewohnheit werden. Um der Gefahr einer Verstetigung schädlicher Handlungsweisen vorzubeugen, gelangt Mill in Anlehnung an Novalis und dessen Vorstellung vom vollkommen gebildeten Willen zu der Einsicht, dass die Vorsätze der Willensakte von allen Empfindungen befreit werden müssen; »ein einmal [so] gebildeter Wille kann stetig und beständig sein, auch wenn unsere leidende Empfänglichkeit für Lust und Schmerz in hohem Maße geschwächt oder sich wesentlich geändert hat« 27 .

3.

Wissenschaft vom Menschen

Im weiteren Verlauf seiner Analyse wendet Mill sich der Frage zu, unter welchen Bedingungen eine Wissenschaft von der menschlichen Natur möglich ist. 28 Die Tatsache, dass Gefühle, Gedanken und Handlungen empfindender Wesen bisher kein Gegenstand wissenschaftlicher Forschung im strengen Sinne waren, führt er auf eine Begriffsverwirrung zurück, mit deren Klärung er seine Ausführungen beginnt. Zunächst konstatiert Mill, dass alle Tatsachen 29 , die nach Ebd., S. 49. Ebd., S. 50. 28 Vgl. Peter Wust, John Stuart Mills Grundlegung der Geisteswissenschaften, Bonn 1914. 29 »Mill orientiert sich im Hinblick auf sein Wissenschaftsverständnis stark an der antimetaphysischen Ausrichtung Comtes. »Mill fasziniert an Comte, daß dieser nur als Wissenschaft anerkannte, was bar jeglicher theologischer und metaphysischer Spekulation blieb: ihr empirischer Charakter, ihre Wertneutralität, ihre induktive Methode sowie ihre Fähigkeit, aufgrund dieser methodologischen Vorgaben zu Prognosen zu gelangen.« Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 17. Im Zentrum dieser Forschungsausrichtung steht der Positivismusbegriff: »Comte definierte positiv als reell, nützlich, gewiß und präzise, organisch und relativ und bezeichnete metaphysische Erörterungen als theoretisch unmöglich, praktisch nutzlos. Den Idealismus kritisierte er als metaphysische Philosophie, die abstrakte Anfangs- und Endursachen annehme und vom Wissen der Dinge handele. Dadurch verließe sie den 26 27

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Wissenschaft vom Menschen

natürlichen Gesetzen aufeinanderfolgen – auch wenn diese Gesetze noch nicht gefunden wurden oder mit vorhandenen Mitteln derzeit auch nicht gefunden werden können – grundsätzlich dazu geeignet sind, Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis zu sein. Als Beispiel nennt er die Lehre von den meteorologischen Erscheinungen. Zwar ist es bisher nicht gelungen, alle Umstände zu ermitteln, welche uns in den Stand versetzen würden, das Eintreten einer Wetterlage in einer bestimmten Region zu einem bestimmten Zeitpunkt exakt vorherzusagen, aber niemand wird daran zweifeln, dass meteorologische Phänomene von Gesetzen abhängen und dass diese wiederum von anderen Gesetzmäßigkeiten herstammen, nämlich von denen der Wärme, der Elektrizität und der Verdunstung. 30 Auch ist Mill davon überzeugt, »daß, wenn wir mit allen vorhergehenden Umständen bekannt wären, wir selbst aus jenen allgemeineren Gesetzen (von den Schwierigkeiten der Berechnung abgesehen) den Zustand der Witterung in irgendeinem künftigen Zeitalter erschließen könnten« 31 . Die Meteorologie besitzt damit zwar alle formalen Erfordernisse, um eine Wissenschaft zu sein, allerdings ist sie zu Zeiten Mills noch unvollkommen; auch dürften »die zur Anwendung ihrer Gesetze auf bestimmte Fälle erforderlichen Daten kaum erreichbar sein« 32 . Vor diesem Hintergrund gelangt Mill schließlich zu der Überzeugung, dass die Lehre von der Witterung sich als Vorbild für die Wissenschaft von der menschlichen Natur nicht eignet; er sucht vielmehr einen Fall, »der zwischen der vollkommenen Wissenschaft und dieser ihrer äußersten Unvollkommenheit in der Mitte liegt« 33 . Als vollkommene Wissenschaft betrachtet Mill, wie sich noch zeigen wird, die Astronomie. Die Phänomene der Natur werden sowohl von größeren Ursachen bestimmt, welche sich relativ gut ermitteln lassen, als auch von kleineren Kräften beeinflusst, deren Geltung auf die Erscheinung sich häufig nicht vollständig erschließen lässt. Wenn alle sicheren Boden der Tatsachen. Der Materialismus wurde als unwissenschaftlich abgelehnt. Damit umriß er seinen eigenen intellektuellen Standpunkt als dritten Weg zwischen Idealismus und Materialismus.« Yvonne Bernart, Der Beitrag des erfahrungswissenschaftlichen Positivismus in der Tradition Auguste Comtes zur Genese der Soziologie. Rekonstruktion exemplarischer Entwicklungslinien, Göttingen 2003, S. 38. 30 Vgl. Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 51. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 52. 33 Ebd.

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größeren Ursachen sich innerhalb unserer Beobachtung und Messung befinden und keine anderen Störungsgrößen dazwischentreten, werden wir ohne große Schwierigkeiten nicht nur eine vollständige Erklärung der Erscheinung im Allgemeinen, sondern auch aller Variationsmöglichkeiten im Besonderen liefern können. Anders verhält es sich jedoch, wenn viele kleinere Ursachen, welche für sich genommen keinen signifikanten Einfluss auf das Phänomen ausüben, mit größeren Kräften zusammenwirken; dann kommt es zu starken Veränderungen und Abweichungen in den Messergebnissen, welche wir nicht vollständig erklären können – folglich werden unsere Vorhersagen ungenau sein und nur annähernd in Erfüllung gehen. Als Beispiel für eine Wissenschaft, die es mit solchen Schwierigkeiten zu tun hat, führt Mill die Lehre von Ebbe und Flut an. Während der Teil der Erscheinung, welcher von der Anziehungskraft des Mondes und der Sonne abhängt, sich für jeden Teil der Erde ermitteln lässt, bleibt er Einfluss örtlicher und zufälliger Gegebenheiten wie beispielsweise die Bodenbeschaffenheit des Meeres und die Windrichtung auf den Zeitpunkt und die Höhe der Flut weitestgehend unbestimmt. Gleichwohl gelangt Mill zu dem Ergebnis, dass die Gezeitenlehre im Gegensatz zur Meteorologie eine für die Praxis nützliche Wissenschaft ist; »nicht nur ist […] die Lehre von den Fluten eine Wissenschaft wie die Meteorologie, sondern sie ist auch, was die Meteorologie bisher wenigstens nicht ist, eine für die Praxis sehr brauchbare Wissenschaft« 34 . Er möchte offenbar Folgendes sagen: Während die Meteorologie als Wissenschaft nicht nur unvollkommen, sondern auch nutzlos ist, weist die Gezeitenlehre lediglich ein Merkmal auf; sie ist zwar genauso unvollkommen wie die Lehre von der Witterung, aber im Gegensatz zu ihr durchaus brauchbar, nicht zuletzt deshalb, weil sich hier die hauptsächlichen Einflussgrößen, die für eine Vorhersage notwendig sind, ermitteln und auswerten lassen. Auch wenn die Flut vom berechneten Ergebnis mit einem nicht zu erklärenden Unterschied abweicht, lassen sich im Hinblick auf Ebbe und Flut dennoch Vorhersagen treffen, und das Ergebnis wird, wenn auch nur approximativ, den Prognosen weitestgehend entsprechen. »Und das ist es, was jene meinen oder meinen sollten, die von Wissenschaften sprechen, welche keine exakten sind.« 35

34 35

Ebd., S. 53. Ebd.

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Wissenschaft vom Menschen

Das bedeutet aber nicht, dass die Flutlehre sich in Zukunft nicht zu einer exakten Wissenschaft entwickeln kann; der Lehre von den Himmelskörpern ist dieser Schritt bereits gelungen. Die Astronomie wurde zu einer exakten Wissenschaft, »als sie imstande war, nicht nur den allgemeinen Gang der Planetenbewegungen, sondern auch ihre Störungen zu erklären und auf deren Ursachen zurückzuführen« 36 . Die Lehre von Ebbe und Flut könnte also in dem Moment zu einer exakten Wissenschaft werden, in dem es ihr gelingt, neben den hauptsächlichen Ursachen des Phänomens auch die kleineren Einflussgrößen durch Gesetze zu beschreiben. Wenn ihr dies gelingt, wird sie in der Lage sein, allgemein gültige Lehrsätze aufzustellen, welche sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als wahr erweisen und unsere Kenntnis der natürlichen Phänomene vermehren werden. Die Wissenschaft von der menschlichen Natur ist von ihrer Beschaffenheit her am ehesten mit der Lehre von Ebbe und Flut zu vergleichen, weil es auch ihr bisher nicht gelungen ist, den Grad an wissenschaftlicher Exaktheit zu erlangen, der in der Astronomie und anderen Naturwissenschaften bereits verwirklicht ist. Gleichwohl sieht Mill keinen Grund dafür, »weshalb sie nicht ebensogut eine Wissenschaft sein sollte, als es gegenwärtig die Flutlehre ist, oder als die Astronomie war, solange ihre Berechnungen nur die Haupterscheinungen und nicht die Störungen bewältigt hatten« 37 . Akademische Vollkommenheit würde die Wissenschaft von der menschlichen Natur, deren Untersuchungsgegenstände die Gedanken, Gefühle und Handlungen empfindender Wesen sind, erst dann erreichen, wenn sie uns in die komfortable Lage versetzen würde, exakt vorherzusagen, wie ein bestimmtes Individuum während seines gesamten Lebens denken, fühlen und handeln wird. Dass eine derartige Versuchsanordnung aber unmöglich ist, sieht auch Mill ein. Nicht nur lassen sich die Verhältnisse, in denen das Individuum sich während seines Lebens bewegen wird, nicht vollständig vorherbestimmen, auch lässt sich auf der Grundlage gegenwärtiger Verhältnisse keine belastbare Aussage darüber treffen, wie die Testperson in Zukunft denken, fühlen und handeln wird, nicht zuletzt deshalb, weil diese Phänomene nicht allein durch die gesellschaftlichen Umstände bestimmt werden, sondern das Ergebnis äuße-

36 37

Ebd. Ebd., S. 54.

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rer Tatsachen und des individuellen Charakters sind. »Und die Triebkräfte […], die einen menschlichen Charakter bestimmen, sind so zahlreich und so verschiedenartig […], daß diese in ihrer Gesamtheit nie in zwei Fällen völlig dieselben sind.« 38 Allerdings sucht Mill bekanntlich eine Wissenschaft, die weder unvollkommen noch vollkommen ist, sondern zwischen diesen beiden Extremen in der Mitte liegt, weshalb jene Ausführungen auch kein Grund dafür sind, die Idee von der Wissenschaft von der menschlichen Natur aufzugeben. Sein Argument für die akademische Etablierung dieser Disziplin lautet folgendermaßen: Ähnlich der Flutlehre, in der Wirkungen hauptsächlich durch allgemeine und weniger durch partielle Ursachen bestimmt werden, hat es auch die Wissenschaft von der menschlichen Natur im Wesentlichen mit Tatsachen zu tun, »die allen Menschen oder wenigstens großen Massen derselben gemein sind, und nur in einem geringen Maße von den Idiosynkrasien der Organisation oder der Entwicklungsgeschichte der Individuen« 39 beeinflusst werden. Auf der Grundlage dieses Wissenschaftsverständnisses wird es nicht nur möglich sein, im Hinblick auf soziale Wirkungen verlässliche Vorhersagen zu treffen, die sich fast immer bewähren werden, sondern es wird auch möglich sein, allgemeine Lehrsätze aufzustellen, die sich in Zukunft als wahr erweisen werden. »Und überall, wo es hinreichend ist zu wissen, wie die große Mehrheit des Menschengeschlechts oder irgendeines Volkes oder einer Klasse von Menschen denken, fühlen und handeln wird, kommen diese Sätze Gesetzen von universaler Allgemeinheit gleich.« 40 Die Legitimität und Nützlichkeit der Wissenschaft von der menschlichen Natur ist damit für Mill entsprechend bewiesen. Die neue Lehre setzt sich aus den Disziplinen der Psychologie (Wissenschaft von den Gesetzen des Geistes), Ethologie (Wissenschaft von der Bildung des Charakters) und der Sozialwissenschaft (Wissenschaft von den Gesetzen sozialer Erscheinungen) zusammen. Die Ethik als Kunst ist, wie sich noch zeigen wird, von diesen spekulativen Fachrichtungen abzugrenzen, auch wenn sie in besonderer Weise mit der Wissenschaft von der menschlichen Natur in Beziehung steht.

38 39 40

Ebd., S. 55. Ebd. Ebd.

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a)

Psychologie

Die Psychologie, die den allgemeinen oder abstrakten Teil der Wissenschaft von der menschlichen Natur darstellt, ist eine Art Grundlagenwissenschaft, deren Untersuchungsgegenstand die Gesetze der Aufeinanderfolge unterschiedlicher Bewusstseinszustände empfindender Wesen sind. 41 Die Zustände des Bewusstseins umfassen nicht nur Gedanken und Gemütsempfindungen, sondern auch Sinnesempfindungen und Willensakte. Indem Mill auch die Sinnesempfindungen zu den Zuständen des Geistes zählt, macht er gleich zu Beginn seiner Ausführungen auf ein Problem aufmerksam: Sinnesempfindungen werden in der Regel nämlich nicht als geistige, sondern als körperliche Zustände verstanden. Wenn dies aber der Fall ist, kann die Psychologie keine eigene Wissenschaft sein, sie wäre dann lediglich ein Zweig der naturwissenschaftlichen Physiologie. Mill löst dieses Problem, indem er erneut auf ein begriffliches Missverständnis aufmerksam macht. Sein Argument lautet, dass es zwar durchaus richtig ist, dass unmittelbare Vorläufer einer Sinnesempfindung ein Zustand des Leibes sind, die Empfindung selbst ist aber ein Geisteszustand. »Wenn das Wort Geist irgendetwas bedeutet, so bedeutet es das, was fühlt.« 42 Demzufolge fallen Sinnesempfindungen wie alle anderen Gefühlszustände unter die Kategorie der Geistesphänomene und gehören damit nicht in das Forschungsgebiet der Physiologie, sondern in das der Psychologie. »Die Geistesphänomene sind daher die verschiedenen Gefühle unserer Natur: ebenso jene, die man (unpassenderweise) physische nennt, wie die, die man als die eigentlich geistigen bezeichnet« 43 . Während der Physiologie die Aufgabe zukommt, den physischen Mechanismus zu untersuchen, der die Empfindung hervorbringt, ist die Erforschung des Gefühls ausschließlich der Psychologie vorbehalten. Mill räumt zwar ein, dass der physiologische Einfluss auf die Aufeinanderfolge unterschiedlicher Bewusstseinszustände durchaus in enger Beziehung mit der psychologischen Forschungsarbeit steht, aber die Psychologie allein auf die Ergebnisse der physiologischen Analyse zu gründen, erscheint ihm dennoch als »praktischer IrrVgl. Fred Wilson, »Mill on Psychology and the Moral Science«, in: John Skorupski (Hg.), The Cambridge Companion to Mill, Cambridge 1998. S. 203–254. 42 Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 57. 43 Ebd. 41

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tum« 44 . Seine Argumentation richtet sich vor allem gegen Comte, der die »moralischen und intellektuellen Erscheinungen« 45 ausschließlich der Physiologie überlassen will. In den Augen Mills macht er damit der »Wissenschaft des Geistes im eigentlichen Sinne nicht nur den Charakter einer Wissenschaft streitig, sondern stellt sie nach der chimärischen Beschaffenheit ihres Gegenstandes und ihrer Ansprüche fast in eine Reihe mit der Astrologie« 46 . Die Psychologie muss in den Augen Mills in den Stand einer selbstständigen und vollwertigen Wissenschaft erhoben werden, weil es praktisch unbestreitbar ist, dass es bestimmte Gesetzmäßigkeiten im Hinblick auf die Abfolge unterschiedlicher Bewusstseinszustände gibt und dass diese sich durch empirische Forschungsarbeit ermitteln lassen. Das Hauptinteresse der Wissenschaft des Geistes richtet sich auf die psychologischen Gesetze der Aufeinanderfolge, »sie mögen nun letzte oder abgeleitete sein, denen gemäß ein Geisteszustand einem andern nachfolgt, durch einen andern verursacht oder wenigstens ihm zu folgen veranlasst wird« 47 . So kann es beispielsweise geschehen, dass, sobald ein Bewusstseinszustand in uns einmal durch eine Ursache erzeugt worden ist, dieser Zustand wieder in uns hervorgerufen wird, ohne dass dieselbe Ursache erneut anwesend ist. »So können wir, wenn wir einmal einen Gegenstand gesehen oder getastet haben, nachher an denselben denken, wenn er auch unserem Gesichts- oder Tastsinn entrückt ist.« 48 Dieses Fundamentalgesetz hat bereits Hume in seinem Werk An Inquiry Concerning Human Unterstanding beschrieben, als er darauf hingewiesen hat, dass jeder geistige Eindruck (Impression) seine Vorstellung (Idea) hat. 49 Die sekundären Bewusstseinszustände, wie Mill sie auch nennt, werden durch primäre Eindrücke und durch Gesetze erzeugt, die man als Hauptgesetze der Assoziation bezeichnet. Diese Gesetzmäßigkeiten

Ebd., S. 60. Ebd., S. 59. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 60. 48 Ebd., S. 61. 49 Vgl. ebd.; siehe auch David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Stuttgart 1986; auch Frederick Rosen, Classical Utilitarianism from Hume to Mill, London/New York 2003; ferner Manfred Kühn, »War Hume Utilitarist?«, in: Olaf Asbach (Hg.), Vom Nutzen des Staates. Staatsverständnisse des klassischen Utilitarismus: Hume – Bentham – Mill, a. a. O., S. 87–108. 44 45

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Wissenschaft vom Menschen

werden durch die Methoden experimenteller Forschung ermittelt und bilden die Grundlage der wissenschaftlichen Psychologie. Neben den Gesetzen der Assoziation weist Mill noch auf einen anderen Aspekt hin, welcher für ihn in enger Beziehung mit der Intensität eines Eindrucks steht: die verschiedenen Qualitäten des Geistes. Den Hintergrund für diesen Gesichtspunkt liefert die Beobachtung, dass Menschen auf ein und denselben Reiz unterschiedlich reagieren. Mill geht von der Arbeitshypothese aus, dass Menschen von außen kommende Eindrücke nicht nur verschiedenartig erleben, sondern auch unterschiedlich verarbeiten. »Diese Unterschiede […] können erstens ursprüngliche und letzte Tatsachen, oder zweitens Folgen der vorangegangenen Geistesentwicklung jener Individuen sein, oder sie können drittens und letztens auf Verschiedenheiten der physischen Organisation beruhen.« 50 Die Frage aber, in welchen Fällen von einem unmittelbaren und in welchen Fällen von einem mittelbaren Einfluss gesprochen werden kann, gehört nicht mehr in das Forschungsgebiet der Psychologie. Diese Aufgabe muss die Physiologie übernehmen; zwar befindet sich dieser Zweig spekulativer Forschung noch in den Anfängen, aber aufgrund des allgemeinen Fortschritts des Menschengeschlechts ist Mill davon überzeugt, dass der Einfluss der organischen Konstitution eines Menschen auf die unterschiedlichen Geisteszustände bald ergründet sein wird. Was die Psychologie betrifft, so stellt Mill sich die Frage, inwieweit die Elementargesetze des Geistes sich überhaupt zur Erklärung tatsächlicher Phänomene verwenden lassen, denn es ist zwar offenkundig, dass die zusammengesetzten Gesetze des Seelenlebens durch die einfachen Gesetze erzeugt werden, aber dies bedeutet noch nicht, dass es sich auch um eine Zusammensetzung der Ursachen handelt, »d. h. das Ergebnis zusammenwirkender Ursachen ist nicht immer genau die Summe aller Einzelwirkungen dieser Ursachen, ja nicht einmal stets eine Wirkung von gleicher Art wie jene« 51 . Damit möchte Mill sagen, dass, wenn viele Eindrücke im Geist zusammenkommen, gelegentlich ein Vorgang stattfindet, der mehr einer chemischen als einer mechanischen Verbindung ähnelt: »Wenn man Eindrücke so oft vereinigt erfahren hat, daß jeder von ihnen leicht und augenblicklich die Ideen der ganzen Gruppe hervorruft, so verschmelzen jene Ideen mitunter und erscheinen nicht als mehrere, sondern als eine 50 51

Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 65. Ebd., S. 62.

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Idee.« 52 Wie die verschiedenen Farben eines Prismas den Eindruck von weißer Farbe erzeugen, wenn man das Prisma rasch vor den Augen hin und her bewegt, so verschmelzen die unterschiedlichen Eindrücke, wenn man sie häufig zusammen erfahren hat, im Bewusstsein bisweilen zu einer einzigen Vorstellung. Vor diesem Hintergrund sollte man laut Mill sagen, dass die zusammengesetzte Vorstellung aus mehreren einfachen Ideen erzeugt worden ist, man sollte hingegen nicht sagen, dass sie aus mehreren elementaren Ideen besteht: »Dieses sind […] Fälle von chemischer Aktion im Geistesleben, bei denen es angemessen ist zu sagen, daß die einfachen Vorstellungen die zusammengesetzten erzeugen, nicht, daß diese aus jenen bestehen.« 53 Doch wie steht es mit den übrigen Inhalten des Seelenlebens, mit unseren Glaubensmeinungen, unseren Gemütsempfindungen und unseren Willensakten, werden sie auch auf die gleiche Weise wie unsere Vorstellungen generiert oder gibt es im Hinblick auf ihre Entstehung Unterschiede? Hartley und andere Philosophen des Geistes, auf die Mill sich in diesem Zusammenhang bezieht, vertreten die Auffassung, dass jene Inhalte ebenfalls »aus einfachen sinnlichen Vorstellungen durch einen chemischen Vorgang erzeugt werden, der dem eben erläuterten gleicht« 54 . Obwohl Mill diese geistesphilosophische Position nicht vollkommen ablehnt, sie bis zu einem gewissen Grad sogar teilt, gelangt er dennoch zu dem Ergebnis, dass sie unvollständig ist. Zwar haben die Autoren in ihren Arbeiten gezeigt, dass bestimmte Inhalte des Seelenlebens durch andere Stoffe hervorgerufen werden, dass »es im Geistesleben etwas der chemischen Aktion Analoges gibt«; wenn es aber um die Frage geht, ob beispielsweise der Glaube ein Fall der Ideenassoziation ist, wäre es laut Mill notwendig, »auf dem Wege des Experiments zu prüfen, ob es wahr ist, daß alle Vorstellungen, welcher Art [auch] immer, vorausgesetzt, sie [sind] mit dem erforderlichen Grade von Innigkeit assoziiert worden, Glauben erzeugen« 55 . Die theoretische Auseinandersetzung mit den Phänomenen des Geisteslebens, so wichtig sie auch ist, reicht offenbar nicht aus, um belastbare Daten zu generieren. Die begriffliche Hypothesenbildung muss durch die experimentelle Forschung ergänzt werden. Die Gesetze der Aufeinanderfolge unterschiedlicher Bewusst52 53 54 55

Ebd. Ebd., S. 63. Ebd. Ebd.

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seinszustände müssen demnach durch das Verfahren der Induktion ermittelt werden. »Derartige alltägliche Maxime nehmen, wenn sie a posteriori aus der Beobachtung des Lebens abgeleitet sind, unter den Wahrheiten der Wissenschaft die Stelle der in unserer Analyse der Induktion so genannten so vielfach besprochenen Gesetze […] ein.« 56 Die Psychologie hat es demzufolge mit empirischen Gesetzen der menschlichen Natur zu tun, wobei ein empirisches Gesetz als eine Art Gleichförmigkeit der Aufeinanderfolge oder des Zusammenbestehens verstanden werden kann. Ein solches Gesetz kann für alle Fälle als wahr aufgefasst werden, die innerhalb der Grenzen unserer Beobachtung liegen, für alle anderen Fälle muss es als zweifelhaft betrachtet werden. Gleichwohl ist ein empirisches Gesetz eine Verallgemeinerung, bei der wir uns nicht damit zufrieden geben können, dass sie wahr ist, wir müssen uns vielmehr, indem wir ihre Entstehungsbedingungen reflektieren, auch fragen, warum sie wahr ist. Die Wahrheit der Induktion ist keine unbedingte, sondern eine bedingte Wahrheit, was nichts anderes bedeutet, als dass man sich nur insoweit auf ihre Aussagekraft verlassen kann, »als man Grund hat, die Verwirklichung jener Bedingungen für gewiß zu halten« 57 . Auch sind die empirischen Gesetze nicht die letzten Grundgesetze der menschlichen Natur; sie folgen vielmehr jenen Gesetzen, »welche sich unter den bestimmten Verhältnissen ergeben, in welchen die Menschheit sich eben befindet« 58 . Um diesen Gedanken zu verdeutlichen, führt Mill zwei Beispiele an: 1) Wenn ein Psalmist wütend schreibt, dass alle Menschen Lügner sind, dann spricht er gewiss eine Wahrheit aus, die auf seine persönliche Erfahrung zurückgeht, aber wir können nicht sagen, dass das Lügen ein Grundgesetz der menschlichen Natur ist, »obgleich es eine der Folgen von den Gesetzen der menschlichen Natur ist, daß das Lügen dort nahezu allgemein ist, wo gewisse äußere Verhältnisse allgemein sind, insbesondere Verhältnisse, welche weitverbreitete wechselseitige Furcht und Mißtrauen erzeugen« 59 . 2) Wenn man hingegen aber behauptet, dass es im Charakter alter Menschen liegt,

Ebd., S. 70. Vgl. dazu auch Geoffrey Scarre, »Mill on Induction and Scientific Method«, in: Skorupski (Hg.), The Cambridge Companion to Mill, a. a. O., S. 112–138. 57 Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 70. 58 Ebd., S. 71. 59 Ebd. 56

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vorsichtig zu sein, und es im Charakter junger liegt, ungestüm zu sein, so ist dies ein empirisches Gesetz, denn nicht wegen ihrer Jugend sind die jungen Menschen ungestüm und nicht wegen ihres Alters die alten Menschen vorsichtig, sondern aufgrund ihrer Lebenserfahrung. Indem nämlich die Alten, so denkt Mill, in ihrer Jugend infolge unvorsichtiger Handlungen gelitten und andere Menschen durch ähnliches Verhalten ebenfalls haben leiden sehen, hat sich im Geist eine nachhaltig wirkende Ideenverknüpfung herausgebildet, die der Vorsicht im Allgemeinen zuträglich ist. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass ein alter Mensch, wenn er in seinem Leben nicht häufiger mit Gefahren in Berührung gekommen ist als die meisten jungen Männer, wahrscheinlich ebenso unvorsichtig sein wird wie sie es sind. Und »wenn ein Jüngling keine stärkeren Neigungen besitzt als ein Greis, so wird er wahrscheinlich nicht unternehmungslustiger sein: Das empirische Gesetz empfängt das Maß von Wahrheit, das ihm innewohnt, von den ursächlichen Gesetzen, von denen es eine Folge ist.« 60 Die Psychologie hat es also mit empirischen Gesetzen zu tun, nicht jedoch mit ursächlichen Gesetzen, welche die »wahrhaft wissenschaftlichen Wahrheiten« 61 sind. Während der Psychologie die Aufgabe zukommt, die empirischen Gesetze des Geistes zu ermitteln, fällt die Analyse der ursächlichen Gesetzmäßigkeiten der Ethologie zu, die sich als neue Wissenschaft mit der Entstehung des Charakters im Kontext der Gesellschaft beschäftigt. Im Gegensatz zu den empirischen Gesetzen, die lediglich approximative Generalisierungen sind, besitzen die Gesetze der Charakterbildung universale Gültigkeit. Offenbar ist Mill daran gelegen, tief in die Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Natur einzudringen, weshalb er zwischen empirischen und ursächlichen Gesetzen unterscheidet. Was die Psychologie als Wissenschaft betrifft, so lässt sich Folgendes festhalten: Die durch die experimentelle Forschung ermittelten empirischen Gesetze haben vor allem die Aufgabe, die deduktiv gewonnenen Folgerungen der Theorie zu bestätigen; dies gilt insbesondere dann, »wenn es sich zeigt, daß sich die meisten der empirischen Gesetze auch innerhalb der Grenzen der Beobachtung nur zu annähernden Verallgemeinerungen erheben« 62 . 60 61 62

Ebd. Ebd., S. 72. Ebd.

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b)

Ethologie

Im nächsten Kapitel wendet Mill sich der Frage zu, mit welcher Forschungsmethode die Gesetze ermittelt werden können, die für die Bildung des menschlichen Charakters verantwortlich sind. Da es im Wesentlichen der Charakter ist, der darüber entscheidet, welche Handlung getätigt wird und welche nicht, kann es nicht verwundern, dass er die Untersuchung der Gesetze der Charakterbildung zum Hauptgegenstand der Wissenschaft von der menschlichen Natur erklärt. Für Mill gibt es im Grunde zwei Wege, auf denen wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden können: »den deduktiven und den experimentellen, wobei wir unter der Bezeichnung ›Experimentalforschung‹ die Beobachtung […] wie das künstliche Experiment begreifen« 63 . Die Frage ist also, ob die ursächlichen Gesetze der Charakterbildung sich mit Hilfe der Deduktion oder der Induktion ermitteln lassen. 64 Wenn die experimentelle Methode das geeignete Mittel zur Bestimmung der Gesetze ist, dann müssten sich diese durch einen Versuch ermitteln lassen. Dazu wäre zunächst eine gewisse Anzahl von Menschen notwendig, welche von den Anfängen ihrer Erziehung bis ins hohe Alter begleitet werden müssten. Um ein gewisses Maß an wissenschaftlicher Exaktheit zu erlangen, wäre es weiterhin nötig, sämtliche Eindrücke und Empfindungen sowie alle daraus resultierenden Gedanken, Vorstellungen und Gefühle zu dokumentieren, weil nur auf diese Weise verlässliche Aussagen darüber getroffen werden können, welchen Einfluss die Verhältnisse der Gesellschaft auf die Bildung des Charakters haben. Es ist leicht einzusehen, dass eine solche Versuchsanordnung unmöglich ist, nicht zuletzt deshalb, weil es ausgeschlossen ist, alle sozialen Verhältnisse vollständig zu erfassen. Wir könnten leicht irgendeinen entscheidenden Umstand übersehen, und dies allein würde schon ausreichen, um das ganze experimentelle Vorhaben scheitern zu lassen. Die Komplexität des Gegenstands ist einfach zu groß, als dass ein Experiment diese realitätsgerecht abbilden könnte, womit sich auch die Hilfsquelle der Beobachtung erübrigt hat. Und selbst, wenn es möglich wäre, durch die Methode der Induktion zu halbwegs belastbaren Daten zu gelangen, Ebd., S. 75. Vgl. Reginald Jackson, An Examination of the Deductive Logic of John Stuart Mill, Oxford 1941. 63 64

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so wären die auf dieser Grundlage gewonnenen Verallgemeinerungen nur empirische, keine ursächlichen Gesetze. Diese würden uns für einen Fall zwar zeigen, dass ein bestimmter Charaktertyp mit gewissen Verhältnissen der Gesellschaft in irgendeinem Zusammenhang steht, aber sie würden uns weder zeigen, welcher Art dieser Zusammenhang ist, noch würden sie uns zeigen, auf welche tatsächliche Bestimmung sich die Wirkung zurückführen lässt. »Sie ließen sich daher nur als Ergebnis eines ursächlichen Verhältnisses ansehen, die einer weiteren Auflösung in die allgemeinen Gesetze der Ursachen bedürfen.« 65 Vor diesem Hintergrund gelangt Mill schließlich zu dem Ergebnis, dass die experimentelle Methode für die Ermittlung der Gesetze der Charakterbildung ungeeignet ist. Folglich müssen die Gesetze deduktiv gewonnen werden. Diese Art der Forschung beschäftigt sich im Gegensatz zur Psychologie nicht mit zusammengesetzten Phänomenen, sondern mit ursächlichen Gesetzmäßigkeiten, aus denen jene dann logisch folgen: »Die Gesetze der Charakterbildung sind mit einem Wort abgeleitete Gesetze, die aus den allgemeinen Geistesgesetzen entspringen und durch Ableitung aus ihnen zu gewinnen sind« 66 . Die deduktive Forschung geht so vor, dass sie zunächst irgendeine Anordnung gesellschaftlicher Umstände theoretisch voraussetzt, anschließend wird dann ermittelt, »was nach den Gesetzen des Geistes der Einfluß jener Umstände auf die Charakterbildung sein wird« 67 . Auf diese Weise entsteht eine Wissenschaft, für die Mill die Bezeichnung Ethologie bereithält. 68 »Nach dieser Definition ist die Ethologie die Wissenschaft, welche der Kunst der Erziehung im weitesten Sinne des Wortes entspricht, indem sie ebensosehr auf die Bildung eines nationalen oder Gesamtcharakters, wie auf jene des individuellen Charakters Bezug hat.« 69 Gleichwohl wäre es naiv zu glauben, dass wir es hier mit einer Wissenschaft zu tun haben, welche Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 78. Ebd., S. 79. 67 Ebd. 68 Vgl. Nicholas Capaldi, »Mills Forgotten Science of Ethology«, in: Social Theory and Practice 2 (1973), S. 409–420; auch James Ward, »John Stuart Mill’s Science of Ethology«, in: International Journal of Ethics 1 (1981), S. 446–459. 69 Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 79. Vgl. dazu auch Terence Ball, »The Formation of Character: Mills ›Ethology‹ Reconsidered«, in: Polity 33 (2000), S. 25–48. 65 66

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es uns erlaubt, die gesellschaftlichen Umstände anzugeben, die zur Entstehung eines ganz bestimmten Charakters führen; aber dies ist in den Augen Mills auch gar nicht notwendig: auch eine Erkenntnis, welche die tatsächliche Erscheinung nicht vollständig abbildet, hat ihren praktischen Nutzen. »Es genügt uns zu wissen, daß gewisse Mittel die Tendenz besitzen, eine gewisse Wirkung zu erzeugen, und daß andere eine Tendenz besitzen, sie zu vereiteln.« 70 Der praktische Nutzen der Ethologie besteht demnach im Folgenden: Wenn wir die sozialen Umstände, in denen das Individuum lebt, verstehen und reflektieren, ist es uns durch den liberalen Willen der Gestaltung möglich, die gesellschaftlichen Umstände so anzuordnen, dass sie in ihrer Tendenz den von uns angestrebten Zwecken dienlich sind. Mit anderen Worten: Erzeuge die Bedingungen, die die Realisierung deiner Ziele wahrscheinlich machen. »Hier liegt die Grenze unseres Könnens, aber innerhalb dieser Schranken ist unsere Macht eine höchst bedeutende.« 71 Die Ethologie ist als eine exakte Wissenschaft zu betrachten, denn im Gegensatz zur Psychologie erzeugt sie keine approximativen Generalisierungen, sondern wirkliche Gesetze, auch wenn diese, wenn sie als wahr gelten sollen, als hypothetische Sätze aufgefasst werden müssen, weil sie keine Tatsachen, sondern Tendenzen ausdrücken. »Sie dürfen nicht dahin lauten, daß irgendetwas immer oder gewiß eintreffen wird, sondern nur, daß dies oder jenes die Wirkung einer gegebenen Ursache sein wird, insofern sie keine Gegenwirkung erleidet.« 72 Die Ethologie steht in enger Beziehung zur Psychologie. Während die Psychologie die Aufgabe hat, die zusammengesetzten Gesetze des Geistes durch Experimente zu ermitteln, beschäftigt die Ethologie sich unter deduktiven Vorzeichen mit den ursächlichen Gesetzen und dem Einfluss gesellschaftlicher Tatsachen auf die Bildung des individuellen und nationalen Charakters. Die Prinzipien der Charakterlehre bezeichnet Mill in Anlehnung an Bacon als axiomata media. 73 Auch hat Bacon laut Mill vollkommen zu Recht darauf hingewiesen, dass die mittleren Grundsätze einer Wissenschaft ihren eigentlichen Wert ausmachen, weil ihnen eine Vermittlungsfunktion

Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 80. Ebd. 72 Ebd. 73 Vgl. ebd., S. 81; siehe auch Francis Bacon, Große Erneuerung der Wissenschaften, Berlin 2013. 70 71

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zukommt. So bleiben die niedrigsten Folgerungen der Psychologie für sich genommen zu unvollkommen, wenn sie nicht mit den Ergebnissen der Ethologie in Beziehung gesetzt werden, andererseits sind die allgemeinsten Schlüsse – die der noch zu diskutierenden Sozialwissenschaft vorbehalten sind – aber auch zu allgemein, wenn sie nicht durch die experimentelle Forschung bestätigt werden. 74 Obwohl Mill bis zu diesem Punkt mit der Auffassung Bacons übereinstimmt, ist er im Hinblick auf die Gewinnung der mittleren Grundsätze anderer Meinung. Im Gegensatz zu Bacon, der die Ansicht vertritt, dass alle wissenschaftlichen Prinzipien allein durch das Verfahren der Induktion zu ermitteln sind, ist Mill davon überzeugt, dass es auch erlaubt sein muss, diese Ordnung einmal umzukehren, was nichts anderes bedeutet, als die deduktive Methode ebenfalls zur Anwendung zu bringen. Wie bereits angemerkt, gilt dieses Vorgehen aber nicht nur für die Gewinnung der mittleren Grundsätze, sondern für die gesamte Wissenschaft von der menschlichen Natur. Mill ist grundsätzlich davon überzeugt, dass durch eine sinnvolle Kombination von Induktion und Deduktion der Wahrheitsgehalt der Forschungsergebnisse gesteigert werden kann. Was die Zusammenarbeit von Psychologie und Ethologie im Besonderen betrifft, so stellt sich allein die Frage nach der richtigen Reihenfolge. Einerseits ist es möglich, zunächst auf dem Weg des deduktiven Schließens zu Erkenntnissen zu gelangen und diese dann nachträglich durch die experimentelle Forschung bestätigen zu lassen. Andererseits ist es aber auch möglich, vorläufig das Experiment auszuwerten und die gewonnenen Resultate im Anschluss mit den deduktiven Folgerungen der Theorie zu verknüpfen. Mill glaubt zwar nicht, dass sich im Hinblick auf die Frage nach der richtigen Reihenfolge eine starre Regel aufstellen lässt, er hält es jedoch für ratsam, zuerst die empirischen Gesetze zu ermitteln. »Mit anderen Worten, die Ethologie, als die deduktive Wissenschaft, ist ein System von Folgesätzen […] aus der Psychologie, als der experimentellen Wissenschaft« 75 . Die Psychologie wird ihre Datenmenge laut Mill in Zukunft stetig vermehren, weshalb das Hauptproblem der Ethologie darin beVgl. Lewis S. Feuer, »John Stuart Mill as a Sociologist. The Unwritten Ethology«, in: Michael Laine/John M. Robson (Hg.), James and John Stuart Mill, Toronto 1976, S. 86–110. 75 Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 83. 74

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steht, mit dieser wissenschaftlichen Entwicklung Schritt zu halten. Wenn ihr dies aber gelingt, wird sie auch künftig in der Lage sein, die mittleren Grundsätze aus den empirischen Gesetzen abzuleiten und sich als eigenständige Wissenschaft zu behaupten.

c)

Soziologie

Im Gegensatz zur Psychologie und Ethologie, deren Forschungsgegenstand die Gesetze der Einzelperson sind, beschäftigt die Sozialwissenschaft sich mit Handlungen einer Vielzahl von Menschen im Kontext der Gesellschaft sowie mit komplexen Phänomenen, deren Inbegriff das soziale Leben ist. Was den Allgemeinzustand der Sozialwissenschaft betrifft, weist Mill zu Beginn seiner Ausführungen darauf hin, dass es bisher kaum gelungen ist, aussagekräftige Daten zu generieren. Diesen Umstand führt er zum einen darauf zurück, dass sie es im Gegensatz zur Psychologie und Ethologie mit einer wesentlich höheren Komplexität der Erscheinungen zu tun hat. Zum anderen sind die soziologischen Tatsachen bislang kaum mit wissenschaftlichen Mitteln untersucht worden, mit der Folge, dass es kaum allgemeine Lehrsätze gibt, auf denen eine weitere Forschung aufgebaut werden könnte. Gleichwohl besteht für Mill kein Zweifel daran, dass die Sozialwissenschaft ein Zweig spekulativer Forschung ist. Da alle gesellschaftlichen Tatsachen Erscheinungen der menschlichen Natur sind, können diese auch durch Gesetze beschrieben werden. »Wenn […] die Phänomene des menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns festen Gesetzen unterworfen sind, so müssen jene des gesellschaftlichen Lebens notwendigerweise gleichfalls festen Gesetzen entsprechen, welche das Ergebnis jener früheren Gesetze sind.« 76 In diesem Zusammenhang weist Mill allerdings darauf hin, dass wir nicht wie im Fall der Astronomie davon ausgehen können, dass uns die ermittelten Gesetzmäßigkeiten in die Lage versetzen werden, absolut verlässliche Vorhersagen zu machen. Die Astronomie hat es vergleichsweise nur mit wenigen Ursachen zu tun, und diese wenigen Ursachen verändern sich kaum, und falls sie sich doch einmal verändern, dann nach Gesetzen, die wir kennen; »wir können ermitteln, wie sie jetzt beschaffen sind und daraus vorherbestimmen, wie [sie] zu irgendeinem Zeitpunkt der fernsten Zukunft beschaffen sein wer76

Ebd., S. 88.

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den« 77 . In der Sozialwissenschaft hingegen sind die Umstände, welche einen Einfluss auf den Fortschritt der Gesellschaft ausüben, unzählige. Auch befinden sich die gesellschaftlichen Tatsachen in einem fortwährenden Veränderungsprozess, so dass es unmöglich ist, eine belastbare Aussage darüber zu treffen, wie eine Gesellschaft in Zukunft beschaffen sein wird. Um die Sozialwissenschaft dennoch als Wissenschaft etablieren zu können, greift Mill auf ein bereits bekanntes Argument zurück, nämlich auf jenes, das besagt, dass eine Wissenschaft, obwohl sie unvollkommen ist, dennoch einen hohen praktischen Nutzen haben kann: »eine Stufe der Erkenntnis, die zur Vorhersagung völlig unzureichend ist, kann, wie wir schon einmal bemerkt haben, für die Leitung der Praxis höchst schätzbar sein« 78 . Um den Beweis für diese Arbeitshypothese zu führen, muss Mill folgende Frage beantworten: Welche Methode ist für die Sozialwissenschaft am geeignetsten? Denn nur wenn es gelingt, die richtige Methode zu finden, wird die Sozialwissenschaft in der Lage sein, für die Praxis nützliche Ergebnisse hervorzubringen. Damit wird sie nicht nur Anerkennung unter den anderen Wissenschaften erlangen, sondern auch die Erkenntnisse über die gesellschaftlichen Tatsachen vervielfältigen. Die Natur der richtigen Methode will Mill dadurch bestimmen, dass er aufzeigt, was diese Methode nicht ist. Das wissenschaftliche Verfahren der Sozialwissenschaft soll demzufolge ex negativo ermittelt werden. 79 Als erstes diskutiert Mill die chemische oder experimentelle Methode. Dabei geht er von der Annahme aus, dass die Gesetze der gesellschaftlichen Tatsachen nichts anderes sind als die Gesetze des Tuns und Leidens empfindender Wesen, welche durch den Zustand des sozialen Miteinanders verbunden sind. Menschen sind für ihn jedoch auch im Gesellschaftszustand immer Einzelwesen, ihr Tun und Leiden gehorcht auch hier allein den Gesetzen der individuellen menschlichen Natur. »Die Menschen werden nicht, wenn sie zusammenkommen, in eine andere Art Substanz mit verschiedenen Eigenschaften verwandelt, etwa so wie Wasser- und Sauerstoff vom Wasser verschieden sind.« 80 Menschen verlieren demnach zu keinem Zeitpunkt ihre natürlichen Eigenschaften, wenn sie in den Zustand der 77 78 79 80

Ebd., S. 89. Ebd. Vgl. ebd., S. 90. Ebd., S. 91.

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Gesellschaft übergehen, ihre Individualität löst sich im sozialen Miteinander nicht in etwas anderem auf. Damit besitzen empfindende Wesen keine anderen Eigenschaften als die, welche von den Gesetzen der menschlichen Natur stammen. Die Vertreter der chemischen Methode übersehen nun aber diese Tatsache und gehen bei ihren Forschungen so vor, als ob die individuelle Natur des Menschen mit den Handlungsweisen der Individuen im Gesellschaftszustand gar nichts oder nur sehr wenig zu tun hat. 81 Jedes Raisonnement über politische oder soziale Dinge, das auf Gesetzen der menschlichen Natur fußt, wird von den Denkern dieser Art als »abstrakte Theorie« oder mit ähnlich tadelnden Ausdrücken bezeichnet.« 82 Unter akademisch gebildeten Menschen wird diese Art der Forschung vor allem von denjenigen bevorzugt, die mit den wissenschaftstheoretischen Ideen Bacons vertraut sind »und […] auf ihre Gegner als […] bloße Syllogistiker und Scholastiker herabsehen […] und sich als echte Jünger zu bewähren glauben, wenn sie politische Tatsachen in ebenso unmittelbar experimenteller Art behandeln wie chemische Tatsachen« 83 . Mill hält dieses Vorgehen jedoch für unangemessen, weil damit bestimmte Schwierigkeiten verbunden sind, die sich nicht so einfach auflösen lassen. Das Hauptproblem besteht darin, dass es im Rahmen der Ermittlung der sozialen Gesetzmäßigkeiten gar keine geeigneten Mittel gibt, um Experimente durchzuführen, welche die Verhältnisse der Gesellschaft abbilden können. Die Umstände der Gesellschaft sind nicht nur viel zu komplex, als dass eine künstliche Versuchsanordnung ihnen gerecht werden könnte, sie befinden sich auch in ständiger Veränderung, so dass die Testergebnisse sich mitunter auf Phänomene beziehen würden, die es in der Form gar nicht mehr gibt. Auch die sogenannte Differenzmethode, welche Mill für die vollkommenste aller Experimentalmethoden hält, ist seiner Auffassung nach nicht in der Lage, halbwegs zufriedenstellende Resultate zu liefern. Zur Anwendung dieser Methode benötigt man zwei Gesellschaften, die in allen Merkmalen identisch sind, bis auf eine Eigenschaft, welche den Gegenstand der Untersuchung bildet. So lassen sich vielleicht zwei Nationen finden, welche in ihren Staatsformen, Gesetzen und Einrichtungen gleich sind und sich lediglich im Hin81 82 83

Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 92.

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blick auf die Ausgestaltung der Gewerbefreiheit unterscheiden. Wenn man nun zu dem Ergebnis kommt, dass die eine Gesellschaft reich, die andere aber arm ist, »so wird dies ein experimentum crucis sein, ein wahrhafter Erfahrungsbeweis dafür, daß das eine der beiden Systeme dem Nationalreichtum günstiger ist als das andere« 84 . Allerdings ist die Hypothese, dass man zwei solche Fälle irgendwo findet, völlig abwegig, nicht zuletzt deshalb, weil es widersinnig ist anzunehmen, dass die Nationen sich ausgerechnet in einem Punkt unterscheiden, während sie sich doch in allen anderen Punkten vollkommen gleichen. Es wäre hingegen viel einleuchtender anzunehmen, dass sie sich aufgrund der hohen Ähnlichkeit auch in diesem Punkt gleichen. Aber nicht nur die Differenzmethode ist für die Zwecke der Sozialwissenschaft unbrauchbar, auch die von Mill so bezeichnete indirekte Differenzmethode ist für die Ermittlung der Gesetze des gesellschaftlichen Lebens nicht geeignet. 85 Bei dieser Methode vergleicht man nicht zwei Einzelfälle miteinander, sondern zwei Klassen von Fällen: »[N]ehmen wir an, daß wir eine Nation, die eine restriktive Handelspolitik besitzt, mit zwei oder mehr Nationen vergleichen, die nur darin übereinkommen, daß sie freihändlerisch sind« 86 . Im Gegensatz zur Differenzmethode wird hier nicht davon ausgegangen, dass die Nation mit der eingeschränkten Handelspolitik mit den anderen Gesellschaften in allen übrigen Punkten des Zusammenlebens übereinstimmt, auch wenn dies in Teilen zufällig der Fall sein kann. Wenn man nun feststellt, dass die freihändlerischen Gesellschaften allesamt ärmer sind als die Nation, welche Zölle erhebt, kann man daraus folgern, dass das Fehlen der Zölle die Ursache der Armut in den entsprechenden Gesellschaften sein kann. Allerdings ist Mill auch mit dieser Beweismethode nicht zufrieden. Warum, so fragt er, sollte die blühende Nation allein aufgrund von einer einzigen Ursache blühen? Ist es nicht vielmehr so, dass das wirtschaftliche Wachstum von einer Vielzahl von Ursachen abhängt und dass die Erhebung von Schutzzöllen nur eine Bestimmung unter vielen anderen ist? Vor diesem Hintergrund gelangt er schließlich zu der Einsicht, »daß die genaueste Nachahmung einer berechtigten Induktion aus direkter Erfahrung, die es in der Sozialwissenschaft nur immer

84 85 86

Ebd., S. 94. Vgl. ebd., S. 95 f. Ebd., S. 95.

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geben kann, bloß ein trügerischer Schein von Beweiskraft [ist] und keinen realen Wert besitzt« 87 . Da die Differenzmethode und ihre Variation sich für die besonderen Zwecke der Sozialwissenschaft als unzureichend erwiesen haben, prüft Mill noch die Übereinstimmungsmethode. Bei diesem Vorgehen werden zwei Nationen miteinander verglichen, die in gar keinem Umstand außer in einem einzigen übereinstimmen; zwei Gesellschaften also, die keine andere Tatsache miteinander teilen als beispielsweise die, dass sie ein Schutzzollsystem besitzen und wirtschaftlich gedeihen. Die Frage lautet nun folgendermaßen: Mit welcher Wahrscheinlichkeit können wir sagen, dass das Zollsystem ökonomischen Wohlstand verursacht? Mills Antwort: Die Wahrscheinlichkeit ist gleich null. Der Grund für dieses vernichtende Urteil findet sich in seiner Überzeugung, dass eine gesellschaftliche Wirkung niemals nur durch eine einzige Ursache erzeugt wird. »Daß irgendein vorhergehender Umstand die Ursache einer gegebenen Wirkung ist, weil sich alle anderen vorhergehenden Umstände ausscheiden ließen, dies ist nur dann ein richtiger Schluss, wenn die Wirkung nur eine Ursache haben kann.« 88 Dies ist aber nicht der Fall. Für Mill besteht kein Zweifel daran, dass die Ursachen aller sozialen Erscheinungen wie »Sicherheit, Wohlstand, Freiheit, gute Regierung, Gemeinsinn, allgemeine Bildung oder das Gegenteil von alledem« 89 zahlreich sind. Ein ähnlicher Einwand lässt sich auch gegen die Methode der Begleitveränderungen vorbringen. 90 Ihr liegt folgender Gedanke zugrunde: Nehmen wir an, dass ökonomischer Wohlstand von nur einer einzigen Ursache abhängt und gesellschaftlicher Frieden ebenfalls nur durch eine einzige Ursache erzeugt wird. Wir könnten dann die Ursachen klar und deutlich voneinander trennen und jeder von ihnen eine gesicherte Eigenschaft zuweisen, derart, dass wir sagen, Ursache X ist für die Hervorbringung von Wohlstand zuständig und Ursache Y für die Erzeugung von Frieden. Damit hätten wir eine Art gesellschaftlichen Baukasten zur Hand, aus dem wir uns nur die Ursachen herausnehmen müssten, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit genau die sozialen Umstände erzeugen werden, 87 88 89 90

Ebd., S. 96. Ebd., S. 97. Ebd. Vgl. ebd., S. 97 f.

197 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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die wir uns wünschen. Wie bereits angemerkt, kann Mill sich aber auch dieser Methode nicht anschließen, weil auch diese davon ausgeht, dass gesellschaftliche Tatsachen durch eine einzige Ursache hervorgebracht werden. Die Anhänger dieses Beweisverfahrens übersehen völlig, dass soziale Phänomene das Ergebnis von vielen verschiedenen Ursachen sind, die untereinander in Beziehung stehen und sich wechselseitig beeinflussen und modifizieren. Ferner wendet Mill sich der Methode der Rückstände zu, um zu prüfen, ob sie für die Zwecke der Sozialwissenschaft geeignet ist. Bei diesem wissenschaftlichen Verfahren ist es vor allem wichtig, Notiz von den Tatsachen einer Gesellschaft zu nehmen. 91 »Wenn wir hierauf die Wirkung all der Ursachen anerkennen, deren Tendenz bekannt ist, so kann man den Rückstand, welchen jene Ursachen nicht zu erklären vermögen, dem Rest der Verhältnisse, die in dem Fall vorhanden waren, mit Wahrscheinlichkeit zuschreiben.« 92 Im Gegensatz zu den vorigen Verfahren haben wir es hier mit einer Methode zu tun, die sich nicht allein auf Beobachtung und Experiment gründet; »sie schließt nicht aus einer Vergleichung von Fällen, sondern aus der Vergleichung eines Falles mit dem Ergebnis einer vorgängigen Deduktion« 93 . Die Methode der Rückstände geht davon aus, dass die Ursachen, aus denen ein Teil der sozialen Erscheinungen hervorgegangen ist, bereits bekannt sind. Da diese aber laut Mill nicht durch Beobachtung oder Experiment ermittelt werden können, müssen sie das Ergebnis einer vorgängigen Deduktion sein, »so daß die Erfahrung nur ergänzend dazu dient, die Ursachen zu bestimmen, die einen unerklärten Rest hervorbrachten« 94 . Laut Mill ging Coleridge bei seinen Studien für seine politischen Abhandlungen in ganz ähnlicher Weise vor, wenn er bei jeder großen politischen Begebenheit versucht, in der Geschichte ein Ereignis zu finden, dass jener Tatsache möglichst gleichartig ist. Indem er »die Punkte der Verschiedenheit von denen der Ähnlichkeit abzog, wog er sie ohne Zweifel ab und begnügte sich nicht damit, sie zu zählen« 95 . Er zog zunächst die Punkte in Betracht, von denen er wusste, dass sie einen Einfluss auf die Wirkung ausüben; daraus schloss er dann, dass der Rest des Er-

91 92 93 94 95

Vgl. ebd., S. 98. Ebd. Ebd., S. 99. Ebd. Ebd.

198 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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gebnisses sich auf die Punkte der Verschiedenheit zurückführen lässt. 96 Obwohl das Verfahren der Rückstände nicht nur die Beobachtung und das Experiment, sondern auch die Deduktion berücksichtigt, gelangt Mill zu dem Ergebnis, dass auch diese Methode für die Zwecke der Sozialwissenschaft nicht geeignet ist: »[D]er Erfahrungsbeweis [wird] zu nichts dienen, außer zur Bestätigung eines aus jenen allgemeinen Gesetzen gezogenen Schlusses« 97 . Im nächsten Kapitel seiner Abhandlung setzt Mill die Suche nach der richtigen Methode fort, indem er sich einem Verfahren zuwendet, das vor allem von studierten Köpfen angewendet wird. Die Rede ist von der geometrischen oder abstrakten Methode. 98 Auch wenn es den Anhängern dieses Verfahrens nicht an der Einsicht fehlt, dass die sozialwissenschaftliche Forschung notwendigerweise den Charakter einer deduktiven Wissenschaft aufweisen muss, unterliegen sie dennoch einem fundamentalen Irrtum hinsichtlich der spezifischen Natur des Untersuchungsgegenstandes. Ihre Fehleinschätzung beruht auf dem Umstand, dass sie die Geometrie als das Urbild aller deduktiven Wissenschaften betrachten, mit der Folge, dass sie die methodischen Erkenntnisse der komplexeren Naturwissenschaften unberücksichtigt lassen und ihre Analysen ausschließlich an den Maximen der Geometrie ausrichten. Die Orientierung an den Grundsätzen der Geometrie hält Mill deshalb für einen Fehler, weil sie seiner Ansicht nach keinen Raum bietet für das, »was in der Mechanik und ihren Anwendungen so beständig vorkommt, nämlich »die Kollision von Kräften, Ursachen, die einander entgegenwirken oder sich wechselseitig modifizieren« 99 . Zu Mills Überzeugung gehört nicht nur, dass Wirkungen durch eine Vielzahl von Ursachen erzeugt werden, sondern auch, dass Kräfte sich wechselseitig beeinflussen, derart, dass sie einander verstärken, abschwächen oder modifizieren können. Anders verhält es sich jedoch in der Geometrie: »In dem Resultat eines geometrischen Grundsatzes liegt nichts, was dem Ergebnis eines anderen widersprechen könnte.« 100 Der geometrischen Gesellschaftstheorie liegt eine reduktionistische Voraussetzung zugrunde, die aussagt, dass soziale

Vgl. ebd. Ebd. 98 Vgl. ebd., S. 101 ff. 99 Ebd., S. 102. 100 Ebd. 96 97

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Tatsachen durch eine einzige Ursache, durch eine einzige Eigenschaft der menschlichen Natur erzeugt werden. Der bekannteste Vertreter dieses Verfahrens ist zweifellos Hobbes, der sich in seinen politikphilosophischen Schriften an der Methode der euklidischen Geometrie orientiert und damit den Versuch unternimmt, die Philosophie in den Rang einer Wissenschaft zu heben: »Hobbes ist der Philosoph, der den sogenannten ›mos geometricus‹, die analytische oder auch resolutiv-kompositive Methode, in Ethik und politischer Philosophie zur Geltung bringt.« 101 Die bemerkenswerteste Anwendung der geometrischen Methode findet sich laut Mill jedoch in der Lehre vom persönlichen Interesse der Bentham’schen Schule. Die Vertreter dieser Theorie gehen bei ihren Untersuchungen von der Annahme aus, dass die Handlungen der Menschen allein durch ihr Interesse bestimmt werden, wobei sie unter Interesse alles verstehen, woran dem Individuum persönlich gelegen ist: »so kann man den Satz auch in dem einzigen Sinn verstehen, daß die Handlungen der Menschen durch ihre Wünsche bestimmt werden« 102 . Da für Mill aber die Handlungen empfindender Wesen niemals durch persönliches Interesse allein bestimmt werden, kann es nicht verwundern, dass er der geometrischen oder abstrakten Methode eine klare Absage erteilt. Es ist evident, dass damit auch alle Folgesätze, die auf der Grundlage jener Prämissen gewonnen werden können, für ihn unzureichend sind, weil die Wahrheit der Konklusion die Wahrheit der Voraussetzungen nicht übersteigen kann. Mill geht stattdessen von folgender Arbeitshypothese aus: Für alle Menschen gilt, dass ihre Handlungen weniger durch planende Rationalität bestimmt werden als vielmehr durch die gewöhnlichen Gesinnungen, Meinungen und Gefühle der sozialen Umgebung, der sie selbst angehören. 103 Mill verdeutlicht diesen Gedanken am Beispiel des politischen Herrschers. Zwar ist das private Interesse eines Fürsten eine nicht zu unterschätzende Größe im Hinblick auf das Handlungsmotiv, aber es gibt eine Reihe von sozialen Praktiken, die einen weitaus größeren Einfluss auf die Willensakte des Politikers ausüben und sich nicht einfach auf das Gefühl des bloßen Machterhalts reduzieren lassen. Was die Frage nach der grundsätzlichen Anwendbarkeit der geometrischen Metho101 102 103

Wolfgang Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, Hamburg 2002, S. 43. Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 104. Vgl. ebd., S. 106 f.

200 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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de auf das Gebiet der Sozialphilosophie angeht, gelangt Mill zu folgender Einschätzung: Obwohl die Vertreter dieses reduktionistischen Verfahrens zu Recht ihr Augenmerk auf das persönliche Interesse des Menschen gelegt und als wichtiges Handlungsmotiv in ihren Theorien berücksichtigt haben, ist es letztlich nicht philosophisch, »eine Wissenschaft aus nur wenigen […] Kräften aufzubauen, durch welche die Erscheinungen bestimmt werden, und den Rest der Routine und dem Scharfblick des Praktikers zu überlassen« 104 . Die sozialwissenschaftliche Forschung muss entweder alle Ursachen gesellschaftlicher Tatsachen gleichermaßen berücksichtigen oder ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit ganz aufgeben. Nachdem Mill gezeigt hat, welche Methoden für die Zwecke der Sozialwissenschaft nicht geeignet sind, kommt er ohne weitere Ausführungen zur Kennzeichnung des richtigen Verfahrens. Die richtige Methode verfährt deduktiv, auch geht sie im Gegensatz zur geometrischen Arbeitsweise nicht von einer einzigen oder von einigen wenigen Prämissen aus, sondern von vielen. »Sie betrachtet jede Wirkung als das, was sie wirklich ist, als ein Gesamtergebnis von vielen Ursachen, die mitunter durch dieselben und mitunter durch verschiedene Kräfte oder Gesetze der menschlichen Natur wirken.« 105 Die Rede ist von der konkret deduktiven Methode. Allerdings kommt diese Methode nicht ohne ein Ergänzungsverfahren aus, weil die logischen Schlüsse der Deduktion für sich genommen viel zu unvollkommen sind. Die deduktiv gewonnenen Generalisierungen müssen erst durch die Ergebnisse der empirischen Forschung verifiziert werden, bevor sie ihre volle Aussagekraft entfalten. Durch die Methode der Bestätigung werden die theoretischen Folgerungen mit den konkreten Tatsachen oder mit ihren empirischen Gesetzen, wenn solche zu haben sind, zusammengestellt und verglichen. 106 »Die Grundlage alles Vertrauens in die Lehren irgendeiner konkreten deduktiven Methode ist nicht das apriorische Folgern selbst, sondern die Übereinstimmung der Ergebnisse desselben mit denen der aposteriorischen Beobachtung.« 107 Diese wenigen Bemerkungen machen bereits deutlich, dass es die konkret deduktive Methode mit einer Reihe von Schwierigkeiten zu tun hat. Zunächst kon104 105 106 107

Ebd., S. 109. Ebd., S. 110. Vgl. ebd., S. 113. Ebd.

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statiert Mill, dass die Sozialwissenschaft, wenn sie in erster Linie als System apriorischer Deduktion betrachtet wird, keine Wissenschaft ist, die verbürgte Vorhersagen macht. Sie kann lediglich Tendenzen ausdrücken. Zwar können wir aus den Gesetzen der menschlichen Natur schließen, dass eine gewisse Ursache wahrscheinlich eine bestimmte Wirkung erzeugen wird, wenn keine andere Kraft dazwischentritt, aber wir können niemals sicher sein, in welchem Ausmaß sie tatsächlich wirkt oder in welchem Umfang sie durch andere Kräfte modifiziert wird. Aber dies ist laut Mill auch nicht notwendig, denn wie er bereits an anderer Stelle bemerkt hat, kann eine Wissenschaft, obwohl sie unvollkommen ist, einen hohen praktischen Nutzen haben. So besteht das Ziel der Politik beispielsweise darin, gesellschaftliche Verhältnisse herzustellen, die zumindest in ihrer Tendenz dazu führen, dass es den Menschen in Zukunft besser gehen wird. Gleichzeitig sollen die Ursachen aus dem Sozialkörper entfernt werden, die das Gegenteil von jenem Ziel bewirken. »Eine Kenntnis der Tendenzen allein, wenn auch ohne die Fähigkeit, ihr Gesamtergebnis mit Genauigkeit vorherzusagen, genügt, um uns diese Macht in beträchtlichem Maße zu verleihen.« 108 Gleichwohl ist es ein Irrtum anzunehmen, dass man auf diese Weise eine Reihe von Lehrsätzen gewinnt, die sich auf alle Gesellschaften übertragen lassen. Allein die Vielzahl gesellschaftlicher Tatsachen sowie ihre unzähligen Kombinationsmöglichkeiten untereinander machen es vollkommen unmöglich, zwei oder mehr Gesellschaften zu finden, die in ihrer politischen, sozialen und ökonomischen Ausgestaltung gleich sind. Das Ziel der Sozialwissenschaft besteht nicht darin, einen Lehrsatz von universeller Gültigkeit aufzustellen, die soziologische Forschung »will uns vielmehr nur lehren, wie wir den geeigneten Satz für die Umstände eines gegebenen Falles zu bilden haben« 109 . Da keine Gesellschaft einer anderen vollkommen gleicht, ist von einer Übertragung der Forschungsergebnisse auf andere Gesellschaften grundsätzlich abzusehen. Die deduktive Sozialwissenschaft geht so vor, dass sie theoretisch einen gewissen Kreis von gesellschaftlichen Tatsachen voraussetzt und sich dann die Frage stellt, wie eine bestimmte Ursache unter eben diesen Umständen wirken wird, wenn keine andere Kraft dazwischentritt. Wie bereits angemerkt, drücken die Resultate dieses Vorgehens keine Fakten, sondern lediglich Tendenzen aus. 108 109

Ebd., S. 115. Ebd., S. 116.

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Freilich wäre die Unvollkommenheit der Sozialwissenschaft kein Thema, wenn die Ursachen, welche auf die Gesellschaft als Ganzes einwirken, zahlreich, die Ursachen aber, welche auf einen Teil des Lebens einwirken, nur wenige sind; denn dann könnten wir irgendeine Tatsache aus dem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang herauslösen und ihre Gesetzmäßigkeiten gesondert erforschen. Ein solches Vorgehen ist für Mill allerdings undenkbar, weil es sich in Wahrheit nämlich genau umgekehrt verhält: »Alles, was in einem wahrnehmbaren Grade irgendein Element des Gesellschaftszustandes berührt, berührt durch dieses alle anderen Elemente.« 110 In einer Gesellschaft, ganz gleich, wie ihre Bausteine im Einzelnen angeordnet sind, herrscht das, was Mill in Anlehnung an Comte als Consensus bezeichnet, »ähnlich demjenigen, der unter den verschiedenen leiblichen Organen und Funktionen bei Menschen und bei den vollkommeneren Tieren besteht« 111 . Nicht zuletzt deshalb verwendet Mill in seinen sozialphilosophischen Texten Begriffe wie ›der Staatskörper‹ oder ›der Naturkörper‹ zur Kennzeichnung der Gesellschaft. 112 Die sozialwissenschaftliche Forschung hat sich grundsätzlich an der Idee des Consensus zu orientieren, denn für Mill besteht kein Zweifel daran, dass jede Veränderung in einem Teil der Gesellschaft unmittelbare Folgen für jeden anderen Teil der sozialen Ordnung hat. Da es aber genauso wahr ist, dass die verschiedenen Arten gesellschaftlicher Tatsachen hauptsächlich von verschiedenen Arten von Ursachen hervorgebracht werden, macht es durchaus Sinn, diese auch gesondert zu erforschen, auch wenn die gewonnenen Ergebnisse im Anschluss daran wieder in den Gesamtkontext gestellt werden müssen. »Nicht anders als beim physischen Körper, wo wir die Physiologie und Pathologie jedes einzelnen der Hauptorgane und Gewebe gesondert erforschen, obgleich ein jedes von dem Zustande aller anderen mit beeinflusst wird, und obschon der Zustand jedes einzelnen Organs von der eigentümlichen Konstitution und dem allgemeinen Gesundheitszustand des Gesamtorganismus ebensosehr und mitunter in noch höherem Maße abhängig ist als von den örtlichen Ursachen.« 113 So gibt es beispielsweise eine Klasse gesellschaftlicher Erschei110 111 112 113

Ebd., S. 115. Ebd., S. 116. Vgl. ebd. Ebd., S. 118.

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nungen, die im Wesentlichen von Ursachen erzeugt werden, die mit dem individuellen Streben nach wirtschaftlichem Reichtum in Beziehung stehen. Die politische Ökonomie, wie Mill diesen besonderen Zweig der Sozialwissenschaft bezeichnet, hat es mit dem psychologischen Gesetz zu tun, welches besagt, »daß man einen größeren Gewinn einem kleineren vorzieht« 114 . Bei ihren Forschungen bezieht sich die politische Ökonomie allein auf den Teil der Gesellschaft, der durch die Gesetze des Wirtschaftens bestimmt wird, von allen anderen Ursachen und Störfaktoren sieht sie weitestgehend ab. Der Grund für diese theoretische Abtrennung der Ökonomie vom Rest der Gesellschaft findet sich darin, dass der Teil der Gemeinschaft der Bürger, der »aus den industriellen und produktiven Betätigungen der Menschen hervorgeht« 115 , hauptsächlich von den Ursachen bestimmt wird, die mit dem Streben nach Reichtum in Zusammenhang stehen. Die politische Ökonomie verfolgt das Ziel, diesen Teil der Gesellschaft zu erklären und die gesamtwirtschaftliche Entwicklung möglichst exakt vorherzusagen. Zu diesem Zweck sieht sie bei ihren Untersuchungen von allen anderen Tatsachen der Gesellschaft ab und beschäftigt sich ausschließlich mit den persönlichen Präferenzen der Marktprotagonisten und deren planender Rationalität unter der Bedingung vollständiger Konkurrenz. Allerdings gibt es in der menschlichen Natur auch Kräfte, die mit dem Streben nach Reichtum in Widerstreit geraten können. So wollen die Menschen mitunter ihren Reichtum mit einem möglichst geringen Arbeitsaufwand hervorbringen. Diese Neigung zum Müßiggang muss die politische Ökonomie bei ihren Forschungen berücksichtigen, nicht nur, weil sie sich in einem »fortwährenden Antagonismus mit dem Verlangen nach Reichtum« 116 befindet, sondern auch, weil sie als marktwirtschaftliches Ärgernis eng mit der Untersuchung ökonomischer Gesetzmäßigkeiten verbunden ist. Ebd. Zur Definition der Politischen Ökonomie und zu deren methodischem Vorgehen im Kontext wissenschaftlicher Forschung siehe John Stuart Mill, »Über die Definition der politischen Ökonomie und die ihr angemessene Forschungsmethode«, in: ders., Einige ungelöste Probleme der politischen Ökonomie, a. a. O., S. 151–192. Zum Verhältnis von bürgerlicher Freiheit und sozialer Ökonomie bei Mill siehe Peter Ulrich, »John Stuart Mills emanzipatorischer Liberalismus. Die allgemeine Bürgerfreiheit und ihre sozialökonomischen Implikationen«, in: ders./Aßländer (Hg.), John Stuart Mill – Der vergessene politische Ökonom und Philosoph, a. a. O., S. 253–282. 115 Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 118. 116 Ebd., S. 119. 114

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Unter der Berücksichtigung, dass die gesellschaftliche Kapitalakkumulation durch das psychologische Gesetz der Arbeitsscheu modifiziert werden kann, legt die politische Ökonomie sich die Frage vor, welche Handlungsweisen das Streben nach Reichtum hervorbringt, wenn es durch keine andere Kraft daran gehindert wird. Allerdings dürfen die gewonnenen Ergebnisse nicht leichtfertig auf andere Gesellschaften übertragen werden. Mill macht in diesem Zusammenhang auf die Gewohnheiten einiger Ökonomen in England aufmerksam, welche »die Gesetze der Verteilung des gewerblichen Arbeitsertrages« 117 auf der Grundlage gesellschaftlicher Umstände ermitteln, die sich allein in England und Schottland finden lassen. Die Schlüsse, die diese Ökonomen aus den regionalen Gegebenheiten ziehen, besitzen zwar eine lokale Wahrheit, dürfen aber nicht leichtfertig auf andere Länder wie beispielsweise Frankreich oder Indien übertragen werden, weil hier völlig andere Voraussetzungen herrschen. 118 Die durch die Sozialwissenschaft ermittelten Generalisierungen besitzen nur dann wissenschaftliche Aussagekraft, wenn sich in den zugrunde gelegten Prämissen auch der tatsächliche Zustand der Gesellschaft widerspiegelt. Anderenfalls müssen die Voraussetzungen an die realen Verhältnisse angepasst werden, um verlässliche Daten zu erhalten. »Da die Schlüsse der Wissenschaft insgesamt eine derartige Organisation der Gesellschaft zu ihrer Voraussetzung haben, so bedürfen sie einer Revision, sobald man es versucht, sie auf irgendeine andere Gesellschaft anzuwenden.« 119 Die zweite akademische Disziplin, die Mill im Rahmen der speziellen Sozialwissenschaften diskutiert, ist die politische Ethologie. Im Gegensatz zur politischen Ökonomie, welche sich mit dem Streben nach Reichtum beschäftigt, stellt sie sich die Frage, inwieweit die gesellschaftlichen Umstände an der Bildung eines nationalen Charakters beteiligt sind. Die politische Ethologie befindet sich noch vollkommen am Anfang ihrer Forschungsarbeit: »Von allen untergeordneten Zweigen der Sozialwissenschaft befindet sich dieser am vollständigsten im Zustand der Kindheit.« 120 Allerdings ist Mill davon überzeugt, dass die Gesetze, die den Nationalcharakter hervorbringen, die wichtigsten Gesetze der Sozialwissenschaft sind. Dies 117 118 119 120

Ebd., S. 122. Vgl. ebd., S. 122 f. Ebd., S. 122. Ebd., S. 124.

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liegt zum einen daran, dass der Volkscharakter, der durch die gesellschaftlichen Gesamtverhältnisse gebildet wird, für ihn das Bedeutsamste ist, was eine Gesellschaft überhaupt zu bieten hat. Zum anderen ist der Nationalcharakter nicht nur das Ergebnis der vorangegangenen Ordnung, sondern die in ihm konservierten Gesinnungen, Meinungen und Gewohnheiten wirken durch die Menschen auch auf die gegenwärtige Gesellschaft ein und beeinflussen somit ihre zukünftige Beschaffenheit. 121 Es ist leicht einzusehen, dass die Wissenschaft vom Nationalcharakter in enger Beziehung zur Ethologie steht. Die Lehre von der Bildung des individuellen Charakters liefert die Gesetze, auf denen die politische Ethologie ihre Forschungsarbeit aufbaut. Wie in der politischen Ökonomie ist es auch in der politischen Ethologie sinnvoll, die Gesetzmäßigkeiten zunächst gesondert zu erforschen, wenngleich die Ergebnisse im Anschluss an den Untersuchungsprozess wieder in den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang gestellt werden müssen. Dieses Vorgehen ist aus zwei Gründen konsequent: Zum einen trägt Mill damit der Überzeugung Rechnung, dass die verschiedenen Zweige sozialwissenschaftlicher Forschung zwar gesondert vorgehen müssen, letztlich aber nicht unabhängig voneinander sind. Zum anderen macht er immer wieder darauf aufmerksam, dass für alle deduktiven Wissenschaften die Bestätigung durch die spezifische Erfahrung ein unentbehrlicher Bestandteil ist, weil nur auf diese Weise Ergebnisse von hoher wissenschaftlicher Exaktheit hervorgebracht werden können. Für alle deduktiven Wissenschaften gilt, dass sie nicht ohne ein vorbereitendes Verfahren auskommen, damit die beobachtbaren Tatsachen mit den Folgerungen der Theorie in Beziehung gesetzt werden können. »Diese vorbereitende Behandlung besteht darin, daß man allgemeine Sätze auffindet, die das, was großen Klassen der beobachteten Tatsachen gemein ist, prägnant ausdrücken, und diese nennt man die empirischen Gesetze der Erscheinungen.« 122 Allerdings weist Mill darauf hin, dass empirische Gesetze sich lediglich im Kontext der allgemeinen Sozialwissenschaft ausfindig machen lassen. In den speziellen Zweigen der Sozialwissenschaft ist es aus bestimmten Gründen nicht möglich, die theoretischen Ergebnisse mit den Resultaten der Beobachtung zusammenzustellen, denn »die Erfahrung 121 122

Vgl. ebd. Ebd., S. 126.

206 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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bietet nichts dar, was empirischen Gesetzen gleich käme« 123 . Zwar kann es begrifflich gesichert sein, welche Art von Wirkungen beispielsweise die Einführung von Korngesetzen hervorbringt, ihre Wirkung wird in der Praxis aber von so vielen Wirkungen anderer Ursachen überdeckt, so dass die Erfahrung lediglich zeigen kann, »daß im Durchschnitt irgendeiner großen Zahl von Fällen diejenigen, in welchen Korngesetze vorhanden waren, jene Wirkungen in einem höheren Maße aufwiesen, als diejenigen, in denen dieselben nicht vorhanden waren« 124 . Nun könnte man versuchen, die Theorie mit einem Experiment zu vergleichen. Allerdings ist leicht erkennbar, dass auch dieser Weg ausgeschlossen ist, weil die Umstände des Versuchs dieselben sein müssten wie die Umstände der Theorie, aber dies ist allein aufgrund der Komplexität des Gegenstandes vollkommen unmöglich. Auch lassen sich die Versuchsergebnisse nicht einfach generalisieren und auf andere Gesellschaften übertragen. »Ein Versuch mit Korngesetzen in einem anderen Lande oder in einem früheren Zeitalter würde sehr wenig dazu beitragen, einen Schluß hinsichtlich ihrer Wirkung in diesem Zeitalter und in diesem Lande zu verifizieren.« 125 Vor diesem Hintergrund gelangt Mill zu der Überzeugung, dass die Ergebnisse der Theorie sich nur auf dem Weg der indirekten Bestätigung absichern lassen: »Das Maß von Sicherheit, mit dem uns die Wissenschaft erlaubt, das, was sich noch nicht ereignet hat, vorherzusagen […], wird durch das Maß bestimmt, in dem sie uns in den Stand gesetzt hätte, das vorherzusagen, was wirklich eingetreten ist.« 126 Mit anderen Worten: Um »zu beweisen, daß unsere Wissenschaft und unsere Kenntnis des einzelnen Falles uns dazu befähigen, die Zukunft vorherzusagen, müssen wir zeigen, daß sie uns befähigt hätten, die Gegenwart und die Vergangenheit vorherzusagen« 127 . Wie bereits kurz angeführt, gibt es für Mill zwei verschiedene Arten soziologischer Forschung: die spezielle Sozialwissenschaft (politische Ökonomie und politische Ethologie) und die allgemeine Sozialwissenschaft. Während die erste Disziplin sich die Frage vorlegt, welche Wirkung aus einer gegebenen Ursache folgen wird, be-

123 124 125 126 127

Ebd., S. 128. Ebd. Ebd., S. 129. Ebd., S. 129 f. Ebd., S. 130.

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schäftigt die zweite Fachrichtung sich mit der Frage, welche Gesetze es sind, die gesellschaftliche Veränderungen überhaupt hervorbringen. 128 Da die spezielle Sozialwissenschaft bereits hinreichend vorgestellt wurde, wird im Folgenden die allgemeine Sozialwissenschaft diskutiert, für die Mill in Anlehnung an Comte die historische Methode bereithält. 129 Um die allgemeine Sozialwissenschaft und ihr methodisches Vorgehen angemessen zu verstehen, ist es laut Mill zunächst notwendig, sich Klarheit über den Ausdruck ein Zustand der Gesellschaft zu verschaffen. Er definiert ihn folgendermaßen: »Was man einen Gesellschaftszustand […] nennt, ist der gleichzeitige Zustand all der größeren gesellschaftlichen Tatsachen oder Erscheinungen.« 130 Unter gesellschaftlichen Tatsachen versteht Mill nicht nur die Stufe des Wissens oder die geistige oder moralische Bildung, sondern auch den allgemeinen Zustand der Industrie, den Grad an wirtschaftlichem Wohlstand sowie die Verteilung der Menschen auf unterschiedliche Klassen und die Art des juristischen und politischen Systems. Letztlich umfassen die Erscheinungen der Gesellschaft alles, was den allgemeinen Zustand der Zivilisation zu irgendeinem Zeitpunkt in der geschichtlichen Entwicklung ausmacht. Unter den sozialen Erscheinungen gibt es ein »natürliches Wechselverhältnis« 131 , was bedeutet, dass die politischen, sozialen und ökonomischen Phänomene nicht vollkommen willkürlich zusammengesetzt werden können, stattdessen sind immer nur ganz bestimmte Kombinationen gesellschaftlicher Tatsachen möglich. So wird eine liberale Marktwirtschaft in der Regel von einer demokratischen Politik begleitet und ein imperialistischer Staat von einer großen Armee. Das Resultat der möglichen Verbindungen ist der Consensus, der unter den verschiedenen Teilen des Gesellschaftskörpers jeweils vorherrscht. Es gehört zu Mills fundamentalsten Überzeugungen, dass alle Teile einer Gesellschaftsordnung wechselseitig voneinander abhängig sind: »Zustände der Gesellschaft gleichen den verschiedenen Konstitutionen oder den verschiedenen Altersstufen des physischen Körpers; sie sind Zustände nicht eines oder weniger Organe und Vgl. ebd., S. 132. Vgl. dazu Auguste Comte, Rede über den Geist des Positivismus, Hamburg 1994, hier insbesondere Kapitel 1, S. 5–23. 130 Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 132 f. 131 Ebd., S. 133. 128 129

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Funktionen, sondern des ganzen Organismus.« 132 Dementsprechend hat jede Veränderung in einem Teil der Gesellschaft unmittelbare Folgen für jeden anderen Sektor der sozialen Ordnung. Das Wechselverhältnis, welches zwischen den verschiedenen Elementen einer Gesellschaft besteht, wird durch ein abgeleitetes Gesetz bestimmt. Es entspringt aus den Gesetzen, welche die historische Aufeinanderfolge der unterschiedlichen Gesellschaftszustände regeln, »denn die nächste Ursache jedes Gesellschaftszustandes ist der demselben unmittelbar vorangehende Zustand der Gesellschaft« 133 . Das Grundproblem der allgemeinen Sozialwissenschaft besteht demzufolge nicht in der Ermittlung der Gleichförmigkeiten des Zusammenlebens, sondern darin, das empirische Gesetz ausfindig zu machen, gemäß dem ein Zustand der Gesellschaft einem anderen nachfolgt. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten einer Wissenschaft von der Gesellschaft, dass sie es mit Tatsachen zu tun hat, die wandelbar sind; allerdings meint Mill nicht »wandelbar von Tag zu Tag, sondern von Zeitalter zu Zeitalter« 134 . Den Grund für diese langfristige Wandelbarkeit erblickt er in der beständigen Rückwirkung der Wirkungen auf ihre Ursachen. So sind es die gesellschaftlichen Verhältnisse, die im hohen Maße den Charakter der Menschen bestimmen, und »allein die menschlichen Wesen formen und gestalten wiederum diese Verhältnisse für sich selbst und für jene, die nach ihnen kommen« 135 . Aus dieser Wechselwirkung ergibt sich eine fortwährende Erneuerung der Gesellschaft in Richtung eines allgemeinen Fortschritts, wobei die Ausdrücke »Fortschritt und Tendenz zum Fortschritt« 136 nicht gleichbedeutend mit den Worten »Verbesserung und Tendenz zur Verbesserung« 137 sind. Es ist durchaus möglich, dass die Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Natur zu einer Reihe von Veränderungen in der Gesellschaft führen, die nicht eine allgemeine Steigerung der Wohlfahrt zur Folge haben, sondern das Gegenteil bewirken. Gleichwohl blickt Mill insgesamt zuversichtlich in die Zukunft: Es ist seine Überzeugung, »daß die allgemeine Tendenz, von gelegentlichen und zeitweiligen Ausnahmen abgesehen, eine Tendenz zur Verbesserung, ein Streben zu einem besseren und glück132 133 134 135 136 137

Ebd. Ebd., S. 134. Ebd. Ebd. Ebd., S. 135. Ebd.

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licheren Zustand ist und sein wird« 138 . Doch worin findet das Gesetz des Fortschritts der Zivilisation seinen Ausdruck? Laut Mill haben einige Denker des europäischen Festlands eine wissenschaftliche Methode entwickelt, die darin besteht, »daß man durch die Erforschung und Analyse der allgemeinen Tatsachen der Weltgeschichte das zu entdecken trachtet, was diese Philosophen das Gesetz des Fortschritts nennen« 139 . Sobald dieses Gesetz gefunden ist, so ihre Hoffnung, wird es möglich sein, zukünftige historische Ereignisse vorherzusagen. Obwohl Mill die Entschlossenheit und Arbeitsleistung jener Forscher anerkennt, ist er mit dem Methodenverständnis nicht einverstanden. Die Anhänger dieses neuen Verfahrens machen den Fehler, dass sie dem Gesetz des Fortschritts die Geltung eines selbstständigen Naturgesetzes zuschreiben. Damit unterliegen sie aber einem Irrtum, weil die Bestimmung, welche die Aufeinanderfolge der unterschiedlichen Gesellschaftszustände regelt, auf den psychologischen und ethologischen Gesetzen der menschlichen Natur beruht. Das Gesetz des Fortschritts ist demzufolge ein empirisches Gesetz. In diesem Zusammenhang macht Mill darauf aufmerksam, dass es grundsätzlich zwei verschiedene Arten von empirischen Gesetzen gibt: die einen sind Gesetze der Aufeinanderfolge unterschiedlicher Gesellschaftszustände, die anderen Gesetze der Gleichförmigkeit oder des Zusammenbestehens gesellschaftlicher Tatsachen. Diese beiden Typen empirischer Gesetze müssen von zwei unterschiedlichen Disziplinen untersucht werden, die Mill in Anlehnung an Comte als soziale Statik und soziale Dynamik bezeichnet. 140 Während die erste Wissenschaft sich mit der Koexistenz gesellschaftlicher PhänoEbd. Ebd., S. 136. 140 Vgl. ebd., S. 140 und 148. Die soziale Statik und die soziale Dynamik sind beides Forschungsbereiche der Soziologie Comtes. Die soziale Statik untersucht die Gesellschaft im Hinblick auf ihre harmonische Ordnung und Struktur. Dabei geht sie von der Annahme aus, dass alle Elemente der Gesellschaft in einem grundlegenden Zusammenhang miteinander stehen, wobei ihre jeweiligen Wirkungen und Gegenwirkungen aufeinander abgestimmt sind, so dass sich ein gewisses Gleichgewicht zwischen ihnen ergibt. Im Gegensatz dazu untersucht die soziale Dynamik die Bewegung des Fortschritts ganzer Zivilisationen in der Geschichte, wobei die kulturelle Entwicklung des Menschengeschlechts als natürlicher Vorgang gedacht wird. Im Rahmen dieser menschlichen Entwicklung stehen nicht wirtschaftliche, sondern intellektuelle und moralischer Verbesserungen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Vgl. dazu Werner Fuchs-Heinritz, Auguste Comte. Einführung in Leben und Werk, Opladen/Wiesbaden 1998, S. 172–191. 138 139

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mene beschäftigt, untersucht die zweite Fachrichtung die Gesetze, die an der Aufeinanderfolge unterschiedlicher Gesellschaftszustände beteiligt sind. Die soziale Statik beschäftigt sich mit dem bereits erwähnten Consensus, welcher in der jeweils zu untersuchenden Gesellschaft vorherrscht. Eine solche Vorstellung von der sozialen Ordnung bringt es mit sich, dass man aufhören muss, »jedes der zahlreichen Elemente des Gesellschaftszustandes in selbständiger und absoluter Weise zu behandeln« 141 . Denn wie bei einem physischen Körper, wo der Gesundheitszustand eines Organs unmittelbare Folgen für den Zustand des Gesamtorganismus hat, stehen auch die unterschiedlichen Elemente der Gesellschaft in beständiger Wechselwirkung zueinander. Wie bereits an anderer Stelle angeführt, ist Mill der grundsätzlichen Überzeugung, dass die verschiedenen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zwar gesondert erforscht werden müssen, aber letztlich nicht unabhängig voneinander sind. Diese wissenschaftliche Haltung findet ihren Grund nicht zuletzt im Verständnis der Gesellschaft als Organismus. 142 Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen gleichgültig, welche Tatsache der Gesellschaft man sich vornimmt, immer lässt sich feststellen, dass dieses Element »in einer mehr oder weniger unmittelbaren Verbindung mit allen anderen Elementen, sogar mit jenen steht, die auf den ersten Blick am unabhän-

Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 140 f. »Die Organismusanalogie geht auf Aristoteles zurück, der sie in seiner Politik verwendet. Der Italiener Petrus Pomponatius (1462–1525) und Tommaso Campanella (1568–1639) hängen der Vorstellung vom Staat als einem Organismus, einem vergrößerten Menschen, an. Die Idee einer Analogie von staatlicher Entwicklung und organischen Wachstumsprozessen spielt in der deutschen Staatslehre des 19. Jahrhunderts eine große Rolle. Sie dient dazu, der wiederbelebten Theorie des Patrimonialismus entgegenzutreten, die den Staat als Eigentum des Herrschers betrachtet. Der Organismusgedanke erlaubt es, den Staat stattdessen als Eigenwesen mit eigenem Lebensprinzip zu beschreiben. Aus dem Organismusgedanken entwickelt die Staatslehre die Vorstellung, daß die einzelnen Teile des Staates, die Bürger und die verfassungsmäßig organisierten Gruppen, einen Anteil am Gesamtleben des Staates haben und durch ihr vitales Zusammenwirken das Staatsleben erst herstellen. Die Staatslehre drückt in der Vorstellung vom geistigen Organismus aus, daß staatliches Geschehen seinen Ort im menschlichen Geist hat, und daß das Staatsleben als kollektiver Bewußtseinsprozeß zu begreifen ist, an dem alle Glieder genauso beteiligt sind wie die Organe eines lebenden Organismus.« Roger Repplinger, Auguste Comte und die Entstehung der Soziologie aus dem Geist der Krise, Frankfurt am Main/New York 1999, S. 129. 141 142

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gigsten von ihm zu sein scheinen« 143 . Die Aufgabe der sozialen Statik liegt nun darin, die Bedingungen festzustellen, welche dafür sorgen, dass ein bestimmter Gesellschaftszustand dauerhaft besteht. Zu diesem Zweck ist es notwendig, »die Lehre von der notwendigen Wechselbeziehung zwischen der in der Gesellschaft bestehenden Regierungsform und dem gleichzeitigen Zustand der Zivilisation« 144 zu berücksichtigen. Da die Aufgabe der sozialen Statik in der Ermittlung der Bedingungen besteht, die an der Herstellung einer beständigen Gesellschaftsordnung beteiligt sind und diese wiederum im hohen Maße durch die politischen Verhältnisse bestimmt werden, müssen letztlich nur die staatlichen Bausteine ausfindig gemacht werden, die mit den Elementen eines höheren Zivilisationsgrades verschränkt sind. Allerdings können die gesellschaftlichen Tatsachen nicht beliebig miteinander kombiniert werden, weil unter den Erscheinungen der Gesellschaft sogenannte Gleichförmigkeiten des Zusammenlebens bestehen. Zur Idee des Consensus gehört, dass nicht alle Verbindungen sozialer Phänomene möglich sind; nur diejenigen Verknüpfungen sind möglich, die den Gesetzmäßigkeiten der Gleichförmigkeit folgen. Das erste Element sozialer Einigung, das Mill anführt, ist der Gehorsam der Bürger gegenüber irgendeiner Art von Regierung. Solange die Bewohner einer Gesellschaft sich im Modus persönlicher Anarchie bewegen, kann es weder politische Stabilität noch soziale Beständigkeit geben. Um ein gewisses Maß an Gehorsam unter den Menschen zu erzeugen, haben die Gesellschaften ein Erziehungssystem entwickelt. Das Ziel der Erziehung besteht laut Mill darin, dass das Individuum lernt, seine Triebe und Begehrlichkeiten soweit zu beherrschen, dass es in der Lage ist, sich in eine Gemeinschaft einzufügen. »Und überall und in dem Maße, als die strenge Bande dieser hemmenden Disziplin gelockert wurde, ist der Hang der Menschen zur Anarchie hervorgebrochen« 145 . Es ist evident, dass unter Naturzustandsbedingungen keinerlei politische Stabilität und sozialer Frieden zu haben ist. Der zweite Aspekt gesellschaftlicher Beständigkeit ist das Gefühl der Ergebenheit. Dabei handelt es sich um eine emotionale Einstellung, die sich nicht auf eine bestimmte Regierungsform, sondern auf unterschiedliche Gegenstände bezieht. Die persön143 144 145

Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 142. Ebd., S. 143. Ebd., S. 145.

212 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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liche Ergebenheit beruht darauf, »daß es in der Verfassung des Staates etwas gibt, das feststeht, etwas Dauerndes und nicht Infragezustellendes, etwas, das nach allgemeiner Anerkennung ein Recht hat, dort zu sein, und gegen Störungen sicher zu sein, was sich auch sonst verändern mag« 146 . So kann dieses Gefühl beispielsweise mit einem gewissen Menschenrecht verbunden sein, mit einem rechtlich verbürgten Freiheitsrecht oder mit einer für das Gemeinwesen bedeutsamen Person. Für Mill besteht kein Zweifel daran, dass die Möglichkeit zur Identifizierung mit den Werten und Idealen einer gerechten Gesellschaftsordnung im hohen Maße dazu beiträgt, den sozialen Frieden zu sichern und die gemeinschaftliche Ordnung zusammenzuhalten. Der dritte und letzte Punkt, welcher in direkter Verbindung mit der Etablierung einer dauerhaften politischen Ordnung steht, ist das Prinzip des kooperativen Zusammenhalts. Dieses verbindende Gefühl darf allerdings nicht mit dem verwechselt werden, was gemeinhin mit der Forderung nach einem souveränen Nationalstaat einhergeht, nämlich einer Abneigung gegen alles Fremde. Unter dem Gefühl der Gemeinsamkeit versteht Mill vielmehr »ein Prinzip des Mitgefühls, nicht der Feindseligkeit; der Einigung nicht der Trennung« 147 . Die Wissenschaft von der sozialen Statik hat es demzufolge mit einer Reihe von politischen Aspekten zu tun, welche einen erheblichen Einfluss auf die Etablierung einer stabilen Gesellschaftsordnung ausüben. Diese staatstheoretischen Größen muss sie bei ihren sozialwissenschaftlichen Forschungen berücksichtigen, wenn sie verlässliche Daten generieren will. Im Gegensatz zur sozialen Statik, die sich mit dem in der Gesellschaft bestehenden Consensus beschäftigt, hat es die soziale Dynamik mit Gesetzen zu tun, welche dafür sorgen, dass ein Zustand der Gesellschaft einem anderen nachfolgt. Allerdings reicht es nicht aus, nur die fortschreitenden Veränderungen einer Gesellschaft zu untersuchen, weil die auf diesem Weg gewonnenen empirischen Gesetze für sich genommen zu unvollkommen sind. Es ist daher erforderlich, »die statische Auffassung sozialer Phänomene mit der dynamischen zu verbinden« 148 ; denn nur auf diese Weise gewinnt man das empirische Gesetz des Parallelismus, das als Entwicklungsgesetz an allen kleineren und größeren Veränderungsprozessen der Gesellschaft be146 147 148

Ebd., S. 146. Ebd., S. 147. Ebd., S. 149.

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teiligt ist. 149 Da eine sozialwissenschaftliche Untersuchung, die sowohl die soziale Statik als auch die soziale Dynamik berücksichtigt, eine äußerst komplexe Angelegenheit ist, wäre es hilfreich, wenn sich ein Element finden ließe, dass alle anderen Kräfte, die den allgemeinen Fortschritt der Zivilisation vorantreiben, überragt. Und in der Tat gibt es laut Mill ein solches Element: »Dies ist der Zustand der spekulativen Fähigkeiten der Menschen, die Beschaffenheit der Glaubensüberzeugungen miteingerechnet« 150 . Freilich gibt es neben der Fähigkeit zur Spekulation noch eine Reihe anderer Anlagen, die ebenfalls am gesellschaftlichen Fortschritt beteiligt sind, aber all diese natürlichen Veranlagungen sind mehr oder weniger von dieser abhängig, weil die Grenze unseres Wissens gleichzeitig die Grenze des zu erreichenden Fortschritts ist; »da wir über äußere Gegenstände nur so weit Macht besitzen, als unsere Kenntnis derselben reicht, so ist der Zustand des Wissens zu jeder Zeit die Grenze für die in dieser Zeit möglichen […] Verbesserungen« 151 . Auch ist die spekulative Fähigkeit des Menschen eng mit dem zivilisatorischen Grad der Gesellschaft verbunden; so sind unzivilisierte Gesellschaften dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen die vorherrschenden Kräfte des Egoismus keinem System gemeinsamer Meinungen und Glaubensüberzeugungen unterworfen sind. »Doch damit die Menschen ihre Handlungen irgendeinem Inbegriff von Meinungen unterwerfen, müssen diese Meinungen erst da sein, sie müssen von ihnen geglaubt werden.« 152 Die spekulative Fähigkeit des Menschen ist demzufolge nicht nur an den technischen Verbesserungen einer Gesellschaft beteiligt, sondern hat auch erheblichen Einfluss auf die Qualität der moralischen und politischen Beschaffenheit des Gemeinwesens. Es gehört zu Mills fundamentalen Überzeugungen, dass jeder Fortschritt der Gesellschaft seinen Anfang im Fortschritt der intellektuellen Meinungen der Menschen findet. Die einzige Methode, die all diesen Anforderungen gerecht wird, ist die historische, denn sie ist die Methode, »nach der man die abgeleiteten Gesetze der sozialen Ordnung und des sozialen Fortschritts wird erforschen müssen« 153 . Die Geschichte

149 150 151 152 153

Vgl. ebd., S. 149 f. Ebd., S. 150. Ebd., S. 151. Ebd. Ebd., S. 153.

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Wissenschaft vom Menschen

bietet, wenn sie umsichtig befragt wird, eine Reihe von empirischen Gesetzen dar, welche für den Fortschritt des Menschengeschlechts verantwortlich sind. Die Anwendung der historischen Methode versetzt den Forscher in die komfortable Lage zu erkennen, welche Mittel erforderlich sind, um den Gang der Zivilisation weiter voranzubringen. 154 Allerdings ist diese Art der Forschung mit einem Problem verbunden, das Mill bereits an anderer Stelle ausführlich diskutiert hat. Die Rede ist von der menschlichen Willensfreiheit. Die historische Forschungsarbeit geht bei ihren Untersuchungen nämlich von der Voraussetzung aus, dass die Entwicklung einer Gesellschaft vom freien Willen der Menschen abhängt. »Denn ist dies nicht der Fall, so kann der Lauf der Geschichte, der ja das Ergebnis menschlicher Willensakte ist, kein Gegenstand wissenschaftlicher Gesetze sein« 155 . Es sollen hier nicht noch einmal alle Argumente genannt werden, die Mill für die Verteidigung der Willensfreiheit anführt. Es reicht der Hinweis, dass es zwar richtig ist, dass der Charakter des Menschen im hohen Maße durch die ihn umgebenen Umstände der Gesellschaft gebildet wird, dennoch besitzt er die Freiheit, diesen wieder zu ändern, wenn er es wünscht. »Aber wenn dieses Prinzip vom Einzelmenschen gilt, so muß es auch von der Gesamtheit gelten.« 156 Die Lehre von der Notwendigkeit besitzt somit keinerlei Exklusivität. Dass Mill von der Gestaltungskraft des Individuums überzeugt ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, welchen hohen Stellenwert er der spekulativen Fähigkeit des Menschen in seiner Gesellschaftstheorie einräumt. Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass der allgemeine Fortschritt der Zivilisation nicht durch die Leistungen einzelner Per154 Die Situation der Sozialwissenschaft lässt sich vor diesem Hintergrund folgendermaßen kennzeichnen: »Grundsätzlich gilt die sogenannte ›individualistische‹ Ansicht, dass alle sozialen, ökonomischen und politischen Phänomene erklärt werden müssen, indem der Beitrag der darin involvierten Individuen ethologisch untersucht wird. Aus diesem Grund gehen die Sozialwissenschaften für Mill grundsätzlich deduktiv vor: Sie leiten ihre Sätze aus (tendenziellen) ethologischen und (strikten) psychologischen Gesetzen ab. In der Praxis aber wird dieser grundsätzlich deduktive Anspruch ergänzt durch historisch-induktive Beobachtung und Verallgemeinerung – ein methodologisches Eingeständnis, das Mill vom französischen Soziologen Auguste Comte übernimmt.« Kuenzle/Schefczyk, John Stuart Mill zur Einführung, a. a. O., S. 119; siehe auch David H. Lewisohn, »Mill and Comte on the Methods of Social Science«, in: Journal on the History of Ideas 33 (1972), S. 315–324. 155 Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 156. 156 Ebd.

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Von der Logik der Moralwissenschaften

sonen oder durch die Anstrengungen politischer Regierungen beeinflusst werden kann. Nur weil gesellschaftliche Tatsachen als Wirkungen von Ursachen verstanden werden und die Gesellschaft empirischen Gesetzen unterworfen ist, folgt daraus nicht, dass die Willensakte empfindender Wesen keine soziale Wirksamkeit entfalten können. Im Gegenteil: In jeder Gesellschaft, ganz gleich von welcher Beschaffenheit sie ist, wird es immer Menschen geben, die durch ihre intellektuellen Leistungen oder ihr praktisches Geschick den allgemeinen Fortschritt des Menschengeschlechts vorantreiben. Um seine Argumentation zu stützen, verweist Mill in diesem Zusammenhang auf einige bedeutsame Persönlichkeiten wie Themistokles, Luther, Cäsar und Newton. 157 Er geht sogar so weit zu behaupten, dass ohne die Anwesenheit dieser Individuen überhaupt kein zivilisatorischer Fortschritt stattgefunden hätte. Allerdings lässt sich nicht vorhersagen, wann diese Ausnahmemenschen die historische Weltbühne betreten werden. Das einzige, was die Wissenschaft machen kann, ist, die Geschichte nach den gesellschaftlichen Bedingungen zu befragen, die mit dem Erscheinen jener Persönlichkeiten zusammengefallen sind. Damit möchte Mill sagen, dass das Auftreten großer Persönlichkeiten von einer Art gesellschaftlichem Vorbereitungszustand abhängt. Folglich können wir zwar nicht vorhersagen, wann die Individuen, die den Fortschritt der Zivilisation vorantreiben, in der Gesellschaft auftauchen werden, aber aufgrund des Studiums der Geschichte können wir wenigstens sagen, dass diese oder jene sozialen Umstände das Auftauchen begünstigen oder verhindern. »In dieser Weise ist es möglich, die Ergebnisse des Fortschritts, außer in Rücksicht der Schnelligkeit ihrer Erzeugung, bis zu einem gewissen Grad auf Regel und Gesetze zurückzuführen.« 158

4.

Zur Logik der Kunst

Das letzte Kapitel der Logik trägt die Überschrift Von der Logik der Praxis oder Kunst, einschließlich der Moral und der Politik. Es bildet nicht nur den Schlusspunkt des Buches, sondern liefert auch das wissenschaftstheoretische Gelenkstück zu Mills utilitaristischer Lehre, die im nächsten Kapitel der vorliegenden Arbeit diskutiert wird. 157 158

Vgl. ebd., S. 162. Ebd., S. 165.

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Zur Logik der Kunst

Während die vorangegangenen Abschnitte die Untersuchungen des Naturverlaufs zum Gegenstand hatten, geht es jetzt um eine Auseinandersetzung mit der praktischen Ethik, wobei die Darstellung der Methode der Morallehre im Vordergrund steht. Die Wissenschaften sind für Mill dadurch charakterisiert, dass sie ihre Forschungsergebnisse im Indikativ formulieren, ihre Schlüsse also die Struktur von Aussagesätzen aufweisen, und zwar in dem Sinne, dass bei ihnen sinnvoll danach gefragt werden kann, ob sie wahr oder falsch sind. Die Ethik hingegen hat es nicht mit Aussagesätzen, sondern mit Regeln und Vorschriften zu tun; sie spricht im Imperativ, nicht im Indikativ. Vor diesem Hintergrund gelangt Mill zu der Überzeugung, dass die Lehre von der Moral keine Wissenschaft, sondern eine Kunst ist. 159 Gleichwohl steht sie mit der Wissenschaft in enger Verbindung. Obwohl beide Fachrichtungen auf völlig unterschiedlichen Fundamenten stehen und gesondert vorgehen, besteht zwischen den Regeln der Kunst und den Lehrsätzen der Wissenschaft eine enge Beziehung. Die Kooperation sieht folgendermaßen aus: Zunächst bestimmt die Kunst ein Ziel, welches wünschenswert erscheint, gesellschaftlich zu erreichen. Sie übergibt es dann der Wissenschaft, die es als eine zu untersuchende Größe betrachtet. Nachdem die Wissenschaft die für die Wirkung zuständigen Ursachen ermittelt hat, schickt sie der Kunst einen allgemeinen Lehrsatz über die Kombination der gesellschaftlichen Tatsachen zurück, durch welche jene Wirkung erzeugt wird. Und je nachdem, ob diese gesellschaftlichen Verhältnisse durch menschliche Gestaltungskraft geschaffen werden können oder nicht, erklärt sie das Ziel für erreichbar oder nicht. Für den Fall, dass die Bedingungen von Menschen hervorgebracht werden können, verwandelt die Kunst den wissenschaftlichen Lehrsatz in eine allgemeine Regel oder Vorschrift. In allen anderen Fällen muss sie zum Ausgangspunkt zurückkehren und ein neues Ziel formulieren. »Die einzige Prämisse, welche die Kunst liefert, ist somit die ursprüngliche Prämisse, welche aussagt, daß die Erreichung des gegebenen Ziels wünschenswert ist.« 160 Es ist offenkundig, dass es bei der Ermittlung der Bedingungen des Zwecks unerlässlich ist, sowohl alle positiven als auch alle negativen Einflussgrößen zu berücksichtigen; denn neben 159 160

Vgl. ebd., S. 170. Ebd., S. 172.

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Von der Logik der Moralwissenschaften

den zielfördernden Ursachen gibt es auch Bestimmungen, welche die Anwesenheit der Wirkung verhindern. Werden diese im Rahmen des wissenschaftlichen Prüfverfahrens übersehen, kann es leicht geschehen, dass das Ziel, welches von der Kunst als wünschenswert eingestuft wurde, nicht erreicht wird. Gleichwohl sieht Mill ein, dass es aufgrund der Komplexität einer Gesellschaft unmöglich ist, alle Eventualitäten gleichermaßen zu berücksichtigen, weshalb er sich dafür ausspricht, den Regeln und Vorschriften des Verhaltens lediglich eine vorläufige Gültigkeit einzuräumen. »Die Kunstregeln streben nicht danach, mehr Bedingungen zu umfassen, als in gewöhnlichen Fällen notwendig zu beachten sind, und sind darum immer unvollkommen.« 161 Die den komplizierten Umständen der Gesellschaft geschuldete Unvollkommenheit der Vorschrift entbindet aber keinesfalls von der Anwendung einer wissenschaftlichen Methode. Gerade vor dem Hintergrund der Vorläufigkeit der Regel ist es sinnvoll, sich um eine möglichst vollständige Ermittlung aller Ursachen zu bemühen, um dem gesellschaftlichen Praktiker im Hinblick auf die Wahl seiner Handlung eine verlässliche Orientierung zu geben. So unterliegen die Anhänger der geometrischen Methode einem Irrtum, wenn sie allgemeine Vorschriften aus vermeintlich richtigen Prämissen deduzieren, ohne dabei die spekulativen Wahrheiten der Wissenschaften zu berücksichtigen. 162 »Eine Kunst oder ein System von Künsten besteht aus den Regeln nebst jenen spekulativen Sätzen, die zur Begründung der Regeln erforderlich sind.« 163 Während es die Aufgabe der Wissenschaft ist, den wünschenswerten Zweck mit den erforderlichen Mitteln zu verknüpfen, fällt die Bestimmung des Ziels allein der Kunst zu. Jede Kunst besitzt einen Grundsatz, der nicht aus der Wissenschaft kommt, »jenen Satz nämlich, welcher den zu erstrebenden Zweck bezeichnet und aussagt, daß es ein wünschenswerter Zweck ist« 164 . Die Sätze der Wissenschaft beschreiben Tatsachen, sie beziehen sich auf ein konkretes Dasein in der Welt; bei ihnen kann sinnvoll danach gefragt werden, ob sie wahr oder falsch sind. Die Sätze der Kunst hingegen besitzen diese Eigenschaften nicht, sie drücken nicht aus, wie die Welt ist, sagen nicht aus, dass etwas ist oder nicht ist, sie 161 162 163 164

Ebd., S. 173. Vgl. ebd., S. 174 f. Ebd., S. 175. Ebd., S. 176.

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Zur Logik der Kunst

sprechen vielmehr eine Anordnung aus, dahingehend, dass etwas Bestimmtes sein sollte oder grundsätzlich wünschenswert ist. »Sie bilden eine Klasse für sich; ein Satz, dessen Prädikat durch die Worte soll oder sollte nicht ausgedrückt ist, ist artverschieden von einem Satz, in dem die Worte ist oder wird sein vorkommen.« 165 Die allgemeinen Lehrsätze der Kunst und die Folgerungen, die aus ihnen für die Praxis des Lebens abgeleitet werden können, sind Teil einer noch zu schaffenden Disziplin, die Mill als Kunst des Lebens bezeichnet. Sie besteht im Wesentlichen aus drei Gebieten: 1) der Moralität, 2) der Klugheit oder Politik und 3) der Ästhetik. Das Besondere dieser Fachrichtung ist, dass sie allen anderen Künsten übergeordnet ist. Ihre Grundsätze allein haben darüber zu entscheiden, ob das Ziel irgendeiner untergeordneten Fachrichtung erstrebenswert ist und welche Stellung es innerhalb der Ordnung aller wünschenswerten Dinge einzunehmen hat. Folglich muss es einen Maßstab geben, nach dem die Qualität der verschiedenen Zwecke bestimmt und geordnet werden kann. Es ist leicht einzusehen, dass es immer nur einen Maßstab geben kann, »denn gäbe es mehrere letzte Grundsätze des Verhaltens, so könnte es geschehen, daß dasselbe Verhalten von einem dieser Grundsätze gebilligt und von einem anderen verurteilt würde, und es würde immer noch eines allgemeineren Grundsatzes als Schiedsrichter zwischen ihnen bedürfen« 166 . Für Mill ist das erste und letzte Prinzip der Teleologie die Beförderung von Glück. Gleichwohl geht er nicht so weit zu behaupten, dass die Glücksmehrung das einzige Ziel menschlicher Handlungen ist. So gibt es beispielsweise eine Reihe von tugendhaften Handlungen, durch welche das persönliche Glück im Einzelfall sogar gemindert wird. Diese Art des Verhaltens integriert Mill in seine Moraltheorie, indem er darauf hinweist, dass jene Handlungen durchaus mit dem Prinzip des größten Glücks vereinbar sind, nämlich immer dann, wenn sich zeigen lässt, dass durch die Tugendpflege unter den Menschen insgesamt mehr Glück entsteht. Für den Fall, dass unterschiedliche Verhaltensweisen in Konflikt miteinander geraten, spricht Mill sich überraschenderweise dafür aus, der Handlung den Vorzug zu geben, die zur Veredelung des Charakters führt: »Ich erkenne an, daß die Pflege eines idealen Adels des Willens ein Ziel sein soll, welchem die direkte Verfolgung ihres eigenen oder des 165 166

Ebd., S. 177. Ebd., S. 179.

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Von der Logik der Moralwissenschaften

Glücks anderer […] in jedem Fall eines Zusammenstoßes nachgeben sollte.« 167 Diese Haltung verteidigt er mit dem Argument, dass letztlich mehr Glück in einer Gesellschaft vorhanden sein wird, wenn die Bürger sich zuerst um die Kultivierung ihres eigenen Charakters bemühen. Da Mill neben nutzenorientierten Aspekten auch tugendethische Gesichtspunkte in seiner Theorie berücksichtigt, wird bereits an dieser Stelle deutlich, warum sein Ethikentwurf als Erweiterung der klassischen utilitaristischen Lehre verstanden werden muss.

167

Ebd., S. 180.

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Viertes Kapitel Von der Nützlichkeit und ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit

1.

Einleitende Bemerkungen

Um Mills Auffassung seiner utilitaristischen Ethik angemessen zu verstehen, ist es lohnend, einen Blick in seine Autobiographie zu werfen, nicht nur, weil er dort einen systematischen Überblick über seine außergewöhnliche Bildungslaufbahn und sein sozialphilosophisches Lebenswerk gibt, sondern auch, weil er dort die persönlichen Motive offenlegt, die ihn zu einer Weiterentwicklung des klassischen Utilitarismus veranlasst haben. So hatte er in seiner Jugend ein konkretes Ziel vor Augen: »ich wollte ein Reformer der Welt werden« 1 . Im Alter von 16 Jahren fühlt der junge Mill sich den Ideen der philosophischen Radikalen und ihren liberaldemokratischen Reformbemühungen verpflichtet. Zu dieser Zeit kommt er auch zum ersten Mal mit den Schriften Jeremy Benthams in Berührung, woraufhin er 1822 mit einigen Freunden die Utilitaristische Gesellschaft gründet, deren Mitglieder sich in erster Linie dem Nützlichkeitsprinzip und einigen daraus abgeleiteten Prinzipien verpflichtet fühlen. »Ich pflegte mir Glück zu wünschen zu der Sicherheit eines glücklichen Lebens, denn ich hatte, wenn auch in der Ferne, etwas Dauerhaftes vor mir, in dem ich stets fortschreiten konnte, ohne es je durch völliges Erreichen zu erschöpfen.« 2 In diesem Zustand verbringt Mill einige Jahre. Alles scheint sich gut zu entwickeln, die Zivilisation schreitet voran, und er ist glücklich, den gesellschaftlichen Fortschritt durch seine intellektuelle Arbeit unterstützen zu können, bis sich im Herbst 1826 sein seelisches Befinden verschlechtert. In seiner Autobiographie schreibt er: »Ich litt an einer Nervenspannung, wie ihr wohl jeder gelegentlich ausgesetzt ist, hatte an nichts mehr Freude und befand mich in einer 1 2

Au, AW, Band 2, S. 112. Ebd.

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Von der Nützlichkeit und ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit

von jenen Stimmungen, in welchen einem alles, woran man sonst Vergnügen gefunden hat, schal und gleichgültig erscheint.« 3 Anfangs hat Mill noch Hoffnung, dass diese depressive Verstimmung nur einige wenige Tage anhält, doch das Gegenteil tritt ein. In den folgenden drei Monaten verschlechtert sich seine Gesundheit. Seinen damaligen Gemütszustand beschreibt Mill mit zwei Zeilen des romantischen Dichters Coleridge: »Den Nektar schöpft ins Sieb ein hoffnungsloses Streben, Und Hoffnung ohne Ziel ist außer Stand, zu leben.« 4 Trotz seiner Schwermut gelingt es ihm aber, seine gewohnte Arbeit fortzusetzen, wenn auch nur mechanisch. So verfasst er im Winter 1826/27 für die Debattengesellschaft mehrere Reden, von denen er einige sogar selbst hält. Den Grund für seine seelische Krise erblickt Mill in der Pädagogik seines Vaters, der ihn vor dem Hintergrund der Bentham’schen Nützlichkeitslehre zu einem für die Gesellschaft nützlichen Menschen erziehen wollte 5 ; »allein die Besonderheit meiner Erziehung hatte der Allgemeinerscheinung einen speziellen Charakter verliehen, so dass ich lange Zeit nichts anderes darin sehen konnte, als die natürliche Wirkung von gewissen Ursachen« 6 . Dieser Umstand erklärt auch, warum Mill sich während seiner Krise nicht an seinen Vater wendet und ihn um Hilfe bittet. Aber nicht nur bei seinem Vater, sondern auch bei seinen Freunden hat er nicht das Gefühl, dass sie ihn und seine besondere Lage verstehen würden, weshalb er sich letztlich niemandem anvertraut; am Ende denkt Mill sogar über Selbstmord nach. Bevor es jedoch zum Äußersten kommt, fallen ihm Marmontels Memoiren in die Hände, in denen der Autor vom Tode seines Vaters, der trostlosen Lage seiner Familie und dem begeisterten Gefühl spricht, welches ihn überkommt, als er erkennt, dass er von jetzt an die Stelle seines verstorbenen Vaters treten und die Verantwortung für die Familie übernehmen muss. Beim Einfühlen in diese anrührende Szene und die persönliche Weiterentwicklung des Autors kommen Ebd. Ebd., S. 117. 5 Vgl. Kathleen Thomas, The Crisis and Analysis of John Stuart Mill’s Life, Edinburgh 1994; auch Albert W. Levi, »The ›Mental Crisis‹ of John Stuart Mill«, in: Psychoanalytical Review 32 (1945), S. 86–101. 6 Au, AW, Band 2, S. 117. 3 4

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Einleitende Bemerkungen

dem jungen Mill die Tränen, mit der Folge, dass sein Gemütszustand sich langsam verbessert und er neuen Lebensmut findet. »So zerteilte sich allmählich die Wolke, und ich freute mich wieder des Lebens; ja, selbst die Rückfälle, die zuweilen eintraten und mitunter Monate anhielten, vermochten nicht, mich so elend zu machen, als ich früher gewesen war.« 7 Die Erfahrungen jener Tage führen bei Mill zu einer Reihe von persönlichen Veränderungen, welche ihren Ausdruck nicht nur in einer Neuformulierung seiner philosophischen Anschauungen, sondern auch in einer Umgestaltung seines Charakters finden. Zwar schwankt er auch jetzt nicht in der Überzeugung, »dass Glück der letzte Prüfstein aller Verhaltensregeln und der Endzweck des Lebens« 8 ist, aber er gelangt zu der Einsicht, dass Glück nur dann zu erreichen ist, wenn es nicht zum direkten Handlungsziel erklärt wird. Mills Überlegungen kulminieren in dem Gedanken, dass man glücklich wird, indem man seinen Sinn auf etwas anderes richtet als auf das eigene Glück, beispielsweise auf das Glück anderer oder auf die Veredelung der Menschheit im Allgemeinen. »Während man so auf etwas anderes abhebt, findet man das Glück unterwegs.« 9 Eine weitere Veränderung in den Ansichten Mills liegt in der Einsicht begründet, dass die Erfordernisse menschlicher Wohlfahrt nicht nur in den spekulativen Fähigkeiten des Menschen, sondern auch in der inneren Kultur des Individuums zu finden sind. Zwar ist Mill auch weiterhin davon überzeugt, dass der Verstand ein unverzichtbares Mittel für die theoretische Arbeit ist; »allein ich dachte, dass sich doch auch Folgen daran knüpfen, die man korrigieren müsse, indem man andere Arten von Kultivierung damit in Verbindung bringe« 10 . Den Grund für seinen vorübergehenden Trübsinn erblickt Mill demzufolge in der einseitigen Erziehung seines Vaters. So hatte dieser zwar den allergrößten Wert auf die Ausbildung der intellektuellen Fähigkeiten gelegt, aber die Seite des Gefühls stark vernachlässigt. »Meine Erziehung, dachte ich, war darin fehlgeschlagen, die Gefühlsseiten zureichend zu kräftigen, um den zersetzenden Einflüssen der Analyse zu widerstehen« 11 .

Ebd., S. 118. Ebd., S. 117. 9 Ebd., S. 118. 10 Ebd., S. 119. 11 Ebd., S. 116. 7 8

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Von der Nützlichkeit und ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit

Vor diesem Hintergrund beginnt Mill zum ersten Mal sich ausgiebig mit Poesie, Musik und Kunst zu beschäftigen, um auch die Gefühlsseiten seines auf Analyse eingestellten Charakters zu veredeln. »Die Kultivierung der Gefühle wurde einer der Kardinalpunkte in meinem ethischen und philosophischen Glaubensbekenntnis, und meine Gedanken und Neigungen wandten sich in zunehmenden Maße allem zu, was geeignet schien, für diesen Zweck als Werkzeug zu dienen.« 12 Eine wichtige Rolle spielen dabei die poetischen Arbeiten des englischen Dichters und Romantikers William Wordsworth (1770–1850), in denen Mill eine Quelle des Glücks und der Zuversicht findet. »Und das Entzücken, welches mir diese Gedichte einflößten, lieferte den Beweis, dass bei einer derartigen Kultur nichts zu fürchten stand von der Analyse, wie tief sie auch in der Gewohnheit verwurzelt sein mochte.« 13 Diese Ausführungen sind insofern von Bedeutung, als dass sie den persönlichen Hintergrund verdeutlichen, vor dem Mill seine Auffassung der utilitaristischen Morallehre entwickelt. Es ist evident, dass es hauptsächlich die Erfahrungen seiner seelischen Krise sind, die ihn dazu veranlassen, sich mit dem Utilitarismus Bentham’scher Prägung, in dessen Geist er von seinem Vater erzogen worden ist, kritisch auseinanderzusetzen. Das Ergebnis dieses intellektuellen und emotionalen Reifungsprozesses ist die Schrift Utilitarismus, welche zunächst in drei aufeinanderfolgenden Heften von Fraser’s Magazin erscheint und später (1861) als Buch publiziert wird. 14 In seiner Abhandlung unternimmt Mill den Versuch, die moralischen Grundlagen menschlichen Verhaltens zu klären, weil für ihn die Frage nach dem summum bonum noch immer eines der Hauptprobleme der Philosophie ist, obwohl die Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung bereits weit in das abendländische Denken zurückreicht. »Jede Handlung geschieht irgendeines Zweckes halber, und Handlungsregeln, so könnte man meinen, müssen deswegen ihren ganzen Charakter und ihre Färbung aus dem Zweck beziehen, dem sie letzten Endes dienen.« 15 Die Kunst, welche es im Gegensatz zu den Wissenschaften nicht mit Aussagesätzen, sondern mit Regeln und Vorschriften zu tun hat, benötigt deshalb einen ersten und letz12 13 14 15

Ebd., S. 119. Ebd., S. 122. Vgl. ebd., S. 197. Ut, AW, Band 3.1, S. 443.

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Verteidigung des Utilitarismus

ten Grundsatz, der darüber entscheidet, welche Handlung im Sinne der Moralität richtig ist und welche falsch. Diesen Grundsatz erblickt Mill im Nützlichkeitsprinzip oder wie Bentham es auch nennt: das Prinzip des größten Glücks. 16 Obwohl Mills Auffassung des Utilitarismus vor dem Hintergrund seiner seelischen Krise ohne Zweifel als Weiterentwicklung der klassischen Nützlichkeitslehre verstanden werden kann, wird an dieser Stelle auch deutlich, dass er den Grundsätzen seines Vaters und Benthams weitestgehend treu bleibt, indem er das Glück als Endzweck des Lebens nach wie vor anerkennt. 17 Es geht ihm in seiner Schrift nicht darum, die utilitaristische Lehre auf ein gänzlich neues Fundament zu stellen. Sein Ziel besteht vielmehr darin, »einen Beitrag zum besseren Verständnis und zur gerechten Würdigung der utilitaristischen oder Glücksseligkeitstheorie zu leisten, so wie zu der Art von Beweisführung, wie die Natur des Gegenstandes sie zulässt« 18 .

2.

Verteidigung des Utilitarismus

Mill beginnt seine Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus mit der Entkräftung der in seinen Augen irrigen Vorstellung, dass Nützlichkeit als Maßstab von Recht und Unrecht der menschlichen Freude entgegengesetzt ist. 19 So sind die Anhänger der Nützlichkeitstheorie, von Epikur bis Bentham, zu keinem Zeitpunkt der Auffassung, dass diese Lehre dem Angenehmen und Gefälligen entgegengesetzt ist, stattdessen vertreten sie die Überzeugung, dass das Nützlichkeitsprinzip mit dem menschlichen Streben nach Freude völlig übereinstimmt. 20 Die Überzeugung, welche im Prinzip des größten Glücks Vgl. ebd., S. 445. Vgl. Ulrich Gähde, »Zum Wandel des Nutzenbegriffs im klassischen Utilitarismus«, in: ders./Wolfgang H. Schrader (Hg.), Der klassische Utilitarismus. Einflüsse – Entwicklungen – Folgen, Berlin 1992, S. 83–110; Wendy Donner, »Mill’s Utilitarianism«, in: Skorupski (Hg.), The Cambridge Companion to Mill, a. a. O., S. 255–292. Zur Aktualität Mills siehe John Skorupski, Why Read Mill Today?, London 2006. 18 Ut, AW, Band 3.1, S. 446. 19 Vgl. ebd., S. 448 f. Zum theoretischen Hintergrund siehe auch Jacob Viner, »Bentham an J. S. Mill. The Utilitarian Background«, in: American Economic Review 39 (1949), S. 360–382. Zur Verteidigung der utilitaristischen Lehre siehe auch Bernward Gesang, Eine Verteidigung des Utilitarismus, Stuttgart 2003. 20 Zur historischen Entwicklung der utilitaristischen Ethik siehe Bettina Düppen, Der 16 17

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Von der Nützlichkeit und ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit

ihren Grund findet, »hält Handlungen für in dem Maße richtig, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und für in dem Maße falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken« 21 . Der utilitaristischen Theorie der Moral liegt demzufolge die Annahme zugrunde, dass Freude und die Abwesenheit von Leid die einzigen Dinge sind, die als Endzweck des Lebens wünschenswert sind. 22 Die Gegner der Nützlichkeitslehre erheben vor diesem Hintergrund den Vorwurf, dass eine Theorie, die sich ausschließlich am Genuss orientiert und kein edleres Ziel als dieses kennt, im höchsten Grade schäbig ist; der Utilitarismus sei damit eine Lehre, die nur Schweinen würdig ist. 23 Der Vergleich mit Schweinen ist keinesfalls zufällig, so wurden bereits die Anhänger Epikurs voller Verachtung mit ihnen verglichen. Auf diesen Einwand haben die Epikureer geantwortet, dass es ja nicht sie, sondern ihre Gegner sind, die behaupten, dass der Mensch nur zu primitiven Formen des Genusses fähig ist. Und auch Mill begegnet seinen Gegnern mit diesem Argument, wenn er darauf aufmerksam macht, dass der Mensch im Gegensatz zum Tier zu verschiedenen Arten von Freuden fähig ist, von denen einige wünschenswerter und wertvoller sind als andere. 24 Gleichzeitig vertritt er die Überzeugung, dass jene höheren Arten von Freuden mit dem Nützlichkeitsprinzip durchaus vereinbar sind; denn es wäre geradezu absurd, Freuden nur nach ihrer Quantität und nicht auch nach ihrer Qualität zu beurteilen, während wir diesen doppelten Maßstab bei allen anderen Dingen dauernd anlegen. 25 Was nun die Frage angeht, was eine Freude wünschenswerter Utilitarismus: eine theoriegeschichtliche Darstellung von der griechischen Antike bis zur Gegenwart, Köln 1997; zur Vorstellung des guten Lebens und deren Renaissance unter Berücksichtigung der utilitaristischen Lehre siehe Dagmar Fenner, Das gute Leben, Berlin 2007. 21 Ut, AW, Band 3.1, S. 449. 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. ebd., S. 450. 24 Vgl. ebd., S. 450 f. 25 Vgl. ebd., S. 451. Im Gegensatz dazu vertritt Malte Daniels die These, dass der Utilitarismus keine normative Theorie ist, aus der sich einfach Bewertungen für Handlungsfolgen ableiten lassen. Die Nützlichkeitslehre ist seiner Ansicht nach wertneutral, weil ihr normativer Gehalt stets von der jeweils zugrunde gelegten Nutzenfunktion abhängt. Der Utilitarismus sei vor diesem Hintergrund keine Ethik im eigentlichen Sinne des Wortes, vielmehr sei er eine Methode der Ethik. Vgl. Malte C. Daniels, Utilitarismus als Methode, Saarbrücken 2011; siehe dazu auch Rainer W.

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Verteidigung des Utilitarismus

oder wertvoller im Vergleich zu einer anderen macht, so gibt Mill im Wesentlichen drei Kriterien an: 26 1) Von zwei Freuden ist diejenige wünschenswerter, die von allen oder fast allen Menschen, welche beide Freuden erfahren haben, entschieden bevorzugt wird, unabhängig von einem Gefühl moralischer Pflicht, welches uns dazu nötigt, die eine Freude der anderen vorzuziehen; 2) wenn diejenigen, die beide Freuden erfahren haben, die eine Freude der anderen auch dann vorziehen, wenn ihr Genuss einen höheren Grad an Unzufriedenheit erzeugt wie die Freude, die verworfen wird; und 3) wenn diejenigen, die beide Freuden erfahren haben, die gewählte Freude für keinen anderen Genuss wieder aufgeben würden. Erst wenn diese drei Bedingungen erfüllt sind, kann man davon ausgehen, dass die Qualität der vorgezogenen Freude die Qualität der verworfenen Freude übersteigt. Mill argumentiert, dass Menschen, welche unterschiedliche Freuden erfahren und genossen haben, in der Regel der Lebensweise den Vorzug geben, welche ihre höheren Fähigkeiten anspricht. 27 Nur wenige Menschen würden einwilligen, sich in ein Tier verwandeln zu lassen, wenn sie damit in den umfassenden Genuss tierischer Freuden kommen würden. Neben dem Stolz, der Freiheitsliebe und dem Streben nach persönlicher Unabhängigkeit ist es vor allem das Gefühl der Würde, das den Menschen davon abhält, sich auf die Stufe niederer Gattungen zu wünschen. Wer dennoch der Meinung ist, dass höhere Wesen unter gleichen Umständen keineswegs glücklicher sind als niedere Wesen, der verwechselt zwei Begrifflichkeiten miteinander, nämlich Glück und Zufriedenheit. Zwar bestreitet Mill nicht, dass ein Wesen, welches nur wenige Freuden empfinden kann, die bessere Aussicht auf eine vollständige Befriedigung seiner Bedürfnisse hat, während ein Wesen mit höheren Fähigkeiten immer fühlen wird, dass jedes Glück der Welt unvollkommen ist. Aber im Gegensatz zum Tier kann der Mensch lernen, diese Unvollkommenheit auszuhalten. 28 Die Schwächen der menschlichen Natur werden das Individuum nicht dazu bringen, das Tier zu beneiden und sich an seine Stelle zu wünschen. Trapp, »Die ideengeschichtliche und theoretische Entwicklung der Wertbasis des klassischen Utilitarismus«, in: Gähde/Schrader (Hg.), Der klassische Utilitarismus. Einflüsse – Entwicklungen – Folgen, a. a. O., S. 172–265. 26 Vgl. dazu Ut, AW, Band 3.1, S. 451. 27 Vgl. ebd.; siehe außerdem Henry R. West, »Mill’s Qualitative Hedonism«, in: Philosophy 51 (1976), S. 97–101. 28 Vgl. Ut, AW, Band 3.1, S. 452 f.

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Von der Nützlichkeit und ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit

»Es ist besser, ein nicht vollständig zufriedener Mensch zu sein, als ein restlos zufriedenes Schwein – besser, ein nicht vollständig zufriedener Sokrates, als ein restlos zufriedener Narr.« 29 Nun lässt sich aber beobachten, dass diejenigen, die höhere Freuden erfahren haben, zuweilen doch den niederen Gelüsten den Vorzug geben. Wie ist dies zu erklären? Mills Antwort auf diesen Vorwurf lautet, dass diese Menschen sich nur deshalb den primitiveren Formen des Genusses hingeben, weil sie an einer Schwäche des Charakters leiden; denn aufgrund ihrer Erfahrung mit den unterschiedlichen Arten von Freude wissen sie eigentlich, dass die höheren Freuden die wünschenswerteren und wertvolleren sind. »Sie geben sich zum Schaden ihrer Gesundheit sinnlichen Genüssen hin, obgleich sie sehr wohl wissen, dass Gesundheit das höhere Gut ist.« 30 Ähnlich verhält es sich bei der Beobachtung, dass der jugendliche Enthusiasmus vieler Menschen verschwindet, sobald sie älter werden. Ihr früheres Engagement in der Gesellschaft weicht dann häufig der Trägheit und Selbstsucht. 31 Aber auch hier glaubt Mill nicht, dass die Menschen sich bewusst für die Bequemlichkeit entscheiden. Nach seiner Überzeugung kommt es zu dieser Wandlung, weil die Individuen zu höheren Freuden nicht mehr fähig sind oder keine Zeit mehr dafür haben; denn die Fähigkeit zum Genuss höherer Freuden ist keine anthropologische Selbstverständlichkeit, sie bedarf einer fortwährenden Schulung des Charakters, welche mit gewohnheitsmäßigen Mühen verbunden ist. »Die Fähigkeit, edlere Gefühle zu empfinden, ist in den meisten Naturen eine sehr zarte Pflanze, die leicht abstirbt, nicht nur durch schädliche Einflüsse, sondern bereits durch den bloßen Mangel an Pflege« 32 . So verkümmert diese Fähigkeit beispielsweise, wenn junge Menschen als Erwachsene eine Arbeit aufnehmen, welche für die Kultivierung ihrer Gefühle und intellektuellen Anschauungen nicht förderlich ist. Ein weiterer Grund kann Zeitmangel sein. Mill bleibt dabei: Menschen, die beide Arten von Freude kennen, werden niemals gewollt den niederen Formen des Genusses den Vorzug geben, und das einzige Kriterium für die Beurteilung der Qualität von Lust und Schmerz ist das Urteil der Mehrheit, die beides erfahren hat. 29 30 31 32

Ebd., S. 453. Ebd. Vgl. ebd. Ebd.

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Verteidigung des Utilitarismus

Die Orientierung am Urteil der Mehrheit ist auch deshalb von Bedeutung, weil der Standard des Utilitarismus nicht das Glück der Einzelperson, sondern die Menge des Glücks insgesamt ist. Mill geht davon aus, dass das Glück einer Gesellschaft am größten ist, wenn jeder sich zuerst um die Veredelung seines eigenen Charakters kümmert. 33 Zwar kann es sein, dass eine tugendhafte Lebensweise das Glück der Person selbst nicht steigert, aber es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass ein edler Charakter die anderen Menschen glücklicher macht, wodurch das Glück in der Gesellschaft insgesamt vermehrt wird. Der Utilitarismus erreicht sein Ziel demzufolge vor allem durch eine Kultivierung des menschlichen Charakters, wobei dies auch dann gilt, wenn das Individuum nur von der Tugendhaftigkeit anderer profitiert, während sein eigenes Glück eine Einschränkung erfährt. Der höchste Zweck der utilitaristischen Ethik ist ein Leben, »das so weit wie möglich frei von Leid und so reich wie möglich an Freuden ist, sowohl hinsichtlich der Quantität als auch der Qualität« 34 . Das Glück des Menschen als Endzweck des Lebens bildet daher die Grundlage der Moral. »Diese kann also definiert werden als die Regeln und Gebote für menschliches Verhalten, durch deren Befolgung ein Leben der beschriebenen Art so weit wie möglich allen Menschen gesichert wird.« 35 Die Gegner dieser teleologischen Ethik wenden jedoch ein, dass Glück als rationaler Endzweck des Handelns und Lebens gänzlich ungeeignet ist, wobei sie ihre Kritik im Wesentlichen auf drei Annahmen gründen: 36 1) Das Glück kann nicht erreicht werden. 2) Als Menschen haben wir kein Recht auf Glück. 3) Die Menschen kommen im Leben auch ohne Glück aus. Dem ersten Einwand begegnet Mill zunächst mit dem Hinweis, dass das Nützlichkeitsprinzip nicht nur das Streben nach Glück umfasst, sondern auch die Verhinderung von Schmerz beinhaltet. So könnten wir, wenn denn das Glück wirklich unerreichbar wäre, immer noch viel für die Milderung von Unglück tun. Abgesehen daVgl. ebd., S. 454 f. Ebd., S. 455. 35 Ebd. »Die traditionellen Utilitaristen haben […] das Glück nicht so sehr in dem passiven Vergnügen als vielmehr in der Befriedigung des Begehrens gesehen. Glück wird als Zufriedenheit gedacht, als ein Zustand der Ausgewogenheit zwischen Bedürfnissen und Wünschen auf der einen Seite und deren Befriedigung auf der anderen Seite.« Wolfgang R. Köhler, Zur Geschichte und Struktur der utilitaristischen Ethik, Frankfurt am Main 1979, S. 46. 36 Vgl. dazu Ut, AW, Band 3.1, S. 455. 33 34

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Von der Nützlichkeit und ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit

von hält er die Aussage, dass Glück grundsätzlich unerreichbar ist, für eine Übertreibung, die ihren Grund in einer falschen Auffassung des Glücksbegriffs hat. Es ist völlig einleuchtend, dass man Glück für unerreichbar hält, wenn man darunter »die ununterbrochene Fortdauer einer in hohem Grade freudigen Erregung« 37 versteht. Dies ist aber ein falsches Verständnis von Glück, weil der Zustand der Freude niemals dauerhaft ist; er »währt nur Augenblicke oder, in einigen Fällen und mit Unterbrechungen, Stunden oder Tage; er ist das gelegentliche blitzartige Aufleuchten des Genusses, nicht seine dauernde und stetige Flamme« 38 . Und da die Grundlage der Freude das Leben ist, kann niemals mehr Freude gewonnen werden, als in ihm enthalten ist. Die Summe des menschlichen Glücks kann die Summe des weltlichen Glücks nicht übersteigen. Darin, so würde Mill vielleicht sagen, liegt die einzige Tragik des menschlichen Glücks. Die Hauptbestandteile des Glücks finden sich im Wesentlichen in zwei lebensdienlichen Zuständen, welche sich wechselseitig bedingen: »Ruhe und freudige Aufregung« 39 . So erzeugt der Zustand der Ruhe beim Individuum nach einiger Zeit den Wunsch nach Aufregung, während der Zustand der Erregung nach einiger Zeit den Wunsch nach Ruhe hervorbringt. Vor diesem Hintergrund spricht Mill sich dafür aus, die Menschen zur Vereinigung dieser beiden Zustände zu befähigen, damit sie möglichst viel Glück in ihrem Leben empfinden. 40 Die einzige Voraussetzung dafür ist, dass Ruhe und Erregung nicht zu Lastern geworden sind. Sobald das Individuum nämlich einem der beiden Zustände krankhaft verfallen ist, verspürt es keinen Wunsch mehr, den präferierten Zustand temporär durch den anderen zu ersetzen. Die einseitige Interessenverfolgung ist aber nicht der einzige Grund für ein unzufriedenes Leben. Zum einen wird das Individuum kein Glück erfahren, wenn es das Glück selbst zum Ziel seiner Handlungen macht. Ein glückliches Leben stellt sich erst ein, wenn der Mensch seine privaten Nutzenüberlegungen modifiziert, indem er sein Handeln an gemeinsam geteilten Werten und Normen orientiert. »Wenn Menschen mit einem leidlich günstigen äußeren Schicksal am Leben nicht genug Freude finden, […] so ist

37 38 39 40

Ebd., S. 456. Ebd. Ebd., S. 457. Vgl. ebd.

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Verteidigung des Utilitarismus

die Ursache davon meist, dass sie sich nur um sich selbst kümmern.« 41 Es gehört zu Mills fundamentalsten Überzeugungen, dass die ausschließliche Konzentration auf den eigenen Vorteil dem Streben nach persönlichem Glück zuwiderläuft. Nur wenn es dem Individuum gelingt, »ein Gefühl der Anteilnahme für die gemeinschaftlichen Interessen der Menschheit« 42 herauszubilden, wird es ein Leben führen können, in dem sich nicht nur Befriedigung, sondern auch Glück einstellt. »Wem jegliche Sympathien fehlen, sei es für private oder öffentliche Dinge, dem sind die Freuden des Lebens stark eingeschränkt« 43 . Den zweiten Grund für ein unzufriedenes Leben erblickt Mill im Mangel an geistiger Bildung, wobei er nicht ausschließlich die akademische Ausbildung vor Augen hat – »ich verstehe darunter nicht einen Philosophen, sondern jeden Menschen, dem die Brunnen der Erkenntnis geöffnet wurden und dem zumindest bis zu einem gewissen Grad beigebracht wurde, seine geistigen Fähigkeiten zu nutzen« 44 . Unter geistiger Bildung versteht Mill demzufolge ein grundlegendes Interesse an den alltäglichen Dingen des Lebens – sei es Literatur, Natur, Geschichte oder Kunst. Bildung ist ein interessiertes Auseinandersetzen mit Kultur und ihrer Geschichte, das zur Veredelung des Charakters führt. Mill sieht keinen Grund, warum nicht jeder Mensch, der in einem zivilisierten Land geboren wird, nicht im gleichen Maße an den kulturellen Errungenschaften des Menschengeschlechts partizipieren sollte. Auch besteht für ihn keine anthropologische Notwendigkeit, nach der jeder Mensch ein selbstsüchtiger Egoist sein muss, »bar jeden Gefühls und jeder Anteilnahme an Dingen, die ihren Gegenstand nicht in seiner eigenen armseligen Person haben« 45 . Das einzige was die Kultivierung des menschlichen Charakters verhindert, sind schlechte Gesetze, ein Mangel an persönlicher Freiheit und gesellschaftliche Institutionen, welche die Ausbreitung des Egoismus begünstigen. Obwohl es die Gesellschaft zur Zeit Mills mit einer ganzen Reihe schädlicher Tendenzen zu tun hat, die allesamt dem Fortschritt der Zivilisation entgegenwirken, kann

41 42 43 44 45

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 458.

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Von der Nützlichkeit und ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit

doch kein Zweifel darüber bestehen, »dass sehr viele der großen Übel dieser Welt eigentlich beseitigt werden könnten und, insofern die menschlichen Verhältnisse sich auch weiterhin entwickeln, schließlich fast vollständig gebannt sein werden« 46 . So kann beispielsweise die Armut, die individuelles Leid impliziert, durch kluge Vorkehrungen der Gesellschaft effektiv bekämpft werden; es besteht kein Grund, sich mit den bestehenden Verhältnissen einfach abzufinden und die Dinge auf sich beruhen zu lassen. Selbst das Risiko für Krankheiten lässt sich durch eine gute körperliche und geistige Erziehung und eine hinreichende Gesundheitsversorgung auf ein Minimum reduzieren. »Kurz, alle großen Ursachen menschlichen Leids lassen sich in erheblichem Umfang, und viele sogar gänzlich, durch menschliche Mühe und Anstrengung bewältigen« 47 , auch wenn der Kampf gegen die Übel dieser Welt eine Sache von Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten ist. Die Unvollkommenheit der Welt berechtigt nicht zur moralischen Aussage, dass der Mensch ohne Glück auskommen muss. Freilich ist es möglich, ein Leben auch ohne Glück zu führen, die Mehrheit der Menschen tut dies, wenn auch unfreiwillig. 48 Auch verzichtet der Held oder Märtyrer auf sein persönliches Glück, weil er sein Leben einer Sache verschrieben hat, die er als höherwertig für sich erkannt hat. Aber was sollte diese Sache anderes sein, fragt Mill, als das Glück anderer Menschen? 49 Wie die Stoiker und Transzendentalphilosophen, so erkennt auch die utilitaristische Ethik die persönliche Selbstaufopferung ohne zu zögern an, gleichwohl weigert sie sich zu akzeptieren, dass die Selbstaufopferung einen Sinn hat, wenn dadurch das Glück der Menschen nicht vermehrt wird. »Ein Opfer, welches die Gesamtsumme des Glücks nicht erhöht oder nicht die Tendenz hat, sie zu erhöhen, betrachtet sie als vergeblich.« 50 Selbstaufopferung um der Selbstaufopferung willen ist ein glückloses Unterfangen für alle Betroffenen, selbst wenn man damit ein Hohelied auf die Tugend singt. »Die einzige Art der Selbstentsagung, welcher die utilitaristische Moral ihren Ebd. Ebd., S. 459. 48 Vgl. ebd., S. 459 f. 49 Vgl. ebd. 50 Ebd., S. 461. Eine überblicksartige Einordung des Utilitarismus im Kontext anderer Moralauffassungen der Philosophiegeschichte findet sich u. a. bei Max Klopfer, EthikKlassiker von Platon bis John Stuart Mill. Ein Lehr- und Studienbuch, Stuttgart 2008, zu Mill siehe insbesondere S. 415 ff. 46 47

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Beifall zollt, ist die Hingebung für das Glück oder für die Mittel zum Glück anderer« 51 . Der Mensch, welcher die tugendhafte Selbstaufopferung zum höchsten Ziel erklärt, obwohl er weiß, dass er damit weder sein eigenes noch das Glück anderer vermehrt, verdient laut Mill nicht mehr Bewunderung als ein Säulenheiliger, denn er ist vielleicht ein gutes Beispiel dafür, was Menschen tun können, aber gewiss nicht dafür, was Menschen tun sollten. 52 Das Ideal der utilitaristischen Ethik erblickt Mill in der Goldenen Regel, die Jesus von Nazareth durch sein Leben gegeben hat: 53 Behandle die Menschen so, wie du selbst von ihnen behandelt werden willst, liebe die Menschen so, wie du selbst von ihnen geliebt werden möchtest. Um diesem Ideal möglichst nahezukommen, sind nach Mill im Wesentlichen zwei Voraussetzungen notwendig. Erstens müssen die gesellschaftlichen Verhältnisse derart eingerichtet sein, dass das Glück oder die Interessen, wie Bentham sagen würde, eines jeden Einzelnen mit den Interessen der Allgemeinheit möglichst in Einklang gebracht werden, was nichts anderes heißt, als dass die Gesetze und die gemeinschaftlichen Einrichtungen nicht den Egoismus, sondern die Kooperation begünstigen sollen. Zweitens müssen die Erziehungsanstalten und die öffentliche Meinung ihre Macht und ihren Einfluss darauf verwenden, »im Geist eines jeden Einzelnen eine unauflösbare Verknüpfung zwischen dem eigenen Glück und dem Wohle der Allgemeinheit zu begründen« 54 , wobei dieses Ziel am besten durch die Anwendung der Gesetze der Assoziationspsychologie umgesetzt werden kann. Auf diese Weise wird der selbstsüchtige Egoismus des Individuums modifiziert, derart, dass es durch soziale Praktiken lernt, dass sein eigenes Glück untrennbar mit dem Glück anderer Menschen verbunden ist. Letztlich sollen jene Maßnahmen das Gefühl sozialer Einheit stärken, welches zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen gehört. Der Maßstab der utilitaristischen Ethik ist nicht das Glück des Einzelnen, sondern das Glück aller Betroffenen. Ut, AW, Band 3.1, S. 461. Vgl. ebd., S. 460. 53 Vgl. ebd., S. 461. Siehe dazu Frank Ahlmann, Nutz und Not des Nächsten. Grundlinien eines christlichen Utilitarismus im Anschluss an Martin Luther, Berlin 2008. Zur argumentativen Vereinbarkeit von Utilitarismus und theologischer Ethik siehe Ekkehard Steinhäuser, Das Problem der Integration utilitaristischer Argumentation in die theologische Ethik, Frankfurt am Main 1997. 54 Ut, AW, Band 3.1, S. 461. 51 52

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Nun wenden die Kritiker des Utilitarismus ein, dass es zu viel ist, vom Individuum zu verlangen, dass es mit jeder seiner Handlungen das allgemeine Wohl befördern soll. 55 Dieses Überforderungsargument läuft für Mill allerdings ins Leere, weil die Gegner der utilitaristischen Ethik offenbar die Bedeutung des moralischen Maßstabs nicht verstehen und die Handlungsregel mit dem Handlungsmotiv verwechseln. Es ist zwar richtig, dass es Sache der Ethik ist, uns unsere Pflichten zu geben und aufzuzeigen, durch welche Methoden wir sie erkennen können, aber keine Morallehre verlangt, dass die Pflicht das einzige Motiv unserer Handlungen sein darf; »ganz im Gegenteil, neunundneunzig Prozent unser Handlungen geschehen aus anderen Motiven, und dies völlig zu Recht, wenn keine Pflichten durch sie verletzt werden« 56 . Um seinen Gedanken zu illustrieren, gibt Mill ein Beispiel: Wer einen Menschen vor dem Ertrinken rettet, tut ohne Zweifel etwas, das moralisch richtig ist, ganz gleich, ob sein Motiv nun die Pflichterfüllung ist oder die Hoffnung auf eine finanzielle Entlohnung. »Die überwiegende Mehrheit guter Handlungen hat nicht das Wohl der Welt zum Zweck, sondern das von Einzelpersonen, aus deren Wohl sich das Wohl der Welt zusammensetzt.« 57 Der Utilitarismus verlangt mitnichten, dass der Mensch bei der Wahl seiner Handlung stets die Interessen der gesamten Menschheit in seine Überlegungen miteinbezieht, die Gedanken müssen in diesem Fall nicht über den Kreis der Betroffenen hinausgehen, sofern man sich vergewissert hat, dass die Handlung nicht die Rechte und Freiheit irgendeines anderen Menschen verletzt. Mill geht davon aus, dass der Einzelne nur äußerst selten die Gelegenheit hat, durch seine Handlungen einen Einfluss auf das Wohl aller Menschen auszuüben; sein Wirkungskreis ist einfach zu klein, als dass er ein Wohltäter der Welt werden kann, weshalb er sich vor allem um die Kultivierung seines eigenen Charakters und das Wohl einiger weniger Menschen kümmern sollte. Im Gegensatz dazu sollten Individuen, deren Handlungen eine gesamtgesellschaftliche Wirkung erzeugen, wie dies beispielsweise bei Politikern der Fall ist, sich darüber bewusst sein, dass sie es mit einer anspruchsvollen Situation zu tun haben, die mit einer hohen Verantwortung für eine Vielzahl von Menschen verbunden ist. An55 56 57

Vgl. ebd., S. 462. Ebd. Ebd., S. 463.

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Verteidigung des Utilitarismus

ders als die Privatperson sind sie vor dem Hintergrund des utilitaristischen Maßstabs gezwungen, deutlich mehr mögliche Handlungsfolgen in ihre Überlegungen einfließen zu lassen. »Der Grad von Rücksicht auf das öffentliche Interesse, welchen diese Einsicht voraussetzt, ist nicht größer, als von jedem Moralsystem verlangt wird.« 58 Jene Ausführungen hängen eng mit einem anderen Vorwurf zusammen, der von den Gegnern des Nützlichkeitsprinzips ebenfalls erhoben wird: Der Utilitarismus ist kalt und gefühllos, weil er die Berechnung des eigenen Vorteils in den Mittelpunkt stellt, ohne jedoch den Charakter, aus welchem die Handlung hervorgeht, moralisch zu beurteilen. 59 Mill antwortet auf diesen Einwand zunächst, indem er auf die Unterscheidung zwischen Handlung und Handelndem aufmerksam macht. Es ist zwar richtig, dass es gute und schlechte Menschen gibt, aber diese Eigenschaften sagen nichts über den moralischen Wert ihrer Handlungen aus. Die Utilitaristen wissen, »dass eine richtige Handlung nicht unbedingt einen tugendhaften Charakter anzeigt und dass Handlungen, die an und für sich tadelnswert sind, oft aus Eigenschaften entspringen, die lobenswert sind« 60 . Gleichzeitig sind sie aber auch der Überzeugung, dass der beste Beweis für einen guten Charakter gute Handlungen sind, während schädliche Handlungen ein Beweis für einen schlechten Charakter sind. Demzufolge wird die zeitliche Stabilität des Handlungsmusters zeigen, welche moralische Qualität der Charakter des Handelnden hat. Was nun den Vorwurf betrifft, dass viele Utilitaristen nach Maßgabe des Nützlichkeitsprinzips ausschließlich die Handlung und nicht den Charakter der Person moralisch beurteilen, so kann Mill diesen Einwand nicht völlig entkräften, weil er ja selbst auf die Unterscheidung zwischen Handlung und Handelndem aufmerksam gemacht hat. Allerdings weist er darauf hin, dass diesen Fehler vor allem diejenigen begehen, die ihren Charakter zu einseitig gebildet haben, d. h. ihr Augenmerk vor allem auf die berechnende Rationalität und nicht auf die Gefühle gelegt haben, mit der Folge, dass bei ihnen das Einfühlungsvermögen und die ästhetische Urteilsfähigkeit nur mangelhaft ausgebildet sind. Obwohl Mill also zwischen der Handlung und 58 59 60

Ebd., S. 464. Vgl. ebd. Ebd., S. 465.

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Von der Nützlichkeit und ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit

dem Handelnden unterscheidet, tritt er im Gegensatz zu den Vertretern des klassischen Utilitarismus für die Herausbildung eines tugendhaften Charakters ein, was vor dem Hintergrund seiner Werttheorie, die zwischen niederen und höheren Arten von Freude unterscheidet, nur konsequent ist. Ein weiteres Argument gegen die utilitaristische Ethik lautet, dass sie gottlos ist, was nichts anderes meint, als dass die Orientierung am Nützlichkeitsprinzip keinen Platz für den Glauben lässt. Diesen Vorwurf empfindet Mill als absurd. Wenn Gott nämlich die Menschen erschaffen hat, damit sie glücklich werden, ist die Nützlichkeitslehre von einer Religiosität durchzogen wie keine andere Ethik. Auf die Andeutung, dass der Utilitarismus den Willen Gottes nicht als höchstes Gesetz anerkennt, antwortet Mill, dass das Nützlichkeitsprinzip mit der göttlichen Offenbarung völlig vereinbar ist, weil das Wort Gottes einer Auslegung bedarf. Ob die Lesart des utilitaristischen Ethikers angemessen ist, kann bezweifelt werden, fest steht aber, dass er sich der Frohen Botschaft »als einer Bezeugung Gottes für die Nützlichkeit oder Schädlichkeit einer bestimmten Handlung mit ebenso gutem Recht bedienen kann, wie andere sie als einen Hinweis auf ein transzendentales Gesetz benutzen, das mit Nützlichkeit und Glück nichts zu tun hat« 61 . Neben dem Einwand der Gottlosigkeit wird dem Utilitarismus oft vorgeworfen, dass er die Zweckmäßigkeit billigt, während er die Prinzipientreue verwirft. Es handelt sich dabei um den weit verbreiteten Vorwurf des Opportunismus. Wenn ein Politiker beispielsweise unbedingt im Amt bleiben will, kann es für ihn zweckdienlich sein, die Interessen seines Landes preiszugeben. 62 Die Kritiker des UtilitaEbd., S. 467. Peter Schröder macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass der Religion bei Mill im Rahmen des moralischen Fundaments der Gesellschaft eine überaus wichtige Stellung zukommt, nicht zuletzt deshalb, weil sie das Nützlichkeitsprinzip in seiner Normativität ergänzt. »Religion muss […] als Komponente und moralische Basis für die Gesellschaft auch bei Mills Utilitarismus mitgedacht werden. Es soll […] gezeigt werden, dass Mills Utilitarismus und sein Verständnis von Staat und Gesellschaft letztlich ohne den Rekurs auf ein über die Vernunft des Menschen hinausgehendes Fundament nicht auskommen kann.« Peter Schröder, »Devoid of Faith, yet terrified of Scepticism. Die Bedeutung der Religion in John Stuart Mills politischer Theorie von Staat und Gesellschaft«, in: Asbach (Hg.), Vom Nutzen des Staates, a. a. O., S. 229–246. 62 Zum politischen Handeln unter Berücksichtigung des Nützlichkeitsprinzips aus Sicht der Sozialpsychologie siehe Franz Lehner, Politisches Verhalten als sozialer Tausch: Eine sozialpsychologische Studie zur utilitaristischen Theorie politischen Ver61

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rismus unterliegen laut Mill allerdings einem begrifflichen Irrtum, wenn sie das Zweckmäßige mit dem Nützlichen gleichsetzen. »Das Zweckdienliche in diesem Sinne ist, statt mit dem Nützlichen identisch zu sein, ein Teil des Schädlichen.« 63 Zwar kann die Lüge den kurzfristigen Zweck haben, uns über die Schwelle der Verlegenheit zu tragen, aber langfristig schadet sie der Kultivierung des Gefühls für die Wahrheit, sie untergräbt nicht nur die Veredelung des individuellen Charakters, sondern schwächt auch das Wachstum der Zivilisation im Allgemeinen. Allerdings lässt Mill im Gegensatz zu Kant, der in seinem Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschliebe zu lügen die These vertritt, dass Lügen prinzipiell zu unterlassen ist, gewisse Ausnahmen zu. 64 So ist es beispielsweise seiner Ansicht nach moralisch zulässig, Informationen zurückzuhalten, wenn dadurch eine Person vor großem Schaden bewahrt werden kann. Obwohl für viele Menschen die kantische Variante auf den ersten Blick wertvoller erscheinen mag, lässt sich schnell zeigen, wie schwierig das Lügenproblem ist. Nehmen wir an, dass während des Zweiten Weltkrieges eine deutsche Familie einige jüdische Kinder bei sich zu Hause versteckt. Es hämmert an der Tür und ein Staatspolizist mit einem Maschinengewehr in der Hand fragt den Vater, nachdem dieser geöffnet hat, ob sich neben den Mitgliedern der Familie noch weitere Personen in der Wohnung befinden. Soll der Vater die Wahrheit sagen, in der Gewissheit, dass die Kinder den Tag nicht überleben werden, oder soll er lügen und damit das Leben der Kinder retten? 65 In einem solchen Fall würde Mill sich auf der Gundlage seines Utilitarismus für die Lüge entscheiden. »Aber damit diese Ausnahme auf das unbedingt Notwendige beschränkt bleibt und das Vertrauen auf die Wahrhaftigkeit so wenig wie möglich geschwächt wird, so sollte sie als Ausnahme akzeptiert und, wenn möglich, ihre Grenzen genau festgelegt werden.« 66 haltes, Frankfurt am Main 1973; auch Manfred Weber, Verbesserung der Menschheit. Untersuchungen zum politischen Denken John Stuart Mills, München 1971. 63 Ut, AW, Band 3.1, S. 467. 64 Vgl. ebd., S. 468. 65 Dieses Gedankenexperiment ist ein häufig angeführtes Beispiel aus der Forschungsliteratur. Vgl. dazu exemplarisch Pazos, Die Moralphilosophie John Stuart Mills – Utilitarismus, a. a. O., S. 114 f. Zur Diskussion dieses moralischen Problems bei Kant siehe Georg Geismann/Hariolf Oberer (Hg.), Kant und das Recht der Lüge, Würzburg 1986. 66 Ut, AW, Band 3.1, S. 468.

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Da mit dem Nützlichkeitsprinzip der Anspruch verbunden ist, mit jeder Handlung das allgemeine Glück zu befördern, wird gegen den Utilitarismus ferner der Vorwurf erhoben, dass in einer Situation, die zum Handeln auffordert, nicht genug Zeit ist, um alle Folgen der Handlung zu ermitteln und gegeneinander abzuwägen. Dieses Argument hat laut Mill allerdings kein Gewicht, weil man ebenso gut sagen könnte, dass es sinnlos ist, sich in seinem Leben von der christlichen Lehre leiten zu lassen, »weil man nicht in jeder Situation, in der man handeln muss, genug Zeit hat, das Alte und das Neue Testament durchzulesen« 67 . Die Antwort auf jenen Vorwurf lautet, dass für die situative Folgenabwägung zwar nicht genug Zeit ist, dies aber auch nicht nötig ist, weil dafür bereits genug Zeit war. Mit anderen Worten: Die Menschheit hat bereits so viel Erfahrung mit den Folgen von Handlungen gemacht, dass es gar nicht notwendig ist, in jeder Situation zu überlegen, ob die Handlung nun das allgemeine Glück befördert oder verhindert. Es macht keinen Sinn anzunehmen, dass jemand, wenn er durch eine Situation zum Handeln aufgefordert wird, erst einmal überlegen muss, ob ein Diebstahl oder ein Mord irgendeinen Menschen schädigen wird. Für viele Situationen steht dem Individuum die Lösung bereits zur Seite, es muss die richtige Handlung nicht erst suchen. Gleichwohl ist der überlieferte Moralkodex keinesfalls gottgegeben und unantastbar, die aus der menschlichen Erfahrung gewonnenen Schlussfolgerungen sind, »wie die Gebote einer jeden praktischen Kunst, unendlicher Verbesserung fähig, und in einem progressiven Zustand des menschlichen Geistes schreitet ihre Verbesserung ununterbrochen fort« 68 . Aus dem Umstand, dass überlieferte Verhaltensregeln grundsätzlich verbesserungswürdig sind, folgt aber nicht, dass sie keinerlei Gültigkeit besitzen. »Gibt man einem Reisenden Auskunft, wo sein Reiseziel zu finden ist, verbietet man ihm damit nicht, sich auf seinem Weg nach Wegweisern und OrientieEbd. Der Utilitarismus stellt die Handlungsfolgen ins Zentrum seiner theoretischen Auseinandersetzung. Bei der moralischen Bewertung einer Handlung kommt es daher vor allem darauf an, ob sie die bestmöglichen Konsequenzen für alle Beteiligten hervorbringt. Damit aber ist das Problem der Handlungsfolgenabschätzung verbunden, die aufgrund der begrenzten Reichweite des menschlichen Erkenntnisvermögens immer unvollständig bleibt. Es ist schlicht unmöglich, alle Konsequenzen des eigenen Handelns in jeder Situation zu überblicken. Zu diesem Problem siehe ausführlich Julian Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, München 1995. 68 Ut, AW, Band 3.1, S. 469. 67

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rungspunkten zu richten.« 69 Damit möchte Mill sagen, dass das Vorhandensein eines ersten Prinzips nicht die Anwendung sekundärer Prinzipien, welche aus der Erfahrung gewonnen werden können, ausschließt. Im Gegenteil: »Was wir auch immer als das erste Prinzip der Moral annehmen, so bedürfen wir noch untergeordneter Prinzipien, um es umzusetzen.« 70 Obwohl das Ziel des Reisenden feststeht, darf er dennoch wählen, welchen Weg er gehen möchte; und auch wir dürfen ihm raten, in die eine und nicht in die andere Richtung zu gehen. »Es ist nicht einzusehen, warum die Akzeptanz eines ersten Grundsatzes sekundäre Prinzipien ausschließen soll.« 71 Nun gibt es aber Menschen, die im Verstoß gegen das Nützlichkeitsprinzip einen höheren Nutzen erblicken als in dessen Befolgung. Auf diesen Einwand entgegnet Mill, dass dies kein spezifisches Problem des Utilitarismus ist, weil schließlich jede Morallehre die Gelegenheit bietet, das eigene Gewissen zu belügen. Aufgrund der komplizierten Natur des Menschen werden sich wohl niemals Verhaltensregeln formulieren lassen, die vollkommen eindeutig sind und ohne Ausnahmen auskommen werden. »Es gibt keine ethische Lehre, welche nicht die Strenge ihrer eigenen Gesetze mildert, indem sie einen gewissen Spielraum zur Anpassung an die Besonderheiten der Umstände gewährt, und dies unter die moralische Verantwortlichkeit des Handelnden stellt.« 72 Das Problem der Pflichtkollision löst die utilitaristische Ethik nicht dadurch, dass sie das Nützlichkeitsprinzip als ersten Grundsatz aufgibt. Im Gegenteil: Für den Fall, dass es zu einer Kollision zwischen Rechten und Pflichten kommt, hat der Utilitarist einen Maßstab zur Hand, der zwischen ihnen entscheiden kann. Wenn alle Rechte und Pflichten sich aus dem Nützlichkeitsprinzip ableiten, dann muss die Nützlichkeit auch ihr oberster Richter sein. Sekundäre Prinzipien gehören also genauso zum Utilitarismus wie ein erster und letzter Grundsatz. »Es gibt keinen Fall von moralischen Pflichten, bei dem kein sekundäres Prinzip involviert ist, und falls es nur eines ist, so kann im Geiste der Person, die das Prinzip anerkannt hat, selten wirklicher Zweifel herrschen, welches es ist.« 73

69 70 71 72 73

Ebd. Ebd., S. 470. Ebd., S. 469. Ebd., S. 471. Ebd.

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Von der Nützlichkeit und ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit

3.

Über die letzte Sanktion des Nützlichkeitsprinzips

Wie bei jedem Maßstab der Moral, so lässt sich auch bei dem Grundsatz des größten Glücks danach fragen, aus welchen Gründen er eigentlich befolgt werden sollte und worin seine Sanktion besteht. Eine Antwort auf diese Fragestellung ist allein schon deshalb zu liefern, weil dem Individuum seine anerzogenen Moralvorstellungen im Allgemeinen viel näher und verbindlicher erscheinen als der abstrakt anmutende Hinweis darauf, dass jene Meinungen letztlich nichts anderes sind als Ableitungsprodukte eines ersten Grundsatzes. Die Akzeptanz des utilitaristischen Maßstabs ist keine Selbstverständlichkeit. Das Individuum wird sich sagen: »Ich fühle, dass ich nicht stehlen oder töten, betrügen oder täuschen darf; aber warum sollte ich das allgemeine Glück befördern müssen? Wenn mein eigenes Glück in etwas anderem liegt, warum darf ich dem nicht den Vorzug geben?« 74 Da die utilitaristische Moraltheorie davon ausgeht, dass der Mensch von Natur aus ein moralisches Gefühl besitzt, wird das Problem der Akzeptanz des Nützlichkeitsprinzips laut Mill so lange weiter bestehen, bis durch eine bessere Erziehung das »Gefühl der Einheit mit unseren Mitgeschöpfen« 75 zum festen Bestandteil unseres Bewusstseins geworden ist, so dass die Beförderung von Glück uns genauso selbstverständlich erscheint wie die natürliche Abscheu vor einem Verbrechen. Das Problem besteht demzufolge nicht darin, dass dem Menschen das Nützlichkeitsprinzip fremd ist, derart, als müsse es erst von außen an ihn herangetragen werden; die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, dass sowohl die öffentlichen Erziehungsanstalten als auch die gesellschaftlichen Institutionen gegenwärtig so eingerichtet sind, dass sie das in der menschlichen Natur immanente Gefühl sozialer Einheit nicht kultivieren. Abgesehen davon ist die Frage, warum die oberste Norm einer Moral verpflichtend sein sollte, kein spezifisches Problem des Utilitarismus; vor dieser Herausforderung stehen alle Ethiken, sofern sie der Auffassung sind, dass Handlungen sich vor einem ersten und letzten Grundsatz verantworten müssen. Was die Frage nach den Sanktionen des Nützlichkeitsprinzips betrifft, weist Mill darauf hin, dass der Utilitarismus grundsätzlich über all die Sanktionen verfügt, über die auch jede andere Morallehre 74 75

Ebd., S. 472. Ebd.

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Über die letzte Sanktion des Nützlichkeitsprinzips

verfügt, wobei er zwischen äußeren und inneren Sanktionen unterscheidet. 76 Unter äußeren Sanktionen versteht er beispielsweise die Hoffnung auf Anerkennung oder die Angst vor dem Missfallen unserer Mitmenschen, also Belohnungen oder Bestrafungen, die von anderen Personen ausgehen und von außen an uns herangetragen werden. Im Gegensatz dazu steht die innere Sanktion der Pflicht, sie tritt nicht von außen an uns heran, sondern zeigt sich unabhängig von ihrer Begründung als ein unangenehmes Gefühl. »Dieses Gefühl macht, wenn es uneigennützig ist und sich auf die reine Idee der Pflicht bezieht und nicht auf eine spezielle Pflicht oder die Begleitumstände, das Wesen des Gewissens aus«. 77 Da für Mill die letzte Sanktion jeglicher Moralität in einem subjektiven Gefühl der Pflicht liegt, kann im Hinblick auf die Frage, was die fundamentale Sanktion des Nützlichkeitsprinzips ist, keinerlei Zweifel mehr bestehen: Es ist die Gewissenhaftigkeit des Menschen. Dass eine solche Auffassung keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt sich vor allem daran, dass Mill sich in diesem Zusammenhang mit der weit verbreiteten Annahme auseinandersetzt, nach welcher derjenige, der moralische Pflichten als transzendente Tatsachen betrachtet, viel eher dazu bereit ist, ihnen zu folgen, als derjenige, der moralische Pflichten im subjektiven Bewusstsein verortet. 78 In Fragen der Moralität hat der ewige Gott oder das Reich der Dinge an sich offenbar die größere Autorität, das subjektive Gefühl der Pflicht ist sekundär. Gegen diese Annahme wendet Mill ein, dass es letztlich gleichgültig ist, welcher ontologischen Auffassung der Mensch sich verpflichtet fühlt, weil »die Kraft, die ihn wirklich drängt, sein eigenes subjektives Gefühl« 79 ist. »Die Sanktion, insofern sie uneigennützig ist, existiert immer im Geist selbst« 80 . Obwohl Mill beide Arten von Sanktionen berücksichtigt, lässt sich dennoch festhalten, dass er den inneren Sanktionen einen deutlich höheren Stellenwert einräumt als den äußeren. Was die Lösung des Problems angeht, woher die moralischen Gefühle stammen, wählt Mill einen Mittelweg. Er vertritt die Auffassung, dass das Pflichtgefühl nicht angeboren, sondern erworben, aber deswegen nicht weniger natürlich ist. Zwar sind die

76 77 78 79 80

Vgl. ebd., S. 473. Ebd., S. 474. Vgl. ebd., S. 475 f. Ebd., S. 475. Ebd.

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Von der Nützlichkeit und ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit

moralischen Gefühle nicht vollständig ein Teil der menschlichen Natur, aber sie gehören zu uns wie die Fähigkeit zu sprechen oder zu denken. Die moralische Fähigkeit ist, »wenn nicht ein Bestandteil unserer Natur, so doch ein natürlicher Spross derselben« 81 . Allerdings muss die moralische Fähigkeit im Menschen auf fruchtbaren Boden fallen, weil sie ansonsten nicht gedeihen kann. Zwar ist es möglich, durch die Gesetzmäßigkeiten der Assoziationspsychologie auch eine künstliche Verknüpfung zwischen den Gefühlen der Pflicht und dem Prinzip der Nützlichkeit zu erzeugen, aber diese synthetische Verbindung hat nur wenig Bindekraft und kann durch den Intellekt leicht wieder aufgelöst werden – »kurz, wenn es in uns nicht eine natürliche Gefühlsgrundlage für die utilitaristische Moral gäbe, so könnte es wohl geschehen, dass auch diese Assoziation, selbst nachdem sie durch die Erziehung eingepflanzt worden wäre, hinweganalysiert würde« 82 . Laut Mill gibt es diese natürliche Gefühlsgrundlage aber, sie besteht in den sozialen Gefühlen der Menschen, welche die eigentliche Stärke des Utilitarismus ausmachen. »Soziales Zusammenleben ist dem Menschen […] so natürlich, so notwendig und so vertraut, dass er sich […] nie anders denkt denn als Bestandteil eines Körpers; und diese Assoziation verfestigt sich immer stärker, je weiter sich die Menschen vom Zustand wilder Selbständigkeit entfernen« 83 . Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Mill weit davon entfernt ist, den Menschen als soziales Atom zu verstehen, das einzig und allein seinen egoistischen Nutzenkalkülen folgt und auf die Interessen anderer Menschen keinerlei Rücksicht nimmt. Der Mensch ist naturgemäß ein Teil eines gesellschaftlichen Körpers, und die gesellschaftliche Ordnung muss so eingerichtet werden, dass diese natürliche Anlage im Sinne des zivilisatorischen Fortschritts verwirklicht wird. Eine weitere Annahme, die eng mit dem Gedanken der Kultivierung sozialer Gefühle verknüpft ist, lautet, dass in einer Gesellschaft, wenn sie als zivilisiert gelten möchte, die Interessen aller berücksichtigt werden müssen. »Und da bei jedem Stand der Zivilisation jeder (ausgenommen einem absoluten Monarchen) einen Gleichen hat, gibt es für jeden Menschen andere Menschen, mit denen er auf dieser Basis zusammenleben muss« 84 . 81 82 83 84

Ebd., S. 476. Ebd., S. 477. Ebd. Ebd., S. 478.

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Über die letzte Sanktion des Nützlichkeitsprinzips

Mill geht davon aus, dass bei einer gesunden Entwicklung der Gesellschaft in jedem Zeitalter Fortschritte im Hinblick auf das menschliche Zusammenleben gemacht werden, indem der Einzelne zunehmend lernt, seine Interessen mit denen anderer Menschen zu identifizieren. 85 »Gleichsam instinktiv gelangt er dazu, sich selbst als ein Wesen zu begreifen, das selbstverständlich auf andere Rücksicht nimmt.« 86 Je weiter der zivilisatorische Fortschritt vorangeschritten ist, desto mehr wird der Mensch sich in seinem Handeln an gemeinsam geteilten Werten und Normen orientieren, weil die Aufmerksamkeit für die Interessen anderer zu einem natürlichen Bestandteil seines Bewusstseins geworden ist. Dem Wachstum der Gesellschaft korrespondiert ein Gefühl sozialer Einheit, »ein Gefühl, das in seiner höchsten Vollkommenheit den Einzelnen nie einen für sich selbst förderlichen Zustand ins Auge fassen oder wünschen ließe, wenn er nicht auch für die anderen von Vorteil ist« 87 . Mill geht in seiner Vorstellung eines harmonischen Zusammenlebens bis zum Äußersten, wenn er vorschlägt, dass jenes Gemeinschaftsgefühl unter den Menschen wie eine Religion gelehrt werden sollte, damit jeder von Kindheit an durch Erziehung und die Schule der Kooperation lernt, seine eigenen Interessen mit denen anderer in Einklang zu bringen. 88 Gleichwohl ist ihm vollkommen klar, dass die tatsächlichen Verhältnisse der gegenwärtigen Sozialordnung weit von diesem Idealzustand entfernt sind; andererseits ist es in seinen Augen aber auch nicht notwendig abzuwarten, bis jene Umstände in der Zukunft verwirklicht sind; denn auch im Zustand gesellschaftlicher Konkurrenz ist das Gefühl sozialer Einheit dem Menschen nicht fremd; »bereits einer Person, in der das soziale Gefühl auch nur ansatzweise entwickelt ist, ist es unmöglich, ihre Mitmenschen als Rivalen im Kampf um die Mittel zum Glück zu verstehen« 89 . Mill ist davon überzeugt, dass in der Gesellschaft ein zivilisationsbedingtes Selbstverständnis vorherrscht, nach dem sich bereits heute jeder Mensch als geselliges Wesen versteht. Zwar gibt es zwischen den Individuen Meinungsverschiedenheiten und Unstimmigkeiten, aber in

85 86 87 88 89

Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 479. Vgl. ebd., S. 479 f. Ebd., S. 480.

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ihrem Inneren gibt es dennoch ein natürliches Bedürfnis, mit anderen in Einklang und Harmonie zusammenzuleben. Der Mensch möchte auch in Zeiten des sozialen Konflikts am Selbstverständnis festhalten, dass das eigentliche Ziel des Gegenübers dem eigenen Vorhaben nicht unüberwindlich widerspricht. Das soziale Gefühl, wie Mill es versteht, ist grundsätzlich am Wohl des anderen interessiert, ohne dabei das eigene Glück aus den Augen zu verlieren. Das Gefühl sozialer Einheit ist ein lebensdienliches Integral, es verbindet die selbstsüchtigen Interessen des Individuums mit den allgemeinen Kräften des Kollektivs zum Wohle aller. Das soziale Gefühl stellt sich für den Menschen nicht als etwas Fremdes dar, es erscheint ihm nicht als anerzogener Aberglaube oder als despotisch auferlegtes Gesetz, er erlebt es vielmehr als eine Eigenschaft, auf die er nicht verzichten möchte. 90 »Und diese Überzeugung ist die fundamentalste Sanktion der Moralität des größten Glücks; […] bestätigt durch das, was ich die äußeren Sanktionen genannt habe« 91 .

4.

Über den Beweis des Nützlichkeitsprinzips

Es ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass das vierte Kapitel des Utilitarismus, in dem Mill den Versuch unternimmt, einen Beweis für das Nützlichkeitsprinzip zu führen, mit Abstand der schwächste Teil der Schrift ist. Auch Mill ist von seinem Vorhaben nicht gänzlich überzeugt, wenn er zu Beginn festhält, dass die Führung eines Beweises im vorliegenden Fall unmöglich ist: »Es ist bereits bemerkt worden, dass es bei Fragen nach letzten Zielen einen Beweis im gewöhnlichen Sinne des Wortes nicht geben kann.« 92 Hier Vgl. ebd. Ebd. 92 Ebd., S. 482. Jean-Claude Wolf macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, »daß die Annahme oder die Ablehnung des Nützlichkeitsprinzips nicht Sache des blinden Impulses oder bloßer Dezision sei, sondern, wie andere umstrittene Fragen der Philosophie, vor dem Forum der Vernunft entschieden werden müsse. Auch eine bloße Intuition wäre nicht hinreichend. Mill versucht – modern gesprochen – die Alternative ›Dezisionismus oder (starke) Letztbegründung‹ zu vermeiden; offensichtlich strebt er so etwas wie eine ›schwache Letztbegründung‹ an. Daß in dieser Begründung dann beobachtbare Fakten eine prominente Rolle spielen werden, ist irritierend, schließt doch Mill auch die Induktion als geeignetes ›Beweis‹-verfahren für Endzwecke aus. Das Unbehagen gegenüber diesem Zug von Mills ›Beweis‹ hat John Grote, einer der ersten Kommentatoren von Mills Utilitarismus, folgendermaßen festge90 91

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Über den Beweis des Nützlichkeitsprinzips

wird die These vertreten, dass die Gründe, warum Mill sich dennoch für die Führung eines Beweises entschieden hat, weniger im Utilitarismus als vielmehr in seiner Schrift Zur Logik der Moralwissenschaften zu finden sind. Denn wie bereits gezeigt worden ist, konstatiert er in dieser Abhandlung, dass die Geisteswissenschaften sich gegenüber den Naturwissenschaften in einem Zustand der Rückständigkeit befinden und dass dieser Zustand aufgehoben werden kann, indem das methodische Rüstzeug der Naturwissenschaften auf die Geisteswissenschaften übertragen wird. Nimmt man dieses Vorhaben ernst, dann ist es nur folgerichtig, zumindest den Versuch zu unternehmen, einen Beweis nach dem Vorbild der Naturwissenschaften zu führen. Obwohl Mill das Kapitel mit der Frage überschreibt, welche Art von Beweis es für das Nützlichkeitsprinzip geben kann, und damit einräumt, dass eine direkte Übertragung der naturwissenschaftlichen Beweismethode auf das Gebiet der Geisteswissenschaften unmöglich ist, verweist er mit dem Begriff des Beweises dennoch eindeutig auf das Gebiet jener Wissenschaften. Dass dieses Experiment in seiner Umsetzung äußerst fragwürdig und in seinem Ergebnis wenig überzeugend ist, steht außer Frage, gleichwohl handelt er vor dem Hintergrund seiner wissenschaftstheoretischen Ausführungen konsequent. Abgesehen davon wurde weiter oben bereits darauf hingewiesen, dass Mill Bentham dafür kritisiert, keinen Beweis für das Nützlichkeitsprinzip geliefert zu haben, so dass dies die Nachwelt übernehmen musste. In diesem Sinne kann der Beweis als eine Art Nachlieferung verstanden werden, als eine Arbeit also, die eigentlich von Bentham zu leisten gewesen wäre. Doch wie sieht Mills Beweis des Nützlichkeitsprinzips aus, wenn er doch selbst darauf aufmerksam gemacht hat, dass eine Beweisführung im gewöhnlichen Sinne des Wortes nicht möglich ist? Zunächst konstatiert er, dass Fragen, die Ziele betreffen, Fragen nach Dingen sind, die es wert sind, gewünscht zu werden. Die Auffassung des Utilitarismus besagt, »dass Glück wünschenswert und das Einzige ist, was als Zweck wünschenswert ist; alle anderen Dinge hingegen nur als Mittel zu diesem Zweck wünschenswert sind« 93 . Die Schwierighalten: »Es ist ein Versuch, auf Erfahrung zu begründen, was nicht aus Erfahrung bewiesen werden kann.« Jean-Claude Wolf, John Stuart Mills ›Utilitarismus‹. Ein kritischer Kommentar, Freiburg 2012, S. 133 f. 93 Ut, AW, Band 3.1, S. 482.

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keit besteht nun darin zu zeigen, dass Glück etwas ist, das wünschenswert ist. Mill löst dieses Problem, indem er zunächst behauptet, dass der einzige Beweis für ein Geräusch der ist, dass Menschen es hören. Daraus zieht er die Schlussfolgerung, dass der einzige Beweis, der dafür angeführt werden kann, dass etwas wert ist, gewünscht zu werden, der ist, dass Menschen es tatsächlich wünschen: »Kein Grund kann gegeben werden, warum das allgemeine Glück wert ist, gewünscht zu werden, bis auf den, dass jede Person sich ihr eigenes Glück wünscht, insofern sie es als erreichbar ansieht.« 94 Das Glück ist also ein Gut, das es wert ist, gewünscht zu werden, weil es tatsächlich gewünscht wird. Dies ist laut Mill eine Tatsache: »Das Glück hat seinen Anspruch bestätigt, eines der Handlungsziele zu sein und folglich eines der Kriterien der Moral.« 95 Doch damit ist noch nicht bewiesen, dass Glück wirklich das einzige Kriterium der Moral ist. Und gerade die Kritiker des Nützlichkeitsprinzips werden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass es neben dem Glück noch eine Reihe weiterer Handlungsziele gibt, welche für sich genommen ebenfalls einen Wert für die Menschen haben. »Sie wünschen sich zum Beispiel Tugend und das Freisein von Lastern wirklich nicht weniger stark als Freude und das Freisein von Leid.« 96 Aber wie sind diese Dinge mit dem Glück vereinbar, welchen Platz haben sie in der utilitaristischen Ethik? Eine erste Antwort auf diese Frage liefert Mill, indem er nicht bestreitet, dass Menschen sich neben dem Glück auch andere Dinge wünschen und dass diese Dinge wünschenswert sind; ferner weist er darauf hin, dass beispielsweise die Tugend oder ein musikalisches Vergnügen nicht nur als Mittel, sondern auch um ihrer selbst willen wünschenswert sind. »Sie werden gewünscht und sind wünschenswert an und für sich selbst; sie sind nicht nur Mittel, sondern auch Teile des Zwecks.« 97 Mill verdeutlicht diesen Gedanken am Beispiel der Tugendliebe. Am Anfang wird die Tugend vom Menschen als Mittel benutzt, weil sie der Freude förderlich und dem Schmerz abträglich ist. Sie steht also im Dienst eines höheren Ziels. Aber durch die Gewöhnung entsteht allmählich eine Assoziation, welche bewirkt, dass die Tugend nicht mehr als Mittel, sondern als Zweck betrachtet wird. Das Ergeb94 95 96 97

Ebd. Ebd., S. 483. Ebd. Ebd., S. 484.

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Über den Beweis des Nützlichkeitsprinzips

nis ist, dass die Tugend nun um ihrer selbst willen gewünscht wird. »In diesen Fällen sind die Mittel ein Teil des Zwecks geworden, und zwar ein bedeutenderer Teil als irgendeines der Dinge, zu denen sie eigentlich Mittel sind.« 98 Das Gleiche lässt sich auch bei vielen anderen Dingen wie beispielsweise Geld oder Macht beobachten. Allerdings eignen sich diese Dinge für die utilitaristische Konzeption nur begrenzt, weil sie im Gegensatz zur Tugendliebe den Menschen schaden können. Daher werden sie vom Utilitarismus zwar gebilligt, aber nur bis zu dem Punkt, an dem sie das allgemeine Wohl nicht verringern. Die Verfolgung von privaten Interessen, sofern es sich nicht um die Beförderung von Glück handelt, findet genau dort ihre Grenze, wo andere Menschen geschädigt werden. Mit diesen Ausführungen hat Mill gezeigt, dass der Mensch sich in Wahrheit nichts anderes wünscht als Glück – sei es als Mittel zum Glück oder als Bestandteil des Glücks. Auch hat er eine Antwort auf die Frage geliefert, welche Art von Beweis für das Nützlichkeitsprinzip geführt werden kann. »Wenn die Auffassung, die ich dargelegt habe, psychologisch wahr ist, […] dann kann es keinen anderen Beweis dafür gegeben, und wir benötigen auch keinen anderen, dass dies die einzigen wünschenswerten Dinge sind« 99 . Damit ist Glück das Ziel aller menschlichen Handlungen und die Beförderung von Glück der alleinige Maßstab, nach dem die Handlungen zu beurteilen sind. Um aber zu beweisen, dass diese psychologische Tatsache wirklich wahr ist, ist es laut Mill notwendig, zusätzlich die Erfahrung zu befragen. Nur über den Weg der Selbstwahrnehmung und der Beobachtung anderer Menschen wird sich letztendlich zeigen lassen, ob die Erkenntnis, die aussagt, »dass etwas für wünschenswert zu halten […] und es für vergnüglich zu halten ein und dieselbe Sache ist und dass etwas anderes zu wünschen als in dem Verhältnis, wie die Vorstellung von ihm vergnüglich ist, eine physische und metaphysische Unmöglichkeit ist« 100 , wirklich stimmt. Diese Haltung entspricht Mills Überzeugung, unterschiedliche Methoden miteinander zu kombinieren, um den Erkenntnisgewinn zu erhöhen. Mit seinem Beweis hat Mill gezeigt, dass der Mensch sich in seinem Leben nichts anderes wünscht als Glück, er wünscht sich Dinge entweder als Mittel zum Glück oder als Bestandteil des Glücks. Die Ebd., S. 485. Ebd., S. 486. 100 Ebd., S. 487. 98 99

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Kritiker des utilitaristischen Standards wenden nun allerdings ein, dass der Mensch sich als letztes Ziel auch etwas völlig anderes wünschen kann als Freude oder das Freisein von Leid. Sie machen damit auf den grundsätzlichen Unterschied zwischen Wünschen und Wollen aufmerksam. Der Wille ist im Gegensatz zum Wunsch etwas Aktives, er hat sowohl die Macht, das Handeln des Menschen zu lenken, als auch das Vermögen, Wünsche und Begehrlichkeiten zu beherrschen. Sein Einfluss kann so weit gehen, dass der Wille sich von dem Wunsch, aus dem er ursprünglich hervorgegangen ist, frei macht, mit der Folge, dass ein Ziel auch dann noch weiterverfolgt wird, wenn es bereits gar keine Freude mehr einbringt. Der Wille kann sich verselbstständigen, »und zwar in einem so hohen Grade, dass wir bei habituellen Zielen nicht mehr etwas wollen, weil wir es wünschen, sondern es nur noch darum wünschen, weil wir es wollen« 101 . Die Macht der Gewohnheit ist eine nicht zu unterschätzende Größe, wenn es um die Bildung des Charakters und die Handlungsweisen der Menschen geht; »die Tatsache besteht allein darin, dass der Wille […] der Gewohnheit unterworfen ist und dass wir manchmal aus Gewohnheit etwas wollen, das wir nicht mehr um seiner selbst willen wünschen oder nur deshalb wünschen, weil wir es wollen« 102 . Abschließend stellt Mill sich noch die Frage, wie eine Person, dessen Wille noch nicht hinreichend gefestigt ist, zur Tugendhaftigkeit gebracht werden kann. Die Antwort auf diese Frage ist ebenso einfach wie konsequent: indem man die Person dazu bringt, sich Tugend zu wünschen. Laut Mill gelingt dies am besten, indem man die Gesetze der Assoziationspsychologie zur Anwendung bringt, d. h., richtige Handlungen mit Freude und falsche Handlungen mit Leid verknüpft. Und wenn es gelingt, die Person auf diese Art und Weise dazu zu bringen, sich Tugendhaftigkeit zu wünschen, dann wird sie diese bald nicht nur wünschen, sondern auch wollen, denn »[d]er Wille ist das Kind des Wunsches, und er wird aus der elterlichen Gewalt nur entlassen, um unter die Herrschaft der Gewohnheit zu treten« 103 .

101 102 103

Ebd. Ebd., S. 488. Ebd.

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Zum Verhältnis von Nützlichkeit und Gerechtigkeit

5.

Zum Verhältnis von Nützlichkeit und Gerechtigkeit

Im fünften und letzten Kapitel seiner Abhandlung reagiert Mill auf den wohl schwersten Einwand, der gegen den Utilitarismus erhoben wird: Die utilitaristische Lehre ist vollkommen indifferent gegenüber jeder Art von Gerechtigkeitsüberlegung. Die Gegner des Utilitarismus bringen das Argument der Ungerechtigkeit mit einer solchen instinkthaften Sicherheit hervor, dass sich einem der Gedanke aufdrängt, dass »das ›Gerechte‹ eine Existenz in der ›Natur‹ als etwas Absolutes haben müsse – der Gattung nach von jeder Art des ›Nützlichen‹ unterschieden und ihm konzeptionell entgegensetzt« 104 . Die Kritiker des Nützlichkeitsprinzips teilen offenbar die Annahme, dass das Gerechtigkeitsempfinden des Menschen eine natürliche Tatsache ist, die sich als moralisches Gefühl äußert. Gegen diese Sichtweise führt Mill zunächst das Argument an, dass aus dem Umstand, dass die Natur dem Individuum ein Gefühl der Gerechtigkeit gegeben hat, nicht notwendig folgt, dass damit auch alle seine Impulse gerechtfertigt sind. »Die Menschen neigen stets dazu zu glauben, dass jedes subjektive Gefühl, das nicht anders erklärt werden kann, die Offenbarung irgendeiner objektiven Wirklichkeit sei.« 105 Mit dieser Auffassung gibt Mill sich allerdings nicht zufrieden, er bezweifelt, dass das moralische Gefühl der Gerechtigkeit eine metaphysische Absolutheit besitzt. »Für die Zwecke dieser Untersuchung ist es praktisch wichtig zu betrachten, ob das Gefühl selbst, das der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, ein Ding sui generis ist, wie unsere Farbeindrücke und Geschmackseindrücke oder ein abgeleitetes Gefühl durch eine Kombination anderer gebildet wird.« 106 Eine solche Forschungsarbeit ist allein schon deshalb von Bedeutung, weil die Menschen trotz ihres Glaubens an die objektive Natur des moralischen Gefühls ohne zu zögern zugeben, dass die Forderungen der Gerechtigkeit in der Regel mit einem Teil der Nützlichkeit übereinstimmen. Dass die Menschen aber Schwierigkeiten damit haben, die Gerechtigkeit als Teil der Nützlichkeit zu betrachten, liegt vor allem

104 Ebd., S. 490. Vgl. Otfried Höffe, »Schwierigkeiten des Utilitarismus mit der Gerechtigkeit. Zum 5. Kapitel von Mills ›Utilitarismus‹«, in: Gähde/Schrader (Hg.), Der klassische Utilitarismus, a. a. O., S. 292–317. 105 Ut, AW, Band 3.1, S. 491. 106 Ebd.

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daran, dass ihr subjektives Gefühl sich in der Regel von dem unterscheidet, was im Allgemeinen unter Nützlichkeit verstanden wird. Auch erscheint das natürliche Gefühl der Gerechtigkeit hinsichtlich seiner moralischen Forderungen wesentlich verbindlicher zu sein als das Prinzip der Nützlichkeit. Wenn Mill aber dennoch zeigen will, dass die Gerechtigkeit eine ursprüngliche Beziehung zur Nützlichkeit unterhält, muss er zunächst den Begriff der Gerechtigkeit erklären, wobei die Frage, ob es eine Eigenschaft oder eine Reihe von Eigenschaften gibt, »die allen Arten des ungerechten Verhaltens gemeinsam ist« 107 , von zentraler Bedeutung ist; »denn Gerechtigkeit wird wie viele andere Attribute am besten durch ihr Gegenteil definiert« 108 . Zu diesem Zweck richtet Mill seinen Blick im Folgenden auf die verschiedenen Arten des Verhaltens und die menschlichen Institutionen, die von der Mehrheit der Individuen als gerecht bzw. ungerecht bezeichnet werden. 109 Zum einen ist die Mehrheit der Menschen sich darin einig, dass es ungerecht ist, »jemanden seiner Freiheit, seines Eigentums oder irgendeiner anderen Sache zu berauben, die ihm Kraft des Gesetzes zusteht« 110 . Laut Mill ist dieses Bespiel eindeutig, weil aus ihm klar hervorgeht, dass es ungerecht ist, die juristischen Rechte einer Person zu verletzen, während es gerecht ist, die juristischen Rechte derselben zu achten. Dieses Urteil beruht allerdings auf der Voraussetzung, dass die Gesetze, aus denen sich die Rechte der Person ableiten, gute Gesetze sind. Gleichwohl ist es möglich, dass das Gesetz, auf welches die Person sich bei der Anwendung ihrer Rechte bezieht, ein schlechtes Gesetz ist. Wenn dies aber der Fall ist, so Mill, sind die Meinungen darüber, ob es gerecht oder ungerecht ist, dieses Gesetz zu brechen, recht unterschiedlich. Während die einen argumentieren, dass ein Bürger gegen kein Gesetz verstoßen darf, ganz gleich wie schlecht es ist, vertreten die anderen die Auffassung, dass jedem Gesetz, das als ungerecht oder unzweckmäßig angesehen wird, der Gehorsam schuldlos verweigert werden kann. Eine dritte Meinung schließlich besagt, dass Ungehorsam nur gegen ungerechte, nicht aber gegen unzweckmäßige Gesetze erlaubt ist. Auch wenn man über den richtigen Umgang mit fraglichen Ge107 108 109 110

Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 492. Ebd.

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Zum Verhältnis von Nützlichkeit und Gerechtigkeit

setzen unterschiedlicher Auffassung sein kann, so kann doch grundsätzlich kein Zweifel darüber bestehen, dass es neben guten auch schlechte Gesetze geben kann. »Wenn nun aber ein Gesetz als ungerecht angesehen wird, so scheint es immer nur aus demselben Grund so angesehen zu werden, aus dem auch ein Bruch des Gesetzes ungerecht ist, nämlich weil es das Recht von jemandem verletzt« 111 . Dieses Recht bezeichnet Mill allerdings nicht als juristisches, sondern als moralisches Recht. Solche Rechte sind gültige Ansprüche darauf, dass einer Person etwas, was sie haben oder ausüben kann, von der Gesellschaft garantiert wird, wie beispielsweise die Ausübung der Redeund Meinungsfreiheit. 112 Ein zweiter Fall von Ungerechtigkeit besteht demzufolge darin, einer Person etwas vorzuenthalten, worauf sie ein moralisches Recht hat. Auch besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass es gerecht ist, wenn eine Person das erhält, was sie verdient, während es ungerecht ist, wenn eine Person das erhält, was sie nicht verdient. Da Mill hier den Ausdruck Gerechtigkeit mit dem Begriff des Verdienstes in Beziehung bringt, muss er zugleich eine Antwort auf die Frage geben, wann jemand etwas verdient und wann nicht. Zunächst lässt sich festhalten, dass eine Person im Allgemeinen Gutes verdient, wenn sie das Richtige tut oder getan hat und Schlechtes verdient, wenn sie Unrecht tut oder getan hat. In einem anderen Sinn lässt sich aber auch sagen, dass sie Gutes von denen verdient, denen sie Gutes tut oder getan hat und Schlechtes von denen verdient, denen sie Schlechtes tut oder getan hat. 113 Es ist evident, dass es sich hierbei um eine Neuformulierung der mosaischen Formel Auge um Auge, Zahn um Zahn handelt. »Das Gebot, Böses mit Gutem zu vergelten, ist nie als gerecht angesehen worden, sondern als ein Fall, in dem die Ansprüche der Gerechtigkeit aus wichtigeren Gründen erlassen wurden.« 114 Ferner führt Mill die aus seiner Sicht bestehende Tatsache an, dass es ungerecht ist, den Grundsatz von Treue und Glauben zu verletzen. Damit ist gemeint, dass es im Allgemeinen als ungerecht angesehen wird, sowohl einer Verpflichtung, die man eingegangen ist, nicht nachzukommen als auch Erwartungen zu enttäuschen, die man

Ebd., S. 493. Vgl. Jean-Claude Wolf, John Stuart Mills ›Utilitarismus‹. Ein kritischer Kommentar, a. a. O., S. 174 f. 113 Vgl. Ut, AW, Band 3.1, S. 494. 114 Ebd. 111 112

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durch sein Verhalten willentlich geweckt hat. Wie alle anderen Pflichten der Gerechtigkeit ist auch dieses Prinzip nicht als absolut anzusehen. So kann es beispielsweise sein, dass jemand durch sein Verhalten den Anspruch auf die Einhaltung des Grundsatzes verwirkt oder dass eine stärkere Pflicht der Gerechtigkeit jene Verbindlichkeit aufhebt. Ein weiterer Bestandteil der Gerechtigkeit ist das Gebot der Unparteilichkeit. Dabei handelt es sich um ein Prinzip, das besagt, dass es als ungerecht angesehen wird, »eine Person einer anderen gegenüber in Dingen zu begünstigen oder vorzuziehen, in denen es unangebracht ist, jemanden zu begünstigen oder vorzuziehen« 115 . In diesem Zusammenhang macht Mill allerdings darauf aufmerksam, dass die Unparteilichkeit nicht an sich eine Pflicht ist, sondern ein Mittel zur Erfüllung einer anderen Pflicht. Die Menschen sind sich im Allgemeinen darin einig, dass die Begünstigung nicht an sich zu verwerfen ist, weil die Fälle, in denen die Bevorzugung einer Person gegenüber einer anderen als ungerecht betrachtet wird, eher die Ausnahme als die Regel sind. »Jemand würde wahrscheinlich eher Tadel als Lob ernten, wenn er seiner Familie oder Freunden bei guten Ämtern nicht den Vorzug vor Fremden gäbe, sofern er dies könnte, ohne eine andere Pflicht zu verletzen.« 116 Anders verhält es sich jedoch, wenn es darum geht, jemandem zu seinem Recht zu verhelfen. Ein Richter beispielsweise ist zur Unparteilichkeit verpflichtet, wenn es um die Klärung einer Streitfrage zwischen zwei Parteien geht, wobei die Verletzung jenes Grundsatzes in der Regel mit einem Angriff auf die Gerechtigkeit assoziiert wird. Wenn es aber darum geht, Schüler oder Studenten zu bewerten, sie durch Noten zu belohnen oder zu bestrafen, dann bezieht sich das Prinzip der Unparteilichkeit darauf, sich ausschließlich von der individuellen Leistung leiten zu lassen. Bereits hier wird deutlich, was Mill meint, wenn er sagt, dass die Pflicht zur Unparteilichkeit keine Pflicht an sich, sondern ein Mittel zur Erfüllung einer anderen Pflicht ist. Der Gerechtigkeitsgrundsatz der Unparteilichkeit verlangt, dass das Individuum sich nur von solchen Überlegungen leiten lässt, welche für die jeweilige Situation und den jeweiligen Fall maßgeblich sind, während alle Gedanken, die sich auf eine Verletzung jenes Grundsatzes beziehen, zu verwerfen sind.

115 116

Ebd. Ebd.

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Zum Verhältnis von Nützlichkeit und Gerechtigkeit

Die letzte Pflicht, die Mill im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Gerechtigkeit und Nützlichkeit diskutiert, ist die Gleichheit, welche in direkter Beziehung zum Grundsatz der Unparteilichkeit steht. 117 Die Gleichheit ist nicht nur ein wesentlicher Bestandteil der Gerechtigkeit, sondern wird von vielen Menschen auch eingesetzt, wenn es um die praktische Anwendung der Gerechtigkeitsgebote geht. Wie alle anderen Pflichten ist die Gleichheit kein absoluter Wert, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass die Ungleichheit leicht durch Nützlichkeitsüberlegungen legitimiert werden kann. »Diejenigen, die glauben, dass die Nützlichkeit Rangunterschiede erforderlich macht, sehen keine Ungerechtigkeit darin, dass Reichtümer und soziale Privilegien ungleich verteilt sind.« 118 Das, was im Allgemeinen als gerecht betrachtet wird, hängt im hohen Maße davon ab, was im Allgemeinen als nützlich eingestuft wird. »Und das Gefühl der natürlichen Gleichheit kann plausiblerweise für alle diese Auffassungen in Anspruch genommen werden.« 119 Es bereitet jedoch einige Schwierigkeiten, bei so vielen Anwendungen der Gerechtigkeit zu bestimmen, was das Gemeinsame ist, das alle Standpunkte miteinander verbindet. Deshalb unternimmt Mill in einem zweiten Schritt den Versuch, sich dem Wesen der Gerechtigkeit über die Begriffsgeschichte zu nähern. So verweist die Etymologie des Wortes gerecht in fast allen Sprachen auf eine Beziehung zum positiven Recht oder auf das, was in primitiven Völkern als die geltenden Sitten bezeichnet wird. Während der Ausdruck ursprünglich bedeutete, etwas auf die gewohnte Art und Weise zu tun, wurde die Semantik bald verändert, so dass man unter dem Wort nun verstand, etwas auf eine vorgeschriebene Art und Weise zu tun. Diese Regel, die bestimmte, wie etwas zu tun ist, konnte von nun an durch die anerkannten Autoritäten der Gemeinschaft durchgesetzt werden, notfalls auch mit Gewalt. Das Recht wiederum hat eine enge Beziehung zu dem, was im Allgemeinen als Gesetz bezeichnet wird, weshalb Mill zu dem Ergebnis kommt, dass kein Zweifel daran bestehen kann, dass »die idée mère, das ursprüngliche Element bei der Bildung des Begriffs Gerechtigkeit, die Übereinstimmung mit dem Gesetze 117 Zur Frage der Vereinbarkeit von Gerechtigkeit und Nützlichkeit siehe Peter Rinderle, »John Stuart Mills liberale Theorie der Gerechtigkeit«, in: Ulrich/Aßländer (Hg.), John Stuart Mill – Der vergessene politische Ökonom und Philosoph, a. a. O., S. 79–123. 118 Ut, AW, Band 3.1, S. 495. 119 Ebd., S. 496.

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war« 120 . Die Überzeugung, dass ein Handeln dann gerecht ist, wenn es mit den geltenden Gesetzen übereinstimmt, machte für die Hebräer und die Christen lange Zeit das Wesen der Gerechtigkeit aus. Auch waren sie der Auffassung, dass sich im Gesetz der Wille Gottes offenbart. Ein Leben nach den Gesetzen der Gemeinschaft war damit zugleich ein gottgefälliges Leben. Im Gegensatz dazu waren die Griechen und Römer sich bewusst, dass Gesetze und Vorschriften von Menschen gemacht sind, weshalb sie sich auch nicht fürchteten zuzugeben, dass es auch schlechte Gesetze geben kann. »Und so kam es, dass das Gefühl der Ungerechtigkeit sich nicht mit allen Verstößen gegen Gesetze verband, sondern nur mit Verstößen gegen die Gesetze, die gelten sollten, jene mit eingeschlossen, die gelten sollten, es aber nicht tun« 121 . Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum die Gesetzesidee im Gerechtigkeitsbegriff auch dann noch vorherrschend war, als die geltenden Gesetze schon nicht mehr Maßstab der Gerechtigkeit waren. Gleichwohl gibt es Lebensbereiche, die nicht durch Gesetze und Vorschriften geregelt werden. Obwohl niemand möchte, dass sein Privatleben von Regeln beherrscht wird, geben die Menschen dennoch zu, dass eine Person sich im alltäglichen Leben als gerecht oder ungerecht erweisen kann. Offenbar gibt es auch hier eine Vorstellung darüber, was es heißt, gegen ein geltendes Gesetz zu verstoßen, allerdings in anderer Gestalt. So kann kein Zweifel darüber bestehen, dass wir uns freuen, wenn ungerechtes Verhalten bestraft und gerechtes Verhalten erzwungen wird. Und wo dies nicht geschieht, »bedauern wir die Unmöglichkeit, wir betrachten es als ein Übel, dass die Ungerechtigkeit ungestraft bleibt, und versuchen dies dadurch gutzumachen, dass wir den Schuldigen unsere und des Publikums Missbilligung nachdrücklich spüren lassen« 122 . Es gehört zum Wesen der Gerechtigkeit, dass die Ungerechtigkeit den Wunsch nach Bestrafung hervorruft – sei es in Form gerichtlicher Rechtsprechung oder sozialer Ablehnung. »Im Begriff der ›Pflicht‹ ist in allen seinen Formen impliziert, dass jemand zu Recht gezwungen werden kann, sie zu erfüllen.« 123 Anders verhält es sich jedoch bei Dingen, von denen wir uns wünschen, dass sie getan werden. Personen, die diese Dinge tun, 120 121 122 123

Ebd., S. 497. Ebd. Ebd., S. 498. Ebd., S. 498 f.

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Zum Verhältnis von Nützlichkeit und Gerechtigkeit

erhalten unsere Liebe und Bewunderung, aber in Fällen der Unterlassung würden wir nicht auf die Idee kommen zu fordern, dass die Individuen zu jenen Handlungen gezwungen werden sollten. Ein Ausbleiben der Handlung zieht hier keinen Bestrafungswunsch nach sich. Zwischen den Pflichten der Gerechtigkeit und den moralischen Pflichten im Allgemeinen besteht offenbar ein Unterschied. Mit anderen Worten: Welches ist das charakteristische Merkmal, das die Gerechtigkeit von den anderen Bereichen der Moral unterscheidet? 124 Um eine Antwort auf diese Frage geben zu können, greift Mill auf die von Moralphilosophen eingeführte Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten zurück. Unvollkommene Pflichten zeichnen sich dadurch aus, dass sie uns zwar zu einer bestimmten Handlung moralisch verpflichten, allerdings bleibt es uns überlassen, wann wir sie ausführen. Es gibt keine Person, die ihre Ausführung zu einem bestimmten Zeitpunkt fordern könnte, auch rechtfertigt ein Ausbleiben der Handlung nicht die Klage der Ungerechtigkeit. Anders verhält es sich jedoch bei vollkommenen Pflichten. Diese Art von moralischer Verbindlichkeit generiert bei den Personen, die von der Handlung betroffen sind, ein entsprechendes Recht; »Pflichten von unvollkommener Verbindlichkeit sind diejenigen moralischen Pflichten, die kein solches Recht begründen« 125 . Vor diesem Hintergrund gelangt Mill zu dem Schluss, dass das Recht nicht nur die vollkommenen Pflichten von den unvollkommenen Pflichten unterscheidet, sondern dass dieses Merkmal auch die Differenz zwischen der Gerechtigkeit und den sonstigen moralischen Geboten erklärt; denn allen Auffassungen, soweit sie bis zu dieser Stelle vorgestellt wurden, ist gemeinsam, dass der Begriff der Gerechtigkeit die Vorstellung eines Rechtsanspruchs impliziert. »Es scheint mir, dass diese Eigenschaft der Situation, nämlich ein Recht, das der moralischen Pflicht entspricht und das einer bestimmten Person zusteht, die spezifische Differenz zwischen Gerechtigkeit und Großzügigkeit oder Wohltätigkeit ausmacht.« 126 Es ist vollkommen gleichgültig, ob eine Ungerechtigkeit sich auf den Diebstahl von Eigentum bezieht, ob der Grundsatz von Treue und Glauben gebrochen wurde oder ob jemand nicht das bekommen hat, was er verdient hat. Immer lässt sich 124 125 126

Vgl. ebd., S. 499. Ebd., S. 500. Ebd.

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Von der Nützlichkeit und ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit

feststellen, dass es eine Person gibt, die ein moralisches Recht auf etwas hat und dass jemand dieses Recht unrechtmäßig zum Nachteil jener Person verletzt hat. 127 Nachdem Mill das Element gefunden hat, das alle unterschiedlichen Auffassungen der Gerechtigkeit miteinander verbindet, legt er sich die Frage vor, ob das Gefühl, dass die Gerechtigkeitsidee begleitet, aus der Natur stammt oder ob es Gesetzmäßigkeiten gibt, die den Schluss nahelegen, dass das Gefühl aus der Idee selbst kommt; insbesondere geht es ihm aber um die Frage, ob der Ursprung des Gefühls in allgemeinen Überlegungen der Nützlichkeit zu finden ist. 128 Zunächst rekapituliert Mill das bereits Diskutierte und stellt fest, dass die Gerechtigkeit hauptsächlich zwei Bestandteile hat. Zum einen besteht sie aus dem Wissen oder dem Glauben, dass einer Person oder einer Gruppe von Personen ein Unrecht zugefügt wurde. Zum anderen impliziert der Begriff der Gerechtigkeit den Wunsch, denjenigen zu bestrafen, der den Schaden verursacht hat. Was den Wunsch nach Bestrafung betrifft, so geht Mill davon aus, dass dieser seinen Ursprung in zwei Gefühlen findet, die im höchsten Grade natürlich sind, derart, dass man sie auch als Instinkte bezeichnen kann. Die Rede ist vom Drang zur Selbstverteidigung und vom Gefühl der Sympathie. »Es ist völlig natürlich, bei einem Schaden, der einem selbst oder jemandem, dem gegenüber man Sympathie empfindet, zugefügt wurde (oder wenn dies versucht wurde), wütend zu werden, ihn abwenden zu wollen oder ihn zu vergelten.« 129 In dieser Hinsicht unterscheidet der Mensch sich kaum vom Tier, weil jedes Lebewesen die verletzen wird, die es selbst oder seine Nachkommen verletzt haben. Es gibt aber auch Unterschiede. Erstens ist der Mensch dazu fähig, das Gefühl der Sympathie nicht nur für seine eigenen Kinder, sondern gegenüber allen Lebewesen zu empfinden. Der zweite Gegensatz besteht darin, dass der Mensch einen höher entwickelten Intellekt besitzt, der seinen Gefühlen – seien sie selbstbezogen oder mitfühlend – einen größeren Wirkungskreis eröffnet. Drittens verfügt der Mensch über eine höhere Intelligenz. Zusammen mit der Fähigkeit zur Entwicklung menschlicher Sympathie versetzt ihn diese in die Lage, »sich mit der kollektiven Idee seines Stammes, seines Landes oder der ganzen Menschheit verbunden zu 127 128 129

Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 501. Ebd.

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sehen, [so] dass jegliche schädigende Handlung seinen Instinkt der Sympathie weckt und ihn zum Widerstand drängt« 130 . In seiner reinsten Form ist das Gerechtigkeitsgefühl demzufolge nichts anderes als das Gefühl der Rache oder der Vergeltung. Dieses Gefühl ist sittlich nicht eingebunden, in seiner Natürlichkeit fordert es direkten Ausgleich für alles, was zu Unrecht getan wurde; »das Moralische ist, dass es ausschließlich den sozialen Sympathien untergeordnet wird, ihnen dient und gehorcht« 131 . Durch die sozialen Gefühle wird das Gerechtigkeitsgefühl moralisiert und gesellschaftstauglich, jetzt wirkt es nur noch »in den Bahnen, die dem allgemeinen Wohl gemäß sind« 132 . In diesem Zusammenhang macht Mill sich auch an die Widerlegung eines Einwands, der zuweilen gegen den Utilitarismus erhoben wird. Dieser Vorwurf besagt, dass das Individuum, wenn es eine Ungerechtigkeit erfahren hat, nicht an die Interessen des Kollektivs, sondern vor allem an seine eigenen denkt. Mill räumt zwar ein, dass einige Menschen durchaus so empfinden, gleichzeitig erblickt er darin aber nichts Lobenswertes. Eine Person, die annimmt, dass eine Handlung allein die Interessen der Einzelperson betrifft und nicht mit denen der Gemeinschaft verbunden ist, handelt nicht moralisch; »die Gerechtigkeit ihrer eigenen Handlungen ist ihr gleichgültig« 133 . Zum Beweis, dass dieser Umstand auch von antiutilitaristischen Moralphilosophen gebilligt wird, führt Mill den kategorischen Imperativ an. Indem Kant nämlich das Prinzip »Handle so, dass die Richtschnur deines Handelns von allen vernünftigen Wesen als Gesetz angenommen werden kann« 134 zum Grundsatz der Moral erklärt, »erkennt er praktisch an, dass das Interesse der Menschheit […] dem Handelnden im Geiste gegenwärtig sein muss, wenn er den moralischen Wert einer Handlung gewissenhaft bestimmen möchte« 135 . Eine Handlung besitzt demzufolge nur dann einen moralischen Wert, wenn sich zeigen lässt, dass sie neben den Interessen der Einzelperson Ebd., S. 502. Ebd. 132 Ebd. 133 Ebd., S. 503. 134 Ebd. Vgl. dazu Erich Zalten, »Kants Pflichtbegriff und das Moralprinzip des Utilitarismus. Reflexionen und Thesen«, in: Philippe Mastronardi (Hg.), Das Recht im Spannungsfeld utilitaristischer und deontologischer Ethik, Wiesbaden 2004, S. 121– 142. 135 Ut, AW, Band 3.1, S. 503. 130 131

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auch die Belange der Menschen im Allgemeinen reflektiert. In einer moralischen Handlung fallen Eigen- und Fremdinteresse also zusammen. Vor dem Hintergrund dessen, was bis zu dieser Stelle bereits angeführt wurde, lässt sich Folgendes festhalten: 136 Die Idee der Gerechtigkeit umfasst zum einen eine Verhaltensregel, zum anderen ein Gefühl, das diese sanktioniert, wobei von der Verhaltensregel angenommen wird, dass sie von allen Menschen geteilt wird und sich auf das Wohl aller bezieht, während das Gefühl den Wunsch repräsentiert, denjenigen zu bestrafen, der jene Regel verletzt hat. Hinzu kommt die Vorstellung, dass eine bestimmte Person leidet, wenn jene Handlungsregel gebrochen wird. Das Gefühl der Gerechtigkeit drückt sich demgemäß darin aus, eine Regelverletzung abzuwenden oder zu vergelten, wenn die eigene Person verletzt wurde oder Menschen zu Schaden gekommen sind, mit denen wir sympathisieren, »wobei die Grenzen dieser Sympathie durch die menschliche Fähigkeit des erweiterten Mitgefühls und die menschliche Vorstellung des wohlverstandenen Eigeninteresses auf alle Menschen ausgedehnt wird« 137 . In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, noch einmal die spezifischen Implikationen des Begriffs des Rechts zu betrachten. Oder anders formuliert: Was meinen wir, wenn wir sagen, dass das Recht von jemandem verletzt wurde? Die Antwort auf diese Frage umfasst hauptsächlich zwei Dinge: einerseits eine Schädigung, die einer oder mehreren Personen zugefügt wurde, und andererseits das Verlangen nach Vergeltung. Im Gegensatz dazu meinen wir, wenn wir sagen, dass jemand ein Recht auf etwas hat, nichts anderes als dass »er einen legitimen Anspruch an die Gesellschaft hat, ihn in der Wahrung des Rechts zu schützen, sei es nun durch die Kraft von Gesetzen oder durch die der Erziehung und der öffentlichen Meinung« 138 . Auch wenn damit erklärt ist, was es bedeutet, ein Recht auf etwas zu haben, lässt sich immer noch fragen, warum die Gesellschaft den Besitz und den Anspruch eines persönlichen Rechts verteidigen sollte. Den Grund dafür erblickt Mill in der allgemeinen Nützlichkeit, weil die Verletzung eines individuellen Rechts auf einer umfassenderen Ebene eine Verletzung der bestehenden Rechtsordnung darstellt, wobei diese der Garant für gesellschaftlichen Frieden ist. »Das Interesse, 136 137 138

Vgl. zum Folgenden ebd., S. 503 f. Ebd., S. 504. Ebd.

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Zum Verhältnis von Nützlichkeit und Gerechtigkeit

um das es geht, ist das der Sicherheit, nach allgemeiner Einschätzung das vitalste aller Interessen.« 139 Es ist evident, dass auf Sicherheit im Gegensatz zu allen anderen Dingen nicht verzichtet werden kann, weil sie eine Situation erzeugt, in der Planbarkeit und Verlässlichkeit vorherrschen. Ohne Sicherheit könnten die Menschen keine Zukunftspläne machen und keine Geschäftsbeziehungen aufbauen. Auch könnten sie niemals sicher sein, dass jemand ihnen nicht bei der nächstbesten Gelegenheit ihr Eigentum oder Leben nimmt. Die Abwesenheit von Sicherheit impliziert ein Leben unter Naturzustandsbedingungen, ein Leben, in dem es kein Vertrauen gibt und jeder allein auf sich und seine Fähigkeiten zur Machtakkumulation gestellt ist. Sicherheit ist die grundlegendste Bedingung des menschlichen Lebens, ohne sie endet die individuelle Lebensplanung am Horizont des Augenblicks. Das basale Bedürfnis nach Sicherheit kann in einer Gesellschaft aber nur befriedigt werden, wenn die bestehende Rechtsordnung, die der Garant der gegenwärtigen und zukünftigen Sicherheit ist, nicht unterlaufen wird. Und hier finden wir dann auch eine erste Antwort auf die Frage, warum die Gemeinschaft die Rechte der Einzelperson verteidigen sollte: Die Gesellschaft sollte die Rechte des Individuums schützen, weil die Gewährleistung der Sicherheit das fundamentale Interesse aller Menschen ist. Hier fallen Einzelinteresse und Fremdinteresse zusammen. Der Anspruch, dass unsere Mitmenschen an der Sicherung jener Lebensgrundlage mitwirken, ist mit Gefühlen umkleidet, »die so viel stärker sind als jene, die sich auf die gewöhnlichen Fälle der Nützlichkeit beziehen, [so] dass der graduelle Unterschied […] zu einem Unterschied in der Art wird« 140 . Damit hat Mill die Gerechtigkeit unter die Nützlichkeit subsumiert. 141 Nun wenden die Gegner der utilitaristischen Lehre allerdings ein, dass die Nützlichkeit ein fraglicher Maßstab ist, weil jede Person unter Nützlichkeit etwas anderes versteht. Sicherheit, so ihr Argument, lässt sich nur in den Geboten der Gerechtigkeit finden, nicht in den Überlegungen der Nützlichkeit. Dieses Argument legt die Auffassung nahe, dass es bei Fragen der Gerechtigkeit keine unterschiedlichen Meinungen gibt, dass die Bedeutung der GerechtigEbd., S. 505. Ebd. 141 Vgl. Wolfgang Lasars, Die klassisch-utilitaristische Begründung der Gerechtigkeit, Berlin 1982. 139 140

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keit mit der gleichen Gewissheit vorliegt wie das Resultat eines mathematischen Beweises. Diese Sichtweise hält Mill allerdings für einen fundamentalen Irrtum, weil über die Frage, was gerecht ist, mindestens genauso viel gestritten wird wie über die Frage, was nützlich ist. Wie viele unterschiedliche Ansichten zur Gerechtigkeit und ihrer Anwendung in einer Gesellschaft im Umlauf sind, zeigt sich schon bei der Frage, wann jemand zu bestrafen ist. Während die einen sagen, dass es ungerecht ist, jemanden nur deshalb zu bestrafen, um ein abschreckendes Beispiel zu schaffen, argumentieren die anderen, »dass eine Strafe nur dann gerecht ist, wenn sie auf das Wohl des Bestraften abzielt« 142 . Wiederum andere vertreten das völlige Gegenteil und sind der Ansicht, dass es ungerecht ist, mündige Bürger unter der Annahme zu bestrafen, dass die Bestrafung zu ihrem eigenen Besten geschieht; gerecht ist die Strafe hingegen nur, wenn sie andere Menschen vor Schaden bewahrt, die Züchtigung also Ausdruck des Rechts legitimer Selbstverteidigung ist. Auch die Gerechtigkeitsauffassung des utopischen Sozialisten Owens ist nicht weniger überzeugend; sie besagt, dass Strafen grundsätzlich ungerecht sind, weil der Kriminelle seinen Charakter nicht selbst hervorgebracht hat; »seine Erziehung und die ihn umgebenden Verhältnisse haben ihn zum Verbrecher gemacht, und für diese ist er nicht verantwortlich« 143 . Allein diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Fragen der Gerechtigkeit keineswegs eindeutig zu beantworten sind. Die erste Meinung bezieht sich auf den anerkannten Grundsatz, der besagt, dass es ungerecht ist, eine Person zum Nutzen anderer zu opfern. Die Anhänger der zweiten Auffassung nehmen für sich das Prinzip der Notwehr in Anspruch und argumentieren, dass es ungerecht ist, jemanden zu zwingen, sich den Meinungen anderer zu beugen. Die Meinung Owens schließlich beruht auf der Annahme, dass es ungerecht ist, jemanden für das zu bestrafen, was im Grunde andere zu verantworten haben. Jede dieser Ansichten ist für sich genommen überzeugend, aber die Gerechtigkeit bleibt so lange undurchsichtig, bis man zu den Prinzipien vorgedrungen ist, die ihren eigentlichen Kern ausmachen. »Jeder von ihnen triumphiert, solange er nicht eine andere Maxime der Gerechtigkeit in Betracht ziehen muss als die, die

142 143

Ut, AW, Band 3.1, S. 506. Ebd., S. 506 f.

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er sich selbst ausgesucht hat.« 144 Gleichwohl ist das Problem der Gerechtigkeitsambiguität nicht neu, die Menschen haben es immer schon wahrgenommen und mit entsprechenden Kunstgriffen darauf reagiert. Gegen einige der angeführten Ansichten zur Gerechtigkeit haben die Menschen die Auffassung des freien Willens erdacht; sie besagt, dass der Charakter des Individuums nicht das Produkt seiner Umwelt, sondern seiner eigenen Willensfreiheit ist. Dementsprechend trägt das Individuum die volle Verantwortung für sein Handeln und kann bei einer Verletzung der allgemeinen Rechtsordnung von der Gemeinschaft entsprechend bestraft werden. Andere Schwierigkeiten, die sich aus der Mehrdeutigkeit der Gerechtigkeit ergeben, sollten durch einen fiktiven Vertrag gelöst werden, »durch welchen sich zu einem unbekannten Zeitpunkt alle Mitglieder der Gesellschaft zum Gehorsam gegen die Gesetze verpflichteten und ihre Einwilligung erklärten, für jeden Gesetzesbruch eine Bestrafung über sich ergehen zu lassen« 145 . Nicht anders verhält es sich, wenn man die Legitimität von Strafe grundsätzlich anerkennt, auch dann ist man mit einer ganzen Reihe von unterschiedlichen Gerechtigkeitsauffassungen konfrontiert. Diese beschäftigen sich zwar nicht mit der Frage, ob die Bestrafung von Schuldigen an sich gerecht oder ungerecht ist, aber sie kreisen um die Frage, welches Strafmaß bei einer Verurteilung angemessen ist. In diesem Zusammenhang weist Mill darauf hin, dass viele Menschen ihre Argumente des gerechten Strafmaßes mit der allgemeinen Regel Auge um Auge, Zahn um Zahn stützen, auch wenn dieser Grundsatz des jüdischen und muslimischen Rechts in Europa kaum noch angewendet wird. »Für viele ist eine Strafe dann gerecht, wenn sie dem Vergehen entsprechend ist, dass sie also genau nach der moralischen Schuld des Verbrechers bemessen werden sollte« 146 . Aber auch diese moralische Auffassung ist nur eine unter vielen, sie kann zu keinem Zeitpunkt als absolute Gesetzmäßigkeit angesehen werden. Die Frage nach dem richtigen Strafmaß berührt die Gerechtigkeit auch hier in ihrer semantischen Mehrdeutigkeit. Ein weiteres Beispiel, das Mill heranzieht, um auf die Uneindeutigkeit des Gerechtigkeitsbegriffs aufmerksam zu machen, findet seinen Ausdruck in der sozialpolitischen Fragestellung, ob es gerecht 144 145 146

Ebd., S. 507. Ebd. Ebd., S. 508.

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oder ungerecht ist, dass in einem genossenschaftlichen Betrieb die Arbeitskräfte mit mehr Talent und Geschick auch einen Anspruch auf eine bessere Bezahlung haben. Während die einen sagen, dass alle, die das ihnen Mögliche leisten, auch gleich viel verdienen sollten, argumentieren die anderen, dass die Gesellschaft von den Tüchtigeren mehr empfängt als von den Faulen, weshalb jene einen gerechten Anspruch auf eine bessere Bezahlung haben. Es ist erkennbar, dass für beide Standpunkte sich überzeugende Argumente anführen lassen, »und jegliche Entscheidung zwischen ihnen aus Gründen der Gerechtigkeit wäre völlig willkürlich« 147 . Nicht anders sieht es im Hinblick auf die gerechte Verteilung der Steuerlast in einer Gesellschaft aus, auch hier sind die Meinungen vielfältig und mindestens ebenso gut begründet. Die einen sind der Auffassung, dass Steuern sich direkt proportional zum Einkommen verhalten sollten. Andere hingegen schlagen eine progressive Besteuerung von Einkommen vor, während wieder andere der Ansicht sind, dass das Vermögen bei der Frage der Besteuerung überhaupt keine Rolle spielen und jeder Bürger pauschal den gleichen Steuersatz zahlen sollte. Alle diese Beispiele führt Mill an, um deutlich zu machen, dass Fragen der Gerechtigkeit nicht unabhängig von Überlegungen der sozialen Nützlichkeit behandelt werden können, wobei er ebenfalls darauf hinweist, dass zwischen beiden Begriffen ein grundsätzlicher Unterschied besteht, der respektiert werden muss. 148 Mill erkennt nur die Gerechtigkeitsvorstellung an, die sich auf das Nützlichkeitsprinzip gründet, während er alle Auffassungen bekämpft, die einen imaginären Maßstab der Gerechtigkeit aufstellen. Unter Gerechtigkeit versteht er im Allgemeinen eine Klasse moralischer Regeln. Diese Regeln betreffen die wichtigsten Bedingungen des menschlichen Wohlergehens, weshalb sie wertvoller sind als alle anderen Grundsätze; »und das Merkmal, in welchem wir den wesentlichen Bestandteil der Idee der Gerechtigkeit gefunden haben, nämlich das eines Rechts einer bestimmten Person, impliziert und bestätigt diese stärkere Verpflichtung« 149 . Einige dieser moralischen Regeln verbieten es den Menschen beispielsweise, sich untereinander Schaden zuzufügen. Diese Vorschriften hält Mill für die wichtigsten Gebote der Gerechtigkeit, weil 147 148 149

Ebd., S. 509. Vgl. ebd., S. 510 f. Ebd., S. 511.

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Zum Verhältnis von Nützlichkeit und Gerechtigkeit

sie für die Friedenssicherung in der Gesellschaft verantwortlich sind. Für ihn besteht kein Zweifel, dass die schwerwiegendsten Fälle von Ungerechtigkeit die sind, bei denen eine Person das Opfer von unrechtmäßigen Angriffen oder Machtmissbrauch wird; »gefolgt von Handlungen, die einer Person eine ihr von Rechts wegen zustehende Sache vorenthalten« 150 . Ein weiterer Aspekt, der mit dem Gefühl der Gerechtigkeit verknüpft ist und in direkter Beziehung mit dem vorigen Punkt steht, ist die persönliche Selbstverteidigung, zu der auch die Vergeltung gehört, sofern die eigene Person oder eine Person mit der wir sympathisieren, geschädigt wird. Auf der anderen Seite besagt diese Norm aber auch, dass derjenige, der Gutes annimmt, auch verpflichtet ist, Gutes zu geben. Obwohl dieses Gebot der Gerechtigkeit nicht ganz so bekannt ist wie andere Forderungen, entsteht dennoch ein Schaden, wenn berechtigte Erwartungen enttäuscht werden. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn ein Versprechen gebrochen oder etwas versagt wird, worauf man sich gewohnheitsmäßig verlassen hat. »Demnach ist der Grundsatz, jedem zu geben, was er verdient, das heißt Gutes für Gutes wie Böses für Böses, nicht nur in der Idee der ›Gerechtigkeit‹ […] eingeschlossen, sondern auch ein angemessenes Objekt jenes starken Gefühls, das das ›Gerechte‹ in der Wertschätzung der Menschen über das bloß ›Nützliche‹ stellt.« 151 Laut Mill sind die meisten der Gerechtigkeitsmaximen allerdings instrumenteller Natur, weil sie dem Ziel dienen, die Gebote der Gerechtigkeit in der Gesellschaft durchzusetzen. Der Hauptteil der Leitsätze ist durch die Gerichte in Umlauf gekommen: Eine Person ist nur für das verantwortlich, was sie aus freiem Willen getan oder nicht getan hat; es ist ungerecht, über eine Person unrechtmäßige Macht auszuüben und sie beispielsweise ohne Anhörung zu bestrafen; die Strafe sollte dem Vergehen angemessen sein. In diesem Zusammenhang weist Mill auf die zwei wichtigsten Tugenden überhaupt hin: die Gleichheit und die Unparteilichkeit. Diese beiden Grundsätze erhalten ihre Legitimität aus den anderen Geboten der Gerechtigkeit. Denn aus der Forderung, jedem das zu geben, was er verdient hat, folgt, »dass wir […] alle gleich gut behandeln sollten, die sich um uns gleich wohlverdient gemacht haben, und dass die Gesellschaft alle gleich gut behandeln sollte, welche sich um sie gleich wohl, das heißt, welche sich absolut gesprochen gleich 150 151

Ebd., S. 512. Ebd., S. 513.

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Von der Nützlichkeit und ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit

wohlverdient gemacht haben« 152 . Diese moralische Regel bildet das oberste Prinzip der sozialen Gerechtigkeit und der Verteilungsgerechtigkeit, weshalb alle Bürger und gesellschaftlichen Institutionen ihr Handeln daran ausrichten sollten. Auch darf sie nicht als logische Schlussfolgerung betrachtet werden, die aus sekundären Prinzipien abgeleitet wurde, vielmehr ist sie das unmittelbare Ergebnis des Nützlichkeitsprinzips selbst. Dies ergibt sich nicht zuletzt aus dem utilitaristischen Grundsatz, dass das Glück jeder Person gleich viel zählt. »Sind diese Bedingungen erfüllt, so können Benthams Worte ›Jeder zählt für einen, keiner für mehr als einen‹ als erläuternder Kommentar unter das Nützlichkeitsprinzip gesetzt werden.« 153 Wenn aber alle Menschen den gleichen Anspruch auf Glück haben, dann folgt daraus, dass alle Menschen auch den gleichen Anspruch auf die Mittel zum Glück haben. »Allen Personen wird ein Recht auf gleiche Behandlung zuerkannt, außer wenn ein anerkanntes gemeinschaftliches Interesse etwas anderes verlangt.« 154 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der Begriff der Gerechtigkeit eine Reihe moralischer Forderungen umfasst, die auf der Skala der sozialen Nützlichkeit eine höhere Stellung einnehmen als alle anderen Grundsätze, was auch bedeutet, dass sie grundsätzlich verpflichtender sind als jene. Nun kann es im Leben aber Situationen geben, in denen eine Handlung wichtiger ist als die Gebote der Gerechtigkeit. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn es darum geht, einem Menschen das Leben zu retten und dies nur geschehen kann, indem man ein spezielles Medikament stiehlt oder einen Arzt dazu zwingt, die nötige Behandlung auch unter fragwürdigen Bedingungen durchzuführen. Obwohl solche Verhaltensweisen in bestimmten Situationen moralisch sogar erforderlich sein können, würde Mill nicht behaupten, dass sie gerecht sind; auch handelt es sich hier nicht um soziale Ungerechtigkeiten, die aufgrund der Wahrung der allgemeinen Menschenrechte lobenswert sind. Der Begriff der Gerechtigkeit soll vielmehr nur auf menschliche Handlungen angewendet werden, die tugendhaft sind. Deshalb sagt Mill in jenen Fällen auch nicht, »dass die Gerechtigkeit einem anderen moralischen Prinzip weichen muss, sondern dass das, was normalerweise gerecht ist, auf-

152 153 154

Ebd., S. 514. Ebd. Ebd., S. 515.

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Zum Verhältnis von Nützlichkeit und Gerechtigkeit

grund jenes anderen Prinzips in diesem speziellen Falle nicht gerecht ist« 155 . Mit diesen Ausführungen ist laut Mill das einzige wirkliche Problem der utilitaristischen Ethik gelöst, denn es hat sich gezeigt, »dass alle Fälle der Gerechtigkeit auch Fälle von Nützlichkeit sind« 156 .

Ebd., S. 516. Ebd. Interessanterweise macht Rawls in seinen Vorlesungen zur Geschichte der politischen Philosophie darauf aufmerksam, dass er zwischen seiner Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness und der Gerechtigkeitsauffassung Mills eine gewisse inhaltliche Nähe sieht, die seiner Auffassung zufolge so weit geht, dass er zu dem Schluss gelangt, dass beide Theorien in zentralen Aspekten fast gleich sind. Vgl. John Rawls, Geschichte der politischen Philosophie, Frankfurt am Main 2012, S. 388 f. Einen direkten Vergleich des Utilitarismus mit der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls liefert Egon Engin-Deniz, Vergleich des Utilitarismus mit der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls, Innsbruck 1991; siehe ferner Jean-Claude Wolf, »Zur sozialen Verantwortung bei John Stuart Mill«, in: Ulrich/Aßländer (Hg.), John Stuart Mill – Der vergessene politische Ökonom und Philosoph, a. a. O., S. 195–210. 155 156

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Fünftes Kapitel Über die Freiheit des Individuums und die Grenzen des Staates

1.

Einleitende Bemerkungen

Die Abhandlung Über die Freiheit ist neben der Logik, die im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit behandelt worden ist, Mills wichtigstes Werk, zumindest war er selbst dieser Auffassung, wie aus seiner Autobiographie hervorgeht. 1 Die Freiheitsschrift gehört zweifellos zu seinen reifsten und durchdachtesten Arbeiten. Auch gibt es wohl kein anderes Buch, in dem der lebendige Einfluss seiner großen Liebe und langjährigen Lebensgefährtin, Harriet Taylor, so deutlich hervortritt. 2 In seiner Autobiographie legt Mill davon Zeugnis ab, wenn er darauf aufmerksam macht, dass Über die Freiheit mehr als jede andere Schrift eine gemeinsame Arbeit ist, »denn es ist kein Satz darin, der nicht mehrmals von uns gemeinsam durchgegangen, nach allen Richtungen erörtert und von allen Fehlern, die wir in Gedanken oder in Diktion entdecken konnten, bereinigt worden wäre« 3 . Bereits 1854 entwirft Mill den Plan zu diesem historisch bedeutsamen Werk. Obwohl er und seine Frau zwei Jahre an der liberalen Schrift arbeiten, können sie das Werk jedoch nicht gemeinsam beenden. Kurz vor der Schlussrevision des Buches im Winter 1858/59 stirbt Harriet Taylor unerwartet auf dem Weg nach Montpellier in Vgl. Au, AW, Band 2, S. 189. Einführend siehe Bernd Gräfrath, John Stuart Mill: Über die Freiheit. Ein einführender Kommentar, Paderborn 1992; ferner Ulrike Ackermann, »Das Experiment des Lebens. John Stuart Mills ›Über die Freiheit‹«, in: Merkur 64 (2010), Heft 9/10, S. 815–822. 2 Zur Beziehung von John Stuart Mill und Harriet Taylor siehe Narewski, John Stuart Mill und Harriert Taylor Mill. Leben und Werk, a. a. O.; vgl. auch den umfangreichen ersten Band der Ausgewählten Werke (AW), der sich ausschließlich mit Harriet Taylor, ihrem emanzipatorischen Werk im Hinblick auf die politische Frage der Frauenrechte, der Rolle der Frau in der Gesellschaft sowie ihrer persönlichen Beziehung zu John Stuart Mill beschäftigt, wobei auch der gemeinsame Briefwechsel und die Abhandlung Die Unterwerfung der Frauen (1869) enthalten sind. 3 Au, AW, Band 2, S. 188. 1

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Einleitende Bemerkungen

Avignon an einer Lungenentzündung. Nach ihrer Beerdigung kauft Mill sich ein kleines Häuschen, das in unmittelbarer Nähe zu ihrem Grab liegt; »und da lebte ich nun mit ihrer Tochter, meiner Mit-Leidtragenden und meinem Haupttrost, während eines großen Teils des Jahres« 4 . Die Freiheitsschrift wird rund drei Monate nach ihrem Tod im Februar 1859 veröffentlicht, wobei sich auf der ersten Seite des Buches folgende Worte finden: »Dem Andenken an die Geliebte und Beklagte, die die Anregerin und zum Teil auch die Autorin des Besten in meinen Schriften war – die Freundin und Ehefrau, deren erhabener Sinn für Wahrheit und Recht mein stärkster Ansporn und deren Zustimmung mein wichtigster Lohn war – ihr widme ich dieses Buch.« 5 Was den Gegenstand der Untersuchung betrifft, so weist Mill bereits am Anfang seiner Abhandlung darauf hin, dass es ihm nicht um eine Diskussion der menschlichen Willensfreiheit geht, die im Allgemeinen der philosophischen Notwendigkeitslehre entgegengesetzt ist; es geht ihm vielmehr darum, die Grenzen der Gewalt zu bestimmen, die von der Gesellschaft gegenüber dem Individuum ausgeübt werden kann. 6 Das Thema des Buches ist demzufolge die bürgerliche oder soziale Freiheit des Menschen. 7 Auch wenn die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen individueller Freiheit im Kontext staatlicher Autorität keineswegs neu ist, sondern so alt ist wie das Menschengeschlecht selbst, ist Mill davon überzeugt, dass das Problem der Freiheit »sich wahrscheinlich bald als die Lebensfrage der Zukunft erweisen« 8 wird, weil der zivilisatorische Fortschritt eine neue Stufe erreicht hat. Diese Entwicklung hat zu einem Wandel der Lebensbedingungen geführt, weshalb die Freiheitsfrage jetzt noch einmal grundlegend behandelt werden muss. Unter Freiheit wurde in früheren Zeiten hauptsächlich der Schutz vor der Tyrannei politischer Herrscher verstanden, denn diese waren im Allgemeinen mit deutlich mehr Macht ausgestattet als die Bevölkerung. Es ist offenkundig, dass die Machthaber ihre Autorität nicht nur für die Interessen des Volkes einsetzten, sondern sich mitEbd., S. 187. ÜdF, AW, Band 3.1, S. 305. 6 Vgl. ebd., S. 306. 7 Vgl. Birger P. Priddat, »John Stuart Mills Theorie der Freiheit«, in: Erich W. Streissler (Hg.), Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie (Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Band 115/XIX), S. 17–42. Zur sozialen Dimension des Mill’schen Freiheitsbegriffs siehe Höntzsch, Individuelle Freiheit zum Wohle Aller, a. a. O. 8 ÜdF, AW, Band 3.1, S. 306. 4 5

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Über die Freiheit des Individuums und die Grenzen des Staates

unter recht willkürlich verhielten und ihre Macht vor allem dazu nutzten, ihren persönlichen Vorteil zu vermehren und ihren Einfluss zu sichern. »Ihre Gewalt galt als notwendig aber zugleich als höchst gefährlich; als eine Waffe, die sie gegen ihre Untertanen nicht weniger als gegen äußere Feinde zu verwenden versuchen würden.« 9 Die Bürger beschlossen deshalb einen Verteidigungswall zu errichten, um sich vor den eigenmächtigen Übergriffen ihrer politischen Herrscher zu schützen; »und diese Begrenzung war es, was sie unter Freiheit verstanden« 10 . Freiheit definierte sich also durch eine Grenze, an der die Autorität des Staates enden sollte. Die Bürger versuchten dies zum einen dadurch zu erreichen, dass sie sich gewisse Grundrechte (Abwehrrechte gegen den Staat) erstritten, deren Missachtung seitens des Machthabers regelmäßig dazu führte, dass die Menschen in den Widerstand gingen, um für die Anerkennung ihrer Freiheiten zu kämpfen. Später in der Geschichte des Menschengeschlechts ging man dazu über, bestimmte durch das Gemeinwesen legitimierte Institutionen zu etablieren, welche die Aufgabe hatten, eine verfassungsmäßige Kontrolle über die Politik auszuüben. Auf diese Weise sollte sichergesellt werden, dass der Staat seinen Handlungsspielraum nicht überschreitet und die Freiheit der Menschen geschützt ist. Im weiteren Verlauf der Zivilisation gelangten die Bürger allerdings zu der Überzeugung, dass die Regierung nicht länger eine Macht sein sollte, die ihren Interessen entgegensetzt ist. Es schien ihnen natürlicher zu sein, wenn die Regierung sich aus Abgeordneten zusammensetzt, die man wieder abwählen kann, wenn sie nicht im Interesse der Wähler handeln. Obwohl die Bürger mit dieser politischen Lösung zunächst zufrieden waren, vertraten einige bald die Auffassung, dass es für die Gemeinschaft der Bürger von Vorteil wäre, den Gegensatz zwischen Machthabern und Beherrschten ganz aufzuheben: »Was man nun wollte, war, dass die Herrscher mit dem Volk eins sein sollten; dass ihr Interesse und Wille das Interesse und der Wille des Volkes sein sollten.« 11 Der Gewinn dieses neuen politischen Systems, das laut Mill vor allem auf dem europäischen Kontinent weit verbreitet war, besteht in der Überwindung gegensätzlicher Interessen. Auch erscheint es logisch, dass ein Volk keinen Schutz vor der Tyrannei seines eigenen Ebd., S. 307. Ebd. 11 Ebd., S. 308. 9

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Einleitende Bemerkungen

Willens benötigt. In diesem Zusammenhang macht Mill allerdings auf ein begriffliches Missverständnis aufmerksam: »Das Volk, das die Macht ausübt, ist nicht immer identisch mit dem Volk, über das sie ausgeübt wird, und die Selbstregierung, von der die Rede ist, ist nicht die Regierung jedes Einzelnen durch sich selbst, sondern die jedes Einzelnen durch alle Übrigen.« 12 Es gibt keine praktische Notwendigkeit, die besagt, dass nach der Etablierung einer Selbstregierung keine adversativen Interessen mehr bestehen zwischen den Machthabern und den Beherrschten. Dies kann allein schon deshalb nicht angenommen werden, weil die Regierung sich in der Regel nicht auf den Willen aller, sondern lediglich auf den der Mehrheit gründet. »Das Volk kann daher sehr wohl beabsichtigen, einen Teil seiner selbst zu unterdrücken, und es sind Vorkehrungen gegen diesen wie gegen jeden anderen Machtmissbrauch erforderlich.« 13 Dieser Punkt ist insofern von Bedeutung, als dass er zeigt, dass Mill nicht davon ausgeht, dass es so etwas wie einen kollektiven Interessenverbund gibt. Die Belange der Menschen sind für ihn prinzipiell verschieden und nur zum Teil in Übereinstimmung zu bringen. Die Tyrannei der Mehrheit ist also keineswegs ein Problem der Vergangenheit, wobei er darunter in erster Linie den sozialen Druck in Richtung eines gesellschaftlichen Konformismus versteht, welcher zu Lasten des heroischen Individualismus geht. 14 Dass Mill den Gedanken individueller Leistungsfähigkeit nicht nur äußerst ernst nimmt, sondern auch zum Handlungsmotiv seiner Sozialphilosophie macht, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er die Individualität zu einem wichtigen Element der menschlichen Wohlfahrt erklärt. Die Tyrannei der Mehrheit wird im Allgemeinen mit Maßnahmen staatlicher Behörden assoziiert. Allerdings macht Mill darauf Ebd., S. 309. Ebd., S. 309 f. Im Rahmen seiner staatspolitischen Reflexionen diskutiert Mill auch die Schwächen und Gefahren der Repräsentativregierung. Siehe dazu John Stuart Mill, Betrachtungen über die Repräsentativregierung, editorisch bearbeitet, mit einem Nachwort versehen und hrsg. v. Hubertus Buchstein/Sandra Seubert, Berlin 2013, insbesondere S. 94–111. Auch BüdR, AW, Band 4, S. 303–579. 14 Vgl. ÜdF, AW, Band 3.1, S. 310, insbesondere die Fußnote. Hier wird Mills geistige Nähe zu Alexis de Tocqueville deutlich, der mit seinen Gedanken zum Phänomen der Massendemokratie einer der Wegbereiter des politischen Liberalismus ist. Zur Beziehung zwischen Tocqueville und Mill siehe Hubertus Buchstein/Siri Hummel, »Demokratietheorie und Methode. Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill«, in: Harald Bluhm/Skadi Krause (Hg.), Alexis de Tocqueville: Analytiker der Demokratie, Paderborn 2016, S. 225–259. 12 13

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Über die Freiheit des Individuums und die Grenzen des Staates

aufmerksam, dass dies nicht der einzige Gesichtspunkt ist, es kommt nämlich genauso häufig vor, dass die Gesellschaft als Ganzes zum Despoten wird, indem sie entweder falsche Vorschriften erlässt oder sich in Angelegenheiten einmischt, die nicht das öffentliche, sondern das private Leben betreffen. Während wir es im ersten Fall mit einer Tyrannei des Staates zu tun haben, handelt es sich im zweiten Fall um eine Einmischung sozialer Art. Unter sozialer Tyrannei versteht Mill den Versuch der Mehrheit, das individuelle Streben zu hemmen, um den Einzelnen mit den Interessen des Kollektivs in Einklang zu bringen, wobei dies weniger durch Strafe als durch Druck geschieht. Das Gefährliche daran ist, so Mill, dass die soziale Autorität selbst vor privaten Haushalten nicht zurückschreckt. Indem die Massen ihre Meinungen als absolute Wahrheiten verkaufen und den Einzelnen zur Zustimmung auffordern, dringen sie tief ins Privatleben der Menschen ein und formen auf diese Weise ihren Charakter. Für Mill steht daher fest, dass der Schutz vor staatlicher Willkürherrschaft nicht ausreicht, die Bürger müssen auch vor der sozialen Tyrannei der Mehrheit geschützt werden, nicht zuletzt deshalb, weil sie das Potenzial des heroischen Individualismus erstickt. Kurzum: »Es gibt eine Grenze für die legitime Einmischung der kollektiven Meinung in den Bereich individueller Unabhängigkeit« 15 ; und die einzige Frage ist, wo diese Grenze gezogen und welches Prinzip dabei angewendet werden soll. Der Zweck der Freiheitsschrift besteht demzufolge darin, ein einfaches Prinzip aufzustellen, das nicht nur den Umgang der Gesellschaft mit dem Einzelnen regelt, sondern auch bestimmt, welche kollektiven Einmischungen in die individuelle Lebensführung legitim und welche zu unterlassen sind. »Dieses Prinzip lautet, dass der einzige Zweck, der die Mehrheit berechtigt, vereinzelt oder vereinigt, jemandes Handlungsfreiheit zu beeinträchtigen, der Selbstschutz ist; dass der einzige Zweck, der rechtfertigt, Macht über irgendein Mitglied einer zivilisierten Gemeinschaft gegen seinen Willen auszuüben, der ist, die Schädigung anderer zu verhüten.« 16 Dieser Grundsatz bezieht sich allerdings nur auf Handlungen, die andere betreffen. ÜdF, AW, Band 3.1, S. 311; vgl. dazu auch Hans Peter Bull, »Über die Grenzen der Autorität der Gesellschaft über das Individuum«, in: Harms (Hg.), ›Über Freiheit‹. John Stuart Mill und die Politische Ökonomie des Liberalismus, a. a. O., S. 54–69. 16 ÜdF, AW, Band 3.1, S. 316; siehe dazu auch Frauke Höntzsch, »John St. Mills Konzept komplexer negativer Freiheit als Alternative zum Wohlfahrtsstaat«, in: dies. (Hg.), John Stuart Mill und der sozialliberale Staatsbegriff, Stuttgart 2011, S. 63–80. 15

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Einleitende Bemerkungen

Das Individuum kann nicht gezwungen werden, eine bestimmte Handlung auszuführen, nur weil die Mehrheit der Meinung ist, dass dieses Verhalten sie glücklicher machen würde. Dasselbe gilt für Ansichten, von denen die Gemeinschaft überzeugt ist, dass sie geistreicher oder moralischer sind als andere. Laut Mill sind dies zwar alles Fälle, um jemandem Vorwürfe zu machen oder mit ihm zu diskutieren, aber sie rechtfertigen zu keinem Zeitpunkt einen Eingriff des Kollektivs ins Privatleben. Eine Einmischung der Gemeinschaft ist nur dann legitimiert, wenn sich zeigt, dass die Handlung einem anderen Schaden zufügt. Die Gründe für die gesellschaftliche Etablierung allseitig anerkannter Verhaltensmaßstäbe finden sich demzufolge weder in der Gewohnheit der Individuen noch ihren persönlichen Neigungen und Abneigungen, sondern allein in der menschlichen Vernunft. Interessant ist, dass Mill das Freiheitsprinzip mit der kantischen Idee der Mündigkeit verknüpft, indem er darauf hinweist, dass Kinder, junge Leute und alte Menschen den formulierten Grundsatz nicht für sich in Anspruch nehmen können: »Wer sich noch in einem Zustand befindet, in dem andere für ihn zu sorgen haben, muss vor den Folgen seiner eigenen Handlung ebenso wie vor äußerer Unbill bewahrt werden.« 17 Dasselbe gilt für unzivilisierte und halbzivilisierte Gesellschaften, nicht zuletzt deshalb, weil es bei diesen Formen des Zusammenlebens notwendig sein kann, zunächst eine gewisse Form der Gewaltherrschaft zu errichten, um eine Entwicklung im Sinne der Zivilisation zu veranlassen; »ein Herrscher, den der Geist des Fortschritts erfüllt, ist wohl berechtigt, jedes Mittel zu ergreifen, um ein Ziel zu erreichen, das sonst vielleicht unerreichbar wäre« 18 . Das Prinzip der Freiheit findet nur dort seine Anwendung, wo die Menschen bereits die Fähigkeit erlangt haben, sich durch demokratischen Meinungsaustausch weiterzuentwickeln. Während der Liberalismus sich zur Begründung der Freiheit in der Regel auf das Naturrecht bezieht, macht Mill deutlich, dass die letzte Instanz in allen moralischen Fragen für ihn das Nützlichkeitsprinzip ist; dies bedeutet aber auch, dass er bereitwillig auf jeden Vorteil verzichtet, der sich aus einer Argumentation ergeben könnte, die das Prinzip des größten Glücks unberücksichtigt lässt. Unter Nutzen möchte Mill die auf die Entwicklung abzielenden Interessen des Men17 18

ÜdF, AW, Band 3.1, S. 316 f. Ebd., S. 317.

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schen im Rahmen eines autonom geführten Lebens verstanden wissen. »Diese Interessen, so behaupte ich, rechtfertigen die Unterwerfung der individuellen Selbstbestimmung unter äußeren Zwang nur in Betreff jener Handlungen, welche das Wohl anderer berühren.« 19 Neben Verhaltensweisen, die andere direkt schädigen, gibt es eine ganze Reihe von Handlungsweisen »zugunsten anderer, zu denen jemand rechtmäßigerweise verpflichtet werden kann« 20 . Dazu gehört nicht nur die Rettung anderer Menschen aus einer Notsituation, sondern auch das Zeugnisablegen vor einem Gericht oder der Schutz von Wehrlosen vor Misshandlungen. 21 In allen diesen Fällen sind wir zur Hilfeleistung verpflichtet und können von der Gesellschaft zur Rechenschaft gezogen werden, wenn wir die gebotene Handlung unterlassen. Diese Sichtweise impliziert, dass man nicht nur durch Handeln, sondern auch durch Unterlassen anderen schaden kann. Obwohl Mill darauf hinweist, dass man in beiden Fällen für den entstandenen Schaden verantwortlich ist, macht er dennoch einen Unterschied zwischen einer Handlung, die jemandem direkt Schaden zufügt und einer Handlung, die Schaden verhindern soll. Zwar ist in beiden Fällen gesellschaftlicher Zwang gerechtfertigt, aber dieser sollte bei Unterlassungen durchaus vorsichtiger angewendet werden. »Verantwortung für den Schaden den man anrichtet, ist die Regel; Verantwortung für den Schaden, den man zu verhüten versäumt, im Vergleich dazu die Ausnahme.« 22 Ebd., S. 318. Hier taucht sogleich die Schwierigkeit auf, ob das Nützlichkeitsprinzip und das Freiheitsprinzip sich wechselseitig ausschließen oder ergänzen. Michael Schefczyk und Dominique Kuenzle vertreten in diesem Zusammenhang die überzeugende These, dass dieses Problem sich auflöst, wenn man berücksichtigt, dass sich beide Grundsätze auf unterschiedlichen theoretischen Ebenen bewegen: »Das Nutzenprinzip ist kein Bestandteil des gesellschaftlichen Normensystems, sondern dessen Rechtfertigungsgrundlage. Es ist ein erstes Prinzip. Das Freiheitsprinzip ist dagegen ein sekundäres Prinzip von Recht und Moral. Es sagt etwas darüber aus, was Bürger (innen) und Gesetzgeber(innen) moralisch erlaubt ist. Dies tut das Nutzenprinzip nicht. Nur bei Konflikten zwischen gerechtfertigten sekundären Prinzipien wird es direkt angewendet und zeigt der handelnden Person, welchem der widerstreitenden Prinzipien sie folgen soll. Weil Nutzen- und Freiheitsprinzip nicht auf derselben theoretischen Ebene angesiedelt sind, können sie sich nicht widersprechen.« Kuenzle/ Schefczyk, John Stuart Mill zur Einführung, a. a. O., S. 185; auch Michael Schefczyk, »Das John-Stuart-Mill-Problem«, in: Höntzsch (Hg.), John Stuart Mill und der sozialliberale Staatsbegriff, a. a. O., S. 27–42 20 ÜdF, AW, Band 3.1, S. 318. 21 Vgl. ebd. 22 Ebd. 19

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Vom Recht der freien Rede

Nun gibt es aber auch einen Bereich des Handelns, an dem die Öffentlichkeit nur ein mittelbares Interesse hat; die Rede ist von Handlungen, die allein die Privatperson betreffen. Allerdings macht Mill zugleich eine Einschränkung, wenn er darauf aufmerksam macht, dass der Bereich individueller Freiheit zwei Seiten hat, denn einerseits umfasst die private Lebensführung Aspekte, die ausschließlich das Individuum selbst betreffen, andererseits gibt es aber auch Gesichtspunkte, die durchaus das Interesse anderer berühren können, obwohl sie privater Natur sind. Dies gilt insbesondere für das Recht, seine Meinung frei zu äußern und zu veröffentlichen; andere Bereiche dagegen sind stärker um den privaten Wirkungskreis zentriert, wie das eigene Bewusstsein, das Gewissen, die Freiheit des Denkens und des Urteilens sowie letztlich alle Angelegenheiten, die praktischer, philosophischer, wissenschaftlicher, sittlicher und theologischer Art sind. 23 Daneben gibt es noch weitere Aspekte, die ausschließlich das Individuum selbst betreffen. Mill verweist in diesem Zusammenhang nicht nur auf das Recht der individuellen Lebensführung, sondern macht auch auf das Recht der Vereinigung aufmerksam, welches es den Menschen erlaubt, sich zum Zwecke der gemeinsamen Interessensvertretung zu versammeln, solange dabei niemand zu Schaden kommt. »Keine Gesellschaft, in der diese Freiheiten nicht im Ganzen genommen geachtet sind, ist frei, ganz gleich, wie ihre Regierungsform beschaffen ist; und keine ist völlig frei, in der sie nicht unbeschränkt und unbedingt gelten.« 24 Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass Mill sich im zweiten Kapitel der Freiheitsschrift zunächst der Verteidigung der Denk- und Redefreiheit zuwendet.

2.

Vom Recht der freien Rede

Obwohl Mill am Anfang seiner Ausführungen den Hinweis gibt, dass in den Verfassungsstaaten der Neuzeit nur noch in Ausnahmefällen mit einer tyrannischen Beschränkung der Pressefreiheit zu rechnen ist, macht er darauf aufmerksam, dass er jede Form paternalistischer Kontrolle grundsätzlich zurückweist, weil kein Staat das Recht hat, sich in den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung einzumischen, 23 24

Vgl. ebd., S. 319. Ebd., S. 320.

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gleichgültig, welche politischen Interessen er zu verteidigen sucht. »Die beste Regierung hat nicht mehr Anspruch darauf als die schlechteste.« 25 Er begründet diese Auffassung mit dem Argument, dass die Beschränkung einer Meinung sich zu keinem Zeitpunkt darin erschöpft, dass die betreffende Person einen privaten Schaden erleidet; die Unterdrückung einer Meinung ist vielmehr eine Art kollektiver Raub, welcher nicht nur zu Lasten der gegenwärtigen, sondern auch der zukünftigen Generation geht, denn ist die unterdrückte Meinung richtig, nimmt man den Individuen die Möglichkeit, »Irrtum durch Wahrheit zu ersetzen; ist sie unrichtig, so verlieren sie, was fast ebenso wertvoll ist, die deutlichere Auffassung und den lebendigeren Eindruck der Wahrheit, die aus der Konfrontation mit dem Irrtum entspringen« 26 . Auch eine falsche Meinung hat demzufolge ihre Berechtigung im öffentlichen Diskurs. 27 Der bloße Hinweis darauf, dass sie keinerlei Wahrheitswert transportiert, reicht nicht aus, um sie dem gesellschaftlichen Bewusstsein zu verbieten. Mill verteidigt die Meinungsfreiheit mit einer Reihe von Argumenten, die im Folgenden nachvollzogen werden sollen. Zum einen ist es möglich, dass die Meinung, die von der Staatsgewalt unterdrückt wird, wahr ist, wobei diejenigen, die ihre öffentliche Verbreitung bekämpfen, wissen, dass sie wahr ist. Gleichzeitig ist es aber nicht der Fall, dass diejenigen, welche die Meinung unterdrücken, über jeden Zweifel erhaben sind. An dieser Stelle wird deutlich, dass Mill eine Anthropologie vertritt, die von der Unvollkommenheit des Menschen ausgeht, was insofern konsequent ist, als dass Ebd., S. 324. Ebd., S. 324 f. 27 »Am Schutz falscher Meinungen zeigt sich, wie weit Mill in On Liberty vom Ansatz seines Vaters und von seinen eigenen früheren Überlegungen abrückt. Beide hatten aus wahrheitsfunktionalen Gründen für eine Publikationsfreiheit argumentiert, die eine verlässliche output-Qualität erzeugt. Man füttere den Mechanismus der Pressefreiheit mit wahren und falschen Aussagen, und als Resultat werden sich zunehmend wahre Auffassungen ergeben. Eine solche Auffassung ist verwundbar gegenüber dem Einwand, auf die Meinungsfreiheit ließe sich dort verzichten, wo es alternative, etwa von Experten durchgeführte Verfahren der Wahrheitsfindung gibt. Mills Verteidigung falscher Meinungsäußerungen in On Liberty zeigt dagegen, dass er sich nicht auf bloß wahrheitsfunktionale Rechtfertigung der Äußerungsfreiheit verlässt. Es ist der Wert geistiger Auseinandersetzung als solcher, die ihn jede Privilegierung wahrer Meinungen vermeiden lässt.« Peter Niesen, »Über die Freiheit des Denkens und der Diskussion«, in: Michael Schefczyk/Thomas Schramme (Hg.), John Stuart Mill: Über die Freiheit, Berlin/Boston 2016. S. 39. 25 26

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er das Individuum als ein Wesen begreift, das zur Veränderung und zum Fortschritt fähig ist. Wenn wir aber Meinungen unterdrücken, die unseren eigenen Ansichten widersprechen, impliziert dies, dass wir unsere Wahrheiten als absolut ansehen: »Aller Meinungszwang schließt den Anspruch auf Unfehlbarkeit in sich.« 28 Allerdings ist leicht einzusehen, dass vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Fehlbarkeit des Menschen keine absolute Gewissheit zu haben ist. Damit aber verliert die autoritäre Meinungsunterdrückung ihre unrechtmäßige Rechtmäßigkeit. Leider hat diese spekulative Einsicht nur wenig Einfluss auf das praktische Leben, denn obwohl die Menschen im Allgemeinen wissen, dass sie fallibel sind, halten es nur wenige für angebracht, ihre natürlichen Unzulänglichkeiten zu reflektieren; insbesondere politische Herrscher, die im Volk hohes Ansehen genießen, sind daran gewöhnt, dass die Richtigkeit ihrer Meinung nicht in Frage gestellt wird. Aber auch der gemeine Bürger stellt in der Regel nicht die Standpunkte und Anschauungen zur Diskussion, die seine direkte Lebenswelt betreffen, nicht zuletzt deshalb, weil sie von seinem sozialen Umfeld geteilt werden und die Gemeinschaft im Inneren zusammenhalten. »Und die Welt bedeutet jedem den Teil derselben, mit dem er in Berührung kommt: seine Partei, seine Kirche, seine Sekte oder gesellschaftliche Klasse« 29 . Allerdings ändern diese Phänomene nichts an der Tatsache, dass in jedem Zeitalter Meinungen im Umlauf sind, die zwar für wahr gehalten werden, tatsächlich aber falsch sind; »und es ist nicht minder gewiss, dass viele jetzt allgemeine Meinungen in zukünftigen Zeitaltern verworfen werden, als dass viele Meinungen einst allgemein waren, die vom jetzigen verworfen worden sind« 30 . Wenn es aber neben wahren auch falsche Meinungen gibt, wäre es dann nicht besser, alle irrtümlichen Lehren zu verbieten, weil sie andere Menschen gefährden? Dieser Kritik begegnet Mill zunächst mit dem Argument, dass aus dem Umstand, dass der Mensch seine Urteilsfähigkeit gelegentlich falsch gebraucht, nicht geschlossen werden darf, dass er sie überhaupt nicht gebrauchen sollte. 31 Aber dies ist nicht der einzige Grund, weshalb die Auffassung vom Verbot falscher Meinungen zurückzuweisen ist. Während die Kritiker argumentie28 29 30 31

ÜdF, AW, Band 3.1, S. 325. Ebd. Ebd., S. 326. Vgl. ebd.

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ren, dass es geradezu eine gesellschaftliche Pflicht ist, irrige Ansichten zu verbieten, wenn man sich Gewissheit darüber verschafft hat, dass die eigene Auffassung wahr ist, gibt Mill zu bedenken, dass es einen Unterschied macht, »ob wir eine Meinung als wahr voraussetzen, weil sie bei aller Gelegenheit der Erörterung und Bestreitung nicht widerlegt worden ist, oder ob wir ihre Wahrheit zu dem Zweck annehmen, ihre Widerlegung nicht zu gestatten« 32 . Nicht die persönliche Sicherheit über den vermeintlichen Wahrheitswert eines Standpunktes ist demzufolge das entscheidende Kriterium, sondern die Freiheit, Meinungen zu widersprechen und zu widerlegen. Es gehört zu Mills fundamentalsten Überzeugungen, dass das Individuum nur unter den Bedingungen demokratischer Verständigung zu einem begründeten Vertrauen in die Richtigkeit seiner eigenen Überzeugungen gelangt. 33 Es ist erkennbar, dass vor diesem Hintergrund ein Schutz vor falschen Meinungen durch ein präventives Verbot nicht zu haben ist, ganz gleich, wie schädlich die Überzeugung ist; die freie Urteilsbildung steht höher als die tyrannische Durchsetzung der persönlich für wahr befundenen Meinung. Dass es bei so viel menschlicher Unvollkommenheit um die Gesellschaften nicht schlechter steht, liegt vor allem daran, dass der Mensch über die Fähigkeit verfügt, seine Irrtümer durch Erfahrung und Erörterung zu korrigieren. Mill legt großen Wert darauf, dass Erfahrung allein nicht ausreicht, um zu einer Haltung zu gelangen, die sich im alten Verhalten nicht mehr wiederfindet. Der Erörterung kommt in diesem Zusammenhang eine herausragende Stellung zu, weil sie darüber entscheidet, wie die Erfahrung zu deuten ist. Erfahrung ohne Deutung hingegen ist unreflektiertes Sammeln von Informationen, das zu keinerlei Veränderung des Verhaltens führt. »Tatsachen und Beweise müssen, wenn sie eine Wirkung tun sollen, vor das Bewusstsein gebracht werden« 34 . Allerdings ist der Vorgang des Nachdenkens an Bedingungen geknüpft; so ist das Urteil eines Menschen beispielsweise nur dann vertrauenswürdig, wenn es im gesellschaftlichen Verkehr nach allen Seiten hin kritisch geprüft worden ist und sich im Allgemeinen als standhaft erwiesen hat, derart, dass es Ebd., S. 327. Vgl. ebd. Siehe hierzu auch Dirk Lüddecke, »Better to be a Pericles… : Individuum und moderne Gesellschaft – ein Spannungsverhältnis im Spiegel der Wissenschaftstheorie und politischen Theorie J. St. Mills«, in: Höntzsch (Hg.), John Stuart Mill und der sozialliberale Staatsbegriff, a. a. O., S. 15–26. 34 ÜdF, AW, Band 3.1, S. 328. 32 33

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seinen Wahrheitsanspruch gegenüber anderen Meinungen verteidigen konnte. Es ist evident, dass eine Gesellschaft, die keine Voraussetzungen für einen demokratischen Meinungsaustausch schafft, vor diesem Hintergrund dem Irrtum und nicht der Wahrheit dient. Das Urteil eines Menschen kann nur auf einem einzigen Weg Vertrauen erlangen, nämlich dadurch, dass die Person zu jedem Zeitpunkt offen für Kritik ist, sich alle abweichenden Meinungen anhört und vor sich selbst Rechenschaft über ihre eigenen Gedanken ablegt. Die Wahrheit kann nur auf der Grundlage des gesellschaftlichen Miteinanders gefunden werden. »Kein Weiser hat seine Weisheit jemals auf einem anderen Weg gewonnen, und es liegt nicht in der Natur des menschlichen Wesens, sie anders zu gewinnen.« 35 Mill untermauert seine Argumentation, indem er in diesem Zusammenhang auf die römisch-katholische Kirche aufmerksam macht, die, obwohl sie als wenig liberal gilt, bei der Heiligsprechung einen ›Anwalt des Teufels‹ zulässt, damit alles gehört wird, was gegen die Person angeführt werden kann. 36 So wie das Heilige sich nur im Angesicht der Schuld zeigt, so gewinnt die Wahrheit offenbar nur Zutrauen durch die Auseinandersetzung mit dem Irrtum. Nun gibt es in jeder Gesellschaft aber Menschen, welche die Auffassung vertreten, dass gewisse Glaubenssätze für das allgemeine Wohl so wichtig sind, dass es geradezu die Pflicht der Regierenden ist, diese um jeden Preis aufrechtzuerhalten, ganz gleich, ob sie wahr oder falsch sind. Bei dieser Art der Argumentation geht es nicht um den liberalen Vorgang der Wahrheitsfindung, sondern um die Frage, was für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung von Nutzen ist. Die Begriffe Wahrheit und Nützlichkeit werden hier gegeneinander ausgespielt. Diese Sichtweise hält Mill aber für einen Irrtum, weil es seiner Ansicht nach unmöglich ist, den sozialen Nutzen eines Glaubenssatzes unabhängig von dessen Wahrheit zu verhandeln. »Die Wahrheit einer Meinung ist ein Teil ihrer Nützlichkeit.« 37 Es besteht kein Zweifel daran, dass die Unterdrückung einer anderen Meinung, auch wenn sie falsch ist, grundsätzlich zu unterlassen ist, auch, weil selbst die Begabtesten unter uns fehlbar sind. Um seine These zu untermauern bezieht Mill sich auf Sokrates, Jesus 35 36 37

Ebd. Vgl. ebd., S. 329. Ebd., S. 331.

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und Marc Aurel. Während die ersten beiden wegen ihrer Meinung von der Geschichte zum Tode verurteilt worden sind, ordnete Marc Aurel, der ohne Zweifel einer der tugendhaftesten Herrscher seiner Zeit war, die Verfolgung der Christen an, weil er der Auffassung war, dass die Ausbreitung des Christentums der gesellschaftlichen Ordnung schaden würde. Mit diesen Beispielen möchte Mill sagen, dass es ein folgenschwerer Fehler ist, fremde Meinungen zu unterdrücken. Zwar müssen wir uns auf unser Urteil verlassen, aber unsere persönliche Gewissheit rechtfertigt nicht die Unterdrückung von Ansichten, die wir vor dem Hintergrund unserer eigenen Auffassungen als falsch identifiziert haben. Auch die Anschauung, dass die Verfolgung einer Wahrheit rechtmäßig ist, weil sie dadurch keinen Schaden nimmt, ist in den Augen Mills ein Irrglaube. »Das Diktum, Wahrheit triumphiere stets über Verfolgung, ist eine jener gefälligen Unwahrheiten, die einer dem anderen nachredet, bis sie zu Gemeinplätzen werden, die jedoch alle Erfahrung widerlegt.« 38 Obwohl die Vertreter moderner Meinungen in den neuzeitlichen Gesellschaften nicht mehr um ihr Leben fürchten müssen, gibt es noch immer Gesetze, die den Menschen empfindliche Strafen auferlegen, wenn es zu einer Aussage kommt, die der herrschenden Auffassung widerspricht. 39 Neben den Strafen ist es aber vor allem die Stigmatisierung, auf die Mill aufmerksam macht, weil sie den Einzelnen aus der Gemeinschaft ausgrenzt und den öffentlichen Meinungsaustausch behindert. »Das größte Leid wird jenen zugefügt, die keine Ketzer sind, deren gesamte geistige Entwicklung aber gehemmt und deren Vernunft eingeschüchtert wird durch die Furcht vor Ketzerei.« 40 Ein gesellschaftliches Klima, in dem jeder freie Meinungsaustausch bereits im Keim erstickt wird, erschwert nicht nur die individuelle Wahrheitsfindung, sondern bremst auch den zivilisatorischen Fortschritt im Ganzen. Während Mill im ersten Teil seiner Ausführungen von der Arbeitshypothese ausgegangen ist, dass die vertretene Meinung falsch sein könnte, geht er in einem zweiten Schritt dazu über zu untersuchen, welche Art und Weise vertreten wird, wenn die hergebrachte Ebd., S. 337. »Im Jahr 1857 wurde vor dem Sommerschwurgericht der Grafschaft Cornwall ein unglücklicher, in allen Lebensbeziehungen, wie es heißt, völlig untadelhafter Mann zu einundzwanzig Monaten Gefängnis verurteilt, weil er einige beleidigende Worte über das Christentum ausgesprochen und an ein Tor geschrieben hatte.« Ebd., S. 339. 40 Ebd., S. 344. 38 39

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Überzeugung richtig ist, wobei er darauf aufmerksam macht, dass eine Meinung, selbst wenn sie wahr ist, ein »totes Dogma« 41 bleibt, solange sie nicht im öffentlichen Raum erörtert worden ist. 42 Zunächst diskutiert er den wohl geläufigsten Fall, dass es eine Klasse von Menschen gibt, die keinen Einspruch erheben wird, wenn jemand ihrer wahren Meinung zustimmt, ohne die Gründe, welche für diese Überzeugung sprechen, im Einzelnen geprüft zu haben. Gegen diesen Standpunkt wendet Mill allerdings ein, dass das Individuum dadurch im Zustand der Unmündigkeit gehalten wird, weil weder sein Verstand noch sein Urteilsvermögen angesprochen wird. Will man diese Anlagen des Menschen hingegen ausbilden, gelingt dies am besten dadurch, dass man die Einsicht in die Gründe seiner eigenen Meinungen fördert, da diese dem Individuum am nächsten sind: »Wenn irgendetwas vor allen anderen Dingen zur Ausbildung des Verstandes beiträgt, dann sicherlich die Einsicht in die Gründe unserer eigenen Meinungen.« 43 Mill spricht hier von einer charakterformenden Herausforderung, die mit einer bloßen Belehrung über die Gründe einer Meinung nichts zu tun hat. Die Gründe seiner eigenen Ansichten zu kennen, hat darüber hinaus den Vorteil, dass es leichter fällt, die Motive der Meinungen zu ergründen, die unsere Gegner vertreten. Die Fähigkeit, andere Menschen zu verstehen, hängt im hohen Maße davon ab, wie gut wir uns selbst verstehen. Dass Mill großen Wert darauf legt, dass der Mensch sich umfassend mit den ihn umgegebenen Überzeugungen auseinandersetzt, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er die Auffassung vertritt, dass es nicht ausreicht, die Argumente von einem Lehrer zu hören. »Er muss in der Lage sein, sie von Personen zu hören, die tatsächlich an sie glauben, die sie im Ernst verteidigen und ihr Äußerstes dafür geben.« 44 Ein Kritiker könnte hier nun einwenden, so Mill, dass jene Dinge zwar einleuchtend sind, für den Menschen im Allgemeinen aber gar keine Notwendigkeit besteht zu wissen, welche Gründe einer Meinung im Einzelnen zugrunde liegen und welche Argumente gegen diese und jene Überzeugung angeführt werden können; es reiche vollkommen, wenn die Philosophen und Theologen sich mit diesen 41 42 43 44

Ebd., S. 346. Vgl. ebd. Ebd., S. 347. Ebd., S. 348.

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Fragen beschäftigen. 45 Diese Kritik stellt aber keinen wirklichen Einwand dar, weil sie vollkommen im Einklang steht mit der Auffassung vom freien Meinungsaustausch. Das Individuum sollte stets im Besitz einer Meinung sein, die im gesellschaftlichen Austausch kritisch auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersucht worden ist, auch wenn diese Art des meinungsbezogenen Vorgehens in der Regel auf den Kreis der akademisch Gebildeten beschränkt bleibt. Ein weiterer Kritikpunkt, der sich gegen die Meinungsfreiheit richtet, besagt, dass die Unterlassung der Erörterung der Gründe einer Meinung keinerlei Einfluss auf ihren Wahrheitsgehalt hat und deshalb die Kultivierung des individuellen Charakters nicht verhindert. Diesen Einwand entkräftet Mill mit dem Argument, dass das Fehlen der freien Diskussion nicht nur dazu führt, dass das Individuum über die Gründe der Meinung in Unkenntnis gelassen wird, sondern dass mit der Abwesenheit der Gründe auch die Bedeutung der Überzeugung verloren geht. »Die Worte, die sie zum Ausdruck bringen, hören auf, Ideen anzuregen, oder inspirieren nur zu einem kleinen Teil die Ideen, die sie ursprünglich mitzuteilen bestimmt waren.« 46 Dieser Standpunkt wird durch die historische Tatsache gestützt, dass fast alle religiösen und ethischen Lehren ihre Vitalität aus dem Umstand gezogen haben, dass sie ihre Prinzipien gegen andere Überzeugungssysteme verteidigen mussten; ein Ausbleiben dieses Kampfes um die Vorherrschaft des besseren Arguments hat hingegen regelmäßig dazu geführt, dass die Menschen alles von ihrem Glauben vergessen haben, was sich nicht in Regeln und Vorschriften bekunden lässt. 47 Mill geht offenbar davon aus, dass es vor allem der freie Meinungsaustausch ist, der eine Lehre am Leben hält und ihre Anhänger zu glühenden Mitstreitern macht. Sobald der Disput der Gründe aber ad acta gelegt ist, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Verbreitung der einst so vielfach besprochenen Meinungen an ihr Ende kommt. An die Stelle der aktiven Wahrheitssuche tritt dann häufig ein bloßes Konsumieren von Lehrmeinungen, dessen ganze geistige Tiefe sich darin erschöpft, dass man zu den entsprechenden Veranstaltungen seiner Glaubensgemeinschaft geht, um sich die eigene Tugendhaftigkeit zu beweisen. Als Beispiel führt Mill die Christen an, welche die Gebote des neuen Testaments zwar anerkennen, ihr 45 46 47

Vgl. ebd., S. 349. Ebd., S. 351. Vgl. ebd., S. 351 f.

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Leben aber kaum tiefgreifend an diesen ausrichten. Obgleich die Gläubigen über den Inhalt der Bibel in der Regel gut unterrichtet sind, folgt ihr Handeln den Maximen nur bis zu dem Punkt, an dem ihr eigenes Leben durch die Einhaltung der Gebote eine Einschränkung erfährt. »Wann immer die Lebensführung betroffen ist, sehen sich die Menschen nach Herrn A. und Herrn B. um, um sich von ihnen anweisen zu lassen, wie weit man im Gehorsam gegenüber Christus zu gehen hat.« 48 Dass sich das Christentum kaum über die Grenzen Europas hinaus verbreitet hat, liegt für Mill nicht zuletzt daran, dass das lebendige Gefühl des Glaubens, das früher gegenüber anderen Meinungen stets verteidigt werden musste, im gegenwärtigen Zeitalter zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Im Übrigen ist dieses Phänomen nicht auf das Christentum beschränkt, es gilt für alle überlieferten Lehren, die auf die Menschen eine gewisse Anziehungskraft ausüben; dabei ist es völlig gleichgültig, ob sie religiöser oder moralischer Natur sind, stets lässt sich beobachten, dass sie ihre sozialen Bindungskräfte verlieren, sobald die freie Diskussion der Meinungsgründe unterdrückt wird. Zwar ist es richtig, dass es viele Wahrheiten gibt, die nicht allein durch Diskussion verstanden werden können, sondern zusätzlich der Erfahrung bedürfen, aber auch diese hätten sich »dem Geist viel tiefer eingeprägt, wenn der Betreffende daran gewöhnt gewesen wäre, deren Pro und Contra von Leuten erörtert zu hören, die sie verstehen« 49 . Bis zu dieser Stelle hat Mill die These vertreten, dass der Meinungsaustausch notwendig ist, damit die Menschen nicht im Irrtum leben, sondern in den Besitz wahrer Erkenntnis gelangen. Ein Kritiker könnte an dieser Stelle einwenden, dass das Argument der freien Diskussion nur so lange gilt, wie das Menschengeschlecht die »Anerkennung aller wichtigen Wahrheiten« 50 noch nicht erreicht hat; ist sie aber einmal erreicht, kann der Streit der Standpunkte beendet werden. Mit anderen Worten: Ist die Gesellschaft in Gewissheit vereint, kann die Wahrheitssuche aufgegeben werden. Aber selbst wenn es zu den natürlichen Phänomen des zivilisatorischen Fortschritts gehört, dass es in den modernen Gesellschaften immer mehr Wahrheiten gibt, die unangefochten sind, kann daraus nicht geschlossen wer48 49 50

Ebd., S. 353 f. Ebd., S. 355. Ebd., S. 356.

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den, den freien Austausch der Meinungen abzuschaffen, zumal völlig unklar ist, was an ihre Stelle treten soll. Mill geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er behauptet, dass bislang nicht nur kein neues Arbeitsmittel der Wahrheitssuche gefunden worden ist, sondern dass diejenigen, die es einst besessen haben, es gegenwärtig verloren haben. In diesem Zusammenhang verweist Mill auf die sokratische Dialektik und die scholastischen Disputationen. Beide Verfahren haben sich im Hinblick auf die Wahrheitsfindung als äußerst erfolgreiche Methoden bewährt, weshalb es keinen Grund gibt, sie leichtfertig abzuschaffen; »der moderne Geist verdankt beiden weit mehr, als in der Regel zugegeben wird, und die gegenwärtigen Erziehungsmethoden enthalten nichts, was auch nur im geringsten Maße an die Stelle des einen oder des anderen treten könnte« 51 . Eine weitere Ursache, die für den freien Markt der Meinungen spricht, ist der Umstand, dass eine in der Gesellschaft gebräuchliche Meinung häufig nur zum Teil wahr ist. Während Mill bei seinen Untersuchungen bisher davon ausgegangen ist, dass die anerkannte Meinung entweder falsch oder richtig ist, die Wahrheit also eine der beiden Ansichten eindeutig zugeordnet werden kann, stellt er nun eine dritte Variante vor, nämlich, dass beide Meinungen sich die wahre Erkenntnis teilen, wobei »die nicht übereinstimmende Meinung gebraucht wird, um den Rest der Wahrheit bereitzustellen, der in der anerkannten Lehre nur zu einem Teil enthalten ist« 52 . Diese Auffassung kommt vor allem zum Tragen, wenn es sich um Meinungen handelt, die nicht mit den Sinnen erfasst werden können, einer empirischen Verifikation also nicht zugänglich sind. Abgesehen davon, scheint es in der Geschichte eher die Ausnahme als die Regel zu sein, dass die Wahrheit einer Sache sich in nur einer einzigen Meinung erschöpft. Die Dinge sind in der Regel viel zu komplex, als dass sie sich auf einige wenige Aspekte reduzieren lassen. In diesem Zusammenhang verweist Mill auf die Arbeiten von Rousseau, der mit seinen sozialphilosophischen Schriften die damals vorherrschende Meinung vom gesellschaftlichen Fortschritt in Frage gestellt hat. Nicht, dass seine Auffassung der Gesellschaft wahrer gewesen ist als die der Allgemeinheit, aber in seinen Schriften findet sich ein Teil der Wahrheiten, die der Gemeinschaft gefehlt haben. »Der höhere Wert der Einfachheit des Lebens, der entnervende und 51 52

Ebd., S. 357. Ebd., S. 358.

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demoralisierende Einfluss der Fesseln und Heucheleien einer gekünstelten Gesellschaft sind die Ideen, die kultivierten Geistern niemals gänzlich in Vergessenheit geraten sind, seit Rousseau schrieb.« 53 Dass diese Haltung keine ausgefallene ist, zeigt sich auch daran, dass die Parteienlandschaft einer Gesellschaft im Allgemeinen recht bunt ist, so gibt es keine Partei, die alle Standpunkte zu einem Thema vertritt, die Wahlprogramme reflektieren immer nur eine ganz bestimmte Ansicht und sprechen nur den Teil der Wähler an, der diese Auffassung teilt. Die Parteienvielfalt ist deshalb so wichtig, weil die unterschiedlichen Meinungen verschiedene Seiten der Wahrheit darstellen. 54 Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum Mill sich dafür ausspricht, stets diejenige Meinung zu unterstützen, die unterrepräsentiert ist. »Das ist die Meinung, welche gerade in diesem Augenblick die vernachlässigten Interessen repräsentiert, die Seite menschlichen Wohlergehens, die Gefahr läuft, weniger zu erhalten, als ihr zusteht.« 55 Es ist einsichtig, dass dieser Gedanke auch ein starkes Argument für soziale Gerechtigkeit ist, weil die Ungerechtigkeit häufig damit beginnt, die Stimme der Gerechtigkeit zum Schweigen zu bringen. Gegen diese Ausführungen könnte ein Gegner laut Mill den Einwand vorbringen, dass sich doch gerade die vertrautesten Lehren, wie beispielsweise das Christentum, dadurch auszeichnen, dass ihre Glaubenssätze nicht nur einen Teil, sondern die ganze Wahrheit zu diesem Thema darstellen. Diese Kritik entkräftet er mit dem Argument, dass das Neue Testament niemals als eine in sich geschlossene Morallehre gedacht gewesen ist. Die christliche Heilsbotschaft bezieht sich, so seine Begründung, auf eine Moral, die bereits vorher bestanden hat, wobei die neuen Prinzipien eine Verbesserung derjenigen Grundsätze reflektieren, die korrigiert werden mussten. Auch ist das Neue Testament im hohen Maße interpretationsbedürftig, weil es durch seine Gleichnisse, Sprüche und Aphorismen einen sehr allgemeinen Charakter besitzt und eher an Poesie als an Vorschriften erinnert. Laut Mill ist es niemals möglich gewesen, daraus ein vollständiges Moralsystem abzuleiten, stattdessen musste es beständig durch die Wahrheiten des Alten Testaments ergänzt werden. Diese Argumentation wird durch den historischen Hinweis ge53 54 55

Ebd., S. 360. Vgl. ebd., S. 360 f. Ebd., S. 361.

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stützt, dass selbst der Apostel Paulus seine gottgefälligen Gedanken auf der Grundlage der Moral der Griechen und Römer entfaltet hat. Diesen Umstand nimmt Mill zum Anlass, dafür zu plädieren, nicht von christlicher, sondern von theologischer Morallehre zu sprechen, denn schließlich ist das Evangelium nicht von Christus und seinen direkten Anhängern allein entwickelt worden, sondern wurde von der katholischen Kirche über viele Jahrhunderte ausgebaut, wobei die Glaubenssätze immer wieder verändert und den jeweiligen Interessen angepasst wurden. »Zumeist haben sie sich tatsächlich damit begnügt, die Zusätze zu entfernen, die im Mittelalter beigefügt worden waren, und jede Sekte stellte wiederum unverbrauchte Zusätze bereit, angeglichen an ihren eigenen Charakter und ihre Neigungen.« 56 Obwohl Mill nicht bestreitet, dass die Menschheit dem Christentum viel zu verdanken hat, nicht zuletzt wegen ihrer selbstlosen Aufforderung, sich um die Kranken und Ausgestoßenen zu kümmern, gibt er dennoch zu bedenken, dass die religiöse Morallehre in vielen Punkten unvollendet ist und der Einbeziehung vieler weiterer Ideen bedarf, um sich vollständig zu nennen. Indem die christliche Lehre sich vor allem darauf konzentriert, dem Individuum zu predigen, was es nicht tun soll, anstatt ihm zu sagen, was es tun soll, bleibt sie weit hinter dem zurück, was die antike Tugendlehre zu bieten hat. Mill geht noch einen Schritt weiter und behauptet, dass alle menschliche Wärme weniger aus der religiösen Erziehung stammt als vielmehr aus der menschlichen Natur: »Alle bestehende Großherzigkeit, edle Gesinnung, persönliche Würde, ja selbst der Sinn für Ehre entstammt dem rein menschlichen, nicht dem religiösen Teil unserer Erziehung und hätte niemals aus einem ethischen Prinzip erwachsen können, dessen einziger erklärtermaßen anerkannter Wert der Gehorsam darstellt.« 57 Gleichwohl darf hier nicht der Eindruck entstehen, dass Mill ein entschiedener Gegner der gesamten christlichen Lehre ist. Im Gegenteil: Er ist der Überzeugung, dass die Worte Christi genauso gemeint waren, wie sie von ihm vorgetragen worden sind. Auch sind die positiven Wirkungen des Christentums auf den menschlichen Charakter völlig unbestritten, nicht zuletzt deshalb, weil das Gebot der Nächstenliebe bis heute im hohen Maße zum Frieden in der Welt beiträgt. Aber all diese Aspekte sind für ihn vollkommen mit dem Umstand vereinbar, dass sie nur einen Teil der Wahr56 57

Ebd., S. 362. Ebd., S. 363.

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heit enthalten, während die andere Hälfte in anderen Lehrmeinungen gefunden werden muss. Eine weitere Gefahr, die Mill im Kontext einer einseitigen Betonung des Christentums sieht, besteht darin, dass er befürchtet, dass eine Erziehung, die sich ausschließlich an religiösen Werten und Normen orientiert und alle weltlichen Interessen unberücksichtigt lässt, zu einem Charakter führt, dessen einzige Stärke darin besteht, sich der nächstmöglichen Autorität zu unterwerfen. Um diese Gefahr in den Griff zu bekommen, spricht er sich dafür aus, dass das Christentum durch die Wahrheiten anderer Moralsysteme ergänzt werden muss, denn nur auf diese Weise wird sich die christliche Lehre im Sinne einer »moralische[n] Erneuerung« 58 weiterentwickeln können. »Ich glaube, dass andere ethische Vorstellungen als die, welche aus rein christlichen Quellen heraus entwickelt werden können, Seite an Seite mit der christlichen Ethik bestehen müssen.« 59 Gleichzeitig weist er darauf hin, dass die demokratische Meinungsfreiheit kein Garant dafür ist, dass die Individuen sich auch wirklich mit allen Standpunkten zu einem Thema beschäftigen, die ihnen dargelegten Argumente vorurteilsfrei prüfen und die Ergebnisse mit ihren eigenen Ansichten in Reflexion bringen. Wo immer Menschen von ihren Ansichten überzeugt sind, werden sie diese auch als absolute Wahrheiten vertreten und als solche verteidigen, gerade wenn es sich um einen Charakter handelt, der die freie Rede nicht gewöhnt ist und den die Ungewissheit mit ängstlichem Schwindel erfüllt. Auch werden fremde Meinungen umso heftiger verworfen, wenn sie von persönlichen Feinden vorgetragen werden. Laut Mill besteht immer dann Hoffnung für die Wahrheit, wenn es gelingt, dass die Parteien sich mit dem gesamten Spektrum der Meinungslandschaft auseinandersetzen; »erst wenn sie nur einer Seite Beachtung schenken, passiert es, dass Irrtümer sich zu Vorurteilen erhärten und dass die Wahrheit selbst aufhört, die Wirksamkeit zu haben, weil sie bis hin zur Unwahrheit übertrieben wird« 60 . Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen ist deutlich geworden, dass Mill im Wesentlichen vier Gründe dafür anführt, warum das »geistige Wohlergehen der Menschheit (von dem all ihr anderes

58 59 60

Ebd., S. 364. Ebd. Ebd., S. 365.

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Wohlergehen abhängt)« 61 im hohen Maße von der liberalen Meinungsfreiheit abhängt, nicht zuletzt deshalb, weil sie der Suche nach wahrer Erkenntnis dient. Das erste Argument besagt, dass eine Meinung, die unterdrückt wird, wahr sein kann, wobei diejenigen, die die Meinung unterdrücken, von der Prämisse ausgehen, dass sie unfehlbar sind. Zweitens kann auch eine im Allgemeinen falsche Meinung immer ein Körnchen Wahrheit enthalten, denn selbst wahre Anschauungen enthalten selten die ganze Wahrheit; diese wird erst durch die kritische Auseinandersetzung mit anderen Meinungen gewonnen. Und selbst für den Fall, dass die Meinung wahr ist und sie die ganze Wahrheit verkörpert, gilt drittens, dass diese Auffassung in der Regel ohne die Kenntnis ihrer Gründe vertreten wird; daher lässt sich viertens festhalten, dass diese Auffassung ihre Bedeutung und ihren lebendigen Einfluss auf den menschlichen Charakter verlieren wird, wenn nicht gewährleistet ist, dass sie im öffentlichen Diskurs unter den Bedingungen der freien Rede angefochten werden kann. Abschließend geht Mill noch auf die Vertreter der Meinungsfreiheit ein, die meinen, dass jede Äußerung innerhalb der Auseinandersetzung zwar erlaubt ist, aber nur so lange, wie die Bedingungen fairer Diskussion nicht verletzt werden. Die schwerste Regelverletzung stellt die sophistische Argumentation dar. Diese besteht darin, Fakten und Beweise zurückzuhalten oder Details des zur Diskussion stehenden Falls nicht anzugeben. 62 Eine weitere Verletzung der Regeln findet sich in Beleidigungen, Demütigungen und persönlichen Angriffen. In diesem Zusammenhang macht Mill darauf aufmerksam, dass ein Verbot für derartige Äußerungen sich häufig leider nur auf anerkannte Meinungen bezieht: »Gegen die weniger übliche Meinung dürfen sie nicht nur ohne allgemeine Missbilligung gebraucht werden, sondern wahrscheinlich wird derjenige, der sie gebraucht, noch Lob für ehrenwerten Eifer und rechtschaffene Empörung erhalten.« 63 Den größten Schaden richten allerdings die Herablassungen an, die gegen hilflose Menschen gerichtet sind. Doch welche Regeln sollten im Streitgespräch prinzipiell befolgt werden? Auf diese Frage gibt Mill nachfolgende Antwort: »[M]an zolle jedem die verdiente Ehre, welche Meinung er auch vertreten mag, der die Gelassenheit besitzt zu erkennen, und die Rechtschaffenheit an61 62 63

Ebd., S. 366. Vgl. ebd., S. 367. Ebd.

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Individualität als Element der Wohlfahrt

zusprechen, wie es um seine Gegner und ihre Meinungen wirklich bestellt ist, der nichts übertreibt, um sie zu diskreditieren, nichts zurückhält, was zu ihren Gunsten spricht oder möglicherweise sprechen könnte« 64 .

3.

Individualität als Element der Wohlfahrt

Während Mill im letzten Kapitel die Gründe für die Anerkennung und Durchsetzung der Meinungsfreiheit erörtert hat, geht es ihm nun darum zu prüfen, ob nicht dieselben Gründe auch dafür sprechen, dass Menschen in Freiheit handeln sollten, was nichts anderes bedeutet, als dass sie ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen verwirklichen sollten, »ohne Hemmnisse, seien sie physisch oder moralisch, seitens ihrer Mitmenschen, solange es auf eigenes Risiko und eigene Gefahr geht« 65 . Der letzte Punkt ist besonders wichtig, weil kein Zweifel darüber bestehen kann, dass eine Handlung niemals so frei sein kann wie eine Meinungsäußerung, wobei selbst die Meinung ihr Freiheitsrecht verliert, wenn sie unter Bedingungen geäußert wird, die dazu führen, dass sie als Aufforderung zu einer Straftat verstanden werden kann. Demzufolge kann die Meinungsfreiheit nicht unabhängig vom sozialen Kontext diskutiert werden. Das Recht der freien Rede verliert in dem Moment seine Geltung, in dem andere Individuen durch die Äußerung gefährdet sind; diese Auffassung von der Meinungsfreiheit entspricht vollkommen dem Prinzip der bürgerlichen Freiheit, welches besagt, dass die individuelle Freiheit dort ihre Grenze findet, wo sie andere Menschen schädigt. 66 In diesem Zusammenhang führt Mill das Beispiel an, dass es zwar völlig legitim ist, in der Presse zu verbreiten, dass die Getreidehändler mit ihren hohen Preisen die Armen aushungern, aber die gleiche Aussage muss unter Strafe gestellt werden, wenn sie an eine aufgebrachte Meute gerichtet wird, die sich vor dem Haus eines Getreidehändlers versammelt hat. »Die Freiheit des Individuums muss insoweit begrenzt sein; es darf sich nicht selbst zu einem Ärgernis für

Ebd., S. 368. Ebd., S. 369. Vgl. Christian Schwaabe, »Politische Freiheit und gutes Leben. John Stuart Mills ›teleologischer‹ Liberalismus«, in: Höntzsch (Hg.), John Stuart Mill und der sozialliberale Staatsbegriff, a. a. O., S. 43–62. 66 Vgl. ÜdF, AW, Band 3.1, S. 315 f. 64 65

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andere machen.« 67 Sofern aber jemand sein eigenes Leben nicht zum Schaden anderer Menschen realisiert, gibt es keinen Grund anzunehmen, warum die Freiheit des Handelns nicht mit denselben Argumenten verteidigt werden sollte wie die Freiheit der Rede. Mills Argumentation kulminiert in dem Gedanken, dass es für eine Gesellschaft nicht nur nützlich ist, wenn es verschiedene Meinungen gibt, sondern dass es auch wünschenswert ist, wenn mit verschiedenen Lebensentwürfen experimentiert werden kann. Auf der Grundlage einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung sollte es jedem Menschen offenstehen, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten zu verwirklichen, unterschiedliche Lebensformen auszuprobieren und sie auf ihren persönlichen Wert hin zu prüfen. »Kurz, es ist wünschenswert, dass in den Dingen, die nicht in erster Linie andere betreffen, die Individualität sich Geltung verschaffe.« 68 Obwohl die Individualität ein wichtiges Element des menschlichen Wohlergehens ist, kommt Mill zu dem Schluss, dass die meisten Menschen nur sehr wenig Kenntnis von ihrem Wert besitzen, nicht zuletzt deshalb, weil ihnen mehr daran gelegen ist, sich den Gewohnheiten ihrer Gesellschaft anzupassen. Das Problem liegt infolgedessen weniger in den Mitteln, die zur Förderung der Individualität nötig sind, als vielmehr in der allseitigen Anerkennung derselben als Zweck; »das Übel besteht darin, dass individuelle Spontanität von landläufigem Denken kaum als etwas anerkannt wird, das einen intrinsischen Wert hat oder irgendeine Beachtung um ihrer selbst willen verdient« 69 . Da der Mensch durch sein soziales Umfeld geprägt und sein Charakter ein Spiegelbild der Gesellschaft ist, in der er aufgewachsen ist, sieht er in der Regel keinen Grund, seine eigenen Überzeugungen oder die Werte und Ideale seiner sozialen Gemeinschaft in Frage zu stellen. Ebd., S. 369. Ebd., S. 370. Die soziale Freiheit findet ihren höchsten Ausdruck in der gelebten Individualität. Die Freiheit des Denkens und der Rede sind in diesem Zusammenhang nur die Mittel zur Hervorbringung derselben. Da der Mensch sich aber nicht nur selbst verwirklichen, sondern sich bis zu einem gewissen Grad auch selbst formen kann, lässt sich Freiheit zugleich als Ideal der Abwesenheit von Zwang und als Ideal der Selbstverwicklung verstehen. Vgl. Thomas Schramme, »Das Ideal der Individualität und seine Begründung«, in: Schefczyk/Schramme (Hg.), John Stuart Mill: Über die Freiheit, a. a. O., S. 55–73, hier S. 55. Gleichwohl spricht Mill sich gegen eine »entfesselte Individualität« aus, die im Gegensatz zum gleichermaßen geforderten moralischen Handeln steht. Ebd. S. 56. 69 ÜdF, AW, Band 3.1, S. 370. 67 68

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Individualität als Element der Wohlfahrt

Ein weiterer Grund, warum die Individualität nicht als Element der menschlichen Wohlfahrt anerkannt wird, besteht darin, dass sie vielfach als Störfaktor betrachtet wird. Individualität ist die Anomalie des Kollektivs. Die meisten Menschen haben sich den Sitten und Gebräuchen ihrer Gesellschaft angenähert, sie mögen es im Allgemeinen nicht und reagieren häufig mit ausgrenzendem Spott, wenn man ihre persönliche Lebensart zur Diskussion stellt und sie auffordert, über ihre Meinungen und Überzeugungen einmal Rechenschaft abzulegen. Doch diese Menschen übersehen völlig, so Mill, dass der wahre Zweck des Menschen nicht in der Konformität, sondern in der höchsten und harmonischsten Entwicklung seiner spekulativen Kräfte liegt. 70 Da Mill sich ausdrücklich zum Humboldt’schen Bildungsideal bekennt, kann es nicht verwundern, dass er die Entwicklung der individuellen Geisteskräfte an zwei Bedingungen knüpft: Freiheit und Mannigfaltigkeit der Situationen. 71 Allerdings ist es nicht der Fall, dass Menschen sich durchgängig darum bemühen, andere zu kopieren, stattdessen haben sie ein natürliches Interesse daran, sich von anderen abzugrenzen und ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen. Daher ist das Problem der Individualität lediglich ein graduelles. So wie niemand bestreiten wird, dass die Menschen ihr Leben auf individuelle Weise führen sollten, wird auch niemand die Tatsache in Abrede stellen, dass die Menschen durch ihre Erfahrung gemeinhin wissen, welchen Nutzen die eine oder andere Lebensweise für sie und die Gesellschaft hat. »Allein es ist das Privileg und die eigene Bestimmung eines menschlichen Wesens, das die Reife seiner Fähigkeit erreicht hat, Erfahrung auf seine eigene Weise zu nutzen und zu interpretieren.« 72 Damit möchte Mill sagen, dass es im Hinblick auf die eigene Lebensgestaltung nicht ausreicht, sich auf die Erfahrung der Alten zu verlassen. Die Erlebnisse vorangegangener Jahrgänge sind zwar eine Quelle der Erkenntnis, die auch für die nachfolgenden Generationen ihren Wert haben, aber für den Einzelnen kommt es letztlich darauf an, diese Erfahrung vor dem Hintergrund des eigenen Lebensentwurfs zu deuVgl. ebd., S. 371. Zu den Ursprüngen der Konformität siehe Harriet Taylor »Ursprünge von Konformität (Über Toleranz)«, in: AW, Band 1, S. 319–325. 71 Vgl. AW, Band 3.1, S. 371. Siehe dazu auch Klaus Vieweg (Hg.), Bildung und Freiheit. Ein vergessener Zusammenhang, Paderborn u. a. 2012; auch Lars Osterloh, »Personale Freiheit und Zwang. John Stuart Mills Rezeption von Wilhelm von Humboldts Freiheitsverständnis«, in: Giornale Critico di Storia delle Idee 3 (2011), S. 164–185. 72 ÜdF, AW, Band 3.1, S. 372. 70

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ten, weil die überlieferten Traditionen in erster Linie ein Nachweis dafür sind, was die Erfahrung die älteren Altersgruppen gelehrt hat. Dass Mill großen Wert darauf legt, dass das Individuum seine eigenen geistigen Fähigkeiten ausbildet, zeigt sich auch daran, dass er seine Auffassung mit weiteren Argumenten untermauert. Zum einen könnte die Erfahrung der Alten unvollständig sein, so dass ein Teil der Wahrheit noch gar nicht erkannt worden ist. Zum anderen ist es möglich, dass, obwohl die Erfahrung vollständig ist, sie nicht richtig gedeutet worden ist. Darüber hinaus kann sie zwar richtig bewertet worden sein, erweist sich für den Betroffenen aber als ungeeignet. Und selbst wenn die Überlieferungen sich als nützlich für das Individuum erweisen, »so entwickelt das Anpassen an Gebräuche, rein als Gebräuche, in ihm keine der Qualitäten, welche eine unverwechselbare Gabe eines menschlichen Wesens sind« 73 . Der entscheidende Punkt, auf den Mill mit seiner Argumentation hinaus möchte, ist, dass der Mensch, wenn er sich unreflektiert an die überlieferten Gebräuche seiner Gemeinschaft anpasst, keine eigene Wahl trifft. Er ist dann ein Automat, der mechanisch fremde Werte und Ideale internalisiert, ohne zu überlegen, worin der Wert jener gesellschaftlichen Gepflogenheiten bestehen könnte. Wer dagegen sein Leben in lebendiger Freiheit führt, der bildet alle seine Fähigkeiten aus: »Er muss Beobachtung anwenden, um zu sehen, logisches Denken und Urteilskraft, um vorauszusehen, Aktivität, um Materialien für Entscheidungen zu sammeln, Unterscheidungsvermögen, um sich zu entscheiden, und wenn er eine Entscheidung getroffen hat, Festigkeit und Selbstbeherrschung, um zu seinem wohlüberlegten Entschluss zu stehen.« 74 Niemand bestreitet, dass es wünschenswert ist, wenn jemand seine geistigen Fähigkeiten zum Wohl der Gesellschaft ausbildet, allerdings wird sich Widerstand regen, wenn die Meinung vertreten wird, dass diese Freiheit auch für unsere Wünsche und Triebe gelten sollte, wobei die Kritik sich vor allem auf die Annahme stützt, dass starke Triebregungen gefährlich für die Gemeinschaft sind. Diese Gegenstimme beruht für Mill aber auf einem Missverständnis, denn »starke Antriebe sind nur gefährlich, wenn sie nicht richtig ins Gleichgewicht gebracht werden, wenn eine Reihe von Zielen und

73 74

Ebd. Ebd., S. 373.

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Vorlieben stark entwickelt werden, während andere, die gleichzeitig bestehen sollen, schwach und untätig bleiben« 75 . Menschen handeln nicht deshalb schlecht, weil ihre Triebe stark sind, sondern weil ihr Gewissen schwach ist. Eine Gesellschaft sollte das Augenmerk weniger auf die Bekämpfung der Triebregungen richten als vielmehr auf ihre Kultivierung. Es ist zwar richtig, dass ein Mensch, der mit starken Trieben ausgestattet ist, mehr zum Bösen fähig ist als jemand, dessen Wünsche kraftlos sind, aber aus dem gleichen Grund ist er auch mehr zum Guten fähig: »Energie kann zum Schlechten hin gewendet werden, aber aus einer energischen Natur heraus kann immer mehr Gutes ausgebildet werden als aus einer trägen und passiven.« 76 Da die Triebe nicht nur dafür sorgen, dass das Individuum eigenwillig seine Ziele verfolgt, sondern auch eine wichtige Quelle für Tugendhaftigkeit und Selbstbeherrschung sind, tut eine Gesellschaft gut daran, sich diese Kräfte nutzbar zu machen, nicht zuletzt deshalb, weil durch den heroischen Individualismus der zivilisatorische Fortschritt weiter vorangetrieben wird. Gerade bei den Menschen, die mit einer entschlossenen Natur ausgestattet sind, sprechen wir davon, dass sie Charakter haben. »Jemand, dessen Begierden und Antriebe nicht sein Eigen sind, hat keinen Charakter, ebenso wenig wie eine Dampfmaschine Charakter hat.« 77 Wer also die Meinung vertritt, dass die Triebe im Menschen bekämpft werden müssen, der vertritt laut Mill zugleich die These, dass eine Gesellschaft keine starken Menschen braucht. Die Kritiker haben zwar Recht, wenn sie darauf aufmerksam machen, dass zu starke Naturen ein Ärgernis für die Gesellschaft werden können, wenn es, wie in früheren Zeiten, zu viele Leidenschaften gibt und die Regierung ausschließlich damit beschäftigt ist zu überlegen, wie die Originalität gezähmt werden kann, um das Zusammenleben nicht dauerhaft zu gefährden. Aber laut Mill hat die soziale Realität sich in den letzten Jahren vollkommen verändert, um nicht zu sagen, in ihr Gegenteil verkehrt: In den Gesellschaften herrscht kein Überfluss mehr an Individualität, stattdessen »lebt jeder, von der höchsten Klasse bis hinunter zur untersten, gleichsam unter dem Auge einer feindlichen und gefürchteten Zensur« 78 , mit 75 76 77 78

Ebd., S. 374. Ebd. Ebd., S. 374 f. Ebd., S. 375.

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der Folge, dass die Menschen sich bereits beim kleinsten Anzeichen persönlicher Regung fragen, wie sich in diesem Fall das Mittel der Bevölkerung wohl verhalten würde; »sie mögen, was die Masse mag; sie treffen eine Wahl nur zwischen Dingen, die üblicherweise getan werden; jede Eigenheit des Geschmacks, jede Exzentrizität in der Lebensführung wird genauso wie Verbrechen gemieden« 79 . Das Ideal der Konformität findet seinen höchsten Ausdruck laut Mill im Calvinismus. Im Zentrum dieser Lehre steht die Anschauung, dass die menschliche Natur verdorben ist und verneint werden muss; weltliche Begierden und Wünsche müssen durch eine asketische Lebensführung zum Schweigen gebracht werden; an ihre Stelle soll der absolute Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes treten. Diejenigen, die sich nicht als Calvinisten verstehen, machen sich die Grundsätze dieser Lehre in gemäßigter Form zunutze, indem sie die Gebote weniger streng interpretieren. Während die Anhänger des Calvinismus allein die Pflicht in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen, erlauben die gemäßigten Vertreter sich wenigstens noch die Befriedigung einiger ihrer Wünsche, wobei dies nicht auf eine individuelle Art und Weise geschieht, sondern auf dem Weg eines abgemilderten Gehorsams, der für alle Gottesfürchtigen dieser Glaubensrichtung gleichermaßen gilt. Was Mill im Rahmen seiner sozialphilosophischen Untersuchungen feststellt, ist, dass jene beiden Formen der Folgsamkeit in der gegenwärtigen Gesellschaft weit verbreitet sind, dass die Menschen derzeit vor allem damit beschäftig sind, sich in Konformität zu üben, anstatt ihre Originalität ausbilden. Die Menschen glauben, dass diese Lebensweise im Wesentlichen dem christlichen Ideal entspricht und dass ein gehorsamer Charakter den Willen ihres Schöpfers verkörpert. Wenn die Menschen aber der Überzeugung sind, so Mills Argument, dass sie von einem Schöpfergott geschaffen worden sind, so wäre es förderlicher anzunehmen, dass dieser sie deshalb hervorgebracht hat, damit sie ihre Anlagen und Fähigkeiten ausbilden und nicht verkümmern lassen. Vor diesem Hintergrund macht Mill darauf aufmerksam, dass es neben der christlichen Selbstlosigkeit noch ein anderes Ideal gibt: das der heidnischen Selbstbehauptung: »Es gibt ein griechisches Ideal der Selbstentfaltung, mit dem das platonische und christliche Ideal der Selbstbeherrschung harmonisiert, die es aber

79

Ebd., S. 376.

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Individualität als Element der Wohlfahrt

nicht ersetzen.« 80 Es ist einsichtig, dass es Mill nicht darum geht, die calvinistische Lehre gegen eine gottlose Auffassung auszuspielen; es geht ihm vielmehr darum, beide Seiten miteinander in Verbindung zu bringen, um den Menschen ein Leben zu ermöglichen, in dem Tugend und Eigenheit gleichermaßen einen Platz haben. Der Mensch wird nicht zur Krone der Schöpfung, indem man ihn auffordert, seine Individualität abzulegen, sondern dadurch, dass man ihn ermutigt, seine Fähigkeiten zu veredeln. »Je nachdem, wie hoch ihre Individualität entwickelt ist, gewinnt jede Person an Wert für sich selbst und kann deshalb auch für andere wertvoller sein.« 81 Dass Mill der Individualität einen derart hohen Stellenwert innerhalb seiner sozialphilosophischen Konzeption einräumt, liegt vor allem daran, dass er die Originalität als etwas begreift, das im hohen Maße zur gesellschaftlichen Wohlfahrtssteigerung beiträgt. Die Eigentümlichkeit ist ein Element des menschlichen Wohlergehens, weshalb sie gegen die Angriffe der Gehorsamkeit verteidigt werden muss. Was die Grenze der Individualität betrifft, wird sie von Mill im Sinne seines Freiheitsbegriffs dort gezogen, wo die bürgerlichen Rechte anderer verletzt werden. 82 Die Besonderheit darf sich demzufolge nur innerhalb der bestehenden Rechtsordnung verwirklichen, der Besitz eines energischen Charakters berechtigt zu keinem Zeitpunkt, in die Lebenspläne anderer einzugreifen. Die Überzeugung, dass die Individualität ein nicht zu unterschätzendes Element menschlichen Wohlergehens ist, liegt vor allem darin begründet, dass Individualität und Entwicklung für Mill ein und dasselbe sind. Ohne Nonkonformismus gibt es keinen zivilisatorischen Fortschritt, so die These. 83 Für diejenigen, die keine Freiheit wünschen und keinen Gebrauch von ihr machen möchten, hält er das Argument bereit, dass es nützlich ist, wenn andere ihre Besonderheit entfalten, nicht zuletzt deshalb, weil von den Ausnahmemenschen Ebd., S. 377. Ebd., S. 378. 82 Zu Mills Auffassung der Bürgerrechte im Kontext einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung siehe Bernd Gräfrath, »Das Fundament der Bürgerechte – John Stuart Mill über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für das Leben freier Individuen«, in: Ulrich/Aßländer (Hg.), John Stuart Mill – Der vergessene politische Ökonom und Philosoph, a. a. O., S. 125–153. 83 Vgl. Birger P. Priddat, »Nonkonformität und Öffentlichkeit: John Stuart Mills Sozialphilosophie, reconsidered«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 86 (2000), Heft 4, S. 518–536. 80 81

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etwas gelernt werden kann. In einer Gesellschaft werden immer Personen gebraucht, die traditionelle Werte und Ideale erhalten und neue Sitten und Gebräuche einläuten. 84 Allerdings kann diese Aufgabe nicht von allen Individuen übernommen werden, in jeder Gemeinschaft gibt es immer nur einige wenige, die von Natur aus dazu bestimmt sind, eine »Verbesserung bestehender Praktiken« 85 herbeizuführen und die allgemeinen Lebensumstände der Menschen zu verbessern. »Aber diese wenigen sind das Salz der Erde; ohne sie würde das menschliche Leben zu einem stehenden Tümpel werden.« 86 Vor diesem Hintergrund ist ein gesellschaftliches Klima der Freiheit allein schon deshalb wünschenswert, weil es einen sozialen Raum schafft, in dem geniale Menschen, wie Mill sich ausdrückt, sich verwirklichen können. Sein Plädoyer für die menschliche Originalität verfolgt vor allem das Ziel, den allgemeinen Fortschritt des Menschengeschlechts zu sichern, denn wie bereits weiter oben angeführt, sind Individualität und Entwicklung für ihn dasselbe. Auch wenn der gesellschaftliche Wert der Eigentümlichkeit von niemandem angezweifelt wird, darf nicht übersehen werden, dass fast jeder diesen Umstand im wirklichen Leben für unwesentlich erachtet. Zwar geben die Menschen gerne zu, dass es eine großartige Sache ist, wenn ein Genie ein Bild malt oder ein Musikstück komponiert, aber die gleichen Menschen stehen der Individualität gleichgültig gegenüber, wenn es um die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs geht, nämlich um die Originalität im Denken und Handeln. Auf diese Eigenart können sie in der Regel gut verzichten. Daher muss die Individualität ihnen als erstes die Augen öffnen; »wäre das erst einmal gänzlich gelungen, hätten sie die Chance, selbst originell zu sein« 87 . Gleichwohl ist Mill nicht so naiv zu glauben, dass diese Forderung allein ausreicht, um das Menschengeschlecht auf eine neue Stufe des Fortschritts zu heben. Die Gesellschaft steht derart unter der Herrschaft der Konformität, dass das Individuum kaum noch Luft zum Atmen hat. Während die Originalität in früheren Epochen noch ihren festen Platz in der Gesellschaft hatte und im Hinblick auf den Fortgang der Zivilisation eine bedeutende Rolle gespielt hat, verliert das Individuum sich nun zunehmend in der anonymen Masse, mit der 84 85 86 87

Vgl. ÜdF, AW, Band 3.1, S. 379. Ebd. Ebd., S. 379 f. Ebd., S. 381.

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Individualität als Element der Wohlfahrt

Folge, dass es für die privaten und öffentlichen Angelegenheiten immer bedeutungsloser wird. Die Geschicke der Gesellschaft werden in erster Linie durch die Interessen der Mehrheit bestimmt, für die Besonderheit und ihr unkonventionelles Denken bleibt kaum noch Platz. Auch macht Mill darauf aufmerksam, dass die Menschen ihre Ansichten heute nicht mehr von ausgewiesenen Autoritäten wie Staat und Kirche übernehmen, sondern von Menschen, die ihnen persönlich nahestehen, auch hier dominiert die Mittelmäßigkeit und nicht die Ausnahme. Diese gesellschaftlichen Tatsachen führen dazu, dass der Fortschritt gebremst wird, um nicht zu sagen, zum Erliegen kommt, denn jede zivilisatorische Errungenschaft hat ihren Ausgangspunkt stets in der schöpferischen Individualität gefunden und nicht in der trägen Masse der Durchschnittlichkeit. »Der Anstoß zu allen vernünftigen und edlen Dingen kommt von Individuen und muss von Individuen kommen, in der Regel zuerst von einem einzigen Individuum.« 88 Die Ehre des Durchschnittsmenschen besteht laut Mill allein darin, dass er diesem Anstoß folgt und sich die neuen Ansichten nutzbar macht, um seinen eigenen Charakter und den anderer Menschen zu veredeln, damit das größte Glück der größten Zahl auch in Zukunft vermehrt wird. Letztlich kommt es darauf an, die Menschen zur Originalität zu ermutigen, damit der Anpassungsdruck in der Gesellschaft an Kraft verliert: »Gerade weil die Tyrannei der öffentlichen Meinung so geartet ist, einem die Exzentrizität zum Vorwurf zu machen, ist es wünschenswert, dass Menschen exzentrisch sind, um diese Tyrannei zu durchbrechen.« 89 Freilich kann die Individualität nur Früchte tragen, wenn vielfältige Bedingungen innerhalb der Gesellschaft erfüllt sind. Zum einen ist eine freiheitlich-demokratische Grundordnung erforderlich, die es den Menschen erlaubt, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen und Neigungen zu verwirklichen. Zum anderen bedarf es eines sozialen Klimas, das von Toleranz geprägt ist, weil nur auf diese Weise Ebd., S. 382. Gleichwohl hat die individuelle Selbstverwirklichung ihre natürliche Grenze. Sie findet sich dort, wo der andere seine Individualität im Rahmen der geltenden Rechtsordnung verwirklicht. Insofern ist Individualität nicht im Sinne exzentrischer Eigensinnigkeit zu verstehen, sondern als persönliche Möglichkeit zur Steigerung der eigenen und kollektiven Wohlfahrt. Vgl. Hans G. Nutzinger, »Individualität als Element menschlicher Wohlfahrt«, in: Harms (Hg.), ›Über Freiheit‹. John Stuart Mill und die Politische Ökonomie des Liberalismus, a. a. O., S. 35–53. 89 ÜdF, AW, Band 3.1, S. 383. 88

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sichergestellt ist, dass die individuellen Lebenswege nicht durch die Tyrannei der Mittelmäßigkeit erstickt werden. Für Mill besteht kein Zweifel, dass die Unterschiede zwischen den Menschen so groß sind, »dass sie, wenn eine entsprechende Vielfalt der Lebensweise nicht gegeben ist, weder ihren gerechten Anteil vom Glück erhalten noch zu der geistigen, moralischen und ästhetischen Statur erwachsen, zu der sie ihrem Wesen nach fähig sind« 90 . Abgesehen davon ist das Zeitalter von Intoleranz geprägt, die noch dadurch begünstigt wird, dass der Durchschnittsmensch kein Verständnis für ungewöhnliches Handeln hat. Im Gegenteil: Bei den meisten Menschen sind die Wünsche und Neigungen nur mäßig ausgebildet, so dass ein energetischer Charakter bei ihnen Angst hervorruft. Die gewöhnliche Mehrheit sieht sich daher veranlasst, das Individuum durch Druck an die allgemeinen Normen anzupassen. Hinter diesen Anstrengungen verbirgt sich nichts Geringeres als das Ideal der kollektiven Konformität, dem sich alle Menschen in der Gesellschaft zu unterwerfen haben. Diese Maßnahmen führen laut Mill allerdings nicht dazu, dass ein starker Charakter unter ein starkes Gewissen gesetzt wird, stattdessen bringen sie schwache Gefühle und schwache Energien hervor, die den zivilisatorischen Fortschritt nicht vorantreiben, sondern behindern. An dieser Stelle werden auch die Begriffe Freiheit, Fortschritt und Neuerung diskutiert; diese drei Ausdrücke bezeichnen zwar alle etwas anderes, stehen aber in enger Beziehung zueinander. Zunächst muss der Geist der Neuerung nicht immer ein Geist der Freiheit sein, weil gesellschaftliche Veränderungen auch gegen den Willen der Bürger durchgesetzt werden können; deshalb kann es genauso gut sein, dass der Geist der Freiheit sich mit den Gegnern des Fortschritts verbündet. »Das Prinzip des Fortschritts […] ist in beider Gestalt, ob als Liebe zur Freiheit oder als Liebe zur Neuerung, widerstreitend gegen die Macht der Gewohnheit, indem es zumindest die Befreiung von diesem Joch mit sich bringt.« 91 Die Freiheit aber ist die Größte unter ihnen; »die einzige unerschöpfliche und beständige Quelle des Fortschritts ist Freiheit, weil es durch sie ebenso viele mögliche unabhängige Zentren des Fortschritts gibt, wie es Individuen gibt« 92 . Wo immer die Tyrannei der Mehrheit herrscht, lässt sich beobachten, dass der gesellschaftliche Fortschritt stagniert, 90 91 92

Ebd., S. 384. Ebd., S. 387. Ebd.

296 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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soziale Wohltätigkeit und wirtschaftlicher Wohlstand an ihr Ende kommen. Als mahnendes Beispiel führt Mill den Osten an. Hier bedeuten Gerechtigkeit und Recht vor allem Gleichförmigkeit mit der Gewohnheit; die Freiheit des Individuums ist hier ein überaus seltenes Gut. 93 Laut Mill müssen auch diese Nationen, insbesondere China, einmal Originalität besessen haben, anders sind ihre kulturellen Errungenschaften nicht zu erklären, aber in dem Moment, als die schaffende Individualität der Konformität weichen musste, kam der zivilisatorische Fortschritt zum Erliegen. Ähnlich verhält es sich in England, auch hier wird der individuelle Geist zunehmend durch den Geist des Kollektivs ersetzt. Die wenige Energie, die den Individuen noch bleibt, erschöpft sich im Wirtschaften und in einer Freizeitbeschäftigung, die eher Ausdruck von sozialer Angepasstheit als von Originalität ist. 94

4.

Über die Grenzen des Staates

Nachdem Mill gezeigt hat, warum die Individualität ein Element des menschlichen Wohlergehens ist, macht er sich daran zu untersuchen, wo die Grenzen der kollektiven Autorität liegen, was nichts anderes heißt als festzustellen, wieviel vom menschlichen Leben der Eigentümlichkeit und wieviel der Gesellschaft zugeteilt werden sollte. 95 Bei seiner Analyse lässt er sich von der Vorstellung leiten, dass jedem Lebensbereich, der Individualität einerseits und der Gesellschaft andererseits, genau die Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, die er natürlicherweise verdient; denn genauso wie die Originalität ein Recht darauf hat, sich ungestört um sich selbst zu kümmern, hat auch die Allgemeinheit einen Anspruch darauf, dass der Einzelne seinen Teil zum Erhalt der Gemeinschaft beiträgt; »so schuldet doch jeder, der den Schutz der Gesellschaft genießt, ihr eine Gegenleistung für diese Wohltat, und die Tatsache, in Gesellschaft zu leben, macht es unerlässlich, dass jeder verpflichtet werden sollte, einen gewissen Verhaltensgrundsatz dem Rest gegenüber zu befolgen« 96 . Zum einen sollte jeder Bürger die herrschende Rechtsordnung 93 94 95 96

Vgl. ebd., S. 387 ff. Vgl. ebd., S. 386. Vgl. ebd., S. 392. Ebd.

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akzeptieren und sein Handeln daran orientieren, damit die Interessen anderer nicht verletzt werden. Zum anderen ist es eine gemeinnützige Verpflichtung, dass jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten seinen Teil dazu beiträgt, die Gesellschaft und ihre Mitglieder vor jeder Art der Schädigung zu schützen. Mill lässt keinen Zweifel daran, dass die Durchsetzung dieser Verhaltensregeln eine notwendige Bedingung dafür ist, dass die Menschen in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung friedlich zusammenleben können: »Die Gesellschaft ist berechtigt, diese Bedingungen – koste es, was es wolle – denjenigen aufzuzwingen, die versuchen, ihre Erfüllung zu verweigern.« 97 Was die Frage angeht, was mit Handlungen geschehen soll, die schädlich für jemanden sind, aber keine Rechtsverletzung im eigentlichen Sinne darstellen, antwortet Mill, dass sie zwar nicht juristisch verfolgt werden können, aber dennoch durch die öffentliche Meinung bestraft werden sollten. Die Gemeinschaft tritt hier an die Stelle des Richters, wobei sie im besten Fall beim Betroffenen eine Verhaltensänderung hervorruft. Etwas völlig anderes ist es hingegen, wenn die Folgen einer Handlung nur das Individuum selbst betreffen. In diesen Fällen hat die Gesellschaft kein Recht, das Geschehen in irgendeiner Weise zu sanktionieren, auch dann nicht, wenn die Wirkung des Verhaltens für die Person zum Nachteil ist. In diesem Zusammenhang weist Mill allerdings darauf hin, dass das Freiheitsprinzip nur dort zur Anwendung kommt, wo das Individuum volljährig und mit durchschnittlichem Verstand ausgestattet ist, anderenfalls kann die Person im Hinblick auf die Handlungsfolgen nicht zur Verantwortung gezogen werden. Aus der Freiheit individueller Lebensführung folgt aber nicht, dass die Menschen sich nur um das Wohlergehen anderer kümmern sollten, wenn ihre eigenen Interessen berührt werden. Mill vertritt keineswegs eine Lehre der reinen Selbstsucht, welche sich allein am Nutzenkalkül des Individuums orientiert. Obwohl er keinen Zweifel daran lässt, dass er großen Wert auf die Herausbildung selbstbezogener Tugenden legt, vertritt er dennoch die Auffassung, dass gemeinnützige Tugenden ihrem Wert nach höher stehen. 98 Letzthin ist es Aufgabe der Erziehung, dafür zu sorgen, dass beide Tugendarten gleichermaßen im menschlichen Charakter verankert sind. Es gehört zu Mills fundamentalen Überzeugungen, dass Menschen sich nicht nur Rücksicht, sondern auch Hilfe schulden. 97 98

Ebd. Vgl. ebd., S. 393.

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Auch sollten sie »sich immerzu gegenseitig zu vermehrter Ausübung ihrer höheren Fähigkeiten anspornen und dazu, ihre Gefühle und Ziele stärker auf vernünftige statt auf törichte, auf erhebende statt auf erniedrigende Sachen und Betrachtungen zu richten« 99 . Diese Auffassung steht in Übereinstimmung mit dem, was Mill in der Logik vertritt: Die Veredelung des Charakters sollte ein alles überragendes Ziel sein, »weil das Vorhandensein dieses idealen Adels des Charakters, oder von etwas, was demselben nahe kommt, in reicher Fülle mehr als alles andere dazu tun würde, menschliches Leben glücklich zu machen« 100 . Aus dem Umstand, dass jeder seinem Nachbarn dabei helfen sollte, seinen Charakter zu kultivieren, lässt sich aber nicht das Recht auf Einmischung ableiten. Solange niemand geschädigt wird, hat kein Mensch die Befugnis, sich in das Leben anderer Mitglieder der Gesellschaft einzumischen. Während das Individuum einen Anspruch darauf hat, sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen, sein Handeln an eigenen Präferenzen auszurichten, müssen im gesellschaftlichen Verkehr allgemeine Regeln gelten, auf die jeder sich verlassen können muss, derart, dass berechtigte Erwartungen nicht enttäuscht werden. Obwohl niemand das Recht hat, dem anderen sein Leben zum Vorwurf zu machen, ist es legitim, seine persönliche Anerkennung oder Abneigung zum Ausdruck zu bringen oder die Person auf ihre aus persönlicher Sicht bestehende Unzulänglichkeit hinzuweisen. Laut Mill sollte dies im Übrigen sehr viel öfter geschehen, weil das Individuum dann die Möglichkeit hätte, die Kritik auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen und sich vielleicht zu ändern, was seinen Charakter verbessern und das Glück der Gesellschaft im Allgemeinen befördern würde. Im Gegensatz zu tugendhaften Menschen, die wir für ihre Beständigkeit bewundern, begegnen wir zweifelhaften Charakteren gelegentlich mit negativen Gefühlen: »Auch wenn ein Mensch einem anderen nichts Schlechtes zufügt, kann er in einer Weise handeln, die uns nötigt, ihn als Narren oder sogar als ein Wesen niederer Art zu betrachten und ihm entsprechende Gefühle entgegenzubringen.« 101 Mills Argumentation verläuft dahingehend, dass wir das freiheitliche Recht haben, uns solchen Menschen gegenüber abzugrenzen, wobei es nicht darum geht, ihre Eigenart zu Ebd., S. 393 f. Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 180. 101 ÜdF, AW, Band 3.1, S. 395. 99

100

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demütigen, sondern darum, unseren eigenen Überzeugungen gemäß zu handeln. Wir haben ein Recht darauf, uns unsere soziale Gruppe auszusuchen und ein Recht darauf, sie zu verlassen, wenn wir zu dem Ergebnis gelangen, dass hier unsere Wertvorstellungen nicht gelebt werden. Wenn wir den Eindruck gewinnen, dass eine Person einen schädlichen Einfluss auf andere Menschen haben könnte, sind wir auf der anderen Seite verpflichtet, andere vor ihr zu warnen. Mill macht einen eindeutigen Unterschied zwischen Pflichten, die wir uns selbst gegenüber haben, und Pflichten, die wir der Gesellschaft schuldig sind, wobei dieser Gegensatz zugleich die Grenze der Herrschaft über das Individuum markiert, weil das Recht des Kollektivs auf Einmischung dort endet, wo die Folgen einer Handlung allein das Individuum betreffen: »Was als Pflichten gegen uns selbst bezeichnet wird, ist nicht gesellschaftlich verbindlich, solange die Umstände sie nicht zugleich zu Pflichten gegen andere machen.« 102 Unter der sogenannten ›Pflicht gegen sich selbst‹ versteht Mill Selbstachtung oder Selbstentfaltung, in jedem Fall aber eine moralische Haltung, die nur die Person selbst zu verantworten hat. Es ist evident, dass der Mensch niemandem Rechenschaft darüber schuldet, wie es um seine Selbstachtung bestellt ist oder bis zu welchem Grad seine Selbstentfaltung vorangeschritten ist; dies sind Dinge, die ihn allein betreffen. Mill zieht noch eine weitere Konsequenz aus seiner Analyse, nämlich, dass wir unter der Bedingung der Akzeptanz der individuellen Lebensführung kein Recht haben, den Menschen zu bestrafen, wenn wir ihn aufgrund seines Charakters ablehnen, nicht zuletzt deshalb, weil er durch die soziale Geringschätzung bereits genug bestraft ist; stattdessen sollten wir ihm helfen, seinen Fehler einzusehen und seinen Charakter zu ändern; »wir sollten ihn nicht wie einen Feind der Gesellschaft behandeln: Das Ärgste, das zu tun wir uns selbst für berechtigt halten sollten, ist, ihn sich selbst zu überlassen, falls wir nicht wohlwollend eingreifen wollen, indem wir Interesse und Sorge bekunden« 103 . Nur wenn sich herausstellt, dass er durch sein Handeln andere Menschen geschädigt oder verletzt hat, ist die Gesellschaft verpflichtet, im Rahmen der geltenden Rechtsordnung gegen ihn vorzugehen und dem Opfer zur Gerechtigkeit zu verhelfen. Ist dies nicht der Fall, hat die Allgemeinheit keinerlei Rechtskraft, sich in irgendeiner Weise in die Lebens102 103

Ebd., S. 397. Ebd.

300 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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führung des Individuums einzumischen oder es auf der Grundlage persönlicher Abneigung zu bestrafen, selbst wenn die Gesellschaft sich durch die Züchtigung einen Wandel des Charakters verspricht. Die Freiheit zum Handeln, selbst wenn die Folgen schädlich sind, steht höher als der Zwang zum guten Leben. Im weiteren Verlauf seiner Untersuchung wendet Mill sich dem kritischen Einwand zu, der besagt, dass die angeführte Unterscheidung zwischen einem Teil des Lebens, der nur das Individuum betrifft, und einem Teil des Lebens, der nur die Gesellschaft angeht, in der Praxis nicht gegeben ist. Da kein Mensch ein abgesondertes Wesen ist, betreffen seine Handlungen nicht nur ihn allein, sondern haben unmittelbaren Einfluss auf sein soziales Umfeld. Niemand wird bestreiten, dass der Verlust an persönlichem Vermögen direkte Folgen für die Angehörigen hat oder dass die Auswirkungen der Trunksucht nicht nur das Individuum selbst betreffen; »es ist unmöglich für einen Menschen, sich irgendetwas ernsthaft oder andauernd Schädliches zuzufügen, ohne dass der Schaden nicht wenigstens bis an sein nahes Umfeld und oft weit darüber hinausreichte« 104 . Aber auch wenn es der Fall wäre, dass die Folgen einer Handlung ausschließlich das Individuum betreffen würden, wobei kaum vorstellbar ist, wie dies möglich sein sollte, ist die Gesellschaft dann nicht verpflichtet, es vor seinem Niedergang zu schützen, müsste die Gemeinschaft dann nicht die Verantwortung für den Menschen übernehmen, und zwar in der Weise, wie sie es für Kinder und junge Heranwachsende tut? Dieses Verfahren scheint auch deshalb angebracht zu sein, weil man hier nicht davon sprechen kann, dass Individualität beschränkt wird, es werden lediglich Handlungen unterbunden, von denen das Menschengeschlecht aus seiner Geschichte bereits weiß, dass sie der individuellen Lebensgestaltung nicht dienlich sind. Mill stimmt diesem Argument insofern zu, als dass er die Auffassung vertritt, dass ein Verhalten, das gegen eine moralische Verpflichtung verstößt, zu bestrafen ist. Um diesen Gedanken zu illustrieren, verweist er auf einen Mann, der eine moralische Verantwortung seiner Familie gegenüber hat. Wenn dieser nun aufgrund finanzieller Verschwendungssucht nicht mehr in der Lage ist, seine Familie zu versorgen, hat die Gesellschaft das Recht, ihn wegen seiner Pflichtvergessenheit zu tadeln. Allerdings dürfte die Gemeinschaft sein Verhalten auch ablehnen, 104

Ebd., S. 398.

301 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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wenn er das Geld für ein lukratives Aktiengeschäft verwendet hätte. Der Punkt ist, dass es vollkommen gleichgültig ist, ob es sich um eine gute oder schädliche Handlung handelt, es geht um die fehlende Rücksicht im Hinblick auf die Interessen anderer Menschen. Nicht die Vergeudung darf dem Mann zum Vorwurf gemacht werden, sondern die Pflichtverletzung gegenüber seiner Familie. »Kurzum, wenn immer sich ein sicherer Schaden oder die sichere Gefahr eines Schadens entweder für ein Individuum oder für die Öffentlichkeit herausstellt, wird der Fall dem Reich der Freiheit entzogen und in den Bereich der Moral oder des Rechts versetzt.« 105 Für den Fall, dass die Folgen der Handlung ganz und gar das Individuum betreffen, hat die Gesellschaft kein Recht, die Lebensweise zu bestrafen, auch nicht, wenn die Person sich durch ihr Verhalten schadet. Das Recht auf moralische Bestrafung findet seine Begründung allein in der Verletzung sozialer Rücksicht. Allerdings sieht Mill keinen Sinn darin, die Mitglieder einer Gesellschaft dadurch zu vernünftigen Menschen zu machen, indem man geduldig abwartet, bis sie die Interessen anderer verletzt haben, um sie dann moralisch oder gesetzlich zu bestrafen. Stattdessen sollten die Bürger sich lieber fragen, ob sie im Hinblick auf die Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder alles Notwendige getan haben, damit ein solches Verhalten gar nicht erst entsteht. Damit möchte Mill sagen, dass eine Gesellschaft es sich zu einfach macht, wenn sie die Gründe für unvernünftiges Handeln allein in der Seele des Erwachsenen sucht. Zwar ist die Gemeinschaft für das Verhalten der Charakterschwachen nicht direkt verantwortlich, weil auch sie ein Leben in Freiheit führen, aber sie trägt insoweit eine Mitverantwortung, als dass sie durch die öffentlichen Einrichtungen für eine hinreichend gute Erziehung und Bildung zu sorgen hat: »Die ganze Periode der Kindheit und der Minderjährigkeit stand ihr zur Verfügung, um zu versuchen, ob sie diese zu einem vernunftgemäßen Verhalten im Leben befähigen könnte.« 106 Es besteht kein Zweifel daran, dass Mill davon überzeugt ist, dass das Individuum im hohen Maße durch die ihn umgebenen sozialen Umstände bestimmt wird, sein Charakter nicht zuletzt durch die öffentliche Meinung und gesellschaftlichen Institutionen geprägt wird. Da die Gesellschaft durch ihren Bildungsauftrag bereits während der Kindheit und Jugend großen Einfluss auf 105 106

Ebd., S. 400. Ebd., S. 401.

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das Einzelwesen ausgeübt hat, sieht Mill keinen Grund dafür, warum die Erziehung im Erwachsenenalter fortgesetzt werden sollte, gerade wenn es sich um Handlungsweisen handelt, die nur die Person selbst betreffen und keine Auswirkungen auf andere Menschen haben. Auch wenn ohne Fremdschädigung kein Recht auf gesellschaftliche Nacherziehung zu haben ist, bleiben die »natürlichen Strafen« 107 , wie persönliche Abneigung und soziale Ausgrenzung, unangetastet. Das stärkste Argument gegen eine Einmischung der öffentlichen Meinung in das Privatleben erblickt Mill allerdings in dem Umstand, dass die Einflussnahme wahrscheinlich auf die falsche Weise geschehen würde. Während die Allgemeinheit sich bei Fragestellungen des gesellschaftlichen Wohlergehens durchaus als kompetent erweist, versagt sie regelmäßig im Hinblick auf die Beurteilung persönlicher Interessenslagen, wobei dies vor allem daran liegt, dass sie ihre eigenen Belange im Kopf hat und sich weniger um den individuellen Sachverhalt kümmert. Unter den Mitgliedern einer Gesellschaft gibt es viele Menschen, die ein Handeln nur deshalb bestraft wissen wollen, weil es mit ihren eigenen Vorstellungen von Moralität nicht übereinstimmt. Aus dieser Haltung entwickelt sich leicht eine Art »moralische Polizei« 108 , die nach dem Grundsatz vorgeht: Unsere Ansichten sind richtig, weil wir sie als richtig empfinden; deine hingegen sind falsch, weil wir sie als falsch empfinden. 109 Die Gefahr besteht darin, dass diese Art der Bevormundung sich leicht auf andere Bereiche ausweiten kann, bis das Privatleben des Individuums zur öffentlichen Angelegenheit geworden und die Freiheit vollständig durch den Paternalismus ersetzt worden ist. 110 Dass diese Befürchtung keine rein theoretische ist, zeigt sich schon daran, dass es viele Menschen gibt, die ihre Ablehnung allein darauf gründen, dass andere ihre religiösen Bräuche nicht teilen. Aus dem Umstand, dass eigene Rituale für moralisch wertvoll gehalten werden, lässt sich allzu leicht die Auffassung ableiten, dass fremde gottgefällige Gewohnheiten abzulehnen sind. Mill gibt ein Beispiel, wenn er darauf hinweist, dass die MohamEbd. Ebd., S. 404. 109 Vgl. ebd., S. 403 f. 110 Vgl. Gregory Claeys, Mill and Paternalism, Cambridge 2013; siehe dazu auch Christoph Schmidt-Petri, »Freiheit, Paternalismus und die Unterwerfung der Frau«, in: Schefczyk/Schramme (Hg.), John Stuart Mill: Über die Freiheit, a. a. O., S. 159– 180. 107 108

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Über die Freiheit des Individuums und die Grenzen des Staates

medaner die Christen auch deshalb als sündig betrachten, weil sie Schweinefleisch essen. Wenn man nun einmal annimmt, dass die Mehrheit eines Volkes aus Moslems besteht und sie demgemäß fordern würde, dass alle Menschen in diesem Land kein Schweinefleisch mehr essen dürfen, stellt sich die Frage, ob dies eine legitime Anwendung gesellschaftlicher Autorität wäre. Es bedarf keiner großen Anstrengung, um zu erkennen, dass Mill eine derartige Einmischung grundsätzlich ablehnt, weil niemand vor dem Hintergrund des Freiheitsprinzips das Recht hat, einen individuellen Geschmack durch einen allgemeinen zu ersetzen, auch dann nicht, wenn die Mehrheit der Meinung ist, dass dadurch das Wohl der Menschen und das Glück der Gesellschaft befördert wird. »Der einzig haltbare Grund für die Ablehnung eines solches Verbotes wäre der, dass es nicht Sache der Öffentlichkeit ist, in die persönlichen Geschmäcker oder rein persönlichen Belange von Individuen einzugreifen.« 111 Ein weiteres Beispiel ist die römisch-katholische Kirche und der Umstand, dass ihre Vertreter es als Respektlosigkeit betrachten, wenn Gott auf eine Weise verehrt wird, die ihren Bräuchen nicht entspricht. Auch betrachten die Katholiken verheiratete Priester in der Regel als Ungläubige, was mit einer protestantischen Auffassung der christlichen Lehre unvereinbar ist. Auch hier verhält es sich wie im ersten Fall, denn auch hier gilt, dass der Mensch keinem Grundsatz zustimmen kann, der das Ziel hat, ihn zu einem gedankenlosen Jünger einer fremden Meinung zu machen. Die Freiheit des Individuums darf durch die Gewohnheit der Mehrheit nicht beschränkt werden, solange kein Mitglied der Gesellschaft durch den Gebrauch der Freiheit zu Schaden kommt. Zwar gibt Mill bereitwillig zu, dass diese beiden Beispiele sich auf Umstände beziehen, die in der vorhandenen Gesellschaft so nicht gegeben sind, aber es gibt durchaus Freiheitsberaubungen, die zumindest jenen sehr nahekommen, wenn auch in anderer Gestalt auftreten. In Großbritannien gab es beispielsweise eine Zeit, in der die Puritaner ihre Macht dazu nutzten, nahezu alle privaten Vergnügungen zu verbieten: »insbesondere Musik, Tanz, öffentliche Spiele oder andere Versammlungen zu Unterhaltungszwecken und das Theater« 112 . Obwohl diese Zwänge der Vergangenheit angehören, weist Mill darauf hin, dass es immer noch Menschen

111 112

ÜdF, AW, Band 3.1, S. 405. Ebd., S. 406.

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Über die Grenzen des Staates

gibt, die eine anspruchslose Lebensweise anstreben, und dass diese hauptsächlich dem Mittelstand angehören, so dass es nicht völlig unmöglich ist, dass sie versuchen werden, in die höheren Klassen aufzusteigen, um ihre moralischen Ansichten in der Gesellschaft durchzusetzen. Es ist evident, dass die nichtpuritanischen Mitglieder der Gesellschaft eine solche Bevormundung kaum billigen würden; es kann nicht verlangt werden, dass die Bürger sich einem gottgefälligen Gemeinwesen unterwerfen, das nicht alle Interessen gleichermaßen berücksichtigt. Mill gibt noch ein weiteres Beispiel, wenn er darauf aufmerksam macht, dass in demokratisch verfassten Gesellschaften sich eine Haltung herausgebildet hat, die darauf abzielt, dem Mitbürger bestimmte Handlungsweisen vorzuschreiben. In den Vereinigten Staaten kann man beobachten, dass die Menschen sich dazu berechtigt fühlen, ihre Nachbarn moralisch zu verurteilen, wenn diese ihr Geld nicht auf die Weise ausgeben, wie es im Allgemeinen für richtig befunden wird. Damit möchte Mill sagen, dass die Tyrannei der Mehrheit keineswegs ein Phänomen der Vergangenheit ist: »Es werden tatsächlich auch in unseren Tagen grobe widerrechtliche Eingriffe in die Freiheit des Privatlebens vorgenommen und noch schwerere mit einiger Aussicht auf Erfolg angedroht.« 113 In diesem Zusammenhang verweist er außerdem auf den Versuch, in einer englischen Kolonie und in Teilen der USA den Verkauf alkoholischer Getränke zu verbieten, wobei diese Forderung schon bald darauf auch in England von einem konservativen Politiker namens Lord Stanleys propagiert worden ist, mit dem Argument, dass durch den Handel mit starken Getränken seine sozialen Rechte verletzt würden. 114 Der Handel mit Alkohol würde nicht nur, so die Begründung, sein Grundrecht auf Sicherheit verletzen, weil er die soziale Unordnung fördert, sondern er würde ihn auch daran hindern, seine moralischen und geistigen Fähigkeiten auszubilden, weil er die Gesellschaft verdirbt. 115 Eine solche Auffassung besagt nichts anderes, als »dass es das uneingeschränkte soziale Recht jedes Individuums ist, dass jedes Individuum in jeder Hinsicht so handelt, wie es handeln sollte; dass jeder, der davon auch nur ein kleines bisschen

113 114 115

Ebd., S. 408. Vgl. ebd., S. 408 ff. Vgl. ebd., S. 409 f.

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Über die Freiheit des Individuums und die Grenzen des Staates

abweicht, mein soziales Recht verletzt, und mich berechtigt, von der Gesetzgebung die Behebung dieses Missstands zu verlangen« 116 . Die gesellschaftliche Einführung eines Alkoholverbots auf der Grundlage einer paternalistischen Theorie sozialer Rechte hält Mill nicht nur für aberwitzig, sondern auch für gefährlich, weil sie jedem Bürger das Recht einräumt, seine eigenen moralischen Vorstellungen in ein absolutes Gesetz zu überführen. »Ein so ungeheuerlicher Grundsatz ist weit gefährlicher als irgendein Eingriff in die Freiheit; es gibt keine einzige Freiheitsverletzung, die er nicht rechtfertigen würde.« 117 Ein weiteres Beispiel für den ungerechtfertigten Eingriff in die individuelle Lebensführung ist der Umstand, dass die gesetzgebende Gewalt das Arbeiten am Sonntag verbietet, weil dieser ein heiliger Ruhetag ist. Diese Arbeitseinstellung an einem Tag in der Woche hat zwar durchaus seinen religiösen Sinn und besitzt insbesondere für die Juden einen hohen Stellenwert, welcher unbedingt zu achten ist. Aber sie darf nicht die selbst gewählten Beschäftigungen berühren, »die eine Person für geeignet hält, ihre Freizeit damit zu füllen, noch gilt es im Entferntesten für die gesetzliche Einschränkung von Vergnügungen« 118 . Es gibt einen persönlichen Bereich, der allein der Autorität des Individuums unterliegt und dessen Herrschaft durch die Gewohnheit der Mehrheit nicht außer Kraft gesetzt werden darf. Es geht aber nicht nur um die Verletzung der Privatsphäre, vielmehr erblickt Mill in der Tyrannei der Mehrheit eine grundsätzliche Gefahr. Er verweist auf die Mormonen, eine christliche Glaubensgemeinschaft, die von vielen Menschen verurteilt wird, nicht zuletzt wegen ihrer praktizierten Polygamie. Die Feindschaft gegenüber den Mitgliedern dieser Vereinigung geht soweit, dass sie aus den Städten vertrieben werden. Ein Schriftsteller schlägt gar vor, einen »Zivilisationszug« 119 gegen die rückständige Gemeinschaft zu führen, um sie endgültig von ihrem falschen Leben zu befreien. Obwohl Mill festhält, dass er mit den Prinzipien der Mormonen ebenfalls nicht einverstanden ist, gibt er zu verstehen, dass es zu keinem Zeitpunkt gerechtfertigt ist, wenn eine Mehrheit sich in die Angelegenheiten einer Minderheit einmischt, ganz gleich ob die Einmischung durch eine gut gemeinte Bevormundung oder eine gewaltsame Intervention 116 117 118 119

Ebd., S. 410. Ebd. Ebd., S. 411. Ebd., S. 413.

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Anwendungen des Freiheitsprinzips

geschieht. Der natürliche Verbündete der Freiheit ist die individuelle Toleranz und nicht der paternalistische Übergriff der Masse.

5.

Anwendungen des Freiheitsprinzips

Im letzten Kapitel der Freiheitsschrift geht es Mill darum, die bisher diskutierten Prinzipien, das Freiheitsprinzip einerseits und das Schädigungsprinzip andererseits, auf ihre Tauglichkeit hin zu befragen. Die Analyse umfasst die Staats- und Morallehre und wird weniger durch Anwendungen als vielmehr durch Muster von Anwendungen vollzogen. Die Anwendungsmodelle haben nicht nur den Vorteil, dass sie die Bedeutung der Maximen eindeutiger herausstellen, sondern sie sind auch insofern nützlicher, als dass sie dabei helfen, einen Ausgleich zu finden, wenn Zweifel darüber bestehen, welcher der beiden Grundsätze im vorliegenden Fall zur Anwendung gebracht werden soll. Während das Freiheitsprinzip besagt, »dass ein Individuum der Gesellschaft keine Rechenschaft für seine Handlungen schuldet, insofern diese niemandes Interesse außer seinen eigenen berühren« 120 , steht das Schädigungsprinzip für die Auffassung, dass die Gesellschaft das Recht hat, die Person gesetzmäßig zu bestrafen, wenn sie die Interessen anderer verletzt hat. Für den Fall, dass das Individuum aufgrund seines Charakters von der Gemeinschaft abgelehnt wird, ist die Mehrheit jedoch nicht berechtigt, in das Leben der Person einzugreifen. Ihr einziges Recht besteht dann darin, sie im Hinblick auf ein glücklicheres Leben zu beraten, zu überzeugen, und wenn dies nicht gelingt, den Kontakt abzubrechen. Im Gegensatz dazu hat das Individuum weder ein legitimes noch ein moralisches Recht auf den Ausgleich einer persönlichen Enttäuschung, vor allem dann nicht, wenn diese das Resultat eines Wettstreites ist, der sich unter den Bedingungen der freien Marktwirtschaft ereignet hat; die Gesellschaft »fühlt sich nur dann berufen einzugreifen, wenn für den Erfolg Mittel eingesetzt wurden, die zu erlauben dem allgemeinen Interesse zuwiderlaufen würde, nämlich Betrug, Verrat oder Gewalt« 121 . In diesem Zusammenhang diskutiert Mill auch die Frage, in welcher Beziehung individuelle Freiheitsrechte und Freihandelslehre zu120 121

Ebd., S. 415. Ebd., S. 416.

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Über die Freiheit des Individuums und die Grenzen des Staates

einander stehen. Im Hinblick auf die Güterproduktion und den Warenaustausch lässt sich zunächst festhalten, dass er staatliche Eingriffe grundsätzlich ablehnt, weil sie den Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zuwiderlaufen. 122 Nur die Freiheit des ökonomischen Handelns bewirkt, dass die egoistischen Interessen der Marktprotagonisten durch die unsichtbare Hand in ein gesamtgesellschaftliches Wohlfahrtsprogramm umgemünzt und die Lebensumstände aller verbessert werden. Anders sieht es mit staatlichen Kontrollen aus, um beispielsweise die Verbraucher vor Produktfälschungen zu schützen; hier sieht Mill kein Problem der kollektiven Einmischung. Auch im Hinblick auf die Beschränkung des gewerblichen Handels mit Giftstoffen macht Mill vom Freiheitsprinzip Gebrauch: Niemand hat das Recht, sich in die Produktion, den Verkauf oder den Erwerb solcher Substanzen einzumischen, die Verbreitung und der Konsum dieser Mittel unterliegen allein der Freiheit des erwachsenen Bürgers; diese Dinge sind zu keinem Zeitpunkt die Angelegenheit der Öffentlichkeit. »Derartige Eingriffe sind zu beanstanden, nicht als Verstoß gegen die Freiheit des Herstellers oder Verkäufers, sondern gegen die des Käufers.« 123 Mit diesen Ausführungen macht Mill auf ein generelles Problem aufmerksam, nämlich auf die Frage, welches die Aufgaben der Polizei sind und wo die Grenzen ihrer gesetzmäßigen Autorität liegen. Obwohl sie den gesellschaftlichen Auftrag hat, die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten, kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die staatliche Gewalt auch Grenzen haben muss; sie liegen in der Regel dort, wo die Folgen des Verhaltens allein das Individuum betreffen, das heißt, wo die Interessen anderer nicht verletzt 122 Mill unterscheidet grundsätzlich zwei Arten von staatlichen Aufgaben, wobei die einen gewohnheitsmäßig mit dem Staat verbunden sind, während bei den anderen darüber diskutiert werden kann, ob sie vom Staat übernommen werden sollten oder nicht. »Die ersteren sollen als die notwenigen, die letzteren als die fakultativen Aufgaben des Staates bezeichnet werden. Der Ausdruck ›fakultativ‹ ist nicht dahin gehend zu verstehen, dass es irgendwie gleichgültig oder der Willkür überlassen sei, ob der Staat die in Frage stehenden Aufgaben übernehmen soll oder nicht; er ist nur so zu verstehen, dass die Zweckmäßigkeit ihrer Erfüllung durch den Staat nicht notwendig gegeben ist, sondern zu den Fragen gehört, über welche verschiedene Meinungen bestehen oder bestehen können.« PÖ, AW, Band 3.2, S. 254. Vgl. dazu auch Tobias Bevc, »Der Staat in den ökonomischen Schriften John Stuart Mills«, in: Asbach (Hg.), Vom Nutzen des Staates. Staatsverständnisse des klassischen Utilitarismus: Hume – Bentham – Mill, a. a. O., S. 211–228. 123 ÜdF, AW, Band 3.1, S. 417.

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Anwendungen des Freiheitsprinzips

werden. Die wichtige Frage lautet also: Wie weit darf die Freiheit eines Menschen eingeschränkt werden, um Verbrechen und Unfälle zu verhindern? Mill erweist sich als profunder Kenner der menschlichen Natur, wenn er darauf hinweist, dass besonders präventive Maßnahmen sich dazu eignen, die Freiheit der Bürger empfindlich einzuschränken; »denn es gibt kaum einen Teil der legitimen Handlungsfreiheit eines menschlichen Wesens, der es nicht zuließe […], so dargestellt zu werden, als erhöhe er auf die eine oder andere Weise die günstigen Gelegenheiten für Vergehen« 124 . Abgesehen von der Gefahr freiheitseinschränkender Willkür des Staates ist es die Pflicht jedes Bürgers zu handeln, sobald feststeht, dass ein Verbrechen verübt werden soll. Auch ist es die gesellschaftliche Pflicht, die Produktion, den Verkauf sowie den Erwerb von Giften zu verbieten, wenn sich herausstellen würde, dass sie zu keinem anderen Zweck als Mord verwendet werden würden. Da es ferner zu den Geschäften der Allgemeinheit gehört, die Bürger vor Unfällen zu bewahren, wird kein persönliches Freiheitsrecht verletzt, wenn jemand einen Menschen daran hindert, eine einsturzgefährdete Brücke zu überqueren, vorausgesetzt, dass keine Zeit mehr ist, die Person zu warnen. »Denn Freiheit besteht darin, das zu tun, was man zu tun wünscht, und der Betreffende wünscht sich nicht, in den Fluss zu fallen.« 125 Anders hingegen verhält es sich, wenn der Mensch sich absichtlich in Gefahr bringt, beispielsweise durch das Betreiben einer gefährlichen Sportart; in solchen Fällen ist ein direkter Eingriff zu unterlassen; das Individuum sollte vor den Gefahren jedoch gewarnt werden, aber nur insoweit, wie sie noch nicht bekannt sind. Ein weiterer Aspekt, der Mill in diesem Zusammenhang beschäftigt, bezieht sich auf die Frage, inwieweit Freiheitsrechte durch bestimmte Vorschriften und Regularien verletzt werden dürfen. Bei der Lösung dieses Problems lässt er sich hauptsächlich von den Belangen des Konsumenten leiten. Der Verbraucher hat ein Interesse daran zu wissen, was beispielsweise in Arzneimitteln enthalten ist, weshalb es zweckmäßig ist, sie entsprechend zu kennzeichnen: »Der Käufer kann nicht wünschen, nicht darüber Bescheid zu wissen, dass die Sache, die er besitzt, giftig ist.« 126 Wenn es um die Frage geht, was der Staat tun

124 125 126

Ebd., S. 417 f. Ebd., S. 418. Ebd.

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Über die Freiheit des Individuums und die Grenzen des Staates

kann, um Straftaten vorzubeugen, verweist Mill auf die von Bentham eingeführte Vorkehrung der »›vorab bestellte[n] Beweismittel‹« 127 . Der Ausdruck umfasst Maßnahmen, die das Ziel haben, den Verbraucher zu schützen und ihm eine gewisse Rechtssicherheit zu geben. Der Staat kann von seinen Bürgern verlangen, dass beim Abschließen von Verträgen bestimmte Formalitäten einzuhalten sind, wie das Leisten von Unterschriften oder die Übergabe von Urkunden. Bei der Abgabe von Arzneien kann die Vorlage eines Rezepts erforderlich sein, damit nachvollzogen werden kann, wer was zu welchem Zweck erhalten hat. Für Mill besteht kein Zweifel daran, dass diese Maßnahmen am besten geeignet sind, den Verbraucher vor Missbrauch und Betrug zu schützen, ohne seine bürgerliche Freiheit einzuschränken. »Solche Vorschriften würden in der Regel keinen grundlegenden Hinderungsgrund darstellen, den Artikel zu erwerben, aber einen sehr beträchtlichen, wenn es darum ginge, von ihm unzulässigen Gebrauch zu machen, ohne entdeckt zu werden.« 128 Die Gesellschaft hat ein natürliches Recht darauf, Verbrechen, die sich gegen sie selbst richten, präventiv zu bekämpfen. Das bedeutet, dass die individuelle Freiheit dort endet, wo die Verletzung gesellschaftlicher Rechte beginnt. Mill verdeutlicht diesen Gedanken am Beispiel der Trunkenheit. Beim Rausch, selbst wenn er öffentlich auftritt, kommen wir nicht auf die Idee, ihn gesetzlich zu begrenzen. Wir gehen wie selbstverständlich davon aus, dass es allein die Sache der Person ist zu entscheiden, wie viel sie trinkt. Obwohl Mill mit dieser Haltung übereinstimmt, ändert sich für ihn die Sachlage, wenn sich zeigt, dass die Person unter Alkoholeinfluss gewalttätig ist. Dann nämlich hat die Allgemeinheit das Recht, in die Freiheit des Individuums einzugreifen, und zwar in dem Sinne, dass es unter gesetzliche Beschränkungen gestellt werden kann, wobei die Person mit weiteren Strafen zu rechnen hat, wenn sie gegen die Auflagen verstößt. »Sich zu betrinken ist im Fall eines Menschen, den Trunkenheit dazu reizt, anderen Schaden zuzufügen, ein Verbrechen gegen andere.« 129 Im Folgenden geht es Mill um die Frage, ob aus dem Grundsatz der Handlungsfreiheit das Recht abgeleitet werden kann, dass es zur bürgerlichen Freiheit des Individuums gehört, jedermann zu raten, 127 128 129

Ebd., S. 419. Ebd. Ebd., S. 420.

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was man selbst für richtig hält, gleichgültig, ob die Wirkungen, die sich daraus ergeben, für die Person förderlich oder schädlich sind. Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Gleich zu Beginn seiner Analyse weist Mill darauf hin, dass es ein Unterschied ist, ob das Individuum selbst handelt oder zum Handeln anstiftet. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass das Aussprechen einer Handlungsempfehlung ein sozialer Akt ist und deshalb der sozialen Kontrolle unterliegen sollte. Denkt man über diesen Sachverhalt jedoch genauer nach, stellt sich heraus, dass die Freiheit des Handelns nicht verschieden ist von der Freiheit des Ratgebens. »Was auch immer zu tun erlaubt ist, das muss auch zu raten erlaubt sein.« 130 Das Individuum sollte allerdings bestraft werden, wenn es seine Freiheit in der Weise missbraucht, dass es das Ratgeben zum Beruf macht, mit dem Ziel, die Mitglieder der Gesellschaft zu schädigen. Damit ist noch ein anderes Problem verbunden, nämlich der Umstand, dass es in Gesellschaften immer ungleiche Klassen mit unterschiedlichen Interessen gibt, das heißt, dass es vorkommen kann, dass von einer Klasse etwas gebilligt wird, was dem allgemeinen Wohl zuwiderläuft. »Unzucht zum Beispiel muss geduldet werden, und das Gleiche gilt für das Glücksspiel; aber sollte ein Mensch die Freiheit haben, ein Zuhälter zu sein oder eine Spielhölle zu besitzen?« 131 Laut Mill ist dies einer jener Fälle, die sich zwischen den zwei Maximen bewegen. Da für beide Standpunkte vernünftige Argumente angeführt werden können, kann nicht endgültig entschieden werden, ob diese Handlungen von der Gesellschaft im Sinne des Freiheitsprinzips gebilligt oder aufgrund des Schädigungsprinzips verboten werden sollten. Für die Tolerierung spricht, dass es kein zu verfolgendes Verbrechen ist, seinen Lebensunterhalt mit dem einen oder anderen Geschäft zu verdienen, solange die Entscheidung nicht unter Zwang getroffen wurde. Ein Argument dagegen lautet, dass der Staat zwar nicht das Recht hat, in die persönliche Freiheit einzugreifen, er aber befugt ist, seinen Standpunkt darzulegen, indem er beispielsweise das Glücksspiel moralisch verurteilt. Nimmt man dies allerdings ernst, entsteht eine Situation, die Mill als »moralische Anomalie« 132 bezeichnet: Obwohl es den Menschen erlaubt sein muss, im privaten Rahmen mit Freunden zu spielen, weil ein Verbot eine Verletzung 130 131 132

Ebd., S. 421. Ebd. Ebd., S. 422.

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der individuellen Freiheitsrechte darstellen würde, sollten gleichzeitig alle öffentlichen Spielhäuser verboten werden, um die Menschen vor Schaden zu schützen. Auch wenn Mill sich in diesem Fall nicht eindeutig positioniert, lässt er dennoch keinen Zweifel daran, dass er den Verkauf von Gütern, deren Genuss in größeren Mengen gesundheitsschädlich ist, vom Staat nicht beschränkt wissen möchte, weil es seiner Ansicht nach allein die Sache des Verbrauchers ist zu entscheiden, welche Waren er in welcher Menge konsumieren möchte. In diesem Zusammenhang diskutiert er auch die Frage, ob der Staat nicht zumindest den Kauf zweifelhafter Artikel, wie etwa Alkohol, erschweren sollte, um seine Bürger vor den Folgen des Genusses zu schützen; »ob er, zum Beispiel, Maßnahmen ergreifen sollte, um die Möglichkeiten, sich zu betrinken, teurer zu machen, oder ob er den Erwerb von Alkohol durch eine Begrenzung der Verkaufsstellen erschweren sollte« 133 . Zunächst sieht es so aus, als würde Mill sich prinzipiell gegen die Besteuerung von Alkoholika aussprechen, weil diese in seinen Augen nicht gerechtfertigt ist, wenn es allein darum geht, den Zugang zu dieser Art von Getränken komplizierter zu machen. Sein Argument lautet, dass eine Erschwerung der Beschaffung von Alkohol sich nur dann verteidigen ließe, wenn sich ein generelles Verkaufsverbot rechtfertigen lässt; dies ist aber nicht der Fall, weil ein solches Verbot einen Eingriff in die Freiheit des Individuums darstellen würde. Für Mill steht fest, dass die Menschen nicht nur das Recht haben, sich ihre Vergnügungen selbst auszusuchen, sondern sie dürfen ihr Geld auch für die Dinge ausgeben, die sie sich wünschen, selbst wenn es sich dabei um Dinge handelt, die nicht nur teuer, sondern auch schädlich sind. Allerdings weist er zugleich darauf hin, dass der Staat grundsätzlich auf Steuereinnahmen angewiesen ist, um öffentliche Aufgaben zu erfüllen, so dass er schließlich zu dem Ergebnis kommt, dass eine Genusssteuer nicht nur zulässig, sondern auch zu begrüßen ist. 134 Für eine Beschränkung der Anzahl der Orte, an denen Alkohol verkauft wird, spricht Mill sich insoweit aus, als dass er darauf aufmerksam macht, dass dadurch die Verbrechensquote gesenkt werden Ebd., S. 423. Vgl. ebd., S. 423 f. Zu Mills umfangreicher Auseinandersetzung mit dem Problem gerechter Steuern in der Gesellschaft und dessen vieldiskutiertem Beitrag zur sogenannten ›Opfertheorie‹ siehe den lesenswerten Artikel von Christian Scheer, »John Stuart Mill als Steuerphilosoph«, in: Streissler (Hg.), Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie, a. a. O., S. 112–187. 133 134

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kann. »Alle öffentlichen Erholungsorte brauchen polizeiliche Überwachung und Orte dieser Art insbesondere, weil Vergehen gegen die Gesellschaft hier besonders leicht entstehen.« 135 Der Verkauf alkoholischer Getränke sollte demgemäß nur Personen erlaubt werden, die einen einwandfreien Leumund genießen und über eine entsprechende Lizenz verfügen. Und der Staat sollte den Besitzern die amtliche Genehmigung wieder entziehen, sobald sich herausstellt, dass es wiederholt zu Ruhestörungen gekommen ist, »oder wenn das Lokal ein Treffpunkt zum Aushecken und Vorbereiten von Gesetzesverstößen wird« 136 . Sofern diese Bedingungen jedoch nicht erfüllt sind, hält Mill eine staatliche Beschränkung der in einer Stadt ansässigen Kneipen für ungerechtfertigt; jede andere Vorgehensweise passt »nur zu einem Gesellschaftszustand, in dem die arbeitenden Klassen erklärtermaßen wie Kinder oder Wilde behandelt werden, in dem sie einer Erziehung des Zwanges unterworfen werden« 137 . Dem Individuum kann kein Vorwurf gemacht werden, wenn es seine Zeit mit dem Trinken alkoholischer Getränke und dem Führen gehaltloser Gespräche verbringt, auch dann nicht, wenn die gewählten Vergnügungen zu Lasten seiner Gesundheit gehen. Mills Argumentation richtet sich in erster Linie darauf, gesellschaftlichen Schaden zu verhindern, während die Freiheit des Individuums unberührt bleiben soll, solange die Rechte anderer nicht verletzt werden. Vor diesem Hintergrund könnte leicht der Eindruck entstehen, dass das Individuum für sein Handeln allein verantwortlich ist, dass jede Handlungsweise legitim ist, solange die Freiheit anderer nicht berührt wird. Mill hat diese Auffassung suggeriert, indem er wiederholt darauf verwiesen hat, dass die Freiheit des Individuums nur durch das Schädigungsprinzip begrenzt werden darf: »Der Grund für die Nichteinmischung in die freiwilligen Handlungen eines Menschen, außer um anderer willen, ist die Rücksichtnahme auf seine Freiheit.« 138 Aber das ist nur die halbe Wahrheit, auch die individuelle Freiheit hat ihre natürlichen Grenzen; dem Menschen ist es beispielsweise nicht erlaubt, sich selbst als Sklave zu verkaufen, obwohl im Allgemeinen Vertragsfreiheit herrscht. Mill begründet dieses Verbot mit dem Argument, dass das Individuum in dem Moment, 135 136 137 138

ÜdF, AW, Band 3.1, S. 424. Ebd. Ebd. Ebd., S. 425.

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wo es sich selbst verkauft, auf den zukünftigen Gebrauch seiner Freiheit verzichtet. Das Verkaufen stellt gleichsam die letzte Handlung in Freiheit dar, bevor der Zwang einsetzt. Damit macht die Person aber genau den Zweck zunichte, welcher es ihr erlaubt hat, über sich selbst zu verfügen. Mit anderen Worten: »Das Prinzip der Freiheit kann nicht fordern, dass es ihm freistehen solle, unfrei zu sein; es ist keine Freiheit, sich seiner Freiheit zu entäußern.« 139 Aber selbst wenn Verträge in Freiheit geschlossen und gesetzlich verbürgt worden sind, muss es die rechtsstaatliche Möglichkeit geben, diese Verpflichtung wieder aufzuheben. Hierzu sollte es in der Regel ausreichen, wenn eine der beiden Parteien seinen erklärten Willen dazu abgibt. Ein Beispiel für einen solchen Fall wäre die Eheschließung bzw. die Scheidung. Im Gegensatz dazu ändert sich der Sachverhalt, wenn aus der Verbindung Kinder hervorgegangen sind; dann ergeben sich nämlich auf beiden Seiten Verpflichtungen gegenüber dritten Personen, die über die ursprüngliche Beziehung hinausweisen und daher ebenfalls zu berücksichtigen sind. Gleichwohl wiegen die Interessen der Nachkommen nicht so schwer, dass deshalb die Trennung nicht vollzogen werden darf, denn das würde bedeuten, dass die Einhaltung der Vereinbarung durch den Staat erzwungen werden müsste, was wiederum mit dem Freiheitsprinzip nicht vereinbar wäre, weil eine Schädigung im eigentlichen Sinne des Wortes nicht gegeben ist, auch wenn die Interessen der Kinder verletzt worden sind und einen Ausgleich erfordern. Ein weiterer Punkt, den Mill in diesem Zusammenhang beklagt, ist der Umstand, dass der Staat bisher die Freiheit des Individuums nicht ausreichend achtet, während er sich auf der anderen Seite auch nicht um die Angelegenheiten kümmert, die für ihn eigentlich von Interesse sein müssten. Die Rede ist musterhaft von der rechtlichen Ungleichbehandlung von Mann und Frau in der Ehe, wobei Mill sich klar positioniert und sich als einer der ersten überhaupt für eine Änderung des Gesetzes ausspricht. 140 Darüber hinaus wird niemand bestreiten, dass es die Pflicht der Eltern ist, für die in diese Welt gesetzten Kinder in physischer und psychischer Hinsicht angemessen zu sorgen; gleichwohl ist es kein Grundsatz des Staates, die Erziehung Ebd., S. 426. Vgl. dazu auch Ringo Narewski, »Die Mill’sche Grille. Die Frage der Emanzipation der Frau als Problem der Freiheit«, in: Höntzsch (Hg.), John Stuart Mill und der sozialliberale Staatsbegriff, a. a. O., S. 27–42. 139 140

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zu erzwingen, wenn die Eltern dieser Aufgabe nicht nachkommen, das Interesse von ihren Kinder abziehen und sich stattdessen um die Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse kümmern. Obwohl dieses Verhalten offenkundig zum Nachteil der Kinder ist, bleibt die persönliche Freiheit der Eltern in diesem Fall unangetastet. »Es wird immer noch nicht anerkannt, dass es ein moralisches Verbrechen ist, ein Kind auf die Welt zu bringen ohne eine berechtigte Aussicht, nicht nur in der Lage zu sein, ihm Nahrung für seinen Körper, sondern auch Unterweisung und Ausbildung für seinen Geist zu verschaffen.« 141 Die Unterlassung geschieht letztlich auf Kosten der Gesellschaft, weil sie die Folgen der Nichterziehung zu tragen hat, weil sie dafür zahlen muss, wenn die Kinder nicht zu anständigen Bürgern werden, sondern zu Menschen, die es gewohnt sind, sich unter Naturzustandsbedingungen zu bewegen, die nicht mit einem tragfähigen Wertesystem ausgestattet sind und die ihr Handeln nicht an allgemein geteilten Normen ausrichten. Der Staat sollte daher ein begründetes Interesse an der Durchsetzung der Erziehungspflicht haben und die Eltern an den gesellschaftlichen Kosten beteiligen, wenn sie sich der Pflichtverletzung gegenüber ihren Kindern schuldig gemacht haben. Mill vertritt die Überzeugung, dass der Staat »eine gute Erziehung für jedes Kind« 142 einfordern sollte, was nicht bedeutet, dass der Sprössling dazu verpflichtet werden kann, auf eine staatliche Schule zu gehen. »Die Einwände, die mit Recht gegen die staatliche Erziehung erhoben werden, gelten nicht dafür, dass der Staat Erziehung erzwingt, sondern dafür, dass der Staat es selbst übernimmt, diese Erziehung zu leisten, was etwas ganz anderes ist.« 143 Alles, was Mill im Hinblick auf die Individualität des Charakters gesagt hat, gilt auch im Hinblick auf die Vielfalt der Erziehung. Oder, anders formuliert, die Beschränkung auf rein staatliche Erziehung sollte zugunsten privater Bildung aufgegeben werden. »Eine allgemeine staatliche Erziehung ist nichts als eine Erfindung, um Leute so zu formen, dass sie einander genau gleichen« 144 , und das ist weder im Sinne der individuellen Selbstentfaltung noch des zivilisatorischen Fortschritts. Wo

141 142 143 144

ÜdF, AW, Band 3.1, S. 429. Ebd., S. 429. Ebd. Ebd., S. 429 f.

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Gleichheit ist, soll Individualität sein. Der Staat sollte sich darauf beschränken, das Schulgeld für die Kinder zu bezahlen, deren Eltern es sich nicht leisten können. Eine staatliche Schule sollte nur eine unter vielen Lehranstalten sein; auch sollten die Einrichtungen der marktwirtschaftlichen Konkurrenz unterworfen sein, damit sie um die klügsten Köpfe des Landes werben müssen. Es ist offenkundig, dass die Qualität der Ausbildung dadurch auf einem hohen Niveau gehalten wird, dass die Jugendlichen auf diese Weise von einem Schulsystem profitieren, das sie in die Lage versetzt, ihre individuelle Entwicklung sowie den gesellschaftlichen Fortschritt voranzutreiben. Dieser Umstand wird das Leben aller verbessern, weil ein tugendhafter Charakter der beste Weg ist, das allgemeine Glück zu befördern. Mill ist grundsätzlich gegen eine Schulpflicht, seiner Ansicht nach spricht nichts dagegen, seine Kinder auch zu Hause zu unterrichten. Gleichwohl lässt er ein gewisses Maß an staatlicher Kontrolle zu, wenn er sich dafür ausspricht, die Fortschritte der Kinder durch eine entsprechende Behörde abzuprüfen. Auch vertritt er die Überzeugung, dass die Eltern für die Bildung ihrer Kinder verantwortlich sind. Insofern sollten sie zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie ihre elterlichen Pflichten vernachlässigen und die Talente ihrer Kinder ungefördert lassen. Mill macht den Vorschlag, den Nachwuchs in einem bestimmten Alter auf seine Lesefähigkeit hin zu prüfen. Wenn die Kinder die Prüfung nicht bestehen, sollten die Eltern mit einer Geldstrafe belegt werden. Von dem gezahlten Strafgeld können die Sprösslinge dann auf eine staatliche Schule gehen, um die von ihren Eltern verschuldeten Defizite wieder auszugleichen. »Einmal pro Jahr sollte die Prüfung wiederholt werden, mit einem sich allmählich erweiternden Themenspektrum, so dass das umfassende Erwerben und, was entscheidender ist, das Einprägen eines gewissen Minimums allgemeinen Wissens quasi verpflichtend gemacht würde.« 145 Ein Aspekt, auf den Mill in diesem Zusammenhang besonders Wert legt, ist, dass der Staat daran gehindert werden muss, »einen ungebührlichen Einfluss auf die Meinungen auszuüben« 146 . Damit ist gemeint, dass es bei Prüfungen – insbesondere bei geisteswissenschaftlichen Fächern – nicht darum gehen darf, welche der Meinungen die richtige oder die falsche ist. Es geht vielmehr darum, dass der Kandidat ver-

145 146

Ebd., S. 430. Ebd., S. 431.

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steht, »dass diese und jene Ansicht aus diesen Gründen von diesen Autoren oder Schulen oder Kirchen vertreten wird« 147 . Der Staat hat kein Recht, in die persönliche Meinungsbildung einzugreifen, er darf seine Bürger allenfalls mit Wissen versorgen, damit sie sich eine eigene Meinung bilden können; »er darf völlig rechtens anbieten, festzuhalten und zu bescheinigen, dass jemand das Wissen besitzt, das nötig ist, um seine Schlussfolgerungen zu jedem beliebigen Thema anzustellen, das der Beachtung wert ist« 148 . Nur wenn ein gesellschaftliches Klima der Freiheit herrscht, kann das Individuum sich mit verschiedenen Auffassungen auseinandersetzen und sich eine Meinung bilden, die allein auf besseren Gründen und nicht auf größerer Macht gründet. »Alle Versuche des Staates, die Meinungen seiner Bürger zu strittigen Themen einseitig zu beeinflussen, sind von Übel« 149 . Obwohl Mill sich, wie bereits erwähnt, für das staatliche Zwangsprüfen von Elementarwissen ausspricht, vertritt er zugleich die Auffassung, dass Examina, die über die berufliche Zukunft einer Person entscheiden, freiwillig sein sollten, weil der Staat nicht das Recht hat, den Menschen den Zugang zu bestimmten Berufen zu verweigern, nur weil er der Auffassung ist, dass diese oder jene Person für diese oder jene Arbeit ungeeignet ist. Ebenso wie Humboldt ist auch er der Meinung, dass akademische Grade und handwerkliche Meisterbriefe zwar durch den Staat verliehen werden sollten, wenn freiwillig Prüfungen abgelegt und bestanden worden sind, aber diesen Zertifikaten darf nicht mehr Bedeutung gegeben werden, als ihnen vom öffentlichen Bewusstsein her zugestanden wird. 150 Abgelegte Prüfungen sollten nicht die alleinige Voraussetzung für berufliche Karrieren sein. Wie wichtig Mill eine gute Bildung ist, zeigt sich auch daran, dass er sich vor dem Hintergrund der Malthusschen Bevölkerungstheorie für eine freiwillige Geburtenkontrolle ausspricht, um den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich unter Bedingungen allgemeiner Knappheit zu verwirklichen. Abschließend geht es noch um eine Reihe von Fragen, welche die positiven Grenzen staatlicher Einmischung betreffen. Oder anders formuliert: »Es geht nicht um die Frage, inwieweit die Handlungen von Individuen eingeschränkt werden, sondern darum, sie zu för147 148 149 150

Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 431 f.

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dern.« 151 Die Schwierigkeit besteht darin zu klären, ob die staatliche Autorität sich in das Leben der Bürger einmischen sollte, ob sie Maßnahmen ergreifen sollte, um die Individuen zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen, oder ob sie es ihnen selbst überlassen sollte, für sich etwas zu tun, was ihren Charakter kultiviert. Im Folgenden werden die drei Argumente verhandelt, die Mill gegen eine staatliche Einmischung anführt. Das erste Argument besagt, dass es grundsätzlich besser ist, wenn eine Leistung von den Individuen selbst erbracht wird und nicht von der Regierung, weil niemand eine Sache besser machen kann als derjenige, der ein unmittelbares Interesse daran hat. Es handelt sich hier um eine Variante der liberalen Sichtweise, der zufolge es prinzipiell besser ist, staatliche Betriebe zu privatisieren, um die wirtschaftliche Produktivität zu erhöhen. Dem Staat ist in Fragen unternehmerischer Betätigung generell nicht zu trauen, weil die Papierberge der amtlichen Bürokratie ihm den Blick auf die ökonomischen Realitäten verstellen. Zweitens gibt es Aufgaben, die vom Staat zwar besser ausgeführt werden könnten, es aus Gründen der »nationalen Erziehung« 152 aber vernünftiger ist, wenn sie von den Bürgern selbst erledigt werden. »Dies ist eine wesentliche, wenn auch nicht die einzige Empfehlung für Geschworenengerichte […] für freie und allgemeine kommunale und städtische Institutionen, für die Leitung industrieller und wohltätiger Unternehmen durch freiwillige Vereinigungen.« 153 Freilich betreffen diese Dinge das Freiheitsproblem nicht direkt, gleichwohl sind es Fragen der Entwicklung und des Fortschritts und insofern eng mit dem Thema verbunden. Mill verbindet mit diesen Gedanken die Idee der menschenbildenden Volkserziehung, und zwar in dem Sinne, dass er davon überzeugt ist, dass die Menschen auf diese Weise aus ihrer privaten Isolierung herausgeholt werden und in Kontakt nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit gemeinsam geteilten Werten kommen; »indem die Menschen aus dem engen Kreis persönlicher und familiärer Selbstsüchtigkeit herausgeführt und an das Verständnis gemeinschaftlicher Interessen gewöhnt werden, an die Bewältigung gemeinschaftlicher Belange« 154 , erfahren sie eine öffentliche Veredelung ihres Charakters, die nicht 151 152 153 154

Ebd., S. 433. Ebd., S. 434. Ebd. Ebd.

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nur die Menge des Glücks in der Gesellschaft erhöht, sondern auch die individuelle Entwicklung und den zivilisatorischen Fortschritt voranbringt. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass eine demokratische Ordnung der Gesellschaft nur dauerhaft bestehen kann, wenn es gelingt, die individuellen Kräfte mit denen der Allgemeinheit zu verschränken; anderenfalls zersetzen die selbstsüchtigen Tendenzen des Individualismus den Sozialkörper, was zu Lasten der Bildung des nationalen Charakters geht. Ein weiteres Argument, die Bürger in ihrer Vervollkommnung zu unterstützen, lautet, dass dadurch empirisches Wissen generiert wird, auf dass die Gesellschaft bei Bedarf zurückgreifen kann. Die Aufgabe des Staates ist es, »jeden, der Lebensexperimente anstellt, in die Lage zu versetzen, von den Versuchen anderer zu profitieren, statt keine Experimente außer den eigenen zu dulden« 155 . Der dritte Einwand, warum das Eingreifen des Staates in das Leben der Individuen zu beschränken ist, lautet, dass es grundsätzlich ein Übel ist, wenn die öffentliche Autorität zu viel Macht und Einfluss besitzt. Mill ist der Überzeugung, dass ein Machtzuwachs des Staates letztlich nur dazu führt, dass die Ehrgeizigen zu Mitläufern des Staates werden, weil sie sich hier die größten Karrieren versprechen. Auch ist fraglich, ob eine Gesellschaft noch als frei bezeichnet werden kann, wenn die Straßen, Eisenbahnen, Universitäten, Banken und Versicherungsanstalten in der Hand des Staates sind, wenn die kommunalen Verwaltungen jeden Quadratzentimeter des öffentlichen Raumes verwalten und so gut wie jeder Bürger von der Regierung eingestellt und bezahlt wird. Mill hat wenig Verständnis für die Vorschläge einiger seiner Landsleute, durch geeignete Prüfungen diejenigen aus der Volksmasse herauszufiltern, die am begabtesten sind; denn dies würde zu einer Situation führen, in der die individuellen Kräfte der Bürger vollständig zum Erliegen kommen, weil sie sich nur noch auf die Führung des Staates verlassen würden. »Die Masse würde Leitung und Bevormundung erwarten, die Begabten und Emporstrebenden persönliches Vorankommen.« 156 Ein Ausbau des Staates ist auch deshalb abzulehnen, weil es dann kaum noch qualifizierte Menschen gibt, die sich mit den offiziellen Strukturen auseinander-

155 156

Ebd., S. 435. Ebd., S. 436.

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setzen, sie auf ihre Vernünftigkeit hin prüfen und die »Arbeitsweise der Bürokratie« 157 kritisieren. Mill steht dem Staat skeptisch gegenüber. Eine Sozialordnung, die sich auf eine vormundschaftliche Beziehung zwischen Herrschern und Beherrschten gründet, kommt für ihn nicht in Frage, nicht zuletzt deshalb, weil die Freiheit des Individuums darin zu wenig Raum findet. Auch wird es äußerst schwierig sein, Reformen auf den Weg zu bringen, insbesondere, wenn es sich um Erneuerungen handelt, die den Interessen des Verwaltungsapparats widersprechen. Es ist leicht einzusehen, dass durch eine Bürokratisierung der Gesellschaft ein Klima geschaffen wird, das den zivilisatorischen Fortschritt nicht befördert, sondern eher behindert. Um seine Ausführungen zu untermauern, verweist Mill auf verschiedene Gesellschaften. In Russland beispielsweise ist der Zar völlig machtlos gegenüber der Beamtenherrschaft, denn gegen jede seiner Anordnungen kann sie sich leicht zur Wehr setzen, indem sie die Ausführung derselben verweigert. Und auch gegen die mächtigen Administrationen in China ist jeder Bürger hilflos. »Ein chinesischer Mandarin ist genauso das Werkzeug und Geschöpf des Despotismus wie der niedrigste Bauer.« 158 Das Gleiche gilt für einen Jesuiten, auch er ist ein Sklave seines Ordens. Es gibt aber auch positive Beispiele: Neben den Franzosen sind es vor allem die Amerikaner, die aufgrund ihres liberalen Gesellschaftsklimas daran gewöhnt sind, ihre Geschäfte selbstständig ohne die Bevormundung staatlicher Bürokratie abzuwickeln. Wenn es um die schwierige Frage geht, wo die Grenze des kollektiven Einflusses gezogen werden sollte, gibt Mill insofern eine Antwort, als dass er einen Grundsatz aufstellt: »die größtmögliche Dezentralisierung der Macht, die noch mit ihrer Wirksamkeit vereinbar ist, aber die größtmögliche Zentralisierung von Information und die Verbreitung derselben vom Zentrum aus« 159 .

157 158 159

Ebd. Ebd., S. 437 f. Ebd., S. 439.

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Schluss Die systematische Bedeutung von Erziehung und Bildung

An dieser Stelle wird nun eine Antwort auf die in der Einleitung gestellte Frage gegeben. Wie bereits zu Beginn der Studie deutlich geworden ist, können Mills sozialphilosophische Gedanken nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Sie stehen nicht nur in einem gewissen inhaltlichen Zusammenhang, wenngleich eine vollständige Einheit sich aufgrund des methodischen Eklektizismus nur schwer herstellen lässt; sie stehen auch in einem Bezug zu den gesellschaftlichen Verhältnissen, wie sie von Mill gesehen werden. Diesem Umstand ist insofern Rechnung getragen worden, als dass anfänglich eine Beschäftigung mit dem Aufsatz Zivilisation (1835) stattgefunden hat, jenem Artikel, in dem Mill sich mit dem zivilisatorischen Fortschritt und seinen gesellschaftlichen Folgen beschäftigt. Da er hier Zeugnis ablegt über die positiven und negativen Entwicklungen der Zivilisation, erschien es sinnvoll, die Abhandlung als theoretische Rahmung den einzelnen Kapiteln vorzuschalten. Viele seiner politischen, sozialen und ökonomischen Überlegungen entfalten ihre volle Reichweite nämlich erst vor dem Hintergrund dieses programmatischen Textes. Es kann also nicht überraschen, dass uns einige der Gedanken an dieser Stelle erneut beschäftigen werden, da sie zur Beantwortung der vorgelegten Forschungsfrage ebenfalls von Bedeutung sind. Allerdings kann die vorgelegte Frage nach der systematischen Bedeutung von Erziehung und Bildung in Mills Werk erst beantwortet werden, wenn zuvor geklärt worden ist, wie er die Begrifflichkeiten versteht bzw. wie er sie im Rahmen seiner sozialen Philosophie verwendet. Das Schlusskapitel der Arbeit ist infolgedessen zweigeteilt. In einem ersten Schritt findet eine inhaltliche Klärung des Mill’schen Erziehungs- und Bildungsbegriffs statt. Interessant ist hierbei vor allem die Frage, inwieweit er zwischen beiden Ausdrücken unterscheidet und diese sich mit der modernen Differenzierung von Erziehung, Bildung und Sozialisation in Verbindung bringen lassen. 321 https://doi.org/10.5771/9783495817070 .

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Die Beschäftigung findet unter Einbeziehung verschiedener Gedanken aus den einzelnen Kapiteln statt; auf diese Weise erfolgt eine inhaltliche Rückbindung an das bisher Erarbeitete. In einem zweiten Schritt wird dann der Versuch unternommen, eine Antwort auf die eingangs gestellte Fragestellung zu formulieren. Mills Bildungs- und Erziehungsverständnis – Bevor eine Antwort auf die Frage formuliert werden kann, welche systematische Bedeutung Erziehung und Bildung in Mills sozialer Philosophie haben, muss geklärt werden, was Mill unter diesen Begriffen versteht. 1 Bildung, so seine Auffassung, umfasst zunächst das, »was wir für uns selbst tun und was für uns von anderen getan wird, beides in der bestimmten Absicht, uns der Vollkommenheit, deren unsere Natur fähig ist, um einige Schritte näher zu bringen; mehr noch: In ihrem weitesten Verständnis schließt sie auch die mittelbaren Wirkungen auf Charakter und menschliche Fähigkeiten mit ein, welche von Dingen ausgehen, deren unmittelbare Zwecke ganz andere sind: von Gesetzen, von Regierungsformen, von Künsten und Gewerben, von Formen des sozialen Lebens, ja sogar von physikalischen Tatsachen, welche vom menschlichen Willen unabhängig sind, von Klima, Bodenbeschaffenheit und örtlicher Lage. Was immer dazu beiträgt, das menschliche Wesen zu formen, das Individuum zu dem zu machen, was es ist, oder es zu hindern, das zu werden, was es nicht ist, – macht einen Teil seiner Bildung aus« 2 . Dieses Zitat fasst Mills Bildungsverständnis auf gelungene Weise zusammen. Bildung umfasst hier zunächst die Selbstkonstruktion des Menschen. 3 Der Begriff schließt aber auch solche Handlungen Zum Erziehungsbegriff bei Mill siehe auch Rössner, Reflexionen zur pädagogischen Relevanz der Praktischen Philosophie John Stuart Mills, a. a. O., S. 238–248. 2 Re, AW, Band 2, S. 300 f. 3 »Im Bildungsbegriff und seinen Theorien werden zumindest vier nicht aufeinander reduzierbare Themen behandelt: (1) die Prozesse und Normen, Formen und Ergebnisse der Selbstkonstruktion des Menschen, (2) die Prinzipien der Gestaltung der gesellschaftlichen Organisation des Lehrens und Lernens, (3) eine Perspektive für die Selbstthematisierung von Gesellschaften und (4) eine der wesentlichen Möglichkeiten der kategorialen Orientierung der Humanwissenschaften.« Heinz-Elmar Tenorth/Rudolf Tippelt (Hg.), Lexikon der Pädagogik, Weinheim/Basel 2012, S. 92 f. Zum Aspekt der Selbstkonstituierung siehe auch Nicole Welter, »Sozialisationserfahrungen und innere Dialoge als Dimensionen der Selbstkonstituierung«, in: Margret Dörr u. a. (Hg.), Erinnerung – Reflexion – Geschichte. Erinnerung aus psychoanalytischer und biographietheoretischer Perspektive, Wiesbaden 2008, S. 141–152. 1

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mit ein, die von anderen Individuen für uns getan werden, wobei Mill hinzufügt, dass auch dieses Verhalten in der Regel nicht ungerichtet, sondern intentional ist. Indes kann das Ziel der Bildung nicht willkürlich sein, weil es an die anthropologische Grammatik der menschlichen Natur gebunden ist. Die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen findet ihre Grenze in der natürlichen Ausstattung desselben. Sodann subsumiert Mill eine Reihe von gesellschaftlichen Einflüssen unter seinen Bildungsbegriff, wie sie beispielsweise von Gesetzen, Regierungssystemen oder Formen des sozialen Miteinanders ausgehen. Darüber hinaus umfasst seine Bildungsauffassung auch physikalische Tatsachen, die zwar nicht intentional sind, aber dennoch einen beachtenswerten Einfluss auf die menschliche Entwicklung haben. Bildung ist letzthin alles, was auf das Individuum einwirkt und seinen Charakter formt – seien es persönliche, gesellschaftliche oder physikalische Kräfte. Mill präsentiert einen umfangreichen Bildungsbegriff. Allerdings dürfte an dieser Stelle auch deutlich geworden sein, dass er vor dem Hintergrund seiner Zeit nicht zwischen Erziehung, Bildung und Sozialisation differenziert. Bildung und Erziehung werden von ihm synonym verwendet. Ich werde im Folgenden darauf zurückkommen und eine klärende Ordnung der Begrifflichkeiten vorschlagen. Mill schenkt den gesellschaftlichen Tatsachen im Rahmen seiner sozialphilosophischen Ausführungen besondere Aufmerksamkeit. Daher lässt Bildung sich in einem ersten Schritt als etwas verstehen, was ich als mittelbare Erziehung durch gesellschaftliche Tatsachen bezeichnen möchte. Diese Form der Erziehung wirkt nicht nur durch private Zusammenschlüsse auf das Individuum ein, sondern auch durch staatliche Institutionen und Organisationen. Dieser Gedanke reflektiert die Einsicht, dass unser Charakter im hohen Maße durch die ihn umgebenden Verhältnisse geformt wird, was zugleich das Problem von Notwendigkeit und Freiheit berührt. Geht man nämlich davon aus, dass unser Handeln durch unseren Charakter und dieser wiederum durch die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse gebildet wird, gelangt man zu dem Schluss, dass der Mensch unfrei ist. Das menschliche Verhalten entspringt nicht der Freiheit des Willens, sondern ist das Resultat von Voraussetzungen, die eindeutig festgelegt sind. »Nun ist ein Vertreter der Notwendigkeitslehre in dem Glauben, daß unser Handeln aus unserem Charakter und unser Charakter aus unserer Organisation, unserer Erziehung und unseren

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Verhältnissen fließt, geneigt, in bezug auf seine eigenen Handlungen mit mehr oder weniger Bewußtsein Fatalist zu sein und zu glauben, daß seine Natur so beschaffen ist oder daß Erziehung und Verhältnisse seinen Charakter so geformt haben, daß ihn jetzt nichts mehr abhalten kann, in seiner bestimmten Art zu fühlen oder zu handeln, oder daß wenigstens keine Anstrengung von seiner Seite dies verhindern kann.« 4 Die individuelle Freiheit führt Mill ein, indem er darauf hinweist, dass der Mensch, obgleich sein Charakter das Ergebnis von Erziehung und gesellschaftlichen Verhältnissen ist, durchaus in der Lage ist, sich unter den Einfluss neuer sozialer Tatsachen zu stellen. »Wir sind genauso […] fähig, unseren eigenen Charakter zu bilden, wenn wir wollen, als andere es waren, ihn zu bilden.« 5 Das emotionale Vermögen, welches der Mensch empfindet, wenn er den Wunsch verspürt, seinen bisherigen Charakter hinter sich zu lassen, bezeichnet Mill als »das Gefühl sittlicher Freiheit« 6 . Indem das Individuum sich dem gewohnten Einfluss geänderter Verhältnisse aussetzt, wirken frische Kräfte auf es ein, die seinen Charakter schrittweise umarbeiten, bis sich eine neue solide charakterliche Struktur gebildet hat, welche die alte ersetzt. Hier finden sich Anzeichen eines emanzipatorischen Bildungsbegriffs im Sinne einer kritischen Erziehungswissenschaft. Die Diskussion um Willensfreiheit und Notwendigkeit, die am Ende die Frage der menschlichen Natur berührt, findet ihre Entsprechung in der persönlichen Erfahrung Mills im Kontext seiner seelischen Lebenskrise, von der er im fünften Kapitel seiner Autobiographie berichtet. Im Rahmen seiner Reflexionen über die Ursachen seiner Depression gelangt er zunächst zu der Einsicht, dass alle moralischen und ästhetischen Gefühle »Resultate der Assoziation« 7 sind – »dass wir natürlich dies lieben und jenes hassen, an der einen Handlung oder Betrachtung Lust oder Unlust empfinden, je nachdem[,] [ob] wir entsprechend unserer Erziehung und Erfahrung angenehme oder peinliche Ideen damit in Verbindung bringen« 8 . Daraus ziehen Mill und sein Vater, der ja bekanntlich selbst ein Vertreter der Asso-

4 5 6 7 8

Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 46. Ebd., S. 46 f. Ebd., S. 47. Au, AW, Band 2, S. 114. Ebd.

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ziationspsychologie gewesen ist, den Schluss, »dass die Erziehung darauf abheben müsse, möglichst starke Assoziationen von heilsamer Art einzupflanzen – angenehme Assoziationen für alles, was wohltätig auf das große Ganze einwirkt, und gegenteilige für alles, was dieses große Ganze schädigt« 9 . Was die Ursachen seiner depressiven Stimmungen angeht, erblickt Mill diese vor allem in der Einseitigkeit seiner Erziehung, in der durch seinen Vater in den Mittelpunkt gestellten Ausbildung seiner intellektuellen Fähigkeiten bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Kultivierung der moralischen und ästhetischen Gefühle; »keine Kraft in der Natur schien auszureichen, eine Neubildung meines Charakters anzuregen und in einem Geist, der jetzt unwiederbringlich analytisch war, frische Assoziationen für irgendeinen Zielpunkt des menschlichen Begehrens zu schaffen« 10 . Festgehalten werden soll hier, dass Mill sein Leiden mit dem Begriff der Einseitigkeit in Verbindung bringt; ein Aspekt, der uns im Folgenden abermals beschäftigen wird. Bis zu dieser Stelle läuft Mills Bericht auf die fatalistische Einsicht hinaus, dass sein Charakter das Ergebnis äußerer Umstände, d. h., einer Notwendigkeit ist, der er sich nicht entziehen konnte und deren Resultat er nun nicht mehr verändern kann; »allein die Besonderheit meiner Erziehung hatte der Allgemeinerscheinung einen speziellen Charakter verliehen, so dass ich lange Zeit nichts anderes darin sehen konnte als die natürliche Wirkung von gewissen Ursachen« 11 . Als Mill die Memoiren von Jean F. Marmontel, einem französischen Historiker und Schriftsteller, in die Hände fallen, rühren ihn die darin beschriebenen Szenen zu Tränen und es gelingt ihm, seine seelische Krise schrittweise zu überwinden. Allerdings sind es weniger die Gründe der Genesung als vielmehr die Konsequenzen, die im vorliegenden Kontext wichtig sind. Einerseits zieht Mill den Schluss, dass zwar weiterhin das »Glück der Prüfstein aller Verhaltensregeln und der Endzweck des Lebens« 12 ist, aber das Glück nicht erreicht wird, wenn man es direkt zum Ziel des Handelns macht. »Bloß diejenigen sind glücklich, dachte ich, welche ihren Sinn auf irgendetwas anderes als auf das eigene Glück gesetzt haben – auf das Glück anderer zum Beispiel, auf die Veredelung Ebd. Ebd., S. 116. 11 Ebd., S. 117. 12 Ebd., S. 118 9

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der Menschheit, ja sogar auf irgendeine Kunst oder Beschäftigung, die nicht als Mittel, sondern um ihrer selbst willen nach einem idealen Ziel strebten.« 13 Mit dieser weitreichenden Einsicht verlässt Mill auch den Boden des klassischen Utilitarismus, der das den privaten Nutzen maximierende Individuum ins Zentrum der Untersuchung stellt und sich allein an den Handlungsregeln strategischer Rationalität orientiert. Anders formuliert: Die Ich-Sucht führt nicht zum Glück, jedenfalls nicht zum Glück, wie Mill es versteht. Sein Verständnis von Glück schließt nicht nur eine Orientierung an den höheren Formen der Freude, sondern auch eine Berücksichtigung allgemeiner Interessen mit ein. Dass der Mensch entgegen seiner Natur handelt, wenn er sich allein auf private Nutzenmaximierung konzentriert, wird sofort verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Mill im Rahmen seiner utilitaristischen Morallehre von den »sozialen Gefühlen der Menschen« 14 spricht, welche die geistige Grundlage für gesellschaftliche Kooperation darstellen. Wird dieses natürliche Vermögen nicht entwickelt, bleibt der Mensch hinter seinem eigentlichen Potenzial zurück. »Soziales Zusammenleben ist dem Menschen gleichzeitig so natürlich, so notwendig und so vertraut, dass er sich – von ungewöhnlichen Umständen oder einem bewussten Akt der Abstraktion abgesehen – nie anders denkt denn als Bestandteil eines Körpers; und diese Assoziation verfestigt sich immer stärker, je weiter sich die Menschen vom Zustand wilder Selbstständigkeit entfernen.« 15 Obwohl die moralischen Gefühle des Menschen nicht angeboren sind, sind sie nicht weniger natürlich. 16 Es ist kein Zufall, dass Mill im Rahmen seiner Modifikation des klassischen Utilitarismus versucht zu zeigen, dass alle Fälle der Nützlichkeit auch Fälle der Gerechtigkeit sind. Es ist ihm ein Kernanliegen, das Nützlichkeitsprinzip gemeinschaftsfähig zu machen, da es mit dem Freiheitsprinzip die Verfassung einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung bildet. Andererseits – hier kommt die sittliche Freiheit ins Spiel, von der weiter oben bereits die Rede gewesen ist – bewirkt Mills seelische Krise, dass er den Blick nach innen richtet und aufhört, »dem Orden der äußeren Umstände und der Erziehung des Menschen zur Speku13 14 15 16

Ebd. Ut, AW, Band 3.1, S. 477. Ebd. Vgl. ebd., S. 476.

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lation und Tätigkeit fast ausschließlich Wichtigkeit beizulegen« 17 . Er erkennt, dass die äußeren Umstände nicht die einzige Kraft der Erziehung sind, sondern dass auch die eigene Freiheit die Charakterbildung beeinflussen kann, indem man sich selbst unter den Einfluss neuer Kräfte stellt. Gleichzeitig gelangt er zu der folgenschweren Einsicht, dass eine Erziehung der Einseitigkeit, d. h. eine Konzentration auf die Ausbildung der Verstandeskräfte, nicht das Einzige ist, was wichtig ist. Eine Berücksichtigung der Gefühle ist ebenfalls von Bedeutung: »Die Kultivierung der Gefühle wurde einer der Kardinalpunkte in meinem ethischen und philosophischen Glaubensbekenntnis, und meine Gedanken und Neigungen wandten sich in zunehmendem Maß allem zu, was geeignet schien, für diesen Zweck als Werkzeug zu dienen.« 18 Mill geht es nicht nur um die Schulung der intellektuellen Fähigkeiten, sondern auch um die Erziehung der moralischen und ästhetischen Fähigkeiten des Menschen, mit dem Ziel eines ausgewogenen Charakters, der sich sowohl um seinen privaten Vorteil als auch um das allgemeine Wohl kümmert. Neben einem weiten Bildungsverständnis, das als mittelbare Erziehung durch gesellschaftliche Tatsachen gekennzeichnet worden ist, hat Mill auch einen engen Begriff von Erziehung. Unter Bildung im engeren Sinne versteht er die Erziehung, die von den Älteren willentlich an die Jüngeren weitergegeben wird, »diejenige Erziehung, welche jede Generation mit bewusster Absicht ihren Nachfolgern gibt, um sie fähig zu machen, die erreichte Stufe des Fortschritts zumindest zu behaupten und, wo möglich, noch weiter vorwärtszugelangen« 19 . Diese Art der Bildung umfasst nicht nur die familiäre oder häusliche Erziehung, sondern auch die akademische Ausbildung der Schule und der höheren Bildungsanstalten. Dieses engere Verständnis von Bildung möchte ich als intentionale Erziehung durch soziale Institutionen bezeichnen. Während Mill bis zu seiner seelischen Krise unter Bildung vor allem die Schulung des Intellekts verstanden hat, umfasst sein reifes Verständnis von Erziehung mehrere Dimensionen. Das Individuum erfährt dann eine bildende Erziehung, wenn es neben der Ausbildung des Intellekts auch eine Kultivierung der moralischen, ästhetischen und religiösen Gefühle erfährt. Auffallend ist, dass Mill die mora17 18 19

Au, AW, Band 2, S. 119. Ebd. Re, AW, Band 2, S. 301.

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lische und religiöse Erziehung in der Familie und weniger im staatlichen Bildungswesen verortet. »Moralische und religiöse Erziehung bestehen in einer Schulung der Gefühle und der täglichen Gewohnheiten, und diese liegen im Wesentlichen außer der Sphäre der öffentlichen Erziehung und ist ihrer Beaufsichtigung unzugänglich.« 20 Die häusliche Erziehung ist für die charakterliche Grundausstattung verantwortlich, wobei sie dann durch die Phänomene der Gesellschaft verändert wird. »Das Haus, die Familie ist es, welche uns die moralische oder religiöse Erziehung erteilt, die wir wirklich besitzen; und dieselbe wird vervollständigt und modifiziert, bald zum Besseren, bald zum Schlechteren, durch die Gesellschaft und durch Meinungen und Gefühle derer, welche uns umgeben.« 21 Spätestens hier wird deutlich, wie die intentionale Erziehung durch soziale Institutionen und die mittelbare Erziehung durch gesellschaftliche Tatsachen miteinander zusammenhängen. Interessant ist, dass, je nachdem wie die Verhältnisse beschaffen sind, die Gesellschaft einen guten oder schlechten Einfluss auf die charakterliche Basis des Individuums hat. Einen guten Einfluss hat sie, wenn sie die charakterliche Vervollkommnung der Menschen unterstützt; einen schlechten Einfluss aber hat sie, wenn sie diese verhindert oder gar unmöglich macht. Obwohl Mill seinen Erziehungs-/Bildungsbegriff in einen weiten und einen engen differenziert, ergibt sich ein Problem, da er die Begrifflichkeiten nicht unterscheidet; Bildung und Erziehung werden von ihm synonym verwendet, was wohl daran liegt, dass zu seiner Zeit noch nicht zwischen Erziehung, Bildung und Sozialisation unterschieden worden ist. 22 Da hier aber geklärt werden soll, welches Verständnis Mill von Erziehung und Bildung hat, erscheint es sinnvoll zu untersuchen, in welchem Sinne er die Begriffe im Rahmen seiner sozialen Philosophie verwendet. In einem weiten Sinne umfasst der Erziehungsbegriff alle mittelbaren Wirkungen auf den menschlichen Charakter. Diese Art der Erziehung lässt sich vor dem Hintergrund einer modernen Begriffsdifferenzierung als Sozialisation verstehen. 23 Der Ausdruck SozialiEbd., S. 349 f. Ebd. 22 Der Begriff der Sozialisation hat erst eine rund 100-jährige Geschichte, wobei seine Anfänge eher in der Soziologie als in der Pädagogik zu finden sind. Vgl. dazu Tenorth/ Tippelt (Hg.), Lexikon der Pädagogik, a. a. O., S. 672. 23 Die folgenden Ausführungen zu den Begriffen der Sozialisation, Erziehung und Bildung gehen auf die Gedanken zu den Grundbegriffen pädagogischen Handelns 20 21

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sation bewegt sich zwischen der Gesellschaft einerseits und dem Individuum andererseits. Er betont den wechselseitigen Einfluss beider Größen. Der Mensch steht in einer beständigen Wechselwirkung mit seiner Umwelt und wird von dieser im hohen Maße beeinflusst. Wenn Mill von mittelbaren Wirkungen kollektiver Institutionen auf den menschlichen Charakter spricht, kennzeichnet er im Grunde gesellschaftliche Sozialisationsprozesse, die sich als persönliche Anpassungsvorgänge an soziale Realitäten verstehen lassen. Begreift man Mills weiten Erziehungsbegriff als Sozialisation, wird zugleich verständlich, warum seine sozialphilosophischen Ausführungen von seinen bildungspolitischen Ansichten nicht zu trennen sind. Als Träger von Werten und Normen kommt den gesellschaftlichen Institutionen bei der interaktiven Entwicklung der Persönlichkeit eine zentrale Aufgabe zu. Daneben hat Mill auch einen engen Erziehungsbegriff, den ich als intentionale Erziehung durch soziale Institutionen gekennzeichnet habe. Der Ausdruck umfasst nicht nur die familiäre oder häusliche Erziehung, sondern auch die schulische und universitäre Ausbildung. Zunächst lässt sich festhalten, dass der Begriff der Erziehung nicht so umfassend ist wie der der Sozialisation. Während der erste im Allgemeinen »die geplante Beeinflussung Heranwachsender« 24 charakterisiert, schließt der zweite auch die nichtgeplanten Wirkungen mit ein, wobei diese, wie Mill in seinem Aufsatz Zivilisation gezeigt hat, nicht nur positiv, sondern auch negativ sein können. Auf der Basis der pädagogischen Grundbegriffe Erziehung, Bildung und Sozialisation wird im vorliegenden Kontext davon ausgegangen, dass Mill im Rahmen der intentionalen Erziehung einmal Erziehung und einmal Bildung meint. Da er unter Bildung im engeren Sinne diejenige Erziehung versteht, »welche jede Generation mit bewusster Absicht ihren Nachfolgern gibt« 25 , kann davon ausgegangen werden, dass er hier Erziehung von Reinhard Hörster, Michael Winkler und Werner Helsper zurück; vgl. dazu HeinzHermann Krüger/Werner Helsper (Hg.), Einführung in Grundbegriffe und Grundfragen der Erziehungswissenschaft, Opladen/Farmington Hills 2010, S. 45–89. Zur historischen und systematischen Entwicklung der Begriffe Erziehung, Bildung und Sozialisation siehe Tenorth/Tippelt (Hg.), Lexikon der Pädagogik, a. a. O., S. 92 ff., 204 ff., 672 ff. 24 Krüger/Helsper (Hg.), Einführung in Grundbegriffe und Grundfragen der Erziehungswissenschaft, a. a. O., S. 80. 25 Re, AW, Band 2, S. 301.

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im eigentlichen Sinne des Wortes meint. Spricht er aber vom akademischen Einfluss, bewegt er sich im Kontext institutioneller Bildung. Mills Bildungsbegriff ist im Wesentlichen von Humboldt beeinflusst. Es ist das autonome Individuum, das bei Mill von Bedeutung ist. Gleichzeitig ist der Mensch in eine Theorie des geistigen Fortschritts eingebunden. »Die Individualisierung im Zeitalter der Aufklärung und deren Radikalisierung in Klassik und Romantik stellt zugleich die Frage nach der Kultivierung der Individualität ins Zentrum des Interesses.« 26 Das Humboldt’sche Bildungsideal verlangt ganzheitliche Entwicklung. Das Ziel ist der mündige Weltbürger, der seine Vernunft im Sinne autonomer Selbstbestimmung gebraucht. Soziale Freiheit und individuelle Selbstverwirklichung sind untrennbar miteinander verbunden. Dass Mill der Erziehung im Rahmen seiner gesellschaftstheoretischen Überlegungen einen prominenten Platz einräumt, zeigt sich schon daran, dass er sich für die Gründung einer Wissenschaft von der Bildung des Charakters ausspricht, deren Aufgabe darin besteht, unter Anwendung der deduktiven Methode die allgemeinen Gesetze zu ermitteln, die an der Entstehung des individuellen und nationalen Charakters beteiligt sind. »Nach dieser Definition ist die Ethologie die Wissenschaft, welche der Kunst der Erziehung im weitesten Sinne des Wortes entspricht, indem sie ebensosehr auf die Bildung eines nationalen oder Gesamtcharakters, wie auf jene des individuellen Charakters Bezug hat.« 27 Es ist evident, dass die Ethologie sowohl eine enge Beziehung zur Psychologie als auch zur Sozialwissenschaft unterhält, wobei alle drei Disziplinen zentrale Bestandteile der Wissenschaft von der menschlichen Natur sind, die ihrerseits in unmittelbarer Verbindung zur utilitaristischen Lehre steht. Zur systematischen Bedeutung von Erziehung und Bildung – Obwohl bis zu dieser Stelle eine Benennung des Erziehungs- und Bildungsverständnisses Mills stattgefunden hat, ist noch nicht geklärt, welche systematische Bedeutung diese Begriffe im Rahmen seiner sozialen Philosophie haben; gleichwohl waren die bisherigen Ausfüh-

Jane Schuch/Heinz-Elmar Tenorth/Nicole Welter, »Sozialgeschichte von Bildung und Erziehung. Fragestellung, Quellen und Methoden der historischen Bildungsforschung«, in: Hannelore Faulstich-Wieland/Peter Faulstich (Hg.), Erziehungswissenschaft – Ein Grundkurs, Hamburg 2008, S. 267–290, hier S. 276. 27 Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 79. 26

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rungen als Vorlauf nötig, um die inhaltliche Reichweite der bildungspolitischen Begrifflichkeiten zu verstehen. Da gemäß der These der vorliegenden Arbeit die systematische Bedeutung von Erziehung und Bildung erst vor dem Hintergrund der Zeitdiagnose und der Fortschrittstheorie Mills verständlich wird, sollen im Folgenden einige in diesem Zusammenhang stehenden Gedanken entfaltet werden, insbesondere im Hinblick auf die zeitgenössischen Wirkungen der Zivilisation. Grundsätzlich beobachtet Mill in der Gesellschaft eine allgemeine Tendenz der Verbesserung. Allerdings erzeugt der Fortschritt nicht nur positive Entwicklungen, sondern auch soziale Phänomene, die der Zivilisation des Menschengeschlechts zuwiderlaufen. 28 Wie er in seinem Aufsatz Zivilisation zeigt, ist das Kriterium, mit dem zivilisierte von unzivilisierten oder halbzivilisierten Gesellschaften unterschieden werden können, der Grad an sozialer Kooperation. Je höher der Grad an gesellschaftlicher Kooperation ist, desto höher ist der Entwicklungszustand der Zivilisation. Während Mill in den arbeitenden Klassen nicht nur einen Anstieg von Wohlstand und Bildung feststellt, sondern auch beobachtet, dass die Lohnabhängigen sich um ihre Arbeitskollegen und deren Familien kümmern, hat sich in den höheren Klassen der Charakter der Selbstsucht ausgebreitet, mit der Folge, dass die mittleren und privilegierten Klassen ihr Augenmerk zuletzt allein auf den Gelderwerb gerichtet haben. Der Charakter der höheren Klassen hat an moralischer Qualität verloren, eine Beschäftigung mit vom Kollektiv geteilten Werten findet kaum noch statt, im Zentrum stehen private Finanzmittelakkumulation, individuelle Nutzenmaximierung und die Sicherung des Privateigentums. Mill erblickt die Missstände seiner Zeit vor allem auf zwei Gebieten: Einerseits beobachtet er eine zunehmende Erstarkung der Massen, die zu Lasten der Bedeutung des Individuums und Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Entstehung und Entwicklung von Kulturen zeigt Mill in seiner Jugend interessanterweise ein gewisses Interesse für Herders Theorie des kulturellen Pluralismus und dessen Idee eines nationalen Bildungssystems, was den Einfluss der Kontinentalphilosophie auf sein sozialphilosophisches Denken unterstreicht. »In the 1830s Mill was enthusiastic about Herder’s doctrine of cultural pluralism, agreeing with the German philosopher and his French admirers that every national group has its own culture and system of national education for keeping that cultures alive in its members.« Lynn Zastoupil, John Stuart Mill and India, Stanford 1994, S. 129. Zur tiefergehenden Beschäftigung mit Herders Geschichtsphilosophie siehe Nicole Welter, Herders Bildungsphilosophie, Sankt Augustin 2003, insbesondere 130 ff.

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seiner heroischen Leistungsfähigkeit geht. Andererseits erzeugt der Fortschritt neben allen positiven Wirkungen auch negative Entwicklungen, die sich in einer Zersetzung des moralischen Charakters der Menschen zeigen. Die Ausbreitung der kapitalistischen Marktwirtschaft unterstützt diesen Prozess, mit der Folge, dass die Menschen ihre Kräfte nicht für die Allgemeinheit, sondern allein für den Gelderwerb einsetzen. Den Grund für diesen Verfall allgemeiner Sittlichkeit erblickt Mill in der Beschaffenheit der gesellschaftlichen Institutionen, die im hohen Maße für die Bildung des menschlichen Charakters verantwortlich sind. »Die tiefverwurzelte Selbstsucht, welche den Allgemeincharakter des derzeitigen Gesellschaftszustandes bildet, gründet nur deshalb so tief, weil sie durch die ganze Kette der bestehenden Einrichtungen genährt wird.« 29 Diese Einsicht reflektiert in besonderer Weise den Gedanken von der mittelbaren Erziehung durch gesellschaftliche Tatsachen. Es hat sich bereits gezeigt, dass Mill davon ausgeht, dass der intentionalen Erziehung durch soziale Institutionen eine mittelbare Erziehung durch gesellschaftliche Tatsachen nachfolgt und sie modifiziert, wobei im Rahmen von Mills zivilisatorischer Zeitdiagnose keine Veränderung zum Besseren, sondern zum Schlechteren stattgefunden hat. Um den negativen Wirkungen der Zivilisation etwas entgegenzustellen, plädiert Mill für eine stärkere Verbindung der Menschen untereinander. Dadurch soll nicht nur die Stellung des Individuums in der Gesellschaft verbessert, sondern auch die soziale Kooperation gestärkt werden. Obwohl der Vorschlag eine Veränderung in den Gewohnheiten der Menschen erfordert und deshalb davon ausgegangen werden muss, dass eine größere Verbindung der Einzelwesen untereinander sich nur sehr langsam vollziehen wird, ist Mill von der Wichtigkeit dieses Vorhabens überzeugt, nicht zuletzt, weil durch die Ausbreitung der kapitalistischen Marktwirtschaft mit einer weiteren Zunahme des Wettbewerbs zu rechnen ist. So ist beispielsweise zu beobachten, dass es für kleine Händler immer schwieriger wird, sich am Markt gegen große Unternehmen zu behaupten; viele können, so Mill, schon jetzt nicht mehr von ihren gewerblichen Erträgen leben. Das Geld konzentriert sich mehr und mehr in den Händen der Großkapitalisten, »seien es nun reiche Einzelpersonen oder Aktiengesellschaften, die aus dem Zusammenfluss vieler kleiner Kapitale 29

Au, AW, Band 2, S. 176.

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entstanden sind« 30 . Obwohl Mill nicht glaubt, dass sich die Konkurrenz beseitigen lässt, wobei er dies im Sinne einer liberalen Marktwirtschaft auch nicht für wünschenswert hält, möchte er sie dennoch begrenzen, um dem Sittenverfall in der Gesellschaft etwas entgegenzustellen. Die Lösung dieses Problems erblickt er im aufkommenden Genossenschaftswesen, das sich auf der Grundlage sozialistischer Ideen im Geist sozialer Kooperation vor dem Hintergrund der kapitalistischen Marktwirtschaft entwickelt. »Wir glauben […], dass die Vervielfältigung der Konkurrenz in allen Zweigen des Geschäftslebens und in allen Berufen ein einschränkendes Prinzip in dem wachsenden Geist des Zusammenwirkens finden wird.« 31 Obwohl Mill die ökonomischen Arbeiten Adam Smiths kennt und die Idee einer liberalen Wirtschaftsordnung grundsätzlich teilt, ist er von den wohlstandmehrenden Kräften der unsichtbaren Hand offenbar nicht vollkommen überzeugt, weil die entfesselte Konkurrenz auf die Marktprotagonisten weder moralisch erziehend noch gesellschaftlich integrierend wirkt. Dass Mill zur Bekämpfung dieses Zustands auch Elemente der frühsozialistischen Bewegung berücksichtigt, versteht sich nicht von selbst und bedarf einer Erläuterung. Mills Denken ist ein sich entwickelndes Denken, mit der Folge, dass er im Laufe seines Lebens Ansichten abändert. Während er sich als Heranwachsender den radikalen Ideen des Liberalismus verpflichtet fühlt und sozialistische Strebungen in der Gesellschaft ablehnt, verändert sich seine Einstellung in den mittleren und späten Jahren zunehmend in Richtung eines sozialen Liberalismus 32 , der nicht nur das Privateigentum und Erbrecht verteidigt, sondern auch die soziale Gerechtigkeit in den Blick nimmt. In seiner Autobiographie gibt Mill Auskunft über diese tiefgreifende Veränderung, die im direkten Zusammenhang mit seiner Freundin und späteren Ehefrau, Harriet Taylor, steht: »In dieser (wie ich sie nennen kann) dritten Periode meines geistigen Fortschritts, der nun Hand in Hand mit dem ihrigen ging, gewannen meine Anschauungen an Breite und Tiefe; ich verstand mehr Dinge, und diejenigen, die ich vorher verstanden hatte, erkannte ich jetzt gründlicher.« 33 Die Ansichten, die Mill vor seinem geistigen Wandel vertritt, 30 31 32 33

Zi, AW, Band 2, S. 415. Ebd. Vgl. dazu Claeys, Der soziale Liberalismus John Stuart Mills, a. a. O. Au, AW, Band 2, S. 174.

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orientieren sich an einer von Bentham inspirierten liberalen Philosophie, in deren Zentrum die Überzeugung steht, dass die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft eine nicht zu ändernde Tatsache ist, die sich allenfalls durch eine freiwillige Geburtenkontrolle der arbeitenden Klassen abmildern lässt. 34 »Den Gedanken, dass es möglich sei, weiter in der Abschaffung der Ungerechtigkeit zu gehen (denn Ungerechtigkeit ist es, mag man vollständig Abhilfe zulassen oder nicht), dass einige zum Reichtum, bei weitem die meisten aber zur Armut geboren sind, hielt ich damals für ein Hirngespinst.« 35 Vor dem Hintergrund der Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Vorstellungen des Frühsozialismus ändern Mill und Taylor ihre Meinung jedoch und entwickeln sich zu sozialistischen Liberalen. 36 »Während wir mit allem Nachdruck die Tyrannei der Gesellschaft über das Individuum verwarfen, die man den meisten sozialistischen Systemen unterstellt, nahmen wir doch eine Zeit in Aussicht, in welcher die Gesellschaft sich nicht mehr in Arbeiter und Müßiggänger unterteilen würde – in welcher die Regel ›Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‹ nicht bloß auf die Armen, sondern unparteiisch auf alle Anwendung findet – in welcher die Verteilung des Arbeitserzeugnisses statt, wie es jetzt in so hohem Maße geschieht, vom Zufall der Geburt abzuhängen, durch einstimmige Beschlüsse oder nach anerkannten gerechten Grundsätzen vor sich geht – in welcher es nicht länger unmöglich sein oder für unmöglich gehalten werden wird, dass menschliche Wesen sich eifrig anstrengen, Wohltaten zu schaffen, die nicht ausschließlich ihnen, sondern auch der Gesellschaft, der sie angehören, zugutekommen.« 37 Im Gegensatz zu Marx geht Mill aber nicht davon aus, dass ein solcher Zustand der Gesellschaft mit geschichtlicher Gewissheit eintreten wird; er ist sich nicht einmal sicher, durch welche gesellschaftlichen Reformen er überhaupt erzeugt werden könnte. Mill weiß nur, dass der beste Weg zur Verbesserung der sozialen Ordnung darin besteht, eine Modifikation des individuellen und nationalen Charakters herbeizuführen; »wohl aber erkannten wir klar, um eine solche soziale Umwandlung möglich oder wünschenswert zu machen, eine entsprechende Charakterwandlung in der unkultivierten Herde, wel34 35 36 37

Vgl. ebd., S. 175. Ebd. Vgl. ebd. Ebd.

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che die arbeitenden Massen in sich schließt, stattfinden müsse als auch bei der großen Mehrheit der Arbeitgeber« 38 . Wovon Mill hier spricht, ist nichts anderes als die mittelbare Erziehung durch gesellschaftliche Tatsachen, die der intentionalen Erziehung durch soziale Institutionen nachfolgt und die die moralischen, ästhetischen und religiösen Aspekte des Charakters nachbearbeitet. »Beide von diesen Klassen müssen durch Übung lernen, für edle oder jedenfalls für öffentliche und soziale Zwecke zu arbeiten und vereint zu wirken, nicht bloß wie bisher für selbstsüchtige Zwecke.« 39 Während Mill auf eine charakterliche Harmonisierung zwischen Arbeitnehmern und Kapitalisten setzt, fordert Marx auf der Grundlage seiner These einer materialistischen Geschichtsauffassung den Klassenkampf. Da Mill darüber im Zweifel ist, welche Maßnahmen den zivilisatorischen Fortschritt voranbringen, setzt er auf das Mittel gesellschaftlicher Experimente. Mit anderen Worten: Alle Einrichtungen in der Gesellschaft besitzen einen vorläufigen Charakter; sie haben ihre Geltung und erfüllen ihren Zweck, bis sie durch Institutionen ersetzt werden, die besser geeignet sind; »allein wir betrachteten alle bestehenden Einrichtungen und gesellschaftlichen Zustände als ›bloß provisorisch‹ […] und begrüßten mit freudiger Teilnahme alle sozialistischen Experimente ausgewählter Individuen (zum Beispiel der Kooperativgesellschaften), die, mochten sie nun Erfolg haben oder nicht, notwendigerweise auf eine höchst nützliche Erziehung der daran Beteiligten hinarbeiten mussten, indem sie deren Vermögen, nach unmittelbar aufs Gemeinwohl abzielenden Motiven zu handeln, kultivierten oder auf die Hindernisse aufmerksam machten, die dem Menschen bei einem solchen Handeln im Weg standen« 40 . Hier kann nun eine erste Antwort auf die Frage gegeben werden, welche systematische Bedeutung Erziehung und Bildung in Mills sozialer Philosophie haben. Vor dem Hintergrund der negativen Wirkungen der Zivilisation, in deren Zentrum die um sich greifende Selbstsucht steht, hat Erziehung die Funktion, eine moralische ErEbd., S. 176. Ebd. 40 Ebd., S. 177. Interessanterweise macht Honneth den Gedanken des historischen Experimentalismus im Rahmen seines Versuchs einer Aktualisierung der Idee des Sozialismus fruchtbar; vgl. Axel Honneth, Die Idee des Sozialismus, Berlin 2015, insbesondere Kapitel 3, S. 85–120. Zu Mills Auseinandersetzung mit dem Frühsozialismus siehe die Kapitel zum Sozialismus (KzS), AW, Band 3.2, S. 641–715. 38 39

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neuerung des individuellen und nationalen Charakters herbeizuführen. Wenn die Gesellschaft sich im Rahmen der Zivilisation, die sowohl positive als auch negative Wirkungen aufweist, in Richtung einer gesellschaftlichen Einseitigkeit bewegt, die ihren Ausdruck im sozialen Phänomen des Eigennutzes findet, dann, so möchte Mill sagen, besteht die Gefahr, dass die gesamtgesellschaftliche Entwicklung pathologisch wird, nicht zuletzt, weil der Mensch gegen seine Natur handelt, wenn er den in sich verankerten sozialen Gefühlen keinen kooperativen Ausdruck verleiht, sondern sich allein auf die Befriedigung seiner privaten Bedürfnisse konzentriert, während er das Allgemeine zunehmend aus dem Blick verliert. Mill legt eine solche Lesart nahe, wenn er von der Gesellschaft als »physische[m] Körper« 41 spricht, »wo wir die Physiologie und Pathologie jedes einzelnen der Hauptorgane und Gewebe gesondert erforschen« 42 . Das Organische impliziert das Gesunde und das Kranke. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen ist es gewiss nicht falsch zu behaupten, dass Mill die Pathologie der Gesellschaft in einer gewissen Einseitigkeit erblickt, wie sie in der gesellschaftlichen Konzentration der Selbstsucht zum Ausdruck kommt. 43 Hier darf daran erinnert werden, dass Mill die Ursache seiner seelischen Krise ebenfalls in der Einseitigkeit findet, in der alleinigen Konzentration auf die Erziehung der intellektuellen Fähigkeiten zu Lasten eines harmonischen Gesamtcharakters, der neben einer Ausbildung der Urteilsfähigkeit auch eine Schulung der moralischen, ästhetischen und religiösen Gefühle impliziert. Da der zivilisatorische Fortschritt sowohl positive als auch negative Wirkungen erzeugt, kommt alles darauf an, den negativen Entwicklungen geeignete Gegenbestrebungen Mill, Zur Logik der Moralwissenschaften, a. a. O., S. 118. Ebd. 43 Im Gedanken der ›gesellschaftlichen Einseitigkeit‹ sehe ich eine gewisse Familienähnlichkeit zum sozialen Pathologiebegriff der Kritischen Theorie. »Horkheimer spricht anfänglich von der ›unvernünftigen Einrichtung‹ der Gesellschaft, Adorno später von der ›verwalteten Welt‹, Marcuse verwendet Begriffe wie ›eindimensionale Gesellschaft‹ oder ›repressive Toleranz‹, Habermas schließlich die Formel von der ›Kolonialisierung der sozialen Lebenswelt‹ – stets wird in solchen Formulierungen normativ eine Verfassung der gesellschaftlichen Verhältnisse vorausgesetzt, die in dem Sinn intakt wäre, daß sie allen Mitgliedern die Chance gelingender Selbstverwirklichung gewähren würde.« Axel Honneth, »Eine soziale Pathologie der Vernunft. Zur intellektuellen Erbschaft der Kritischen Theorie«, in: ders. (Hg.), Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt am Main 2007, S. 28–56, hier 31 f. 41 42

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entgegenzustellen, um den weiteren Fortschritt des Menschengeschlechts nicht zu gefährden bzw. ein gesamtgesellschaftliches Absinken in einen vorangegangenen Zustand der Zivilisation zu verhindern. Es gehört zu Mills wichtigsten Einsichten, dass der menschliche Charakter zwar im hohen Maße durch die ihn umgebenden Verhältnisse gebildet wird, das Individuum aber zugleich die sittliche Freiheit besitzt, sich unter den Einfluss neuer Umstände zu stellen, wenn es das wünscht. Wenn Mill also zu dem Schluss gelangt, dass die gegenwärtigen Institutionen die Verbreitung der Selbstsucht begünstigen, müssen neue Institutionen mit provisorischem Charakter etabliert werden, in der Annahme, dass sie geeignet sind, den Charakter in positiver Weise zu modifizieren, so dass eine Harmonisierung der egoistischen und allgemeinen Interessen stattfindet. Mittelbare Erziehung durch gesellschaftliche Tatsachen ist eine der Lösungen, die Mill für die moralische Erneuerung des individuellen und nationalen Charakters bereithält. Einen weitaus größeren Einfluss auf die Charakterbildung hat jedoch die intentionale Erziehung, die in der Familie und den öffentlichen Bildungsstätten wie Schule und Universität stattfindet. Wie bereits angeführt, liefert sie die moralische, ästhetische und religiöse Basis des Charakters. Vor dem Hintergrund der negativen Wirkungen des zivilisatorischen Fortschritts wundert es nicht, dass Mill sich für eine grundlegende Reform der Schulen und Hochschulen ausspricht. Während die mittelbare Erziehung durch gesellschaftliche Tatsachen sekundär wirkt, hat die intentionale Erziehung durch soziale Intentionen direkten Einfluss auf den Charakter. Sie ist von besonderem Wert, wenn es darum geht, den zivilisatorischen Fortschritt voranzubringen. Neben der familiären Bildung ist es vor allem die Erziehung in den Schulen und höheren Bildungsanstalten, die einen Einfluss auf den menschlichen Charakter und die Gesellschaft haben. Wendet man sich Mills Verständnis von akademischer Ausbildung zu, wird deutlich, dass Wissen mehr ist als die bloße Ansammlung von Informationen. Wissen ist immer nützliches Wissen, es hilft dem Individuum, das Gute zu befördern und das Schlechte zu unterlassen. Wissen lehrt den Menschen, »wie die Summe des menschlichen Glücks zu vermehren ist« 44 . 44

NvW, AW, Band 2, S. 377.

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Allerdings macht man einen Fehler, wenn man die Diskussion über intentionale Erziehung auf der Ebene des Individuums belässt und sie nicht in den Horizont des gesellschaftlichen Fortschritts einbindet. Zwar sind die Begriffe Wissen, individuelles Glück und persönliche Entwicklung eng miteinander verbunden, aber Mill hat stets den Fortgang der Zivilisation als Ganzes im Blick, seine Gedanken zur intentionalen Erziehung durch soziale Institutionen erhalten ihre volle systematische Bedeutung erst vor dem Hintergrund seiner allgemeinen Fortschrittstheorie. Individuelle und gesellschaftliche Entwicklung sind bei Mill parallelisiert und müssen insofern zusammengedacht werden. Die geistige und charakterliche Entwicklung des Individuums hat einen Einfluss auf den Fortschritt und die Zivilisation hat einen Einfluss auf den Menschen. Wenn sich Wissen gesellschaftlich ausbreitet, können mehr Menschen zwischen guten und schlechten Handlungen unterscheiden, wobei das Handeln sich vor der utilitaristischen Lehre verantworten muss. Handeln die Individuen mehr gut als schlecht, steigt die Summe menschlichen Glücks, wodurch das allgemeine Niveau in der Gesellschaft angehoben wird. Hinzu kommt, dass Mill einen Zusammenhang sieht zwischen dem Wissensanstieg und der Ausbreitung eines tugendhaften Charakters: »Das Wiederaufblühen von Kunst und Wissenschaft hat auf zweifache Weise zur Förderung der Moral beigetragen: durch die Erhöhung des Wohlstands und die Verbreitung von Information.« 45 Damit wird deutlich, dass auch die intentionale Erziehung durch soziale Institutionen das Ziel hat, den zivilisatorischen Fortschritt weiter voranzubringen, indem sie sich den negativen Wirkungen desselben entgegenstellt. Wenn Mill nun für eine grundlegende Reform der öffentlichen Bildungsanstalten eintritt, müssen seine Anstrengungen vor diesem Hintergrund betrachtet und systematisch eingeordnet werden. Die Grundlage für seine bildungspolitischen Reformbemühungen bildet die Überzeugung von der grundsätzlichen Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen. Mill hat keinen Zweifel daran, dass »Erziehung und öffentliche Meinung, wenn beide recht ins Spiel gebracht werden und in Harmonie miteinander wirken können, in der Lage sind, hohe moralische Vortrefflichkeit hervorzubringen« 46 . Dass sich die Gesellschaft in gewissen Bereichen in einem bedauerlichen Zustand befin45 46

Ebd., S. 378. Ver, AW, Band 2, S. 388.

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det, liegt folglich nicht an der menschlichen Natur, sondern an den Institutionen, die nicht in der Lage sind, das moralische Potenzial zu befördern. Damit das Individuum sich in Richtung des persönlichen Fortschritts entwickeln kann, formuliert Mill eine Reihe von Veränderungsvorschlägen, die allesamt darauf abzielen, den Menschen in der Ausbildung seiner intellektuellen Fähigkeiten sowie in der Kultivierung seiner moralischen, ästhetischen und religiösen Gefühle zu unterstützen. Das Ziel ist ein ausgewogener und tugendhafter Charakter, der jede Form pathologischer Einseitigkeit überwunden und seine eigene Vorteilssuche mit dem Interesse der Allgemeinheit harmonisiert hat. Ein erster Kritikpunkt des Bildungssystems ist, dass die Schüler weiterhin durch »das Systems des Paukens« 47 unterrichtet werden, statt sie, was im Sinne des individuellen und zivilisatorischen Fortschritts nützlicher wäre, durch »das System des Kultivierens geistiger Fähigkeiten« 48 auszubilden. Während die erste Methode darauf abzielt, dem Kind die verifizierten Ergebnisse von anderen Menschen beizubringen, verfolgt das zweite Verfahren das Ziel, das Kind in die Lage zu versetzen, durch selbstständiges Denken zu eigenen Resultaten zu gelangen. Es ist offenkundig, dass die Forderung nach eigener Reflexion ihr Motiv in Mills eigener Ausbildung findet, schließlich verlangt der Vater von seinem Sohn auf den langen Spaziergängen, dass dieser Rechenschaft über das Durchgenommene ablegt. Auch wird deutlich, wie sehr Mill sich am Humboldt’schen Bildungsideal orientiert. Das Ziel ist ganzheitliche Bildung auf der Grundlage selbständigen Denkens und tugendhafter Charakterbildung. Ein weiterer Aspekt, den Mill im Rahmen seiner Reformen kritisiert, bezieht sich auf die Tatsache, dass die öffentlichen Schulen das »allgemeine Prinzip der religiösen Freiheit« 49 noch nicht ausnahmslos umgesetzt haben, mit der Folge, dass religiöse Minderheiten und Atheisten vom Unterricht ausgeschlossen sind, sie ihre intellektuellen und moralischen Fähigkeiten nicht ausbilden können, was sowohl die individuelle Entwicklung als auch den zivilisatorischen Fortschritt bremst, da beides miteinander verbunden ist. »Von der Öffentlichkeit gewährte Bildung muss Bildung für alle sein, und um Bildung für alle 47 48 49

SsP, AW, Band 2, S. 232. Ebd. SE, AW, Band 2, S. 236.

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zu sein, muss sie rein säkulare Bildung sein« 50 , so Mills Forderung. Auch wendet er sich gegen die weit verbreitete Ansicht, dass es nicht nötig sei, allen Kindern der Mittelschicht und der arbeitenden Klassen höhere Bildungsabschlüsse zu ermöglichen, da es an dieser Stelle auch ein Zuviel an Bildung gäbe, das sich am Ende nur schädlich auf den Geist des Lernenden und die Gesellschaft auswirke. Nicht nur, dass Mill diese Sichtweise im Hinblick auf die individuelle Entwicklung für falsch hält, er verweist auch darauf, dass die Begabtesten dieser Klassen geradezu ein Recht auf geistige Förderung haben und den besten Schülern der Besuch der nächsthöheren Schule finanziert werden sollte. 51 Es kann nicht verwundern, wenn Mill in seinem Aufsatz Die Rechtsansprüche der Arbeiterschaft (1845) dafür eintritt, die soziale Frage nicht durch Almosen, sondern durch Bildung zu lösen. Während viele Bürger der privilegierten Klassen der Ansicht sind, dass man der vor dem Hintergrund des Kapitalismus zunehmenden Armut am besten durch private Mildtätigkeit begegnet, möchte Mill die arbeitenden Klassen lieber mit Bildung versorgen, so dass sie in Zukunft auf eigenen Füßen stehen und sich selbst versorgen können. »Dürfte man Erziehung und gerechte Gesetze als gegeben betrachten, so würde die ärmere Klasse ebenso befähigt sein wie irgendeine andere Klasse, für ihre eigenen persönlichen Gewohnheiten und Bedürfnisse Sorge zu tragen.« 52 Das Anliegen, die arbeitenden Klassen intentional zu erziehen, lässt sich nur verstehen, wenn man es mit dem Gedanken der individuellen Entwicklung und des zivilisatorischen Fortschritts in Verbindung bringt. Mill geht auf der Grundlage seiner Fortschrittstheorie davon aus, dass die klassenübergreifende Verbreitung von Wissen die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt steigert. Damit ist ein fortschrittlicher Effekt verbunden, der sich in der moralischen Verbesserung des menschlichen Charakters und im Vorwärtskommen der Zivilisation als Ganzes zeigt. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Mill sich dafür einsetzt, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber in genossenschaftlichen Zusammenschlüssen näher zusammenrücken und die Produktionsmittel gemeinsam verwalten sollten. Der Gedanke gesellschaftlicher Kooperation kulminiert schließlich in der Hoffnung, dass der Arbeit50 51 52

Ebd., S. 237. Vgl. ÖS, AW, Band 2, S. 256. RdA, AW, Band 3.2, S. 64.

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nehmer in Zukunft ein gleichwertiger Partner des Arbeitgebers wird, der neben den gleichen Pflichten auch die gleichen Rechte hat. Vor dem Hintergrund seines Humboldt’schen Bildungsverständnisses und seiner Vorstellung von einer sich fortwährend entwickelnden Gesellschaft ist es ihm ein Kernanliegen, die »Rechte des Fleißes« 53 mit den »Rechten des Eigentums« 54 in Einklang zu bringen, um die anerkennungstheoretischen Konflikte zwischen Lohnabhängigen und Kapitalisten zu überwinden und die in der Gesellschaft um sich greifende Selbstsucht der Menschen zu begrenzen. Wie aber sieht Mills Verständnis intentionaler Erziehung im Einzelnen aus, welcher Art von Bildung gilt sein gesellschaftspolitisches Engagement und worin sieht er das Ziel geistiger Entwicklung? Zunächst lässt sich festhalten, dass die Universitäten, an denen die höhere Bildung der Individuen stattfindet, keine Orte sind, an denen ein Beruf erlernt wird. Ihr Ziel im Sinne Humboldts ist, »fähige und gebildete menschliche Wesen« 55 hervorzubringen. Mill ist sich zwar der Nützlichkeit der Berufe bewusst und fordert in diesem Zusammenhang auch, dass für deren Erlernen eigene Schulen gegründet werden sollten, aber »diese Gegenstände bilden doch keinen Teil von dem, was jede Generation der nächstfolgenden als dasjenige weiterzugeben verpflichtet ist, wovon ihr Zivilisationsgrad und ihre Bedeutung hauptsächlich abhängt« 56 . Erziehung und Fortschritt sind direkt miteinander verbunden, wobei interessant ist, dass Mill die kulturelle Entwicklung weniger vom Wissen als vielmehr von fähigen Menschen abhängig macht, die über Charakter verfügen und in der Lage sind, selbständig zu denken. Bemerkenswert ist auch, dass Mill von der Pflicht gegenüber der nächsten Generation spricht. Offenbar möchte er sagen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Bildung des Individuums und der Ausgestaltung der Gesellschaft, die wiederum über die mittelbare Erziehung durch gesellschaftliche Tatsachen einen Einfluss auf die nachfolgende Generation hat. Oder, anders formuliert, eine moralische Erneuerung des individuellen und nationalen Charakters ist auch deshalb sinnvoll, weil die Menschen auf der Grundlage ihres

53 54 55 56

Ebd., S. 59. Ebd. Re, AW, Band 2, S. 301. Ebd., S. 303.

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jetzigen Charakters die gesellschaftlichen Verhältnisse schaffen, welche die nächste Generation erziehen. Eine Wiederbelebung des Charakters gelingt aber nur, wenn sich die akademische Ausbildung ändert. Die Universität, so Mill, befindet sich fast vollständig in den Händen des Klerus, mit der Folge, dass die Bildungsanstalten eine gewisse »Feindseligkeit gegenüber [der] Vervollkommnung« 57 zeigen, die zu Lasten der Entwicklung des Individuums und der Zivilisation geht. Der Klerus hat kein Interesse daran, »den menschlichen Geist voranzubringen, sondern ihn, soweit religiöse Meinungen betroffen sind, dort zu halten, wo er sich befindet« 58 . Praktisch bedeutet das, dass die Universitäten nur Theologie, Altphilologie und Mathematik lehren. 59 Obwohl diese Disziplinen bis zu einem gewissen Grad zu einer liberalen Erziehung dazugehören, bilden sie nicht den wichtigsten Teil der menschlichen Bildung. Mill setzt sich im Rahmen seiner bildungspolitischen Reformen dafür ein, dass Studenten aus vielen verschiedenen Fächern wählen können, wobei er den alten Gelehrtenstreit zwischen maßgeblich literarischer oder wissenschaftlicher Bildung für wenig nützlich hält. Gemäß seines eklektizistischen Zugriffs möchte er auch hier das Beste aus beiden Bereichen miteinander vereinen; warum sich zwischen Literatur und Wissenschaft entscheiden, wenn beides sich ergänzt: »Wenn man auch weiter nichts sagen kann, als dass die wissenschaftliche Bildung uns denken lehrt, und die literarische Bildung, unsere Gedanken auszudrücken – bedürfen wir da nicht beider?« 60 Es ist evident, dass sich in dieser Auffassung Mills eigene Bildungserfahrung spiegelt. Vor allem die griechischen Philosophen und Literaten beeinflussen seine intellektuelle Erziehung. Eine Beschränkung auf nur einige wenige Aspekte des Wissens hält Mill schon deshalb für schwierig, weil die gesellschaftliche Struktur aufgrund der Tendenz des Fortschritts in Zukunft immer komplexer wird. Ein Geist, der in der Komplexität des Denkens nicht geübt ist, ein Problem nicht von unterschiedlichen Seiten analysieren und verschiedene wissenschaftliche Methoden miteinander kombinieren kann, wird den akademischen Herausforderungen der Zivilisation kaum gewachsen sein. »Eine so beschränkte Vorstellung 57 58 59 60

DU, AW, Band 2, S. 285. Ebd., S. 286. Vgl. ebd., S. 293. Re, AW, Band 2, S. 306.

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fälscht nicht nur unseren Begriff von Erziehung, sondern verdüstert, wenn wir sie annehmen, sofort auch tatsächlich unsere Ausblicke in die künftigen Fortschritte des Menschengeschlechts.« 61 Es entspricht Mills Denken, akademische Ausbildung und »literarische Bildung« 62 zu verbinden, und es kann vor dem Hintergrund seiner eigenen Erziehung nicht verwundern, dass er der Sprache und Literatur der Griechen und Römer dabei einen prominenten Platz einräumt, während er keinen Sinn darin sieht, moderne Sprachen an den Universitäten zu lehren, da diese erfolgreicher durch einen Aufenthalt im jeweiligen Land gelernt werden können. Es ist sicherlich nicht falsch, diese bildungspolitische Ansicht mit seiner Bildungsreise nach Frankreich in Verbindung zu bringen. Hier hat er die Erfahrung gemacht, wie aussichtsreich das Erlernen einer modernen Sprache ist, wenn man in die gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen direkt eingebunden ist. Ein Umstand, der selbst durch jahrelanges Lernen in der Schule und der Universität nicht einzuholen ist. Was die naturwissenschaftlichen Fächer der Universität betrifft, setzt Mill nicht nur auf die Mathematik, sondern auch auf Disziplinen, die ihre Einsichten nicht durch Deduktion, sondern durch Induktion gewinnen wie Physik oder Chemie, die er zu den Experimentalwissenschaften zählt. Die höchste Form der Kultivierung des Denkens findet der Mensch jedoch in der Logik, jener Wissenschaft, die ihn mit den Regeln des richtigen und falschen Schließens vertraut macht. Im Rahmen seiner Kritik der Universität gelangt Mill schließlich zu dem Ergebnis, dass diese ihren erzieherischen Auftrag am besten erfüllt, wenn sie möglichst viele Fächer anbietet. Neben Psychologie, Ethologie, Literatur-, Rechts- und Politikwissenschaft haben auch Mathematik, Theologie und Altphilologie ihre Berechtigung, wobei auch Physik und Chemie zum festen Bestandteil der modernen Universität gehören sollten. Der Sinn dieses breitgefächerten akademischen Angebots liegt vor allem darin, die Studierenden mit vielen ungleichen Ansichten in Kontakt zu bringen, damit sie sich im Denken und in der Meinungsbildung üben. Das Ziel intentionaler Erziehung durch soziale Institutionen ist identisch mit der mittelbaren Erziehung durch gesellschaftliche Tatsachen: die geistige und charak-

61 62

Ebd., S. 308 f. Ebd., S. 325.

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terliche Vervollkommnung der Menschen zum Glück des Menschengeschlechts und zum Fortgang der Zivilisation. Es ist erkennbar, dass dieses Verständnis von Erziehung und Bildung, das sowohl die intellektuelle als auch die moralische, ästhetische und religiöse Seite der menschlichen Natur berücksichtigt, eine tolerante Grundordnung voraussetzt, die es erlaubt, die Persönlichkeit in Freiheit zu bilden. Mills gesellschaftliche Reformbemühungen können daher nicht unabhängig von seinen sozialphilosophischen Überlegungen zur sozialen Freiheit betrachtet werden, nicht zuletzt deshalb, weil er sich am Bildungsverständnis Humboldts orientiert. »Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unverändert hohe Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.« 63 Doch der Zweck des Menschen kann nur im Rahmen einer liberalen Ordnung der Gesellschaft verwirklicht werden: »Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung. Allein außer der Freiheit erfordert die Entwicklung der menschlichen Kräfte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng Verbundenes: Mannigfaltigkeit der Situationen.« 64 In diesen Zusammenhang gehört nicht nur die Verteidigung der Meinungsfreiheit und die Debatte über die Grenzen der Herrschaft des Staates, sondern auch die Beschäftigung mit den zivilisatorischen Kräften des Individuums, das im Gegensatz zu den trägen Massen in der Gesellschaft als ein wichtiges Element der menschlichen Wohlfahrt betrachtet werden muss. Individuelle und gesellschaftliche Freiheit sind für Mill unverzichtbare Voraussetzungen für eine gelungene Erziehung. Während Mill in seiner Abhandlung Utilitarismus die Ethik des sozialen Miteinanders ausbuchstabiert, entfaltet er in seiner Schrift Über Freiheit das Prinzip bürgerlicher Freiheit. Beide Regelsysteme ergänzen sich und bilden gemeinsam die Grammatik einer liberalen Gesellschaft. Sie koordinieren das egoistische Verhalten der Individuen und harmonisieren es mit dem Interesse der Gemeinschaft zum Zweck allgemeiner Wohlfahrtssteigerung und Glücksmehrung. Vor diesem Hintergrund sollte deutlich geworden sein, dass die systematische Bedeutung von Erziehung und Bildung in Mills soziaWilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, Stuttgart 1967, S. 22. 64 Ebd. 63

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ler Philosophie darin besteht, den negativen Wirkungen der Zivilisation etwas entgegenzustellen, um die Entwicklung des Individuums und den Fortschritt des Menschengeschlechts weiter voranzubringen. Es hat sich gezeigt, dass Mills Erziehungs- und Bildungsbegriff nicht isoliert von seinen gesellschaftstheoretischen Überlegungen betrachtet werden kann, dass seine bildungspolitischen Reformen sowohl in den Kontext seiner kulturellen Fortschrittstheorie als auch in den Zusammenhang mit seinen Gedanken zum Utilitarismus und zur Freiheit gestellt werden müssen. Nur auf diese Weise lässt sich die pädagogische Reichweite in seinem Werk erfassen und für weitere Forschung fruchtbar machen.

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Siglen

Es wird vorrangig aus den Ausgewählten Werken (AW) John Stuart Mills zitiert. Die jeweilige Abkürzung (z. B. Au) vor der Werknennung bezieht sich auf den angeführten Text. Zusätzlich werden Band und Seitenzahl genannt. Au BBP Be BüdR Co DU EzS GdZ GzB KzS NdG NvW ÖS PÖ RdA Re SE SsP ÜdF Ut Ver WdS Zi

Autobiographie (1873) Bemerkungen zu Benthams Philosophie (1833) Bentham (1838) Betrachtungen über die Repräsentativregierung (1861) Coleridge (1840) Die Universitäten (1826) Empfehlung zur Schulorganisation: Schulstiftungen (1866) Der Geist der Zeit (1831) Der Gesetzentwurf zur Bildung (1870) Kapitel zum Sozialismus (1879) Der Nutzen der Geschichtswissenschaft (1827) Der Nutzen von Wissen (1823) Öffentliche Schulen (1868) Prinzipien der Politischen Ökonomie. Mit einigen ihrer Anwendungen auf die Sozialphilosophie (1848/1871) Die Rechtsansprüche der Arbeiterschaft (1845) Rektoratsrede (1867) Säkulare Erziehung (1850) Selbstdenken statt Pauken (1835) Über die Freiheit (1859) Utilitarismus (1861/1863) Vervollkommnungsfähigkeit (1828) Wahl der Schulbehörden (1870) Zivilisation (1836)

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