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German Pages 570 [572] Year 2009
Die Biographie - Zur Grundlegung ihrer Theorie
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Die Biographie - Zur Grundlegung ihrer Theorie Herausgegeben von Bernhard Fetz unter Mitarbeit von Hannes Schweiger
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Die Arbeiten am vorliegenden Band erfolgten im Rahmen der Forschungen des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Theorie der Biographie, einem Institut der Ludwig Boltzmann Gesellschaft, in Kooperation mit der Österreichischen Nationalbibliothek, der Universität Wien, der Thomas-Bernhard-Privatstiftung und dem Jüdischen Museum Wien.
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020226-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen
Inhalt
Einleitung Bernhard Fetz Die vielen Leben der Biographie. Interdisziplinäre Aspekte einer Theorie der Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Voraussetzungen Manfred Mittermayer Die Autobiographie im Kontext der ,Life-Writing‘-Genres . . .
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Bernhard Fetz Der Stoff, aus dem das (Nach-)Leben ist. Zum Status biographischer Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Biographie und Geschlecht Esther Marian und Caitr ona N Dhfflill Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Esther Marian Zum Zusammenhang von Biographie, Subjektivität und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Caitr ona N Dhfflill Biographie von ,er‘ bis ,sie‘. Möglichkeiten und Grenzen relationaler Biographik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karoline Feyertag Vom Genre der Biographie. Sarah Kofman zwischen Bibliographie und Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Esther Marian Psychoanalytische Frauenbiographik und die Theorie der Geschlechterdifferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Biographie und Gesellschaft Peter Alheit und Bettina Dausien ,Biographie‘ in den Sozialwissenschaften. Anmerkungen zu historischen und aktuellen Problemen einer Forschungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hannes Schweiger Die soziale Konstituierung von Lebensgeschichten. Überlegungen zur Kollektivbiographik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Devin Fore Gegen den ,lebendigen Menschen‘. Experimentelle sowjetische Biographik der 1920er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
353
IV. Biographie und Kulturtransfer Hannes Schweiger und Deborah Holmes Nationale Grenzen und ihre biographischen Überschreitungen
385
Hannes Schweiger Abgrenzung und Aneignung. Deutsch-britische Transferprozesse in der Biographik des langen 19. Jahrhunderts
419
Deborah Holmes Internationaler Nationalismus. Überlegungen zur deutsch-italienischen Biographik im 19. Jahrhundert . . . . . . . .
441
V. Biographie und Medialität Caitr ona N Dhfflill Lebensbilder. Biographie und die Sprache der bildenden Künste
473
Inhalt
Manfred Mittermayer Darstellungsformen des Schöpferischen in biographischen Filmen. Beobachtungen an einer Untergattung des Biopics . . .
VII
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Auswahlbibliographie 1. Theorie der Biographie allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Biographie und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Biographie und Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Sozialwissenschaftliche Biographieforschung . . . . . . . . . . . . .
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5. Biographie und Kulturtransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Biographie und Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
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Die vielen Leben der Biographie Interdisziplinäre Aspekte einer Theorie der Biographie
Bernhard Fetz Der englische Romancier und Politiker Benjamin Disraeli empfahl folgende intellektuelle Diätetik: „Rise early and regularly and read for three hours […] Read no history, nothing but biography, for that is life without theory.“ Dieses Zitat kann zugegebenermaßen keinen Anspruch auf Originalität erheben, der D. H. Lawrence-Biograph und Biographietheoretiker David Ellis hat es seinem Buch über Literary Lives vorangestellt;1 aber mit den Originalitäts- und Authentizitätsversprechen, mit denen Biographien locken, ist es aus Sicht einer theoretischen Reflexion der Gattung ohnehin nicht weit her. Dass die Biographie Leben ohne Theorie sei, mag für den Großteil der biographischen Produktion auf den ersten Blick zutreffen. Tatsächlich weist die Biographie als literarische und wissenschaftliche Gattung eine beträchtliche Theorieresistenz auf. Das hat ihr völlig zu Recht harsche Kritik eingebracht: Die Attacken reichen von Siegfried Kracauers immer wieder zitiertem Aufsatz über die Biographie als „neubürgerliche Kunstform“2, in der ein in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges untergegangenes bürgerliches Subjekt zu einem scheintoten Leben wiedererweckt werde und die an der Ideologie einer integralen Gestalt festhalte, wo rundherum alles in Trümmern liegt, über die Kritik Leo Löwenthals an der Trivialbiographie als Agentur überzeitlicher Werte (einer „versteinerte[n] Anthropologie“) 3, bis hin zu Pierre Bourdieus ebenfalls immer wieder zitiertem Diktum, wonach es absurd sei, einen Lebenslauf in Analogie zum Streckennetz eines Metroplanes nur an den einzelnen 1 2 3
David Ellis: Literarary Lives. Biography and the Search for Understanding. Edinburgh 2000, S. 1. Siegfried Kracauer: „Die Biographie als neubürgerliche Kunstform“. In: ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt/M. 1977, S. 75 – 80. Leo Löwenthal: „Die biographische Mode“. In: Literatur und Massenkultur. Schriften. Bd. 1. Hg. v. Helmut Dubiel. Frankfurt/M. 1980, S. 231 – 257, hier S. 233.
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Stationen festzumachen, ohne das Feld der Beziehungen zwischen den Stationen zu beschreiben.4 Diesen Kritikern gemeinsam ist der Vorwurf der Unreflektiertheit und der Festschreibung überkommener Subjektbegriffe durch die biographischen Konventionen. Diese ließen natürlich erscheinen, was sich doch in hohem Maße stereotypen Zuschreibungen und ideologischen Funktionen verdanke.5 Um der Authentizitätsfalle mit all ihren ideologischen Implikationen zu entgehen, plädiert die Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel dafür, Biographien auf der Korrespondenz von Texten aufzubauen: An die Stelle von Einwirkung und Reaktion (Dilthey) setzt eine postalische Lektüre der Hinterlassenschaft die Korrespondenz, in der das Subjekt der Biographie in einer Position beschrieben werden kann, in der er oder sie als Akteur oder Adressat, als Autor und Empfänger gleichermaßen auftritt. An die Stelle des Verhältnisses von äußeren Einwirkungen und Innerlichkeit tritt die Konstellation, an der der betreffende Schriftsteller einen aktiven Part hat. An die Stelle des Einflusses treten Dialogizität und Intertextualität, d. h. die Korrespondenzen mit den Schriften anderer Autoren.6
Austauschprozesse, dialogische Strukturen und intertextuelle Verzweigungen sollen jene Vorstellungskomplexe auflösen, die die Biographie zur Gefangenen der Kausalität machen; sie sollen den hierarchisch strukturierten biographischen Komplex dekonstruieren.7 Gemäß dem Alltagsverständnis sind Biographien nicht aus Texten, sondern aus Leben gemacht, aus Ereignissen, Empfindungen, Handlungen, aus individuellen Leistungen und Ideen. Es fällt jedoch schwer, einen Begriff von Biographie jenseits des Textbegriffes zu denken, vor 4 5 6 7
Pierre Bourdieu: „Die biographische Illusion“. In: Zeitschrift f r Biographieforschung und Oral History (1990) H. 1, S. 75 – 81, hier S. 80. Vgl. dazu ausführlicher: Bernhard Fetz: Das unmçgliche Ganze. Zur literarischen Kritik der Kultur. München 2008, S. 45 f. Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kulturund Naturwissenschaften. München 2006, S. 171. Deshalb erzählt Sigrid Weigels Ingeborg Bachmann-Biographie auch keine konventionelle biographische Geschichte, die sich an der Lebenschronologie orientiert, sondern sie beansprucht, die „Darstellung ihrer intellektuellen Biographie in Korrespondenzen“ zu sein. Damit ist methodisch die Beschreibung eines Netzwerkes von schriftlichen Äußerungen gemeint, das Ingeborg Bachmann einen Ort als Intellektuelle zu geben sucht. Ingeborg Bachmann: Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. München 2003, S. II und S. IV. Vgl. dazu den Beitrag von Caitríona Ní Dhúill: „Widerstand gegen die Biographie. Sigrid Weigels Ingeborg Bachmann-Studie“. In: Die Biographie – Beitr ge zu ihrer Geschichte. Hg. v. Wilhelm Hemecker. Berlin, New York 2009.
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allem wenn dieser das ganze Ensemble der Repräsentationsmöglichkeiten einer jeweiligen Kultur meint. Doch gerade ein erweiterter Textbegriff birgt die Gefahr in sich, Ausdrucksqualitäten des gelebten Lebens – Gebärde, Physiognomie, Stimme – und die medialen Manifestationen dieser Qualitäten zu vermischen. Eine Lösung dieses biographischen Dilemmas kann darin bestehen, in den Dokumenten, in den Handschriften und Fotografien, in dem, was als Resten gelebten Lebens übrig bleibt, selbst Präsenzqualitäten zu erkennen; was allerdings wieder nur über den Umweg des Kommentars gelingt oder über die Aktualisierung und Inszenierung der Dokumente, vom Akt auf der Bühne über biographische Ausstellungen und Filme bis zum Akt des Lesens. Auch hier zeigt sich die dem Biographischen eigene Theorieresistenz: Die immer zunehmende Menge an biographischem Material sowie dessen mediale Vielgestaltigkeit und inhaltliche Widersprüchlichkeit leisten einer konsistenten Theorie der Biographie hartnäckig Widerstand; eine Erfahrung, die auch theoretisch geschulte Biographen bei der praktischen Arbeit immer wieder machen.8 Wenn von Biographien die Rede ist, sind zuerst einmal die in den Schaufenstern der Buchhandlungen ausgestellten Bücher mit dieser Gattungsbezeichnung gemeint; also die geschriebenen Darstellungsformen vergangenen Lebens. Sowohl die Leserinnen und Leser von Biographien als auch die meisten Geistes- oder Kulturwissenschaftler verstehen unter Biographie die Beschreibungen des Lebens ,bedeutender‘ Individuen, wobei ,bedeutend‘ die Hervorbringung bedeutender Werke meint oder auch ein Leben, das bedeutende Handlungen hervorbrachte, die weitreichende politische und gesellschaftliche Konsequenzen besitzen. Mit ,Biographie‘ ist außerdem eine Textsorte gemeint, die lange in Verruf stand und wenig symbolisches Kapital im Einsatz um akademische Karrieren versprach, sich aber in den letzten Jahren auf erstaunliche Weise geradezu zu einem geheimen Zentrum der Kulturwissenschaften entwickelte: Zurück zur Evidenz, so hallt es durch die Gänge der Universitäten, wobei nicht ganz klar ist, ob im Echo der Schlachtruf oder der Stossseufzer dominiert. 8
Angesichts der schieren Masse an Material zu und über Thomas A. Edison konstatierte David E. Nye: „The documents offered an almost palpable resistence to theory.“ David E. Nye: The Invented Self. An Anti-Biography from Documents of Thomas A. Edison. Odense 1983, S. 13. Zum Status biographischer Quellen vgl. den Beitrag v. Bernhard Fetz: „Der Stoff, aus dem das (Nach-)Leben ist“ in diesem Band, S. 103 – 153.
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Die Biographie, und dieser Schein scheint nicht zu trügen, ist aus ihrer Schattenexistenz ans Licht auch der Academia getreten, wiewohl ihr immer noch das Odium schlechter Beleumundung nachhängt. Völlig zu Unrecht: Die theoretischen Implikationen der Biographie machen sie zu einem idealen Forschungsobjekt, in dem sich zentrale Fragen der gegenwärtigen Kulturwissenschaften bündeln. Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht sieht einen radikalen Paradigmenwechsel, der sich in den Literatur- und Geisteswissenschaften abzeichne, weg vom unabschließbaren Kreislauf postmoderner hermeneutischer Prozeduren hin zur Konkretheit der Texte.9 Man kann diesen Befund auf die Geschichtswissenschaften und andere Disziplinen ausdehnen. Einmal könnte diese Rückkehr der Evidenz am Konjunkturzyklus der Geistesgeschichte liegen: Die poststrukturalistischen Theorien seien „gleichsam konsumiert“, so Gumbrecht. In einem paradoxen Umschlagseffekt kam es zu einer neuen anthropologischen Erfahrung. Die Bewohner der postindustriellen Konsum- und Medienwelten sind „von der Schwere des Körpers befreite Subjekte geworden“, die „unter der Vielfalt unserer geistigen Möglichkeiten – als Abwesenheit des Konkreten und Kohärenten – ebenso leiden wie unter der wachsenden Funktionslosigkeit der physischen Seite unserer Existenz“. Daraus, so Gumbrecht, mag eine, „vielleicht für immer nostalgische, Sehnsucht nach prägnanten Lebensbildern und Lebensmustern erwachsen“.10 Ein anderer Grund für die Sehnsucht nach Konkretheit könnte darin liegen, dass durch die Unverfügbarkeit des Verfügbaren in unübersehbaren digitalen Speichern ein Bedürfnis nach der Bindung spezifischer Fakten an bestimmte Lebensmomente und ganz bestimmte Leben entsteht. Der starke antibiographische Impuls, wie ihn strukturalistische, poststrukturalistische und konstruktivistische Theorien mit sich bringen, hat zu einer Korrektur überkommener Vorstellungen beigetragen und zu einer Schärfung jener theoretischen Positionen, die an der „Unhintergehbarkeit von Individualität“ festhalten.11 9 Hans Ulrich Gumbrecht: „Die Rückkehr des totgesagten Subjekts“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. 5. 2008, S. N3. Das ,Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften‘ in Wien stellte ab 2007 ,Kulturen der Evidenz‘ als Generalthema zur Diskussion. 10 Ebd. 11 Manfred Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualit t. Reflexionen ber Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer ,postmodernen‘ Toterkl rung. Frankfurt/M. 1986.
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Seit längerem schon gilt auch für den deutschsprachigen Raum, was für England und Amerika weitaus weniger in Frage stand, kann doch die Biographie mit James Clifford als „that most Anglo-Saxon of literary forms“ bezeichnet werden12 : Die Biographie ist zurück, und zwar vor allem deshalb, weil sie nie richtig weg war. Auch auf dem deutschsprachigen Buchmarkt hat sie die intellektuellen Konjunkturen weitgehend unbeschadet überstanden, nicht zuletzt auf der Grundlage einer zunehmenden Zahl an wissenschaftlich ernst zu nehmenden Biographien, die in manchen Fällen auch literarischen Anspruch erheben. In den letzten Jahren erfuhr die Biographie geradezu privilegierte Aufmerksamkeit, in der Theoriebildung gewinnt sie zusehends an Profil. Die schiere Menge an biographischen und semibiographischen Produkten macht alle Versuche einer umfassenden Darstellung und Kategorisierung nahezu unmöglich, „since anyone who set out to cover the field in a systematic way would go mad, or die before their task was done“.13 Das anhaltende Interesse an der Biographie hat einen einleuchtenden Grund: „For people are interested primarily in people. They have never had to be persuaded that the proper study of mankind is ,man‘.“14 Als Genre zwischen Wissenschaft, Kunst und Unterhaltung entzieht sich die Biographie eindeutiger Zuordnung zu akademischen Disziplinen. Sie ist, mit einem Diktum Virginia Woolfs, „a bastard, an impure art“.15 Die Biographie steht an einer Schnittstelle zwischen Literatur-, 12 James Clifford: „,Hanging Up Looking Glasses at Odd Corners‘: Ethnobiographical Prospects“. In: Studies in Biography. Hg. v. Daniel Aaron. Cambridge (Mass.), London 1978 (= Harvard English Studies, Bd. 8), S. 41 – 56, hier S. 43. 1929, am Höhepunkt des biographischen Booms, wurden in den Vereinigten Staaten 667 neue Biographien veröffentlicht; im Jahr 1962 erschien exakt dieselbe Anzahl an Biographien, allerdings war in der Zwischenzeit die Bevölkerungszahl um fünfzig Prozent gestiegen. Im Durchschnitt machen biographische Titel fünf Prozent der jährlich in der englischsprachigen Welt veröffentlichten Bücher aus. Quelle: Encyclopedia Britannica: Stichwort „biography“. Online-Version. http://www.britannica.com (Stand: 09. 12. 2008). 13 Ellis: Literary Lives, S. VIII. Dem Ideal einer systematischen Erfassung der biographischen Produktion (im deutschen Sprachraum) kommt immer noch Helmut Scheuers grundlegende Studie Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979 am nächsten. 14 John Garraty: The Nature of Biography. New York 1957, S. 3. 15 Notizbucheintrag vom Oktober 1934. Zit. nach Hermione Lee: Virginia Woolf. London 1997, S. 10.
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Geschichts- und Kulturwissenschaften sowie literarischen Lebenserzählungen; und auch in der soziologischen und ethnographischen Biographieforschung geht es um die zentrale Frage, wie sich individuelle Lebensläufe und Erfahrungsaufschichtungen zu biographischen Repräsentationen verdichten. Im Eintrag zum Stichwort „biography“ der Encyclopedia Britannica findet sich dieser für die Biographie als Gattung konstitutive Widerspruch zwischen Wissenschaft und Kunst auf die trockene Formel des Lexikon-Eintrags gebracht: „Within the bounds of given data, the biographer seeks to transform plain information into illumination. If he invents or suppresses material in order to create an effect, he fails truth; if he is content to recount facts, he fails art.“16 Weil sie ästhetische Fragen und künstlerische Gefilde streift, galt die Biographieforschung und gilt sie tendenziell immer noch als ,weiches‘ Forschungsfeld, in dem sich mehr als anderswo zur Empathie begabte Individualisten finden ließen, die über ein besonderes Sensorium für die ,Anderen‘, für gesellschaftliche Randgruppen, für Künstler, Exzentriker und für Menschen in anderen Kulturen verfügen. Darunter auffällig viele „Frauen und solche Sozialwissenschaftler, die poetische oder andere künstlerische Neigungen pflegten“.17 Wird sie im Zuge ihrer Anerkennung als fruchtbares wissenschaftliches Forschungsfeld nun wieder ,männlicher‘? 18 Auch wenn es keine konsistente Theorie der Biographie gibt, es sie vielleicht auch gar nicht geben kann aufgrund ihres ,Bastardcharakters‘, so gibt es in verschiedenen Disziplinen eine Reihe von theoretischen Beiträgen, die den Begriff des Biographischen konturieren. Zumindest einen Teil dieser Beiträge zusammenzulesen und in den Rahmen übergreifender theoretischer Überlegungen zu stellen, unternimmt dieses Buch.19 Es bündelt und reflektiert Fragestellungen, wie sie sich in den theoretischen Debatten zur Biographie in den letzten Jahren als zentral herauskristallisiert haben: Das sind Theorie des Archivs, Quellenkritik und Phänomene des Nachlebens; Biographie und Gender; Biographie und Psychoanalyse; Biographie als Medium interkultureller Kommunikation; die Konstitution von Identität als gesellschaftlicher 16 Encyclopedia Britannica: Stichwort „biography“. 17 Sigrid Paul: Begegnungen. Zur Geschichte persçnlicher Dokumente in Ethnologie, Soziologie, Psychologie. Bd. 1. Hohenschärftlarn 1979, S. 155 f. 18 Vgl. dazu auch die Beiträge im Kapitel „Biographie und Geschlecht“ in diesem Band. 19 Siehe auch die thematisch gegliederte Bibliographie am Ende dieses Bandes.
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Prozess; Biographie und Genre (Autobiographie) sowie Biographie und Medialität. Wilhelm Diltheys zentrale Frage, „wie der Aufbau der geistigen Welt im Subjekt ein Wissen der geistigen Wirklichkeit möglich mache“, führte zu einem erweiterten – kulturwissenschaftlichen – Verstehensbegriff, in dem die (Selbst-)Biographie eine zentrale Rolle spielt. Da das „Verstehen ein Wiederfinden des Ich im Du ist“, findet sich „der Geist“ auf jeder Stufe, vom intersubjektiven Austausch bis zum universalen geistigen Zusammenhang, wieder, „im Ich, im Du, in jedem Subjekt einer Gemeinschaft, in jedem System der Kultur, schließlich in der Totalität des Geistes und der Universalgeschichte“. Diese allumfassende Anwesenheit des Geistes „macht das Zusammenwirken der verschiedenen Leistungen in den Geisteswissenschaften möglich“.20 Sie erfordert Interdisziplinarität. Jedoch sah Dilthey die Biographie wegen ihrer Konzentration auf das Individuum in ihren Möglichkeiten als wissenschaftliche Form der Erkenntnis eingeschränkt. Sie „enthält für sich nicht die Möglichkeit, sich als wissenschaftliches Kunstwerk zu gestalten“. Es fehlen ihr die Instrumente zum Verständnis der „allgemeine[n] Bewegungen“, die „durch das Individuum als ihren Durchgangspunkt“ hindurchgehen; es fehlt ihr also eine soziologische Perspektive. Die Frage, ob die Biographie eher literarische Erkenntnisform sei oder eher wissenschaftliche, besitzt eine ähnliche Virulenz wie die Auseinandersetzungen, die den Formierungsprozess der Soziologie als Wissenschaft begleiteten.21 Auch wenn Dilthey skeptisch blieb, er eröffnete der Biographie geradezu einen Königsweg zu einer Königsdisziplin. Seine Schlussfrage in seinem ursprünglich nicht veröffentlichten und der Biographie gewidmeten Beitrags zur Fortsetzung von Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften lautete: „Das Individuum ist nur der Kreuzungspunkt für Kultursysteme, Organisationen, in die sein Dasein verwoben ist: wie könnten sie aus ihm verstanden werden?“22 Die Frage kann als Aufgabe an eine künftige Biographie verstanden werden, sich zum ,wissenschaftlichen Kunstwerk‘ weiterzuentwickeln.
20 Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt/M. 1981, S. 235. 21 Vgl. Wolf Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. München, Wien 1985. 22 Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 310.
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Die Konstruktion des Individuellen durch verschiedene wissenschaftliche Diskurse trägt unaufhebbar zum ambivalenten Charakter der Gattung bei: „Die Arbeit des Biographen an der fremden Individualität seines biographischen Objekts besteht zwangsläufig auch in der schrittweisen Vernichtung dieser Individualität, da diese nur im Rahmen dessen konstruiert werden kann, was die Diskurse der Historik, der Psychologie, der Biologie oder Soziologie an Konstruktionspraktiken bereitstellen.“23 Wobei das Erkenntnispotenzial dieser Disziplinen auch hinter dominanten anthropologisierenden Diskursen verschwinden kann, was in der Trivialbiographik zu einer Ideologie der Ideologielosigkeit führte und führt. Mit kritischem Blick auf die nahezu unübersehbare biographische Produktion seit dem Ende des 18. Jahrhunderts kann man zum begründeten Schluss kommen, dass der Erkenntniswert der Gattung Biographie für allgemeine theoretische Fragen nicht allzu hoch zu veranschlagen ist. Fasst man das Biographische jedoch weiter, begreift man es als anthropologische Konstante im Zuge ganz unterschiedlicher Prozesse der Selbstkonstitution oder auch als Erkenntnisinstrument zur kritischen Überprüfung und Weiterentwicklung bestehender theoretischer Konzepte, dann relativiert sich die skeptische Einschätzung wieder; dann wird sichtbar, was unabgegolten bleibt in all den real existierenden biographischen Simplifikationen, die oft auch noch weit hinter den eigenen Prämissen zurückbleiben. Die psychoanalytische Biographik etwa ist für beides – die simplifizierende Reduktion und die kritische Revision der Psychoanalyse selbst – ein gutes Beispiel.24 An dieser Stelle wird eine terminologische Unterscheidung notwendig: Unter ,Biographie‘ werden hier die verschiedenen Repräsentationen vergangenen Lebens verstanden, wie sie sich in unterschiedlichen biographischen Formaten als Artefakte materialisieren. Dazu gehört das weite Spektrum der Biographik zwischen Kunst und Wissenschaft (auch Filmbiographien, Lexikonartikel, Internetpräsentationen oder biographische Ausstellungen). Dazu gehören weiters Texte und audiovisuelle Aufzeichnungen, wie sie aus der Dokumentation und Auswertung biographischen Quellenmaterials in psychoanalytischen, historiographischen, sozialwissenschaftlichen oder ethnologischen Zu23 Christian von Zimmermann: Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830 – 1940). Berlin, New York 2006, S. 31. 24 Vgl. den Beitrag von Esther Marian: „Psychoanalytische Frauenbiographik und die Theorie der Geschlechterdifferenz“ in diesem Band, S. 245 – 282.
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sammenhängen entstehen; auch jene biographischen Texte, die von ,Biographiegeneratoren‘ (Alois Hahn) wie bspw. der polizeilichen oder gerichtlichen Untersuchung produziert werden. Unter dem weiteren Begriff eines Biographischen wird demgegenüber die anthropologische Annahme eines transkulturell gültigen biographischen Bewusstseins von sich selbst verstanden, das einen Teil der im Laufe eines Lebens gemachten Erfahrungen zu einer individuellen Biographie synthetisiert, die als ,eigene‘ zum Einsatz im Spiel um soziales, ökonomisches und symbolisches Kapital wird. Der Begriff der ,Biographizität‘ oder das Konzept einer ,Ethnobiography‘, auf die weiter unten noch näher eingegangen wird, versuchen, biographische Kennmarken wie Identität, Individualität, Vergesellschaftung, Handlungsfreiheit etc. mit den lebensnotwendigen biographischen Syntheseleistungen zu vermitteln. Dabei existiert das Biographische keineswegs unabhängig von gesellschaftlichen und kulturellen Regeln, von Habitus, sozialem und kulturellem Milieu. Kulturell geprägte Vorstellungen von Entwicklung, Ganzheit und Chronologie motivieren biographische Erzählungen und sie sind am Aufbau personaler Identität beteiligt, an der Konstruktion jenes Rahmens, in dem die ,eigene‘ Biographie ihre lebenspraktische Bedeutung gewinnt. Zwischen dem Druck der sozialen Wirklichkeit, zu dem die Einengung durch präformierende Diskurse gehört, und der performativen Herstellung von Identität im Sprechen, Handeln, Schreiben, im gestischen, stimmlichen, physiognomischen Ausdruck, entsteht ein Spielraum des Biographischen, der größer oder kleiner sein kann. Im Rollenspiel der Künste und der Künstler ist er größer, im Alltag zumeist kleiner. Doing biography kann ganz Verschiedenes bedeuten, je nachdem wie groß die sozialen Freiräume sind. Zur Wandlungsfähigkeit der literarischen Biographie – biographische Wahrheiten In den 1920er Jahren entstand in der Sowjetunion, beeinflusst von der psychologischen Verhaltensforschung, ein antipsychologisches, nichtlineares, die Dokumentation des Alltags und der Dingwelt gegenüber der Beschreibung eines heroischen Individuums aufwertendes Konzept von Biographie. Diese Betonung der Oberfläche und der Gegenwart, die intendierte Ununterscheidbarkeit von biographischem Subjekt und Objekt, von Autobiographie und Biographie, verräumlicht die zeitli-
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chen Dimensionen individueller Existenz. Sie ersetzt Charaktere durch soziale Prozesse, die Erinnerungsleistung des Biographen und der Biographin durch seine oder ihre Inklusion in das Material, psychologische Motivation durch ein Netz von Wirkungszusammenhängen. Dabei stellte sich ein Problem, das bis heute nicht befriedigend gelöst ist. Wenn man die Kritik am ideologischen Charakter narratologischer Zwänge (Entwicklung, Teleologie) ernst nimmt und darüber hinaus die Notwendigkeit anerkennt, dem Lebensmaterial möglichst wenig an Erzählung hinzuzufügen, sondern im Sinne der sowjetischen Faktographen dieses sich selbst erzählen zu lassen, also die Dinge zum Sprechen zu bringen, dann bleibt immer noch die Frage, wie sich die Netzwerke und die Wirkungsprozesse darstellen lassen, da ein Leben mehr ist als die Summe seiner Teile. Die Lösung, die Thomas Bernhards Erzähler im Roman Korrektur schließlich wählt, nämlich anstatt zu sichten und zu ordnen das ganze Nachlassmaterial des Privatgelehrten Roithamer einfach auf einen Haufen zu schütten, würde das Ende der Biographie bedeuten.25 In der literarischen Praxis führten diese und ähnliche theoretische Diskussionen zu einer grundlegenden Erweiterung des Realismusbegriffs. Die Biographie als Gattung blieb trotz des in ihrer Geschichte gespeicherten theoretischen Problemhorizonts davon weitgehend unberührt, sie entwickelte weniger selbstreflexives Gattungsbewusstsein als die meisten anderen literarischen Gattungen; mit signifikanten Ausnahmen, von denen gleich noch die Rede sein wird. Dabei ist sie ein ideales Laboratorium, in dem die Mischung von Faktographie und Fiktion immer wieder neu erprobt werden kann. 1932 erschien in der deutschen Übersetzung des kommunistischen Kulturpolitikers und Schriftstellers Alfred Kurella ein sogenanntes ,BioInterview‘ des sowjetischen Avantgarde-Schriftstellers Sergej Tretjakov: Den Schi-Chua. Ein junger Chinese erz hlt sein Leben. 26 Dieses Buch entstand auf der Basis von Interviews, die Tretjakov über einen Zeitraum von sechs Monaten 1927 mit seinem chinesischen Studenten Den Schi-Chua in Peking geführt hatte: „Das Buch Den Schi-Chua haben zwei Menschen gemacht: Den Schi-Chua selbst hat den Rohstoff der 25 Vgl. Thomas Bernhard: Korrektur. In: Thomas Bernhard Werke. Bd. 4. Hg. v. Martin Huber u. Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt/M. 2005, S. 160. 26 Zur Biographik der sowjetischen Avantgarde und zu Tretjakows biographischem Experiment siehe den Beitrag von Devin Fore: „Gegen den ,lebendigen Menschen‘. Experimentelle sowjetische Biographik der 1920er Jahre“ in diesem Band, S. 353 – 381.
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Tatsachen geliefert, und ich habe sie ohne Entstellung gestaltet“, schrieb Tretjakow im Vorwort.27 Tretjakovs scheinbare biographietheoretische Unbedarftheit („ohne Entstellung“) hing mit seinem funktionalen Literaturverständnis zusammen. Siegfried Kracauer hob in seiner Rezension des Buches in der Frankfurter Zeitung den „Nutzwert“ dieses biographischen Experiments hervor; Tretjakows Werk sei das „eines ,operierenden‘ Schriftstellers, dessen Schreiben ein Handeln sein will“. Man könne von ihm lernen, „daß man die Menschendarstellung nicht vernachlässigen darf, wenn man der Zustände habhaft werden möchte“. Die Lebensgeschichte Den Schi-Chuas sei jedoch auch „unabhängig von den mit ihr verbundenen Absichten ein außerordentliches Dokument“.28 Die Diskussion um die Biographie entzündete sich in der Zwischenkriegszeit an einem Genre, das bereits unüberschaubar geworden war. Nur ein Beleg sei hier zitiert: Auf eine Umfrage der Wiener Buchhandlung Dr. Martin Flinker zu den „besten Bücher[n] des Jahres“ 1935/36 reagierte der Schriftsteller Hermann Broch, nachdem er einige belletristische Titel genannt hatte, mit einem Kommentar zur zeitgenössischen biographischen Produktion: Es gebe „über die industriell gewordene Flut der Biographieerzeugung hinaus“ auch interessante Beispiele in der neueren Biographik. Neben zwei Titeln von René Fülöp-Miller, einem Schriftsteller und Journalisten rumänisch-österreichischer Herkunft und Verfasser von Biographien über Lenin, Gandhi, Tolstoi, Dostojewski, Rasputin und Leo XIII., nennt Broch „eine ganz neue Art der Biographie, die man wohl Detektivbiographie nennen könnte“, das bereits 1934 erschienene Buch Sir Basil Zaharoff, der Kçnig der Waffen von Robert Neumann.29 Das Bestreben nach neuen Formen biographischer Darstellung ist eine Reaktion auf die von Broch und vielen anderen konstatierte Abwirtschaftung des Genres. Mitte der 1930er Jahre arbeitete auch Siegfried Kracauer an einer anderen Art der Biographie; sein 1937 im Amsterdamer Exilverlag Allert de Lange erschienenes Buch Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit sollte dezidiert 27 Sergej Tretjakov: Den Schi-Chua. Ein junger Chinese erz hlt sein Leben. Berlin 1932; aus dem Vorwort zur russischen Ausgabe, S. 9. 28 Siegfried Kracauer. „Ein Bio-Interview“. In: Frankfurter Zeitung, 17. 4. 1932, Literaturblatt, S. 3. 29 Hermann Broch: „Die besten Bücher des Jahres“. In: Die Auslese 1935/36. Ein neuer Ratgeber f r B cherfreunde. Hg. v. der literarischen Buchhandlung Dr. Martin Flinker. Wien 1935/36, S. 10.
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eine ,Gesellschaftsbiographie‘ sein.30 1937/38 schrieb Walter Benjamin, wie Siegfried Kracauer Exilant in Paris, an seinem Baudelaire-Buch, auch dies eine Antwort auf die individualbiographische Klischeeproduktion der Zwischenkriegszeit. Und Hermann Brochs großer Essay Hofmannsthal und seine Zeit, in den Jahren 1947/48 im amerikanischen Exil entstanden, wuchs sich für den Autor zu einer weit ausholenden kritischen Revision auch der eigenen Herkunftsgeschichte aus dem jüdischen Milieu Wiens im 19. Jahrhundert aus. Zehn Jahre nachdem Broch in der zitierten Umfrage von einer ,neuen‘ Art der Biographie gesprochen hatte, dehnte er das Genre bis an jene Grenzen aus, an denen es zur Autobiographie übergeht, zum kulturwissenschaftlichen Essay, zur soziologischen Milieustudie, zum geistesgeschichtlichen Porträt.31 In den 1930 Jahren erfuhr die literarische Biographie in verschiedenen Ländern eine Dynamisierung, nachdem sie in der Londoner ,Bloomsbury Group‘ wenige Jahre zuvor einen Höhepunkt erreicht hatte, sowohl was die Produktion avancierter Biographien, als auch was deren theoretische Reflexion angeht. 1934 erschien in England eine der wohl bizarrsten Biographien in der Geschichte der Gattung, A. J. A. Symons The Quest for CORVO, eine detektivische Jagd nach den Quellen, aus denen Symons das Leben des legendären Baron Corvo rekonstruierte. Im Untertitel nennt der Autor sein Unternehmen „an experiment in biography“.32 Ein Experiment ist auch Gertrude Steins 1933 veröffentlichte Autobiography of Alice B. Toklas. Deren letzte Sätze lauten: I am a pretty good housekeeper and a pretty good gardener and a pretty good needlewoman and a pretty good secretary and a pretty good editor and a pretty good vet for dogs and I have to do them all at once and I find it difficult to add being a pretty good author. About six weeks ago Gertrude Stein said, it does not look to me as if you were ever going to write that autobiography. You know what I am going to
30 Zu Kracauers Offenbach und dem Begriff der ,Gesellschaftsbiographie‘ vgl. Esther Marian: „Individuum und Gesellschaft in Siegfried Kracauers Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit“. In: Die Biographie – Beitr ge zu ihrer Geschichte. Hg. v. Hemecker. 31 Hermann Broch: Hofmannsthal und seine Zeit. Eine Studie. Hg. und mit einem Nachwort versehen v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt/M. 2001. 32 A. J. A. Symons: The Quest for Corvo. An Experiment in Biography. London 1934. Zu Symons’ Biographie vgl. auch den Beitrag v. Bernhard Fetz: „Der Stoff, aus dem das (Nach-)Leben ist“ in diesem Band, S. 109 – 112.
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do. I am going to write it for you. I am going to write it as simply as Defoe did the autobiography of Robinson Crusoe. And she has and this is it.33
And this is it? Biographie, Autobiographie, Erfindung, Wirklichkeit, Demonstration eines vertrackt einfachen Stils, der die Kompliziertheit der biographischen Beziehungen thematisiert? Das Spiel mit den Konventionen der biographischen Gattung erlaubte es Gertrude Stein, das Verhältnis von literarischer Konstruktion und Lebenswirklichkeit in der Manier eines naiven Erlebnisberichts abzuhandeln. Sie kreuzte das Projekt (Auto-)Biographie mit experimentellen Spielformen des modernen Romans. Es ist interessant, dass gerade Autorinnen und Autoren, die einer avantgardistischen Literaturtradition zugerechnet werden, von biographischen Modellen angezogen wurden. In der literarischen Dekonstruktion von Lebensgeschichten mochte die Identität eines Erzähler-Subjekts zwar ebenso verschwinden wie die Identität eines Objekts der Beschreibung; die Abwehr trivialbiographischer Konstrukte machte es jedoch wieder möglich, (auto-)biographische Momente einfließen zu lassen und die Bruchlinien des eigenen und des fremden Lebens entlang der Bruchlinien biographischer Fiktionen zu entwickeln. In diesem Kontext ist noch ein anderes literarisches Experiment mit der Gattung Biographie aufschlussreich. Vladimir Nabokovs Ende 1938/Anfang 1939 im prekären Pariser Exil entstandener Roman Das wahre Leben des Sebastian Knight ist das erste auf Englisch verfasste Buch des russischen Autors. Ähnlich der biographischen Fiktion Gertrude Steins dient Nabokov das Biographiemodell (neben den theoretischen und spielerischen Funktionen, die es in diesen Büchern erhält) als Medium zur Thematisierung und Bewältigung kultureller Transfers, wenn auch Nabokovs Pariser Lebensumstände sehr viel bedrückender waren als jene Gertrude Steins. Steins fiktive (Auto-)Biographie beschreibt das Leben zweier Amerikanerinnen im Mittelpunkt der Pariser Boheme im ersten Drittel des Zwanzigsten Jahrhunderts. Der viel zu spät vor den Nationalsozialisten aus Berlin nach Frankreich geflüchtete Exilrusse Nabokov vollzog mit dem ,wahren‘ Leben des Sebastian Knight seinen Einstieg in die englischsprachige Literatur; das Buch erschien 1941 in Amerika. Nabokovs Erzähler V. beschreibt die schwierige biographische Suche nach der Lebenswahrheit seines Halbbruders Sebastian, der ähnlich wie Nabokov selbst in Russland aufwuchs und später zum englischsprachigen Schriftsteller wurde. Dabei 33 Gertrude Stein: The Autobiography of Alice B. Toklas. London 2001, S. 272.
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unterzieht er die geläufigen Methoden biographischer Recherche und die geläufigen biographischen Erklärungsmodelle scharfer Kritik. Die Niederschrift von Gesprächen mit Zeitzeugen trägt nicht zur Verlebendigung Sebastians bei, „es war tot, tot“34 ; auch die Methode, nach einem Generationenschlüssel für die individuelle Biographie zu suchen, wie ihn etwa der Begriff „Nachkriegsgeneration“ darstellt, ist schlichtweg „einfältig“.35 Was Steins und Nabokovs literarische Biographien verbindet, ist das einfach Komplizierte der jeweiligen literarischen Konstruktion: Hinter „der scheinbaren Unkompliziertheit [steht] eine hochkomplexe Erzählstruktur“.36 Beide Bücher enthalten mehrfache Spiegelungen von Identitäten und Erzählmodellen; gleich sechs verschiedene Lesarten zählt Nabokovs Übersetzer Dieter E. Zimmer als mögliche Lektürepfade auf.37 Der Erzähler-Biograph Nabokovs zitiert aus einem frühen Brief seines bewunderten Halbbruders Sebastian, dem ambivalent besetzten Objekt seiner biographischen Recherche. Auf den Vorwurf eines Verlegers, in seinem Roman einen zeitgenössischen Schriftstellerkollegen lächerlich gemacht zu haben, antwortet Sebastian: „Wenn ich also nicht nur die innere Welt von X. getreulich wiedergegeben habe (sie ist nichts als ein U-Bahnhof während des Berufsverkehrs), sondern gleichfalls die Manierismen seiner Ausdrucksweise und seines Gehabes, so bestreite ich doch ganz entschieden, daß er oder irgendein Leser in jenem Passus, der Sie so aus der Fassung bringt, die leiseste Spur von Vulgarität entdecken könnte.“38 Zuvor hatte sich Sebastian über die vulgären Methoden „moderner“ Schriftsteller und deren Leserinnen und Leser ausgelassen. Letztere würden die „schlimmsten Banalitäten kaufen, nur weil sie mit einer Prise Freud oder ,innerem Monolog‘ oder was weiß ich modern aufgemöbelt sind“.39 Sebastians Brief zeigt zweierlei: Ende der 1930er Jahre, als Nabokov seinen Roman schrieb, sind die Vulgärpsychologie und zur Konvention gewordene moderne literarische Verfahrensweisen nicht nur zu einer Gefahr für den Roman, sondern aus naheliegenden Gründen längst auch für die Biographie geworden. Frappierend ist der an Pierre Bourdieu erinnernde Vergleich 34 Vladimir Nabokov: Das wahre Leben des Sebastian Knight. In: Gesammelte Werke. Bd. 6. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 98. 35 Ebd., S. 80 f. 36 Dieter E. Zimmer: „Nachwort des Herausgebers“. In: Ebd., S. 272. 37 Ebd., S. 273 f. 38 Ebd., S. 72 f. 39 Ebd., S. 72.
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der „innere[n] Welt von X“ mit einem „U-Bahnhof während des Berufsverkehrs“. Wobei für den Schriftsteller Sebastian die Beschreibung der vermeintlichen Innenwelt uninteressant ist, da sie nichts weiteres als einen Verkehrsknotenpunkt darstelle, verglichen mit der Beschreibung individueller Manierismen, einer spezifisch gefärbten Ausdrucksweise, eines typischen Gehabes; damit ist ziemlich genau umschrieben, was in Bourdieus ,Habitus‘-Begriff steckt. Auf dem Prüfstand stehen die Darstellungsformen des modernen Romans und damit die erzählerischen Modelle zur Beschreibung moderner multipler Subjekte: von literarischen Figuren und von Autorsubjekten zwischen verschiedenen Kulturen und verschiedenen Sprachen. Es ist kein Zufall, dass gerade das auf den Hund gekommene biographische Genre (dem Virginia Woolfs Hunde-Biographie Flush ein ironisches Denkmal setzte) zum Experimentierfeld wurde, auf dem der moderne Roman und das (Autor-)Ich zur Debatte stehen. Das trivialisierte Genre mutiert in den 1920er und 1930er Jahren auch zum theoretischen Reflexionsmedium. Die Entwicklung der literarischen Biographie steht in engem Zusammenhang mit der Geschichte und Struktur des ,Entwicklungsromans‘. Ein mit einer Vielzahl von Anlagen und Talenten in Latenz ausgestattetes Individuum entwickelt sich im Laufe seiner (Bildungs-)Zeit zu einem ,ganzen‘ Menschen, der am Ende seiner Lehrzeit über eine genauere Vorstellung seiner selbst, seines Lebensweges und der Gesellschaft, in der er lebt, verfügt. (Fast immer handelt es sich um männliche Protagonisten.) Dieses Modell musste notwendigerweise fiktiv sein, es besaß ideologischen und utopischen Charakter; denn die Integration der zu bildenden Persönlichkeit sollte ja in eine Gesellschaft erfolgen, die besser ist als die vorgefundene. Spätmoderne Entwicklungsromane wie Peter Handkes Der kurze Brief zum langen Abschied zitieren diese Struktur als Folie (die Lektüre von Gottfried Kellers Gr nem Heinrich), vor der sich die spätere Erzählung entfalten kann. Das Künstlermodell bildet dabei jeweils die kritische Vergleichsebene für die negativ besetzte bürgerliche Erwerbsbiographie. Vom Ideal der Selbstwerdung im Laufe der Zeit zehrt die Biographie über das Problematischwerden dieser Modelle hinaus bis heute. Die Erfolgsgeschichte des Entwicklungsschemas über alle modernen Bruchstellen hinweg korrespondiert mit einem Lebenslauf-Modell, das ab dem frühen 19. Jahrhundert bis in die 1980er Jahre in den westlichen Ländern relativ stabil geblieben ist: Das Dreistufenmodell idealtypischer bürgerlicher Lebensläufe (auch kleinbürgerlicher und ,klassisch‘ prole-
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tarischer) geht von einer Phase der Ausbildung aus, der eine lange Phase des Erwerbslebens folgt, die abenteuerliche Fährnisse nicht ausschließt; darauf folgt eine abschließende Phase der Ruhezeit. Es ist offensichtlich, dass dieses Modell zusehends erodiert. Erstaunlicherweise griff diese Erosion jedoch nicht in gleichem Maße auch die Vorstellung einer den Lebensweg strukturierenden Instanz an. Dass es etwas geben muss, das die Kontingenz der individuellen Lebensvollzüge, die unüberschaubare Fülle an einzelnen Erfahrungen, Erinnerungen und Handlungen steuert, gehört wenigstens zur mentalen Grundausstattung in den westlichen Gesellschaften, wenn nicht gar zu einer anthropologischen Grundausstattung. Zäh klebt an der Biographie das Etikett ,Entwicklung‘. Im Gegensatz zum Roman und im Gegensatz zu soziologischen Befunden, aber auch im Gegensatz zu den modernen Kognitionswissenschaften hält die Biographie an linearen Entwicklungsmodellen fest und ist auch deshalb so erfolgreich, trotz der skizzierten Innovationskraft der Gattung. Die Annahme von Brüchen und Zufällen als wesentlichen Konstituenten biographischer Entwicklung ist schwer zu akzeptieren.40 Historisch fächert sich die Gattung sehr weit auf: Sie reicht von den antiken Lebensbeschreibungen des Plutarch über Heiligenviten und Legenden, über lexikographische Unternehmungen bis zu den offenen Internet-Biographien unserer Tage; von der Nationalbiographik des 19. über die Trivialbiographik des 20. Jahrhunderts und die Höhepunkte moderner literarischer Biographik (,Bloomsbury Group‘) bis zu den großen wissenschaftlichen Biographien der letzten Jahrzehnte (von Richard Ellmann, Hermione Lee, Rüdiger Safranski, Joachim Radkau, Thomas Karlauf u. a.). Die Biographie geht an ihren Rändern zu Gattungen wie dem historischen Roman und vor allem der Autobiographie über. In einem Aufsatz über die Fachentwicklung der Germanistik kommt Bernd Hamacher zum Schluss, dass drei Kernbereiche der Germanistik, die in der „disziplinäre[n] Formierungsphase der Germanistik im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts“ zur Diskussion standen, nämlich „Poetik, Biographik und Lexikographie“, zu Unrecht aufgegeben wurden. Hamacher leitet daraus die These ab, dass „der Kern des Faches“ „leer“ blieb; gerade deshalb aber würden bis heute die Debatten um dieses leere Zentrum kreisen: „[N]och aktuelle germanistische Theoriede40 Vgl. Michael Hampe: Die Macht des Zufalls. Vom Umgang mit dem Risiko. Berlin 2006.
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batten“ seien auf diese Kernbereiche zurückführbar.41 Was bis heute als unabgegoltenes Desiderat gelten müsse, sei eine „multidisziplinäre und muliperspektivische“ Biographik.42 Hamacher bezieht sich einmal auf das aufgegebene Projekt einer von der Großherzogin von Sachsen angeregten fünfbändigen Goethe-Biographie, die die verschiedenen Rollen und Identitäten Goethes – der ,Dichter‘, der ,Schriftsteller‘, der ,Staatsminister‘, der ,Mann der Wissenschaft‘, der ,Kunstfreund‘ und schließlich die soziale Persönlichkeit im Netzwerk „hervorragende[r] Persönlichkeiten“ – beschreiben sollte, verfasst von einem „Autorenkonsortium aus den unterschiedlichsten Disziplinen“.43 Ein solches Projekt, so der zweite Hinweis, hätte sich auf Goethes eigene biographische Praxis in seiner Schrift über Winkelmann und sein Jahrhundert beziehen können. Denn entgegen der Rezeption als „Manifest eines rigorosen Klassizismus“ hätte gerade die offene Form des Buches, die verschiedene Beiträger und verschiedene Formen zu einem eben nicht harmonischen Ganzen integrierte, als innovatives Modell gesehen werden können. Die Editionsgeschichte dieses Textes stellt sich als Geschichte eines bis heute nachwirkenden Ausschlussverfahrens dar: „In der Weimarer Ausgabe fehlt Johann Heinrich Meyers Entwurf einer Kunstgeschichte des 18. Jahrhunderts“ und die wichtigste Studienausgabe der Werke Goethes, die Hamburger Ausgabe, bringt lediglich Goethes eigenen Beitrag, seine „Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns“.44 „Indem die Erzählung des linearen Lebenslaufes zugunsten einer Auffächerung unterschiedlicher Aspekte aufgebrochen erscheint, erweist sich dieses Goethe’sche Publikationsprojekt als anschlussfähig an rezente Identitäts- und Individualitätstheorien, die die Einheit des Subjekts in Frage stellen.“45 Beziehungsweise stellt Goethes Winckelmann ein Alternativmodell zur übermächtigen Individualbiographie dar. Bernd Hamachers Aufsatz schließt mit der Utopie einer Germanistik, die durch die Konzentration auf Poetik, Biographie und Lexikographie den „moderne[n] Menschen“ schlechthin zur Erscheinung bringen könn41 Bernd Hamacher: „,Schall und Rauch‘. Historische Kernbereiche der Germanistik im Lichte der Fachentwicklung: Poetik – Biographik – Lexikographie“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift f r Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 81 (2007) H. 4, S. 638 – 656, hier S. 640 f. 42 Ebd., S. 646. 43 Ebd., S. 645. 44 Ebd., S. 646. 45 Ebd., S. 651.
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te.46 Die Wissenschaftsgeschichte einer Fachdisziplin ist die eine Seite. Deren Kehrseite stellt die Biographie als populäres Genre dar, das zum Gegenstand vehementer Kritik und zum Lieblingsfeind einer (post-)strukturalistischen und sozialgeschichtlichen Text- und Geschichtsbetrachtung wurde. Die Plädoyers für eine Öffnung der Biographie für alternative Modelle verweisen auf ein weiteres theoretisches Problem, die Unschärfe bei der Abgrenzung der Biographie von anderen Formen des ,Life Writing‘.47 Oft wird die Biographie als ein bloßes Derivat der Autobiographie gesehen. Für Samuel Johnson, Biograph und selbst Objekt der kanonischen modernen Biographie, James Boswells Life of Samuel Johnson (1791), besaß die Autobiographie aufgrund ihrer Nähe zum beschriebenen Objekt den Vorzug größerer Wahrhaftigkeit: He that writes the life of another is either his friend or his enemy, and wishes either to exalt his praise or aggravate his infamy […] but he that sits down calmly and voluntarily to review his life for the admonition of posterity, or to amuse himself, and leaves this account unpublished, may be commonly presumed to tell truth, since falsehood cannot appease his own mind, and fame will not be heard beneath the tomb.48
Eine ähnliche Hochschätzung der „Selbstbiographie“ findet sich bei Wilhelm Dilthey, der diese als niedergeschriebenen Ausdruck menschlicher „Selbstbesinnung“ definierte. Solche Selbstbesinnung aber sei in unterschiedlichen Graden „in jedem Individuum“ wirksam und äußere sich in den unterschiedlichsten biographischen Äußerungen, von den Selbstbetrachtungen der stoischen Philosophen über die Meditationen der Heiligen bis zum Vermögen der „großen Geschichtsschreiber“. „Die Macht und Breite des eigenen Lebens, die Energie der Besinnung über dasselbe ist die Grundlage des geschichtlichen Sehens. Sie allein ermöglicht, den blutlosen Schatten des Vergangenen ein zweites Leben zu geben.“49 Hier erscheint die Befähigung zur Selbstbiographie als Bedingung, um die abgelebte Geschichte in den Blutkreislauf eines größeren Zusammenhangs einströmen zu lassen. Die organologische Metapher verkennt, wie auch schon Johnsons Eloge auf 46 Ebd., S. 655. 47 Vgl. den Beitrag v. Manfred Mittermayer: „Die (Auto-)Biographie im Kontext der Life-Writing-Genres“ in diesem Band, S. 69 – 101. 48 Samuel Johnson in: The Rambler (13. Oktober 1750) Nr. 60. Zit. nach: Biography as an Art. Selected Criticism 1560 – 1960. Hg. v. James Clifford. London 1962, S. 40 – 45, hier S. 45. 49 Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 247.
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die Selbstbiographie, den Konstruktionscharakter jeglicher (auto-)biographischen Erzählung. Die Stichworte aber sind gegeben: Wahrheit und Lüge, Verlebendigung des Vergangenen, Verstehen des Fremden. Die Theorie der Biographie steht zwischen den Ansprüchen auf Wahrheit und biographische Evidenz und Auffassungen, die sie als lediglich ideologisches oder ästhetisches Konstrukt beschreiben. Diese ambivalente Stellung entspringt der Nähe biographietheoretischer Reflexionen zur Produktion biographischer Zeugnisse: Kein konkretes biographisches Produkt, sei es eine Beichte, ein Geständnis, eine sozialwissenschaftliche Auswertung biographischer Interviews, nicht die literarische und nicht die wissenschaftliche Biographie einer bedeutenden Persönlichkeit bleiben davon unberührt. Denn immer geht es der Biographie um Wahrheit, auch noch in der Verstellung: um die Wahrheit vor Gott, um die Wahrheit des Selbst, um die Wahrheit vor Gericht, um die Wahrheit einer historisch verbürgten Person, um die Wahrheit der Legende, um die Wahrheit jenseits von biographischen Mystifikationen oder um die Wahrheit eines bestimmten gelebten Lebens in einem bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhang. Zur biographischen Wahrheit gehört die Wahrheit der Verdrängung, zum Beispiel als Handlung leitende Lebenslüge, ebenso wie die diskursive Formierung von Aussagen in bestimmten Formaten und Genres. Im Mittelalter sind die Heiligenvita und die Hagiographie die prägenden biographischen Formate, in der Neuzeit ist es vor allem die Autobiographie. Das Interesse an der Wahrheit verbindet Alltagsleser und Theoretiker. Die Biographie steht in enger Beziehung zur Geständnispraxis, wie sie die Beichte, das Gerichtsverfahren, in gewissem Sinne auch das therapeutische Gespräch, oder harmloser, das Format des Lebenslaufs, hervorbringt. Allerdings schließen die solchermaßen produzierten Wahrheiten einander tendenziell aus. Wo das Therapiegespräch den Leidensdruck verringern möchte, ist das Gerichtsverfahren durch „Öffentlichkeit, Misstrauen und Kritik gekennzeichnet“. „Im juridischen Rahmen lässt sich keine Therapie durchführen und in der Therapie kein Urteil vollstrecken.“50 Im biographischen Schreiben mag sich die detektivische, manchmal geradezu inquisitorische Züge annehmende Lust an der Identifizierung biographischer Details mit einem – unbewussten – therapeutischen Impuls verbinden, der vergangene Gefühle in der 50 Aleida Assmann: Erinnerungsr ume. Formen und Wandlungen des kulturellen Ged chtnisses. München 1999, S. 269.
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biographischen Erzählung zwangsläufig harmonisiert. In der (klassischen) Psychoanalyse bedeutete die biographische Anamnese die spätere Freilegung und Analyse frühkindlicher traumatischer Erfahrungen im therapeutischen Gespräch und in biographischen Fallgeschichten, die als eigenständige literarische Texte gelesen werden können.51 Dabei gewann die Psychoanalyse in ihrer Frühzeit nicht selten den Charakter einer biographischen Verdächtigungswissenschaft, auf der Suche entweder nach psychopathologischen Momenten in den Biographien bedeutender Persönlichkeiten oder auf der Suche nach den Verstecken, in denen die Individuen ihre ,wahren‘ Biographien vor den Blicken der Menge verbargen. Die von Sigmund Freud begründete und unter redaktioneller Mitarbeit von Hanns Sachs und Otto Rank herausgegebene Zeitschrift Imago, mit dem Untertitel „Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften“, stellt für die Verbindung von biographischer Detektivarbeit und Psychoanalyse eine Fundgrube dar.52 Als Ausdrucksform zwischen der Wahrheit der Körper, der Wahrheit der Ideen und der Wahrheit der Nachwelt evoziert die Biographie widersprüchliche Wahrheitsbegriffe.53 Gedächtnisfunktionen der Biographie – Biographie und Historiographie Der verglichen mit der Innovationskraft der Literatur weniger starke Impuls der Biographie zur ständigen Neuerfindung hat seinen Grund in einer Einschätzung, die den ,Common Sense‘ westlicher Kulturen bildet: Leben, sei es vergangen oder gegenwärtig, sei es verstanden als heroisches oder als alltägliches, als biologisch oder gesellschaftlich determiniertes, wurde und wird als ,Lebenslauf‘ verstanden, als etwas, das anfängt, sich stufenweise entwickelt, an Knotenpunkten kristallisiert und das ein Ende hat. Das Ende kann durch ein Nachleben im Nachruhm vielleicht verlängert werden, Bedingung dafür ist die Präsenz in der Erinnerung einer Gruppe oder eines größeren Kollektivs. Verblasst 51 Dass im unscheinbaren Detail ein Schlüssel zum Ganzen liegen könnte, diese Vermutung machte Sherlock Holmes für Sigmund Freud so attraktiv. Vgl. Michael Rohrwasser: Freuds Lekt ren. Von Arthur Conan Doyle bis Arthur Schnitzler. Gießen 2005. 52 Vgl. Fetz: Das unmçgliche Ganze, S. 69 – 84. 53 Zum biographischen Wahrheitsbegriff vgl. die Beiträge im Band Spiegel und Maske. Konstruktionen biographischer Wahrheit. Hg. v. Bernhard Fetz u. Hannes Schweiger. Wien 2006 (= Profile, Bd. 13).
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die Erinnerung im Gedächtnis der Generationen, kann das Vergessen durch rituelle Praktiken der Memorisierung aufgehalten oder die Erinnerung neu belebt werden, worunter das Nachschreiben in Form verschiedenartigster biographischer Erzählungen eine kulturelle Praxis darstellt, die sich zusehends auch auf fotografische und filmische Medien verlagert. Heute koexistieren schriftliche Formen der (Selbst-)Präsentation mit einer unüberschaubaren Fülle und Varietät an (auto-)biographischem Material im Internet. Hartnäckig jedoch überlebte das erzählerische Modell des Lebens alle Attacken, nie löste es sich ganz in der rhizomatischen Struktur eines Netzwerkes, in fragmentarischen „Biographemen“54 oder in der Selbstgenügsamkeit autopoietischer Systeme auf. Neben noch zu besprechenden Gründen liegt dies an den Gedächtnisfunktionen der Biographie: Wir haben es heute nicht mit einer Selbstaufhebung, sondern umgekehrt mit einer Verschärfung des Gedächtnis-Problems zu tun. Das liegt daran, daß das Erfahrungsgedächtnis der Zeitzeugen, wenn es in Zukunft nicht verlorengehen soll, in ein kulturelles Gedächtnis der Nachwelt übersetzt werden muß. Das lebendige Gedächtnis weicht damit einem mediengestützten Gedächtnis, das sich auf materielle Träger wie Denkmäler, Gedenkstätten, Museen und Archive stützt.55
Die Biographie nimmt in diesem Prozess eine Mittelstellung ein; sie versucht, zwischen einem Erfahrungsgedächtnis Einzelner und einem Generationengedächtnis sowie einem allgemeinen Geschichtsgedächtnis zu vermitteln. Sie simuliert eine Synthese aus beidem, indem sie in unterschiedlicher Gewichtung sowohl die Unmittelbarkeit der Erfahrung als auch die Objektivität des historischen Blicks für sich beansprucht. Die Biographie, sagen wir vorsichtiger die verschiedenen Emanationsformen des Biographischen, scheinen tatsächlich das Defizit, das einerseits die humanistische Bildungstradition, andererseits die postmodernen Subjekttheorien hinterließen, auszugleichen. Die normative Kraft kanonischer literarischer oder religiöser Texte ist im Verschwinden begriffen, wenn sie nicht längst verblasst ist. Vielleicht war in Deutschland nach 1945 die ,Gruppe 47‘ tatsächlich die letzte Vorbilder produzierende literarische Agentur, und dies in höchst problematischer Weise: 54 Roland Barthes: Sade Fourier Loyola. Frankfurt/M. 1986, S. 13. 55 Assmann: Erinnerungsr ume, S. 15.
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Die Biographie war die Form, in der sich die Gesellschaft mit sich selber verständigte. Die Stunde Null war der unüberschreitbare Anfang der Geschichte, die Zäsur zur Vorwelt, der Abschied vom Holocaust und von allem, was zu ihm geführt hatte – von hier aus würde sich alles andere linear fortentwickeln. In dieser Zuversicht ist das literarische Nachkriegsbewußtsein entstanden.56
Nach 1989 treten die Biographie der Bundesrepublik und die Biographien ihrer Bewohner auseinander: „Plötzlich wird die Biographie, die identisch war mit der Biographie der Bundesrepublik, in einen größeren, älteren und jüngeren, Zusammenhang gebracht.“ Die Literatur kann „ein Ich, über das sie nicht mehr verfügt, auch niemand mehr zur Verfügung stellen“.57 Was hier verlorenging, wurde teilweise ersetzt durch biographisch vermittelte Substrate von Tradition und Erinnerung. Doch besitzt die Biographie nicht nur kompensatorische Qualitäten; sie verfügt durchaus über das Potenzial, jene verlebendigenden Funktionen im Herder’schen oder auch Nietzsche’schen Sinne zu übernehmen, die eine monumentalistische oder archivarische Geschichtsschreibung aus dem Blick verliert oder verdrängt.58 Sie besitzt im Anschluss an diese Bestimmung mit Karl Mannheim eine vergesellschaftende Funktion: „In einer wahrhaft vergesellschaftend wirkenden These lebt die Fortsetzbarkeit des Gedankens; in einer verbindenden Vision, in einem verbindenden Gefühl und Kunstwerk liegt die Richtung, in der Vision, Gefühl, Kunstwerk fortgebildet und in neuen Lebenslagen verlebendigt und existenziell uminterpretiert werden können.“59 Im Kontext des Mannheim’schen Generationen-Konzepts sind Individuen sehr oft die Träger „neuer Generationshaltungen“. Zuerst stehen sie isoliert da, verkannt von ihrer Mitwelt, erst im Nachhinein wird deutlich, dass sie ,Vorläufer‘ von Haltungen waren, die später kollektiv wirksam wurden, als gemeinsame Generationserfahrung beispielsweise.60 Diese Prozesse des Nachlebens Einzelner mit Blick auf die eigene Gegenwart bewusst zu machen, ist eine Funktion 56 Frank Schirrmacher: „Abschied von der alten Literatur der Bundesrepublik“. In: Kulturchronik 1 (1991), S. 4 – 10, hier S. 9. (Zuerst erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.10.1990.) 57 Ebd., S. 10. 58 Vgl. Fetz: Das unmçgliche Ganze, S. 54 – 56. 59 Karl Mannheim: „Das Problem der Generationen“. In: ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Hg. v. Kurt H. Wolff. Berlin u. Neuwied 1964, S. 509 – 565, hier S. 545. 60 Ebd., S. 549.
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der historischen Biographie, wie sie Herder vertreten hat.61 Es sind ,hervorragende‘ Individuen, denen die verschiedenen Theoretiker des Nachlebens die Fähigkeit zuschreiben, Träger und Katalysatoren historischen Wandels zu sein. „Jedes Leben kann beschrieben werden“, schreibt Wilhelm Dilthey, sei es auch noch so klein und unbedeutend; das Alltagsleben besitzt ebenso Aussagewert für die „unendlichen Möglichkeiten unseres Daseins“ wie das „mächtige“, das seiner Zeit und seiner Umwelt seinen Stempel aufdrückende Leben. Doch die Einschränkung folgt auf dem Fuße: „Aber der historische Mensch, an dessen Dasein dauernde Wirkungen geknüpft sind, ist in einem höheren Sinne würdig, in der Biographie als Kunstwerk fortzuleben.“ Unter diesen werden, mit einer weiteren Einschränkung, diejenigen besonderes Interesse auf sich ziehen, „deren Wirkungen aus besonderen schwer verständlichen Tiefen menschlichen Daseins hervorgegangen sind“. Die Größe der historischen Persönlichkeit im Zusammenspiel mit dem inneren Kampf der Leidenschaften produzieren jenes Lebensdrama, das uns die besten Einblicke „in das Menschenleben und seine individuellen Gestalten“ bietet.62 Daraus ließe sich die Formel ableiten: Geschichtsschreibung plus Seelendrama ist gleich Biographie. Dass nur historische Persönlichkeiten biographiewürdig sein sollen, liegt nach Dilthey daran, dass nur in ihnen eine Kraft liegt, die in der Lage ist, einen „Mittelpunkt“ zu bilden. Jedes Individuum ist sich selbst Mittelpunkt, aber das genügt nicht, es muss aufgrund seines spezifischen Gewichts auch vom Biographen zum Mittelpunkt gemacht werden können. Nach Dilthey ist es Aufgabe des Biographen, „den Standpunkt zu finden, in welchem der allgemeinhistorische Horizont sich ausbreitet und nun für einen Wirkungs- und Bedeutungszusammenhang doch dies Individuum im Mittelpunkt bleibt“.63 Biographie in diesem Sinne verstanden bedeutet das Austarieren der äußeren und inneren Kräfte in einem Mittelpunkt. Wie bei einem Magneten ordnen sich die einzelnen Wirkungsmomente beim starken, historischen Individuum nach einem Zentrum hin aus. Dagegen hat die feministische Biographik revoltiert, gelegentlich auch die 61 Vgl. Tobias Heinrich: „Biographie als Hermeneutik. Johann Gottfried Herders biographischer Essay ber Thomas Abbts Schriften“. In: Die Biographie – Beitr ge zu ihrer Geschichte. Hg. v. Hemecker. 62 Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 305 f. 63 Ebd., S. 309.
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literarische: Peter Handkes Mutterbiographie Wunschloses Ungl ck etwa stellte das Leben einer deklassierten Frau in den Mittelpunkt.64 David Nyes dezentrierte Biographie Thomas A. Edisons verweigert unter konsequenter Beachtung strukturalistischer Theorien die Fiktion eines biographischen Zentrums und konzentriert sich auf die Darstellung der Widersprüche, die eine Diskursanalyse der biographischen Quellen zum Vorschein bringt. Die erstaunliche Vielfalt des biographischen Genres in den 1930er Jahren korrespondiert mit einem komplementären Phänomen: der Krise der historischen Biographie, die im selben Zeitraum virulent wurde. Als Marc Bloch und Lucien Febvre in den 1920er Jahren in Straßburg begannen, exakte Methoden aus anderen Wissenschaften wie der Soziologie oder der Geographie in die Geschichtswissenschaften einzuführen, was 1929 zur Gründung der Zeitschrift Annales führte, war es um die Biographie als Medium von Geschichte erst einmal geschehen. In Deutschland war die Kritik an Ernst Kantorowicz’ Mythographie über Kaiser Friedrich II. der Ausgangspunkt für eine Kontroverse über den Stoff der Geschichte, zu dem für Ernst Kantorowicz, Ernst Bertram, Friedrich Gundolf und andere dem George-Kreis Nahestehende eben nicht zuerst die verifizierbaren Fakten zählten, sondern die Entfaltung der großen Persönlichkeit in der Legende, im mythischen Nachleben.65 Jacques Le Goff, Historiker und Biograph, resümierte, dass die Historiker die Biographie mehr oder weniger den Romanciers überlassen hätten, ihren alten Konkurrenten auf diesem Terrain.66 Es sollte Jahrzehnte dauern, bis sich die historische Biographie von der Dominanz der Strukturgeschichtsschreibung wieder emanzipierte und begann, deren Defizite auszugleichen; mit durchschlagendem Erfolg, Le Goff 64 Zur feministischen Biographik vgl. die Beiträge im Kapitel ,Biographie und Geschlecht‘ in diesem Band. Zu Peter Handke vgl. Philipp Weiß: „Peter Handke: Wunschloses Ungl ck“. In: Die Biographie – Beitr ge zu ihrer Geschichte. Hg. v. Hemecker. 65 Eine sehr gute Darstellung der Biographieauffassung des George-Kreises und seiner ironischen Kontrafaktur vor allem in der jüngeren englischen Biographik, die unter Legende das ,Making of ‘ des Nachruhms versteht und nicht die ,Mythenschau‘ (Kantorowicz), findet sich im Beitrag von Ulrich Raulff: „Das Leben – buchstäblich. Über neuere Biographik und Geschichtswissenschaft“. In: Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis biographischen Schreibens. Hg. v. Christian Klein. Stuttgart, Weimar 2002, S. 55 – 68. 66 Vgl. ebd., S. 57.
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spricht von einer „phänomenalen Wiedergeburt“ der Biographie.67 Diese übt ein Gegengewicht gegen die Struktur- und Sozialgeschichte aus und leistet damit den Anschluss der Geschichtsforschung an ein kollektives Gedächtnis68, wobei die Gefahr der Reduktion sozialgeschichtlicher Zusammenhänge auf individuelle Lebensläufe nie zu bannen ist.69 Le Goffs Standpunkt liegt zwischen den Polen. Überzeugt davon, dass die Biographie die Erzählung eines Lebens ist, darf die Geschichte nicht in dieser Erzählung gefangen bleiben. Struktur und Erzählung seien kein Widerspruch für den Historiker, meint Le Goff, um dann zu einem entscheidenden Punkt zu gelangen. Eine Biographie zu schreiben bedeute nicht, ein Ereignis nach dem anderen zu erzählen, vielmehr sei die Biographie das Resultat vorangegangener Problemlösungen. Anspruch seiner Biographie über den mittelalterlichen König Saint Louis sei es gewesen, die Probleme zu beschreiben, die sich Saint
67 Jacques Le Goff: „Wie schreibt man eine Biographie?“ In: Der Historiker als Menschenfresser. ber den Beruf des Geschichtsschreibers. Hg. v. Fernand Braudel, Natalie Zemon Davis u. Lucien Febvre. Berlin 1990, S. 103 – 112, hier S. 103. 68 Aleida Assmann zitiert aus einem Gespräch, das sie mit dem Historiker Krzysztof Pomian über Geschichte und Gedächtnis führte; es ging um die Frage, ob „die Geschichte die lebendige Erinnerung erodiert“. Pomian antwortete unter Bezug auf das große Denkmal-Projekt von Pierre Nora Lieux de M moire, dass Projekte wie dieses auf die Strukturgeschichtsschreibung im Gefolge der französischen ,Annales‘-Schule reagierten: Einer ihrer wichtigsten Vertreter, Fernand Braudel, „spezialisierte sich auf Prozesse, die sich der Wahrnehmbarkeit, Memorierbarkeit und damit auch der Kodierbarkeit notwendig entziehen wie Bevölkerungsstrukturen und Preisfluktuationen. Er studierte sozusagen die Geschichte hinter dem Rücken der Beteiligten. Das hatte schließlich den Effekt, daß diese Geschichte eine höchst spezielle Angelegenheit wurde, die den Laien nichts mehr anging. Der Preis für dieses neue Wissen war hoch: Die Geschichte verschwand aus dem Bewußtsein der Bevölkerung und wurde allmählich aus den Schul- und Lehrplänen verbannt.“ Assmann: Erinnerungsr ume, S. 144. 69 Jacques le Goff korrigierte das Bild der biographiefeindlichen ,Annales‘-Schule, indem er auf Lucien Febvres biographische Essays über Luther und Marguerite de Valois hinwies oder auf Marc Blochs Überzeugung, dass dem Individuum in der Geschichte ein entsprechender Platz eingeräumt werden müsse. Jacques le Goff: „La tentation de la biographie pour l’historien des Annales. Interview de Ruedi Ankli avec l’historien Jacques le Goff sur la biographie de Saint Louis“. In: Biographie und Interkulturalit t. Diskurs und Lebenspraxis. Hg. v. Rita Franceschini. Tübingen 2001 (= Stauffenburg Diskussion. Studien zur Inter- und Multikultur, Bd. 16), S. 13 – 22, hier S. 14. Vgl. auch Le Goff: „Wie schreibt man eine Biographie?“, S. 104 f.
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Louis stellten, und zu zeigen, wie sich diese Probleme dem Historiker stellen.70 Le Goff konstatierte für die 1980er Jahre in Frankreich, dass sich als „Gegenreaktion“ gegenüber sozialökonomischen Modellen in der Geschichtsschreibung ein Bedürfnis nach „Psychohistorie“, nach der „Geschichte der Mentalitäten“, nach dem „Imaginären“ entwickelte71, das sein Ventil auch in biographischen Formen fand. „Ist der Historiker heute […] wo er wissenschaftlich und mental besser gerüstet ist, nicht in der Lage“, sich wieder dem Individuum als Mitglied einer Gruppe, als Träger von Ereignissen, als Medium des Politischen zu widmen, also jenen Gegenständen, „die einst verraten wurden von einer positivistischen Historiographie mit ihren reduktionistischen, mystifizierenden Methoden, welches die Annales – und das ist ihr großes Verdienst – so energisch bekämpft haben?“72 Die steigende Zahl an guten wissenschaftlichen Biographien lässt Le Goffs rhetorische Frage auch für den deutschen Sprachraum positiv beantworten. Nicht nur Historiker, auch Literaturwissenschaftler, Soziologen, Politologen und Philosophen haben die Biographie als Erkenntnismodell wiederbelebt. Heute droht von anderer Seite Gefahr als im positivistischen 19. Jahrhundert73, mit ähnlichen Folgen. Biographische Datenbanken großen Stils haben die lexikographischen Unternehmungen des 19. Jahrhunderts abgelöst. In keiner Strukturgeschichte verschwindet das Individuum endgültiger als in der Dokumentation der Vielen. Dabei verstehen sich zahlreiche biographische Datenbanken gerade als längst überfällige Korrektur der überlieferten Kanons großer Persönlichkeiten, mit dem Ziel, Frauen, Emigranten, Opfern totalitärer Systeme einen Platz in der Geschichte zu verleihen. Aber erst die biographische Ver70 71 72 73
Le Goff: „La tentation de la biographie“, S. 16 f. Le Goff: „Wie schreibt man eine Biographie?“, S. 104. Ebd., S. 105. Das natürlich nicht nur positivistisch war, sondern auch ,romantisch‘, nicht nur rationalistisch, sondern auch ,hermeneutisch‘, nicht nur zunehmend sozialwissenschaftlich orientiert, sondern auch geistesgeschichtlich. Diese Oppositionen spielen auf den von vielen Forschern konstatierten und konstruierten Unterschied zwischen der Wissenschaftsgeschichte Frankreichs und Deutschlands an. Ein prominentes Beispiel stellt Karl Mannheims Versuch einer Synthese der beiden Strömungen in seinem Aufsatz über „Das Problem der Generationen“ dar. Vgl. Jürgen Zinnecker: „,Das Problem der Generationen‘. Überlegungen zu Karl Mannheims kanonischem Text“. In: Generationalit t und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. Hg. v. Jürgen Reulecke unter Mitarbeit v. Elisabeth Müller-Luckner. München 2003, S. 33 – 58, hier S. 35.
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gegenwärtigung einzelner, ,besonderer‘ Individuen kann ein Gegengewicht ausbilden. Mehr denn je geht es um die Frage, wer denn aus der Masse der Vielen hervorgehoben werden soll, wer denn aus welchen Gründen zum Gegenstand biographischen Interesses wird. Die Besonderheit des Individuums kann auch darin bestehen, das Modell einer signifikanten ,Durchschnittsbiographie‘ abzugeben. Aber eben das ,Modell‘, und damit wieder etwas, das für etwas anderes, ,Größeres‘ steht. Nie war die biographische Wahlmöglichkeit so groß wie heute, denn nie zuvor existierten so viele zugängliche Dokumente, auch zu den ,kleinen‘ Männern und Frauen.74 Aber erst mit dem Vorhandensein von Dokumenten, so Le Goff, kann es Biographien geben, die aus den Lebensläufen geschriebene Leben machen: „Die Informationen vor dem sechzehnten Jahrhundert im Abendland sind zu spärlich, als daß der Historiker, der ja auf Dokumente angewiesen ist, eine andere Biographie schreiben könnte als diejenige einer herausragenden Figur.“ Das bedeutet für das Mittelalter, dass überhaupt nur zwei Personengruppen für Biographien in Frage kommen: „Der König und der Heilige“. Denn nur sie wurden „zum Gegenstand schriftlicher Äußerungen gemacht“. Auch wenn man diese Grenze nicht als unumstößlich ansehen mag, im Sinne der Le Goff’schen Definition der Biographie ist sie schlüssig: Biographie ist die „Präsentation und Deutung eines individuellen Lebens innerhalb der Geschichte“.75 Biographie und Generation Für David Ellis stellen Biographien einen der wenigen „remaining points of interaction“ zwischen der Theorielastigkeit der akademischen Welt und dem „Rest“ der Gesellschaft dar.76 Die Schnittstellenfunktion der Biographie zwischen der Theorie und dem ,Rest‘ kann an einem 74 Durchaus mit dem Doppelsinn von körperlicher Kleinheit und Durchschnittsbiographie spielt Peter Henischs literarische Vaterbiographie mit dem Titel Die kleine Figur meines Vaters (1975). Peter Henischs Vater arbeitete während des Zweiten Weltkriegs als Photograph der Deutschen Wehrmacht. Als Komplementär-Projekt ist Peter Henischs 2007 erschienenes GroßmutterBuch Eine sehr kleine Frau zu sehen. Peter Handkes Mutterbiographie Wunschloses Ungl ck von 1972 stellte die Geschichte einer ,einfachen‘ Frau in den Mittelpunkt. 75 Le Goff: „Wie schreibt man eine Biographie?“, S. 106. 76 Ellis: Literary Lives, S. 1.
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Begriff ausgeführt werden, der, zumal in der deutschen Tradition, eine Scharnierfunktion zwischen den Geistes- und Sozialwissenschaften darstellt und für die (deutsche) biographische Tradition von großer Bedeutung ist: der Begriff der ,Generation‘. Die Jahresmarken 18711918-1945-1968-1989 stehen jeweils für bestimmte Generationserfahrungen, die mit biographischen Brüchen verbunden sind. Dazu kommen all die Zwischengenerationen, die deshalb als Generationen bezeichnet werden, weil sie nicht auf die – zwiespältige – Nobilitierung von Lebensläufen durch dramatische historische Brüche verweisen können, die 1929er zum Beispiel. Eine Reihe von Figuren, die die deutsche Nachkriegsgeschichte nachhaltig prägten, wurden 1929 geboren. Ihre intellektuellen und öffentlichen Biographien nach 1945 können mit einigem Recht auf die spezifische Prägung einer Zwischengeneration zurückgeführt werden.77 Doch scheint mit den ,29ern‘ auch etwas zu Ende zu gehen. Es mag durchaus zutreffen, dass „die historische Hochform von gesellschaftlichen Generationen nun zu einem geschichtlichen Ende gekommen“ ist. Für ein Ende des Generationenkonzepts als Beschreibung historischer Erfahrung, womit auch individuelle, Biographie konstituierende Erfahrung von voneinander abgegrenzten Generationen gemeint ist, spricht „der Verfall einer bürgerlichen Öffentlichkeit im Kontext der Entwicklung einer individualisierten kommerziellen Medienkultur“.78 Deshalb habe sich der Generationenbegriff mittlerweile verschoben, weg von den „lebenden, menschlichen Generationen auf die technischen, medialen Generationen“.79 Die Krise der Biographie, wie sie seit den 1920er Jahren an der vehementen Kritik an der Gattung ablesbar ist, bestätigt den Befund. Dann wäre die Konjunktur der Biographie nur eine mächtige Gegenbewegung gegen einen als bedrohlich empfundenen gesellschaftlichen 77 Das Magazin der Kulturstiftung des Bundes (Frühjahr 2008), Nr. 11 widmete den ,29ern‘ ein Themenheft. Vgl. vor allem die Essays von Stephan Schlack: „die 29er. der deutsche nachkriegsgeist wird 80 jahre“, S. 7; Hans Ulrich Gumbrecht: „nachhaltige generation. die deutschen von 1929“, S. 10 und Alexander Cammann: „1929 – 1989. Eine Generation frisst einen Jahrgang“, S. 12 – 13. Zuvor schon waren die ,78er‘ entdeckt worden, die eingeklemmt zwischen den ,68ern‘ und den ,89ern‘ ihr Leben fristen müssen: Robert Bettschart, Thomas Mießgang: „Zu früh. Zu spät. Die Zeitgeschichtsschreibung hat eine bislang unbeachtete Generation entdeckt: die 78er“. In: Profil, 21. 12. 1992, S. 88 – 91. 78 Zinnecker: „Das Problem der Generationen“, S. 50. 79 Ebd., S. 51.
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Wandel; ein trotziges Festhalten an Individualität im Zeitalter ihrer medialen Dissoziation. 1928 entstand Karl Mannheims kanonischer Aufsatz über „Das Problem der Generationen“. Mannheim reagierte mit dieser Arbeit auf einen ein Jahrzehnt lang intensiv geführten Generationendiskurs, an dem sich in Deutschland neben Historikern und Philosophen auch Kunst- und Literaturwissenschaftler beteiligt hatten. „Mannheim sicherte der noch jungen Disziplin Soziologie eine Stimme in diesem wissenschaftlichen Dialog.“80 Er wollte außerdem eine Synthese zwischen der französischen Geistesgeschichte, die für ihn ein aufklärerisches, methodisch an der Empirie orientiertes Modell repräsentierte, und der deutschen geisteswissenschaftlichen Hermeneutik herstellen.81 Der Gegensatz zwischen einem gesellschaftsorientierten Modell und einem Modell mythographischer Überhöhung weit außerhalb der Gesellschaft stehender einsamer Einzelner lässt sich an zwei 1917 in England und in Deutschland erschienenen und für die Geschichte der Biographik paradigmatischen Biographien ablesen: Lytton Stracheys Buch Eminent Victorians unternimmt die kritische Revision eines ganzen Zeitalters am Beispiel herausragender Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Dabei kommt die Gegenwart des Biographen, der Erste Weltkrieg, als Subtext mit ins Bild. Stracheys Biographie geht von empirischen Fakten aus, die er einer erzählerischen Verdichtung unterwirft. Ernst Bertrams Nietzsche. Versuch einer Mythologie will am Ende einer Epoche das Leben des ,letzten‘ großen Deutschen in ein mythisches Nachleben transformieren.82 Hinter diesen unterschiedlichen biographischen Modellen stehen auch zwei unterschiedliche Begriffe von Generation, entstanden vor dem Hintergrund unterschiedlicher kultureller Kontexte. Eine Überprüfung der Mannheim’schen Thesen auf ihre aktuelle Relevanz zur Erklärung gesellschaftlichen Wandels (das war Mannheims Ausgangsfrage) kann deutlich machen, mit welchen Fragen sich die Biographie als Gattung und als einmal unterstelltes Bewusstsein lebensgeschichtlicher Kohärenz, das sich der Kontingenzerfahrung widersetzt, konfrontiert sieht. Wenn Mannheim das „Deutungsmuster Genera80 Ebd., S. 34. 81 Ebd., S. 35. 82 Vgl. Caitríona Ní Dhúill: „Der Kanon des Heroischen. Ernst Bertrams Nietzsche. Versuch einer Mythologie“. In: Die Biographie – Beitr ge zu ihrer Geschichte. Hg. v. Hemecker.
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tion“, also die Summe individueller „Lagerungen“ und „Zusammenhänge“, die Möglichkeit gibt, historischen Wandel auch nichtlinear zu denken, ohne die Ausrichtung auf einen Endpunkt, und wenn dadurch „Anschlussstellen für postmoderne Theorien“ geschaffen werden, dann gilt das auch für die Biographie.83 Längst sind ihr die Sicherheiten der einen Erzählung abhanden gekommen. Mannheims Unentschiedenheit, ob Generationen immer und überall auftauchen, oder nur in bestimmten historischen Konstellationen, markiert die produktive Unentschiedenheit beim Versuch, das Phänomen des Biographischen theoretisch zu fassen. Es als universelles Modell zur Bewältigung einer kontingenten Wirklichkeit zu begreifen, ist einleuchtend: Zu stark erscheint die Sogkraft eines ,realen‘ Ich, ausgestattet mit einer ,einzigartigen‘ Geschichte. Argumente für die schwindende Bedeutung des Generationenbegriffs als soziologisches Deutungsinstrument für gesellschaftliche Wandlungsprozesse treffen jedoch auch die Biographie: Es „dient nicht mehr allein die Hochkultur als Kristallisationskern einer Bildung von historischen (Elite-)Generationen, sondern wir müssen auch die Popularkultur (beispielsweise die modernen Massenmedien) als Kraft in Rechnung stellen, die zum Generator von Generationenbildung werden kann“.84 Außerdem werden Lebenserfahrungen „lebenslang, sozusagen gleichberechtigt in allen Lebensabschnitten gemacht“.85 Von beiden Prozessen bleiben Theorie und Praxis der Biographie nicht unberührt. Die Biographie ist ein ,Elitemodell‘, wie für Mannheim und die Generationstheoretiker seiner Generation die ,Generation‘ eines war.86 Hier wie dort sind es literarische, künstlerische und politische Eliten, denen die Kraft zur Generationsbildung zugemessen wurde beziehungsweise die als biographiewürdig erachtet wurden. Das Elitemodell ist brüchig geworden und unter Druck geraten.87 Allerdings sind es noch immer (im deutschsprachigen mehr als im englischsprachigen Raum) meist die ,großen‘ Männer, denen die biographische Aufmerksamkeit gilt. Nur Helden sind sie keine mehr: Sexualität und Alltag haben sie eingeholt und mit ihnen die Kindheit: „Ein anderer Nutz83 84 85 86 87
Zinnecker: „Das Problem der Generationen“, S. 46. Ebd., S. 47. Ebd., S. 50. Ebd., S. 52. Vor allem die Beiträge zum Kapitel ,Biographie und Geschlecht‘ in diesem Band machen dies deutlich.
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nießer des historischen Verfalls des Mythos Jugend ist die Lebensphase Kindheit geworden.“88 Der gesellschaftliche Wandel führte nicht nur zum Erosionsprozess eines literarisch-wissenschaftlichen Genres, er provozierte auch eine überfällige Neubewertung der Biographie. Spielräume des Individuellen Die Biographie als literarische und wissenschaftliche Gattung wie die biographische Forschung in verschiedenen Disziplinen richten ihr Augenmerk nicht nur auf fixierbare Daten in der Vergangenheit von Individuen und auch nicht nur auf die Prozesse, die vergangene Gefühle, Ereignisse und Handlungen in die Gegenwart vermitteln, wie erzählökonomische Strategien, psychische Übertragungsmechanismen und verschiedene Medien der Erinnerung (Erzählungen, Bilder, kognitive Verarbeitungen). Vielmehr ist die Biographie immer auch auf die Zukunft hin orientiert. Einleuchtend ist dies, wenn Biographien Modellfunktionen übernehmen sollen, zum Beispiel in Prozessen der Nationswerdung89, oder allgemein für individuelles moralisches Handeln. Als Medium eines kulturellen Gedächtnisses, das oft Träger ideologischer Formierungen ist (Biographien ,großer‘ Männer, Nationalbiographik) und in dem moralische Diskurse eine Rolle spielen, wird der Funktionscharakter der Biographie sichtbar. Einen Zentralbegriff aus John Austins Sprechakttheorie aufgreifend, einem wichtigen Ausgangspunkt der verschiedenen Performanztheorien, sind Biographien auch immer ,perlokutionäre Akte‘: Sie besitzen Einfluss auf das Nachleben einer Person, sie sind an Prozessen der Kanonisierung oder Wiederentdeckung beteiligt. Biographische Darstellungen können außerdem Akte der Entlarvung (im Englischen ,Debunking‘) oder der Wiederaneignung (eines ,Reclaiming‘ in postkolonialen Kontexten) sein.90 Die Frage nach dem kulturellen Kontext beziehungsweise nach den je spezifischen Symbolsystemen, die bei der Herausbildung biographischer Muster wirksam werden, muss bei jeder Analyse biographischer Erzählungen gestellt werden.
88 Zinnecker: „Das Problem der Generationen“, S. 52. 89 Vgl. dazu die Beiträge von Deborah Holmes und Hannes Schweiger zum Thema ,Kulturtransfer‘ in diesem Band. 90 Diesen Hinweis verdanke ich Hannes Schweiger.
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Diese konkreten Funktionalisierungen sind eingebettet in einen größeren anthropologischen Zusammenhang, der das Biographische in den Widerstreit deterministischer Modelle mit verschiedenen Konzeptionen von Freiheit stellt. In ihrer trivialbiographischen Ausprägung arbeitete die Biographie mit anthropologischen Klischees wie ,Schicksal‘ oder ,Natur‘ des Menschen, als ob diese unveränderliche Tatsachen wären. Doch arbeitet die Biographie – in einem übergreifenden Sinne als Erkenntnismodell und als Schreibpraxis verstanden – den Determinismen verschiedenster Art auch entgegen. Sie befindet sich, oft unbewusst, in einem Streitgespräch mit allen Feinden dessen, was als Autonomie des Subjekts, als freier Wille oder individuelle Gestaltungsfreiheit die westliche Kultur nachhaltig prägte; wobei die Gegenargumente gegen biographische Spielräume auf gehirnphysiologischen Forschungen, auf Modellen sozialer Determination oder auf der Unausweichlichkeit historischer Prozesse aufbauen können. Dabei ist der Gegensatz heute weit weniger prägend als noch in den letzten Jahrzehnten. Die Lernfähigkeit von Systemen, die Rolle des Zufalls für historische Entwicklungen, die Durchlässigkeit sozialer und kultureller Räume und die biologische Disponibilität des Menschen verkleinern den Gegensatz. Keineswegs dürfen die Ergebnisse der jüngeren Hirnforschung, um eine aktuelle Diskussion anzusprechen, als mechanistische Kausalitätsmodelle missverstanden werden, analog zur Mechanik maschineller Produktion, wie sie im 19. Jahrhundert auch auf gesellschaftliche Prozesse übertragen wurde. Das menschliche Gehirn arbeitet nichtlinear und im beständigen Austausch neuronaler Netzwerke; es ist lernfähig und verändert sich stetig. Die Lernfähigkeit von sozialen und biologischen Systemen konturiert auch den Individualitätsbegriff. Trotzdem halten sich hartnäckig Vorstellungen vom invariablen ,Kern‘ oder einer gegebenen ,Substanz‘ personaler Identität. In der Figur des Le Goff’schen Ludwig, König von Frankreich von 1226 bis 1270 und nach seiner Kanonisierung im Jahr 1297 als ,Ludwig der Heilige‘ in die Geschichte eingegangen, sind königliche Rolle und die Individualität des Königs noch nicht getrennt: „Die Individualität des Königs und das königliche Modell, so wie es in den Dokumenten beschrieben ist, sind ein und dasselbe.“91 Allerdings kommt die Biographie nie ohne einen Riss im Gefüge aus, ohne eine Differenz: Präsentation und Deutung eines Individuums in geschichtlichen Zusammenhängen bedeuten auch im Fall des mittelalterlichen Königs und 91 Le Goff: „Wie schreibt man eine Biographie?“, S. 109.
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Heiligen, diesem ein individuelles Profil zu geben. Auch wenn Rolle und Selbst zusammenfallen, es also keine Beschreibung von Identitätskrisen im modernen Sinne geben kann, ist es doch ein „Individuum, das inmitten einer gemeinsamen Partitur seine ganz eigene Note, seinen Stil zur Geltung bringt“.92 Le Goffs Frage nach dem ,eigenen‘ Stil Ludwigs und wie dieser dargestellt werden könnte, verbindet sich mit einer weiterreichenden Frage: Wie lässt sich in Auseinandersetzung mit konstruktivistischen, neurobiologischen und anderen Modellen oder mit bestimmten vorherrschenden Rollenformaten wie jenem, in dem der mittelalterliche König gefangen ist, ein individueller Gestaltungsspielraum begründen? Die Definition dieses möglichen Spielraums kann nicht losgelöst von den jeweils existierenden Konzepten von Individualität erfolgen. Schlussendlich geht es darum, eine Vergleichsebene zu finden, anhand derer sich der Grad an individueller Freiheit bestimmen lässt. Für Le Goff ist dieser Gradmesser ein einzigartiges Dokument, nämlich die Aufzeichnungen des Beraters und engen Vertrauten Ludwigs, Joinville, mit dem Titel La Vie de Saint Louis. Diese würden dem Historiker „eine Fülle an ,wahren‘ Details“ liefern, die ebenso wie die Auswertung aller anderen verfügbaren Quellen „Abweichungen des heiligen Königs vom abstrakten, unpersönlichen Modell“ ergeben können.93 Auf der einen Skala verzeichnet der Historiker als Biograph ein rekonstruiertes normatives Modell, auf der anderen die Abweichungen von diesem. Die Differenz wäre dann ein Gradmesser für Individualität, ein Indiz überhaupt für das Vorhandensein des Biographischen. Die Biographie, so könnte eine weitere, von Le Goffs oben zitierter Bestimmung abgeleitete Formel lauten, beschreibt die Abweichungen eines Individuums von einem Modell oder einem Typus. Die Reden vom Verschwinden des Subjekts, vom Tod des Autors, vom Ende der (großen) Erzählungen, vom Ende des Generationenkonzepts, von der Fragwürdigkeit von Identitätskonzepten wie Nation, Geschlecht oder Ethnie begleitete stets ihr Schatten: das Andere biographischer Evidenz. Der Einwand des Soziologen Alois Hahn gegen rein funktionale oder systemtheoretische Beschreibungen von Gesellschaft ist ernst zu nehmen. Selbstthematisierung geschieht nach wie vor, und wer wollte dies bestreiten, gerade etwa auch in Form nationaler Zu92 Ebd., S. 110. 93 Ebd., S. 109 f.
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schreibungen. Diese Form „dramatisiert gerade nicht eine neue Form funktionaler, sondern segmentärer Differenzierung, nämlich die Nation“. Territorium und Nation sind nach wie vor die erfolgreichsten Formeln der Identitätsbildung in Europa.94 Nation kann als notwendige Fiktion in ausdifferenzierten Gesellschaften begriffen werden. Allerdings ist der Preis hoch, er bestimmt sich unter anderem durch den Ausschluss von Fremden.95 Ähnlich verhält es sich mit der Biographie: Sie lediglich als Funktion gesellschaftlicher, systemischer oder diskursiver Prozesse zu sehen, verkennt die Kraft biographischer Fiktionen. Wir könnten auch sagen: Biographie kann als notwendige Fiktion in einerseits ausdifferenzierten und andererseits von der Globalisierung bestimmten Gesellschaften begriffen werden. Man kann die „Unhintergehbarkeit von Individualität“ erkenntnistheoretisch und moralisch begründen, wie dies der Philosoph Manfred Frank Mitte der 1980er Jahre in Reaktion auf den französischen Poststrukturalismus eindrucksvoll vorgeführt hat. Sein Vorwurf an die Adresse der Postmoderne-Apologeten lautete: „Statt unter dem Korsett einer totalitär gewordenen ,Rationalität‘ ein gequältes und verstummtes Subjekt zu gewahren, gibt sie [die Postmoderne] es endgültig auf.“96 Anstatt auf die berechtigte Modernismuskritik einer verwalteten Welt mit einer philosophischen (Re-)Formulierung von Individualität zu reagieren, treibe das poststrukturalistische Denken den Teufel mit dem Beelzebub aus; mit dem Effekt, dass Stereotypen, Klischees und Trivialmythen in Bezug auf das Individuum sich umso wirkungsvoller massenmedial verbreiteten. Weder Hegel noch seine Nachfolger, so Frank, „haben einleuchtend machen können, durch welchen Mechanismus die allgemeine Struktur von Vertrautheit-mit-sich in die Selbsterkenntnis von Individualität sich vermittelt, ohne daß Individualit t als einfaches Dedukt eines Allgemeinen – also als Besonderes – aufgefaßt wird“ 97 –, sondern als Nicht-Abgeleitetes, als Unhintergehbares. Individualität in dieser reflektierten aufklärerischen Perspektive ist eben nicht das klassifizierbar ,Besondere‘ als Sonderfall eines Allgemeinen, sondern etwas, das präsentische Qualitäten besitzt. Der Begriff der ,Präsenz‘ gehört zum allgemeinen Begriff eines Biographischen wie der Begriff des 94 Alois Hahn: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Frankfurt/M. 2000, S. 17. 95 Ebd., S 31. 96 Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualit t, S. 19. 97 Ebd., S. 116.
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,individuellen Lebens‘. Derridas „Angriff auf den Gedanken des präsenten Selbstbezugs [ist] so radikal, daß minimale Bedingungen des Phänomens unserer Selbstvertrautheit durch ihn nicht mehr erklärt werden. – Diese Attacke auf die Idee der Präsenz ist aber nicht nur radikal, sie ist absurd.“98 Dass in der Absurdität eine Qualität der NichtVerfügbarkeit steckt, nämlich der Gewinn an (individueller) Spielmöglichkeit, indem Identität sich den modernen Zurichtungen und Zuschreibungen entzieht, indem sie sich nicht für tot erklärt, aber für disponibel, diese Rache gegenüber dem Systemdenken, beziehungsweise diese Pointe der postrukturalistischen Subjektkritik liegt außerhalb des Horizonts von Manfred Franks brillanter erkenntnistheoretischer und philosophiegeschichtlicher Analyse, was ihre Folgerungen deswegen jedoch nicht weniger bedenkenswert macht. Einem ist jedenfalls zuzustimmen, sowohl erkenntnistheoretisch, als auch mit Blick auf die trivialbiographischen Klischees jeglicher (medialer) Provenienz: „[W]as immer ,Individualität‘ sonst noch meinen mag, sie ist jedenfalls als der direkte Widersacher des Gedankens der Einheit und Abgeschlossenheit der Struktur […] zu denken.“99 Mithilfe der Hermeneutik Friedrich Schleiermachers formuliert Frank eine Antwort auf die Frage, wie Individualität denn zu begründen und gegen Angriffe zu verteidigen sei100 : Das prinzipielle „Gebrechen“ des Selbst, sein „Mangel“, wie dies Schleiermacher ausdrückte, über keine monadische „Selbstgegenwärtigkeit“ zu verfügen, sondern nur in Bezug auf andere zu einer „Evidenz seines Wissens“ – von sich selbst und von den Sachverhalten – zu gelangen, führt zu einem notwendigen Begriff intersubjektiver Verständigung.101 Individuen gleichen im Austausch ihre Interpretationen von Welt ab, dabei kommt es zu einem Wechselspiel von Weltund Selbstwahrnehmung; sie tun etwas, was man als ,doing biography‘ bezeichnen könnte, wobei der emphatische Begriff intersubjektiver Selbstvergewisserung aus soziologischer Perspektive seine Relativierung erfährt: „Man könnte sagen, Biographie ist eine sozial hoch voraussetzungsvolle Form der wechselseitigen Typisierung und Identifikation von Individuen, die zwischen kategorialer Typisierung und ,individu98 Ebd., S. 126 f. 99 Ebd., S. 123. 100 Vgl. dazu auch Peter Alheit: „Biographizität und Struktur“. In: Biographische Konstruktionen. Beitr ge zur Biographieforschung. Hg. v. Peter Alheit, Bettina Dausien u. a. Bremen 1992, S. 10 – 36, hier S. 16. 101 Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualit t, S. 118 f.
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ellem Format‘ changiert.“102 Das Konzept des ,doing biography‘ kann als „Kritik an Modellen gelesen werden, die Biographie in erster Linie als Repräsentation einer individuellen Erfahrungsgeschichte oder gar einer ,inneren‘ Wahrheit begreifen“.103 Sozialwissenschaftlich formuliert lautet die Frage, inwieweit die individuellen Interpretationsleistungen der Alltagsakteure in überindividuellen biographischen Konstruktionen – Lebensverläufe und Handlungsmuster in biographiesoziologischer Terminologie, Erzählmuster, kulturelle Kontexte, Diskurssysteme in kulturwissenschaftlicher Begrifflichkeit – wirksam werden können. Damit ist ein weiterer Punkt berührt, der jede avancierte Theorie der Biographie begleitet: die Notwendigkeit, den Standort des Individuums in einem übergreifenderen System kultureller und historischer Formationen immer wieder neu zu bestimmen. Karl Mannheim kritisierte die „Einseitigkeit“ der „Geschichtstheorien, die in der letzten Epoche in solch üppiger Fülle entstanden sind“. In ihnen werde jeweils „ein Moment im historischen Geschehen zum tragenden Faktor“ hypostasiert: beispielsweise die „Rassentheorien, die Generationslehre, der Ökonomismus“, oder „die Volksgeistlehre“. Diese Geschichtstheorien besitzen allerdings das Verdienst, „das Interesse für die strukturell wirkenden Momente“ geweckt zu haben und korrigieren den Mythos der „Einmaligkeit“ im geschichtlichen Prozess. Jeder, der mit offenen Augen durchs Leben geht und das „lebendige[] Leben des Alltags von der Nähe sieht“, muss erkennen, dass „hier jeder Neuanfang und jede überdurchschnittliche Persönlichkeit im Elemente eines gegebenen – wenn auch stets in Umwandlung begriffenen – strukturell beschreibbaren Spielraumes sich auszuwirken hat“.104 102 Bettina Dausien u. Helga Kelle: „Biographie und kulturelle Praxis. Methodologische Überlegungen zur Verknüpfung von Ethnographie und Biographieforschung“. In: Biographieforschung im Diskurs. Hg. v. Bettina Völter, Bettina Dausien u. a. Wiesbaden 2005, S. 189 – 212, hier S. 202. 103 Ebd., S. 200. Eine Überzeugung, die auch die Philosophin Hannah Arendt teilte: „Die Person ist kein Autor, der seine eigene Lebensgeschichte lediglich auszuformulieren hätte, sondern das Gesicht, das aus den Zufällen der Biographie geprägt wird.“ Sie „emergiert erst in sozialen Geweben im Laufe von Handlungsfolgen.“ Vgl. Ludger Schwarte: „Hannah Arendt. Totale Herrschaft, biographisches Experiment und die Zukunft politischen Denkens“. In: Weltoffener Humanismus. Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutsch-j dischen Emigration. Hg. v. Gerald Hartung u. Kay Schiller. Bielefeld 2006, S. 185 – 208, hier S. 187. 104 Mannheim: „Das Problem der Generationen“, S. 555 f.
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Hundert Jahre nach Diltheys Satz vom ,Individuum als Kreuzungspunkt‘ und fünfzig Jahre nach Karl Mannheims Diktum vom ,strukturell beschreibbaren Spielraum‘ verwahrte sich Pierre Bourdieu in seinem in Biographieforschungskreisen berühmt gewordenen Aufsatz gegen die Konstruktion von Lebensläufen durch Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, was zum unreflektierten Begriff der ,Lebensgeschichte‘ geführt hätte. Die Abfolge einzelner (Lebens-)Stationen nur durch die Bindung an ein Subjekt herstellen zu wollen, ohne die Matrix objektiver Beziehungen in Rechnung zu stellen, sei unhaltbar. Dass dem Individuum trotzdem eine solche Macht zugesprochen wird, liege an dessen Faszinationskraft, d. h. an der Suggestion von Einzigartigkeit und Realität, die von ihm ausgeht. Dieser ideologische und psychologische Effekt, der das Ich zum „Realste[n] der Realitäten“ macht, sodass wir ihm mit einer „narzistischen Bewegung“ immer wieder und scheinbar unabhängig von Zeiten und Räumen entgegenstürzen105, bleibt eine Realität, unabhängig von ihrem Konstruktionscharakter. Es verhält sich ähnlich wie bei der psychoanalytischen Anamnese. Was durch sie zu erreichen ist, heißt es in Freuds spätem Text „Konstruktionen in der Analyse“ (1937), ist die „Überzeugung von der Wahrheit der Konstruktion“. Diese, so Freuds späte Einsicht, könne therapeutisch dasselbe leisten wie die wieder gewonnene ,authentische‘ Erinnerung. Karl Wagner hat den Vorschlag gemacht, das Wort ,therapeutisch‘ an dieser Stelle durch ,biographisch‘ zu ersetzen. Im Verhältnis zur eigenen Biographie tut auch das Surrogat seine Wirkung, ob das Biographische eine Illusion ist oder auf ,echten‘ Erfahrungen aufbaut, ist letztlich irrelevant.106 In Rechnung zu stellen ist die Langlebigkeit des Individuellen in jedem Fall; das konzediert auch Bourdieus Schlusssatz. Als Zwischensumme der verschiedenen zitierten Positionen können wir festhalten, dass die Biographie über das Potenzial verfügt, des Individuums innerhalb struktureller Zusammenhänge habhaft zu werden und die Spielräume zu beschreiben, die es innerhalb dieser Zusammenhänge gewinnt. Wie es diese gewinnt, als therapeutisch wirksame Illusion authentischer Erinnerung im psychoanalytischen Diskurs, als narrative Konstruktion in der (auto-)biographischen Erzählung von Lebensgeschichten, oder als nachträgliche Beschreibung von ,Korrespondenzen‘ auf der Basis von Hinterlassenschaften, gehört zu den 105 Bourdieu: „Die biographische Illusion“, S. 81. 106 Vgl. Karl Wagner: „Glanz und Elend der Biographik“. In: Spiegel und Maske. Hg. v. Fetz u. Schweiger, S. 58 f.
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Bedingungen, unter denen individuelle Freiräume überhaupt entstehen und beschreibbar werden. Die nachgelassenen Schriften zum Beispiel bilden nicht nur ein Archiv mächtiger formierender Diskurse, sie sind auch der Schauplatz, auf dem das Individuelle Stimme und Gesicht erhält. Individuelle Spielräume lassen sich mit einer alltagspraktischen Erfahrung begründen, die von fast allen Individuen, unabhängig von ihrem sozialen Status, ihrer Gruppenzugehörigkeit, ihrer Geschlechtsidentität und auch unabhängig von kulturellen Kontexten geteilt zu werden scheint: „[N]ämlich das erstaunliche und in aller Regel kontrafaktische Grundgefühl, dass wir Akteure und Planer unserer Biographie sind und eine gewisse Kontinuität unseres ,Selbst-Seins‘ immer wieder herstellen können.“107 Hinter dieser Erfahrung steckt ein „biographisches a tergo Wissen, das uns prinzipiell in die Lage versetzt, den sozialen Raum, in dem wir uns bewegen, auszufüllen und auszuschöpfen“. Wir produzieren mehr Sinn, als wir übersehen und in psychische Prozesse oder in Lebenspraxis umsetzen können, und wir verfügen über die prinzipielle Möglichkeit, immer wieder von vorn anzufangen. Dieses Potenzial von Lebensgeschichten erlaubt es, „Anstöße von außen auf eigensinnige Weise zur Selbstentfaltung zu nutzen“.108 Die Verarbeitung von Außenreizen durch autopoietische Systeme wie sie in der konstruktivistischen und systemtheoretischen Theoriebildung zum Tragen kommen, wird zu einer Begründungsinstanz für individuelle biographische Gestaltungsräume. Damit erhält auch der Begriff des ,Lebenskünstlers‘ noch eine andere Nuance, als es das Bild vom sympathischen Bohemien vermittelt, der sein Leben mehr oder weniger frei von äußeren Zwängen gestaltet. Funktion von Kunst in der Luhmann’schen Konzeption ist es, etwas Inkommunikables, etwas über Sprache als Kommunikationssystem Hinausgehendes in den Kommunikationszusammenhang einzuführen: Wahrnehmung. Das Kunstwerk schafft eine zweite imaginäre Realität, die sich von der ,realen‘ Realität abhebt. Diese zweite Realität führt eine Differenz ein, die Irritation erzeugt und Wahrnehmungsmodali-
107 Peter Alheit u. Bettina Dausien: „Die biographische Konstruktion der Wirklichkeit. Überlegungen zur Biographizität des Sozialen“. In: Biographische Sozialisation. Hg. v. Erika M. Hoerning. Stuttgart 2000, S. 257 – 283, hier S. 274. 108 Ebd., S. 277.
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täten erlaubt.109 Dem Rezipienten von Kunst ist es freigestellt, wie er die Brücke zwischen den Realitäten schlägt, ob affirmativ, ironisch oder auf andere Weise.110 Luhmann formuliert hier eine Wahrnehmungsästhetik, deren wichtigstes Charakteristikum es ist, dass trotz der Schließung der einzelnen Funktionssysteme diese sich in Bezug auf eine sich ebenfalls ständig ändernde Umwelt permanent selbst überprüfen müssen, gerade indem sie sich von dieser Umwelt abgrenzen. ,Irritation‘ und ,Modalität‘ sind die Voraussetzung für die Überlebensfähigkeit der Systeme. Und hier kommt die Kunst ins Spiel, die die Wahrnehmung der ,ersten‘ Realität modalisiert. Die Kunst der Biographie, so könnte man folgern, besteht darin, zwischen Lebenslauf und Lebenserzählung und zwischen Struktur und Individuum so zu vermitteln, dass es zu einer beständigen wechselseitigen Korrektur kommt. Es gehört zu den Grundüberzeugungen jeder avancierten Kunsttheorie, dass die Kunst mehr Sinn produziert, als von den Betrachtern, Lesern, geschweige den Hörern von Musik verarbeitet werden kann. Dieser Sinnüberschuss garantiert die Unabschließbarkeit des hermeneutischen Prozesses, garantiert das Überleben von Kunst. Ist ihr Sinnpotenzial aufgebraucht, wird sie zu Kitsch, dann versinken die Artefakte in den Rumpelkammern der Kunst- und Literaturgeschichte. Die Modalisierungsleistungen der Kunst sind also in ähnlicher Weise wie die „Biographizität des Sozialen“111 die Bedingung für Eigensinn und Selbstentfaltung. Im Begriff des Biographischen kreuzen sich Kunsttheorie und Gesellschaftstheorie; es kreuzen sich die Linien der Lebenserzählungen und die Linien der biographischen Entscheidungen in einem Raum von – begrenzten – Möglichkeiten. Ethnographie und Biographie Es ist von einem Mindestmaß an lebensgeschichtlichem Kohärenzbewusstsein als Bedingung von Identität auszugehen, ohne die wir ein Leben nicht führen könnten, egal wo und egal unter welchen Um109 Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4. Frankfurt/M. 1995, S. 98. 110 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1995, S. 231. 111 Vgl. Alheit u. Dausien: „Die biographische Konstruktion der Wirklichkeit“, S. 277.
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ständen.112 Das ist die kulturanthropologische Antwort auf die Herausforderung durch die Postmoderne. Der Anthropologe James Clifford plädiert für einen Kompromiss zwischen der – unvermeidbaren – Erzählung von Identität und der Perspektive der ,Ethnobiography‘. Diese will eine Art metabiographischen Ausgleich zwischen gegensätzlichen kulturellen Konzepten von Identität herstellen: „Nevertheless, biography must attempt to transcend in practice any absolute choice between identity and dissolution of the self.“ Das Modell trägt multiplen Identitätskonzepten in archaischen Gesellschaften Rechnung, in Cliffords melanesischem Beispiel einer Identitätskonzeption, die auf Zweiheit aufbaut. „A Melanesian, in the good old days at least, would not have been likely to suffer from Camus’ nostalgia for personal unity.“ Ein Individuum, das nicht in Bezug zu einem anderen beschrieben werden konnte, galt „in archaic New Caledonia“ als „not a ,person‘“, als verrückt.113 Andererseits will die ,Ethnobiography‘ der abendländischen Subjekttradition gerecht werden, der Sehnsucht nach der Einheit des Selbst.114 „The point, rather, is to show that the life of a person without a ,center‘ is conceivable, if not actually liveable today. If, however, its opposite – the life of a singular identity – is equally impossible, then we must search out a compromise.“115 Das Verhältnis zwischen den Forschungsobjekten und den sie kommentierenden Forscherinnen und Forschern wurde seit den 1970er Jahren zum zentralen Diskussionspunkt ethnographischen Schreibens. Oft wird der ,eigentliche‘ ethnographische Diskurs von (auto-)biographischen Formen wie Tagebüchern, Autobiographien oder Reflexionen über die Beziehungen zu den Informantinnen und Informanten begleitet. Biographische Darstellungsformen drangen bereits in den 1920er und 1930er Jahren in den streng wissenschaftlichen Diskurs der 112 Einen guten historischen Überblick über das Verhältnis zwischen „Anthropology and Life Writing“ gibt der gleichnamige Artikel von Alfred Hornung in: Encyclopedia of Life Writing. Autobiographical and Biographical Forms. Hg. v. Margaretta Jolly. Bd. 1. London, Chicago 2001, S. 38 – 41. Der Artikel schließt mit einem Plädoyer für die Erzählung: „Telling lives remains the supreme art of anthropological endeavour.“ 113 Clifford: „Hanging Up Looking Glasses“, S. 47. 114 Clifford bezieht sich hier auf Alfred North Whiteheads im Anschluss an Plato entwickelte These von personaler Identität als „a natural matrix for all transitions of life“ und als „invisible, formless, and all-receptive“ Hohlform: „a locus which persists“ und, wie Clifford hinzufügt, „a locus which insists“. Ebd., S. 50 f. 115 Ebd., S. 49 f.
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Ethnologie ein. Die Frau des aus Österreich stammenden Ethnologen Richard Thurnwald, Hilde Thurnwald, ergänzte die Studien ihres Mannes auf dem Salomo-Archipel (Neuguinea) durch „Charaktere und Schicksale“ von Individuen, deren Lebensumstände sie beschrieb und zusammen mit den aufgezeichneten Erzählungen zu biographischen Porträts verarbeitete. Richard Thurnwald betont gleich im ersten Satz des Vorworts das Neue am Buch seiner Frau: Dieses Buch setzt die Menschen in den Mittelpunkt der Darstellung, ihre Leidenschaften, ihr Denken, Tasten und Handeln und ihr Ineinanderwirken. […] Diese neue Methode der Darstellung in der Völkerkunde verleiht die Sicherheit, echte Bilder zu vermitteln. Eine bunte Reihe von Persönlichkeiten zieht vor unseren Augen auf.116
Entgegen der Annahme vom Kollektivcharakter archaischer Gesellschaften zeige sich, „wie wenig gleichartig die Menschen sind, die sich in Gemeinwesen von Naturvölkern finden“.117 Obwohl sie denselben Situationen ausgesetzt waren, würden die Individuen ganz verschiedenes Verhalten zeigen. Das Neue der biographischen Ethnographie bestehe darin, so Richard Thurnwald weiter, dass die Informanten selbst zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden. Dies sei statthaft, solange die Forscherinnen und Forscher nicht die Fähigkeit zur „Selbstkritik“ verlieren.118 Hilde Thurnwald betont in ihrer umfassenden Einleitung die Bedeutung des durch die Einflüsse von außen ausgelösten gesellschaftlichen Wandels, dem die ,Eingeborenen‘ ausgesetzt sind. Abhängig von Charakter, Temperament und Schicksal reagierten einzelne Personen verschieden auf diese Einflüsse. Deshalb würden sich die folgenden „Geschichten“ mit „dem Schicksal und der Eigenart einzelner Menschen“ beschäftigen.119 Hilde Thurnwald ist sich der methodischen Konsequenzen und der Grenzen ihrer Herangehensweise bewusst. Ihre Geschichten seien keine „Autobiographien und auch nicht lückenlose Lebensbeschreibungen“, sondern abhängig „von dem zu Gebote stehenden Stoff“: Dieser kommt zustande durch „vielfältig gehemmtes Beobachten und Befragen der einzelnen Personen“, ergänzt durch Fragen an Missions- und Regierungsvertreter; er ist abhängig von 116 Richard Thurnwald: „Vorwort“. In: Hilde Thurnwald: Menschen der S dsee. Charaktere und Schicksale. Ermittelt bei einer Forschungsreise in Buin auf Bougainville, Salomo-Archipel. Stuttgart 1937, S. V. 117 Ebd. 118 Ebd., S. VI. 119 Ebd., S. 16.
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der „Intelligenz und Beweglichkeit, dem Misstrauen, der wechselnden Stimmung der einzelnen Leute“.120 Das Buch erhebt keinen Anspruch auf Objektivität. Die biographisch arbeitende Feldforscherin ist sich des zweifachen subjektiven Faktors bewusst, der ihre biographischen Porträts prägt: Die „individuelle Psyche des Feldforschers“ drückt den durcheinander gewürfelten und lückenhaften Darstellungen der „eingeborene[n] Erzähler“, die einem „sprunghaften und unscharfen Denken[]“ geschuldet seien, ihren Stempel auf. Um die Erzählungen für europäische Leserinnen und Leser überhaupt erst verständlich zu machen, müssen diese in einen „Zusammenhang“ gebracht werden. Die Ethnologin weist ihr Publikum ausdrücklich darauf hin, dass die Rationalisierungsleistungen schon vor der Bearbeitung durch die Ethnologinnen und Ethnologen einsetzen, dass „der eingeborene Erzähler meistens ein besonders intelligenter und europäisch mehr oder weniger beeinflußter Mensch ist, der mitunter den Stoff, indem er ihn dem Europäer darbietet, auch schon rationalisiert oder durch seine persönliche Eitelkeit und andere subjektive Bestrebungen färbt“.121 Hilde Thurnwald möchte dazu anregen, „das weite Feld der Lebensbeschreibung, sei es der autobiographischen, sei es der nacherzählenden, in Angriff zu nehmen und durch exakte Studien der Charaktere und Typen, der Begabungs- und Leistungsunterschiede zu ergänzen“. Ihre kritischen Revisionen der eigenen Voraussetzungen werden allerdings durch den Schlusssatz der Einleitung wieder relativiert, indem das 1937 erschienene Buch der europäischen (deutschen) Kolonialpolitik seinen Tribut zollt: Durch die neue Methode der erweiterten Lebensbeschreibung „könnte auch den modernen Anpassungsproblemen der Naturvölker im kolonialpolitischen Interesse Rechnung getragen werden“.122 Ein ganz anders gelagertes Beispiel für das intrikate Verhältnis zwischen (Forscherinnen und Forscher-) Biographie und Ethnographie ist Bronislaw Malinowskis berühmt-berüchtigtes Tagebuch, das er während seiner Feldforschungen in den Jahren 1914 – 15 und 1917 – 18 führte und das 1966 erstmals veröffentlicht wurde, Jahrzehnte nach Malinowskis klassischen ethnographischen Schriften und knapp fünf-
120 Ebd., S. 17. 121 Ebd. 122 Ebd., S. 18.
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undzwanzig Jahre nach seinem Tod.123 Es zeigt den berühmten Wissenschaftler im Kampf mit erotischen Anfechtungen und beim Ausagieren kulturspezifischer Ressentiments in der Begegnung mit den ,Eingeborenen‘. Entscheidender als die moralische Entrüstung über den ,Menschen‘ Malinowski ist jedoch ein erkenntnistheoretisches Problem, das Clifford Geertz folgendermaßen fasste: „Was wird aus dem Verstehen, wenn das Einf hlen entfällt?“124 Was wird aus dem biographischen Verstehen, wenn es sich mit Dokumenten und Zeugnissen widersprüchlichen Charakters konfrontiert sieht, sodass die Zeichnung eines konsistenten Charakter-Bildes unmöglich erscheint? Die klassische Antwort lautete, die Widersprüche auszublenden beziehungsweise so zu bearbeiten, dass es zu keiner Störung des Verstehens kommen konnte. Genau aus diesem Grund wurde Clifford Geertz’ ethnographisches Schreiben in seinem bekanntesten Essay – „,Deep Play‘: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf“ – selbst zum Gegenstand von Kritik. Die Argumente lassen sich auf eine biographietheoretische Diskussion übertragen: Geertz’ stilistische Gewandtheit stelle eine „konspirative Beziehung“ zwischen dem Ethnographen und seinen Leserinnen und Lesern her.125 Er vermische die eigene Subjektivität mit der „Subjektivität und Intentionalität der Dorfbewohner“.126 Während der Ethnograph mit seinen Leserinnen und Lesern in einen Dialog trete, blieben die Balinesen „Figuren aus Pappe“. Die ,Balinesen‘, unter Anführungszeichen, würden „zu einer Folie für Geertz’ Beschreibungen, Interpretationen und Theorien – letztlich für seine Selbstdarstellung“.127 Und dann der entscheidende Einwand: „Ohne die Spur eines Belegs 123 Bronislaw Malinowski: Ein Tagebuch im strikten Sinne des Wortes. Neuguinea 1914 – 1918. Mit einem Vorwort v. Valetta Malinowska und einer Einleitung v. Raymond Firth. Frankfurt/M. 1985. Zur Neubewertung von Werk und Person im Lichte (auto-)biographischer Dokumente und Stilisierungen vgl. auch die Beiträge zu Mircea Eliade, Ernst Jünger, Wolfgang Koeppen, Ignazio Silone und anderen in: Spiegel und Maske. Hg. v. Fetz u. Schweiger, S. 191 – 265. 124 Clifford Geertz: „,Aus der Perspektive des Eingeborenen‘. Zum Problem des ethnologischen Verstehens“. In: ders.: Dichte Beschreibung. Beitr ge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M. 1987, S. 289 – 309, hier S. 290. 125 Vincent Crapazano: „Das Dilemma des Hermes: Die verschleierte Unterwanderung der ethnographischen Beschreibung“. In: Kultur als Text. Hg. v. Doris Bachmann-Medick. 2. aktualisierte Aufl. Frankfurt/M. 2004, S. 161 – 193, hier S. 179. 126 Ebd., S. 180. 127 Ebd., S. 181.
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schreibt er [Geertz] den Balinesen alle möglichen Erfahrungen, Bedeutungen, Intentionen, Motivationen, Dispositionen und Deutungen zu.“128 Das Verstehen aus der Perspektive der ,Eingeborenen‘ gebe es in Wirklichkeit nicht, trotz der „hermeneutischen Prätentionen“.129 „Eine Menge ziemlich verschiedener, aus jeweils unterschiedlichen Blickwinkeln gemachter Beobachtungen wird zu einer einzigen, konstruierten Handlungssequenz verschmolzen, die zu einer Art Ideal, einer platonischen Inszenierung wird.“130 Anstatt eines Dialogs oder Plurilogs der Quellen der Monolog ohne eindeutig zu identifizierenden Sprecher. Dass „Deep Play“ ein Meistertext „ethnographischer Kunstprosa“ ist131, bestreiten auch die Kritiker nicht. Allerdings gehen die Meinungen darüber, ob Geertz sich metaphorischer und narrativer Klitterungen bedient, oder ob er Modelle ethnographischen Schreibens zitiert, um diese in theoretisch-selbstreflexiver Absicht ironisch zu unterlaufen, weit auseinander.132 In jüngeren ethnographischen Arbeiten wird das Quellenmaterial immer häufiger als autobiographische IchErzählung präsentiert, wobei den Erzählern selbst ethnologische Kompetenz zugestanden wird, die Präsentation sich also zugunsten der Selbstpräsentation verschiebt.133 Biographie und Ethnographie geht es um die Darstellung von Fremdheit und um die (Re-)Definition von Subjektivität in bestimmten sozialen, historischen und kulturellen Kontexten. Während die klassische Biographie Gefahr läuft, die individuelle Person zu sehr in den Mittelpunkt zu rücken, verliert sich das Subjekt im ethnographischen Schreiben oft in generalisierenden Darstellungen einer übergreifenden Kultur. Dem „Mythos persönlicher Kohärenz“ sollte nach James Clifford ein „Mythos der Teilhabe an der Außenwelt“ korrespondieren: „[T]he myth of personal coherence which biography expresses – or better embodies – will be able to make room for a concomitant myth of 128 129 130 131
Ebd., S. 182. Ebd., S. 185. Ebd., S. 186. Lutz Ellrich: Verschriebene Fremdheit. Die Ethnographie kultureller Br che bei Clifford Geertz und Stephen Greenblatt. Frankfurt/M., New York 1999 (= Campus Forschung, Bd. 784), S. 77. 132 Vgl. dazu die sehr instruktive Darstellung von Lutz Ellrich, ebd., S. 77 – 146. 133 Vgl. dazu den Artikel „Ethnography“ von Deborah E. Reed-Danahay in: Encyclopedia. Hg. v. Jolly. Bd. 1, S. 311f. Clifford Geertz reflektiert diesen Prozess in seinem Buch Spurenlesen. Der Ethnologe und das Entgleiten der Fakten. München 1997.
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personal participation.“134 Bewusst spricht Clifford von zwei ,Mythen‘, um deren Balance es geht, nicht von zwei ,Wahrheiten‘ oder ,Wirklichkeiten‘ oder ,Evidenzen‘. Die ,Ethnobiography‘ beschreibt Sequenzen kulturell bestimmter Beziehungen, ein immer unvollständiges Set an Situationen, in die sich das individuelle Leben gestellt sieht. „A person, seen from the perspective of ethnobiography, is a sequence of culturally patterned relationships, a forever incomplete complex of occasions to which a name has been affixed, a permeable body composed and decomposed through continual relations of participation and opposition.“135 Empathie Gehen wir nochmals zu Clifford Geertz’ Frage zurück, was aus dem Verstehen wird, wenn das Einfühlen entfällt. Das Verstehen vergangenen fremden Lebens und seine Wiederauferstehung in den Akten des Lesens und Schreibens setzen – so die auf den ersten Blick kaum zu widerlegende Annahme – Empathie voraus, die Fähigkeit, „to recognize, perceive, or experience the emotions of another“. Die fiktionale Erzählung wie die biographische Erzählung können im Anschluss an die Kognitionswissenschaften als Verarbeitungen empathischer Prozesse aufgefasst werden: „Fiction exists by inviting, channeling, controlling, and managing empathy.“136 Unabhängig davon, ob man erzählerische Fiktionen ohne Empathie für unmöglich hält, unabhängig auch davon, ob man umgekehrt Empathie nur in Verbindung mit narrativen Verarbeitungen für erklärbar hält, die enge Beziehung von Fiktion (Erzählung, Projektion, Illusion oder Identifikation) und Empathie scheint unbestreitbar.137 Medium des empathischen Prozesses, so Fritz Breithaupt, ist ein Leser, der nicht identisch ist mit jeweils ,realen‘ Leserinnen und Lesern, er besitzt Verwandtschaft mit dem ,impliziten‘ oder ima134 Clifford: „Hanging Up Looking Glasses“, S. 46. 135 Ebd., S. 53 f. 136 Fritz Breithaupt: „How I Feel your Pain. Lessing’s Mitleid, Goethe’s Anagnorisis, and Fontane’s Quiet Sadism“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift f r Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 82 (2008) H. 3, S. 400 – 423, hier S. 402. 137 Vgl. Claudia Breger u. Fritz Breithaupt: „Einleitung. Empathie und Erzählung“. In: ebd., S. 351 – 354, hier S. 352. In einer Fußnote (vgl. ebd.) verweisen die Autoren auf die wissenschaftsgeschichtlich komplizierte Abgrenzung von Begriffen wie Einfühlung, Empathie, Identifikation etc.
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ginären Leser Wolfgang Isers. In Bezug auf Fontanes Effi Briest und die ihr zugefügte Gewalt bzw. das von ihr erlittene Unrecht entwickelt Breithaupt den ambivalenten Begriff des empathischen Lesers: This evocation of the reader has two simultaneous effects: On the one hand, the reader takes the side of the oppressed, is witness to the suffering of Effi […] In this sense, the reader feels the compassion of a witness. […] On the other hand, the reader can, structurally, only affirm the misrecognition and the violence of oppression because he or she, the reader, only exists because of the scene of misrecognition.“138
Diesen Leser zeichnet außerdem aus, dass er die Geschehnisse distanziert betrachtet und einen bestimmten Blickwinkel einnimmt. Das gilt auch für die biographische Lektüre. Biographische Texte konstruieren meistens eine Zentralperspektive, unter der das biographische Objekt erscheint. Von den moralischen und ideologischen Effekten dieser Perspektive sind auch wissenschaftliche biographische Texte nicht frei. Die Frage ist nun, wie das flüchtige Wesen des imaginären Lesers zu fassen ist. Ein Erklärungsansatz basiert auf dem Prinzip der ,Ähnlichkeit‘. Wenn Empathie lediglich auf Ähnlichkeit aufbaut, kann aber weder das Interesse an den Anderen noch die Abwehr hinreichend erklärt werden; Voraussetzung für empathische Prozesse ist eine Differenz, das heißt, Empathie beruht eher als auf Ähnlichkeit auf Projektionen und Erinnerungen: And this would lead us ultimately to understand that empathy is not truly empathy, meaning a form of human understanding, but a narrative construct that involves factors beyond similarity: We would need to construct a past experience of the other to allow for a similarity of emotional reaction now that allows for our emotional understanding. In short, we would need to narrate the other.139
Trotzdem ist wohl davon auszugehen, dass ähnliche kulturelle Erfahrungen eine Basis für Empathie bilden. Auf biographische Texte übertragen würde das bedeuten, dass der Überschneidungsgrad kultureller Erfahrungen ein Maßstab für Empathie ist. Leid, das Menschen zustößt, die schmerzhafte Erfahrungen symbolisch und in der konkreten Lebenspraxis völlig anders verarbeiten als dies in der Aufnahmekultur der Fall ist, provoziert weniger Mitleiden und trägt weniger zur Reflexion der eigenen Identität bei als Leid, das auch das eigene sein könnte. Nur im biographischen Rückbezug auf uns selbst, als Rück138 Breithaupt: „How I Feel your Pain“, S. 418. 139 Ebd., S. 401.
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koppelungseffekt, ist Empathie angemessen zu erklären. Elias Canetti hat den Gedanken radikalisiert: Anstatt selbstloses Mitleid mit dem Leid (dem Tod) der Anderen zu empfinden, triumphieren die Überlebenden über die Toten: „[E]mpathy is not truly empathy.“ Biographisches Verstehen wäre demnach ein Akt der Selbstvergewisserung und Selbstbehauptung, ein sozialer Prozess, bei dem ,Einfühlungs‘-Anteile in die Absicherung des eigenen Selbst transformiert werden. Der psychohygienische Effekt biographischer Lektüren ist kaum zu übersehen; ist doch die völlige Identifikation mit dem fremden Leben weitaus seltener als dessen mehr oder weniger starke Abwehr. Dabei partizipieren die Strategien der Distanzierung am geläufigsten biographischen Klischee, demjenigen der ,Größe‘. Je ,bedeutender‘, ,tragischer‘, ,fremder‘ das andere Leben erscheint, desto sicherer erscheint die eigene – weniger dramatische – Lebenskonstellation. Dies schließt Akte der Aneignung nicht aus, die notwendig sind, damit die Biographie die bereits angesprochenen Gedächtnisfunktionen übernehmen kann. Im Austausch der eigenen mit der fremden Biographie erfahren wir das Fremde auch als Eigenes, Jan Assmann nennt diesen Prozess ,psychische Resonanz‘: „Die historische Wahrheit liegt in der psychischen Resonanz, nicht in dem äußeren Tatbestand. Sie erweist sich erst in der Wiederkehr, indem etwas Neues als Urvertrautes erfahren wird.“140 Urvertrautheit meint hier etwas völlig anderes als das von Leo Löwenthal kritisierte Wiedererkennen des Immergleichen in der Wiederkehr biographischer Stereotypen; anderes auch als die Selbstaufgabe im identifikatorischen Zirkel. Urvertrautheit meint das in die Tiefe der Zeiten zurückreichende anthropologische Vertrauen in die Verstehbarkeit menschlicher Handlungen und Gefühle. Es bildet die Tiefendimension der notwendigen, jeweils aktuellen Akte der Selbstbehauptung. Empathie, verstanden als unabschließbarer Prozess der Annäherung an andere Menschen mittels konstruktiver und simulatorischer Akte im aufnehmenden Bewusstsein, verlangt nach halbwegs konsistenten Charakteren – in der literarischen Fiktion wie in der biographischen Lebenskonstruktion. Die Vermittlung zwischen Selbst- und Fremdbild, biographisches Verstehen, funktioniert in Form identifikatorischer Angleichung an das Modell einer individuellen Persönlichkeit oder in Form der Distanzierung von diesem. Eine völlige Auflösung der Person in ,Biographeme‘ (Barthes), in Diskurseffekte (Foucault), in die Viel140 Jan Assmann: Religion und kulturelles Ged chtnis. München 2000, S. 66.
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stimmigkeit avantgardistischer Kunstwerke setzt dieser Form empathischen biographischen Verstehens eine Grenze. Doch was dadurch auf der einen Seite verloren geht, kann auf der anderen durch ein höheres Maß an Reflexivität und kreative Eigenleistung gewonnen werden: wenn es nämlich nicht darauf ankommt, in jemand anderes Schuhe zu schlüpfen, ihn oder sie von innen zu verstehen, sondern wenn die Brücke zum Anderen durch spekulative Akte von außen errichtet wird, die weder auf Ähnlichkeit noch auf der Füllung eines bereits bestehenden Modells aufbauen. Avancierte biographische Verfahren in Literatur und Film stellen den identifikatorischen Zirkelschluss ebenso infrage wie sie keine konsistenten biographischen Modelle mehr anbieten; vielmehr konstruieren sie offene biographische Rahmen. In den besten Fällen kann der Gewinn an biographischer Kreativität den Verlust an Empathie aufwiegen. Die Grenzlinien biographisch-emphatischen Verstehens werden vor allem von der Zeitdimension des Biographischen mitgezogen. Die – offenere oder geschlossenere – Form der Biographie hängt eng mit dem dynamischen Verhältnis zwischen (Lebens-)Zeit und Erzählung zusammen. Es ist offensichtlich, dass es Analogien zwischen bestimmten ,Erlebnissen‘ im Verlauf eines Lebens und deren erzählerischer Umsetzung gibt. Die Zeitgerüste passen sich an die Formen der Erlebnisse an. Je abenteuerlicher sich ein Lebenslauf gestaltet, desto diskontinuierlicher die Struktur seiner Darstellung, „während eine kontinuierliche lineare Zeit für den Bildungsroman geeignet ist“. Die literarische Biographie, aber nicht nur sie, besitzt eine Affinität zum Bildungsroman, davon war schon die Rede. Allerdings geht sie nie soweit, das „Spiel selbst zum Spieleinsatz“ werden zu lassen.141 Die Freiheit, Formexperimente um der Form oder der Kunst willen zu machen, ohne Bezug auf den Erlebniskern eines Ereignisses, wie sie die Avantgarden auszeichnet, scheint der Biographie als Form unangemessen. Um sie jedoch lebendig zu halten, darf die literarische Biographie, und mit Einschränkungen auch die wissenschaftliche, den Anschluss an die ästhetische Moderne nicht verlieren. Sie könnte sich an der Innovationsfreudigkeit des biographischen Films orientieren. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist der Bob Dylan-Film I’m Not There von Christian Bale (2007), in dem die historische Figur Bob Dylan von verschiedenen Schauspielern dargestellt wird, unter ihnen die Schauspielerin Cate 141 Paul Ricœur: „Zeit und literarische Erzählung“. In: Zeit und Erz hlung. Bd. II. München 1989, S. 136.
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Blanchett.142 Hier ist der Spieleinsatz nochmals erhöht: Die multiple Identität der Bob Dylan-Figur überschreitet nicht nur die Grenzen linearer biographischer Erzählungen, die diskontinuierliche Erzählweise produziert nicht nur allererst das biographische Objekt, auch die Gender-Grenzen werden durchlässig. Aber auch das ist nichts Neues. Es findet sich vorgebildet in einer der großartigsten biographischen Erzählungen, in Virginia Woolfs Roman Orlando. Eine Biographie aus dem Jahre 1928. Biographie, Lebenslauf und die Zeitdimension des Biographischen „Entscheidend ist, dass durch die Biographie die Kategorie der Zeit wieder als historische Produktivkraft erscheint, in Form von Ereignissen, in Form des Zufalls, in Form einer historischen Zeiterfahrung, die durch die Biographie vermittelt wird.“143 Im bisher Gesagten steckt ein grundsätzliches methodologisches Problem: die Nachträglichkeit der Biographie. Wie ist die zeitliche Dimension biographischer Konstruktionen, das Verhältnis einer inneren, individuellen, ,gefühlten‘ Zeit zu einer äußeren, historischen und gesellschaftlichen Zeit adäquat zu beschreiben? Das Problem wurde schon früh erkannt. Wilhelm Diltheys theoretisches Bemühen, die zwei Zeitrechnungen im Akt hermeneutischen Verstehens fremden Lebens zu synchronisieren, bringt eine Differenz zur Sprache, die mehr als hundert Jahre später zur theoretischen Herausforderung der Biographieforschung werden sollte: jene zwischen Biographie und Lebenslauf. „In dem Leben ist als erste kategoriale Bestimmung desselben, grundlegend für alle anderen, die Zeitlichkeit enthalten. Dies tritt schon in dem Ausdruck ,Lebensverlauf‘ hervor.“144 Weil das Zeiterlebnis „nach allen Richtungen“ so bestimmend ist, mache „die Lehre von der bloßen Idealität der Zeit überhaupt keinen Sinn in den Geisteswissenschaften“, so Diltheys kritischer Kommentar.145 Die Verbindung einzelner „Lebensteile[], die durch eine gemeinsame Bedeutung für den Lebensverlauf verbunden sind“, nennt Dilthey „Erlebnis“. Im präsentischen ,Er142 Vgl. den Beitrag v. Manfred Mittermayer: „Film und Biographie“ in diesem Band, S. 501 – 533. 143 Le Goff: „Wie schreibt man eine Biographie?“, S. 103. 144 Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 237. 145 Ebd., S. 238.
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lebnis‘ schießen vergangene Bedeutungen und zukünftige Möglichkeiten zusammen, es bildet sich „im Fluß der Zeit eine Einheit in der Präsenz“ heraus. Die Präsenz ist niemals von Dauer: „Die Beobachtung aber zerstört das Erleben. Und so gibt es nichts Seltsameres als die Art von Zusammenhang, die wir als ein Stück Lebensverlauf kennen.“146 Wir kennen den Lebensverlauf, ohne die Erlebnisse, aus denen er sich zusammensetzt, in ihrer präsentischen Qualität revozieren zu können. Daraus ergibt sich als methodisches Problem nicht nur für die soziologische Biographieforschung, sondern auch für das Therapiegespräch und seine Aufzeichnung oder für die Veranschaulichung historischer Prozesse am biographischen Beispiel: dass „nicht ausreichend genug zwischen biographischen Texten bzw. biographischen Daten auf der einen Seite und den biographischen Verläufen, also dem Lebensverlauf selbst unterschieden wird“.147 Oder, anders formuliert: „Biographie kann einmal das sein, was biographisch gelaufen ist, zum anderen das, was in einer Gegenwart als Gelaufenes beobachtet wird.“148 Es muss also zwischen Biographie und Lebenslauf methodologisch unterschieden werden, gerade weil im gelebten Kommunikationszusammenhang die Unterschiede nicht thematisiert werden und auch nicht bewusst sind. „Der Lebenslauf ist ein Insgesamt von Ereignissen, Erfahrungen, Empfindungen usw. mit unendlicher Zahl von Elementen.“ Biographien dagegen sind „selektive Vergegenwärtigungen“, abhängig vom kulturellen Zusammenhang, von Tradition, kulturspezifischen Erinnerungstechniken, rituellen Formen; und vor allem von verschiedenen Zeitbegriffen: „Die Auswahl beschränkt sich dabei nicht notwendig auf die objektiv durch den empirischen Lebenslauf gegebenen Daten. Sie kann einen weitaus größeren Zeitraum umfassen, die Zukunft und die Vergangenheit weit über die eigene Lebenszeit hinaus einschließen.“149 Der Soziologe Alois Hahn nennt als Beispiel die Autobiographie des Renaissance-Goldschmieds Benvenuto Cellini, die über weite Strecken eine wilde Räubergeschichte ist (Goethes Übersetzung glättete Cellinis Text und zähmte dessen Fabulierlust). Cellini strapaziert das genealogische Modell biographischer Selbstvergewisse146 Ebd., S. 239. 147 Armin Nassehi: „Die Form der Biographie. Theoretische Überlegungen zur Biographieforschung in methodologischer Absicht“. In: Bios. Zeitschrift f r Biographieforschung und Oral History 7 (1994) H. 1, S. 46 – 63, hier S. 48. 148 Ebd., S. 51. 149 Hahn: Konstruktionen des Selbst, S. 101.
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rung und biographischer Selbstpräsentation gleich zu Beginn, wenn er beansprucht, ein Nachfahre Julius Caesars zu sein. In wunderbarer Weise ad absurdum geführt ist das Verhältnis zwischen Genealogie und Biographie in Virginia Woolfs Biographie des Hundes Flush, der der Dichterin Elisabeth Browning gehörte. Flush zählte zur Rasse der Spaniel: Vor vielen Millionen Jahren gärte das Land, das heute Spanien genannt wird, im ungemütlichen Prozeß seiner Schöpfung. Unendliche Zeiten vergingen; Vegetation stellte sich ein; wo es Vegetation gibt, so dekretiert das Naturgesetz, da sollen Kaninchen sein; wo es Kaninchen gibt, so bestimmt es die Vorsehung, da sollen Hunde sein. Daran ist nichts Fragliches oder Bemerkenswertes. Wenn wir jedoch fragen, weshalb denn der Hund, der das Kaninchen fing, Spaniel genannt wurde, dann fangen Zweifel und Schwierigkeiten an.150
Gleich drei Gelehrtenschulen bemüht die biographische Erzählerin, um die Herkunft der Bezeichnung Spaniel zu begründen. Alle drei sind höchst vergnüglich zu lesen; sie reichen allesamt weit zurück. Wo also beginnt das biographische Leben und wo endet es? Der Lebenslauf verfügt über einen Anfang und ein Ende, die Biographie nicht. Zu ihr gehören Vorgeschichten und ein Nachleben. „Die selektive Vergegenwärtigung stiftet Zusammenhänge, die es so vorher gar nicht geben konnte. Der Lebenslauf ist uns nur über die Fiktion biographischer Repräsentation als Wirklichkeit zugänglich.“151 Die beiden Seiten zusammenzudenken, trifft den heißen Kern jeglicher Theorie der Biographie: Sie muss das Verhältnis von Evidenz und Konstruktion reflektieren, die gleichzeitige Anwesenheit von biographischen Daten – das Ensemble an Empfindungen, Taten, Handlungen – und von Formen, in denen diese Daten repräsentiert werden; es geht um die Gleichzeitigkeit von Präsenz und Absenz. Präsenz und Absenz aber wovon? Es ist verkürzend, unter ,Lebenslauf‘ biologisches Leben zu verstehen, und es ist verkürzend, unter ,Biographie‘ nur literarische Lebensdarstellungen zu verstehen. Es hilft auch nur ein Stück weit, den prinzipiell rhetorischen Charakter von Texten, zumal biographischen, zu betonen (wie dies unter anderen Hayden White für die Geschichtsschreibung, Vincent Crapazano für ethnographische und Paul de Man für literarische Texte unternommen haben). Systemtheoretisch 150 Virginia Woolf: Flush. Eine Biographie. Frankfurt/M. 1993, S. 7. 151 Hahn: Konstruktionen des Selbst, S. 101.
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formuliert lautet die Definition folgendermaßen: „Biographien sind Produkte von Beobachtungen, die den Lebenslauf zum Gegenstand haben, mithin sind sie von dem, was tatsächlich gelaufen ist, operativ vergleichsweise unabhängig, weil sie in der Kontingenz ihrer Möglichkeiten sowie in der selektiven Vergegenwärtigung von Vergangenem relativ frei sind.“152 Oder noch einmal anders: Fremdverstehen ist eine „Leistung des beschreibenden Bewusstseins“.153 Das biographische Objekt kann sich gegen Missdeutungen nicht mehr wehren, aber auch in der aktuellen Kommunikation wird Verständnis unterstellt, das nicht falsifiziert wird. „Unsere Verstehensfiktionen werden nicht sogleich falsifiziert, weil wir keine direkte Einsicht in den anderen haben. Das trifft insbesondere dann zu, wenn es sich um die Unterstellung von ,inneren‘ Gegebenheiten wie Gefühlen, Absichten, Überzeugungen, Vorlieben und Abneigungen handelt.“154 Das gilt für Freuds Fallgeschichten, für seine biographische Erzählung über Leonardo, und das gilt für die Transkription narrativer Interviews in sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen, wie skrupulös auch immer die Forscher sein mögen: „Die biographische Produktion wird nicht durch das gelaufene Leben determiniert.“155 Die biographische Thematisierung des Lebenslaufs „darf nicht als Spiegelung mißverstanden werden.“156 Dem Forscher und der Forscherin, die sich mit dem Phänomen der Biographie beschäftigen, ergeht es ähnlich wie dem Leser und der Leserin von Biographien, die, neben historischem Interesse und der Faszination durch ,große‘ Persönlichkeiten, die Aussicht auf einen durch biographische Texte hervorgerufenen Lustgewinn leitet: die Faszination durch „eine geheimnisvolle Homologie-Annahme zwischen Text und Leben“.157 – Dass das, was wir lesen, gleichzeitig das wäre, wovon die Rede ist. Was auch umgekehrt gilt: Dass das, was wir schreiben, kommentieren oder transkribieren (Interviews), dem, was war, entspricht. Aus der Unmöglichkeit, Leben und Darstellung zur Deckung zu bringen, ergibt sich die zugleich einfachste und bündigste Definition von Biographie: Sie handelt vom Leben, ist es aber nicht.
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Nassehi: „Die Form der Biographie“, S. 53. Hahn: Konstruktionen des Selbst, S. 35. Ebd., S. 36 f. Nassehi: „Die Form der Biographie“, S. 53. Hahn: Konstruktionen des Selbst, S. 101. Nassehi: „Die Form der Biographie“, S. 57.
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Die methodologische Kritik richtet sich im zitierten Aufsatz von Armin Nassehi vor allem gegen den in der soziologischen Biographieforschung sehr einflussreichen Ansatz von Fritz Schütze. Schütze identifizierte kognitive Figuren, die bei jeder autobiographischen „Stegreiferzählung“ wirksam würden.158 Unter ,Stegreiferzählungen‘ werden narrative Interviews verstanden, bei denen die Forscherinnen und Forscher mit äußerster Zurückhaltung agieren und versuchen, eine möglichst neutrale Erzählsituation zu schaffen. Die Auswertung der transkribierten Interviews erfolgt in Form einer Analyse kleinster Erzählsequenzen; diese können aus bloßen Interjektionen oder Füllwörtern bestehen. Das Resultat biographischer Prozesse, sei es die literarische biographische Erzählung, sei es die Stegreiferzählung, sei es die nachträgliche Beschreibung von Feldbeobachtungen in der Ethnographie, unterliegt Prozeduren der Raffung und Dehnung; je nachdem, ob ein Tag ganz genau beschrieben wird, oder ein entscheidendes Jahr, oder ob ein Lebenspanorama aus der Vogelperspektive entworfen wird. Fritz Schützes Einführung sogenannter ,Zugzwänge des Erzählens‘ in die theoretische Diskussion – Detaillierung, Aussparung und Schließung von Erzählsequenzen – profitiert von den Erkenntnissen der Erzählforschung.159 Nochmals kompliziert wird das Verhältnis der Zeitebenen, wenn im Rückblick „die Zeit der Erinnerung, des Traums, des berichteten Dialogs“ hinzukommt.160 Auch die Simultaneität psychischer Prozesse ist nur als Nacheinander darstellbar. Der amerikanische Autor Harold Brodkey unternahm es in seinen autobiographisch grundierten Erzählungen und Romanen, die Anziehungs- und Abstoßungskräfte, die zwischen Menschen wirken, in immer kleinere Einheiten zu zerlegen. Im Mittelpunkt der sprachlichen Exerzitien stehen fast immer die Gedanken- und Gefühlswelt eines Kindheits-Ich oder eines Pubertäts-Ich.161 Die Zeit steht fast still, während der Leser in den Sog dieser Analyse gerät. Aber der Stillstand ist nur ein scheinbarer, darauf kommt es Brodkey an, denn Verände158 Fritz Schütze: „Kognitive Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens“. In: Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beitr ge und Forschungsperspektiven. Hg. v. Martin Kohli u. Günther Robert. Stuttgart 1984, S. 78 – 117. 159 Zu den ,Zugzwängen‘ vgl. ebd., S. 100 f. und passim. 160 Ricœur: Zeit und Erz hlung, S. 134. 161 Harold Brodkeys Nahezu klassische Stories liegen in zwei Bänden vor: Unschuld und Engel (Reinbek bei Hamburg 1990 u. 1991). Sein Opus Magnum, der Roman Die fl chtige Seele (im Original The Runaway Soul), erschien 1995 in deutscher Übersetzung (Reinbek bei Hamburg).
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rungen im physischen, psychischen und intellektuellen Bereich werden auf einer textuellen Skala aufgetragen, die den zeitlichen Verlauf in Millimeterschritten abbildet. Gleichsam eine biographische Erzählung, die mit extrem kurzen Sequenzen arbeitet, die die Zeitlichkeit des Biographischen an eine äußerste Grenze treibt. Solchermaßen wird die Mechanik vieler psychoanalytischer Konstruktionen untergraben. Ausgangspunkt ist ein in höchstem Maße gefährdetes Subjekt, das noch die kleinsten Veränderungen mittels eines hochgespannten perzeptiven Apparates registriert und alles, metaphysische Spekulation und biographische (Körper-)Erfahrungen, in die Waagschale wirft, um die literarische Selbsterkenntnistheorie weiterzutreiben. Dass es vielfältige Verbindungslinien zwischen Sukzession und Erfahrung gibt, ist nicht nur an literarischen Texten ablesbar; vielmehr ist die Erfahrung der Zeitlichkeit, die der Unendlichkeit des Seins widerspricht, die moderne Erfahrung schlechthin. Es ist von ,Prozessualität‘, von ,Verlaufsprozessen‘, von ,textuellen Operationen‘ und so fort die Rede, anstatt von unverrückbaren psychischen oder kognitiven Tatsachen: „Subjektive Identitäten müssen sich nun“ – in der Moderne, in der biographischen Erzählung, als Forschungsgegenstände – „in der und gegen die Zeit behaupten“. Identitäten werden „nicht mehr nur in der Sach- und Sozialdimension (Wer bin ich, und zu wem gehöre ich?) behauptet“, schreibt Armin Nassehi unter Bezugnahme auf Norbert Elias, „sondern vor allem in der Zeitdimension (Wer bin ich geworden, und wer werde ich sein?)“.162 Die ,biographischen Prozeßstrukturen‘ (Schütze) können jedoch nur sehr begrenzt beeinflusst werden.163 Schützes Ansatz, so die Kritik, setze „eine Affinität der Form des Lebens und der Form des Erzählens“ voraus.164 Dass Schütze „auf die Sequenzialität und Prozeßhaftigkeit sowohl des Lebenslaufs als auch der narrativen Rede“ abzielt, ist nicht das Problem. Die Korrelation zwischen dem Erzählen einer Geschichte und dem zeitlichen Charakter menschlicher Erfahrung ist mit Paul Ricœur kaum abzuweisen.165 Die 162 163 164 165
Nassehi: „Die Form der Biographie“, S. 46. Vgl. Alheit: „Biographizität und Struktur“, S. 25. Nassehi: „Die Form der Biographie“, S. 57. Ricœur geht von der Prämisse aus, „dass zwischen dem Erzählen einer Geschichte und dem zeitlichen Charakter der menschlichen Erfahrung eine Korrelation besteht, die nicht rein zufällig ist, sondern eine Form der Notwendigkeit darstellt, die an keine bestimmte Kultur gebunden ist“. Karl Wagner: „Einleitung“. In: Moderne Erz hltheorie. Hg. v. Karl Wagner. Wien 2002, S. 7 – 24, hier S. 17.
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Kritik richtet sich vielmehr gegen die Ausweitung dieser Homologie zwischen Erzählung und Lebenslauf auf die Sachebene166, also auf den Wahrheitsgehalt biographischer Erfahrung. Die methodologischen Konsequenzen, die daraus gezogen werden müssten, kommen dem von Sigrid Weigel so bezeichneten ,Korrespondenzprinzip‘ des Biographischen nahe: „Der Gegenstand biographischer Forschung sind nicht Lebensverläufe, sondern biographische Kommunikationen beziehungsweise deren Resultat: biographische Texte.“167 In letzter Konsequenz bedeutete dies jedoch, dass es keinen Unterschied zwischen narrativ strukturierten autobiographischen Stegreiferzählungen und literarischen Erzählungen mehr geben würde. Allerdings muss auch Nassehi konzedieren, dass das Format der mündlichen Erzählung mit all ihren intrapersonellen Implikationen eine entscheidende Differenz bildet: „Die Erzählzeit […] ist zugleich Echtzeit.“168 Biographie entsteht zugleich mit ihrer Erzählung. Was in einem weiteren Sinne aber auch für die Leserinnen und Leser von Texten jeglicher Facon gilt: Lesen ist eine biographische Erfahrung, im Lesen – wie im Schreiben – vergeht Lebenszeit. In dieser ,Echtzeit‘ steckt etwas, das bei Ricœur ,Lebenszeit‘ heißt und das nicht nur eine temporale Dimension besitzt, sondern durchaus auch eine ,sachliche‘. Etwas entsteht im ,Jetzt‘ der biographischen Erzählung, im Moment der Niederschrift, während der Dauer eines Interviews, im Moment der audiovisuellen Aufzeichnung; etwas anderes mischt sich hinein und drängt sich in den Vordergrund, das nicht zu diesem ,Jetzt‘ gehört, aber von ihm affiziert wird. Dies sei kurz an einem Beispiel aus der Geschichte des Dokumentarfilms verdeutlicht: Den Autor völlig hinter dem aufgenommenen Material verschwinden zu lassen – das war die ästhetische Utopie des französischen Filmemachers Jean Eustache vom sich selbst genügenden Werk. Am Schluss des Gestaltungsprozesses sollte nicht das elaborierte Produkt eines künstlerischen Subjekts stehen, sondern eine ,rohe Schreibweise‘. In einem Interview von 1971 verwirft Eustache alles, was unter den Etiketten ,Autorenfilm‘, ,künstlerische Sehweise‘, ,erzählendes Kino‘, ,Dramaturgie‘, ,Fiktion und Wirklichkeit‘ die filmtheoretischen Dis-
166 Nassehi: „Die Form der Biographie“, S. 57. 167 Ebd., S. 59. 168 Ebd., S. 60.
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kurse beherrschte.169 Die radikalste Reflexion über das Verhältnis eines subjektiven Blicks zu einem biographischen Objekt stellt der Film Num ro Z ro dar, in dem Eustaches blinde, achtzigjährige Großmutter Odette Robert mehr als zwei Stunden lang über ihre Erinnerungen an das dörfliche Leben ihrer Jugend spricht, direkt in die still stehende Kamera und ohne redigierenden Eingriff. Um den außerordentlichen, intimen Charakter dieses biographischen Dokuments nicht zu verfälschen, wollte es Eustache zunächst nicht veröffentlichen; erst 1980 stimmte er der Ausstrahlung einer gekürzten TV-Version zu. In der ungekürzten Fassung wurden Blick und biographisches Objekt nahezu identisch. Das Erzählte entstand in der Zeit der Erzählung und es verwies auf etwas, das diesem Jetzt vorausging. Num ro Z ro markierte für Eustache eine unüberschreitbare Grenze. Dass das, was war, und das, wodurch es erst zu etwas wird, im Begriff der Biographie zusammenfallen, wird von einem Common SenseVerständnis kaum in Frage gestellt. Ebenso wenig wie die, mit besseren Argumenten abgestützte, Annahme einer universell gültigen Disposition menschlicher Selbst- und Fremdwahrnehmung, die auf einem Mindestmaß an lebensgeschichtlicher Kohärenz und einem Bewusstsein von sich selbst aufbaut. Das Problem ist ein theoretisches, aber auch ein praktisches und künstlerisches: Das biographische Objekt ist nicht nur in einem horizontalen Netz ständig sich verändernder Beziehungen einzufangen, sondern auch als Zeitpfeil, der aus dem Netz in die Vergangenheit und Zukunft reicht. Nicht nur ist die Perspektive der Biographie immer eine nachträgliche, Biographie bedeutet die Vermittlung einer synchronen und einer diachronen Perspektive, wobei diese Ebenen methodologisch getrennt werden müssen, wenn sie auch in der Praxis immer aufeinander bezogen bleiben: Der Begriff ,Ethnobiography‘ versucht deshalb, „to mark off biography’s synchronic aspect, its concern with portraying a person ,in his time‘, as distinguished from attempts to trace the trajectory of an identity ,over‘ or ,through‘ time“.170 Was bildet nun das Scharnier zwischen den verschiedenen Zeitebenen? 169 Vgl. die Beiträge im Band: Jean Eustache. Texte und Dokumente. Hg. v. Freunde der Deutschen Kinemathek e.V., Redaktion Hans-Joachim Fetzer u. Birgit Kohler. Kinemathek 42 (April 2005) H. 99. Die angesprochene Haltung wird besonders deutlich in: „Jean Eustache im Gespräch mit Philippe Haudiquet“ (ebd., S. 35 – 53, vgl. vor allem S. 37). 170 Clifford: „Hanging Up Looking Glasses“, S. 42.
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,Erzählzeit‘ und ,erzählte Zeit‘ in der Terminologie der Erzähltheorie (die Begriffe gehen auf den Erzähltheoretiker Günther Müller zurück, der sie 1946 erstmals einführte) konvergieren im Akt der Vergegenwärtigung. An diesem zugleich rezeptiven und produktiven Akt der Vergegenwärtigung oder der Verlebendigung berührt sich eine allgemeine Theorie der Biographie mit erzähltheoretischen Überlegungen und mit ethnologischen und soziologischen Befunden zur Biographie, aber auch mit Überlegungen zum Verhältnis von Speicher, Gedächtnis und Erinnerung.171 Paul Ricœurs Auseinandersetzung mit den Arbeiten Günther Müllers referiert zunächst dessen „morphologische Poetik, die sich wiederum von Goethes Reflexionen zur Morphologie der Pflanzen und der Tiere herschreibt: „[D]ie Natur kann Lebewesen hervorbringen, doch sind sie gleichgültig; die Kunst kann nur Totes hervorbringen, doch ist es bedeutungsvoll.“ „[D]urch die Erzählung“, so kommentiert Ricœur, „soll die erzählte Zeit der Gleichgültigkeit entrissen werden“.172 „[D]as bedeutungslose Leben [wird] durch die Kunst zum bedeutungsvollen Werk erhoben.“173 Eine morphologische Poetik der „Bildungs- und Umbildungsarbeit“ ebenso wie Poetiken der ,Verwandlung‘, wofür Elias Canettis literarische Anthropologie paradigmatisch steht, basieren auf der Spannung zwischen dem Toten und dem Lebendigen und damit auf der Spannung zwischen zwei Zeitdimensionen. Man kann die ,Lebenszeit‘ nicht einfach ausblenden, wie das streng strukturalistische Erzähltheorien tun. Die ,Lebenszeit‘ bildet das Dritte zwischen ,Erzählzeit‘ und ,erzählter Zeit‘; sie ist Prägendes und Geprägtes zugleich, denn sie wird mitbestimmt „durch Beziehung und Spannung zwischen den beiden Zeiten der Erzählung“.174 „Es handelt sich also“, schreibt Paul Ricœur, „um eine phänomenologische Unterscheidung, aufgrund deren alles Erzählen ein Erzählen von etwas ist, das nicht selbst Erzählung ist“. Nun lautet aber die Frage, was denn „das Korrelat der Vergegenwärtigung“ ist, wem oder was die ,erzählte Zeit‘ entspricht? Darauf, so Ricœur, gebe es zwei Antworten: Einerseits ist das Erzählte „nicht leibhaftig in der Erzählung 171 „Während ein Lebenslauf sich aus objektiv verifizierbaren Lebensdaten zusammensetzt, beruht eine Lebensgeschichte auf interpretierten Erinnerungen, die sich zu einer erinnerbaren und erzählbaren Gestalt zusammenfügen. Solche Gestaltgebung nennen wir Sinn; sie ist das Rückgrat gelebter Identität.“ Assmann: Erinnerungsr ume, S. 257. 172 Ricœur: Zeit und Erz hlung, S. 134. 173 Ebd., S. 135. 174 Ebd.
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gegeben“, es ist nur „wiedergegeben“, Leben aus zweiter Hand, Nachträgliches. Andererseits aber ist „das Erzählte zutiefst die ,Lebenszeit‘; und das Leben selbst wird nicht erzählt, sondern erlebt“.175 Die ,erzählte Zeit‘ geht durch Raffung und Dehnung aus einer ausgesparten Zeit hervor, die „nicht Erzählung, sondern Leben ist“.176 Prolepsen können dazu dienen, „die Erzählung der Vergangenheit durch das Zeugnis von ihrer Wirkung auf die gegenwärtige Erinnerung zu beglaubigen“.177 Der mittels erzähltechnischer Mittel hervorgerufene Effekt der Beglaubigung einer ,Erzählung der Vergangenheit‘ in der Gegenwart (des Erzählers oder der Erzählerin, des Lesers oder der Leserin) ist in der fiktiven Erzählung eine Möglichkeit unter anderen; für die Biographie ist sie die Bedingung ihrer Hervorbringung und somit eine Einschränkung gegenüber ,reiner‘ Literatur. Dies gilt auch für biographische Produktionen, die keine literarischen oder wissenschaftlichen Biographien sind. Erst die Unterstellung der Wirkung vergangenen Lebens auf eine spätere Zeit legitimiert die Biographie. Ein Geständnis vor Gericht, in dessen Verlauf eine Biographie produziert wird, kommt erst durch die Unterstellung zustande, dass eine vergangene Tat eine spätere Wirkung hervorbrachte, wofür in der Zukunft Folgen zu erwarten sind. Ähnliches gilt für die Beichte; nur weist hier die Konsequenz aus vergangenem Verhalten nicht ins Gefängnis oder in die Freiheit, sondern in unterschiedliche Nähen zu Gott. Von der Bearbeitung eines Traumas im gegenwärtig ablaufenden therapeutischen Gespräch erwarten sich Patient und Therapeut eine Verminderung des Leidensdrucks in der Zukunft. Und auch noch die alltägliche Form des ,Curriculum vitae‘ geht von einer Entwicklung aus, die die absolvierten (Bildungs-)Wege in die Zukunft projiziert. Die geschriebene Biographie kann vergangenes Leben dem Vergessen entreißen, indem sie dessen Wirkungsmöglichkeiten in der Gegenwart und in der Zukunft beschreibt. Oder sie legitimiert sich durch den bereits existierenden Nachruhm des biographischen Objekts, der weitergetragen, neu entfacht, in die Zukunft hinein verlängert, oder auch bestritten wird. Auch biographische Projekte, die sich nur auf die Beschreibung des Quellenmaterials konzentrieren, gehen von einer Wirkung jenseits des Raums der biographischen Erzählung aus. Dies markiert die Grenze zwischen Biographie und Literatur. 175 Ebd., S. 130 f. 176 Ebd., S. 137. 177 Ebd., S. 142.
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Für das große literarische Erinnerungsprojekt des 20. Jahrhunderts, Prousts Recherche, gilt, dass „die Zeit der Geschichte des Helden“ aufhört, sobald sie ihre „eigene[] Quelle“ erreicht hat, das ist die „Gegenwart des Erzählers“, die sie nicht erreichen kann. In dem Moment, in dem „der Held zum Schriftsteller geworden ist“, ist die Erzählung beendet178 ; nicht die Biographie. Ist doch hier die Identität zwischen Erzähler und Autor aufgrund des ,biographischen Paktes‘ Voraussetzung für das Funktionieren der Gattung. Der biographische Erzähler-Autor kann die Erzählung über die historische Gegenwart hinaustragen, indem er zum Beispiel eine Vorbildwirkung der beschriebenen Persönlichkeit für kommende Generationen insinuiert. Es ist sogar vorstellbar, ein Leben erst mit dem Tod beginnen zu lassen, als Nachleben, das von einem gelebten Leben zehrt, aber nur mehr schwache Bindungen an dieses unterhält. (Diese Möglichkeit besitzt der autobiographische Erzähler nicht, dessen Erzählung vor dem Tode endet.) Jede biographische Erzählung reicht nicht nur in die Gegenwart der Erzähler, sondern sie setzt eine Zukunft voraus, in der das Nachleben weitergeht, wovon dann wieder erzählt werden kann. Die Biographie ist geprägt von einer weltlichen Erlösungshoffnung auf ein Leben nach dem Tode. Die großartigste Apotheose einer Unsterblichkeit, die sich aus der Produktion überdauernder Werke speist, findet sich im Abschnitt „Von der Unsterblichkeit“ in Elias Canettis monumentalem Essay Masse und Macht. Er ist dem Schriftsteller Stendhal gewidmet und behauptet die Verwandlung des Werkes in ein Leben nach dem Tode. Canetti beginnt mit einer Charakterskizze Stendhals, der allem Jenseitigen abgeneigt gewesen sei und alles Diesseitige genossen habe. Es ist das Lob eines ,empfindenden‘ Menschen, der, was er dachte, affektiv besetzte: „[E]s gibt keinen kalten Gedanken bei ihm.“179 Alles ist von Leben durchflutet, das Werk pulsiert im Rhythmus des Lebens. Den Grundton von Stendhals Leben, so Canettis biographische Projektion, bildete jedoch eine über das Leben hinausweisende Überzeugung: Stendhal glaubte an die Unsterblichkeit literarischen Ruhms. Bewusst ans Ende des Kapitels über den „Überlebenden“ gestellt, ist die Unsterblichkeit im Nachruhm die edelste und nobelste Form des Überlebens. Sie kann auf den Tötungswunsch als eine Hauptquelle für die Lust am Überleben verzichten, der Canetti auf den vorhergehenden Seiten soviel Raum geschenkt 178 Ebd., S. 146. 179 Elias Canetti: Masse und Macht. In: Werke [in 10 B nden]. Bd. 3, München, Wien [1994], S. 328.
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hatte: Einer steht, wo alle anderen tot sind, entweder getötet von einem Machthaber oder einfach nur früher gestorben als man selbst. Die Überlebenden dieses Typus sind Herrscher in einem unüberschaubaren Reich der Toten. Nicht so Stendhal und seine Geistesverwandten. Erst in ferner Zukunft, jenseits der Zäsur des eigenen leiblichen Todes, kommt es zur Rivalität der Werke. Wer sich hier durchsetzt, ist der wahre Sieger; der Sieger über eine vorweggenommene Zukunft. (Wie der Kampf ausgeht, darauf haben die Biographen keinen unwesentlichen Einfluss.) Was aber ist die Bedingung für den Erfolg im Kampf der Werke? Aber dieses Werk muß da sein, und damit es da ist, muß es das größte und reinste Maß von Leben enthalten. Nicht nur hat man es verschmäht, zu töten, man hat alle, die mit einem waren, mitgenommen in jene Unsterblichkeit, in der alles wirksam wird, das geringste wie das größte. […] Wer aber Stendhal aufschlägt, findet ihn selbst und alles wieder, das um ihn war, und er findet es hier in diesem Leben. So bieten sich die Toten den Lebenden als edelste Speise dar. Ihre Unsterblichkeit kommt den Lebenden zugute: in dieser Umkehrung des Totenopfers fahren alle wohl. Das Überleben hat seinen Stachel verloren, und das Reich der Feindschaft ist zu Ende.180
Auf eigentümliche Weise knüpfen diese Sätze ein Netz aus Beziehungen zwischen den Lebenden und den Toten, zwischen der Vergangenheit und der Nachwelt, zwischen den Lebensanteilen im Werk und ihrer Vergegenwärtigung durch die späteren Leserinnen und Leser. Das Leben Stendhals ist in die reine Form seiner Werke eingegangen, und wer Stendhal aufschlägt, hält das Buch seines Lebens in Händen. Während die Machthaber möglichst viele ihnen Nahestehende mit in den Tod nehmen, um im Jenseits in vertrauter Gesellschaft zu sein, kehrt der literarische Nachruhm diesen Gewaltakt um, er humanisiert ihn: Die Toten bieten sich in ihren Werken, in denen ihr Leben aufbewahrt ist, als „edelste Speise an“. Ein religiöser Vorgang der Inkorporation des heiligen Geistes in Form von Wörtern. Jetzt ist Friede: „Das Überleben hat seinen Stachel verloren.“ Canettis Text „Von der Unsterblichkeit“ lässt sich als Plädoyer für ein metabiographisches Verständnis des Überlebens lesen, in dem Sinne, dass es nicht um eine konkrete Biographie oder konkrete Biographien geht, in denen Stendhal zum Leben erwacht, sondern um das Biographische als Medium der Verwandlung: als Transsubstantation. Das Wort ist wieder Fleisch ge180 Ebd., S. 329.
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Schwarte, Ludger: „Hannah Arendt. Totale Herrschaft, biographisches Experiment und die Zukunft politischen Denkens“. In: Weltoffener Humanismus. Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutsch-j dischen Emigration. Hg. v. Gerald Hartung u. Kay Schiller. Bielefeld 2006, S. 185 – 208. Stein, Gertrude: The Autobiography of Alice B. Toklas. London 2001. Symons, A. J. A.: The Quest for Corvo. An Experiment in Biography. London 1934. Thurnwald, Hilde: Menschen der S dsee. Charaktere und Schicksale. Ermittelt bei einer Forschungsreise in Buin auf Bougainville, Salomo-Archipel. Stuttgart 1937. Tretjakov, Sergej: Den Schi-Chua. Ein junger Chinese erz hlt sein Leben. Berlin 1932. Wagner, Karl: „Einleitung“. In: Moderne Erz hltheorie. Hg. v. Karl Wagner. Wien 2002, S. 7 – 24. Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann: Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. München 2003. Weigel, Sigrid: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kulturund Naturwissenschaften. München 2006. Woolf, Virginia: Flush. Eine Biographie. Deutsch von Karin Kersten. Frankfurt/ M. 1993. Zimmermann, Christian von: Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830 – 1940). Berlin, New York 2006. Zinnecker, Jürgen: „,Das Problem der Generationen‘. Überlegungen zu Karl Mannheims kanonischem Text“. In: Generationalit t und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. Hg. v. Jürgen Reulecke unter Mitarbeit v. Elisabeth Müller-Luckner. München 2003, S. 33 – 58.
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I. Voraussetzungen
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Die Autobiographie im Kontext der ,Life-Writing‘-Genres Manfred Mittermayer In der angloamerikanischen Forschung zur Autobiographie hat sich in den letzten Jahrzehnten ein Terminus etabliert, der dieses traditionsreiche Genre für die Beschreibung der eigenen Lebensgeschichte in einem weiteren Umfeld situiert: ,Life Writing‘. Der Begriff wurde erstmals im 18. Jahrhundert verwendet: Das Oxford English Dictionary nennt William Warburtons Letter to Birch (1737) als ersten Beleg; 1772 bemerkt ein anonymer Autor im Annual Register of Miscellaneous Essays, dass „of all the fantastic amusements in which modern genius indulges itself, the most whimsical is Life-Writing“. Auch bei James Boswell findet sich in der Einleitung zu seiner Biographie The Life of Samuel Johnson (1831) bereits das Nomen ,life-writer‘. Seit den 1980er/1990er Jahren tritt der Terminus im akademischen Kontext immer häufiger auf: In der Eröffnungsnummer der einflussreichen Zeitschrift Biography, die 1978 erschien, war ein „Glossary of Terms in Life-Writing“ von Donald J. Winslow abgedruckt, in der Folge kam alljährlich seine „Current Bibliography on Life-Writing“ heraus. Zwischen 1963 und 1980 wird der Begriff in der MLA Bibliography nur acht Mal genannt, wobei die entsprechenden Artikel alle gegen Ende dieses Zeitraums publiziert wurden. Von 1981 bis 1998 hingegen führt die MLA Bibliography etwa 100 Einträge auf, die von den unterschiedlichsten Zeitschriften und Büchern stammen.1 Bette Kirschstein bezeichnet den Terminus in einem selbst mit dem Titel Life Writing/Writing Lives versehenen Sammelband als „catch-all phrase that includes not only biography, autobiography, and memoir, but also the myriad of works that do not fit neatly into one of these categories“.2 Überzeugendster Beleg dafür, wie sehr sich der Begriff mittlerweile im akademischen Kontext durchgesetzt hat, ist die zwei1 2
Vgl. für diese Zusammenstellung Bette H. Kirschstein: „Introduction“. In: Life Writing/Writing Lives. Hg. v. Bette H. Kirschstein. Malabar/Fla. 2001 (= Open Forum Series), S. 1 – 11, hier S. 10. Ebd., S. 2.
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bändige, von Margaretta Jolly herausgegebene Encyclopedia of Life Writing mit dem Untertitel Autobiographical and Biographical Forms, die sich auf mehr als 1000 Seiten nicht nur den bisher zumeist schärfer voneinander getrennt gesehenen Gattungen Autobiographie, Biographie, Memoiren, Tagebuch, Brief etc. widmet (mit eigenen Artikeln zu differenzierten Themen wie z. B. „Autobiography and Biography“, „Biography and Fiction“ oder „Biography and History“), sondern auch Problembereichen wie „Anthropology and Life Writing“, „Gender and Life Writing“, „Psychology and Life Writing“ oder „National Identity and Life Writing“. Sechs eigene Artikel beschäftigen sich darüber hinaus mit „Criticism and Theory“ zu den Life-Writing-Genres (bis hin zu „Structuralism and Poststructuralism“, „Feminism“ und „Postcolonialism“). Das Bewusstsein, dass die Autobiographie einem größeren Repertoire an Formen verschriftlichter Lebensdarstellung angehört, mit denen sie eine Reihe von Charakteristika teilt und von denen sie als eigenständiges Genre nicht immer ganz trennscharf abzugrenzen ist, artikuliert auch Neva Sˇlibar in einem Aufsatz, in dem sie sich mit den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Autobiographie und Biographie beschäftigt. Sie verwendet dort den umfassenden Terminus „lebensgeschichtliches Erzählen“ und zählt dazu ein ganzes Panorama an Textsorten, vom anspruchsvollen literarischen Kunstwerk bis zu sensationell aufbereiteten Lebens-Storys der Boulevardblätter, von der Grabinschrift mit den reinen Lebensdaten als Minimal-,Biographie‘ bis zu dokumentreichen mehrbändigen Werken, von Lebensskizzen zu Unterhaltungs- oder Forschungszwecken bis zu erfolgreichen Sachbüchern. „[M]ehr oder minder traditionelle lebensgeschichtliche journalistische Textsorten, etwa Portraits, Nekrologe, Interviews, Leserbriefe in Beratungsecken, Dossiers mit thematischen Schwerpunkten, Aktuelles über Stars und Berühmtheiten, Kontaktanzeigen“ würden, so Sˇlibar, in Zeitungen, TV und Radio einen hohen Prozentanteil ausmachen.3 In ihrem grundlegenden Band Reading Autobiography verstehen Sidonie Smith und Julia Watson den Begriff „life writing“ als „general term for writing of diverse kinds that takes a life as its subject“. Diese Formen des Schreibens können sein: „biographical, novelistic, histo3
Neva Sˇlibar: „Biographie, Autobiographie – Annäherungen, Abgrenzungen“. In: Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen. Hg. v. Michaela Holdenried. Berlin 1995, S. 390 – 401, hier S. 396 f.
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rical, or an explicit self-reference to the writer“. Im engeren Sinn auf die Autobiographie bezogen, verwenden die Autorinnen hingegen den Begriff „life narrative“. Auch ihn wollen sie umfassender verstanden wissen: „as a somewhat narrower term that includes many kinds of self-referential writing, including autobiography“.4 Erneut steht im Hintergrund dieser Definition die Überlegung, dass traditionelle Festlegungen dieses Genres zu eng gefasst sein könnten; wir werden auf die damit verbundenen Fragestellungen zurückkommen. In einer neueren Publikation von Smith und Watson ist der Begriff „autobiographical acts of narration“ zu finden.5 Sie sprechen hier von „selfreferential practices“ und betonen damit den Handlungscharakter autobiographischer Selbstpräsentation, in deren Rahmen sich u. a. Anlässe für „negotiating the past“ und für „reflecting on identity“ ergäben6 – Aspekte, die uns in der Folge ebenfalls beschäftigen werden. Liest man gängige Charakterisierungsversuche des Genres ,Autobiographie‘, so stößt man zumeist auf die Herleitung des Begriffs aus seinen (griechischen) Bestandteilen aut s (selbst), b os (Leben) und gr phein (schreiben). Aus den unterschiedlichen Akzentuierungen dieser Einzelelemente, so könnte man sagen, ergeben sich auch die Schwerpunkte der theoretischen Diskussion über ,Autobiographie‘ im Verlauf der Forschungsgeschichte.7 Wiederum ist der Begriff erstmals im 18. Jahrhundert belegt: im Deutschen z. B. in Daniel Jenischs Der allezeit-fertige Schriftsteller (1797); im Englischen wird meist auf Robert Southeys Übertragung der genannten drei griechischen Ausdrücke
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Sidonie Smith u. Julia Watson: Reading Autobiography. A Guide for Interpreting Life Narratives. Minneapolis, London 2001, S. 3. Sidonie Smith u. Julia Watson: „Introduction: Mapping Women’s Self-Representation at Visual/Textual Interfaces“. In: Interfaces: Women, Autobiography, Image, Performance. Hg. v. Sidonie Smith u. Julia Watson. Ann Arbor 2003 (= Wisconsin studies in American autobiography), S. 1 – 46, hier S. 11. Ebd., S. 9. Für einen Überblick über die Geschichte des Genres, aber auch über die Entwicklung der Forschungsliteratur zu diesem Thema, vgl. v. a. Michaela Holdenried: Autobiographie. Stuttgart 2000 und Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. 2. Aufl. Stuttgart, Weimar 2005 (= Sammlung Metzler, Bd. 323); aus dem englischsprachigen Bereich auch Linda Anderson: Autobiography. London, New York 2001 (= The New Critical Idiom).
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(1809) hingewiesen.8 Die in der Forschungsliteratur vermutlich am meisten zitierte Definition stammt von Philippe Lejeune, dem Autor der einflussreichen Studie Der autobiographische Pakt (frz. 1975): „R ckblickende Prosaerz hlung einer tats chlichen Person ber ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persçnliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persçnlichkeit legt.“9 Eine prägnante, eine Reihe von Aspekten der theoretischen Auseinandersetzung über Eigenschaften und Probleme der Autobiographie einbedenkende Kurzdarstellung ist in einem Standardwerk zur deutschen Literaturwissenschaft nachzulesen, in de Gruyters neu überarbeitetem Reallexikon zu diesem Fach: ein nichtfiktionaler, narrativ organisierter Text im Umfang eines Buches, dessen Gegenstand innere und äußere Erlebnisse sowie selbst vollzogene Handlungen aus der Vergangenheit des Autors sind. Diese werden im Rahmen einer das Ganze überschauenden und zusammenfassenden Schreibsituation sprachlich so artikuliert, daß sich der Autobiograph sprachlich handelnd in ein je nach Typus verschiedenes (rechtfertigendes, informierendes, unterhaltendes u. a.) Verhältnis zu seiner Umwelt setzt.10
Damit sind mehrere Punkte angesprochen, die in der Forschungsgeschichte eine wichtige Rolle gespielt haben: das Verhältnis von Realität und Fiktion, das Problem der Innerlichkeit, der Status des Autors/der Autorin11, die retrospektive Haltung der Erzählinstanz, die Ausrichtung auf Ganzheitlichkeit und Kohärenz sowie die spezifischen Motivationen für das autobiographische Schreiben. Einige davon werden im Fol8 Smith und Watson nennen außerdem eine frühere Belegstelle bei der englischen Arbeiterschriftstellerin Ann Yearsley; vgl. dies.: Reading Autobiography, S. 2. 9 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Frankfurt/M. 1994, S. 14. 10 Jürgen Lehmann: „Autobiographie“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Hg. v. Klaus Weimar, Harald Fricke u. a. Berlin, New York 2007, S. 169 – 173, hier S. 169. – Der Autor des Beitrags verfasste selbst eine umfangreiche Studie zur Autobiographie, in der er das Genre ausgehend von den Sprachhandlungsformen des Bekennens, des Erzählens und des Berichtens untersucht; vgl. ders.: Bekennen – Erz hlen – Berichten. Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie. Tübingen 1988 (= Studien zur deutschen Literatur, Bd. 98). Dort findet sich (auf S. 36) eine ähnlich formulierte Definition wie die hier zitierte. 11 Ich verwende in meinem Beitrag aus Gründen der Lesbarkeit, meinem eigenen Geschlecht folgend, die maskuline Form, die allerdings jeweils geschlechtsneutral verstanden werden soll. Damit soll keineswegs die Tendenz der früheren Forschungsgeschichte weitergeführt werden, den weiblichen Beitrag zu diesem Genre weitgehend auszugrenzen bzw. zu marginalisieren, ein Aspekt, auf den ich weiter unten zurückkommen werde.
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genden eine Rolle spielen, wenn die Position der Autobiographie als das – trotz aller Relativierung ihrer vermeintlich klaren Grenzen gegenüber anderen Textsorten – doch als zentral angesehene ,Life-Writing‘-Genre im Kontext dieser heute kaum noch zu überblickenden Forschungsdiskussion zumindest angedeutet werden soll. Festlegungen: Die traditionelle Konzeption von ,Autobiographie‘ In der Einführung zu einer viel beachteten Anthologie von Beiträgen zur Autobiographie-Diskussion meint James Olney, die neuere Forschungsgeschichte zum Thema habe im Wesentlichen mit Georges Gusdorfs erstmals 1956 publiziertem Aufsatz „Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie“ begonnen.12 In der Tat enthält dieser Beitrag geradezu eine Anthologie der definitorischen Hauptpunkte, die zum einen ein traditionelles Verständnis dieses Genres umreißen, die zum anderen aber auch als Angriffspunkte all jener Forscher/innen dienen sollten, von denen ein differenzierteres Verständnis der Autobiographie (vor allem auch jener von Frauen) eingemahnt wurde – kaum ein anderer Text ist in diesem Zusammenhang so oft zitiert und revidiert worden. Zwei der wesentlichsten Festlegungen, die Gusdorf trifft, beziehen sich auf den angeblichen Totalitätsanspruch der Autobiographie bzw. die Kohärenz der darin wiedergegebenen Lebensbeschreibung. Demnach bemühe sich der Autobiograph „um eine ganzheitliche und zusammenhängende Darstellung seines gesamten Lebens“. Es gehe ihm darum, „die verstreuten Elemente seines persönlichen Lebens zu sammeln und sie in einer Gesamtskizze geordnet darzustellen“.13 Der Autor verbindet das von ihm untersuchte Genre mit einem spezifischen historischen Moment, nämlich mit der Herausbildung des abendländischen Individuums. Erst wer sich von traditionellen mythischen Vorstellungen befreit habe, wer seine Existenz als selbstständig und einzigartig auffasse, werde das Bedürfnis entwickeln, sein Bild von seiner Umgebung ab12 Vgl. James Olney: „Autobiography and the Cultural Moment: A Thematic, Historical, and Bibliographical Introduction“. In: Autobiography. Essays Theoretical and Critical. Hg. v. James Olney. Princeton (NJ) 1980, S. 3 – 27, hier S. 7. 13 Georges Gusdorf: „Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie“. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hg. v. Günter Niggl. Darmstadt 1989, S. 121 – 147, hier S. 130.
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zuheben und sich darin selbst zu betrachten. Als Zeugen für die Hauptmotive, denen autobiographisches Schreiben folgt, beruft Gusdorf klassische Werke der Überlieferung: Unter Bezugnahme auf die Confessiones des Augustinus (um 400) nennt er die „Gewissenserforschung“ und die „Rechenschaft“ über das abgelaufene Leben, außerdem verweist er auf den Ausdruck von „Individualität“ (bereits bei Benvenuto Cellini, 1728), der sich in Jean-Jacques Rousseaus Confessions (1782) mit dem Anspruch der „Aufrichtigkeit“ verbinde.14 In diesem Zusammenhang spricht Gusdorf auch die Wahrheitsproblematik an, und er nimmt diesbezüglich eine sehr optimistische Haltung ein: Er sieht die Autobiographie als „Mittel der Selbsterkenntnis“15 und bescheinigt ihr besondere Authentizität, da immerhin der Erzähler von sich selbst erzähle – niemand wisse besser als er, was er geglaubt und was er gewollt habe, oft erzähle er seine Geschichte, „um eine unvollständige oder entstellte Wahrheit richtigzustellen“.16 1960 legte Roy Pascal seine umfangreiche Studie Design and Truth in Autobiography vor (dt. 1965). Seine Darstellung folgt in vielen Zügen dem von Gusdorf propagierten Bild. Erneut wird das Element des narrativen Zusammenhangs hervorgehoben, was Pascal damit in Verbindung bringt, dass der Schreiber einen besonderen Standpunkt beziehe, „von dem aus er sein Leben interpretiert“. Dieser befähige ihn dazu, „sein Leben als eine Art Einheit zu sehen, als etwas, das auf eine Ordnung zurückgeführt werden kann“. Stärker als Gusdorf betont Pascal das Moment der „Formung“ der wiedergegebenen Vergangenheit: Der Autobiograph lege „einem Leben ein Muster (,pattern‘) unter“, er gliedere ein Leben „in bestimmte Stationen“, verbinde sie miteinander und stelle, „stillschweigend oder ausdrücklich, eine bestimmte Konsequenz in der Beziehung zwischen Ich und Umwelt fest“.17 Autobiographie bedeute somit Selektion, so Pascal: „Unterscheidung und Auswahl angesichts der endlosen Vielschichtigkeit des Lebens, Auswahl von Tatsachen, Verteilung der Akzente, Wahl des Ausdrucks“.18 In diesem Kontext weist er darauf hin, dass die autobiographische Darstellung aus der Perspektive eines Individuums erfolgt und folglich keinen Anspruch auf Objektivität erheben kann: „Der 14 15 16 17 18
Ebd., S. 127 – 129. Ebd., S. 133. Ebd., S. 131. Roy Pascal: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. Stuttgart, Berlin u. a., S. 21. Ebd., S. 22.
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Autobiograph berichtet nicht Tatsachen, sondern Erfahrungen, d. h. die Wechselwirkung zwischen Mensch und Tatsachen oder Ereignissen.“19 Abgrenzungen, Übergänge 1: Die Biographie Ausgehend von diesen Festlegungen, lässt sich ein Blick auf die ,Nachbargattungen‘ innerhalb des Life-Writing-Spektrums werfen. Als Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen seien Genres bzw. Gattungen mit Fredric Jameson als „literarische Institutionen oder Gesellschaftsverträge zwischen einem Schriftsteller und einer Öffentlichkeit“ verstanden, „deren Funktion es ist, den rechten Gebrauch eines bestimmten kulturellen Artefaktes zu spezifizieren“.20 In diesem Sinn ist ihre Relevanz zu sehen: im Hinblick „auf die Schreibkonventionen, die sie ihren Autoren vorgeben, und auf die Lektürekonventionen und Effekte, die sie beim Leser auslösen“; aus deren Untersuchung lässt sich eruieren, „wie Genres Diskurse organisieren, wie sie Wissen und Bedeutung generieren und strukturieren“.21 In besonderem Maß drängt sich ein Vergleich mit jenem Genre auf, dessen Name in der Bezeichnung ,Autobiographie‘ bereits explizit enthalten ist: mit der Biographie.22 Historisch bestand zwischen beiden eine intensive Wechselbeziehung. Lange Zeit wurde die Autobiographie als Subkategorie der Biographie verstanden, vor allem, solange man sich hauptsächlich auf den Anteil des ,bios‘ konzentrierte, auf den in19 Ebd., S. 29. 20 Fredric Jameson: Das politische Unbewußte. Literatur als Symbol sozialen Handelns. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 105. 21 Nicole Seifert: Von Tageb chern und Trugbildern. Die autobiographischen Aufzeichnungen von Katherine Mansfield, Virginia Woolf und Sylvia Plath. Berlin 2008 (= Kaleidogramme, Bd. 34), S. 13. – Vgl. dazu auch Tzvetan Todorovs Verständnis von Genres „as ,horizons of expectation‘ for readers, and as ,models of writing‘ for authors“; ders.: „The Origin of Genres“. In: New Literary History 8 (1976) H. 1, S. 159 – 170, hier S. 163. 22 Zum aktuellen Stand der Diskussion vgl. Christian Klein: „Biographik zwischen Theorie und Praxis. Versuch einer Bestandsaufnahme“. In: Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis biographischen Schreibens. Hg. v. Christian Klein. Stuttgart, Weimar 2002, S. 1 – 22. Für einen historischen Überblick über das Genre vgl. die einschlägigen Titel in der Auswahlbibliographie des vorliegenden Bandes, S. 537 – 546. Vgl. außerdem den Band Spiegel und Maske. Konstruktionen biographischer Wahrheit. Hg. v. Bernhard Fetz u. Hannes Schweiger. Wien 2006 (= Profile, Bd. 13).
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haltlichen Aspekt des dargestellten Lebens.23 Laura Marcus weist auf einen 1866 publizierten Aufsatz von A. O. Prickard mit dem Titel „Autobiography“ hin, in dem als Abgrenzungskriterium angegeben wird, die Autobiographie befasse sich vor allem mit dem Bereich des Gedanklichen, während die Aufmerksamkeit der Biographie eher auf den Bereich der Handlung bzw. des öffentlichen Lebens gerichtet sei.24 In Bezug auf das 19. Jahrhundert in Deutschland spricht Günter Oesterle von einer historisch wechselseitigen Konjunktur von Autobiographie und Biographie – es sei „eine bislang ungeschriebene Geschichte von Geben und Nehmen, Konkurrieren und Unterdrücken“. Während der Konjunktur der Biographie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beobachtet er z. B. einen Niedergang der Autobiographie, „bis zu dem speziellen Punkt, an dem man von der Verdrängung des Selbst, des Autobiographischen, im Andern der Biographie“ sprechen könne.25 Für die theoretische Diskussion folgenreich war die Konstellation, die im Denken Wilhelm Diltheys zwischen Autobiographie und Biographie besteht. Seine Auseinandersetzung mit den beiden Gattungen vollzieht sich innerhalb seiner Konzeption des „Verstehens“ als zentraler Kategorie des menschlichen Zugangs zum Leben. Davon ausgehend, sieht er die „Selbstbiographie“ als die „höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt“. Sie ist für ihn die „zu schriftstellerischem Ausdruck gebrachte Selbstbesinnung des Menschen über seinen Lebenslauf“.26 Indem diese „Besinnung über den eigenen Lebensverlauf auf das Verständnis fremden Daseins übertragen“ werde, entstehe die Biographie als „literarische 23 Vgl. Smith u. Watson: Reading Autobiography, S. 123. 24 Vgl. Laura Marcus: Auto/Biographical Discourse. Criticism, Theory, Practice. Manchester, New York 1994, S. 38. 25 Günter Oesterle: „Die Grablegung des Selbst im Anderen und die Rettung des Selbst im Anonymen. Zum Wechselverhältnis von Biographie und Autobiographie in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Friedrich Theodor Vischers Auch einer“. In: Vom Anderen und vom Selbst. Beitr ge zu Fragen der Biographie und Autobiographie. Hg. v. Reinhold Grimm u. Jost Hermand. Königstein i. Ts. 1982, S. 45 – 70, hier S. 49. 26 Wilhelm Dilthey: „Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft. Erster Teil: Erleben, Ausdruck und Verstehen“. In: ders.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt/M. 1970, S. 233 – 272, hier S. 246 f.
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Form des Verstehens von fremdem Leben“.27 Auch bei Dilthey findet sich das schon oben in Bezug auf Gusdorfs Aufsatz (repräsentativ für die traditionelle Autobiographie-Theorie) besprochene Element der Kohärenz: „In allem Geistigen finden wir Zusammenhang“, den wir „vermöge der Einheit des Bewußtseins“ auffassen.28 Entscheidend für sein Verständnis der Biographie ist die Kategorie der Identität, der „Selbigkeit“ – dadurch werde der Lebensverlauf durch das Bewusstsein „in seiner Abfolge zusammengehalten“, und alle „Momente des Lebens“ hätten darin ihre Grundlage. „Das Diskrete ist zur Kontinuität verbunden.“29 Etwa eine Generation später vollzog sich vor allem im englischsprachigen Bereich im Zeichen der ,New Biography‘ eine folgenreiche Annäherung zwischen Biographie und Autobiographie. Indem der Biograph nicht mehr als neutraler, objektiver Registrator der wiederzugebenden Lebensgeschichte gesehen, sondern ihm eine aktive Beziehung zum biographischen Objekt zugewiesen wurde, entwickelte sich die Biographie nach diesem Konzept zu einer Art autobiographischem Projekt.30 Virginia Woolf sah in ihrem Essay über „The New Biography“ im Biographen ausdrücklich nicht mehr einen Chronisten, sondern einen „artist“, einen Künstler.31 André Maurois trat in seinem einflussreichen Buch Aspects of Biography dafür ein, die Biographie als persönliches Ausdrucksmittel zu verstehen, indem ihr Autor bei der Entscheidung für sein Thema einem heimlichen Bedürfnis seiner ei27 Wilhelm Dilthey: „Die Biographie“. In: ders.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 303 – 310, hier S. 305. 28 Dilthey: „Plan der Fortsetzung“, S. 240. 29 Dilthey: „Die Biographie“, S. 305. 30 Vgl. Marcus: Auto/biographical discourses, S. 90. – In einem Aufsatz zum Selbstverständnis der ,New Biography‘ zählt Marcus folgende Ziele auf: „a new equality between biographer and subject, by contrast with the hero-worship and hagiography of Victorian eulogistic biography; brevity, selection, and an attention to form and unity traditionally associated with fiction rather than history; the discovery of central motifs in a life and of a ,key‘ to personality, so that single aspects of the self or details of the life and person came to stand for or to explain the whole; and a focus on character rather than events“; dies.: „The Newness of the ,New Biography‘. Biographical Theory and Practice in the Early Twentieth Century“. In: Mapping Lives. The Uses of Biography. Hg. v. Peter France u. William St. Clair. Oxford, New York 2002, S. 193 – 218, hier S. 196. 31 Virginia Woolf: „The New Biography“. In: dies.: Collected Essays. Hg. v. Leonard Woolf. Bd. 4. London 1969, S. 220 – 235, hier S. 231.
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genen Natur folge: „It will be written with more natural emotion than other kinds of biography, because the feelings and adventures of the hero will be the medium of the biographer’s own feelings“; auf diese Weise werde sie bis zu einem gewissen Ausmaß „autobiography disguised as biography“.32 Während die Autobiographie üblicherweise die „Selbstbesinnung und Darstellung des menschlichen Bewußtseins“ wiedergebe, bringe man der Biographie die „Erwartung einer ganzheitlichen Darstellung der psychischen, der ,geistigen‘ Persönlichkeitsentfaltung“ entgegen, schreibt Neva Sˇlibar in ihrem vergleichenden Beitrag.33 Ähnlichkeiten zwischen den beiden Gattungen sieht sie vor allem in „den narrativen Prinzipien, den Identitätsbildungsmechanismen, den Erfahrungsorganisations- sowie den Sinnbildungsprozessen“. Die gravierendste Differenz bestehe darin, dass sich in der Autobiographie die „Identität von historisch-empirischem Aussage- und Referenzsubjekt“ in der „doppeldeutigen Ich-Form“ manifestiere, während der Erzähler einer Biographie in der Er-Form seinem Lesepublikum gegenüber von einer dritten Person, seinem biographischen Objekt, spreche.34 Wenn die traditionelle Forschung zwischen Biographik und Autobiographik unterscheide, so konzentriere sie sich auf einige wenige Kriterien: auf die Perspektive, die sich in der Biographie von außen nach innen, in der Autobiographie hingegen von innen nach außen richte; auf die „Gestaltung und Faktenpräsentation“, die in der Autobiographie subjektiv, in der Biographie objektiv intendiert sei; sowie auf die Tatsache, dass in der Autobiographie Lebensentwürfe und -möglichkeiten einbezogen werden können, während sich die traditionelle Biographie „an die historischen Tatsächlichkeiten“ zu halten habe.35 Die neuere Theorie zur Biographieschreibung hält diese klaren Abgrenzungen längst nicht mehr strikt aufrecht. Christian von Zimmermann betont, dass die Trennung zwischen Fakten und Fiktionen nicht in der früher unterstellten Deutlichkeit existiere. Die Subjektivität des Biographen trage zum stets mit zu kalkulierenden Element der Stilisierung bei; die „Gegenwart des Biographen“ lasse sich, entgegen
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André Maurois: Aspects of Biography. London 1929, S. 111. Sˇlibar: „Biographie, Autobiographie – Annäherungen, Abgrenzungen“, S. 391. Ebd., S. 392, 394. Ebd., S. 393.
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allen Objektivierungsbestrebungen, nicht leugnen.36 In Reaktion auf eine solche komplexere Sicht auf die biographische Praxis hat sich eine eigene Gattung herausgebildet, die Ansgar Nünning als „biographische Metafiktion“ bzw. „fiktionale Metabiographie“ bezeichnet hat: „Fiktionale Metabiographien rücken den Prozeß der imaginativen Rekonstruktion und Darstellung des Lebens einer (mehr oder weniger) berühmten Person“ ins Zentrum, sie verlagern den Akzent „von der Darstellung des Lebenslaufes eines Dichters auf die Probleme des Biographen bei der Rekonstruktion von dessen Lebensgeschichte“.37 Oesterle weist auf Möglichkeiten der Korrelation zwischen Autobiographie und Biographie hin, die auf eine „werkimmanente, werkstrukturelle Überlagerung und Verschränkung von Autobiographischem und Biographischem“ hinauslaufen. Man könne innerhalb einer Autobiographie unterschiedliche Beobachtungspositionen einnehmen, die im Spannungsfeld zwischen „Selbst- und Fremdbeobachtung“ angesiedelt seien: einerseits in der einfachen Weise der „Selbstdarstellung durch Fremdcharakterisierung in der Art von episodisch eingelegten, biographischen Porträts“, etwa des Vaters, der Mutter, der Freunde; andererseits mit Hilfe komplizierterer Formen der Selbstdarstellung, etwa der „Selbststilisierung als Widerspiel zur Einschätzung durch die anderen oder gar der Durchsetzung des Blicks der anderen auf das Selbst in der Autobiographie“.38 Gunnthórunn Gudmundsdóttir geht dieser Einbettung biographischer Elemente in der Autobiographie am Beispiel mehrerer Texte nach, z. B. von Handkes Erzählung Wunschloses Ungl ck oder Paul Austers Text The Invention of Solitude, den sie in der Überschrift des entsprechenden Kapitels als „Autobiographical Attempt at Biography“ liest.39
36 Christian von Zimmermann: „Einleitung“. In: Fakten und Fiktionen. Strategien fiktionaler biographischer Dichterdarstellungen in Roman, Drama und Film seit 1970. Hg. v. Christian von Zimmermann. Tübingen 2000, S. 1 – 13, hier S. 4 – 7. 37 Ansgar Nünning: „Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion. Prolegomena zu einer Theorie, Typologie und Funktionsgeschichte eines hybriden Genres“. In: Fakten und Fiktionen. Hg. v. Zimmermann, S. 15 – 36, hier S. 19. 38 Oesterle: „Die Grablegung des Selbst im Anderen“, S. 45. 39 Gunnthórunn Gudmundsdóttir: Borderlines. Autobiography and Fiction in Postmodern Life Writing. Amsterdam, New York 2003 (= Postmodern Studies, Bd. 33), S. 208.
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Abgrenzungen, Übergänge 2: Roman Ein weiterer Vergleich, der sich aufgrund der historischen Nachbarschaft der Gattungen ergibt, lässt sich zwischen Autobiographie und Roman anstellen. Der Kritiker und Literaturwissenschaftler Northrop Frye zeichnet in seiner Anatomy of Criticism eine fruchtbare Wechselbeziehung zwischen den beiden Genres nach. Er ordnet die Autobiographie ins Genre der „prose fiction“ ein, wobei er sie im Untergenre der „confession form“ aufgehen lässt. Er sieht die meisten Autobiographen von dem – als fiktional anzusehenden – Impuls angetrieben, nur jene Ereignisse und Erfahrungen auszuwählen, die sich in ein integratives Muster des eigenen Lebens fügen. Eine solche Prosaform, die sich an der Kohärenz der Hauptfigur und ihres Charakters orientiert, folge dem Vorbild des Augustinus und habe bei Rousseau ihre moderne Variante gefunden. Mit Letzterem fließe sie in den Roman ein; aus dieser Mischung ergäben sich neue Formen: die fiktionale Autobiographie, der Künstlerroman etc. „Autobiography is [a] form which merges with the novel by a series of insensible gradations.“40 An Frye anknüpfend, vertreten Robert Kellogg und Robert Scholes die Auffassung, dass sich mit der Ausdehnung von Rousseaus Modell der Suche („quest“) nach dem Selbst und seiner subjektivistischen Vision auf den Roman zwischen den Genres von „confession“ und „novel“ keine klare Unterscheidung mehr aufrechterhalten lasse. Der Zusammenschluss zwischen Roman und Autobiographie (und Biographie) resultiere aus einem „modern skepticism of knowing anything about human affairs in an entirely objective (non-fictional) way“.41 Die Wissenschaft habe gezeigt, dass die Unterscheidung des Aristoteles zwischen faktischer Historie und Fiktion nur eine graduelle, aber keine grundsätzliche sei. „Because we apprehend reality through culturally determined types, we can report the most particular event only in the form of a representational fiction […] rather than according to absolute truth.“42 Wayne Shumaker hat den Unterschied zwischen Roman und Autobiographie hinsichtlich deren Zielsetzung lapidar auf den Punkt zu bringen versucht: Wenn der Autor sich bei seinem wirklichen Namen nenne und so verstanden werden wolle, dass er „wahrheitsgetreu“ über 40 Northrop Frye: Anatomy of Criticism [1957]. Harmondsworth 1990, S. 307. 41 Robert Kellogg u. Robert Scholes: The Nature of Narrative. London, Oxford, New York 1966, S. 151. 42 Ebd.
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seinen Charakter und seine Handlungen schreibe, so handle es sich um eine Autobiographie, auch wenn dort einige nicht wahrheitsgetreue Details enthalten sein mögen; gebe sich der Autor jedoch einen erfundenen Namen bzw. wolle er als jemand verstanden werden, „der Fiktion schreibt“, dann sei das Werk „Fiktion“, auch wenn es eine ganze Reihe autobiographischer Fakten enthalte.43 Carola Hilmes meint, dass sich ohne die „Grundannahme der Referenz“ nicht sinnvoll zwischen Roman und Autobiographie unterscheiden lasse: Die „referentielle Letztbegründung“ des Genres Autobiographie sei „unumgänglich“, wenn man sich nicht „in Selbstwidersprüche verwickeln oder zum Propagandeur postmoderner Beliebigkeiten werden“ wolle.44 In mehreren Arbeiten zum Thema wird jedenfalls betont, dass die Autobiographie eine große Zahl an literarischen Verfahrensweisen mit dem Roman teilt, sodass rein aufgrund textimmanenter Beobachtungen keine überzeugende Abgrenzung zwischen beiden zu begründen sei. Als Beispiel sei Albert Stone zitiert, der als gemeinsame Merkmale anführt: „narration with its characteristics of pace and momentum; metaphors of self through which verbal patterns and bridges are constructed from narrative details; description, reflection, argument, and meditation; and other common literary features, including characterization, dialogue, dramatic scenes, and synecdoche“.45 Elizabeth Bruss zeigt an zwei Textstellen von Vladimir Nabokov (aus dem frühen Roman Glory und aus seiner Autobiographie Speak, Memory), dass zwischen dem autobiographischen und dem fiktionalen Text kein formaler Unterschied zu erkennen ist. Sie versucht deshalb unter Bezugnahme auf die Beschreibung der illokutionären Sprechakte durch John Austin festzuhal43 Wayne Shumaker: „Die englische Autobiographie. Gestalt und Aufbau“ [1954]. In: Die Autobiographie. Hg. v. Niggl, S. 75 – 120, hier S. 120. 44 Carola Hilmes: Das inventarische und das inventorische Ich. Grenzf lle des Autobiographischen. Heidelberg 2000, S. 390. 45 Albert E. Stone: „Modern American Autobiography: Texts and Transactions“. In: American Autobiography: Retrospect and Prospect. Hg. v. Paul John Eakin. Madison 1991, S. 95 – 120, hier S. 104. – Vgl. auch Rolf Tarot, der folgende Analogien zwischen Autobiographie und Ich-Roman anführt: „die Darstellung aus der Rückschau; die Identität zwischen erzählendem und erzähltem Ich; die Spannung des Verhältnisses der Gegenwarts- und der Vergangenheitsschicht; die Auswahl und Anordnung des Stoffes; die Möglichkeit des Vor- und Rückgriffs in der Chronologie“; ders.: „Die Autobiographie“. In: Prosakunst ohne Erz hlen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa. Hg. v. Klaus Weissenberger. Tübingen 1985 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 34), S. 27 – 44, hier S. 36 f.
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ten, welche Sprechhandlung die Wahrnehmung eines Texts als Autobiographie fundiert. Dafür stellt sie mehrere Regeln auf, z. B. eine erste, die ausdrücklich von der Verantwortung des Autobiographen ausgeht: (a) The author claims individual responsibility for the creation and arrangement of his text. (b) The individual who is exemplified in the organization of the text is purported to share the identity of an individual to whom reference is made via the subject matter of the text. (c) The existence of this individual, independent of the text itself, is assumed to be susceptible to appropriate public verification procedures.46
Eine weitere Regel bezieht sich auf die Frage nach der Wahrheit: (a) Under existing conventions, a claim is made for the truth-value of what the autobiography reports – no matter how difficult that truth-value might be to ascertain, whether the report treats of private experiences or publicly observable occasions. (b) The audience is experienced to accept these reports as true, and is free to ,check up‘ on them or attempt to discredit them.47
Ebenfalls von der Position der Rezipienten aus argumentiert die wohl meist zitierte Formulierung eines derartigen Lektürevertrags: Nach Philippe Lejeune setzt die „Autobiographie (Erzählung, die das Leben des Autors schildert)“ voraus, dass „zwischen dem Autor (wie er namentlich auf dem Umschlag steht), dem Erzähler und dem Protagonisten der Erzählung Namensidentit t besteht“.48 Für den Leser sei die Autobiographie somit „in erster Linie durch einen Identitätsvertrag definiert, der durch den Eigennamen besiegelt wird“, durch den viel beschworenen „autobiographischen Pakt“.49 Mit Bezug auf die Unterscheidung zwischen „Identität“ und „Ähnlichkeit“ wendet sich Lejeune allerdings gegen die Auffassung, die Autobiographie sei lediglich ein Sonderfall der Biographie. Zwar seien beide „referentielle Texte“: Sie stellen den „Anspruch, eine Information über eine außerhalb des Textes liegende ,Realität‘ zu bringen“ und schließen somit einen „Referenzpakt“, der sie darauf verpflichtet, sich einer „Wahrheitsprobe zu unterwerfen“.50 Doch die Differenz bestehe in der „Rangordnung der hnlichkeits- und Identit tsbeziehungen“. Während in der Biographie die 46 Elizabeth W. Bruss: Autobiographical Acts. The Changing Situation of a Literary Genre. Baltimore 1976, S. 10 f. 47 Ebd., S. 11. 48 Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 25. 49 Ebd., S. 36. 50 Ebd., S. 39 f.
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Ähnlichkeit (zwischen dem Protagonisten im Text und dem außertextuellen Referenten) die Identität begründen müsse, begründe in der Autobiographie die Identität die Ähnlichkeit: „Die Identit t ist der reale Ausgangspunkt der Autobiographie; die hnlichkeit ist der unmçgliche Horizont der Biographie.“51 Abgrenzungen, Übergänge 3: Memoiren, Tagebuch Ehe wir uns mit der Kritik an den von Gusdorf und anderen Theoretikern vorgeschlagenen Festlegungen befassen, seien noch zwei weitere Life-Writing-Genres in die Serie der Vergleiche einbezogen. Von Anfang an wurde in der theoretischen Auseinandersetzung mit der Autobiographie besonderes Augenmerk auf den Unterschied zum Genre der Memoiren gelegt – war doch der Begriff noch vor der Einführung des Terminus ,Autobiographie‘ in Gebrauch, wobei er im Wesentlichen jede längere Prosa-Erzählung des eigenen Lebens einschloss, ehe sich nach der Entstehung einer bürgerlichen Kultur die Autobiographie im engeren Sinn herausbildete: als ganzheitliche, auf die Darstellung des Charakters einer Person aus der Innensicht und auf dessen kontinuierliche Herausbildung konzentrierte Lebensbeschreibung. Von dieser Festlegung ausgehend, werden in neueren Definitionsversuchen nun auch die Memoiren von der Autobiographie abgegrenzt. Im eingangs bereits zitierten Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft kann man lesen, sie würden „im Gegensatz zur Autobiographie auf die detailreiche Wiedergabe innerer Erfahrungen“ verzichten und „vornehmlich über (häufig historiographisch relevante) Erlebnisse in Beruf und Gesellschaft sowie über Begegnungen mit bekannten Zeitgenossen“ berichten.52 Im Grunde gebe es zwischen beiden keine scharfe Grenze, meint Pascal, „beide gründen auf persönlichen Erlebnissen und deren Reflexion, beide sind chronologisch angelegt“. Ein prinzipieller Unterschied zeige sich jedoch: In der „echten Autobiographie“ konzentriere sich die Aufmerksamkeit des Autors „auf die eigene Person“, in Memoiren „auf andere“.53 Ein weiterer Abgrenzungsversuch bezieht sich darauf, dass Memoiren eher aus Fragmenten oder einzelnen Epi51 Ebd., S. 42. 52 Lehmann: „Autobiographie“, S. 169. 53 Pascal: Die Autobiographie, S. 16.
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soden bestünden, die sich jeweils auf einen spezifischen, partikulären Aspekt aus dem Leben des Autors bezögen: Die Unterscheidung, die zumeist getroffen werde, sei jene „between autobiography as the evocation of a life as a totality, and ,memoirs‘ which offer only an anecdotal depiction of people and events“.54 Grundlegende Bedeutung gewinnt die Unterscheidung zwischen Memoiren und Autobiographie in Bernd Neumanns Studie Identit t und Rollenzwang, in der er ein historisch-soziologisch argumentierendes Beschreibungsmodell für die beiden Gattungen entwickelt. Neumann geht von David Riesmans Untersuchung The Lonely Crowd (1950; dt. Die einsame Masse, 1958) aus und postuliert in Analogie zu Riesmans Unterscheidung zwischen traditions-, innen- und außengeleiteten Charakteren eine Aufeinanderfolge der entsprechenden Gattungen (des Life-Writing, wie wir heute hinzufügen würden). Aus seiner Sicht entsprechen der Tatenbericht (res gestae) und die Memoiren dem traditionsgeleiteten, von den Bräuchen und Ritualen der Familie und ihres gesellschaftlichen Standes stabilisierten Charakter: Der Memoirenschreiber vernachlässige „die Geschichte seiner Individualität zugunsten der seiner Zeit“, er stelle nicht sein „Werden und Erleben“ dar, sondern sein „Handeln als sozialer Rollenträger“ und die „Einschätzung, die dies durch die anderen erfährt“.55 Demgegenüber beschreibe die Autobiographie „das Leben des noch nicht sozialisierten Menschen, die Geschichte seines Werdens und seiner Bildung, seines Hineinwachsens in die Gesellschaft“.56 Sie breche ab, sobald das Individuum seine Identität erreicht habe, sobald es in die Gesellschaft integriert sei. Mit dem von Riesman beschriebenen außengeleiteten Individuum sei allerdings die Basis für die „hochbürgerliche Autobiographie“ (Neumann) verloren gegangen; „die festumrissene, unverwechselbare Persönlichkeit, deren Wachstum dargestellt werden soll“, gebe es in der Folge von Kapitalismus, Industrialisierung und Urbanisierung nicht mehr.57 54 Marcus: Auto/biographical discourses, S. 3. 55 Bernd Neumann: Identit t und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt/M. 1970, S. 12. 56 Ebd., S. 25. 57 Ebd., S. 183 f. – Eine neuere historisch-soziologisch argumentierende Darstellung der Autobiographie, in der die ästhetische Reflexivität der Gattung in Deutschland zum Katalysator individueller Modernisierung wird, bieten Peter Alheit u. Morten Brandt: Autobiographie und sthetische Erfahrung. Entdeckung und Wandel des Selbst in der Moderne. Frankfurt/M. 2006.
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Auch Vorschläge für eine Abgrenzung der Autobiographie vom Tagebuch sind schon in den frühen Bestimmungsversuchen zu diesem Genre zu finden. Während erstere von einem bestimmten Zeitpunkt ausgehend auf ein Leben zurückblicke, bewege sich das Tagebuch „mit der Zeit vorwärts in einer Serie von Zeitpunkten“, liest man bei Pascal.58 Der Verfasser eines Tagebuchs schreibe „Tag für Tag seine Eindrücke und Stimmungen nieder“ und halte dadurch „das Bild seiner tagtäglichen Wirklichkeit fest, ohne sich im geringsten um die Kontinuität zu kümmern“, meint Gusdorf, während sich das Individuum in der Autobiographie aus der Position der Selbst-Distanz heraus „in seiner Einheit und Identität im Verlauf der Zeit“ wiederherstelle.59 Peter Boerner betont, davon ausgehend, den „erlebnisnahen Moment der Niederschrift“ und bestimmt als Inhalt des Tagebuchs „weithin ungeformte Gegenwart“.60 Noch mehr als im Fall der Autobiographie wird für dieses Genre besondere Authentizität reklamiert.61 Allerdings wurde auch hier bald darauf hingewiesen, wie sehr das diarische Ich gerade in den moderneren Varianten der Gattung „fiktionalisiert“ erscheint: „An Stelle des unverhüllten Autor-Ich des ,intimen‘ Journalschreibers tritt nunmehr ein auktoriales Rollen-Ich, das das vorhandene Material sichtet, auswählt und nach Belieben manipuliert.“62 Und auch die scheinbar radikal monologische Ausrichtung, die – anders als bei der von vornherein auf ein Publikum bezogenen Autobiographie – aus der vermeintlich ausschließlich auf die eigene Lektüre eingeschränkten „Kommunikation mit sich selbst“ zu resultieren scheint63, wird mittlerweile angezweifelt: Nicht erst die Möglichkeit einer späteren Publikation, sondern bereits die „Vorstellung des zukünftigen Wiederlesens“ machen das Tagebuch letztlich zu einer „durch und durch dialogischen Form“.64 58 59 60 61
Pascal: Die Autobiographie, S. 13. Gusdorf: „Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie“, S. 130. Peter Boerner: Tagebuch. Stuttgart 1969 (= Sammlung Metzler, Bd. 85), S. 13. Vgl. z. B. Claus Vogelgesang: „Das Tagebuch“. In: Prosakunst ohne Erz hlen. Hg v. Weissenberger, S. 185 – 202, hier S. 185: „In jedem Tagebuch reflektiert sich ein authentisches Ich.“ 62 Gerhard P. Knapp: „,Das Weiße zwischen den Worten‘. Studien zur Entwicklung und zur Ästhetik des literarischen Tagebuchs der Moderne“. In: Sprachkunst 28 (1997), S. 291 – 319, hier S. 293. 63 Rüdiger Görner: Das Tagebuch. München, Zürich 1986 (= Artemis Einführungen, Bd. 26), S. 11. 64 Christiane Holm: „Montag Ich. Dienstag Ich. Mittwoch Ich. Versuch einer Phänomenologie des Diaristischen“. In: Absolut? Privat! Vom Tagebuch zum
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In einem frühen Aufsatz zu diesem Genre versteht Wilhelm Grenzmann die beiden hier verglichenen Formen des Life-Writing jeweils als Ausdruck einer bestimmten menschlichen Grundhaltung: Während die Autobiographie den „Menschen fester Ordnungen“ zeige, artikuliere sich im Tagebuch der „Problematiker, der immer auf der Suche ist“.65 Neueren Datums ist die Einschätzung Nicole Seiferts, wonach dem Tagebuch angesichts aktueller Tendenzen in der kulturwissenschaftlichen Forschung besondere Relevanz zu konzedieren sei: Seine „Fragmenthaftigkeit“ mache es zum „literarischen Äquivalent eines Paradigmenwechsels, der an die Stelle von Vollständigkeit das Vorläufige und Unabgeschlossene setzt“.66 Nicht zufällig wird dem Tagebuch in einer 2008 erschienenen Aufsatzsammlung zu „Genre und Gender“ (und mit ihm übrigens auch der Autobiographie) besondere Attraktivität bescheinigt – einerseits als eine jener Gattungen, die sich vehement dem einst propagierten „Tod des Autors“ widersetzen67, andererseits weil „anhand dieser Repräsentationsformen gerade die Dekonstruktion unmittelbarer Präsenz und Authentizität besonders deutlich“ werde.68 (In-)Fragestellungen: Von der Referentialität zu Performanz und ,narrativer Identität‘ Nach James Olney war die erste Phase der theoretischen Auseinandersetzung mit der Autobiographie durch eine recht naive dreifache Grundannahme geprägt: first, that the bios of autobiography could signify „the course of a lifetime“ or at least a significant portion of a lifetime; second, that the autobiographer
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Weblog. Hg. v. Helmut Gold, Christiane Holm u. a. Heidelberg 2008 (= Kataloge der Museumsstiftung Post und Telekommunikation, Bd. 26), S. 10 – 50, hier S. 31. Wilhelm Grenzmann: „Das Tagebuch als literarische Form“. In: Wirkendes Wort 9 (1959), S. 84 – 93, hier S. 85. Seifert: Von Tageb chern und Trugbildern, S. 144. Vgl. dazu Roland Barthes: „Der Tod des Autors“. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. v. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer u. a. Stuttgart 2000, S. 185 – 193. Renate Hof: „Einleitung: Gender und Genre als Ordnungsmuster und Wahrnehmungsmodelle“. In: Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay. Hg. v. Renate Hof u. Susanne Rohr. Tübingen 2008 (= Stauffenburg Colloquium, Bd. 64), S. 7 – 24, hier S. 7.
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could narrate his life in a manner at least approaching an objective historical account and make of that internal subject a text existing in the external world; and third, that there was nothing problematical about the autos, no agonizing questions of identity, self-definition, self-existence, or self-deception.69
Einige der zentralen Voraussetzungen für die oben skizzierte Konzeption von ,Autobiographie‘ wurden jedoch zunehmend in Zweifel gezogen. Eine davon war ihr Wahrheitsanspruch, der nach der traditionellen Vorstellung ein wesentliches Charakteristikum der Autobiographie bildet – der Autor habe, so Ingrid Aichinger, meist den deklarierten „Willen zur Aufrichtigkeit“, wobei freilich „jene Vorstellung von seiner Persönlichkeit, deren Wahrheit er oftmals versichert, in seine Selbstdarstellung eingeht“.70 Die Frage nach der Übereinstimmung mit einer wie auch immer zugänglichen Wirklichkeit hatte sich schon in der Frühzeit der Autobiographieforschung gestellt. Georg Misch geht in seinem grundlegenden, vierbändigen Werk zur Geschichte der Autobiographie (ab 1907) davon aus, dass die Wahrheit der Autobiographie „nicht so sehr in den Teilen zu suchen ist, als in dem Ganzen, das mehr ist als die Summe der Teile“. Außerdem, so fügt er hinzu, werde „auch der geschickteste Lügner uns durch die erfundenen oder aufgeputzten Geschichten, die er von sich erzählt, nicht über seinen wahren Charakter täuschen“ können; er offenbare ihn „durch den Geist, in dem er lügt“.71 Pascal hingegen betrachtet die „Verfälschung der Wahrheit durch den Akt der erinnernden Besinnung“ als ein „so grundlegendes Merkmal der Autobiographie“, dass man sie „als deren notwendige Bedingung bezeichnen“ müsse72 ; die Verfasser von Autobiographien würden stets die Vergangenheit so darstellen, „wie sie [ihrem] Geist erscheint“, und nicht, wie sie tatsächlich war.73 Schwerer als die von Pascal betonte Subjektivität des Individuums wiegt für Shumaker die kaum zu überbrückende Differenz zwischen zwei Zeitebenen, „der Abfassungszeit und des beschriebenen Aktes oder Seelenzustands“: 69 Olney: „Autobiography and the Cultural Moment“, S. 20. 70 Ingrid Aichinger: „Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk“. In: Die Autobiographie. Hg. v. Niggl, S. 170 – 199, hier S. 183. 71 Georg Misch: „Begriff und Ursprung der Autobiographie“. In: Die Autobiographie. Hg. v. Niggl, S. 33 – 54, hier S. 45. Dieser Beitrag vereint Ausschnitte aus verschiedenen Fassungen der Einleitung zur Geschichte der Autobiographie (1. Aufl., 1907, 3. Aufl., 1949). 72 Pascal: Die Autobiographie, S. 90. 73 Ebd., S. 89.
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Seiner Meinung nach betrachten Autobiographien grundsätzlich „das, was war, im Lichte dessen, was ist“.74 Noch radikaler verweist Louis Renza auf die Unzugänglichkeit des vergangenen Geschehens, das im Akt des Schreibens vergegenwärtigt werde, aber letztlich nicht mehr wiederzugewinnen sei.75 „In the act of remembering the past in the present“, folgert Olney, „the autobiographer […] is not the same, in any real sense“; auch die vergangene Welt sei von der gegenwärtigen durch eine unüberschreitbare Grenze getrennt.76 Das von Pascal ins Spiel gebrachte Organ, das uns die zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart abgelaufene Zeit überbrücken helfen soll, ist in den letzten Jahren ins Zentrum der Betrachtung gerückt: das Gedächtnis. Gehirnforscher haben herausgefunden, dass wir neben dem „prozeduralen“ (zuständig für automatische ablaufende Fertigkeiten) und dem „semantischen“ (für sukzessiv erworbene Kenntnisse) auch über das „episodische“ Gedächtnis verfügen, das als Grundlage für das „autobiographische Gedächtnis“ fungiert.77 Einer der prominentesten dieser Wissenschaftler, der Nobelpreisträger Eric Kandel, schrieb die Geschichte seiner Forschungen sogar in Form einer viel beachteten Autobiographie nieder.78 Das menschliche Gedächtnis bewahrt nicht das Erlebnis selbst, sondern die Vorstellung, wobei es selektiv vorgeht und die ausgewählten Daten stets in bestimmten Sinnzusammenhängen verknüpft, welche ständigen „Perspektivenverschiebungen und Akzentverlagerungen“ unterliegen.79 Dieser Umstand hat Konsequenzen für das Verständnis von ,autobiographischer Wahrheit‘: „[A]utobio74 Shumaker: „Die englische Autobiographie“, S. 90. 75 Louis Renza: „The Veto of the Imagination: A Theory of Autobiography“. In: Autobiography. Hg. v. Olney, S. 268 – 295. Für Renza ist die Autobiographie weder „fiction“ noch „non-fiction“, sondern „a unique, self-defining mode of self-referential expression, one that allows, then inhibits, its ostensible project of self-representation, of converting oneself into the present promised by language“ (ebd., S. 295). 76 James Olney: „Some Versions of Memory / Some Versions of Bios: the Ontology of Autobiography“. In: Autobiography. Hg. v. Olney, S. 236 – 267, hier S. 241. 77 Zur Erstinformation vgl. Michael O’Shea: Das Gehirn. Eine Einf hrung. Stuttgart 2008, S. 126. Ausführlicher zum Thema: Hans J. Markowitsch u. Harald Welzer: Das autobiographische Ged chtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart 2005, bes. S. 83 f., 186 – 208, 259 f. 78 Eric Kandel: Auf der Suche nach dem Ged chtnis. Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes. München 2006. 79 Aichinger: „Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk“, S. 181.
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graphical truth is not a fixed but an evolving content in an intricate process of self-discovery and self-creation.“80 Nicht nur die Vorstellung von autobiographischer Wahrheit, sondern auch die Behauptung einer ganzheitlichen Anlage der Autobiographie, von Konzepten narrativer Kohärenz und Kontinuität, wurde mit Nachdruck angezweifelt. Diesmal kamen die entsprechenden Interventionen nicht zuletzt von feministischer Seite.81 In ihrer Überblicksdarstellung der Autobiographien von Frauen, die von der traditionellen Forschung zuvor fast zur Gänze marginalisiert bzw. ignoriert worden waren82, wies Estelle Jelinek darauf hin, dass weibliche Autobiographien grundsätzlich eher „family, close friends, domestic activities“ beschreiben würden; „the emphasis remains on personal matters – not the professional, philosophical or historical events that are more often the subject of men’s autobiographies.“ Neben dieser Beobachtung, die sich gegen das – als männlich angesehene – Konzept vom abgegrenzten Einzelnen richtete, wurde vor allem Jelineks Bemerkung stark rezipiert, dass „in contrast to the self-confident, one-dimensional self-image that men usually project, women often depict a multidimensional, fragmented self-image“.83 Festlegungen wie die zitierten wurden alsbald als problematisch angesehen, weil sie gängige Klischees eher zu zementieren drohten, anstatt neue, befreiende Wege zu weisen. Andererseits unterstützte etwa auch die Psychoanalytikerin Nancy Chodorow in ihrem Buch Psychoanalysis and the Sociology of Gender (1978) die Erkenntnis, dass die weibliche Psychogenese anderen Mustern folgt als die auf individuelle Separation bedachte männliche und dabei zu einem eher relationalen, d. h. auf Identifizierung mit Anderen ausgerichteten Selbstverständnis 80 Paul John Eakin: Fictions in Autobiography. Studies in the Art of Self-Invention. Princeton, New Jersey 1985, S. 3. 81 Zur Einführung in die feministische Diskussion zur Autobiographie vgl. v. a. Sidonie Smith u. Julia Watson: „Introduction: Situating Subjectivity in Women’s Autobiographical Practices“. In: Women, Autobiography, Theory. A Reader. Hg. v. Smith u. Watson, S. 3 – 52. 82 Vgl. dazu Sidonie Smith: A Poetics of Women’s Autobiography. Marginality and the Fictions of Self-Representation. Bloomington 1987, S. 11 – 16. – Für einen einführenden Überblick vgl. Katherine R. Goodman: „Weibliche Autobiographien“. In: Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Hiltrud Gnüg u. Renate Möhrmann. Frankfurt/M. 2003, S. 166 – 176. 83 Estelle Jelinek: The Tradition of Women’s Autobiography: From Antiquity to the Present. Boston 1986, S. XIII.
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der Frau führt.84 Daraus entwickelte sich eine neue Konzeption von „relationality“ auch im Zusammenhang mit der Autobiographie: „[A woman’s] self often does not oppose herself to all others, does not feel herself to exist outside of others, […] but very much with others in an interdependent existence.“85 Als Beispiel für eine relationale Autobiographie wurde etwa Gertrude Steins Autobiography of Alice B. Toklas (1933) gelesen.86 Außerdem bewirkten Charakterisierungen weiblicher Autobiographien durch Kategorien wie „Fehlen linearer Entwicklungslinien zugunsten repetitiver, reihender, zyklischer Strukturen, Schilderungen des Alltäglichen, Prozessualität statt Erreichen eines Endpunktes“ und „Aufgehen im Beschriebenen statt Distanz“87 eine folgenreiche Aufwertung von Life-Writing-Genres, die man bisher gegenüber der Autobiographie zurückgesetzt hatte, weil sie dem zuvor dominanten Schema von Totalität und Kontinuität nicht entsprochen hatten: „a widespread growth of interest in forms of personal writing, such as diaries, letters and journals, used not simply to supplement biographical knowledge of a significant figure but as texts in their own right“. Nun wurden diese als ,privat‘ angesehenen literarischen Ausdrucksformen, die oft durchaus für eine Veröffentlichung vorgesehen waren, neu definiert: als „some of the most important modes of selfexpression or self-construction for women, and ones that need to be included in any account of autobiography“.88 Alle genannten Konzepte gehen freilich nach wie vor „von der logischen Priorität eines spezifischen Lebenszusammenhanges oder -momentes vor dessen sprachlichem Ausdruck“ aus. Ihre erkenntnistheoretische Begründung liegt einerseits in der „Vorstellung des Subjekts als intentionalen Bewußtseins“, andererseits in der „Auffassung 84 Demnach fehle bei der weiblichen Sozialisation die durch das Dazwischentreten des Vaters erzwungene radikale Lösung von der Mutter, wie sie das männliche Kind erlebt. Dadurch bleibe die Identifizierung zwischen Mutter und Tochter auch im Erwachsenenleben der Frau untergründig bestehen; vgl. Marcus: Auto/biographical discourses, S. 219. 85 Susan Stanford Friedman: „Autobiographical Selves: Theory and Practice“. In: Women, Autobiography, Theory. Hg. v. Smith u. Watson, S. 72 – 82, hier S. 79. 86 Zur relationalen Biographik vgl. in diesem Band den Beitrag von Caítriona Ni Dhuíll: „Biographie von ,er‘ bis ,sie‘: Möglichkeiten und Grenzen relationaler Biographik“, S. 199 – 226. 87 Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 97. 88 Marcus: Auto/biographical discourses, S. 231.
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von Sprache als dessen transparenten Ausdrucksmediums“.89 Eine Art Umschlagspunkt hin zu einer Sichtweise, wonach in der Autobiographie mit Hilfe der Sprache erst eine Welt konstruiert werde, die es zuvor in dieser Form nicht gab, bildet die These James Olneys, das Selbst projiziere erst seine Sicht der Dinge in eine Welt hinein, die ansonsten keinen ,Sinn‘ in sich trage. Dabei betont er die Funktion der Metapher als dominante Trope der Autobiographie, mit deren Hilfe das subjektive Bewusstsein nicht nur in Bezug auf sich selbst Ordnung erzeuge, sondern auch hinsichtlich „as much of objective reality as it is capable of formalizing and of controlling“.90 In seiner Hervorhebung der Metapher als strukturierendes sprachliches Mittel trifft sich Olney mit Ira Bruce Nadel, der im Hinblick auf die Biographie ebenfalls auf der Beachtung ihrer sprachlichen Grundlagen insistiert hat. Bei ihm heißt es analog: „[M]etaphor simultaneously acts as the guiding or controlling trope of the subject’s life while also embodying or projecting the biographer’s conception of that life.“91 Eine radikale Abkehr von der Konzeption der autobiographischen Referenz auf eine sprachlich vermittelte Wirklichkeit formulierte 1979 Paul de Man in seinem breit rezipierten Aufsatz „Autobiography as DeFacement“. Er fragt darin, ob wir nicht mit der gleichen Berechtigung, wie wir annehmen, das Leben würde „die Autobiographie hervorbringen wie eine Handlung ihre Folgen“, davon ausgehen könnten, „das autobiographische Vorhaben würde seinerseits das Leben hervorbringen und bestimmen“.92 Für ihn ist die Autobiographie keine Gattung oder Textsorte, sondern eine „Lese- oder Verstehensfigur, die in gewissem Maße in allen Texten auftritt“. Das heiße im Grunde nichts anderes, als dass „jedes Buch mit einem lesbaren Titelblatt in gewisser Hinsicht autobiographisch“ sei, gleichzeitig jedoch kein Text in dem bisher verstandenen Sinn als autobiographisch gelten könne.93 De Man ver89 Almut Finck: „Subjektbegriff und Autorschaft. Zur Theorie und Geschichte der Autobiographie“. In: Einf hrung in die Literaturwissenschaft. Hg. v. Miltos Pechlivanos, Stefan Rieger u. a. Stuttgart, Weimar 1995, S. 283 – 294, hier S. 286. 90 James Olney: Metaphors of Self: The Meaning of Autobiography. Princeton 1972, S. 30. 91 Ira Bruce Nadel: Biography. Fiction, Fact and Form. London, Basingstoke 1984, S. 158. 92 Paul de Man: „Autobiographie als Maskenspiel“. In: ders.: Die Ideologie des sthetischen. Frankfurt/M. 1993, S. 131 – 146, hier S. 132 f. 93 Ebd., S. 134.
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bindet die Autobiographie mit der rhetorischen Figur der Prosopopöie, der „Fiktion der Apostrophierung einer abwesenden, verstorbenen oder stimmlosen Entität“, wodurch dieser die „Macht der Rede zugesprochen“ werde. Der Begriff komme von „prosopon poien, eine Maske oder ein Gesicht (prosopon) geben“; auch bei der Autobiographie gehe es um das „Geben und Nehmen von Gesichtern, um Maskierung und Demaskierung, Figur, Figuration und Defiguration“.94 Die endgültige Auflösung der traditionellen Vorstellungen eines selbst-bewussten Autors als Verfügungsinstanz über das Ausdrucksmedium der Sprache erfolgte durch den Poststrukturalismus, der das klassische Repräsentationsmodell von Sprache in Frage stellte. Der Prozess der Signifikation weist nicht eine bestimmte Bedeutung zu, sondern lässt zusammen mit der Bedeutung auch das Subjekt allererst entstehen, in einem Vorgang, der nach Jacques Derrida nie endgültig zum Stillstand kommt. Michel Foucault betont den Einfluss von Machtstrukturen auf das Wissen und auf die Sprache: Das Selbst wird demnach als „kulturelles Artefakt“ aufgefasst, das im „Zusammenspiel spezifischer diskursiver Praktiken, gesellschaftlicher Institutionen und Machtmechanismen“ hervorgebracht wird.95 In diesem Sinn liest Manfred Schneider die Autobiographien des 16. bis 20. Jahrhunderts als „Kopien von Vorschriften, die Innerlichkeiten […] produzierten“, als Medien der „Homogenisierung“ im Interesse der „Erkennbarkeit und Regierbarkeit der Menschen“.96 Damit zerfällt aber gerade jene Konzeption, die für das traditionelle Verständnis von Autobiographie und LifeWriting als Voraussetzung angesehen wurde: die „Vorstellung eines diskursenthobenen Autors, der sich nicht in Sprache entwirft und verwirft, sondern nach Belieben über sie verfügt“.97 Durch den linguistic turn wird der epistemologische Rahmen, in dem der selbstbewußte Mensch Subjekt und Objekt der Erkenntnis ist, gesprengt und die Vorstellung eines Selbst als abgeschlossenes integriertes Ganzes, als einzigartiges Individuum, als Zentrum von Bewusstsein, Gefühl und 94 Ebd., S. 140. – Vgl. dazu auch Bernhard Fetz: „Schreiben wie die Götter. Über Wahrheit und Lüge im Biographischen“. In: Spiegel und Maske. Hg. v. Fetz u. Schweiger, S. 7 – 20, hier S. 16 f. 95 Christian Moser u. Jürgen Nelles: „Einleitung: Konstruierte Identitäten“. In: AutoBioFiktion. Konstruierte Identit ten in Kunst, Literatur und Philosophie. Hg. v. Christian Moser u. Jürgen Nelles. Bielefeld 2006, S. 7 – 19, hier S. 10. 96 Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München, Wien 1986, S. 13. 97 Finck: „Subjektbegriff und Autorschaft“, S. 288.
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Werturteilen, als Subjekt mit wirklicher Handlungsgewalt, das als Einheit organisiert und gegen andere solche Einheiten und gegen einen sozialen und natürlichen Kontext abgegrenzt ist, als Fiktion und aufgrund kulturvergleichender Studien zudem als kulturelles Produkt interpretiert.98
Für die Autobiographie war noch ein weiterer der viel beschworenen kulturwissenschaftlichen ,turns‘ von Bedeutung, der sogenannte ,performative turn‘.99 Erneut ging hier ein wesentlicher Impuls von der feministischen Theoriebildung aus. Judith Butler hatte in ihrem Buch Gender Trouble (1990) die These aufgestellt, hinter den „Äußerungen der Geschlechtsidentität (gender)“ liege „keine geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity)“, diese Identität werde vielmehr „performativ durch diese ,Äußerungen‘ konstituiert, die angeblich ihr Resultat sind“.100 Die feministische Autobiographie-Forschung griff dieses Konzept auf und erklärte die Sprecherin / den Sprecher des autobiographischen Diskurses zum „performative subject“. Die autobiographische Erzählung sei keine selbst-expressive Handlung, die nach der traditionellen Vorstellung der sprachlichen Artikulation vorgängige subjektive Innerlichkeit entstehe erst als Effekt des autobiographischen Erzählens. Damit lasse sich die Autobiographie aber auch im Sinn einer u. a. an Butler, Derrida und de Man orientierten Gender-Theorie als „privilegierter Ort“ verstehen, an dem „die rhetorisch-performative Verfasstheit der Geschlechter lesbar“ werde.101 Das Fazit des diesbezüglich wegweisenden Artikels von Sidonie Smith, der sich u. a. erneut auf Steins Autobiography of Alice B. Toklas bezieht, lautet: „There is no essential, original, coherent, autobiographical self before the moment of self-narrating. Nor is the autobiographical self expressive in the sense
98 Aglaja Frodl: Das Selbst im Stil. Die Autobiographien von Muriel Spark und Doris Lessing. Münster 2004 (= Erlanger Studien zur Anglistik und Amerikanistik, Bd. 4), S. 49. Diese Arbeit enthält eine instruktive Zusammenstellung der Konzepte des Selbst in ihrer historischen Abfolge; vgl. ebd., S. 16 – 53. 99 Vgl. dazu Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 2. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2007, S. 104 – 143. 100 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M. 1991, S. 49. 101 Anna Babka: „Die (autobiographische) Provokation der Genres. Geschlecht und Gattung rhetorisch verfasst“. In: Inszenierte Erfahrung. Hg. v. Hof u. Rohr, S. 81 – 95, hier S. 87. Vgl. dazu auch dies.: Unterbrochen. Gender und die Tropen der Autobiographie. Wien 2002.
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that it is the manifestation of an interiority that is somehow ontologically whole, seamless, and ,true‘.“102 Angesichts der Auflösung essentialistischer Konzepte des Selbst und der These vom „Konstruktcharakter der subjektiven Identität“103 wird gerade in letzter Zeit immer wieder die Mahnung erhoben, dass mit dem Aufgehen des autobiographischen Schreibens in einer uniformen Fiktionalität aller Texte auch die Triftigkeit der darin ausgedrückten Inhalte verloren gehen könnte. So tritt Eva Kormann dafür ein, den Unterschied zwischen fiktionalen Texten, die „ein suspension of disbelief fordern“, und solchen, die „mit den Lesenden die Vereinbarung schließen wollen, für referentiell, für eine glaubwürdige Beschreibung – äußerer oder innerer – Realität gehalten zu werden“, aufrecht zu erhalten.104 Die „Erfahrung“ eines Menschen stehe „an der Schnittstelle von Diskurs und Materie, von Text und hors-texte“; es gebe „keine Erfahrung vor dem Diskurs“, aber kein Diskurs vermöge „manifeste materielle Impulse vollständig auszulöschen“.105 Anregungen für eine Verbindung zwischen der Konstruktivität des Life-Writing und den ihm zugrunde liegenden lebensgeschichtlichen Erfahrungen kommen seit einiger Zeit aus dem Bereich der narrativen Psychologie. In der ersten seiner Publikationen, die sich unter diesem Blickwinkel mit der autobiographischen Praxis auseinandersetzten, beschrieb Jerome Bruner 1987 die Autobiographie als „a continuing interpretation and reinterpretation of our experience“.106 Sein Aufsatz ist auf zwei Thesen aufgebaut. Die erste lautet: „We seem to have no other way of describing ,lived time‘ save in the form of a narrative.“ In der zweiten These hält Bruner fest: „,Life‘ in this sense is the same kind of construction of the human imagination as ,a narrative‘ is.“107 In der Tat geht die narrative Psychologie davon aus, dass „die Erzählung das primäre strukturierende Schema“ sei, durch das Menschen 102 Sidonie Smith: „Performativity, Autobiographical Practice, Resistance“. In: Women, Autobiography, Theory. Hg. v. Smith u. Watson, S. 108 – 115, hier S. 108. 103 Moser u. Nelles: „Einleitung: Konstruierte Identitäten“, S. 8. 104 Eva Kormann: „Gespiegelte Norm – gespeicherte Erfahrung. Autobiographik, Autonomie und Genus an der Schwelle zur Neuzeit“. In: Inszenierte Erfahrung. Hg. v. Hof u. Rohr, S. 97 – 110, hier S. 99. 105 Ebd., S. 101. 106 Jerome Bruner: „Life as Narrative“. In: Social Research 54 (1987), S. 11 – 32, hier S. 12. 107 Ebd., S. 12 f.
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„ihr Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zur physischen Umwelt organisieren und als sinnhaft auslegen“.108 Die Autoren einer Studie zu „Identitätskonstruktionen in der Spätmoderne“ fassen diese Konzeption folgendermaßen zusammen: „Identität ist weitgehend eine narrative Konstruktion. Das zentrale Medium der Identitätsarbeit ist die Selbsterzählung.“ Damit sei die Art und Weise gemeint, wie ein Subjekt „selbstrelevante Ereignisse auf der Zeitachse aufeinander bezieht und ,sich‘ und anderen mitteilt“. Diese Selbsterzählungen seien von gesellschaftlichen Vorgaben beeinflusst, aber auch von Machtstrukturen. Insofern sind sie „nicht einfach Ergebnisse kommunikativer Akte“; sie werden außerdem durch „erzählerische Muster, medial verstärkte Metaerzählungen und von Machtfragen geprägte Darstellungsmechanismen“ beeinflusst.109 In einem Sammelband zu „konstruierten Identitäten“ im künstlerisch-philosophischen Bereich mit dem Titel AutoBioFiktion heißt es dazu: „Wir verleihen den Erfahrungen, die wir machen, und den Ereignissen, die uns zustoßen, einen Sinn, indem wir sie in das größere Ganze eines Lebenszusammenhanges, in ein narratives Kontinuum integrieren.“110 Auf die vorgängigen narrativen Muster, von denen nicht nur jede neue Lebensbeschreibung, sondern bereits der jeweils durchmessene Lebensverlauf selbst abhängt, hat in Bezug auf das Genre der Biographie bereits Ulrich Raulff hingewiesen: Es scheine, „als sei jedes Leben belesen von Viten, die ihm vorangingen, als kopiere jedes Leben die Biographien anderer, als sei jedes Leben die Nachschrift einer Legende“.111 Im Hinblick auf die Autobiographie zieht Paul John Eakin
108 Donald Polkinghorne: „Narrative Psychologie und Geschichtsbewusstsein. Beziehungen und Perspektiven“. In: Erz hlung, Identit t und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Hg. v. Jürgen Straub. Frankfurt/M. 1998, S. 12 – 45, hier S. 15. 109 Heiner Keupp, Thomas Ahbe u. a.: Identit tskonstruktionen. Das Patchwork der Identit ten in der Sp tmoderne. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 216. – Die hier vorgetragenen Gedanken finden sich ausführlicher auch in einer früheren Publikation eines der Mitautoren; vgl. Wolfgang Kraus: Das erz hlte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identit t in der Sp tmoderne. Pfaffenweiler 1996 (= Münchner Studien zur Kultur- und Sozialpsychologie, Bd. 8). 110 Moser u. Nelles: „Einleitung: Konstruierte Identitäten“, S. 13. 111 Ulrich Raulff: „Inter lineas oder Geschriebene Leben“. In: ders.: Der unsichtbare Augenblick. Zeitkonzepte in der Geschichte. Göttingen 1999 (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Bd. 1), S. 118 – 142, hier S. 132.
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aus dem Konzept einer „narrativen Identität“112 den Schluss: „[T]he writing of autobiography is properly understood as an integral part of a lifelong process of identity formation in which acts of self-narration play a major part.“113 So wäre denn der gesamte Komplex des Life-Writing als Bestandteil jener „endlosen autobiographischen Tätigkeit“ zu sehen, die Bernd Scheffer zum Ausgangspunkt seiner „konstruktivistischen Literaturtheorie“ erklärte.114 Um es mit einem Satz zum Schlagwort „Narrative“ aus der Encyclopedia of Life Writing zu sagen: „The various forms of life writing, from diaries and letters to full-scale biographies, should therefore be viewed as specialized instances of the much broader human practice by which we employ narrative continually to invent and reinvent ourselves and the world around us.“115 Literaturverzeichnis Aichinger, Ingrid: „Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk“ [1970]. In: Die Autobiographie. Hg. v. Niggl, S. 170 – 199. Alheit, Peter u. Morten Brandt: Autobiographie und sthetische Erfahrung. Entdeckung und Wandel des Selbst in der Moderne. Frankfurt/M. 2006. Anderson, Linda: Autobiography. London, New York 2001 (= The New Critical Idiom). Babka, Anna: Unterbrochen. Gender und die Tropen der Autobiographie. Wien 2002. 112 Zu diesem Begriff vgl. Jürgen Straub: „Identität“. Abschn. II. In: Ged chtnis und Erinnerung. Ein interdisziplin res Lexikon. Hg. v. Nicolas Pethes u. Jens Ruchatz. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 269 – 272. 113 Paul John Eakin: How Our Lives Become Stories. Ithaca, London 1999, S. 101. 114 Bernd Scheffer: Interpretation und Lebensroman. Zu einer konstruktivistischen Literaturtheorie. Frankfurt/M. 1992, S. 24. 115 Michael Hanne: „Narrative“. In: Encyclopedia of Life Writing. Hg. v. Jolly. Bd. 2, S. 633 – 635, hier S. 634. – In diesem Zusammenhang kann abschließend auch noch auf neuere Konzepte der so genannten „Selbstzeugnisforschung“ hingewiesen werden, die danach trachten, das Paradigma des engen Zusammenhangs von Individualität und autobiographischem Schreiben zu transzendieren und die „Unterschiede zwischen westlichen und nichtwestlichen, modernen und vormodernen Schreibpraktiken“ einzuebnen, sodass Formen des Life-Writing wie Tagebücher, Memoiren, Autobiographien, aber auch Briefe, Chroniken, Familiengeschichten, Reiseberichte etc. als gleichberechtigte Quellen erschlossen werden können; vgl. Gabriele Jancke u. Claudia Ulbrich: „Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung“. In: Querelles. Jahrbuch f r Frauen- und Geschlechterforschung 10 (2005): Vom Individuum zur Person, S. 7 – 27, hier S. 10.
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Der Stoff, aus dem das (Nach-)Leben ist Zum Status biographischer Quellen
Bernhard Fetz The biographer, like the historian, is a slave of his documents.1 Keine Quelle ist unschuldig, sie muß beurteilt werden. Jede Quelle ist ein Monument, das es zu destruieren und zu demontieren gilt. […] Dokumente werden nur dann zu historischen Quellen, wenn sie einer Behandlung mit dem Zweck unterzogen worden sind, die Funktion der Lüge in ein Geständnis der Wahrheit umzuwandeln.2 Was man braucht oder womit man sich jedenfalls begnügen muß, sind anschauliche Darstellungen, Anekdoten, Gleichnisse, Geschichten: MiniErzählungen, in die der Erzähler eingeschlossen ist.3 Daß ich den Nachlaß Roithamers ordnen und sichten werde […] ordnen und sichten […] aber nicht bearbeiten […] ein über tausend Seiten umfassendes Ganzes, in welchem alles die gleiche Bedeutung hat und aus welchem man nicht das geringste herausnehmen darf, weil sonst alles nichts mehr ist […].4
Diese vier Zitate stammen von einem Pionier und späteren Doyen der internationalen Biographieforschung, der auch als Biograph tätig war; weiters von einem Historiker, der seine biographischen Arbeiten mit umfänglichen theoretischen Kommentaren zum Verhältnis von Biographie und Geschichte begleitet hat5 ; einem Ethnologen, dessen Feldarbeit mit seinen theoretischen Reflexionen durch autobiographische Erzählungen verbunden ist; und zuletzt von einem Schriftsteller, dessen Roman Korrektur von der Unmöglichkeit handelt, (Nachlass-)Fragmente zu einem (Lebens-)Ganzen zu verfälschen. Die verschiede1 2 3 4 5
Leon Edel: Literary Biography. The Alexander Lectures 1955 – 56. London 1957, S. 5. Jacques Le Goff: Geschichte und Ged chtnis. Frankfurt/M., New York 1992 (= Historische Studien, Bd. 6), S. 229. Clifford Geertz: Spurenlesen. Der Ethnologe und das Entgleiten der Fakten. München 1997, S. 78. Thomas Bernhard: Korrektur. In: Thomas Bernhard Werke. Bd. 4. Hg. v. Martin Huber u. Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt/M. 2005, S. 156 f. Vgl. den einleitenden Beitrag v. Bernhard Fetz, S. 26 ff.
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nen Metiers der Zitierten verweisen einmal mehr auf den Zwischenstatus der Biographie zwischen dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und der Forderung nach imaginativen Fähigkeiten auch auf Seiten der Wissenschaftler. Die kritische Reflexion der Konstituierung, Auswertung und Darstellung biographischer Quellen, deren Vorhandensein eng mit den Begriffen ,Archiv‘ und ,Medialität‘ verbunden ist, muss die Basis jeder Theorie der Biographie sein. Eine vergleichende Betrachtung der neben der Literaturwissenschaft in unterschiedlichen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Ethnologie oder der sozialwissenschaftlichen Biographieforschung zum Tragen kommenden biographischen Modelle ist eine ihrer Bedingungen. Im Anschluss an die zitierten Sätze lassen sich folgende zwölf Thesen und Fragen formulieren: 1. Das Spektrum biographischer Quellen reicht von Handschriften und gedruckten Texten über erst später schriftlich fixierte Legenden, Anekdoten und Erzählungen, von autobiographischen Texten, Berichten von Zeitzeugen und Briefen bis zu einer zunehmenden Zahl an audiovisuellen Dokumenten. Dabei ist entscheidend, ob es sich um anonyme oder von einem Verfasser autorisierte Quellen handelt und welchen Ordnungsprinzipien diese unterliegen, in Familien-, Staats-, oder Literaturarchiven, in Büchern, Zeitungen, Fotoalben, in Akten und Lebensdokumenten verschiedenster Herkunft. Die Zahl und Beschaffenheit der überlieferten Dokumente gibt jeder einzelnen Biographie ihren spezifischen Charakter und sie beeinflusst die jeweils angewandte biographische Methode. Sigrid Weigel hat die Problemstellung bündig formuliert: dass nämlich „die Überlieferung zwischen Subjekten und Gruppen ihren Weg nimmt, der über verschiedene Sprachen, unterschiedliche Schriften, verstreute Archive und unterschiedliche Medien verläuft“.6 2. Wie werden aus Quellen wissenschaftliche und literarische Texte, wie beeinflusst das Material die biographische Forschung und Theoriebildung? Dies hängt nicht nur von der Quantität und Qualität des Materials ab, sondern vor allem von den Fragen, die zu verschiedenen Zeiten an dieses Material gestellt wurden. Heute sind dies im biographischen Kontext vermehrt Fragen nach der Konstitution und Kon6
Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kulturund Naturwissenschaften. München 2006, S. 83.
Der Stoff, aus dem das (Nach-)Leben ist 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
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struktion von Geschlechts-Identität oder von kultureller Identität.7 Neben ihrem Informationswert besitzen biographische Quellen Aussagekraft aufgrund ihres Eingebettetseins in kulturelle und institutionelle Kontexte. 3. Die immer wieder neu und anders gestellten Fragen gehen mit einer gewissen Voreingenommenheit, was die Aussagekraft der Dokumente anbelangt, einher. Private Briefwechsel, Liebesbriefe, zur Vernichtung bestimmte Texte, an unerwarteten Stellen aufgetauchte Notizen, autobiographische Dokumente, die ein statuarisches Lebensbild ins Wanken zu bringen vermögen, sind bevorzugte Objekte biographischen Begehrens. Dem sollten z. B. aber auch Materialien zur Textgenese zur Seite treten. Anhand von Entwürfen, Konzepten und Notizen lassen sich die Spuren künstlerischer Kreativität8, manchmal auch die Biographien von Ideen oder die Vorgeschichten von Entscheidungen nachzeichnen. 4. Ausdrucksqualitäten wie Gesten, Charakteristika der Stimme, ganz allgemein die performativen Aspekte von Quellen geben diesen ihre spezifische Färbung. Dies ist einleuchtend im Fall audiovisueller Dokumente. Aber auch schriftliche Zeugnisse weisen Ausdrucksqualitäten auf, denen in der biographischen Praxis selten ein Erkenntniswert beigemessen wird. Die historisch sich ausdifferenzierende Vielfalt und die Gestalt der Textträger, vom Buch über die Zeitung bis zum Hochglanzmagazin, verändern jeweils den Status der biographischen Informationen. Nicht nur Handschriften sondern auch gedruckte Texte besitzen die Tendenz, über sich hinauszuweisen. Sie verweisen beispielsweise auf Fotos in der Textumgebung oder sie rufen Bilder auf, die im kollektiven und kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft gespeichert sind. Namen wie Napoleon, Hitler, Freud oder Kafka evozieren abhängig vom kulturellen und medialen Kontext, in dem sie erscheinen, bestimmte visuelle und akustische Assoziationen. Das biographische Bild entsteht aus der Spannung zwischen den vergangenen und den 7
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Vgl. William St Clair: „The Biographer as Archaeologist“. In: Mapping Lives. The Uses of Biography. Hg. v. Peter France und William St Clair. Oxford, New York 2002, S. 219 – 234. William St Clair illustriert die Abhängigkeit der gewählten Methode vom zur Verfügung stehenden Material am Beispiel der zahlreichen Biographien über Autorinnen und Autoren der romantischen Periode in England. Bereits Leon Edel meinte, Biographien über Schriftsteller wären nichts als Zeugnisse ungeziemender Neugier, unternähmen sie es nicht, das Mysterium künstlerischer Kreativität zu untersuchen. Edel: Literary Biography, S. 3.
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gegenwärtigen Bedeutungen. Rhetorische Merkmale von Texten wiederum können diese in die Nähe von Sprechpraktiken rücken, etwa der Litanei, dem Bühnenmonolog oder der pädagogischen Unterweisung. Eine nicht nur inhaltsbezogene Analyse von biographischem Quellenmaterial, die auf dessen vielfältige materielle Qualitäten Bezug nimmt und es in einem spezifischen kulturellen und medialen Kontext situiert, kann entscheidend zur biographischen Erkenntnis beitragen. 5. Der Status der Quellen wird nicht nur von dem bestimmt, was da ist, sondern in viel größerem Ausmaß von demjenigen, was nicht da ist. Eine Quelle kann außerdem das sein, was nicht da ist, obwohl es da ist: das Verdrängte, das unter dem Strich Stehende, das aus der Matrix der Überlieferung Ausgeschiedene, auch dasjenige, was vor den Bedeutungsträgern, dem Signifikanten oder dem gedruckten Text, liegt, zum Beispiel die Stimme und die Handschrift. Von Quellen zu sprechen, heißt von Lücken zu sprechen. Von Überlieferung zu sprechen, heißt von lückenhafter Überlieferung zu sprechen. Von Erinnerung zu sprechen, heißt vom Vergessen zu sprechen. Von Archiven zu sprechen, heißt von unterdrückten, vergessenen, von nach hierarchischen Kategorien geordneten Dokumenten zu sprechen. Politische und historische Archive unterliegen anderen Ordnungskriterien als Literaturarchive. Dabei spielt die Materialart eine große Rolle: Literaturarchive privilegieren – noch – handschriftliche Dokumente, gedruckte Materialien werden in den weniger wichtigen und weniger wertvollen ,Sammlungen‘ abgelegt. 6. Eine einseitige Privilegierung des Apokryphen und Verdrängten kann ebenso zu einer Verzerrung führen wie dessen Nichtbeachtung. Eine Hierarchisierung der Quellen ist aus erkenntnistheoretischen Gründen problematisch, aus mediengeschichtlichen und aus historischen Gründen schwierig: Vordergrund und Hintergrund, Haupt- und Nebenfiguren, Peripherie und Zentrum rücken immer näher zusammen bzw. tauschen sie je nach Blickwinkel ihre Plätze. Das Leben bedeutender Männer und Frauen und noch mehr das Leben des ,man [oder der woman] in the crowd‘ (E. A. Poe) lassen sich über periphere Quellen ebenso erschließen wie über Dokumente, denen wir gemeinhin zentralen Charakter zusprechen. Manchmal ist das, was fehlt, interessanter und reizvoller als das, was da ist; bietet die Lücke doch Raum für Imagination, Spekulation, Erzählung und Theorie. 7. Wie unterschiedlich der biographische Ansatz auch sein mag, wie verschieden die Motivation der Biographinnen und Biographen, immer geht es um die Vorstellung von Pr senz, um eine Teilhabe an der In-
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tensität fremden Lebens: Etwas oder jemand soll wieder lebendig werden; ein abgebrochenes oder nie begonnenes Gespräch soll fortgesetzt oder begonnen werden; die materiellen, psychodynamischen und ideologischen Spuren, die Werke, Handlungen und Verhaltensweisen durchziehen, sollen sichtbar werden. Dies gilt unter veränderten Vorzeichen, wenn das biographische Interesse sich nicht auf Männer oder Frauen aus fernen Zeiten richtet, sondern auf fast noch Zeitgenossen, auf Personen, deren Stimme wir noch im Ohr haben, deren Körperlichkeit durch Fotografien, durch Film und Video den Anschein von ,Realpräsenz‘ gewinnt. Physiognomie, Stimme, Gesten – das, was man den Rhythmus eines Lebens nennen könnte – rücken plötzlich in scheinbar greifbare Nähe. 8. Die Frage nach den Materialien, aus denen Biographien gemacht sind, ist untrennbar verknüpft mit der Frage nach den Medien, in denen die Quellen überliefert wurden: Die Medialität der Überlieferung – Aufschreibesysteme, Übertragungs- und Speichermedien – und die Medialität der Dokumente definieren den Rahmen des Biographischen. Zusammen bestimmen sie auch die Gedächtnisfunktion von Biographien, das heißt ihre Einschreibung in ein kollektives und kulturelles Gedächtnis. Akustische und visuelle Dokumente stehen offensichtlicher noch als schriftliche Zeugnisse an der Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Mit der Zunahme an audiovisuellem Material gewinnt keine der beiden Sphären etwas hinzu, private Aufnahmen konkurrieren in fast jedem Nachlass, auch im Familienalbum, mit Aufnahmen, die einem zeremonielleren, meist beruflichen Kontext entstammen. 9. Der Adressat oder die Adressatin einer bestimmten Quelle bzw. die Frage der prinzipiellen Adressierbarkeit ist von entscheidender Bedeutung: Ist der Adressat das biographische Objekt selbst, in Tagebüchern und autobiographischen Texten, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, in Listen und Ablagen, die der persönlichen Orientierung im privaten und beruflichen Alltag dienten? Oder ist die Quelle adressiert: als abgeschickter Brief, als veröffentlichte oder auf eine Veröffentlichung hin geschriebene Tagebücher und Autobiographien. Sind die Adressaten Gesprächspartner, die aus mündlichen ,Stegreiferzählungen‘ Transkripte anfertigen, um daraus Aufschluss über Mentalitäten, Einstellungen, Generationserfahrungen zu gewinnen oder, im Zuge der Therapiesitzung, über psychische Konstellationen? Die Frage der Adressierbarkeit stellt sich spätestens bei der archivarischen Befundordnung eines Nachlasses: Ist die urspr ngliche Ordnung noch ohne Eingriffe vorhanden oder zumindest als solche noch erkennbar, oder ist
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die Ordnung des Nachlasses anderen, sekundären Organisationsprinzipien geschuldet, dem Archivar bei der Übernahme, der späteren Ordnung im Archiv, den Ordnungsprinzipien einer Institution? Wurde der Nachlass zu Lebzeiten vom biographischen Objekt oder von einem persönlichen Vertrauten in Hinblick auf seine Überlieferung geordnet? Welche Spuren eines projektiven Nachlebens – Tilgungen, Lücken, die Bearbeitung individueller Erfahrungen in verschiedenen diskursiven Ordnungen, mit dem Ziel, der Nachwelt ein bestimmtes Bild zu übermitteln – finden sich in den Materialien? 10. Der Biograph, die Biographin rauben der Quelle ihre vermeintliche Unschuld. Fakten und Daten werden bearbeitet; sie treten in narratologischer Terminologie in ein bestimmtes Verhältnis von ,histoire‘ und ,discours‘ ein. Mit ganz unterschiedlichen Konsequenzen: Hatte die „Dokumentation“ im bürgerlichen Roman die „Funktion der Rohstoffe“, den Charakter unbearbeiteten Materials, aus dem sich die Emanzipation des Subjekts modellieren ließ, so sind die Datenfriedhöfe nicht nur in der Trivialbiographik „zu Fesseln des Individuums“ geworden, die es an die sozialen Verhältnisse ketten.9 Jede biographische Erzählung definiert die Grenzlinien zwischen den ,Rohstoffen‘ und deren Bedeutung neu. 11. Der biographische Diskurs über Wahrheit und Lüge verläuft durch die Quellen. Ihre Fundorte, ihre Funktionen, ihre Überlieferungsgeschichte, ihre medialen Besonderheiten sind untrennbarer Bestandteil der Wahrheit einer Biographie: „[T]he truth of life and the truth of experience“10 sind in den Quellen verborgen. 12. Die Frage nach den Quellen schließt alle anderen Fragen mit ein, die eine Theorie der Biographie begleiten: jene nach der biographischen Wahrheit; jene nach dem Verhältnis zwischen den Biographinnen und Biographen und ihren Objekten; jene nach dem zeitlichen Abstand zwischen einem Ursprung (der Lebensgeschichte, eines Dokuments) und seiner Interpretation (Kritik, Überlieferung, Tradition); jene nach der Kreativität (im Falle von Künstlerbiographien) und nach den Motivationen (bei Wissenschaftlern, Politikern, ganz ,normalen‘ Menschen); jene nach der Hierarchie von Lebensläufen (wer verfügt
9 Leo Löwenthal: „Die biographische Mode“. In: ders.: Literatur und Massenkultur. Schriften. Bd. 1. Hg. v. Helmut Dubiel. Frankfurt/M. 1980, S. 231 – 257, hier S. 233. 10 Edel: Literary Biography, S. 2.
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über die Überlieferung?); und schließlich jene nach dem Zusammenhang von lebendigem Gedächtnis und toten Fakten. Diese Thesen können an einem der reizvollsten Beispiele aus der Geschichte der literarischen Biographik kurz illustriert werden, dem 1934 erschienenen Buch The Quest for CORVO von A. J. A. Symons.11 Gegenstand der Biographie ist ein vergessener englischer Exzentriker, eine Randfigur der viktorianischen Zeit, deren Lebensspuren sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts irgendwo zwischen Italien und England verlieren. Der Biograph ist ein ebenfalls höchst exzentrischer englischer Dandy, eine Konstellation, die ihn zum Spiegel des genialen Baron Corvo, dem Gegenstand seiner biographischen ,Quest‘ macht. A. J. A. Simons’ Biographie beschreibt, vor allem im ersten Teil, anstatt vorhandene Quellen auszuwerten, die Suche nach Lebensspuren, wodurch der Biograph zum gleichberechtigten Subjekt wird. Das Wort ,Quest‘ besitzt im Englischen, ähnlich wie das deutsche Wort ,Suche‘, einen Bedeutungshof, der die Suche nach dem ,Heiligen Gral‘ ebenso umfasst wie das ,Aventure‘-Schema mittelalterlicher Epen. Das achte Kapitel trägt den Titel „The Strange Historian“ und beginnt mit einer „NOTE“. Sie sei als Beispiel für das Mitte der 1930er Jahre erreichte biographische Problembewusstsein vollständig zitiert: NOTE – Among the privileges of the biographer is an assumption of omniscience in respect of his subject. And, when sufficient material is available, something very near full knowledge is possible. The evidence of a man’s letters, of his contemporaries, his work, and the indisputable facts of his life, do sometimes make it possible, when the material has been collated and sifted, to write with certainty. In the present study a different method has been employed. So far, I have set before the reader (not an analyzed summary of my researches but) an account of the search itself; and I believe in regard to a man so exceptional as Rolfe this exceptional method is justified. Truth takes many forms; and the dramatic alternation of light and dark in which my inquiries discovered Baron Corvo has, I am convinced, more value as verity than any one man’s account. I have tried, accordingly, to be the advocate for neither side, but rather the judge impartially bringing out all aspects of the case for the benefit of the jury. At the point in Rolfe’s life which my narrative has now reached, however, that method ceases, for the moment, to be advisable. The evidence concerning his career immediately after the Holywell episode came into my possession in fragments, over a long period of time. To present it as I obtained it would set so great a task to the reader’s attention that the resulting knowledge would almost certainly seem insufficient reward. In the chapters following I have, therefore, combined numerous tes11 A. J. A. Symons: The Quest for CORVO. An Experiment in Biography [1934]. London 1955.
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timonies and information obtained from various sources into a coherent and chronological account without detailing the course of my investigation, though (as will be seen) without, on the other hand, abandoning the framework of my Quest. 12
Bis zu diesem theoretischen Exkurs, der den methodischen Wendepunkt in Symons ,Quest‘ markiert, werden kapitelweise die einzelnen biographischen Quellen durchgespielt: „The Clues“: Zeitungsartikel und Briefe; „The Newspaper Attack“: Dokumentation einer Verleumdung (Zeitungsberichte); „The Reluctant Brother“: Zeitzeugengespräche und ,Familienroman‘; „The Theological Student“: briefliche Recherchen und Antwortbriefe; „The Nowt of Hollywell“: Corvos Werke als Lebenszeugnisse. Immer wieder unterbricht der Biograph die Dokumentation des aufgefundenen Materials durch reflexive Passagen. Diese problematisieren die Konventionen der klassischen (Lebens-)Erzählung mit ihrer Struktur von Anfang, Mittelteil und Schluss: „In Hadrian and the letters I had (what I took to be) the opening and the close of a career. What story lay in between?“13 Sie formulieren in überraschender Klarheit, wie wichtig die materialen Qualitäten der Dokumente für den Biographen sind. Als Symons die Briefe Corvos nicht mehr als maschinschriftliche Abschriften, sondern im Original in Händen hält, erkennt er sofort den Unterschied: „They were hardly less surprising in their physical form than in their content, written on paper of the oddest shapes and sizes, in the most beautiful handwriting I had ever seen, in red, blue, green, purple, and black inks, presumably chosen as occasion chanced.“14 In Briefen von Dritten erkennt er nicht nur deren Informationswert: „I find in each of these letters a reflection of its writer […].“15 Die ausführlich zitierten Briefe besitzen durch ihr Understatement und ihren Humor einen Eigenwert, der unabhängig von ihrem Informationsgehalt vorhanden ist, ja diesen tendenziell übersteigt.16 Dass der zweite Teil von The Quest for CORVO konventionelleren Mustern folgt, ohne das Modell der ,Quest‘ ganz aufzugeben, macht Symons „experiment“ zu einem Demonstrationsobjekt der beiden grundsätzlichen Möglichkeiten, mit Quellenmaterial zu arbeiten: Im ersten Falle entsteht das biographische Porträt aus der Suche nach den Quellen und der Darstellung ihres fragmentarischen und wider12 13 14 15 16
Ebd., S. 92. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Ebd., S. 21. Vgl. etwa ebd., S. 53.
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sprüchlichen Charakters. Diese Methode bietet Raum für die Subjektivität der Biographen und setzte sich in den letzten Jahren vor allem in der Ethnographie mehr und mehr durch. Im zweiten, herkömmlichen Fall synthetisiert der Biograph oder die Biographin die zahllosen Quellen und bringt sie in die chronologische Abfolge einer biographischen Erzählung, „without detailing the course of […] investigation“, wie A. J. A. Symons sein weiteres Vorgehen beschreibt. Als der Biograph ein Dossier über Baron Corvo erhält, verliert er keine Zeit, um es zu sichten – und findet mit dem frühesten erhaltenen Dokument einen Nachruf auf Corvo, abgedruckt in einer Zeitung namens Star. 17 Damit ist angesprochen, dass das Nachleben ebenso wie die Suche nach den Lebenszeugnissen zur Lebensgeschichte gehört. Außerdem stellt Symons die psychoanalytische Analyseordnung, Mitte der 1930er Jahre bereits ein Modell von hegemonialem Charakter, auf den Kopf, oder vom Kopf wieder auf die Füße: „My interest in the early years of the eminent is far less than that which the tradition of biographical writing painfully imposes on its devotees.“ Anstatt vom Kind auf den Mann zu schließen, ist es Symons Absicht, den umgekehrten Weg zu gehen, „to infer the child from the man“. Fakten aus der Kindheit mögen bei Genies, Rebellen oder bei Leuten, die sich aus einer bestimmten lokalen Atmosphäre heraus entwickelten, interessant sein, für Außenseiter wie den Baron Corvo treffe dies nicht zu.18 Im einzigen monographisch/biographischen Artikel über Corvo bleiben Leerstellen: „[T]here were a dozen tantalizing gaps in his narrative which left my curiosity rampant.“19 Als der Biograph den Verfasser des Artikels zu einem persönlichen Gespräch trifft, beschreibt er seine Gefühle dieser wichtigen biographischen Quelle gegenüber folgendermaßen: „Moreover, voices have always been one of my tests for new acquaintances: Mr. Leslie’s intonations charmed my ear.“20 Immer wieder betont der Biograph, dass die Fakten für ihn im Licht des Eindrucks stehen, den Corvos Text Hadrian auf ihn gemacht hat. Und immer wieder weist er darauf hin, dass der Aufbau seiner Biographie vom jeweiligen Stand der Recherche bestimmt wird: „[A]nd I hoped that later I should learn more […].“21 Wenn Symons schließlich die 17 18 19 20 21
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 14. S. 47. S. 16. S. 49. S. 47.
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Industrieansiedlungen in einem Vorort von Birmingham erwähnt, wie man sie jetzt immer öfter sehe, kommt außerdem die Gegenwart des Biographen als zeitlicher Referenzpunkt ins Spiel.22 Lücken, Phantome, Spuren und Anekdoten Noch einmal anders […] erscheint das Vergessen als Lücke im Text, die mit Schreib- und Denkanstrengungen zu füllen ist, vielleicht aber auch den lückenhaften Text erst recht rätselhaft und interessant macht.23 Ich hab’ das Gefühl, es sind viel mehr Gedichte geblieben, die bekommen immer mehr Gewicht, je länger sie da sind, je öfter sie publiziert werden, während wenn man eines wegwirft, das nimmt an Gewicht so fürchterlich ab, dann ist es nur mehr ein Zettel Papier im Papierkorb, und dann irgendwo in einer Müllverbrennungsanlage.24
Abhängig von Gattung und Disziplin erfolgt die Schließung der Überlieferungsgeschichten – im Doppelsinne von erzählten Geschichten und der Geschichte von Dokumenten – entlang unterschiedlicher Modelle: Klassische psychoanalytische Biographien verfügen über ein „Ablaufmodell der Jedermannsbiographie“.25 „Das dem psychoanalytischen Biographen zur Verfügung stehende Material wird diesem Ablaufmodell angeglichen. Soweit es nur bruchstückhaft zugänglich ist oder in den überlieferten Erinnerungen des Protagonisten nur in entstellter Form vorliegt, wird es mit Hilfe dieses Modells ergänzt und korrigiert.“26 Dabei wird das Fehlen von aussagekräftigem lebensgeschichtlichem Material geradezu zu einer Qualität der biographischen Analyse; wird es doch dadurch leichter, die überlieferten Bruchstücke in das psychoanalytische Modell einzupassen. Thomas Anz zitiert Freuds Legitimation der eigenen biographischen Vorgehensweise in dessen Leonardo-Biographie: Aufgrund der fehlenden Dokumente „wird uns der Versuch gestattet sein, die Lücke in Leonardos Lebensgeschichte 22 Ebd., S. 54. 23 Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München 2005, S. 17. 24 Aus einem Gespräch des Verf. mit Ernst Jandl. Bernhard Fetz: „Ernst Jandl. Gedichte“. In: Der literarische Einfall. ber das Entstehen von Texten. Hg. v. Bernhard Fetz u. Klaus Kastberger. Wien 1998 (= Profile, Bd.1), S. 94. 25 Thomas Anz zitiert diesen Begriff von Ilse Grubrich-Simitis in seinem Aufsatz „Autoren auf der Couch? Psychopathologie, Psychoanalyse und biographisches Schreiben“. In: Grundlagen der Biographik.Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Hg. v. Christian Klein. Stuttgart, Weimar 2002, S. 98. 26 Ebd.
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durch die Analyse seiner Kindheitsphantasie auszufüllen“.27 Bei vielen psychoanalytisch orientierten Biographen (dies gilt vor allem für die Phase der Konsolidierung und Terrainausweitung der psychoanalytischen Disziplin in den 1920er und 1930er Jahren) gesellt sich zum Wunsch, die Tragfähigkeit des Modells an unterschiedlichsten Beispielen zu beweisen, ein Impuls zur Literarisierung und Mythisierung des zu entziffernden biographischen Falls: „Wer so fürstlich über allen anderen Geistern thront“, schreibt Hanns Sachs, Laienanalytiker und einer von Freuds engsten Mitarbeitern, in einem großen biographischen Essay über Shakespeare, „der wird es lieben, seinen Glanz zu verhüllen, um unerkannt, wie Harun al Raschid durch die Gassen Bagdads, durch das Leben zu ziehen. War es nun Absicht oder ein dienender Zufall, jedenfalls ist es Shakespeare vollkommen geglückt, das Inkognito seiner Seele zu wahren.“28 – Zum Glück für den, der einen Zipfel von Harun al Raschids Geheimnis lüftet; läge es offen zutage, gäbe es auch weniger psychobiographischen Aufklärungsbedarf. Der Analytiker, der biographische Geheimnisse mit Hilfe psychoanalytischer Modelle zu lösen versucht, ist nicht nur hier ein Verwandter des Detektivs. Alfred Lorenzer hat in einem Aufsatz über die Analogien zwischen den Tätigkeiten des Psychoanalytikers und des Detektivs die Vorgehensweise von Letzterem charakterisiert. Er bezieht sich auf Poes Kriminalgeschichte „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ und auf Poes zu exzentrischer Erkenntnis fähigen Detektiv Monsieur Dupin als klassisches Modell dieser Verwandtschaft: In allen klassischen Kriminalgeschichten zeichnet sich der Detektiv dadurch aus, daß er beim Auswerten von Zeitungsnotizen, von Gesprächen und Mitteilungen Szenen imaginativ nachbaut, indem er seine eigenen lebenspraktischen Erfahrungen so lange als Vorannahmen einsetzt, bis sich die Szenen zur Szenenfolge, zum glaubwürdig zusammenhängenden Drama ergänzen. Lebenspraktische Ungereimtheiten werden dabei zum Anstoß, szenische Arrangements so lange neu auszuprobieren, bis sich ein plausibler Handlungsablauf ergibt.29 27 Zit. nach ebd. 28 Hanns Sachs war gemeinsam mit Otto Rank Redakteur der von Freud herausgegebenen Zeitschrift Imago, die sich der „Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften“ widmete. Der Beitrag von Hanns Sachs: „Der Sturm“ ist abgedruckt in: Imago 5 (1919), S. 203 – 242, hier S. 203 f. Zur Zeitschrift Imago und den biographischen Versuchen der frühen Psychoanalyse vgl. Fetz: Das unmçgliche Ganze, S. 69 – 84. 29 Alfred Lorenzer: „Der Analytiker als Detektiv, der Detektiv als Analytiker“. In: Psyche 39 (1985) H. 1, S. 1 – 11, hier S. 2.
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Ersetzt man an dieser Stelle den Detektiv nicht durch den Analytiker, sondern durch den Biographen oder die Biographin erweitern sich die Verwandtschaftsbeziehungen noch um diese dritte Figur. Lorenzer stellt der analytischen, auf Sprach- und Kausallogik aufbauenden Rekonstruktionsarbeit des Polizeipräfekten bei Poe das „szenische Verstehen“ des Detektivs gegenüber. Dieses szenische Verstehen übersetzt die aus der Quellenanalyse gewonnenen Informationen in einen Erfahrungszusammenhang. Wie der Detektiv und der Analytiker muss auch der Biograph und die Biographin imstande sein, „die Mitteilungen, das heißt ,Sprachformeln‘, mit der ,Lebenspraxis‘“ zu konfrontieren.30 Biographisches Verstehen ist in diesem Sinne immer ,szenisches Verstehen‘, aufgrund der vorgängigen Konfrontation von eigener Lebenspraxis mit den aus Quellen gewonnenen ,Sprachformeln‘, wie Lorenzer die sprachliche Fixierung von Informationen nennt. Um der biographischen Wahrheit, der analytischen oder der Wahrheit eines Verbrechens nahe zu kommen, bedarf es eines kritischen Sprachbewusstseins, man könnte auch sagen: der Fähigkeit zur Quellenkritik. Das folgende Zitat kann geradezu als Anforderungskatalog, was die analytischen Fähigkeiten der Biographen betrifft, gelesen werden: Wir sehen: Kritische Sensibilität gegenüber den Widersprüchen des manifesten Textsinnes wird ergänzt durch die Offenheit für das Outrierte. Kritische Schärfe muß ergänzt werden durch Phantasie und durch eine Imagination abweichend-abartiger Lebensentwürfe. Diese szenische Imagination füllt nicht nur Lücken des manifesten Textes aus, sie verdankt sich nicht mehr bloßer Widerspruchsanalyse, sie ist nicht bloße Umkehr der herrschenden Regeln, sondern lässt einen unvermittelt anderen Textsinn anklingen und sich zusammenfügen zu Figuren – wie die Straßen eines versunkenen Dorfes auf dem Grunde eines Sees.31
Dupins außerordentliche Fähigkeiten verdanken sich vor allem seiner Gabe zur Kontextualisierung der Fakten, „indem der Analytiker [der Biograph, der Detektiv], einen Blick aufs Szenarium wirft“.32 Ähnlich dem Biographen im klassischen Sinne, dessen Gegenstand ,besondere‘ Lebensgeschichten sind, besitzt er einen Sinn für „abweichend-abartige[] Lebensentwürfe“. In einem szenischen Reigen vermittelt Lorenzers Verstehensbegriff zwischen den „Tatfiguren“ in der analytischen Gegenwart, der „therapeutischen Interaktion“, und der Interaktion zwi30 Ebd., S. 3. 31 Ebd., S. 7. 32 Ebd., S. 5.
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schen der gegenwärtigen Lebenssituation und der unbewussten Vergangenheit des Analysanden, mit dem Ziel, das gewonnene Wissen zu teilen.33 Das unterscheidet den Analytiker vom Biographen und vom Detektiv: Deren Objekte sind zumeist bereits tot, sie können nicht mehr von den Erkenntnissen jener profitieren, die sich auf ihre Spuren geheftet haben. Die vergangene Zeit vermittelt sich in der biographischen (Re-)Konstruktion auf andere Weise in die Gegenwart als beim Therapiegespräch, nämlich über die Rezeption (auto-)biographischer Erzählungen durch Forscherinnen und Forscher, Leserinnen und Leser. Der Psychoanalytiker Lorenzer geht von einer Dualität der Sphären aus, einem manifesten Oberflächensinn und einer verborgenen Tiefenbedeutung, sein Detektiv und sein Analytiker setzen „unterhalb des sprachlich organisierten Verblendungszusammenhangs“ an34, um diesen in neue sprachliche Symbole und erzählbare Bilder zu übersetzen.35 Aber gerade darin liegt auch eine Gefahr biographischer Modellbildung, dass sie sich von einer Hierarchie von oben und unten, von bewusst und unbewusst, von manifestem und verdrängtem Textsinn, von apokryphem und kanonischem Text leiten lässt. Die Füllung der Lücken muss nicht nur durch die Würdigung des abseits Liegenden erfolgen, sondern eben auch durch eine detaillierte Oberflächenbeschreibung: des Kontextes bekannter Quellen, der Struktur manifester Textzeugnisse, des Verhältnisses, in dem diese zu Dokumenten im Abseits stehen. Hanns Sachs Harun al Raschid-Figur verweist noch auf eine weitere biographische Metapher, wenn es um Prozesse der Lückenfüllung geht, auch um die Füllung der Lücken zwischen Theorie und Praxis: jene der ,Spur‘ oder der ,Spurensuche‘. Spurenlesen. Der Ethnologe und das Entgleiten der Fakten heißt Clifford Geertz’ autobiographische Spurensuche nach der ,Wahrheit‘ seines Faches. Aleida Assmann spricht von einem „tiefgreifenden Strukturwandel des kulturellen Gedächtnisses“36, der mit der Erosion des Glaubens an die Textzeugen der Vergangenheit einhergeht. Aber auch die mediengeschichtlich jüngere fotografische Repräsentation von Wirklichkeit steht unter Verdacht. Gesellschaften an der Peripherie sind als Resultat des Zweiten Weltkrieges längst vom „Fluß der Weltgeschichte“ erfasst, so Clifford Geertz, wodurch sich 33 34 35 36
Ebd., S. 10. Ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 10. Aleida Assmann: Erinnerungsr ume. Formen und Wandlungen des kulturellen Ged chtnisses. München 1999, S. 208.
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„das Medium geändert [hat], in dem wir existieren“: „Um dies zu vermitteln – was es bedeutet, ein Anthropologe zu sein, der sich nicht irgendwo draußen jenseits der Reichweite von Schlagzeilen aufhält, sondern auf einer Art Verwerfungslinie zwischen dem Großen und dem Kleinen –, sind Fotos völlig ungeeignet. Es gibt nichts, was sich abbilden ließe.“37 Dieses Misstrauen gegenüber dem scheinbar Offensichtlichen führte zu einer Aufwertung des Vergessenen, des Unbewussten, der Fragmente, der Lücken und Spuren in der Überlieferung. Das archäologische Trümmerfeld wurde zum Steinbruch für die Theoriebildung der Psychoanalyse, Walter Benjamin zum Ahnherrn einer unübersehbaren Reihe an Spurensuchern im Zwanzigsten Jahrhundert. Es kam „zu einer folgenreichen Akzentverschiebung ,von Texten zu Spuren‘ als Medien des kulturellen Gedächtnisses“.38 Damit verbunden ist eine Nobilitierung dessen, was unter der Oberfläche oder neben den Wegstrecken liegt, dem nachgesagt wird, es enthalte das Unverfälschte und Unzensurierte in weitaus höheren Anteilen als dasjenige, was im Sonnenlicht offen daliegt. Ein Gedanke, der bei Jakob Burckhardt auftaucht und die Spurensuche zu einer Zentralmetapher auch des Biographischen werden ließ.39 Die Geheimnisträger der (Literatur-)Geschichte, von Harun al Raschid bis zu den Detektiven, verweisen außerdem auf die Bedeutung von Phantombildungen bei der Konstituierung von Biographien. Die von Sigrid Weigel herangezogene Metapher des polizeilichen Phantombildes und seiner Füllung für den Prozess der Eingliederung einzelner Texte und Autoren in das Ganze von Literaturgeschichten, Gesamteditionen, Kanons etc. ist in hohem Maße auch für die Biographie instruktiv. Das Phantombild ergänzt wenige physiognomische Anhaltspunkte zu einem imaginären Porträt des Gesuchten. Dabei werden Teile auf ein Ganzes übertragen, wobei das Unheimliche der Lücken im Dienste einer fraglichen Identität (einer Nationalgeschichte zum Beispiel) sein Geheimnis verliert. Die Phantombildung wird insbesondere dann wirksam, wenn Herkunftsfragen verhandelt werden, 37 Geertz: Spurenlesen, S. 78. 38 Assmann: Erinnerungsr ume, S. 208. 39 Vgl. ebd., S. 209: „Unter ,Texten‘ verstand er [Burckhardt] kodierte Botschaften und damit bewusste Artikulationen einer Epoche samt allen tendenziösen (Selbst-)Täuschungen, die damit verbunden sind. Unter ,Spuren‘ verstand er demgegenüber indirekte Informationen, die das unstilisierte Gedächtnis einer Epoche dokumentieren, welches keiner Zensur und Verstellung unterliegt.“
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Fragen genealogischer Abstammung und Fragen des psychoanalytischen ,Familienromans‘. Deshalb müssen biographische Lückenfüllungen „als Phantombildungen betrachtet werden“.40 Das polizeiliche Phantombild suggeriert, durch das Auffüllen der Leerstellen ein existierendes (Verbrecher-)Foto zu rekonstruieren; tatsächlich ist es eine durch Computeranimation erzeugte Konstruktion. Fotografien ganz allgemein beginnen „ein Eigenleben als Phantomerinnerung“ zu führen41, sobald der kommunikative Erzähltext, der einmal zu ihnen gehörte, wegfällt. Mühsam versucht die biographische Recherche diesen Rahmen wiederherzustellen, oder sie verzichtet gleich darauf und erzählt neue Geschichten zu den alten Bildern. Damit lindert sie den Phantomschmerz, der sich dadurch auszeichnet, dass etwas weh tut, das gar nicht mehr da ist. Noch ein für den biographischen Zusammenhang wichtiger Begriff bzw. noch ein anderes semiliterarisches Genre verbinden sich mit den Metaphern der ,Spur‘ und der ,Spurensuche‘. In seiner Hommage an Erich Auerbach unterstreicht Stephen Greenblatt die Bedeutung von dessen im Istanbuler Exil unter fast völligem Verzicht auf Bibliotheksrecherchen geschriebenen Buch Mimesis für die Methodendiskussion des New Historicism. Die bei Auerbach vorgezeichnete Verwendung der scheinbar nebensächlichen Anekdote erlaubte es, in die „Kontaktzone“ zwischen Literatur und Alltag zu gelangen, „zu dem Ort, an dem die Dinge wirklich geschehen, zur Sphäre der Praxis, die selbst in ihren unbeholfensten und unangemessensten Artikulationen einen Anspruch auf Wahrheit erheben kann, dem sich gerade die beredsamsten unter den literarischen Texten verschließen“.42 Auch die Biographie als literarische und wissenschaftliche Gattung erhebt den Anspruch, in diese Kontaktzone vorzustoßen. In dieser wird das Verhältnis von tatsächlich eingetretenen Ereignissen, tatsächlich erlebten Gefühlen, tatsächlich vollzogenen Handlungen und tatsächlich abgelaufenen kreativen Prozessen zu ihren jeweiligen Repräsentationen immer wieder von Neuem ausgehandelt. Die biographische Anekdote dient dazu, an einem Detail, einem bestimmten Charakterzug, einer persönlichen Eigenart, einem aus dem Rahmen der Konvention fallenden Verhalten eine größere 40 Weigel: Genea-Logik, S. 78. 41 Assmann: Erinnerungsr ume, S. 221. 42 Stephen Greenblatt: „Erich Auerbach und der New Historicism. Bemerkungen zur Funktion der Anekdote in der Literaturgeschichtsschreibung“. In: ders.: Was ist Literaturgeschichte? Frankfurt/M. 2000, S. 73 – 100, hier S. 99 f.
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biographische Wahrheit festzumachen. Das wusste schon Plutarch, der in der Einleitung zu seiner Alexander-Biographie betont, dass die Größe der historischen Figur gerade in der scheinbar unbedeutenden Nebenerzählung erst deutlich zum Ausdruck komme.43 Richard Ellmanns James Joyce-Biographie ist voll von Anekdoten über Dubliner Trinkabende und exzentrische Auftritte, die James Joyce als besonders ausgeprägtes Exemplar in der großen Familie irischer Exzentriker zeigt und als gar nicht so sehr aus der Art geschlagenen Sohn eines Trinkers, Sängers und Hasardeurs. Über diese anekdotischen Einschreibungen in einen irischen Nationalcharakter und eine gar nicht so untypische irische Familiengeschichte gelingt der Biographie aber etwas Entscheidenderes: Die Anekdoten werfen ein Licht auf Joyces Leben und Werke, zugleich sonnen sie sich im Licht dieses Lebens und der Werke, die es hervorgebracht hat. So gelingt es Ellmann, den Zentralbegriff der Joyce’schen Poetik, die ,Epiphanie‘, als jenen Ort zu beschreiben, an dem Leben und Werk, „the truth of life and the truth of experience“ in der Formulierung Leon Edels, sich treffen – auch dies eine Kontaktzone.44 Die Anekdote, sagt Stephen Greenblatt, besitzt in der Literaturgeschichtsschreibung, und dies kann hier durchaus auch für die Lebensbeschreibung gelten, eine doppelte Funktion: Sie belebt die kanonischen, von der Last der Tradition und der Bürde des Großen schon etwas erschöpften kanonischen Werke, „vorausgesetzt, daß die kanonischen Werke der marginalen Anekdote etwas von ihrem eigenen Prestige und von ihrer sich selbst rechtfertigenden Wichtigkeit mitteilen konnten“.45 Der Reiz des anekdotischen Fragments, das sich oft an einem scheinbar weniger wichtigen (Nachlass-)Dokument kristallisiert, liegt im Biographischen in dieser doppelten Funktion einer Entauratisierung des biographischen Objekts – ,Vermenschlichung‘ nennt die Trivialbiographik diesen Bezug zu lebenspraktischer Erfahrung – und seiner gleichzeitigen Aufwertung z. B. durch die Verbindung mit einem künstlerischen Werk: Die im Nachlass des österreichischen Autors Ernst Jandl aufgefundene ,Einkaufsliste‘, auf ihr sind immer bereitzuhaltende 43 „Oft sagt ein unbedeutender Vorfall, ein Ausspruch oder ein Scherz mehr über den Charakter eines Menschen aus als die blutigsten Schlachten, die größten Heeresaufgebote und die Belagerung von Städten.“ Plutarch: Alexander Caesar. Übers. u. hg. v. Marion Griebel. Bibliographisch erg. Ausg. Stuttgart 2004, S. 3. 44 Vgl. Richard Ellmann: James Joyce. Rev. u. erg. Ausg. Frankfurt/M. 1994, S. 141 – 145 u. passim. 45 Greenblatt: „Erich Auerbach und der New Historicism“, S. 99.
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Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs verzeichnet, ist Ausdruck der Alltagsroutine und der Alltagsrituale Ernst Jandls, die in zahlreichen Anekdoten mündlich überliefert sind; literarisch verfremdet hat Ernst Jandl den Lebensalltag eines Schriftstellers in einem Stück mit dem paradigmatischen Titel Aus der Fremde. Die anekdotisch aufgeladene Einkaufsliste erlaubt darüberhinaus Ausblicke auf die eminente Bedeutung von Listen in der avantgardistischen Literatur.46 Das Misstrauen gegenüber Begriffen wie ,Ganzheit‘, ,Totalität‘ und ,Werk‘ gehört zu den Grundhaltungen der Avantgarde. Dadurch weitet sich, ausgehend von einem unbedeutenden Dokument (der Einkaufsliste), der Horizont, vor dem das Individuum sich abzeichnet. Durch die Hinwendung zu den abseitigeren Quellen und den peripheren Lebensspuren kann es gelingen, die Lücken zwischen einer immer schon vergangenen Lebenspraxis und den ,höheren‘ Wahrheiten der Existenz oder eines Werkes nicht zu schließen, sondern neu zu definieren. Mit Blick auf die Literaturgeschichtsschreibung meint Stephen Greenblatt, „erscheint die Leistung jedes Individuums weniger monumental, weniger einzigartig in dem Maße, in dem seine Leistung zu der Entdeckung eines dichten textuellen und materiellen Feldes führt“.47 Dies scheint mittlerweile in der wissenschaftlichen Biographik eingelöst, die akribisch eine Unmenge an Quellen auswertet, was die Zahl der Fußnoten und den Umfang der Anhänge stetig erhöht. Allerdings besteht die Gefahr, der auch die James Joyce-Biographie von Richard Ellmann nicht ganz entgeht, dass vor lauter Bezügen das Objekt verschwindet. Mit Blick auf die Biographie ist nicht so sehr die Dichte des Feldes entscheidend, sondern dessen Materialität. Und hier kommt die Philologie wieder zu ihrem Recht, indem die genaue Beschreibung einer Quelle, ihres kulturellen Kontextes und ihrer materialen Oberfläche, mehr Erkenntniswert besitzt als die Anhäufung von immer noch mehr Material. Gäbe es keine Lücken in der Überlieferung, gäbe es auch keine Kritik an ihr. Die Kritik an der Überlieferung, das heißt die kritische Auswertung und Darstellung des lebensgeschichtlichen Überlieferungszusammenhanges, bleibt ein Desiderat der Biographik. Diese ist nach wie vor zu sehr an Ideen, Werken und Taten interessiert und zu wenig an der Materialität des Überlieferungsprozesses, das heißt an der Art und Weise, in der die Ideen, Werke und Taten erst zu dem werden, als das sie erscheinen. 46 Vgl. Ann Cotten: Nach der Welt. Die Listen der Konkreten Poesie und ihre Folgen. Wien 2008. 47 Greenblatt: „Erich Auerbach und der New Historicism“, S. 96.
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Die Überlieferung ist nicht nur bruchstückhaft, sie ist auch von einer eigentümlichen Dialektik von Anarchie und Zwang geprägt; liegen die Bruchstücke doch nicht frei in der historischen Landschaft herum. Sie sind vielmehr in kodifizierte Systeme eingefügt: in Ordnungen des Wissens, in unterschiedliche Narrative, in Aufschreibepraktiken der Polizei, der Justiz, der Medizin oder auch von Bildungsinstitutionen. Erst ihre unüberschaubare Fülle macht sie zu anarchischen, flottierenden Objekten, zu unendlich manipulierbaren Versatzstücken einer diskontinuierlichen Überlieferung. Ist zu wenig an biographischem Quellenmaterial da, kommen großzügige erzählerische Auffüllungen zum Zug, ist zu viel da, ist es Aufgabe einer erzählerischen Ökonomie, Strukturen zu konturieren, Anfang, Höhepunkt und Ende zu bestimmen, Sukzession oder Pastiche als Modell der Lebenserzählung zu wählen, wobei Letzteres selten vorkommt. Der Verdacht ist nicht unbegründet, dass auch wissenschaftliche Biographien, die vorgeben, investigativ und induktiv vorzugehen, indem sie aus der Fülle an recherchierten Fakten vorsichtig allgemeine Schlussfolgerungen ziehen, den Prozess eher umkehren. Indem sie nämlich die Fakten essentialistischen Annahmen über die menschliche Natur oder den Wert der Kultur unterordnen, „firmly settled in the biographer’s mind“48 ; oder indem sie umgekehrt die Fakten zu frei flottierenden Münzen im, je nach Sichtweise, Spiel mit oder Kampf um Identität erklären. Quellenkritik im Vergleich und die Konsequenzen für die Biographie Im Unterschied zur Quellenkritik in der Geschichts- und Literaturwissenschaft und auch im Unterschied zu den Methoden, wie sie bei der Auswertung von Interviews in den Sozialwissenschaften angewendet werden, verfügt die Biographik über keine methodischen Standards, an denen sie sich messen lassen könnte. Deshalb soll im Folgenden versucht werden, die spezifischen Merkmale biographischer Quellen herauszuarbeiten. Zunächst einmal, stellt der Historiker Jacques Le Goff fest, wird eine Quelle „nur infolge einer Suche und einer Auswahl zur Quelle“. Diese Suche ist nach Le Goff nicht Aufgabe des Historikers, sie ist vielmehr „vorgegeben“ durch Archive, archäologische Funde, Museen, Bibliotheken etc.: „Die Verluste und die Auswahl, die diejenigen trafen, die 48 St Clair: „The Biographer as Archaeologist“, S. 226.
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die Quellen zusammentrugen, sowie die Qualität der Belege sind objektive Gegebenheiten […].“49 Diese Sicht auf die Quellenlage geht davon aus, dass das, was an Quellen überliefert wurde, in Archiven zur Verfügung steht. Es blendet ein Moment aus, von dem bereits im Zusammenhang mit der Figur des Detektivs und des Analytikers die Rede war: Zur Konstitution einer Biographie gehört als eines ihrer zentralen Momente die Suche nach den biographischen Quellen. Zur Lust an der Biographie gehören die Neugier und die Lust an der Auflösung biographischer Rätsel. Die Übertragung vom Biographen und der Biographin auf sein oder ihr Objekt erfolgt nicht zuletzt über die Spurensuche. Diese produziert widersprüchliche Gefühle: Fasziniert von dem sich ständig erweiternden Feld an Bezügen wird die Jagd immer wieder von Neuem angestachelt; frustriert von der Fülle an Material und dem Verlust an eigener Lebenszeit stellen sich Unlustgefühle ein. Wonach suchen wir eigentlich, wenn wir nach biographischen Quellen suchen? Die Fragestellung der Biographin und des Biographen ist weniger spezifisch als die Frage des Historikers, der zum Beispiel wissen möchte, welche historischen Ursachen der Föderalismus in Deutschland hat50, oder die Frage des Soziologen, inwieweit die „Mentalitätsfigurationen“ in drei postsozialistischen Gesellschaften nach 1989 zu beschreiben sind.51 In beiden Fragestellungen spielt ein biographischer Diskurs durchaus eine Rolle, indem z. B. die Beziehung zwischen den „historisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sozialen Lebens in einer nationalen (Teil-)Kultur (,Formalität‘) und den individuellen Verarbeitungsformen dieses Lebens im Kontext biographischer Erfahrungsaufschichtung (,Informalität‘)“ untersucht werden. (Der Soziologe Peter Alheit nimmt hier Bezug auf Norbert Elias’ ,Formalitäts-Informalitäts‘Modell).52 Im Falle der soziologischen Untersuchung werden die Quellen in Form von Interviews vom Wissenschaftler (mit)produziert, bevor sie ausgewertet werden, während der Historiker auf ältere, meist 49 Jacques Le Goff: Geschichte und Ged chtnis. Frankfurt/M., New York 1992 (= Historische Studien, Bd. 6), S. 225. 50 Dieses Beispiel einer historischen Fragestellung nennt Klaus Arnold in seinem Artikel zum Stichwort „Quelle“ in: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Hg. v. Stefan Jordan. Stuttgart 2002, S. 252 f. 51 Vgl. Peter Alheit: „Biographie und Mentalität: Spuren des Kollektiven im Individuellen“. In: Biographieforschung im Diskurs. Hg. v. Bettina Völter, Bettina Dausien, Helma Lutz u. a. Wiesbaden 2005, S. 21 – 45. 52 Ebd., S. 26.
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textuelle Zeugnisse zurückgreift. So könnte Letzterer bei der Beantwortung der Frage nach den historischen Gründen des Föderalismus in Deutschland den nationalen Diskurs, wie ihn Herder in seinen biographischen Schriften entwickelte, im Kontext anderer zeitgenössischer Zeugnisse untersuchen. Den Biographen und die Biographin interessieren, um bei den zitierten Beispielen zu bleiben, alle diese Fragestellungen: Er oder sie interessiert sich für ,Mentalitäten‘, für gesellschaftliche Verhältnisse, für individuelle biographische Erfahrungen, für das Verhältnis von ,Informalität‘ und ,Formalität‘ (bzw. das Verhältnis zwischen privater Lebensführung und öffentlichem Agieren) und für vieles andere mehr. Wo soll er, wo soll sie beginnen? So rückt durch die diffuse Fragestellung fast zwangsläufig die Suche selbst ins Zentrum; und zwar nicht nur in den Fällen, in denen sehr wenig an lebensgeschichtlichem Material zur Verfügung steht. Auch die Unübersichtlichkeit des Materials und die Vielzahl an Antworten, die es bereit zu halten scheint, zwingt zur Entwicklung von die Suche leitenden Fragen (die in der biographischen Praxis allzu selten offengelegt bzw. thematisiert werden). Fehlende Quellen sind ebenso wichtig wie vorhandene Quellen. Jacques Le Goff forderte gar, „ein Inventar der Archive des Schweigens zu erstellen und Geschichte auf der Grundlage von Quellen und fehlenden Quellen zu erarbeiten“. Erst die Quellenkritik machte aus Geschichte Wissenschaft.53 Historisch-wissenschaftliches Arbeiten muss die „Produktionsbedingungen“ von Quellen untersuchen, um Beeinflussungen der Historiographie durch unterdrückte oder manipulierte Quellen auszuschalten: „Die Macht über die künftige Erinnerung, die Macht der Verewigung muß vom Historiker erkannt und ausgeschaltet werden.“54 Der Historiker darf sich nicht zum Sklaven einer Erinnerungspolitik machen, die mit dem zielgerichteten Arrangement und der bewussten Zurichtung der Dokumente operiert und solchermaßen Deutungshoheit über den Tod hinaus zu erlangen sucht. Der Historiker muss erkennen, ob eine Quelle authentisch ist oder erfunden, und er muss erkennen, ob eine Quelle in einen bewusst gesteuerten Überlieferungszusammenhang, der Traditionen ausbildet, eingebettet ist oder als factum brutum, als Rest und zufälliges Zeugnis eines historischen Faktums zurückblieb. Es war die deutsche Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, Johann Gustav Droysen und auf ihm aufbauend Ernst 53 Le Goff: Geschichte und Ged chtnis, S. 228. 54 Ebd., S. 229.
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Bernheim, die die Quellen danach unterschied, ob sie einer „Tradition“ zugehörten, oder ob sie „Überreste“ darstellten, „unwillkürliche[] Hinterlassenschaft vergangener Zeiten“.55 Die Quellenkritik in der Geschichtswissenschaft muss nicht nur entscheiden, ob eine Quelle echt ist, sie muss auch die Tendenz einer Quelle erkennen, die in ihr eingeschlossene Wertung. Dazu bedient sie sich der „Methoden der Kriminalistik“, ähnlich der „Zeugenbefragung vor Gericht“. Durch ein „,Kreuzverhör‘ der Aussagen“ wird die Wahrheit ermittelt.56 Je mehr Indizien vorhanden sind, desto größer der Annäherungswert an die historische Wahrheit. Diese Methoden gehen auf den französischen Benediktiner Jean Mabillon zurück, den Jacques Le Goff als Ahnherrn der modernen Diplomatik zitiert. Mabillon zufolge kann die „Übereinstimmung von zwei unabhängigen Quellen […] die Wahrheit ans Licht“ bringen. Mabillon ist aber nicht nur ein Ahnherr skrupulöser Quellenkritik, sondern als Vertreter französischer Gelehrsamkeit auch ein Antipode einer synthetisierenden und interpretierenden Historiographie, die sich nicht mit der möglichst vollständigen Sammlung und Auflistung der Dokumente zufrieden gibt.57 Gelten diese kursorisch aufgezählten Merkmale historischer Quellenkritik auch dann, wenn sie nicht auf geschichtliche Tatsachen und historische Prozesse bezogen werden, sondern auf Ereignisse im Leben von Individuen, auf Verhaltensweisen, Charakterzüge, Mentalitäten, Generationserfahrungen, oder gar auf die Frage nach den Bedingungen künstlerischer Kreativität? In der Geschichte der Biographik finden sich Beispiele stupender Gelehrsamkeit, die noch das scheinbar nebensächlichste Detail ausfindig machte und auf vielen Seiten auflistete. Daneben finden sich Beispiele einer denkbar großen Ignoranz gegenüber dem Vorhandensein von Quellen. Auf der einen Seite grenzt die Gattung Biographie an die Lexikographie, auf der anderen an die Literatur. Das Kreuzverhör scheint individuellen Erfahrungen unangemessen zu sein, wie sie in persönlichen Briefen, autobiographischen Erinnerungen, in Gesprächen mit Ethnologen oder Soziologen artikuliert werden. Auch in ihrer Haltung gegenüber den Quellen stellt die Biographie die andere Seite einer ,harten‘ Geschichtsschreibung dar. Eine möglichst große Zahl an übereinstimmenden Quellen ausfindig zu machen, um den 55 Arnold: „Quelle“. In: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hg. v. Jordan, S. 253. 56 Klaus Arnold: „Quellenkritik“. In: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hg. v. Jordan, S. 255. 57 Le Goff: Geschichte und Ged chtnis, S. 240.
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Aussagegehalt einer Quelle und damit ihre Echtheit zu verifizieren, kann nicht das vorrangige Ziel einer avancierten biographischen Methode sein. Der Dialog ist der Biographie angemessener als das Verhör. Das erklärt auch ihre Nähe zu Forschungen, die sich auf die Berichte von Zeitzeugen bzw. die Auswertung von mündlichen Gesprächen stützen. (Paradigmatisch ist James Boswells Life of Samuel Johnson von 1791, eine Biographie, die fast ausschließlich auf der Erinnerung an die persönlichen Gespräche aufbaut, die Boswell mit Johnson führte oder deren Zeuge er war.) In ihnen geht es „nicht um die präzise Erinnerung an Ereignisse und Abläufe, sondern um die Verarbeitung von Geschichte, um die Wirkung früherer Erfahrungen auf folgende historische Phasen oder um die Entstehung und sozialen Bedingtheiten eines ,kollektiven Gedächtnisses‘ […] und deren Bedeutung für Kultur und Politik“.58 Die Oral History und die auf Interviews sich stützende soziologische Biographieforschung antworteten in Deutschland und Österreich, wo sie eine besondere Ausprägung erfahren haben, auf spezifische Generationserfahrungen. Die Auswertung mündlicher Quellen untersucht die „Beziehung zwischen individueller Lebensgeschichte und Haltungen bzw. Erfahrungen einerseits und den in Deutschland zahlreichen politischen Systemwechseln andererseits“.59 Oft eignet diesen Untersuchungen ein dezidiert emanzipatorisches Moment, am augenscheinlichsten in der Frühzeit der Oral History, als in manchmal naiver Manier Belege für die ,Stimmen von unten‘ gesammelt wurden. Dieser Impuls, den Stimmlosen eine Stimme zu geben, ist für eine biographische Methodendiskussion vor allem dann von Bedeutung, wenn die Biographie als männliches Genre auf dem Prüfstand steht: Mit der mündlich überlieferten Geschichtsschreibung erhielten auch nichtliteraturfähige oder zuvor nicht öffentlichkeitsfähige Gruppen die Möglichkeit, generationale Erfahrungen zu veröffentlichen und zur Identitätsfindung zu nutzen. Die Geschichtsschreibung von prominenten JugendGenerationen ist traditionell bürgerlich und männlich orientiert. Das wurde und wird mittlerweile in der Forschungsliteratur nachhaltig korrigiert.60
58 Alexander von Plato: „Oral History“. In: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hg. v. Jordan, S. 232. 59 Ebd., S. 233. 60 Jürgen Zinnecker: „,Das Problem der Generationen‘. Überlegungen zu Karl Mannheims kanonischem Text“. In: Generationalit t und Lebensgeschichte im
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Im Gegensatz zu einer auf bestimmbaren Parametern aufbauenden und durch zahlreiches Quellenmaterial gestützten Argumentation geht es bei der Auswertung mündlicher Zeugnisse um die Bruchstellen zwischen individueller und allgemeiner Geschichte; weiters darum, die Brüche und Kontinuitäten auch innerhalb einzelner Lebensläufe zu beschreiben. Dabei kommt es nicht in erster Linie darauf an, ein Ereignis durch eine möglichst große Anzahl von gleichlautenden Berichten zu verifizieren bzw. diese Berichte abzugleichen, um einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu definieren. Die Berichte von Zeitzeugen als biographisches Quellenmaterial zu verwenden, ist auf vehemente Kritik gestoßen. Sigrid Weigel bezieht sich in ihrer Bachmann-Biographie ausschließlich auf Geschriebenes und Aufgezeichnetes. „An die Stelle von Zeitzeugen treten in diesem Buch Zeugnisse“, da nur publizierte oder unpublizierte Texte auf ihre „Sprecherposition“, ihre „Argumentations- und Denkweise“, die „Versprecher“, allgemein ihre „Voraussetzungen“ hin analysiert werden könnten.61 Sander Gilman, Verfasser einer Biographie über den Schriftsteller Jurek Becker, hat gegen diese methodische Askese eingewendet, dass sich durch den Einbezug von Zeitzeugen die Plausibilität bestimmter Lesarten von in Archiven überlieferten Texten „herauspräparieren“ ließe. Die ausschließliche Archivrecherche würde „dem Archiv etwas beimessen, dem es nicht gerecht werden kann – einen spezifischen, singulären Wahrheitsgehalt. Das Archiv wird dann zum Garanten der Objektivität.“62 Ein Moment biographischer Reflexion auf die eigenen Voraussetzungen jedenfalls ist festzuhalten. Es taucht bei A. J. A. Symons auf, wird bei Sigrid Weigel zur Prämisse und ist in David Nyes dekonstruktivistischer Thomas A. Edison-Biographie, von der gleich ausführlicher die Rede sein wird, konstitutiv: Um Biographien offen zu halten, bedarf es der Widersprüche. Bereits Symons erkannte die Notwendigkeit, jeden Bericht eines Zeitzeugen durch einen anderen zu korrigieren, um zu einem ausgewogeneren Urteil zu gelangen: „Still, I had heard one side of the story only; I needed further material for any 20. Jahrhundert. Hg. v. Jürgen Reulecke unter Mitarbeit v. Elisabeth MüllerLuckner. München 2003, S. 52. 61 Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. München 2003, S. 19. 62 Sander L. Gilman: „,Wir wollen jetzt Geschichten erzählen …‘ Sander L. Gilman über seine Jurek Becker-Biographie, Biographik in Deutschland und den USA. Ein Gespräch mit Christian Klein“. In: Grundlagen der Biographik. Hg. v. Klein, S. 203 – 217, hier S. 208.
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judgement.“ Als er einen neuen Bericht findet, ist das ein „wonderful piece of luck“: „Here was a detailed account, seen through the eyes of an enemy […].“63 Die Widersprüchlichkeit zweier unterschiedlicher Quellen über ein und dasselbe Ereignis führt zu keiner Irritation des Biographen, der davon überzeugt ist, dass jede Quelle ihre eigene Wahrheit besitzt. Im Kapitel „The rejected Priest“ steht der Bericht eines Geistlichen über Corvos Zeit in Rom, der dem Eindruck eines anderen Zeitzeugen fundamental widerspricht: „I did not find the inconsistence of the two accounts surprising, however; evidently the reactions to Rolfe of those who met him depend less on what he did and was than on the temperament of the observer.“64 Jahre später kommt es zu einem Widerruf des früheren Berichts durch dessen Verfasser, der aus der nachträglichen Perspektive zu andern Einschätzungen gelangt: „As the years roll by I find I have better insight.“65 Individuen sind durch eine kritische Auswertung von Quellen nicht in dem Maße zu verifizieren, wie es historische Ereignisse sind. Sie entziehen sich notwendig dieser Verifikation, das macht ihre geschichtliche Freiheit aus. Doch sind die Widersprüche ebenso wenig einfach da, wie es widerspruchsfreie, authentische biographische Quellen gibt. Sie müssen vielmehr dem Quellenmaterial durch Interpretation, Kritik und Kommentar abgerungen werden. In den Literaturwissenschaften bedeutet die ,Quellen‘-Metapher zweierlei: Quellen sind einmal die literarischen Texte und deren Umfeld als Basis literaturwissenschaftlichen Arbeitens unter Einbezug der Überlieferung. Zum anderen ist die „Verifizierung und Darstellung des biographischen und zeitgeschichtlichen Hintergrundes“ auf der Basis von nachgewiesenen Quellen ein wichtiges Arbeitsfeld bei der Kommentierung vor allem (auto-)biographischer Texte.66 In literaturtheoretischer Perspektive ist mit der ,Quellen‘-Metapher ein „textgenetische[s] Abhängigkeitsverhältnis“ gemeint, indem „textlich Vorgeformtes“ „als literarisch
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Symons: The Quest for CORVO, S. 25. Ebd., S. 62. Ebd., S. 67. Hans Gerd Koch: „Richtlinien für die Kommentierung autobiographischer Schriften“. In: Kommentierungsverfahren und Kommentarformen. Hg. v. Gunter Martens. Tübingen 1993 (= Beihefte zu Editio, Bd. 5), S. 134 – 140, hier S. 136.
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produktiv Rezipiertes“ bezeugt wird.67 Ein Text wird in seinem Bezug und in seinem Abstand zu Vorlagen, zu Prätexten und Intertexten, dargestellt. Während Quellen in der Geschichtswissenschaft „auf einen historischen Ursprung oder eine historische Tatsache“ zurückverweisen, versteht die Literaturwissenschaft, zumal die Editionswissenschaft, Quellen auch als Texte, die handschriftlich, in Druckschriften, visuell oder akustisch überliefert sein können, die unabhängig von ihrem Entstehungszusammenhang noch einmal in der Zukunft bedeutsam wurden, wenn sie Vorlagen für neue Texte bildeten beziehungsweise Einfluss auf neue Texte hatten. Es geht um die vielfachen, am Anfang der Arbeit außerhalb des Autors gelegenen Ursprünge seines Werkes, lange vor dem Zeitpunkt seiner Publikation.68
Biographische Quellen vereinen beide Momente, die Vergangenheitsaspekte von Quellen und deren Wirksamkeit in der Zukunft. Etwas, das in einem vergangenen Lebenszusammenhang einmal eine bestimmte Funktion hatte, ein Liebesbrief zum Beispiel, wird als Quelle biographischer Konstruktion nochmals produktiv, indem es zum Ferment einer neuen Geschichte wird, die im Zusammenspiel von Biograph(in)/ Forscher(in) und Leser(in)/Rezipient(in) entsteht. Die Art und Weise, wie literarische Texte Quellen verarbeiten, gehört zum Konstitutionsprozess der Literatur. Die Art und Weise, wie Biographien Dokumente aus der Lebensvergangenheit eines Individuums in die Gegenwart transponieren, wodurch sie der biographischen Quelle eine über sich hinausweisende Dimension hinzufügen, gehört zum Konstitutionsprozess der biographischen Erzählung. „Als Konzept der Bedeutungsermittlung mag sie [die Quelle] ausgedient haben, als Zelle des kulturellen Gedächtnisses und textkonstitutive Größe bleibt sie eine integrale Kategorie literaturwissenschaftlicher Erkenntnis.“69 Für die Biographie ist die Quelle als Instanz zur Bedeutungsermittlung nach wie vor von Bedeutung, wenngleich sich auch hier ihr Status deutlich wandelt. Die in den Quellen enthaltenen verborgenen Wertungen sind Teil eines biographischen Überlieferungsprozesses. Biographien sind selbst 67 Gerd Dicke: „Quelle2“. In: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Jan-Dirk Müller. Bd. III, P – Z. Berlin, New York 2003, S. 203 – 205, hier S. 203. 68 Winfried Woesler: „Der Autor und seine Quellen“. In: Quelle – Text – Edition. Hg. v. Anton Schwob u. Erwin Streitfeld unter der Mitarbeit v. Karin KranichHofbauer. Tübingen 1997 (= Beihefte zu Editio, Bd. 9), S. 3 – 19, hier S. 5. 69 Dicke: „Quelle2“. In: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Müller, S. 205.
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Teil dieses Prozesses, da der sich vergrößernde zeitliche Abstand zu den Objekten und die sich verändernden kulturellen Bedingungen niemals eine identische biographische Wahrheit produzieren. Gegenstand von biographischen Unternehmungen ist nicht nur die kriminalistische Feststellung, wer oder was zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort dingfest gemacht werden kann, sondern welche Entscheidungen zu bestimmten Handlungen und zu einem bestimmten Verhalten führten und wie dieses sich in den Lauf der Zeit einschreibt, wie es Wirkmacht gewinnt. Dieses vor allem biographiesoziologische Interesse an den Voraussetzungen, die zu bestimmten lebensgeschichtlichen Entscheidungen führten, gewinnt in einem historischen Überlieferungskontext noch eine ganz andere Dimension. Macht und Ohnmacht der Archive: Quelle und Nachleben Prozesse der Wirkungsgeschichte, der Legendenbildung, der Mythisierung und Monumentalisierung aber auch des Vergessens sind eng mit dem Vorhandensein und der Bewertung biographischer Quellen verbunden. Immer steht einer lebendigen Erinnerung deren Unterordnung in beschreibende, ideologisierende, systematisierende Diskurse entgegen: Der Gegensatz von Biographie als totes Denkmal und als lebendige Erinnerung, die den Toten zu einem Weiterleben in der Gegenwart verhilft, zieht sich als Topos durch die theoretische Literatur wie auch durch die Biographik selbst.70 Nicht nur Lebensgeschichten transformieren sich im Laufe ihres Nachlebens, auch die Darstellungsmodelle sind vielfältigen Weiterschreibungen unterworfen. Im Zuge der Überlieferung passieren die Dokumente unterschiedlichste Grenzstationen. Einen Extremfall unwissenschaftlichen Arbeitens stellen die Mythographien dar, die im Umfeld des ,George-Kreises‘ im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entstanden und geradezu einem Kult des Unwissenschaftlichen huldigen: Jedes Fortleben aber und Fortwirken einer Individualität über die Grenzschwelle ihres persönlichen Lebens hinaus ist, mit Jakob Burckhardt, Magie, ist ein religiöser Vorgang und als solcher jeder mechanischen, jeder rationalen Einwirkung entzogen. Das Unwissenschaftliche, das Unphilologische in jedem Sinne, bleibt das äußerlich bezeichnendste Merkmal 70 Vgl. den Beitrag „Lebensbilder: Biographie und die Sprache der bildenden Künste“ v. Caítriona Ní Dhúill in diesem Band, S. 473 – 499.
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dieses Vorgangs. Was als Legende des großen zweimalgeborenen Menschen, zu seinen Lebzeiten oder nach seinem Tode, langsam aufzustehen, langsam zu wachsen beginnt, lebt, wenn auch nicht in vollständigem Gegensatz, so doch in weitgehender Unabhängigkeit von jeder lebensgeschichtlich quellenmäßigen, jeder stofflichen Erkenntnis, welche, wie achtungswürdig, wie selbst unentbehrlich (als Rohstoff) auch immer, doch durchaus nur die niedere Art echter Überlieferung vertritt.71
Je größer die Persönlichkeit, desto größer ihre Emanzipation von den belegbaren Umständen ihres Lebens, desto länger die biographischen Umlaufzeiten. Aus Quellen werden Legenden: „Die kurze Bahn der Namenlosen verlischt mit dem Gedächtnis des letzten Enkels. Sokrates und Christ, Homer und Shakespeare, Cäsar und Napoleon haben Umlaufszeiten ihres Gestirns, deren Länge die Lebensdauer des menschlichen Geschlechts gleichzukommen scheint.“72 Ernst Bertram macht sich im Vorwort zu seiner Nietzsche-Biographie zum Proponenten einer Geschichtsauffassung, die die geschichtliche Quelle nicht als Faktum, sondern als Prozess begreift, und als deren Zeugen er Jakob Burckhardt und Friedrich Nietzsche aufruft: „Geschichte ist tätige Bildschaffung, nicht Bericht, Abbildung, Bewahrung des Gewesenen.“ Seine Apologie der großen Persönlichkeit und der Legende als ihrem Medium mündet in den Satz: „Alles Gesehene will zum Bild, alles Lebendige zur Legende, alle Wirklichkeit zum Mythos.“73 Denn „keine Philologie, keine Zergliederung“74 vermag „das ganze Wesen eines Großen Menschen zu schauen“.75 Michel Foucaults Einleitungstext zu seiner dann nie realisierten Anthologie Das Leben der infamen Menschen stellt geradezu das Komplementärprojekt zu Bertrams Aufzählung großer Männer in seiner Nietzsche-Biographie dar; ohne jedoch den Begriff der ,Legende‘, wie ihn Bertram verstand, völlig anders zu deuten. Die Lebensläufe unbedeutender Menschen in Foucaults Projekt ließen sich ausschließlich in den Diskursen der Macht, in kurzen Texten in Internierungsregistern nachweisen. Für Foucault und Bertram ist die Legende gekennzeichnet durch „eine gewisse Zweideutigkeit des Fiktiven“. „Das Legendäre“, so Foucault, ist immer auch „sein Realitätskern […], ist schließlich nichts anderes als die Summe dessen, was man davon sagt“: 71 72 73 74 75
Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. 8. Aufl. Bonn 1965, S. 11. Ebd., S. 14 f. Ebd., S. 14. Ebd., S. 10. Ebd., S. 12.
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Es ist indifferent gegenüber der Existenz oder Nichtexistenz dessen, dessen Glorie es überliefert. Wenn er existiert hat, so überhäuft ihn die Legende mit so vielen Wunderdingen, sie verschönert ihn mit so vielen Unmöglichkeiten, daß alles sich so abspielt oder beinahe, als ob er nie gelebt hätte. Und wenn er rein imaginär ist, so liefert die Legende über ihn so viele insistierende Berichte, daß er die geschichtliche Dichte einer existiert habenden Person annimmt.76
Die Legende als geschichtliche Wirkmacht – sie enthält Elemente des Biographischen, die die Quellenkritik transzendieren. Die Biographie, in die das ,Legendäre‘ sich einschreibt, lebt ebenfalls mit und von der „Zweideutigkeit des Fiktiven“. Sie entzieht sich bloßer Faktizität und nährt sich von dem Sprechen, das sich in Umlauf befindet. Die Legende verfügt über keinen einzelnen Autor, an ihr stricken viele mit. Quellen unterliegen in dieser Sicht keinem Wahr/Falsch-Kriterium. Die ,Wahrheit‘ liegt in der Intensität der Diskurse (Foucault) und in der Kraft der großen Persönlichkeit, sich im Nachleben von den niederen Aspekten des Stofflichen zu emanzipieren (Bertram). Karl Kraus, der unter den Zeitgenossen Ernst Bertrams wie kaum ein anderer die veröffentlichte Sprache seiner Zeit verstand und entlarvte, glaubte an die Wahrheit einer gerechteren Nachwelt. Die Macht der in Bibliotheken und Archiven überdauernden Dokumente (der Kraus’schen Texte) überliefert die Verbrechen der Gegenwart an eine ferne Zukunft und in „Länder, wo Fremde wohnen“: Mag die Macht endlich geteilt sein zwischen denen, die mit dem Lug der Formen das Menschenglück zerbrechen, und denen, die mit dem Trug der Phrasen ihnen Vorschub tun; mag die Schande im Staatsgewand oder die Erbötigkeit, hineinzuschliefen, der Ohnmacht dessen spotten, der nichts hat als die Wahrheit – dem einen todsicheren Erfolge können sie nicht entrinnen: was hier, im bloßen Nachbild ihrer Taten und Worte, verzeichnet steht, bleibt stehen! Vor den Äonen, worin die Spur ihrer Erdentage nicht unterzugehen hätte, beschleicht Würdenträger kein Bangen. Aber daß sie, noch vor der Pensionierung, in den Bibliotheken aller Länder, wo Fremde wohnen, aufgespürt werden können – das muß sie doch verdrießen, dies Fehlschlagen der letzten Hoffnung, daß das Bewußtsein der Unehre schwinden werde mit dem Tag, an den sie gelangt ist, und daß der landesübliche Schwamm drüber sei, der das Gewissen dieser Öffentlichkeit vorstellt. Nein, mein sichtbarer Effekt besteht in der Verbreitung der Erkenntnis, daß kein Hund so länger leben möchte wie die Machthaber und Wortführer einer Ordnungswelt, die da wähnen, das einzige, was hier lebendig ist, könne durch Totschweigen begraben wer76 Michel Foucault: Das Leben der infamen Menschen. Hg. u. übers. v. Walter Seitter. Berlin 2001, S. 18 f.
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den. Welche Groteske von Vorspiegelung falscher Tatsachen, wenn Gespenster sich um Mitternacht fürchten, weil ein Mensch umgeht, und ihn keiner gesehen haben will – den Finger auf dem Mund und alle schwörend auf ein Schwert, ,niemals von dem, was sie gehört, zu sprechen‘. Muß ich just, wann und wo sie wirken, zur Welt gekommen sein! Warum nicht fünfzig Jahre später? Warum nicht gleich auf die Nachwelt? 77
Dieses Zitat von Karl Kraus gibt der moralischen Entrüstung über das Verhalten des Wiener Polizeipräsidenten Johann Schober am 15. Juli 1927 Ausdruck. Der Text steht noch in engem Wirkungszusammenhang mit den Ereignissen an diesem für die jüngere österreichische Geschichte entscheidenden Datum. An diesem Tag starben 89 Menschen durch Schüsse der Polizei. Sie hatten zu der Menge vor dem Wiener ,Justizpalast‘ gehört, die gegen ein Unrechtsurteil demonstrierte. Die gegenwärtige Ohnmacht angesichts des Polizeiterrors ist für Kraus nur aufgrund der Gewissheit zu ertragen, dass die Schuldigen vor dem Tribunal der Nachwelt keine Gnade finden würden. Ihre Hoffnung auf Vergessen wird sich nicht erfüllen. Seit dem Jahresbeginn 2008 ist der vollständige Text der Fackel im Internet abrufbar. Damit hat sich Kraus’ Prophezeiung in nicht vorhersehbarer Weise erfüllt: Der Name Johann Schobers und das mit ihm verbundene Unrecht ist über die Kraus’sche publizistische Flaschenpost potenziell einer Weltöffentlichkeit zugänglich. ,Lebendig‘ ist die Überlieferung, die durch kein ,Totschweigen‘ umzubringen ist: „[W]as hier, im bloßen Nachbild ihrer Taten und Worte, verzeichnet steht, bleibt stehen!“ Karl Kraus konnte nicht wissen, dass das universell gewordene Gedächtnis der Menschheit vom Vergessen bedroht sein würde: „Durch körperexterne und vom menschlichen Gedächtnis unabhängige Speichermedien wird der Horizont verkörperter, lebendiger Erinnerung gesprengt und die Bedingung für kulturelle Archive, für abstraktes Wissen und vergessene Überlieferung geschaffen.“78 Kraus’ Hoffnung, dass die lebendigen Toten der Gegenwart nach ihrem Tod von einer lebendigen Erinnerung, deren Medium Bibliotheken und Archive sind, eingeholt werden würden, hat sich nicht erfüllt. Das „bewohnte“ bzw. das „Funktionsgedächtnis“ schlägt „eine Brücke über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“, so Aleida Assmann. Es „vermittelt Werte, aus denen sich ein Identitätsprofil und 77 Karl Kraus: „Mein Abenteuer mit Schober“. In: Die Fackel (1927) H. 771 – 776, S. 13 f. 78 Assmann: Erinnerungsr ume, S. 137.
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Handlungsnormen ergeben“; es ist aber auch vergesslich und „verfährt selektiv“. Seine Bedingung ist die Bindung an einen Träger, „der eine Gruppe, eine Institution oder ein Individuum sein kann“. Das „unbewohnte“ oder das „Speichergedächtnis“ hingegen ist nicht mehr an einen Träger gebunden, es „trennt radikal Vergangenheit von Gegenwart und Zukunft“. Es interessiert sich gleichermaßen für alles und nichts. Das Speichergedächtnis „ermittelt Wahrheit und suspendiert dabei Werte und Normen“.79 In der Biographie kommt es zu Kollisionen zwischen einem vergangenen Funktionsgedächtnis, dessen Spuren noch rekonstruierbar sind – als geschriebene und gelesene Briefe, als Bücher und Zeitschriften, die in einem lebendigen kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhang zirkulierten wie Kraus’ Fackel – und einem Speichergedächtnis, das als Wissen der Nachwelt zugleich größer und kleiner ist als das Funktionsgedächtnis. Durch (biographische) Aktualisierungen von Teilen des Speichergedächtnisses erwacht, was einmal lebendig war, zu einem zweiten, neuen Leben, es gewinnt neue Funktionen. In der Verbindung der beiden Funktionsgedächtnisse – des in Spurenelementen noch vorhandenen vergangenen und des gegenwärtigen – soll zivilisatorischer Fortschritt sichtbar werden. Darin besteht von Wilhelm Dilthey bis Leon Edel der humanisierende Effekt der Biographie. Für Leon Edel gehört es zum Ethos des Biographen, die Quellen nicht zu manipulieren: „[A]nd the telling must be of such a nature as to leave the material unaltered.“80 Dies scheint sich mit dem zweiten Anspruch zu decken, nämlich mittels der Biographie zumindest einen Teil dessen wiederzugewinnen, was einst der Stoff oder das Gewebe des Lebens war und auch sein Gehirn („tissue and brain“). Die Herausforderung bestehe, so Edel, darin, „to shape a likeness of the vanished figure“. Ähnlichkeit aber bedeutet Differenz, nicht Identität. Daraus ergibt sich die Spannung zum ethischen Imperativ, nichts zu verfälschen. In Einklang zu bringen sind die sich scheinbar widersprechenden Anforderungen durch ein verbindendes Drittes, das ,Humane‘. Unter Bezug auf Lytton Strachey, der innerhalb der Geschichte der englischen Biographik für das 20. Jahrhundert eine ähnlich zentrale Position einnimmt wie James Boswell für das 18. Jahrhundert, unterlegt Edel dem biographischen Schreiben eine humanisierende Funktion: „Humane, because, inevitably, the biogra79 Ebd.. S. 133 f. 80 Edel: Literary Lives, S. 5.
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phical process is a refining, a civilizing – a humanizing – process.“81 Stärker noch als in den genuin wissenschaftlichen Disziplinen verbindet sich mit der Biographie ein Anspruch, der sich mit jeder „Gedächtnisarbeit“ verbindet: „Sinngebung, Parteilichkeit und Identitätsstiftung“.82 In Alexander Kluges großem Materialienbuch Geschichte und Eigensinn, das unter vielem anderen auch Bruchstücke zu einer Theorie der Biographie enthält, findet sich eine weitere Variation dieses Gedankens: „Man müsste im Sinne der Levi Strausschen Bricolage die subjektiven Splitter wiedererkennen, einsammeln und daraus eine menschlich zentrierte Welt zusammensetzen.“83 Im folgenden Beispiel zeigt sich, in welcher Spannung ein imaginatives (literarisches) Gedächtnis und ein politisch instrumentalisiertes Speichergedächtnis zueinander stehen. Die Konfrontation beider erzeugt erst ein ,biographisches Gedächtnis‘, das aus Fakten, Legenden, Lügen und dem Drang entsteht, die Wahrheit zu sagen: Der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy musste die Biographie seines Vaters zweimal schreiben. Das erste Mal tat er dies freiwillig, in Form einer opulenten, tausendseitigen Phantasmagorie über die Geschichte des legendären Geschlechts der Esterházy, zu deren Chronist er sich machte.84 Zum zweiten Mal tat er es unfreiwillig und in Form eines Berichts, der nichts mehr von der literarischen Imaginationskraft an sich hat, die den Roman Harmonia caelestis auszeichnet. Esterházy war auf die Stasi-Akten seines Vaters gestoßen, die diesen als informellen Mitarbeiter des ungarischen Geheimdienstes auswiesen.85 Mit der Öffnung der osteuropäischen Archive mussten viele Biographien neu geschrieben werden. Das Archiv verwandelte sich von einem Ort der Geheimhaltung und Repression, einem Ort, von dem eine latente Gefahr ausging, weil in ihm Dossiers über Spitzel und Bespitzelte gespeichert waren, in einen Ort der biographischen Revision. Die Archivierung juristischer, polizeilicher und medizinischer Dossiers führte zu einer Erfahrung, die auch Péter Esterházy machen musste – dass keine Schuld durch rituelle Verrichtungen mehr getilgt werden kann: Und alles, was derart gesagt wird, wird schriftlich registriert, akkumuliert sich, konstituiert Dossiers und Archive. Die einzige, augenblickliche und 81 82 83 84 85
Ebd., S. I. Assmann: Erinnerungsr ume, S. 133. Alexander Kluge: Geschichte und Eigensinn. Bd. 1. Frankfurt/M. 1993, S. 151. Péter Esterházy: Harmonia caelestis. Berlin 2001. Péter Esterházy: Verbesserte Ausgabe. Berlin 2003.
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spurlose Stimme des Beichtgeständnisses, die das Übel auswischte, indem sie sich selber wegwischte, wird nun von vielerlei Stimmen abgelöst, die sich in einer enormen Dokumentenmasse niederschlagen und so durch die Zeit hindurch so etwas wie das ohne Unterlaß wachsende Gedächtnis aller Übel der Welt konstituieren.86
Der geliebte Vater, dem in der literarischen Fiktion ein in die Tiefe der Jahrhunderte zurückreichender legendärer Hallraum angedichtet worden war, stand plötzlich nackt da – in der jämmerlichen, von Denunziation geprägten Wirklichkeit der ungarischen 1950er, 1960er und 1970er Jahre. Von hier aus bekam der erste Satz des Romans eine ganz andere, weniger literarische Bedeutung: „Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt.“87 Es fiel in der Umkehrung dieses ersten Roman-Satzes dem Schriftsteller und Sohn Péter Esterházy keineswegs leicht zu lügen, als er die Wahrheit kannte. Die plötzlich verfügbaren Akten machten aus dem Vater einen Fall. Sie haben aber auch eine lebendige Figur aus ihm gemacht, die nach all den vielen Seiten einer papierenen Romanexistenz – öffentlich, im nachgereichten biographischen Tatsachenbericht – beweint werden konnte. Die Doppelung der Vaterbiographie in eine literarische und eine quasi dokumentarisch-faktuale ist auch deswegen so instruktiv, weil sie die zwei zentralen Momente des Biographischen zeigt: Imagination (Erzählung) und Konstruktion einerseits, Faktizität, Wahrheitsfindung, detektivische Recherche, verbunden mit der Lust am Geheimnis und mit dem Schrecken über das Entdeckte, andererseits. Seien es semiliterarische Werke über ,große‘ Persönlichkeiten, seien es die Lebensläufe von Alltagsakteuren, die in einem sozialwissenschaftlichen Diskurs konstituiert werden, seien es anthropologische Eigenschaften der biographischen Selbstkonstitution, die unser Verhältnis zu uns selbst auszeichnen, wenn wir die diskontinuierlichen Reste unseres Lebens mit Sinn und Ziel versehen – alle diese Formen des Biographischen entstehen im Wechselspiel zwischen Fakten und Fiktionen, zwischen Evidenz und Konstruktion. Heute hat „jede und jeder einzelne […] Zugang zur Verewigungsindustrie; jeder und jede kann sich den Menschheitstraum einer 86 Foucault: Das Leben der infamen Menschen, S. 29. 87 Vgl. auch den Beitrag von László Földényi: „Exemplum und Momento. Die Biographie als Mittel der Darstellung“. In: Spiegel und Maske. Hg. v. Bernhard Fetz u. Hannes Schweiger. Wien 2006 (= Profile, Bd. 13), S. 21 – 32.
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Kommunikation mit der Nachwelt erfüllen“.88 Die (Selbst-)Präsentation in Internetforen, zum Beispiel die Platzierung (auto-)biographischer Videos auf YouTube, globalisiert die eigene Biographie und macht sie tendenziell unabhängig von der Existenz materieller Hinterlassenschaften, in denen das Andenken für die Nachwelt gespeichert ist. Doch ist der Unterschied zu früher in einer Hinsicht nicht so groß: Ob die elektronische Flaschenpost an die Nachwelt einen oder viele Adressaten erreicht, hängt davon ab, wo sie an Land gespült wird, wer sie findet und was aus ihr gemacht wird. Die Fülle an biographischem Material, nun weniger in Form von auf Dachböden verschnürten Briefbündeln oder von in Archiven verwahrten Lebensdokumenten, hat in unvorstellbarer Weise zugenommen und den Status der biographischen Quelle fundamental verändert: Audiovisuelle Formen der (Selbst-)Präsentation machen sichtbar, was bislang im Dunkeln geblieben war, wenn auch das Porträt, die Büste oder das Denkmal berühmter Persönlichkeiten bereits in der antiken Biographik als Schauseite neben und mit der Biographie existierten. Die realen Orte der Biographie wie Häuser, Wohnungen oder Wirkungsstätten verschwinden nicht, doch verweisen sie zusehends auf virtuelle Orte, was den Effekt einer Globalisierung individueller Biographien erzeugt: Wie Menschen in ganz anderen kulturellen Kontexten als denjenigen der Mediennutzer aussehen, was sie denken, welcher Modelle der Selbstdarstellung sie sich bedienen, das ist nun potenziell für alle zugänglich. Damit verändert sich, abhängig von der Medienentwicklung, die den Begriff des ,Archivs‘ ständig verschiebt, auch die Funktion von Biographien als Medien interkulturellen Verstehens. Es scheint unbestreitbar, „daß wir uns von einer alteuropäischen Kultur, die das Speichern privilegiert, hin zu einer Medienkultur der permanenten Übertragung fortbewegen“.89 Die Macht der Dokumente: David Nyes ,Anti-Biographie‘ und Ernst Gombrichs ,intellektuelle Biographie‘ Was bleibt? Manuskripte und Briefe, Fotografien und Filme, Stimmen, Erzählungen, Lebenszeugnisse, Dokumentationen von Interessen und Leidenschaften und Interpretationen all dessen, die sich wieder in den 88 Assmann: Erinnerungsr ume, S. 350. 89 Wolfgang Ernst: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung. Berlin 2002, S. 14.
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Kreislauf der Legenden, Erzählungen und biographischen Mythen einschreiben. In ihrem Text „Practicing New Historicism“ schreiben Catherine Gallagher und Stephen Greenblatt, dass die Grenze zwischen dem Ereignis und seiner Repräsentation selbst ein Ereignis sei.90 Innerhalb des weiten Feldes an textuellen Spuren innerhalb einer Kultur identifizierbare, und das heißt interpretierbare, Einheiten zu isolieren, ist ein praktisches und ein methodisches Problem. Die Grenzen der untersuchbaren Einheiten sind zu einem hohen Grad vom ,Archiv‘ vorgegeben und werden durch die verwendeten Technologien und die Annahmen jener bestimmt, die die Texte erst zu Quellen machen, indem sie diese immer wieder neu ordnen und lesen. „But new historicism undertakes to call these assumptions into question and treat them as part of the history that needs to be interpreted.“91 Angesichts der Menge an verfügbaren Quellen im jeweiligen ,Text der Kultur‘ konzentriert sich die am Kollektiv orientierte Untersuchung auf das Einzelne und die Einzelnen: „[W]hile deeply interested in the collective, it remains committed to the value of the single voice, the isolated scandal, the idiosyncratic vision, the transient sketch.“92 Eine an den Quellen orientierte biographische Methode sieht sich mit einem komplementären Phänomen konfrontiert. Interessiert am Einzelnen führt sie der biographische Prozess mitten hinein in eine Vielzahl an Dokumenten: „The references in these pages“, schreibt David E. Nye in der Einleitung zu seiner ,Anti-Biographie‘ über Thomas A. Edison, „lead not to a hero, but to yellowed papers, restored buildings, old photographs, furniture, cartoons, newspapers, magazines, and museums“.93 Die Form seines Buches müsse deshalb „an implicit critique of biography“ sein.94 Die Einzigartigkeit einer individuellen Lebensgeschichte, das Psychogramm eines einzigartigen Menschen, das Verhältnis von individueller Erfahrung und sozialer Struktur – an die Stelle der individuellen biographischen Evidenz tritt die Einzigartigkeit der isolierten Dokumente. Damit stellt sich Nyes ,Anti-Biographie‘ der 90 „At the very least, the drawing or maintaining of that boundary is itself an event.“ Catherine Gallagher u. Stephen Greenblatt: „Introduction“. In: Practicing New Historicism. Hg. v. Catherine Gallagher u. Stephen Greenblatt. Chicago, London 2000, S. 1 – 19, hier S. 15. 91 Ebd., S. 14 f. 92 Ebd., S. 16. 93 David E. Nye: The Invented Self. An Anti-Biography from Documents of Thomas A. Edison. Odense 1983, S. 16. 94 Ebd., S. 23.
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Herausforderung durch den „great table of biography“, an dem die Biographen einem Haufen disparater Dokumente gegenübersitzen.95 David E. Nye baut seine biographische Erkenntniskritik auf der Widersprüchlichkeit der Dokumente auf, die deren Informationswert konterkariert und subvertiert. Die Dokumente erscheinen bei Nye als „patterns of translation, displacement, and contradiction“.96 Jedes geschichtliche Werk, und auch die Biographie ist ein geschichtliches Werk, ist nicht die realistische Erzählung eines bekannten Sets vergangener Ereignisse, sie ist vielmehr „a restructuring of earlier codifications of these events“. Dies erfordere einen Richtungswechsel zu einer „semiotics of history, which will make the codes themselves a part of the object of study“. In dem Moment, in dem Worte auf Seiten erscheinen, Fotografien in Zeitungen publiziert oder akustische Signale aufgezeichnet werden, „at the moment of composition language becomes the primary object of history“. Damit verabschiedet sich Nyes biographisches Projekt von der Chronologie der konventionellen (Geschichts-)Erzählung und ersetzt sie durch eine Darstellung der „codification of ruptures, the expression of contradictions“: „Semiotic history begins with a recognition that the materials already are divided, scattered, and translated into photographs, restorations, diaries, notebooks, letters, and other historical works.“ Die Annahme, dass ,originale‘ Primärquellen existierten, ist ein Mythos, lediglich ein anderer Ausdruck für die Suche nach der verlorenen Präsenz.97 Nyes entlang strukturalistischer und poststrukturalistischer Theorien entwickelte antibiographische Methode einer historischen Semiotik besitzt weitreichende Konsequenzen. Sie wurde auch ein Vierteljahrhundert nach ihrer Publikation nicht einmal ansatzweise von der Praxis der Biographik eingeholt. Für Nye sind Dokumente, die in der Vergangenheit produziert wurden, unabhängig davon, wie vollständig sie sind, „transcriptions of their objects of signification“.98 Die Bedeutung dieser Transkriptionen variiert, abhängig vom jeweiligen Code als dessen Teil sie verstanden werden. An die Stelle temporaler Sequenzen müsse deshalb eine Organisation des Materials treten, die die verschiedenen simultanen Versionen, in denen das biographische Objekt existiert, anerkennt. Anstatt eine temporale Linie durch die Dokumente zu zie95 96 97 98
Edel: Literary Biography, S. 10. Nye: The Invented Self, S. 18. Ebd., S. 19. Ebd., S. 20.
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hen, isoliert eine synchrone Herangehensweise eine kleine Zahl von Dokumenten, die abweichende Lesarten anbieten. Nyes Ansatz verabschiedet die klassischen biographischen Konzepte, die die Temporalität und Motiviertheit biographischer Entwicklungen unterstellen und ersetzt sie durch eine Diskursanalyse: Where traditional history employs a series of developmental concepts to make sense of documents, such as the concepts of personality, motivation, growth, birth, and death, the semiotic approach seeks different sort of order altogether, emphasizing oppositions, contradictions, rewritings, inversions, mediations, and other kinds of formal relationships that exist between documents.99
Welche Tragfähigkeit und Tragweite Nyes Methode besitzt, erweist sich am konkreten Beispiel, Thomas A. Edisons Laboratorium ,Menlo Park‘. Nye unterscheidet drei ,wahre‘ Versionen des „Menlo Park complex“: 1. Das Laboratorium, wie es in den Memoiren Edisons beschrieben wird 2. Der rekonstruierte Gebäudekomplex, der 1929 Teil eines Museum wurde und 3. ,Menlo Park‘ als journalistischer Diskurs in zeitgenössischen Zeitungsberichten und Magazingeschichten. Vergleichbare semiotische Positionen können isoliert werden, wenn es um Edisons berühmteste Erfindung geht, das elektrische Licht.100 An einem anderen Beispiel, dem Verhältnis Edisons zu seinem ersten Sohn, einem im Gegensatz zu seinem Vater glücklosen Erfinder, zeigt Nye einen anderen seiner methodischen Imperative: Die Vermischung verschiedener Dokumente mit dem Ziel, ein homogenes Bild des Sohnes als phantastische Parodie seines erfolgreichen Vaters zu zeichnen, ist unzulässig. Private und öffentliche Dokumente, Gebäude und Fotografien würden meist gemäß literarischen Konventionen wie sie auch die historische oder die wissenschaftliche Biographie bestimmen zu einer konsistenten Erzählung verrührt.101 Nimmt man hingegen die Widersprüchlichkeiten, die ein ,Close Reading‘ der Dokumente erzeugt, ernst, dann führt das zur Sprengung der Gattung: „[T]hey explode biography.“102 Die Methode besitzt einen kritischen Aspekt. Nyes ,Anti-Biographie‘ beansprucht für sich, soziale Widersprüche zur Sprache zu bringen, die in der konventionellen biographischen Erzählung zu verschwinden drohen. Die Mehrzahl der biographischen 99 100 101 102
Ebd. Ebd., S. 21 f. Ebd, S. 22 f. Ebd., S. 24.
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Konstruktionen sucht die Dichotomie von ,privat‘ und ,öffentlich‘, von Vorder- und Hintergrund zu überwinden und das biographische Objekt mit seiner Umwelt zu verbinden. Dazu trägt auch die posthume Aufmerksamkeit bei, die die biographische Beschreibung einfordert.103 Angetrieben von der Erwartungshaltung eines Publikums, das die Wahrheit hinter der Fassade enthüllt sehen möchte (Nye vergleicht diese Haltung mit derjenigen des kritischen Touristen, der den Erfolg einer Reise daran misst, inwieweit es gelungen ist, hinter die Vorderseite touristischer Klischees zu dringen), produziert die konventionelle Biographik eine Metaphorik des Aufdeckens, Durchdringens und Demaskierens, die vom Impuls bestimmt wird, das ,wahre‘ Gesicht hinter der Maske zu enthüllen.104 Eine Konsequenz ist die Privilegierung des unveröffentlichten Materials gegenüber dem veröffentlichten. Nye plädiert für eine klare Trennung zwischen Frontstage und Backstage, ohne einer der beiden Bühnen mehr Gewicht beizumessen. Im Nachlass des Autors Ernst Jandl fanden sich Aufnahmen von Telefongesprächen, die Jandl ohne Wissen seiner Gesprächspartner aufgezeichnet hat. Ist dieser ,private‘ Jandl der ,authentischere‘ als jener, der auf öffentlichen Bühnen Erfolge feierte, die vielfach audiovisuell dokumentiert sind? Nyes Kritik an der biographischen Illusion eines Geheimnisses, das es aufzudecken gilt, hat eine Aufwertung des öffentlich zugänglichen Materials als Teil des biographischen (Selbst-)Bildes zur Folge. Seine vielleicht entscheidendste methodische Prämisse betrifft die Unterscheidung zwischen einer ,Found Order‘ und einer ,Translated Order‘, erweitert um die Kategorien ,privat‘ und ,öffentlich‘. Daraus ergibt sich für Nye ein vierteiliges Raster: Briefe, Notizbücher, Tagebücher und Wohnungen als private Hinterlassenschaften sowie Magazine, Zeitungen, Fotografien und öffentliche Gebäude als allgemein zugängliche Räume bilden den Fonds einer ,vorgefundenen Ordnung‘, wie ihn Archive, Bibliotheken, öffentliche Institutionen konstituieren. Allerdings hat bereits in den Archiven die Transformation einer vorgefundenen Ordnung in eine Archivordnung eingesetzt. Biographien (privat), Museen und Filme (öffentlich) bringen in einem weiteren Schritt durch Selektion, Interpretation und Anordnung des Materials 103 Vgl. in diesem Kontext die Ausführungen zur „Biographie des Dings“ und zur Forderung nach einer Bindung der Handlungen an die Details des täglichen Lebens durch die sowjetischen Faktographen im Beitrag von Devin Fore: „Gegen den ,lebendigen Menschen‘“ in diesem Band, S. 353 – 381. 104 Nye: The Invented Self, S. 24 f.
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eine Ordnung zweiten (oder dritten, wenn man die Archivordnung einbezieht) Grades hervor. Dazu kommt als dritte (oder vierte) Ebene eine dekonstruierte Ordnung, die Lücken und Widersprüche innerhalb der vorgefundenen und mediatisierten Ordnungen thematisiert, wie dies die ,Anti-Biographie‘ tut.105 Nyes Modell ist selbst eine Übersetzung der strukturalistischen binären Ordnungen, wie sie Claude Lévi Strauss für die Kulturanthropologie und A. J. Greimas für die Erzähltheorie entwickelt haben. Anstatt ,Tiefe‘ einfach an scheinbar offensichtlichen Zeichen abzulesen, geht es um die Tiefenstruktur jeder Quelle, sei sie öffentlich oder privat, Teil einer aufgefundenen oder Teil einer bereits übersetzten Ordnung. Nyes räumliches Denken ersetzt jedoch ein topologisches Modell durch ein anderes: An ihrer Oberfläche erscheinen die Dokumente, als wären sie unschuldig, als gehörten sie nicht bereits bestimmten Ordnungen an, in einer Tiefendimension sind die Dokumente durch fundamentale „propositions“ geordnet: „[R]esearch must focus not upon striking remarks or other apparent signs of genius […] but upon the underlying thematae which produce patterns […].“106 An die Stelle der narrativen Konstruktion eines „unitary self“ tritt die Konstruktion eines unter der Oberfläche verborgenen Raums von Bedeutungen.107 „Patterns“ ersetzen „stories“ und „structures“ ersetzen „movements“.108 Nyes aus theoretischen Überlegungen und aus der biographischen Praxis erwachsene methodologische Einwände waren wenig nachhaltig, biographisches Schreiben bleibt theorieresistent: „Disciplinary boundaries proved too strong for deconstruction, and historians kept on writing much as they had before, as though the realistic novel of c. 1880 remained the last word in literary experimentation.“109 Ein ganz anderes Beispiel für eine nicht-erzählerische, am Nachlass orientierte ,intellektuelle Biographie‘ ist Ernst Gombrichs Aby Warburg. 110 Der Sammler, Archivar und legendäre Bibliotheksgründer Aby Warburg hinterließ ein für Außenstehende fast unüberschaubares Zettelwerk. Aus diesem entwickelte er seine Vorstellungen vom Weiterleben bestimmter Bildmotive, von Affektstrukturen und ,Pathosfor105 David E. Nye: Post – Thomas Edison (Recalling an Anti-Biography). Odense 2003 (= Odense American Studies International Series), S. 8. 106 Nye: The Invented Self, S. 33. 107 Ebd., S. 74. 108 Nye: Post-Thomas Edison, S. 5. 109 Ebd., S. 9. 110 Ernst Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt/M. 1984.
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meln‘, aus ihnen entwickelte er seine anthropologischen Schlussfolgerungen: Warburgs Kampf mit seinen inneren Dämonen, seine jahrelange schwere psychische Krise, so schreibt sein Biograph, der Kunsthistoriker und langjährige Leiter des Warburg-Instituts in London Ernst Gombrich, „verschmolz in seiner Vorstellung mit dem Kampf der Menschheit gegen Irrationalität und primitiven Trieb“.111 Das Quellenmaterial, das dem Biographen zur Verfügung stand, ist einmalig: „Warburg, so stellte sich heraus, hatte niemals ein Stück Papier weggeworfen. Er schrieb unter großen Schwierigkeiten, und er schrieb fortwährend. Ein großer Teil seines Nachlasses bestand aus Entwürfen, flüchtig hingeworfenen Stichworten, Formulierungen und Fragmenten.“112 Minutiös hätte Gombrich einzelne Reisen, ja Tagesabläufe Warburgs rekonstruieren können. Dass er darauf verzichtete, liegt an der Fülle, die eine Auswahl schwierig und zwangsläufig beliebig macht; zum anderen an der Überzeugung Gombrichs, dass die „Ideen“ zwar mit einem „biographischen Gerüst“ versehen werden müssen113, aber die Darstellung seiner psychischen Erkrankung aus den Tagebüchern Warburgs für Leser ohne psychiatrische Kenntnisse nicht aufschlussreich wäre. Die besten Interpretationen stammten immer noch von Warburg selbst.114 Statt der biographischen Evidenzen liefert Gombrich Charakterisierungen der geistigen Einflüsse, der Lehren und der Lehrer, die auf Warburg gewirkt haben. Damit kommt die weitverzweigte anthropologische Diskussion, die Debatte über das Verhältnis von Vernunft und Irrationalismus vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er Jahre ins Blickfeld. Die Fülle des Materials und die zahlreichen geistesgeschichtlichen Kontexte, in die Gombrich Warburg stellt, machen seine Biographie selbst zu einem von retardierenden Momenten gezeichneten Unternehmen. Das liegt auch an Gombrichs ausführlicher Darstellung der Warburg’schen Denkbewegungen, die in komprimierte Absätze eine Fülle an (sprachlichen) Bildern in langen Schachtelsätzen packen. „Je tiefer er an einem Problem beteiligt war, desto mehr dachte er in Bildern.“115 Mäandernde Denkbewegungen, materialisiert in einer Fülle von Notizen, stellen Biographen vor Herausforderungen. Gombrich zitiert Warburgs Selbstcharakterisierung als „latente[r] Dramati111 112 113 114 115
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ker“116, der versuchte, sich widersprechende Positionen in seinem Denken zu vereinen. Dem Warburg’schen Denken in Bildern entspricht die Beigabe zahlreicher Abbildungen, die den Materialcharakter der ,intellektuellen Biographie‘ Warburgs nochmals verstärken. Ernst Gombrichs Aby Warburg wie David E. Nyes Thomas A. Edison entwickelten ihre biographischen Methoden aus der Konfrontation mit immensen materiellen Archiven. Gäbe es diese nicht, oder sähen sie anders aus: die Biographien hätten ein völlig anderes Gesicht. Die Medialität der Überlieferung: Handschriften, Druckschriften, Stimmen In seinem kleinen Text über das Archiv benennt Jacques Derrida dessen Dialektik: „Die Archivierung bringt das Ereignis in gleichem Maße hervor, wie sie es aufzeichnet.“117 Derrida bezieht sich auf die Psychoanalyse, der Satz gilt auch für die Biographie. Beiden Gedächtnismedien geht es um die Verdrängung, die Latenz, die Funktionen von Lebensspuren. Wenn es zur Entstehungszeit der Psychoanalyse bereits E-Mail gegeben hätte, wäre die Psychoanalyse etwas anderes geworden, meint Derrida, der die Bedeutung der handschriftlichen Korrespondenz als zentral für den Konstitutionsprozess der jungen Wissenschaft ansieht.118 Und auch dieser Befund gilt für die Biographie. Die Unterscheidung zwischen Handschrift und Druckschrift macht deutlich, wie sehr die Materialität der überlieferten Dokumente das Biographische konturiert. Immer noch bilden – zumindest in der westlichen Biographieproduktion – handschriftliche Dokumente, und hier vor allem Briefe, den wichtigsten Fonds biographischen Arbeitens. In Wilhelm Diltheys geistesgeschichtlicher Konzeption der Biographie spielen die Dokumente eine entscheidende Rolle. Dilthey hat einen Problemhorizont eröffnet, der von praktischen archivarischen Fragen – immerhin kann er als Verfasser des Gründungsmanifestes der modernen Literaturarchive bezeichnet werden119 – und von erkenntnistheoretischen Fragen ausgeht: „Das Verstehen vollzieht sich an allen 116 117 118 119
Ebd., S. 186. Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Berlin 1997, S. 35. Vgl. ebd., S. 36. Wilhelm Dilthey: „Archive für Literatur“. In: Deutsche Rundschau Bd. 58 ( Januar-Februar-März 1889), S. 360 – 375.
Der Stoff, aus dem das (Nach-)Leben ist 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
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äußeren Begebenheiten. Diese sind vollständig bis zum Tode, und sie haben nur am Erhaltenen eine Stoffgrenze.“120 Diltheys Ausgangsthese lautet: „[D]er Gegenstand der Geschichte ist uns gegeben in dem Inbegriff der Objektivationen des Lebens.“ Diese sind einerseits von flüchtiger Natur und andererseits von überdauernder materieller Konsistenz: [I]n den Zusammenhang der Natur sind die Lebensäußerungen des Geistes von rasch verschwindender Gebärde und flüchtigem Wort bis zu unvergänglichen poetischen Werken, der Anordnung, die wir der Natur und uns gegeben haben, den Rechtsordnungen und Verfassungen, unter denen wir leben, eingebettet. Sie bilden die äußere Wirklichkeit des Geistes. Die Dokumente, auf denen vornehmlich eine Biographie beruht, bestehen in den Resten, welche als Ausdruck und Wirkung einer Persönlichkeit zurückgeblieben sind. Eine eigene Stellung nehmen naturgemäß unter ihnen Briefe derselben und Berichte über sie ein.121
Die Gebärden und das gesprochene Wort als Ausdrucksformen gelebten Lebens konnten vor der Existenz audiovisueller Medien nur aus den Handschriften abgelesen werden. Die Aufgabe des Biographen nach Dilthey ist es, „aus solchen Dokumenten den Wirkungszusammenhang zu verstehen“.122 Der Status der materiellen Überlieferung besitzt für Dilthey eine nationale Komponente. Sein Aufsatz über die Notwendigkeit von Literaturarchiven ist 1889 entstanden und im Kontext der deutschen Einigung zu lesen. Dilthey stellt hier, den geläufigen nationalen Klischees folgend, dem merkantilen, nach außen gerichteten kolonialen Drang der Engländer und der Franzosen die nach innen wirkende Kraft des deutschen Geistes entgegen: „Während andere Völker zu Land und zu Meer sich ausbreiteten, begann bei uns ein Zusammenhalten geistiger Lebensgestalten, ein Verknüpfen derselben in der Tiefe des Bewußtseins.“ Die Franzosen verfügten über „heitere[n] Lebenssinn“ und einen in „mathematischer und logischer Klarheit“ ausgebildeten Sinn für die Erkenntnis der Außenwelt. Im „Beobachten“ und „Sammeln“ sind die Engländer den Deutschen überlegen, ihre Art zu denken gibt „jedem Vers von Shakespeare, jedem Brief von Dickens oder Carlyle einen eigenen exzentrischen Reiz“. Aber: „Unser Volk hat die geistige Continuität der europäischen Entwicklung festgehalten, die 120 Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt/M. 1981, S. 308. 121 Ebd., S. 304. 122 Ebd.
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bei Franzosen und Engländern zerriß.“123 Das ist die europäische Sendung der jungen deutschen Nation. Sie führt nach innen, wo durch die exzentrische Orientierung der anderen großen europäischen Kulturvölker eine Lücke entstand. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, bedarf es zum Beispiel der Einrichtung von Literaturarchiven, in denen das geistige Schrifttum versammelt wird, auch jenes weniger bekannter Menschen. Dilthey möchte die „ganze[] literarische Atmosphäre“ beschreiben.124 Das große Feld der Literatur dient als Gradmesser für die geistige Synthesekraft des deutschen Geistes. Diltheys Plädoyer für eine institutionalisierte Sammlung der Dokumente enthält ein demokratisches Moment, das auf der Ebene der Sammlung nicht von einer Hierarchie der Geistesgrößen ausgeht. (Wenn es um die Biographiewürdigkeit geht, sieht Dilthey allerdings die Fähigkeit zur geschichtlichen Synthese wieder bei den ,Großen‘.125) Archive sollen außerdem die selektive Praxis in schlecht geordneten Familienarchiven korrigieren. In diesen würden Dokumente von Familienmitgliedern unter Verschluss gehalten, weil diese argwöhnten, irgendwo in den Papierbergen könnten sich Leichen verbergen, könnte das Ansehen der Person beschädigt werden.126 (Diese Gefahr besteht bis heute.) Archivarische Quellen besitzen für Dilthey in der politischen Geschichte noch eine wichtigere Bedeutung als in der Literaturgeschichte. Denn „zwischen den Papieren“ komme der bislang unterschätzte Prozess politischer Willensbildung als doppelter Akt zustande: als Zusammenspiel von „mündlichen und schriftlichen Verhandlungen, Beschlüssen und Verträgen“. Darin drückt sich ein moderner Gedanke aus, dass sich nämlich Mündlichkeit gleichsam zwischen den Zeilen der nicht veröffentlichten Notizen, Aufzeichnungen u. Ä. erfassen lässt: „Gewiß unterschätzt man jetzt oft, was uns gleichsam zwischen den Papieren unsichtbar bleibt; dennoch bilden diese die wichtigste Quelle, und gedruckte Denkwürdigkeiten, Zeitungen, Darstellungen von Zeitgenossen treten dagegen zurück.“ Demgegenüber setze sich der „Vorgang der Literatur“ hauptsächlich aus Gedrucktem zusammen; wenn auch weniger wichtig als im Falle politischer Archive, ist aber auch hier der „handschriftliche Nachlaß“ von unschätzbarem Wert. Es zeugt von „Mangel an Einsicht“, so Dilthey, wenn der „Werth unserer 123 124 125 126
Dilthey: „Archive für Literatur“, S. 361. Ebd., S. 362. Siehe den einleitenden Beitrag v. Bernhard Fetz in diesem Band, S. 25 f. Dilthey: „Archive für Literatur“, S. 368.
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Literatur in die Objectivität eines einzelnen Kunstwerks verlegt“ wird. Dem stehe das „lebendige“ Interesse der Leser von Briefen oder Biographien gegenüber, die anderes interessiere als die unvergängliche Größe des objektiven Kunstwerks.127 Auf der Ebene der Dokumente gewinnt jener in der Geschichte der Biographie immer virulente Dualismus von Lebendigkeit und Monumentalität Anschaulichkeit, wenn der performative Charakter von Handschriften einem scheinbar erratischen Druckbild entgegen gesetzt ist. Dabei verläuft die Wertschätzung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, von Stimme und Schrift in historischen Wellenbewegungen. Keineswegs ist es so, dass man das eine zugunsten des anderen abwerten muss: Johann Gottfried Herder, der alles wichtige Wissen der Menschheit in gedruckter Form zusammenfassen wollte, hatte einen Begriff von der „lebendige[n] Sprache […] in der Fülle ihres Ausdrucksreichtums“.128 Gemeint ist damit nicht nur Mündlichkeit im engeren Sinne, sondern auch die Stimme in der Schrift; wenn auch der Buchdruck der Dichtkunst vieles von ihrer lebendigen Wirkung geraubt hat.129 Die Hochschätzung der Schrift geht mit der Betonung ihrer präsentischen Qualitäten einher. Francis Bacons Lob der Buchstaben, die auf ihrer Reise durch Zeiten und Räume Wissen und Erkenntnis verbreiten und dadurch lebendig werden, ersetzt die Magie religiöser Rituale durch die Magie einer kritischen Philologie.130 In der Frühen Neuzeit wird das Buch zur Waffe gegen unaufgeklärtes, religiöses Wissen, wobei es selbst kultischen Charakter annehmen kann. Die Schrift ist „weit mehr als eine bloße Notationsform; sie wird gleichgesetzt mit elementarem Leben, geheimnisvoller Quintessenz und Unsterblichkeit“.131 Die Monumentalität begleitet Diltheys Aufsatz trotz der egalitären Kraft der im Archiv versammelten Dokumente wie ein Schatten. Denn um mit den großen Schriftstellern an den „idealen Sinn des Lebens“ glauben zu können, müssen wir „diese Menschen kennen, lieben und verehren“. Die Freilegung der im Dunkel der Vergangenheit „wir127 Ebd., S. 363. 128 Karl-Heinz Göttert: „Wider den toten Buchstaben. Zur Problemgeschichte eines Topos“. In: Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme. Hg. v. Friedrich Kittler, Thomas Macho u. Sigrid Weigel. Berlin 2002, S. 93 – 113, hier S. 96 f. 129 Vgl. ebd., S. 98. 130 Vgl. Assmann: Erinnerungsr ume, S. 195. 131 Ebd., S. 197.
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kenden Kräfte“ bedarf einer Archäologie, die mit den Dokumenten ihr Wirkendes, Vorgängiges, Lebendiges freilegt. Wohl bestehen die Gestalten der Dichtung ohne ihre Schöpfer, gewinnen sie ein Eigenleben jenseits ihrer Hervorbringer. „Aber in diesen Gedanken und Gestalten pulsirt das Herzblut eines Menschen, in jedem Worte ist der Athem desselben.“ Die bloß imaginäre Gesellschaft der „mächtigen Personen“ verwandelt sich im Medium der biographischen Anteilnahme in wirkliche, wirkende Kräfte. Die „Aufnahme in das eigene Seelenleben“ bewirkt eine „Zunahme an innerer Kraft“. Das Fremde erhöht das Eigene im Akt des Verstehens fremden Lebens. Als ob es sich um einen demiurgischen Akt handelte, beschreibt Dilthey diesen Vorgang. So geschieht es, dass „der heldenhafteste Mensch unter unseren Schriftstellern, Schiller, in einem jeden von uns als ein großer, hoher Wille“ lebt.132 Erst die Existenz von Entwürfen und Briefen lässt dem „Zirkel in der hermeneutischen Operation“ völlig entrinnen. Ohne sie bliebe die Beziehung zwischen dem Kopf des Autors und seinen Werken ohne lebendigen Zusammenhang, Verstehen liefe Gefahr, zum sterilen Zirkelschluss zu werden. Die aus den Handschriften rekonstruierte biographische Figur stellt diese in ein genealogisches (Vater, Mutter) und ein soziales (Arbeitsbedingungen, Einflüsse) Feld. Beide Felder sind im Nachlass dokumentiert.133 Der Literarhistoriker wie der Ästhetiker profitieren von den Handschriften. Ersterer, indem er die kausalen Zusammenhänge der wirkenden Kräfte rekonstruiert, Zweiterer, indem er „der Natur der Einbildungskraft“ auf die Schliche kommt. Der Ästhetiker muss beim Künstler „in der Werkstatt“ sitzen.134 (So lautet hundert Jahre später auch die Insinuation der französischen critique g n tique.) Er usurpiert die Methoden der modernen Naturwissenschaften und die Methoden von Historikern des Politischen wie Tocqueville. Gleich ihnen seziert er anstatt des menschlichen Körpers, anstatt des Staats- und Gesellschaftskörpers „den Körper der Literarhistorie“. Er zergliedert, analysiert, findet Strukturen heraus, wodurch der wissenschaftliche Anspruch der Literaturwissenschaft untermauert wird: „Auch wir möchten die analytische Kunst Tocqueville’s üben.“135
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Dilthey: „Archive für Literatur“, S. 363 f. Ebd., S. 364. Ebd., S. 365. Ebd., S. 366.
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Handschriften sollen gemeinhin etwas über die psychische Verfassung der Schreiber wie über deren charakterliche Eigenschaften aussagen können. Aus der Hand lässt sich das Schicksal ablesen und aus der Handschrift vielleicht die individuellen Voraussetzungen dessen, was uns dann als Schicksal trifft. Während der gedruckte Text den materiellen Charakter jeder sprachlichen Äußerung, der schriftlichen wie der gesprochenen, tendenziell tilgt, ,handelt‘ die Handschrift nicht nur von ihrem Inhalt, sondern auch immer von der Weise ihrer Hervorbringung. Vom Schriftbild lässt sich auf den emotionalen Einsatz schließen, der hinter der Handschrift steht. Ähnlich unterscheidet sich das Unbewusste vom manifesten ,Text‘ des Bewussten. Diesen können wir lesen, während uns das Unbewusste in großen Teilen verborgen bleibt, so wie wir meist auch nichts von der Existenz dessen wissen, was dem gedruckten Text vorausgegangen ist: den Notizen, Exzerpten, Entwürfen. Die Arbeit der Editionsphilologen, der Archivare und der Biographen besteht nun gerade auch darin, vorerst disparate Fragmente und Entwürfe einem (Lebens-)Text zuzuordnen, wodurch ,dunkle‘ Stellen aufgeklärt werden können und es zu einer Modifizierung einer tradierten Lesart kommen kann. Dies besitzt einen aufklärerischen Effekt, wenn die ,Ideologie‘ eines Textes deutlich wird: Das Ausgeschlossene und nun Zugängliche kann unter Umständen den Preis benennen für die Konstituierung eines geschlossenen Ganzen. Gerade für sogenannte ,realistische‘ Literatur trifft dies zu, wobei sich eine Analogie zum individuellen Entwicklungsprozess ergibt: Ein Teil der Macht solcher Texte liegt in der Unterdrückung dessen, was man ihre Produktionsweisen nennen könnte, der Vorgänge, durch die sie zu dem wurden, was sie sind; in diesem Sinne haben sie eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem Leben des menschlichen Ich, das durch die Verdrängung seines eigenen Entstehungsprozesses gedeiht.136
Mit der Sichtung, Ordnung und Kommentierung des Materials verschwindet auch das Original im Sinne Freuds als das Unbewusste des Textes. Der Begriff ,Original‘ ist missverständlich, da er suggeriert, dass es so etwas wie einen Ursprungsort der Kreativität geben könnte, an dem sie in unverfälschtem, nicht zensuriertem Zustand zugänglich wäre. Aber: „Das Verdrängte kehrt nicht in seiner ursprünglichen Gestalt 136 Terry Eagleton: Einf hrung in die Literaturtheorie. 4. Aufl. Stuttgart 1997, S. 159 f.
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wieder, sondern in Form von chiffrierten ,Erinnerungssymbolen‘.“137 Die Handschriften bilden nicht ein Original ab, sondern sie sind selbst bereits Übersetzungen eines psychischen Geschehens. Und noch ein letzter Punkt mag die Analogien zwischen der Konstituierung von Texten und von Subjekten verdeutlichen. Jede Ordnung bringt das vorgefundene Material in eine Chronologie. Die Darstellung der Textgenese bedeutet meistens die Herstellung eines zeitlichen Ablaufplanes, der Schritt für Schritt die Entwicklung bis zum Endtext dokumentiert. Die Prozesshaftigkeit des Schreibens geht in die strenge Linearität eines Stemmas über. Als Leserinnen und Leser rezipieren wir Texte von ihrer Endfassung her. Erst der fertige Text ,erzeugt‘ das, was ihm vorausliegt, indem der Philologe ordnet, zuordnet, eine zeitliche Ordnung herstellt. Das gibt dem avant-texte, wie die moderne französische Textgenetik das Ensemble von Entwürfen und Vorstufen nennt, seinen prekären Charakter: Alles, was nicht dem Gesetz des Endtextes entspricht, wird ausgeschieden: Was wir lesen, ist das Produkt einer Aussonderung, eines zensurierenden Eingriffs: L’avant-texte, bord précaire entre le texte et ce qui lui est radicalement irréductible, supplément inintégrable qui hante le texte (et le critique), est donc, simultanément et de manière inséparable, rebut excrémentiel et signifiant maitre. [Der avant-texte, unsicherer Rand zwischen dem Text und einem radikal Irreduziblen, einem nicht integrierbaren Zusatz, der den Text (und die Kritik) verfolgt, ist also gleichzeitig und auf untrennbare Weise Ausscheidungsprodukt und Hauptsignifikant. Übers. B. F.] 138
Das in diesem Zitat Ausgedrückte trifft auch auf die Stimme zu: Die Stimme verfügt über Elemente, die einen Rest zurück lassen, „der keinen Sinn ergibt, ein Überbleibsel, etwas Verworfenes – sollen wir sagen, ein Exkrement des Signifikanten?“139 Die Stimme ist sowohl Bedeutungsträgerin als auch Ausscheidungsprodukt. Die Suche nach der biographischen Wahrheit darf die Ausscheidungsprodukte nicht vernachlässigen – auch wenn sie sich deswegen den Vorwürfen empfindlicherer Gemüter aussetzt, die ein ganzheitliches Bild des Menschen oder die integrale, heilige Textgestalt verteidigen.
137 Rike Felka: Psychische Schrift. Freud – Derrida – Celan. Wien, Berlin 1991, S. 51. 138 Daniel Ferrer u. Jean-Michel Rabaté: „Présentation“. In: Sondernummer Psychanalyse. Genesis (1995) Nr. 8, S. 7 – 14, hier S. 10. 139 Mladen Dolar: His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme. Frankfurt/M. 2007, S. 31.
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Das dem ,fertigen‘ Text (der Biographie) vorausliegende Material ist beides: Träger von Bedeutungen und giftiges Abfallprodukt, das ausgeschieden wird, nachdem ihm der (Text-)Körper den Nährwert entzogen hat. Die ausgehaltene Spannung dieser sich scheinbar ausschließenden Interpretationen des avant-texte (der Lebensdokumente im biographischen Kontext) würde eine Auflösung des starren Gegensatzes von ,fertigem‘ Text, an dessen Konstituierung der traditionelle Editionsphilologe und die meisten Biographinnen und Biographen interessiert sind, und der Konzentration auf die Prozesshaftigkeit von Textgenesen und Lebensvollzügen bedeuten: Text und Biographie sind Produkte eines (text)genetischen Prozesses, wandelbare Objekte einer semiotischen Analyse und sie repräsentieren ein Text- oder Lebensganzes. Was für die klassische Psychoanalyse als Modell gilt, der metaphysische und totalisierende Charakter ihrer Oppositionsreihen, trifft auch für die Philologie zu: Klaus Hurlebusch stellt eine sich seit Klopstock und Herder vollziehende Trennung „der Autorpoetik von der Werkpoetik, kurz die Trennung der Poetik von der Hermeneutik“ fest.140 Aber gerade eine die Materialität von Entstehungsprozessen mit einbeziehende Praxis der Auslegung ,fertiger‘ Texte hätte vielleicht auch die Chance, die Poetik wieder mit der Hermeneutik zu versöhnen. Hurlebusch plädiert für einen „editorischen Zirkel“, der nicht nur von den Handschriften zur Edition, zur Konstitution eines fertigen Textes reicht, sondern der auch wieder zurückführt zu den Handschriften selbst.141 Dieser Zirkel lässt sich um einen ,biographischen Zirkel‘ erweitern: Die (Lebens-)Dokumente führen nicht nur zur Konstruktion eines Lebensganzen, sondern sie weisen auf sich selbst zurück, auf Qualitäten diesseits einer hergestellten Lebensordnung. Die Handschrift ist eine ,Spur‘ auf dem Weg zum Verstehen fremden Lebens. Der Einbruch des Semiotischen in die symbolische Ordnung der Sprache ist ein Merkmal vor allem moderner Literatur.142 An den Brüchen und Regelwidrigkeiten, am Aufbrechen konventioneller sprachlicher Ordnungen sind die psychischen Energien ablesbar, die die gesellschaftlichen und sprachlichen Konventionen übersteigen. Vor allem in der 140 Klaus Hurlebusch: „Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise. Prolegomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens“. In: editio 10. Textgenetische Edition. Tübingen 1998, S. 7 – 51, hier S. 33 f. 141 Vgl. ebd., S. 16 u. S. 49 f. 142 Vgl. Eagleton: Einf hrung in die Literaturtheorie, S. 180.
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Literatur der Moderne ist der avant-texte Bestandteil des ,fertigen‘ Textes, da Vollzug und Ergebnis untrennbar aufeinander bezogen sind. Aber auch in modernen Texten sind die Handschriften Ausdruck des Semiotischen. Dies kann an einem Beispiel kurz illustriert werden: Ernst Jandls Gedichtband stanzen versammelt spontan entstandene Gedichte: Mittels einer vorhandenen volkstümlichen Form, des Vierzeilers im Dialekt, hat sich das, was zum Ausdruck gebracht werden wollte, unmittelbar in der handschriftlichen Aufzeichnung Bahn gebrochen. Die Unmittelbarkeit der Niederschrift zeigt sich, wie oft bei Jandl, in der genauen Datierung, manchmal sogar unter Angabe der exakten Uhrzeit. Form ist hier auch buchstäblich gemeint: als Verteilung der Zeichen auf dem meist karierten Papier des verwendeten Schreibblocks im Format DIN A 4. Der Corpus ist der eigene Körper und er ist das Archiv, in dem das Gedicht als handschriftliche Spur existiert. Das Aggressive und Obszöne der stanzen ist in der Buchveröffentlichung gleich zweifach gefiltert: durch die melodisch verschleifende Sprache des Dialekts und durch die von allen Spuren der Entstehung gereinigte Druckform. Die stanzen sind in mehrfachem Sinne ,Körper-Gedichte‘. In ihnen kommt der motorisch-sensorische Akt der Niederschrift als Inhalt zu sich, der in den meisten Fällen Körperlichkeit thematisiert: körperlichen Verfall, Gewalt gegenüber Körpern, Obszönitäten, autoaggressive Attacken des lyrischen Ich. Der handschriftliche Bestand der stanzen ist das Missing Link zwischen den psychomotorischen Prozessen, die bei der Niederschrift wirksam werden, und dem Inhalt, der als formal streng komponiertes Gedicht im Druckbild erscheint. Die Biographie des Autors spielt sich in diesem Zwischenraum ab. Wenn nach Jacques Derrida die Bedingung für das Überleben der Kunstwerke ihre Nichtassimilierbarkeit an ein allgemeines Verstehen ist, ihre Nicht-Kompostierbarkeit, wenn der Kompostmetapher folgend, ausgelaugte kulturelle Böden gerade des nicht vollständig Abbaubaren bedürfen, um neue Nährstoffe zugeführt zu bekommen, dann hieße das für die Biographie als künstlerische und wissenschaftliche Gattung, dass auch sie, um überdauern zu können, ein dekonstruktives Element enthalten müsste. Die Nichtzugehörigkeit zum kulturellen Mainstream, sein Status als Abfall, garantiert in der Derrida’schen Pointe dem Kunstwerk ewiges Leben.143 Ewig neu muss es sein und immer wieder 143 Vgl. Assmann: Erinnerungsr ume, S. 350 – 52. Aleida Assmann bezieht sich hier
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anders. Der Gattung Biographie eignet ein starkes Moment der Anpassung, das in ihrer Funktionalität begründet ist. Im Laufe ihrer Geschichte übernahm sie nationale Gedächtnisfunktionen, aufklärerische Wahrheitsfunktionen oder, in jüngerer Zeit, Funktionen der Selbstverständigung im Dialog zwischen den biographischen Objekten, den Biographinnen und Biographen und den Leserinnen und Lesern. Ihre Instrumentalisierbarkeit schränkte ihre Lebensdauer ein. Wenn Biographien – als Lebensläufe und als Artefakte – überdauern sollen, dann müssen sie etwas von den Kunstwerken an sich haben. Sie müssen einen unauflösbaren biographischen Rest enthalten, der nicht in der Lektüre aufgebraucht werden kann und der nicht in der Konstruktion von lebensgeschichtlicher Konsistenz aufgeht. Sie müssen sich der vollständigen biographischen Wiederverwertung widersetzen. Hier kommt die Widerständigkeit der biographischen Quellen ins Spiel: Fotografien evozieren in unterschiedlichen Kontexten ganz verschiedene affektive und ideologische Besetzungen, die individuelle Stimme enthält einen Bedeutungsüberschuss, der nicht in kommunizierbaren Sinn übersetzbar ist, Handschriften weisen auf einen Affektbereich jenseits des Ausgesagten hin und Videos in schlechter Internetqualität provozieren geradezu einen Arkanbereich des Biographischen. Deshalb bleibt als Fazit: Keine Quelle ist unschuldig. Literaturverzeichnis Alheit, Peter: „Biographie und Mentalität: Spuren des Kollektiven im Individuellen“. In: Biographieforschung im Diskurs. Hg. v. Bettina Völter, Bettina Dausien, Helma Lutz u. a. Wiesbaden 2005, S. 21 – 45. Anz, Thomas „Autoren auf der Couch? Psychopathologie, Psychoanalyse und biographisches Schreiben“. In: Grundlagen der Biographik. Hg. v. Klein, S. 87 – 106. Arnold, Klaus: „Quelle“. In: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hg. v. Jordan, S. 252 f. Arnold, Klaus: „Quellenkritik“. In: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hg. v. Jordan, S. 255. Assmann, Aleida: Erinnerungsr ume. Formen und Wandlungen des kulturellen Ged chtnisses. München 1999. Bernhard, Thomas: Korrektur. In: Thomas Bernhard Werke. Bd. 4. Hg. v. Martin Huber u. Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt/M. 2005. auf folgende Texte Jacques Derridas: „Biodegradables. Seven Diary Fragments“. In: Critical Inquiry 15 (1988/89), S. 812 – 873 sowie „Archive Fever“. In: Diacritics 25.2 (1995), S. 9 – 63.
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Bernhard Fetz
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II. Biographie und Geschlecht
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Einleitung Esther Marian und Caitr ona N Dhfflill Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf einen Sachverhalt, der für die Geschichte der Biographie charakteristisch ist wie kaum ein anderer und der dennoch seiner Selbstverständlichkeit wegen in den meisten Abhandlungen über das Genre unerwähnt bleibt: In ihrer überwiegenden Mehrzahl sind die Autoren und Protagonisten von Biographien Männer.1 Seit ihrer Entstehung in der Antike stellt sich die Biographie als ein „männliches Genre“ (Anne-Kathrin Reulecke) dar. Die wenigen Frauenbiographien sind bis ins 20. Jahrhundert hinein Ausnahmen, die die Regel bestätigen: An occasional queen, saint or female ,first‘ might be allowed to slip through the net of exclusivity but their presence among the Great Men merely accentuates their own marginality and even more so that of the entire female population which they do not represent in any case.2
Dieser Befund Susan Mann Trofimenkoffs, der auf fast die gesamte, mehr als zwei Jahrtausende umfassende Entwicklungsgeschichte der Biographie zutrifft, wirkt heute, angesichts der drastischen Veränderung der Geschlechterverhältnisse in den letzten Jahrzehnten, beinahe schon überholt. Tatsächlich konnte er erstmals in einem historischen Augen1
2
Auf das quantitative Verhältnis zwischen Frauen und Männern in biographischen Lexika geht Caitríona Ní Dhúill in ihrem Beitrag in diesem Band näher ein. Unter den rund 90 Protagonisten, die im Verzeichnis von Helmut Scheuers Standardwerk über die Geschichte der deutschsprachigen Biographie aufgelistet sind, sind sechs Frauen: Katharina II, Maria Stuart, Marie Antoinette, Mary Baker Eddy, Josephine Baker und Marthe Hanau. Vgl. Helmut Scheuer: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979, S. 295 – 298. Der von Richard Holmes vorgeschlagene ,Kanon‘ 25 klassischer englischer Biographien, der als Einführung in die Geschichte des Genres gedacht ist, enthält drei Frauenbiographien: Elizabeth Gaskells Life of Charlotte Bront , Geoffrey Scotts Portrait of Z lide und Cecil Woodham-Smiths Florence Nightingale. Vgl. Richard Holmes: „The Proper Study?“ In: Mapping Lives. The Uses of Biography. Hg. v. Peter France u. William St Clair. Oxford 2002, S. 7 – 18. Susan Mann Trofimenkoff: „Feminist Biography“. In: Atlantis. A Women’s Studies Journal/Journal d’ tudes sur la Femme 10 (1985) H. 2, S. 1 – 9, hier S. 2.
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blick formuliert werden, in dem er bereits nicht mehr uneingeschränkt galt. Denn möglich wird eine solche Kritik erst dadurch, dass die traditionelle Geschlechterordnung nicht mehr als selbstverständlich empfunden wird; gerade das Befremden und die Widerstände, die jene Ordnung hervorruft, zeugen von der Auflösung, in der sie begriffen ist. Eben diese Auflösung vollzieht sich auch innerhalb der Gattung Biographie selbst. Je weiter die Angleichung der Geschlechter aneinander im Gefolge der Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt fortschreitet, desto gewohnter wird nicht nur der Anblick von Frauenbiographien in den Regalen der Buchhandlungen, sondern desto schwieriger und fragwürdiger wird die eindeutige Unterscheidung männlicher und weiblicher Lebensläufe – während zugleich der in die Vergangenheit gerichtete Blick der Biographie die Einordnung des dargestellten Individuums in das jeweils herrschende Geschlechtersystem erzwingt. Standen Autorinnen, die Biographien über Frauen publizierten, noch in den 1970er und 1980er Jahren unter einem enormen Rechtfertigungsdruck – Jean Strouse beispielsweise, die Biographin Alice James’, sieht sich genötigt, vor einem überwiegend männlichen wissenschaftlichen Publikum ihr Interesse an der Schwester zweier berühmter Männer zu rechtfertigen3 – besteht dieser Rechtfertigungsdruck heute nicht mehr in der gleichen Weise. Wie sehr sich die Situation verändert hat, zeigt eine Bemerkung Claire Tomalins auf einer wissenschaftlichen Tagung, an der überwiegend Frauen teilnahmen: Das Schreiben von Biographien werde wahrgenommen als „the thing women do“.4 In der Abqualifizierung der Biographie als typisch weibliches Genre lebt etwas von dem alten Ressentiment gegen schreibende Frauen fort; sie illustriert aber auch, dass die biographische Tradition nicht mehr dieselbe ist wie noch vor zwanzig Jahren. Der Übergang von einer Situation, in der das biographische Interesse fast ausschließlich ,großen Männern‘ galt, zu der heutigen, in der sich die alte Geschlechterpolarität relativiert und Geschlechtsidentitäten unsicherer werden, wird markiert durch eine feministische Biographik, die mit dem Hinaustreten der Frauen in die öffentliche Sphäre ein3 4
Vgl. Jean Strouse: „Semiprivate Lives“. In: Studies in Biography. Hg. v. Daniel Aaron. Cambridge (Mass.), London 1978 (= Harvard English Studies, Bd. 8), S. 113 – 129. Claire Tomalin: „The Spirit of the Age“, gehalten auf der Konferenz: The Spirit of the Age. Debating the Past, Present and Future of Life Writing. Kingston University, London 4.–6. Juli 2007.
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herging und sich gegen den Ausschluss von Frauen aus der offiziellen Geschichtsschreibung richtete. Diese Biographik stellte vernachlässigte Künstlerinnen und Schriftstellerinnen, Vorläuferinnen und Protagonistinnen der Frauenbewegung, Frauen im Umkreis berühmter Männer und manchmal auch ganz unbekannte Frauen in den Mittelpunkt, um sie dem Vergessen zu entreißen und ihre erfolgreichen oder erfolglosen Kämpfe, ihre Pionierleistungen und ihre Lebensverhältnisse zu rekonstruieren. Sie verstand sich als praktische Kritik einer Geschichtsschreibung, die nicht nur ihren Kanon weitgehend auf Männer begrenzte, sondern auch gegenüber den Erfahrungen der Frauen in der Geschlechterordnung ihrer Zeit blind war, weil sie sich im Widerspruch zu ihrem Selbstverständnis als unvoreingenommene Wissenschaft auf den Standpunkt jener Geschlechterordnung stellte. Im Gegensatz zu solcher scheinbaren Neutralität bekannte die feministische Biographik sich offen zu ihrer Parteilichkeit und kultivierte das Ideal eines von intimer Kenntnis und Empathie getragenen Dialogs mit der Protagonistin, das gegenüber einer klassifizierenden, ihre Gegenstände als tote Objekte behandelnden Geschichtsschreibung seine Berechtigung hatte, zugleich aber die unüberbrückbare Distanz zwischen Biographin und Protagonistin negierte und damit einer unreflektierten Projektion eigener Befindlichkeiten auf die letztere Tor und Tür öffnete.5 An der etablierten Biographik stellte sie vieles in Frage, nur eines problematisierte sie nicht, die biographische Darstellungsform selbst, derer sie sich vielmehr auf pragmatische Weise bediente. Ihrer Intention nach war die feministische Biographik mehr und anderes als die bloße Verwirklichung der Forderung, den Biographien über ,große Männer‘ solche über ,große Frauen‘ zur Seite zu stellen. Ihr augenscheinlichstes Ergebnis ist jedoch, im Rückblick betrachtet, die Etablierung einer Frauenbiographik, die trotz einigen Modifikationen im Wesentlichen den Prämissen der früheren Männerbiographik folgt, obwohl diese Prämissen, wie zu zeigen sein wird, zutiefst in die alte Geschlechterordnung verwickelt sind. Manche der theoretischen Texte 5
Besonders drastisch trifft dies zu auf die Beiträge in Carol Ascher, Louise DeSalvo u. Sara Ruddick (Hgg.): Between Women. Biographers, Novelists, Critics, Teachers and Artists Write about Their Work on Women [1984]. New York, London 1993. Eine Kritik falscher Identifikation findet sich in: Elisabeth Young-Bruehl: Subject to Biography. Psychoanalysis, Feminism, and Writing Women’s Lives. Cambridge (Mass.), London 1998, S. 18 – 22. Vgl. auch Eunice Lipton: Alias Olympia. A Woman’s Search for Manet’s Notorious Model and Her Own Desire. Ithaca (NY)1999.
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Esther Marian und Caitríona Ní Dhúill
nehmen diese Entwicklung vorweg. Exemplarisch sei Carolyn Heilbrun zitiert, die in Writing a Woman’s Life und Reinventing Womanhood manches auf den Punkt bringt, was bei anderen Autorinnen unausgesprochen vorausgesetzt wird. Heilbrun fragt danach, worin sich die Lebensgeschichten weiblicher Schriftstellerinnen und anderer exponierter Frauen von denen ihrer männlichen Kollegen unterschieden, und plädiert dafür, ein eigenes, von dem der Männerbiographie abweichendes, komplizierteres Karriereschema zu entwickeln. Einer Situation, in der beruflich erfolgreiche Frauen als ,honorary men‘ aufzutreten gezwungen sind, versucht sie mit Frauenbiographien zu begegnen, die Modellfunktionen erfüllen können, damit es den Leserinnen möglich wird „to imagine themselves as both ambitious and female“.6 Was sie nicht für problematisch hält, ist die Definition der Biographie als „[an attempt] to describe and evaluate one individual’s career“7 als solche. Dies ergibt sich aus ihrem Ideal der unabhängigen, aus ihrer Berufstätigkeit Transzendenz gewinnenden Frau, das an Simone de Beauvoirs Thesen aus Das andere Geschlecht angelehnt ist:8 Vorbildcharakter spricht Heilbrun solchen Frauen zu, für die intellektuelle Arbeit den Lebensmittelpunkt darstellt und die mit ihren Freundinnen „die wundervolle Energie der Arbeit in der öffentlichen Sphäre“ teilen.9 Ihre Kritik gilt vornehmlich jenen Restriktionen, „die Frauen an der vollen Herausbildung eines Selbst hindern“, jenen Hemmnissen, die sich Frauen entgegenstellen, welche in „den männlich dominierten Sphären der Ökonomie, der Künste oder der akademischen Berufe“ Erfolg suchen und sich mit „Mut, Selbstvertrauen und Autonomie“ durchschlagen. Hierzu gehört zuallererst eine gesellschaftliche Norm, der zufolge sich für Frauen eine passive Haltung ziemt und die sie dazu anhält, „einen Mann in den Mittelpunkt [ihres Lebens] zu stellen und […] nur solche Lebensereignisse zuzulassen, die seine Vorrangstellung anerkennen“.10 In der heutigen Situation, in der in modernen westlichen Gesellschaften vieles von dem, was Heilbrun forderte, für Frauen erreicht ist oder in Aussicht steht, erreicht zu werden, sind die Voraussetzungen 6 Carolyn G. Heilbrun: Reinventing Womanhood. New York u. a. 1993, S. 31 f. und S. 34. 7 John A. Garraty: The Nature of Biography. New York 1957, S. 28. 8 Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek bei Hamburg 1995. 9 Vgl. Carolyn G. Heilbrun: Writing a Woman’s Life. New York 1989, S. 81, S. 108. (Übers. dieses Zitats und der folgenden E.M.) 10 Heilbrun: Reinventing, S. 16, S. 29, S. 31, Heilbrun: Writing, S. 20 f.
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eines sich so definierenden Feminismus erneut zu überdenken. Gerade die relativ erfolgreiche Integration der Frauen in die meisten Sektoren des Arbeitsmarktes führt vor, dass das Karrieremodell, das von Heilbrun und anderen als allgemeine Norm gesetzt wird, dazu nicht taugt, schon weil leitende Positionen zwar zunehmend auch mit Frauen besetzt werden, diese Stellen aber nur für die allerwenigsten überhaupt erreichbar sind. Doch mehr noch, selbst bei denjenigen, denen tatsächlich eine berufliche Karriere gelang, sind die überschwänglichen Erwartungen, die in Heilbruns Wortwahl zum Ausdruck kommen, weithin enttäuscht worden: Von einer „wonderful energy“, die ihnen die Arbeit schenke, würden die meisten wohl kaum sprechen, auch wenn sie, vor die Wahl gestellt, zu der alten Situation nicht würden zurückkehren wollen. Diese Desillusionierung hat auch jenes Ideal beschädigt, das von vielen Feministinnen mit einigem Recht gegen die Passivität und Abhängigkeit von Frauen aufgeboten wurde und das sich im Wesentlichen mit den Idealen der Frühzeit der bürgerlichen Gesellschaft deckt – das des autonomen, selbstbewussten, couragierten, sich gegen Hindernisse behauptenden Subjekts, dessen Existenzform der „quest plot“11 ist. Dass dieses Ideal, das noch für Heilbrun den selbstverständlichen Bezugspunkt darstellt, schon seit einiger Zeit in der Krise ist, spielte für das feministische Projekt so lange keine zentrale Rolle, wie die Abschaffung der männlichen Privilegien und die Durchbrechung jener Konventionen, die Frauen in die häusliche Sphäre einschlossen, als Ziele deutlich vor Augen standen. Nun aber macht sich die Krise mit aller Deutlichkeit auch in der feministischen Diskussion bemerkbar, die auf die neue Situation reagiert, indem sie das Ideal problematisiert und tendenziell zurücknimmt. Schon früher hatte es innerhalb der feministischen Bewegung auch Kritik an der Forderung nach Integration in die von Männern bislang allein besetzten gesellschaftlichen Sphären gegeben. Diese Kritik argumentierte hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, von einem Standpunkt aus, der sich affirmativ auf Weiblichkeit als Identitätskategorie bezog und sie dem als männlich qualifi11 Heilbrun, Writing, S. 48, vgl. Caitríona Ní Dhúill: „Am Beispiel der Brontës. Gender-Entwürfe im biographischen Kontext“. In: Spiegel und Maske. Konstruktionen biographischer Wahrheit. Hg. v. Bernhard Fetz u. Hannes Schweiger. Wien 2006 (= Profile, Bd. 13), S. 113 – 127, hier S. 115. Quest: Der Held muss einen bestimmten Ort erreichen, etwa um ein wichtiges Objekt zu finden, einen Feind zu besiegen oder eine Person zu befreien. Am Ende der quest steht die Überwindung eines bedeutsamen Gegners bzw. des Problems, welches die quest auslöste.
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zierten Erwerbsleben und den damit verbundenen Attributen wie Durchsetzungsfähigkeit oder Härte entgegenstellte. Von den Vertreterinnen eines auf Gleichstellung abzielenden Feminismus war ihr immer wieder vorgeworfen worden, jene Rechtfertigungsideologie zu reproduzieren, der zufolge die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern durch einen wesenhaften Unterschied zwischen Frauen und Männern bedingt sei. Sie lässt sich so, wie sie war, nicht halten, zumal in einer Zeit, in der die Kategorien des ,Männlichen‘ und ,Weiblichen‘ fragwürdiger geworden sind als je zuvor. Doch hatte der Differenzfeminismus trotz seines unkritischen Verhältnisses zu einer essentialisierten Weiblichkeit ein Gespür für die Unzulänglichkeit des Aufrufs zu einer bloßen Imitation dessen, was Männer bereits praktizierten. Dieses Grundgefühl hat sich in mancher Hinsicht an die neuere Diskussion fortgeerbt. Dabei hat sich die Fragestellung verschoben: Es geht nicht mehr so sehr darum, ob und wie Frauen ihre gesellschaftliche Benachteiligung und ihre Unterordnung unter Männer überwinden können, sondern vielmehr darum, was Geschlecht überhaupt ist und wie die Konstitution und Reproduktion der Geschlechter mit jener der Subjektivität zusammenhängt. Mit dieser Verschiebung einher ging eine Rezeption der Subjektkritik und Sprachtheorie des französischen Poststrukturalismus, insbesondere Michel Foucaults und Jacques Lacans.12 Judith Butlers Thesen, die sich gleichermaßen gegen die Formel ,wir Frauen‘ wie gegen das Subjektideal richteten,13 hatten einen enormen Einfluss auf die Debatte, nicht zuletzt deshalb, weil sie es ermöglichten, den alten Gegensatz zwischen Gleichheits- und Differenzfeminismus hinter sich zu lassen und die Diskussion auf eine neue Grundlage zu stellen, die einer sich jenseits der Frauenbewegung verortenden Gender-Theorie. Die Verschiebung des Erkenntnisinteresses macht sich auch in der Theorie der Biographie bemerkbar, insofern die neueren Beiträge nicht mehr allein und auch nicht mehr vorrangig darauf abzielen, Frauen einen Platz im biographischen Kanon zu erkämpfen, sondern danach fragen, welche Bedeutung die Biographie als Genre für die Ge12 Für einen Überblick siehe Herta Nagl-Docekal: „Feminism and the Post-modern“. In: Zeichen, Sprache, Bewußtsein. Hg. v. Jeff Bernard u. Katalin Neumer. Wien, Budapest 1994 (= Österreichisch-Ungarische Dokumente zur Semiotik und Philosophie, Bd. 2), S. 225 – 246. 13 Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M. 1991, S. 15 – 22 u. S. 30 f.
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schlechterkonstitution einnimmt. In viel grundsätzlicherer Weise als zuvor richtet sich der kritische Blick auf die Schreibweisen der Biographie, auf die ihnen zugrunde liegenden Prämissen und auf die von der Biographie entworfenen Modelle von Subjektivität. Die Frage, warum sich die Biographik über Jahrhunderte hinweg fast ausschließlich mit Männern befasste, stellt sich damit neu und völlig anders, nämlich nicht mehr als Frage nach der Monopolisierung eines an sich neutralen Darstellungsmittels durch die Männer, sondern als Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Konstitution von Geschlecht und den Schreibweisen und theoretischen Voraussetzungen der Biographie. In der Diskussion darüber spielen die subjektkritischen Thesen des Dekonstruktivismus eine zentrale Rolle; für viele Autorinnen sind sie tatsächlich so selbstverständlich geworden, dass nicht mehr explizit auf die ihnen zugrundeliegenden theoretischen Modelle Bezug genommen wird. So spricht etwa Bettina Dausien vom „Androzentrismus des Modells vom ,autonomen Subjekt‘“14, Sheila Kineke von „the patriarchal construction of the single coherent subject“15 und Sharon O’Brien von „the patriarchal ideology of individualism“16. Hält man diese Aussagen für zutreffend, oder gesteht man ihnen zumindest einen Wahrheitsgehalt zu, stellt sich die Frage, ob die Biographie als solche überhaupt zu retten ist, da sie ohne jeden positiven Bezug auf eine wie auch immer geartete Vorstellung von Autonomie und Individualität schwer vorstellbar ist. O’Brien spricht konsequenterweise diese Frage auch aus: „Is not biography then inevitably naive – if not downright dangerous – insofar as it promotes the outmoded and bourgeois ideo14 Bettina Dausien: „Leben für andere oder eigenes Leben? Überlegungen zur Bedeutung der Geschlechterdifferenz in der biographischen Forschung“. In: Biographische Konstruktionen. Beitr ge zur Biographieforschung. Hg. v. Peter Alheit, Bettina Dausien u. a. Bremen 1992 (Werkstattberichte des Forschungsschwerpunkts „Arbeit und Bildung“, Universität Bremen, Bd. 19), S. 37 – 70, hier S. 39. 15 Sheila Kineke: „Subject to Change. The Problematics of Authority in Feminist Modernist Biography“. In: Rereading Modernism. New Directions in Feminist Criticism. Hg. v. Lisa Rado. New York, London 1994 (= Wellesley Studies in Critical Theory, Literary History, and Culture, Bd. 4), S. 253 – 271, hier S. 264. 16 Sharon O’Brien: „Feminist Theory and Literary Biography“. In: Contesting the Subject. Essays in the Postmodern Theory and Practice of Biography and Biographical Criticism. Hg. v. William H. Epstein. West Lafayette (Ind.) 1991 (= Theory and Practice of Biography and Biographical Criticism, Bd. 1), S. 123 – 133, hier S. 127.
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logy of the individual?“17 Und bei Maureen Quilligan wird klar, in welchem Spannungsverhältnis heutige postfeministische Positionen zu den Prämissen der früheren feministischen Biographik stehen: „[I]f the bourgeois subject is only an illusion of a certain period of economic development, why talk about a woman’s heroic struggles to achieve a self ?“18 Nicht nur die lange Tradition der Männerbiographie steht also zur Disposition, sondern die Zurücknahme des Ideals von Subjektivität und Individualität richtet sich auch gegen einen wesentlichen Aspekt dessen, was in der Vergangenheit feministische Biographik ausmachte. Liz Stanley widmet deshalb der Frage „Is There a Feminist Auto/Biography?“, die eine frühere Generation von Biographinnen ohne weiteres bejaht hätte, detaillierte Überlegungen. Zu den von ihr entwickelten Kriterien für eine feministische Biographie gehört die Ablehnung des schon von Trofimenkoff und Victoria Glendinning kritisierten ,spotlight approach‘, der ein Individuum von seiner Umgebung isoliert und die relationalen Dimensionen seiner Lebensgeschichte ausblendet,19 die Zurückweisung des Entwicklungsmodells und der damit verbundenen Idee eines kohärenten Selbst, und schließlich die Aufgabe der Vorstellung vom biographiewürdigen, weil außergewöhnlichen Individuum, das seiner Werke wegen privilegierte Aufmerksamkeit genießen soll. Der Anspruch, den Wesenskern einer Person herausarbeiten zu können, steht nach Stanley der feministischen Intention ebenso entgegen wie der damit zusammenhängende Objektivitäts- und Neutralitätsanspruch. Diese Motive finden sich in verschiedenen Variationen auch in anderen Texten wieder. Den bisher wohl ersten Versuch, den Zusammenhang zwischen dem biographischen quest plot und dem Ausschluss von Frauen in der Biographie theoretisch herzuleiten, statt ihn lediglich zu behaupten, hat Anne-Kathrin Reulecke unternommen. Ihre Kritik der Form der Biographie mündet in eine explizite Kritik einer unreflektierten Übernahme dieser Form durch feministische Biographinnen.20 17 Ebd., S. 125. 18 Maureen Quilligan: „Rewriting History. The Difference of Feminist Biography“. In: The Yale Review 77 (1988), S. 259 – 286, hier S. 262. 19 Liz Stanley: The Auto/Biographical I. The Theory and Practice of Feminist Auto/ Biography. Manchester, New York 1992, S. 214. Näheres hierzu in dem Beitrag von Caitríona Ní Dhúill in diesem Band, S. 199 – 226. 20 Anne-Kathrin Reulecke: „,Die Nase der Lady Hester‘. Überlegungen zum Verhältnis von Biographie und Geschlechterdifferenz“. In: Biographie als Geschichte. Hg. v. Hedwig Röckelein. Tübingen 1993, S. 117 – 142.
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Diesen und anderen Fragen widmete sich der Gender-Arbeitskreis am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie, der sich im Frühjahr 2006 konstituierte.21 Zwei der folgenden Beiträge sind aus den Diskussionen hervorgegangen, die im Arbeitskreis geführt wurden. Indem sie die Fragestellung nach dem Zusammenhang zwischen der Form der Biographie und der Geschlechterkonstitution aufgreifen und mit den Thesen der bisher zum Thema erschienenen Texte in kritische Auseinandersetzung treten, möchten sie die Debatte nicht nur referieren, sondern zugleich in sie intervenieren. Der Beitrag Esther Marians entspringt einem grundsätzlichen Misstrauen gegen die oft anzutreffende und wenig angefochtene Ablehnung von Subjektivität, Individualität und Entwicklung in neueren postfeministischen Texten zur Biographie. Wenn man zusammen mit den biographischen Klischees des Individuellen, Außergewöhnlichen und Unkonventionellen tatsächlich auch das Individuelle, Außergewöhnliche und Unkonventionelle selbst verwirft – und damit jede verändernde Praxis, jedes sich dem gesellschaftlichen Konsens unversöhnlich gegenüberstellende Werk –, bedeutete dies, einem geistlosen und repressiven Zustand das Wort zu reden. Gleichzeitig ist unbestreitbar, dass zwischen Subjektivität und Geschlechterkonstitution ein Zusammenhang besteht, und es erscheint plausibel, dass hierauf auch der Ausschluss der Frauen aus der Biographie zurückzuführen ist. Es wird deshalb versucht, zu einer kritischen Darstellung dieses Zusammenhangs zu gelangen, die die Möglichkeit einer Rettung des Individuellen offen lässt. Caitríona Ní Dhúills Beitrag schließt an die Frage nach einer möglichen Modifikation der biographischen Schreibweisen an, wobei es nicht nur um die Entwicklung von Vorgaben für eine als Untergattung verstandene ,feministische Biographie‘ geht, sondern darum, Erkenntnisse der Gender-Theorie für eine reflektiertere Form der Biographie insgesamt fruchtbar zu machen. Aufgegriffen wird unter anderem die Kritik an der Fokussierung auf ein Individuum auf Kosten des Kontexts und der Konstellationen, in denen dieses Individuum gelebt hat, also am bereits erwähnten ,spotlight approach‘. Das kritische Potential ,relationaler‘ Biographien, die eine Beziehung oder Konstellation in den Mittelpunkt stellen, wird untersucht: Inwieweit kann diese Art von Biographie der Ausblendung relationaler Dimensionen einer Lebens21 Teilgenommen haben Deborah Holmes, Esther Marian, Manfred Mittermayer, Caitríona Ní Dhúill und Hannes Schweiger.
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geschichte entgegenarbeiten? Inwiefern schreibt sie andererseits konventionelle Frauenrollen wie jene der Helferin, Gattin oder Muse fort? In Karoline Feyertags Beitrag über Sarah Kofmans autobiographisches Schreiben spiegeln sich dieselben Debatten über das Verhältnis von Subjektivität und Geschlecht wider. Sarah Kofman identifiziert sich in ihrem autobiographischen Text Autobiogriffures mit E.T.A. Hoffmanns Kater Murr, dessen Autobiographie, wie sie schreibt, nichts als eine Zitatsammlung anderer Autoren ist.22 Ihre philosophischen Texte, darunter jene über die Kategorie Geschlecht, greifen die Theorien anderer poststrukturalistischer Autoren auf, vor allem die Derridas. Dennoch bleibt Kofman skeptisch gegenüber der poststrukturalistischen These vom Subjekt als Diskurs und hält an einem feministisch geprägten, von der Psychoanalyse beeinflussten Begriff persönlicher, auch körperlicher Erfahrung fest. Feyertag vertritt die These, dass Kofmans spezifische Form einer ,Destruktion des Subjekts‘, die philosophisches Schreiben mit Biographemen konfrontiert, eine erneute ,Geburt des Subjekts‘ ermöglicht. Literaturverzeichnis Ascher, Carol, Louise DeSalvo u. Sara Ruddick (Hgg.): Between Women. Biographers, Novelists, Critics, Teachers and Artists Write about Their Work on Women [1984]. New York, London 1993. Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek bei Hamburg 1995. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M. 1991. Dausien, Bettina: „Leben für andere oder eigenes Leben? Überlegungen zur Bedeutung der Geschlechterdifferenz in der biographischen Forschung“. In: Biographische Konstruktionen. Beitr ge zur Biographieforschung. Hg. v. Peter Alheit, Bettina Dausien u. a. Bremen 1992 (= Werkstattberichte des Forschungsschwerpunkts „Arbeit und Bildung“, Universität Bremen, Bd. 19), S. 37 – 70. Garraty, John A.: The Nature of Biography. New York 1957. Heilbrun, Carolyn G.: Writing a Woman’s Life. New York 1989. Heilbrun, Carolyn G.: Reinventing Womanhood. New York u. a. 1993. Holmes, Richard: „The Proper Study?“ In: Mapping Lives. The Uses of Biography. Hg. v. Peter France u. William St Clair. Oxford 2002, S. 7 – 18. Kineke, Sheila: „Subject to Change. The Problematics of Authority in Feminist Modernist Biography“. In: Rereading Modernism. New Directions in Feminist 22 Auf Deutsch erschienen als Sarah Kofman: Schreiben wie eine Katze. Zu E.T.A. Hoffmanns ,Lebensansichten des Kater Murr‘. Wien, New York 1985.
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Zum Zusammenhang von Biographie, Subjektivität und Geschlecht Esther Marian Theoretische Bemühungen zur Biographie stehen heute vor der Schwierigkeit, dass das Bezugssystem, innerhalb dessen biographisches Erzählen allein möglich ist, das des autonom handelnden Individuums, nur noch in rudimentärer Form existiert. Die Einheitlichkeit, Kontinuität und Substantialität, die einmal das Ich ausmachten, sind keine Selbstverständlichkeiten mehr; wer sich in den Geisteswissenschaften auf ein derart konstituiertes Subjekt beruft, ja selbst wer sich kritisch dazu verhält, muss mit dem Vorwurf rechnen, in veralteten Schemata befangen und hinter der Theorieentwicklung der letzten fünfzig Jahre zurückgeblieben zu sein. Keineswegs handelt es sich bei dieser Theorieentwicklung bloß um die Durchsetzung eines neuen, illusionslosen Blicks auf eine unveränderte gesellschaftliche Wirklichkeit; vielmehr hat die innere Verfasstheit des Individuums selbst sich verändert: Das bürgerliche Subjekt, welches die Welt als Domäne seines Willens erfuhr, hat eine Entwicklung durchlaufen, deren Fluchtpunkt das in sich zerfallene, in eine Vielzahl wechselnder Identitäten aufgesplitterte, keine innere Kontinuität mehr aufweisende und gegenüber den gesellschaftlichen Strukturen keine Eigenständigkeit mehr behauptende Ensemble von Verkehrsknotenpunkten des Allgemeinen ist, das in den neueren Theorien an seine Stelle tritt. Von einem neuen Blick lässt sich nur insofern sprechen, als dieser Zerfallsprozess des bürgerlichen Subjekts, der bereits Gegenstand der Philosophie und Kunst der Moderne war und hier noch weithin als Katastrophe erschien, in den Theorien, die sich eben dadurch als postmodern ausweisen, zu einer indifferent konstatierten oder emphatisch bejahten Tatsache wird: „Neu und aus diesen Tagen ist allenfalls der aufgeregte und von sich selbst befriedigte Übereifer, mit dem dieser Prozeß“ – die Entindividualisierung – „re-
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gistriert und akklamiert wird“, bemerkte Jean Améry bereits 1971 angesichts des Siegeszugs des Strukturalismus.1 Wenn also in Texten über das Verhältnis von Biographie und Geschlecht mit einigem Nachdruck eine Entindividualisierung eingefordert wird, wenn unter expliziter oder impliziter Bezugnahme auf poststrukturalistische Theoreme Individualität und Autonomie als veraltete bürgerliche Illusionen oder patriarchale Ideologien bezeichnet werden2, dann verhalten sich diese theoretischen Stellungnahmen gegenüber jener gesellschaftlichen Entwicklung nicht neutral. Sie ergreifen Partei für einen ohnehin stattfindenden Auflösungsprozess, ohne dass sich die Autorinnen und Autoren immer dessen bewusst sind und ohne dass sie sich darüber Rechenschaft geben, was hierbei auf dem Spiel steht. Mit den Versprechen der aufklärerischen Philosophie fiele auch die feministische Emanzipationsforderung, die in ihnen ihre unabdingbare Voraussetzung hat, fort; ein Feminismus, der das Postulat einer Gesellschaft freier Individuen und die gesamte damit verbundene Philosophietradition demontiert statt zu diskutieren, was darunter zu verstehen sein soll, liquidiert sich selbst und muss sich überdies fragen lassen, woher er die normativen Maßstäbe für seine kategorischen Urteile über Aufklärung und Vernunft – wie etwa für jenes, dass diese im Kern „ethnocentric“ seien3 –, überhaupt nimmt. Noch die theoretische Artikulationsfähigkeit und das Mindestmaß an Konsistenz, auf die auch poststrukturalistisches Denken nicht verzichten kann, hängen ab von dem, wogegen sich dieses Denken richtet, und wollte man ernsthaft alles über Bord werfen, was Luce Irigaray, Julia Kristeva und andere als ,Phallogozentrismus‘ bezeichnet haben, bliebe von der Sprache wenig übrig.4
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Jean Améry: „Unmeisterliche Wanderjahre“. In: ders.: Werke. Bd. 2. Hg. v. Gerhard Scheit. Stuttgart 2002, S. 179 – 349, hier S. 326. Siehe die Zitate in der Einleitung von Esther Marian und Caitríona Ní Dhúill in diesem Band, S. 163 f. Weitere Beispiele lassen sich leicht finden. Zur Kritik dieser Auffassung, die sich u. a. bei Judith Butler findet, siehe bes. Herta Nagl-Docekal: „The Feminist Critique of Reason Revisited“. In: Hypatia 14 (1999), S. 49 – 76, hier S. 64 f. „Aber abgesehen davon ist es nicht leicht zu sagen, wie eine Syntax des Weiblichen aussehen könnte, denn in dieser Syntax gäbe es weder Subjekt noch Objekt, das ,Eine‘ wäre nicht mehr privilegiert, es gäbe also keinen Eigen-Sinn, keinen Eigennamen, keine ,Eigen‘-schaften mehr …“ Luce Irigaray: Das Geschlecht das nicht eins ist. Berlin 1977, S. 140.
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Dies gesagt, ist zu betonen, dass die in der feministischen Diskussion formulierten Urteile über Aufklärung und Subjektivität ungeheuer schwer zu nehmen sind. Denn es ist unbestreitbar, dass die Geschichte der Subjektivität – und damit die Geschichte der Biographie – eine Geschichte der Herrschaft über Frauen ist und dass das Geschlechterverhältnis mit der Konstitution des Subjekts aufs Engste zusammenhängt. Die Frage, ob Aufklärung, Subjektivität und Individualität überhaupt zu haben sind ohne eine Affirmation der Herrschaftsverhältnisse, mit denen zusammen sie sich herausbildeten, kann nicht einfach als irrelevant oder unsinnig abgetan werden. Wie eine Antwort darauf lauten kann, ist allein daran zu entscheiden, ob sich aufklärendes Denken einer Selbstreflexion fähig zeigt, die diesem Zusammenhang gerecht wird. Eine kritische Theorie des Geschlechts hätte darin anzuschließen an Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufkl rung, die wie kaum ein anderer philosophischer Versuch diesem Ziel verpflichtet war, aber notwendig unabgeschlossen blieb. Für eine Diskussion des Zusammenhangs zwischen Subjektivität, Geschlecht und Biographie ist damit ein hoher Anspruch gestellt, von dem ungewiss ist, ob er sich hier einlösen lässt. Das ist freilich noch kein Grund, die Sache von vorneherein bleiben zu lassen und damit auf Einsichten zu verzichten, die sich selbst aus einem Scheitern an der Aufgabe ergeben könnten. Ohne die Schwierigkeit des Themas zu unterschätzen, wird im Folgenden versucht, in der modellhaften Auseinandersetzung mit drei theoretischen Positionen zur Biographie die Dialektik von Subjektivität und Geschlecht in ihnen aufzuzeigen. Die ersten beiden, die Thomas Carlyles und die Daniel Jenischs, wurden im 19. Jahrhundert formuliert und lassen in ihrer Konzeption des biographischen Helden erkennen, was Subjektivität im Anschluss an die Französische Revolution bedeutete und wie sehr sie mit dem damaligen, in seinen Verfallsformen heute noch präsenten Ideal von Männlichkeit zusammenfiel. Es geht dabei nicht nur um historische Rekapitulation, sondern um eine kritische Darstellung jener heute zur Disposition stehenden Subjektform, die noch für eine gleichheitsfeministische, von Autorinnen wie Carolyn Heilbrun oder Claire Tomalin repräsentierte Biographik bestimmend ist. Die dritte theoretische Position, die AnneKathrin Reuleckes, wie sie in ihrem Essay „,Die Nase der Lady Hester‘. Überlegungen zum Verhältnis von Biographie und Geschlechterdifferenz“ ausformuliert ist5, wurde ausgewählt, weil dieser Essay das, was 5
Anne-Kathrin Reulecke: „,Die Nase der Lady Hester‘. Überlegungen zum
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anderswo oft nur behauptet wird – den konstitutiven Ausschluss von Frauen durch die sprachlichen Verfahren der Biographie – theoretisch herzuleiten versucht und damit für eine ganze Theorierichtung in der Debatte über Biographie und Geschlecht einsteht. Die Diskussion der Thesen Reuleckes mündet ein in eine Frage, die trotz ihrer zentralen Bedeutung für eine kritische Auseinandersetzung mit Biographie, Subjektivität und Geschlecht offen bleiben musste: in welchem Verhältnis die von Reulecke konstatierte Stereotypie der biographischen Form zum gelebten Leben steht. Große Männer Eine Haltung, die man als „forceful honesty and outspokenness“ bezeichnen kann, kennzeichnet Thomas Carlyles Schriften, auch die zur Biographie.6 Sie zwang ihn dazu, scheinbar vertrauten Sachverhalten ihre Harmlosigkeit zu nehmen und das Befremdliche und Beunruhigende an ihnen herauszustellen. Weit entfernt davon, das Subjekt als fraglose Gegebenheit aufzufassen, hat bereits Carlyle erkannt und ausgesprochen, dass die Einheit und Kontinuität des Subjekts – „insofar it is an entity at all“, wie er skeptisch anmerkt7 – nur als ständige Entgegensetzung existiert, als ununterbrochene Selbstbehauptung des dadurch erst sich konstituierenden Ich gegen äußere und innere Natur. In seiner Rezension einer Neuausgabe von James Boswells Life of Johnson von 1832 bestimmt er den Gegenstand der Biographie als „[t]he struggle of human Freewill against material Necessity, which every man’s Life, by the mere circumstance that the man continues alive, will more or less victoriously exhibit“.8 Die Biographie handelt demnach vom Kampf gegen die materielle Notwendigkeit, in den ein exemplarisches Individuum verwickelt ist: Sie zeigt seine Siege und Niederlagen, seine Erfolge und sein Scheitern, mithin seine Bewältigung oder Nichtbe6 7 8
Verhältnis von Biographie und Geschlechterdifferenz“. In: Biographie als Geschichte. Hg. v. Hedwig Röckelein. Tübingen 1993, S. 117 – 142. K. J. Fielding u. Ian Campbell: „Introduction“. In: Thomas Carlyle: Reminiscences. A New and Complete Edition. Hg. v. K. J. Fielding u. Ian Campbell. Oxford, New York 1997, S. VII-XXI, hier S. VIII. Thomas Carlyle: „From a Review of Lockhart’s Life of Scott“. In: Biography as an Art. Selected Criticism. Hg. v. James L. Clifford. London, New York, Toronto 1962, S. 84 – 86, hier S. 85. Thomas Carlyle: „From a Review of Croker’s Edition of Boswell’s Life of Johnson“. In: Biography as an Art. Hg. v. Clifford, S. 78 – 84, hier S. 78 f.
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wältigung einer Aufgabe, vor die alle gestellt sind, sofern sie überleben wollen. Carlyle ist über die Einheitlichkeit dieses Schemas gestolpert, das sich im Leben eines jeden Individuums wiederholt. Den Widerspruch, dass das, was das Leben eines Menschen ausmacht, „must be to a certain extent original, unlike every other; and yet, at the same time, so like every other“9, benennt er deutlicher als andere vor und nach ihm, und er erklärt ihn so, dass eben das, was die Individualität begründet – das „Problem of Existence“, mit dem sich der Einzelne auf je unterschiedliche Weise abplagt –, das sein müsse, was allen Sterblichen gemeinsam sei, so dass ein jedes Individuum in der Biographie eines anderen eine neue Welt entdecken und zugleich seine eigene Situation wiederfinden könne: „Of these millions of living men, each individual is a mirror to us.“10 Das Existenzproblem besteht, wie Carlyle konstatiert, „for the most of it“ darin, das Problem „of keeping soul and body together“ zu bewältigen.11 Die Metapher steht zunächst für die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts, verweist dabei aber zugleich, wörtlich genommen, auf das Verhältnis zwischen Seele und Körper, das sich in der Selbstbehauptung gegen „Necessity and Difficulty“12 herstellt: als Sitz des „human Freewill“ verselbständigt sich die Seele gegenüber dem Körper, der zur „material Necessity“ geschlagen wird, und setzt sich ihm entgegen, um ihn im Interesse seiner Selbsterhaltung für diesen Zweck zuzurichten und gegen seine Tendenz, in der Umgebung aufzugehen, als untergeordnete Instanz in die Einheit des Ich zu integrieren. Herrschaft über Natur ist nicht zuletzt Beherrschung des menschlichen Körpers, des eigenen und der Körper anderer, weshalb das Individuum nach Carlyle in permanenter Abwehr gegen den Widerspruchsgeist steht, der der Geist des Bösen sowohl wie der Schwäche, eigentlich der Nachgiebigkeit gegen unkontrollierte Regungen ist: „But as for man, his conflict is continual with the spirit of contradiction, that is without and within; with the evil spirit (or call it with the weak, most necessitous, pitiable spirit), that is in others and in himself.“13 Nicht ausgemacht ist, wer diesen Kampf gewinnt, und dies ist Carlyle sehr deutlich bewusst: 9 Ebd., S. 78. Hervorhebungen, soweit nicht anders angegeben, immer im Original. 10 Ebd., S. 79. 11 Ebd., S. 78. 12 Carlyle: „Review of Lockhart’s Life of Scott“, S. 85. 13 Ebd.
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Poor human nature! Is not a man’s walking, in truth, always that: ,a succession of falls‘? Man can do no other. In this wild element of a Life, he has to struggle onwards; now fallen, deep-abased; and ever, with tears, repentance, with bleeding heart, he has to rise again, struggle again still onwards.14
Diese Dinge zu zeigen, ist nach Carlyle Aufgabe der Biographie. Wenn die Individuen bei Carlyle und anderen Theoretikern des 19. Jahrhunderts als Herausforderer einer feindlichen, weil unvergeistigten, durch Arbeit noch nicht transformierten Natur erscheinen, so ist ihre Selbsterhaltung doch längst durch den Zusammenhang der Gesellschaft vermittelt, den sie als äußeren Zwang erfahren, da sich durch ihn hindurch die unbesänftigte Natur als Drohung zu hungern und zu frieren geltend macht. Carlyles „material Necessity“ ist solche gesellschaftliche Natur, und insofern der „human Freewill“ sich ihr entgegenstellt und auf die Abschaffung von Not und Elend zielt, ist er emanzipatorisch und Bedingung jeder Befreiung. Aber sein Prinzip ist das der Gesellschaft selbst. Die Härte, mit der das Individuum seine Einheit unter der Herrschaft des Ich erzwingt, ist identisch mit der, die im Arbeitsprozess, in den Armeen und bürokratischen Hierarchien für Kommandofunktionen und für die Ausführung von Befehlen gleichermaßen erheischt ist. Nicht zufällig zeigt die Biographie seit ihrer Entstehung eine Affinität zur Herrschaft. In ihr spiegelt die jeweils etablierte Gesellschaft sich selbst und feiert ihre Triumphe; durch sie vermittelt sie sich mit sich selbst, indem sie die Helden ihrer Vergangenheit als Vorbilder für die Gegenwart mobilisiert.15 Hiervon zeugt die biographische Darstellungsweise nicht weniger als die Auswahl derjenigen, über die Biographien geschrieben wurden und werden. Dies waren und sind seit der Antike vorzugsweise Könige, Staatsmänner, Feldherren, Religionsstifter, Entdecker, Erfinder, Wissenschaftler und Künstler – ganz unterschiedliche Personen mithin, denen aber bei allen Differenzen gemeinsam ist, dass man in ihnen die souveräne Beherrschung ihrer selbst und der äußeren Wirklichkeit personifiziert fand. Carlyle selbst hat als Biograph, Essayist und Theoretiker hieran Anteil; eine berühmte Vortragsserie, die er 1840 hielt, trägt den Titel On Heroes, Hero-Worship,
14 Thomas Carlyle: On Heroes, Hero-Worship and the Heroic in History [1840]. London 1887, S. 43. 15 Vgl. hierzu Helmut Scheuer: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979.
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and the Heroic in History und beschäftigt sich mit „Great Men“. Über diese schreibt Carlyle enthusiastisch: They were leaders of men, these great ones; the modellers, patterns, and in a wide sense creators, of whatsoever the general mass of men contrived to do or attain; all things that we see standing and accomplished in the world are properly the outer material result, the practical realisation and embodiment, of Thoughts that dwelt in the Great Men sent into the world: the soul of the whole world’s history, it may justly be considered, were the history of these.16
Ein ,leader of men‘ und die Seele der Weltgeschichte zu sein, die Welt zu beherrschen und sie als Verwirklichungsort des eigenen freien Willens und der eigenen Gedanken zu erfahren, ist ein und dasselbe. Inbegriff des „Great Man“ ist daher derjenige, der sich wie Oliver Cromwell durch sein Handeln als der wahre König, als „King, Kçnning, which means Can-ning, Able-man“ ausweist; er personifiziert den Willen rein, so dass ihm gegenüber alle anderen zu von ihm kommandierten Körpern werden: Er ist „[t]he Commander over Men; he to whose will our wills are subordinated, and loyally surrender themselves“.17 Herrschaft, Geist und Selbstbeherrschung sind wiederum mit Männlichkeit in eins gesetzt. Ein „Great Man“ ist nach Carlyle „the living light-fountain […] of native original insight, of manhood and heroic nobleness“18, und auch dies wird als Kette von Synonymen verstanden. „Virtus“, Tugend, wird explizit auf seinen etymologischen Sinn als Männlichkeit, „Vir-tus, manhood, hero-hood“ zurückgeführt.19 Wenn Carlyle, wie andere Theoretiker der Biographie seit Francis Bacon, die Biographie nicht auf die Lebensbeschreibung von ,heroes‘ beschränkt sehen will, sondern zugleich die Gleichheit aller Sterblichen betont, so sind die Attribute der Männlichkeit, die er dem Individuum verleiht, das sich selbst vergrößert im ,Great Man‘ erblickt, wörtlich gemeint. Die Protagonisten seiner zahlreichen biographischen Texte sind – mit wenigen Ausnahmen, darunter seine Ehefrau Jane Welsh Carlyle20 – Männer. Jener Kampf des freien Willens gegen die materielle 16 17 18 19 20
Carlyle: On Heroes, S. 1 f. Ebd., S. 181. Ebd., S. 2. Ebd., S. 201. Thomas Carlyles Erinnerungen an seine Frau wurden posthum von seinem Freund James Anthony Froude publiziert. Sie lösten eine über die britischen Grenzen hinausgehende, immer wieder aufflammende, bis heute nicht beendete Kontroverse aus, die im Wesentlichen zwei Fragen betraf: ob Carlyles
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Notwendigkeit, die Bearbeitung der körperlichen Welt durch die Seele, die Carlyle im ,Great Man‘ personifiziert sieht, kommt den Männern zu, nicht den Frauen, die implizit aus der Menschheit ausgeschlossen werden, wenn er, der zunächst seine Aussagen über „the perennial Battle […] which men name Life“21 auf „every mortal“22 bezieht, schließlich proklamiert: „[A]ll men are to an unspeakable degree brothers, each man’s life a strange emblem of every man’s.“23 Die Gleichsetzung von Menschen mit Männern ist, wie jede und jeder weiß, keine Erfindung Carlyles, sondern so sehr mit dem allgemeinen Denken verwoben, dass sie in die Konfigurationen der Sprache selbst eingegangen ist. Der Theorietradition, in der Carlyle steht, erscheint sie als Selbstverständlichkeit: Die Formel von ,great and worthy men‘, über deren Leben zu lesen lehrreich sei und Freude bereite, zieht sich durch die gesamte englischsprachige Diskussion über die Biographie bis ins Zwanzigste Jahrhundert hinein. Und nicht nur durch diese. In seiner Theorie der Lebensbeschreibung, einem der ersten umfassenden Versuche zur Theorie der Biographie in deutscher Sprache24, merkt Daniel Jenisch 1802 mit Bezug auf die Differenz zwischen den Termini „großer Charakter“ und „großer Mann“ an: „Nennen wir […] eine historische
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Privatleben, insbesondere sein von ihm selbst als grausam empfundenes Verhalten gegenüber seiner Frau, im Licht seiner Thesen über Heroismus und Männlichkeit mit seinem Status einer nationalen Heldenfigur kompatibel sei und ob es statthaft sei, nach dem Tod eines berühmten Schriftstellers bloßstellende Details auch ohne ausdrücklichen Wunsch des Betreffenden an die Öffentlichkeit zu bringen. Vgl. Carlyle: Reminiscences sowie Trev Lynn Broughton: Men of Letters, Writing Lives. Masculinity and Literary Auto/Biography in the Late Victorian Period. London, New York 1999, S. 83 – 172. Carlyle: „Review of Boswell’s Life of Johnson“, S. 80. Ebd., S. 78. Thomas Carlyle: The Life of John Sterling [1851]. London 1871, S. 6. Der ansonsten wohlinformierte Clifford schreibt über James Field Stanfields 1813 erschienenen Essay on the Study and Composition of Biography, es handle sich um das erste überhaupt existierende „full-scale book on biography“ („Yet despite a deadening, monotonous style, it is historically an important work – the earliest critical study of the subject, in which the qualities of a good biographer are considered and the difficulties he faces thoroughly discussed.“) James Clifford: „Introduction“. In: Biography as an Art. Hg. v. Clifford, S. IX-XX, hier S. XIV). Tatsächlich ist in deutscher Sprache bereits 15 Jahre vor Jenischs Studie eine längere Abhandlung zur Theorie der Biographie erschienen: Johann Georg Wiggers: Ueber die Biographie. Mitau 1777. Cliffords hervorragende Anthologie Biography as an Art und seine Aufsätze zur Theorie der Biographie seien trotz dieses einen Irrtums ausdrücklich empfohlen.
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Person einen großen Mann, so deutet schon das Wort Mann darauf hin, daß wir den ganzen Menschen nach den Grundbedingungen unserer Natur darunter verstehen.“25 Nicht etwa kommt Jenisch auf den Gedanken, dass das Wort Mann zuallererst eine Geschlechtsbestimmung enthält, so natürlich erscheint es ihm, dass ,Mann‘ und ,Mensch‘ gleichbedeutend sind und dass sein Publikum, das er in der ersten Person Plural anspricht, sich als Gemeinschaft von Männern und daher von Menschen versteht.26 Wie Carlyle unter dem Eindruck der Französischen Revolution stehend, ihr aber freundlicher gesonnen als sein jüngerer britischer Kollege, ist Jenisch mehr noch als jener bei aller Anerkennung für ,große Männer‘, zu denen er Friedrich II. von Preußen, Washington und Napoleon zählt, egalitär gestimmt: ist doch die allgemeine Menschen-Natur mit ihren charakteristischen Zügen in allen menschlichen Individuen Eine und Dieselbe; daher kann man es als ein anthropologisches Axiom annehmen: daß jeder, an Geist und Gem th von der Natur nicht verwahrloste Mensch alles werden mag, was ein Mensch irgend geworden ist, oder je werden kann: mit der Einschr nkung, daß er einen besondern Grad der Vortrefflichkeit nur in der Gattung erreichen wird, zu welcher er, durch seine bestimmtere Anlage, gleichsam den pr organisirten Keim in sich trägt.27
Hiervon sind Frauen nicht einmal ganz ausgeschlossen: Neben anderen Klassen von Charakteren wie der „Denker-Classe“, der „KünstlerClasse“, der „Helden-Classe“, der „Classe der praktischen Weisen“ und der „Classe der Sonderlinge“ kommen bei Jenisch auch „die Weiber“ als mögliche Protagonistinnen von Biographien vor. Wie sehr freilich diese Einordnung der Frauen, die in keine Schublade recht zu passen scheinen, eine Verlegenheitslösung darstellt, wie wenig das ihnen ge25 Daniel Jenisch: Theorie der Lebens-Beschreibung. Nebst einer Lebens-Beschreibung Karls des Großen: einer Preisschrift. Berlin 1802, S. 93. 26 Hierfür finden sich Belege im ganzen Text. Die Verwendung männlicher Nomina und Pronomina für allgemeine Aussagen, die die deutsche Sprachtradition bis heute bestimmt und auch durch die Einführung des großen I in Stellenanzeigen nur ergänzt, nicht aufgehoben wird – und die tatsächlich nicht so einfach aufgehoben werden kann, weil es beschönigend wäre, so zu tun, als hätte jede gesellschaftliche Funktion stets Frauen und Männern gleichermaßen offengestanden, und weil es andererseits ein kritisches Verhältnis zu den überlieferten Begriffen verunmöglicht, wenn diese durch die Hinzufügung weiblicher Endungen den Stempel politischer Unbedenklichkeit erhalten –, stößt bei Jenisch besonders unangenehm auf, wenn der Leserin durch Wendungen wie „Eindrücke unseres Kindes- und Jünglingsalters“ (S. 42) vorgeführt wird, dass an sie in der Tat nicht gedacht war. 27 Ebd., S. 49.
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widmete Kapitel, das letzte in der Reihe, im Plan vorgesehen war, zeigt sich daran, dass sie anders als die übrigen ,Classen‘ in einer ersten Überblicksdarstellung nicht vorkommen.28 Jenisch selbst ist aufgefallen, dass an seiner Typologie etwas nicht stimmt. Das Kapitel „Die Weiber“ beginnt mit der Bemerkung, dieser Abschnitt schließe sich „[v]ielleicht am schicklichsten dem Abschnitte von der Eintheilung der Charaktere an“, denn die Frauen „bilden offenbar eine der wesentlichsten Charaktergattungen, nämlich die des Geschlechts, welche wir eigentlich an die Spitze unsrer Classifikazion hätten stellen sollen, und die wir, bloß als Allbekannt, übergangen haben“.29 Bemerkenswert ist die Redlichkeit, mit der Jenisch zugibt, etwas Wesentliches vernachlässigt zu haben; was aber vor allem ins Auge springt, ist die beiläufige Gleichsetzung der Kategorien Frauen und Geschlecht. Sie ist der impliziten Gleichsetzung von Männern und Menschen komplementär – wobei bei Jenisch das spezifisch Menschliche nicht in reinem, leidenschaftslosem Geist, sondern eher in einer vernünftigen Sinnlichkeit oder sinnlichen Vernunft gesehen wird: „Denn die Talente, die Gesinnungen und Handlungen eines Menschen sind nichts anders, als eben so viele Kraft-Aeußerungen seines sinnlich-vern nftigen Ichs.“30 Als vom Geschlecht bestimmte Wesen vorgestellt, deshalb das Geschlecht als solches verkörpernd, werden die Frauen weder vorbehaltlos der menschlichen Gattung zugerechnet, noch will Jenisch sie ganz von ihr ausnehmen. Seiner anthropologischen These von der jeweils „bestimmteren Anlage“ folgend, durch welche die „allgemeine Menschen-Natur“ sich in sich differenziere, führt er die Unterschiede zwischen Frauen und Männern nicht nur auf die „unter den Erdbewohnern fast überall herrschende Sitte und Gewohnheit“ zurück, sondern zugleich, mit der Einschränkung „wie es scheint“, auf die „ursprünglich verschiedene körperliche und geistige Organisazion des Mannes und des Weibes“ – und doch will er sich mit einer bloßen Bestätigung der herrschenden Meinung über die Geschlechter nicht zufrieden geben, denn, wie er fast entschuldigend erklärt, „würd’ es doch eben so ungerecht an sich, als unschicklich für eine Theorie über die Beschreibung eines Menschen-Lebens seyn, wenn wir die Weiber unerwähnt lassen wollten“.31 Wie Jenisch betont, gibt es auch „Helden des weiblichen Geschlechts“, Herrscherinnen wie Elisabeth I. von 28 29 30 31
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S. 133 – 137. S. 172. S. 32. S. 173.
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Großbritannien, Katharina von Medici und Katharina von Russland, deren Leistungen er trotz „weiblicher Schwachheiten“ für welthistorisch hält und „nach M nnermaaß gew rdiget“ sehen will.32 Den Erfolg dieser Frauen als Königinnen, den er „nicht ohne Befremden“ konstatiert, kann er mit seiner Auffassung von der „eigenthümliche[n] Bestimmung des andern Geschlechts“, welche darin bestehe, sich die Liebe und Achtung eines Mannes zu erwerben, Kinder zu erziehen und ein Hauswesen zu leiten, nur dadurch in Einklang bringen, dass er die Regierung eines Staates für „Haushaltung im Großen“ erklärt.33 Jenisch erkennt damit implizit die gesellschaftliche Stellung der bürgerlichen Hausfrau als die einer souveränen Person an, die über das Hauspersonal und die Kinder mit den Befugnissen einer Monarchin regiert, und trägt zugleich mit seinem Zögern der Tatsache Rechnung, dass die Frauen seiner Zeit in der Regel alles andere als bürgerliche Personen sind, vielmehr entmündigtes, weitgehend rechtloses Zubehör ihres jeweiligen Vaters oder Ehemannes darstellen. Wie man sich zu einer unbeliebten Ansicht bekennt, gesteht er „unverhohlen“, dass er selbst das häusliche Leben als solches, über das „die Natur“, wie er meint, nur „sehr Wenige unter den Weibern […] emporgehoben wissen will“, nicht für schlechthin biographieunwürdig hält, sondern die Biographie einer klugen Hausfrau als ein Kunstwerk betrachtet, „w rdig des ge btesten praktischen Philosophen, des tiefforschendsten Psychologen, und des gewandtesten Darstellers“.34 Letztlich ist jedoch auch Jenisch der Meinung, dass Biographien über Frauen eine Ausnahmeerscheinung sind und sein sollten: „So wie indessen das häusliche Leben nur einen kleinen und einförmigen Kreis umschließt, so wird auch der Biograph hundert Lebensbeschreibungen von Männern, statt Einer weiblichen, abzufassen Veranlassung finden.“35 Selbst für Jenisch, der anders als andere Theoretiker des frühen 19. Jahrhunderts Frauen immerhin überhaupt erwähnt und sich ausdrücklich gegen ihre Geringschätzung durch die Schriftstellerwelt wendet36, ist und bleibt die Biographie im wesentlichen Männersache.
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Anne-Kathrin Reuleckes Kritik der Biographie Der weitgehende Ausschluss von Frauen, der Biographien bis ins Zwanzigste Jahrhundert hinein als „Texte von Männern über Männer“ ausweist37, wirft Licht auf die gesellschaftliche Konstitution der Geschlechter überhaupt. Die Identifikation von Heroismus, Willensstärke, Tatkraft, Ordnung, Geist, von Eigenschaften also, die das Subjekt als solches ausmachen, mit Männlichkeit bleibt nicht auf Carlyles und Jenischs Schriften beschränkt, die sie nur in dankenswerter Klarheit vorführen. Ihr korrespondiert die Gleichsetzung von Weiblichkeit mit Unordnung, Natur, Geschlechtlichkeit, mit dem also, was aus Sicht des ordnenden und bearbeitenden Geistes gebrochen, beherrscht, reguliert werden muss und nur als passives Material, in das jener sich projiziert, geduldet wird – und was zugleich als Wunschbild der Sphäre der bürgerlichen Selbsterhaltung entgegengestellt wird. In „,Die Nase der Lady Hester‘“, einem Text, der durch seine Radikalität und Dichte aus der Menge der Untersuchungen zur Biographie heraussticht, thematisiert Anne-Kathrin Reulecke diesen Zusammenhang und wendet ihn gegen die sprachlichen Verfahren der Biographie. Reulecke greift Helmut Scheuers These auf, wonach die Biographie der bürgerlichen Selbstverständigung dient, indem sie Normen und Ziele der Gegenwart in der Projektion auf eine historische Figur artikuliert und diese als Vorbild dem Publikum zur Nachahmung empfiehlt.38 Ausdrücklich bekräftigt sie, was Scheuer nur andeutet: dass der Protagonist eher eine Projektionsfläche darstellt als einer historischen, außertextuellen Wirklichkeit zu entsprechen. Dies bezieht sie – und hierin liegt die Pointe ihres Essays – auf den Ausschluss von Frauen aus der biographischen Erzählung. Statt eine äußere Realität einfach abzubilden, also eine unmittelbare Folge der von Jenisch und später von feministischen Kritikerinnen konstatierten Begrenzung der Frauen auf einen engen Gesichtskreis zu sein, findet dieser Ausschluss Reulecke zufolge im und durch den Text selbst statt, der das bürgerliche Subjekt als männliches Subjekt inszeniert und damit als Medium bürgerlich-männlicher Subjektkonstitution fungiert. Diese Inszenierung des bürgerlichmännlichen Subjekts geschieht nach Reulecke hauptsächlich durch zwei historisierende Verfahren: zum einen durch die Erzeugung einer geschlossenen Welt der Erzählung und zum anderen durch die chrono37 Reulecke: „Die Nase“, S. 119. 38 Vgl. Scheuer: Biographie, S. 6 ff.
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logisch gegliederte Form, die dem dargestellten Leben in der Biographie verliehen wird. Roland Barthes hat in seinem Essay Am Nullpunkt der Literatur notiert, dass die Erzählvergangenheit „eine konstruierte, durchgearbeitete, losgelöste, auf bedeutungsvolle Linien reduzierte Welt“ voraussetzt, „nicht aber eine geworfene, ausgebreitete, dargebotene Welt“.39 Eine solche geschlossene, durchgearbeitete Welt ist Reulecke zufolge die Welt der Biographie, wie sie nach Barthes auch die der Kosmogonien, der Mythen, der Weltgeschichte und der Romane ist.40 Sie entsteht im Text durch „eine Reihe hierarchisierender Operationen“: durch auktoriale Erzählhaltung, Er-Erzählung, Chronologie, Vergangenheitsform, Vollständigkeitsanspruch, Kausalität und Teleologie. Diese sprachlichen Verfahren spielen bei der Identitätsbildung insofern eine Rolle, als der Autor den so gestalteten Entwurf einer in sich geschlossenen Welt als Schöpfungsakt erfährt, der „rückwirkend im Sinne einer Identitätsstärkung funktioniert – ein Vorgang, den der Rezipient wiederholt, wenn er den Text nachvollzieht“.41 Beide, der Autor und der sich mit ihm identifizierende Leser, verhalten sich damit als „Demiurg, Gott oder Rezitator“, die sich laut Barthes hinter der französischen Verbform des pass simple verbergen42 – wobei es Reulecke vor allem auf die Rolle des Demiurgen oder Gottes, weniger auf die des Rezitators ankommt. Das zweite Verfahren der Identitätsstiftung ist die zeitlich gegliederte Form, die dem Leben des Protagonisten der Biographie typischerweise verliehen wird.43 Sie folgt einem Schema, das Scheuer in seiner Untersuchung der deutschsprachigen Biographik beschreibt und das sich in drei Schritten zusammenfassen lässt: a) Kinder- und Jugendzeit (erste Bildung), b) Lösung von Familie und engerer Heimat, allmähliche Herausbildung der Persönlichkeit und Selbstfindung, Bil39 40 41 42
Vgl. Roland Barthes: Am Nullpunkt der Literatur. Frankfurt/M. 1982, S. 38. Vgl. ebd. Reulecke: „Die Nase“, S. 123. Barthes: Am Nullpunkt, S. 38. Das pass simple hat keine genaue Entsprechung im Deutschen, da es weit formelleren Charakter hat als das ihm grob entsprechende Präteritum. 43 Dass Reulecke von komplexeren thematisch gegliederten Biographien abstrahiert, spricht nicht gegen ihre These, da es hier darauf ankommt, das spezifisch Biographische herauszuarbeiten. Die Idee eines chronologischen Ablaufs liegt der Biographie auch dort zugrunde, wo sie nicht strikt diesem Schema folgt. Wo sie ganz verschwindet, lässt sich die Einordnung eines Textes als Biographie nur noch schwer rechtfertigen.
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dungsreisen und Kontakt zur Welt, c) Fülle des Lebens, die Erfahrungen gehen ein in das Werk.44 Diese Gliederung bezeichnet Reulecke als „Muster“, nach dem „die gelebte und vieldeutige Erfahrung in erzählbare und abgetrennte Phasen“ und damit in eine Geschichte transformiert werden kann, oder auch als „Wahrnehmungsraster“, in dem sich das Leben als „Lebens-Lauf“ darstellt.45 Indem die Biographie ein Modell für die Subjektivität liefert, auf die sie bereits aufgrund der genannten historisierenden Verfahren formierend wirkt, vereinigt sie verschiedene identitätsstiftende Mechanismen in sich, so dass sie als „das Sozialisationsmedium des bürgerlichen Subjekts als Bürger und Subjekt“, mithin als das identitätsstiftende Genre par excellence gelten kann.46 Reulecke identifiziert nun in der Kritik an Scheuer dieses bürgerliche Subjekt – dessen bürgerlichen Charakter sie voraussetzt, ohne weiter darauf einzugehen – als männliches Subjekt und stellt für die Biographie die These auf, dass „aufgrund expliziter und impliziter Geschlechterzuschreibungen […] das in einer Biographie inszenierte Leben männliche Markierungen trägt“.47 Obwohl sie detaillierte Untersuchungen biographischer Texte hierüber für sinnvoll hält48, leistet sie sie nicht selbst, sondern macht ihre These vorläufig plausibel, indem sie auf die allgemeine Erfahrung verweist, dass das Subjekt „als Effekt von Ausschlußmechanismen Ich-heterogener Momente“ entsteht, „die als ,weibliche‘ definiert und auf Frauen projiziert werden“.49 Reuleckes 44 Scheuer: Biographie, S. 92 und Reulecke: „Die Nase“, S. 124. Vgl. auch die von Martin Kohli konstatierte, von ihm auf die mittel- und westeuropäischen sowie nordamerikanischen Gesellschaften in den letzten vierhundert Jahren beschränkte dreigeteilte Gliederung des modernen Lebenslaufs „in Vorbereitungs-, Aktivitäts- und Ruhephase (Kindheit/Jugend, ,aktives‘ Erwachsenenleben, Alter)“. Martin Kohli: „Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Historische Befunde und theoretische Argumente“. In: Kçlner Zeitschrift f r Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1985), S. 1 – 29, hier S. 3. 45 Reulecke: „Die Nase“, S. 124. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 127. 48 Reulecke formuliert einen kurzen Fragenkatalog, an dem sich zukünftige Biographieanalysen orientieren könnten: „Welche kompositorische Funktion haben weibliche Personen innerhalb des Textes? Welche Werte und Bilder verkörpern die weiblichen Gestalten? Inwieweit werden sie als Opposition zum Helden beschrieben? Auf welche Weise wird die Existenz von Frauen verschwiegen oder negiert?“ Ebd., S. 126. 49 Ebd., S. 127.
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naheliegender Vermutung nach trifft auch auf die Biographie zu, was, wie sie meint, für das in vieler Hinsicht ähnliche Genre des Entwicklungsromans charakteristisch ist: Dieser inszeniert das literarische Subjekt „in der Abgrenzung von Bereichen, die weiblich konnotiert werden, z. B. Natur, Materie oder Unbewußtes“ und bringt damit „ein ,männliches‘ Subjekt, einen literarischen Helden“, hervor. Der Prozess, den der Protagonist durchläuft, ist sowohl ein Prozeß der Individuation als auch die Ent-Wicklung eines Subjektes aus seiner Umwelt, die gleichzeitig die notwendige Matrix zur Selbst-Darstellung bildet. Diese Matrix (Heimat, Herkunft, Familie u. a.), die vorwiegend weiblich konnotiert ist, bildet damit den notwendigen Hintergrund, vor dem der „männliche“ Held als Held und als Mann entsteht.50
Ob diese Kritik, die sich ähnlich auch bei Liz Stanley und Sigrid Weigel findet51, dem Entwicklungsroman ganz gerecht wird, mag bezweifelt werden; festzuhalten ist jedoch, dass Reulecke gerade in Bezug auf die meist schematischer verfahrende Biographie etwas Richtiges trifft. In beiden Fällen, im Roman und in der Biographie, bringt der textuelle Prozess, wie sie schreibt, „sozial imitierbare Charaktere“ hervor und geht darüber in die Konstitution lesender und schreibender Individuen ein.52 Während sich der Roman aber als Artefakt einbekennt, erhebt die Biographie den Anspruch, ein identisches Abbild historischer Realität zu sein, und entzieht zusammen mit ihrer ästhetischen Konstruktion auch den Imitationsvorgang der Erkenntnis. Die Form, die die Biographie dem erzählten Leben verleiht, hat demnach nicht nur an der Identitätsbildung des Autors und des Lesers teil, sondern stellt zugleich ein Modell von Männlichkeit bereit – beides fällt nach Reulecke unmittelbar zusammen. Wenn es zutrifft, dass Männlichkeit als Charakterformation und Verhaltensweise mit Subjektivität identisch ist, dass also erstere die Bezeichnung ist, die letztere erhält, sobald sie nicht als gesellschaftliche, sondern als Naturerscheinung vorgestellt wird, dann erscheinen, diesen 50 Ebd. 51 Vgl. Liz Stanley: The Auto/Biographical I. The Theory and Practice of Feminist Auto/Biography. Manchester, New York 1992, S. 11 sowie Sigrid Weigel: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 241. 52 Reulecke: „Die Nase“, S. 128. Reulecke zitiert hier aus Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München, Wien 1986, S. 19.
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Zusammenhang vorausgesetzt, auch die Ich-bildenden Funktionen der historisierenden Erzählung, die den Autor und Leser als Demiurgen oder Gott auf die Bühne ruft, nicht mehr als geschlechtsneutral. Dieser Gedanke – gegen den sich einwenden ließe, dass reine Subjektivität ebenso wie ihr Gegenteil, reine Objektivität, gerade aufgrund ihrer Abstraktheit gegen jede individuelle Besonderheit und damit auch gegen körperliche Unterschiede an sich gleichgültig ist – ist ausschlaggebend für Reuleckes Interpretation einer bemerkenswerten Tatsache, der nämlich, dass „die Verfasser von Biographien in der Folgezeit nicht selten selber zu Gegenständen von Biographien werden“, so dass eine „beinahe lückenlose Kette Schreibender und Beschriebener“ entsteht. In Anlehnung an Sigrid Weigels These von geistiger Schöpfung als „Ersatz und Überwindung der natürlichen und biologischen Schöpfung“53 spricht Reulecke von der „Herstellung einer männlichen Genealogie“ und damit von einer „Traditionslinie, die sich ohne den Beitrag von Frauen reproduziert“54 – wobei der Vorgänger, der frühere Biograph und jetzige Protagonist, durch den Nachfolger, den früheren Leser und jetzigen Biographen, in der Erzählung als Subjekt wie als Objekt „erzeugt“ wird. Die Identifikationskette Protagonist – Biograph – Leser, die eine männliche „Gemeinschaft der Toten und Lebendigen“ (Scheuer) konstituiert, in der die Verwandtschaftsverhältnisse nicht mehr über die biologische Reproduktion, sondern über gemeinsame geistige Werte hergestellt werden, wird bei Reulecke als fragwürdiger, der politischen Realitätsflucht vergleichbarer „Abwehrmechanismus“ gegen die Herkunft aus der materiellen, biologisch sich fortzeugenden Sphäre gewertet, mit der die Frauen identifiziert werden.55 Hiermit ist freilich die Grenze ihrer Argumentation erreicht, denn nimmt man die Zurückweisung der Emanzipation von einem auf „Bluturenge“ (Marx) gegründeten Herrschaftszusammenhang wie der biologisch sich definierenden Familie beim Wort und verwirft tatsächlich die geistige Schöpfung und die sich in ihr betätigende, im überlieferten Geschlechtersystem männlich konnotierte Subjektivität, stehen auch Reuleckes oder Weigels literaturtheoretische Abhandlungen, die ja ebenfalls geistige und keine biologischen Hervorbringungen
53 Weigel: Topographien, S. 236. 54 Reulecke: „Die Nase“, S. 128 f. 55 Ebd., S. 129.
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sind, zur Disposition.56 Die schlichte Negation dessen, was bei Barthes ,Demiurg, Gott oder Rezitator‘ heißt, müsste sich, konsequent verstanden, auch gegen die Theorie selbst richten, denn es ist nicht einzusehen, warum ausgerechnet sie keine subjektbildenden und vereinheitlichenden Effekte haben sollte. Reuleckes Verhältnis zu dem, was sie kritisiert, erweist sich bei näherem Hinsehen als zutiefst widersprüchlich. Scheint sie einerseits die ,biologische Reproduktion‘ gegen den ,Demiurgen‘ auszuspielen, wendet sie sich andererseits – und dies hat eine ebenso lange Tradition in der Frauenbewegung wie die Verherrlichung von Biologie und Mutterschaft – gegen die von ihr konstatierte, auch in der Biographik anzutreffende Tendenz, „das Leben einer Frau auf ihre physische und sexuelle Realität zu reduzieren“, „die Schilderung von Privatem, ja Intimem, an weiblichen Gestalten zu diskutieren und zu sexualisieren“ und überhaupt das ,Weibliche‘ als Geschlechtliches zu definieren.57 So sehr die Reduktion auf Sexualität als Abwertung gemeint ist, wäre gerade hier, wo Geistiges und Körperliches aufs Engste verschränkt sind und der Körper im glücklichen Fall gerade nicht zum Instrument oder Material für einen äußeren Zweck wird, eher die Diffamierung des Sexuellen zu kritisieren als die Darstellung der Frauen als Geschlechtswesen, die vielmehr auch für die Männer einzufordern und auf die geistige Sphäre auszudehnen wäre.58 56 Hier soll nicht behauptet werden, dass Reulecke oder Weigel tatsächlich so weit gehen, geistige Schöpfung zu verwerfen, sondern es soll auf die Konsequenzen einer theoretischen Position hingewiesen werden, die sich in der Abwertung der Idee der ,geistigen Verwandtschaft‘ als ,Abwehrmechanismus‘ gegen ,weibliche‘ Naturverfallenheit manifestiert. In ihrer Studie über Ingeborg Bachmann vertritt Sigrid Weigel beinahe die entgegengesetzte Position: „Die Ignoranz gegenüber der Intellektuellen steht […] am Ursprung [von Bachmanns Erscheinen] auf der Bühne des Literaturbetriebs als gefeierte Dichterin. Denn die negative Bewertung ihrer Prosa und die Behauptung, daß mit dem Ende der Lyrik der ,Quell ihres Darstellungsvermögens‘ versiegt sei, die zu den beharrlichen Klischees der Bachmann-Rezeption zählen, entpuppt sich auf den zweiten Blick als Abwehr gegenüber einer weiblichen Intellektuellen. Daß sie aus jenem Feld ausgebrochen ist, das mit Hilfe der Gleichung von lyrisch = intuitiv = weiblich abgesteckt ist, hat ihr die Literaturkritik nie verziehen.“ Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. München 2003, S. 15 f. 57 Reulecke: „Die Nase“, S. 129. 58 In der Biographik ist die Verschränkung von Sexus und Geist zuerst durch die Psychoanalyse explizit thematisiert worden. Die Forderung Sigmund Freuds, dass ein biographischer Versuch „die sexuelle Betätigung, die geschlechtliche Eigenart des Untersuchten“ nicht mit Stillschweigen übergehen dürfe (vgl.
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Nicht die Geschlechtlichkeit als solche ist beschämend als vielmehr ihre Abtrennung vom Geist, die beide, Sexus und Geist, auf Funktionalität reduziert und damit negiert. Wie zwiespältig und ungeklärt Reuleckes Verhältnis zur Subjektposition ist, zeigt sich am deutlichsten dort, wo sie explizit mit der Frage konfrontiert ist, ob diese Position – im Text wie im gelebten Leben – aufgegeben werden soll: Männer könnten sich, wie sie meint, getrost von ihr „verabschieden“, während Frauen sie sich in verwandelter Form „aneignen“ sollten. Das ist eine ausweichende Antwort, eigentlich gar keine, denn wenn das, wofür bisher Männlichkeit stand, tatsächlich ganz und gar zu verabschieden ist, kann es für Frauen auch dadurch nicht erstrebenswert werden, dass es für sie erst seit kurzem erreichbar ist. Nicht, dass der Widerspruch allein bei Reulecke läge. Er ist dort, wo Emanzipation so sehr durch ihre Verstrickung in Herrschaft kompromittiert ist wie hier, wohl unvermeidlich, und gerade was die Stellung zu Subjektivität und Individualität angeht, finden sich in vielen feministischen und gendertheoretischen Texten ähnlich unschlüssige Formulierungen, auch in denen zur Biographie.59 Solche Verlegenheit ist einer übers Knie gebrochenen Entscheidung zwischen falschen Alternativen sicherlich vorzuziehen, doch fällt auf, dass in Reuleckes Text trotz eines insgesamt hohen Reflexionsniveaus ein so grundlegender Widerspruch wie dieser nirgends thematisiert wird. Bereits der Anlage nach ist der gesamte Essay widersprüchlich. Reulecke legt einen schweren Akzent darauf, dass die Biographie nicht nur die Widerspiegelung sozialer Verhältnisse sei, sondern in deren Konstitution eingehe, ja sie allererst begründe. Richtig ist sicherlich, dass Staat und Gesellschaft ästhetische Erscheinungsformen haben und sich in ihnen und durch sie reproduzieren; richtig ist auch, dass der Vorgang der Subjektbildung durch den Intellekt vermittelt ist und in der Biographie wie in anderen Texten im Lesen und Schreiben vollzogen wird. Ganz zurecht wendet sich Reulecke gegen die Vorstellung, Literatur sei ein meinen Aufsatz zu psychoanalytischer Frauenbiographik in diesem Band), scheint bei Biographinnen und Biographen größeren Anklang gefunden zu haben als die psychoanalytischen Thesen selbst, die auf die Herleitung von Geistigem aus dem Triebleben abzielten. 59 Vgl. etwa Maureen Quilligan: „Rewriting History. The Difference of Feminist Biography“. In: The Yale Review 77 (1988), S. 259 – 286, hier S. 261 und Sharon O’ Brien: „Feminist Theory and Literary Biography“. In: Contesting the Subject. Essays in the Postmodern Theory and Practice of Biography and Biographical Criticism. Hg. v. William H. Epstein. West Lafayette 1991 (= The Theory and Practice of Biography and Biographical Criticism, Bd. 1), S. 123 – 133, hier S. 127 f.
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bloßer Effekt ihr äußerlich gegenüberstehender Verhältnisse, und beharrt darauf, dass sich die Form des Subjekts in der Biographie und durch sie reproduziert – m.a.W., sie begreift das Schreiben und Lesen von Biographien als gesellschaftliche T tigkeit. Ihre These ist jedoch damit noch nicht adäquat gefasst. Die Konstitution bürgerlich-männlicher Subjektivität ist bei Reulecke eine rein sprachliche, während sie doch vor allem durch eine manifeste, und d. h. auch leibliche Scheidung alles Seienden in herrschenden Geist und in beherrschbares, beliebig formbares Material und durch die Etablierung gesellschaftlicher und deshalb auch physischer Herrschaftsverhältnisse vor sich geht. Nach Reulecke entspringt eben diese Trennung, mit der die Geschlechter als voneinander wesenhaft unterschiedene Identitäten einander gegenübertreten, allein den logischen Funktionen der Sprache. In Anlehnung an den französischen Strukturalismus setzt sie, ohne sich freilich dazu zu bekennen, die Scheidung zwischen ordnendem Geist und passivem Material, reinem Subjekt und reinem Objekt als gegeben voraus und bewegt sich selbst in den Formen, die sie kritisiert: Die Welt wird ihr zufolge nicht nur in der Imagination der Schreibenden und Lesenden, sondern ganz real erschaffen durch Ordnungsoperationen im Text, also durch reinen Geist, der damit in der Tat als Demiurg, als subjektloses Subjekt agiert. Noch in der Wendung gegen den Geist spricht Reulecke diesem die Allmacht zu, auf die Anspruch zu erheben gerade seinen Herrschaftscharakter begründet. Hierzu stimmt, dass das überlieferte Material, aus dem der biographische Protagonist gefügt wird, in Reuleckes theoretischer Konstruktion zunächst für die sprachliche Formation gleichgültig ist, folglich als eigenständige Realität im Grunde gar nicht existiert, sondern als leere Fläche für Projektionen erscheint und damit dem entspricht, was im Idealismus das Objekt heißt.60 Gerade das, 60 „Die reine Einigung von Subjekt und Objekt ist letztlich nur möglich, wenn beide in einem Punkte unmittelbar zusammenfallen. Die Identität des Subjekts und des Objekts ohne weitere Vermittlung als oberste Bedingung für synthetische Einigung ist die Tathandlung. Sie bildet eben darum auch den Grund für die Erkenntniswahrheit im Sinne der Richtigkeit. […] Tathandlung […] benennt die voraussetzungslose Grundvoraussetzung und den Selbstanfang des Ich. Sie kann darum kein Anderes, kein hemmendes und das Selbst entfremdendes Fremdes vor und über sich haben. In der Tathandlung weist das Ich nur im unendlichen Selbstbezug. Es ist ,absolutes Subjekt‘, d. h. losgelöst von jeder Relation auf anderes. Reine Tätigkeit ist nicht von Leiden, Hemmung und Schranke betroffen.“ Wolfgang Janke: Fichte. Sein und Reflexion. Grundlagen der kritischen Vernunft. Berlin 1970, S. 72 f.
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worauf ihrer eigenen Einsicht nach die Konstitution des männlichbürgerlichen Subjekts beruht – die Ausblendung des Leiblichen, die Erhebung des Geistes zum alles hervorbringenden Schöpfergott – praktiziert sie höchstselbst, indem sie das empirische Subjekt, also den durchaus auch außertextuell, mithin als körperliches Wesen existierenden, schreibenden oder lesenden Menschen aus dem einheitlichen, geschlossenen, mittels sprachlicher Operationen generierten Subjekt der Biographie heraus entstehen lässt: Ausdrücklich betont sie, dass der Schreibende, und nicht nur dieser, als Subjekt durch den Text „hervorgebracht“ wird.61 In ihrer Wendung gegen einen tatsächlich zu kritisierenden Vulgärmaterialismus zieht sie in Übereinstimmung mit Lacan, auf den sie sich an zentraler Stelle beruft62, eine strikte Trennlinie zwischen Kultur und Sozietät, um Literatur als der Gesellschaft vorg ngig darstellen zu können – als wäre Sprache nicht schon „ihrer Definition nach ein soziales Objekt“63 – und dreht das simple, in Zeiten des universitären Marxismus womöglich allzu eingeschliffene Basis-ÜberbauSchema einfach um: Die Konstitution des sich individuierenden Subjektes findet „am Ort seiner kulturellen Konstruktion“ statt, die „der sozialen Realität vorausgeht“64, nämlich in der Biographie. Zielte die Rede vom ,Medium‘ noch auf Vermittlung, also darauf, dass das bürgerlich-männliche Subjekt sich durch die Biographie und durch andere Texte hindurch reproduziert, erscheint an diesen Stellen die Biographie als das Unvermittelte, Erste, aus dem sich alles Übrige ableitet – womit die Bedeutung der Biographie, soweit jedenfalls darunter eine klar abgegrenzte Textgattung verstanden wird, eine fast schon groteske Überschätzung erfährt, denn keineswegs ist es ja so, dass die Lektüre von 61 Reulecke: „Die Nase“, S. 126. 62 Vgl. ebd., FN 20, S. 122 und 140. Lacan entwirft eine „dreigliedrige Konzeption der conditio humana: Natur, Gesellschaft und Kultur […], wobei sehr wahrscheinlich der dritte Begriff sich auf die Sprache reduzieren läßt, das heißt auf das, was die menschliche Gesellschaft ihrem Wesen nach von den natürlichen Gesellschaften unterscheidet.“ Jacques Lacan: „Das Drängen des Buchstaben im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud“. In ders.: Schriften. Bd. 2. Ausgewählt und hg. v. Norbert Haas. Olten, Freiburg i. Br. 1975, S. 15 – 55, hier S. 20. 63 Barthes: Am Nullpunkt, S. 15 f. 64 Reulecke: „Die Nase“, S. 125 f., Hervorhebung E.M. Die Wortwahl an dieser Stelle ist kein Zufall: S. 125 ist von der „vorausgehende[n] textuelle[n] Genese“ der Konturen des Subjekts die Rede, und S. 124 spricht Reulecke davon, dass die Form der Biographie die textuelle Struktur ist, mittels derer im Leben „eine spezifische Form der Identität als nachträgliche erst hergestellt werden kann“.
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Biographien unabdingbare Voraussetzung dafür ist, sich als Subjekt zu verhalten oder eine Geschlechtsidentität zu entwickeln. Reulecke hält an diesem Schema dann auch nicht konsequent fest. So merkt sie etwa an, dass die Krise der Geschlechteridentitäten heute zur Suche nach neuen Formen des Biographischen führe – obwohl diese Identitäten, wenn man die These von der Vorgängigkeit der Biographie ernst nimmt, auch im Zustand der Zerrüttung ein „Ergebnis textueller Inszenierungen“65, ein „Effekt der Sprache“66 sein müssten und nicht umgekehrt ihre Krise zur Begründung einer Veränderung der Schreibweise angeführt werden dürfte. An anderer Stelle fürchtet sie, ihre Aussage, die Biographie selbst sei der Ort, „der Subjekte zu biographiewürdigen Subjekten erst macht“, könne als Wunschprojektion missverstanden werden, welche „die fehlende Beteiligung der Frauen an der offiziellen Geschichte oder an sinnstiftenden Diskursen“ verleugne67, weshalb sie sich genötigt sieht, sich von einer beschönigenden Sicht auf die Geschlechterverhältnisse zu distanzieren. Zwar lässt sie nur unter Vorbehalt die Feststellung gelten, dass Frauen in einer auf ,große Männer‘ zugeschnittenen Biographik deshalb kaum vorkommen, weil sie nur „selten […] historische Abläufe in exponierter Funktion als Fürsten, Minister, Dichter und Gelehrte [prägten]“68, doch zieht sie nicht explizit den Schluss, dass sich die gesamte gesellschaftliche Praxis einschließlich der Existenz von Fürsten, Ministern, Dichtern und Gelehrten aus jenen Ordnungsoperationen im Text ergibt, die ihr zufolge das Individuum als Subjekt erst erschaffen – obwohl dies die logische Konsequenz ihrer Prämissen und gerade in der extremen Zuspitzung eine diskussionswürdige These wäre. Schließlich nennt sie die besagten Ordnungsoperationen „Mechanismen der Verkennung“69 und spricht sich dafür aus, beim Schreiben einer Biographie „die strukturelle Kluft, die die historische Person von der biographischen Präsentation und das Leben von der Schrift trennt“, herauszustellen, womit sie ihrer ganzen bisherigen Konzeption widerspricht, die eine solche Kluft gar nicht zulässt, weil die Schrift dem Leben vorgängig ist.70 65 66 67 68 69 70
Ebd., S. 135. Ebd., S. 123. Ebd., S. 125. Ebd. Ebd., S. 134. Ebd., S. 136. Siehe auch S. 124, wo Reulecke zugibt, dass „kein Lebenslauf […] in einer solchen harmonischen Konstruktion restlos aufgeht“, und gegenüber der Identifikation des Autors und Lesers mit dem Protagonisten die
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Reulecke geht nicht so weit, die Existenz einer Realität jenseits der biographischen Erzählung überhaupt zu bestreiten – auch wenn Zweifel daran gelegentlich anklingen, etwa in den Anführungsstrichen, in die sie das Wort ,real‘ setzt71 –, weshalb ihr diese Realität als theoretisches Problem stets von Neuem in die Quere kommt. Letztlich steht sie vor dem Rätsel, wie etwas, das offensichtlich unwahr ist, die Spaltung der menschlichen Gattung in herrschende Vernunft-, Willens- und Tatwesen einerseits und beherrschte Naturwesen andererseits, dennoch zu einer objektiven Realität werden kann, die die Lebensweise der Menschen bis in die kleinsten Einzelheiten bestimmt und die jeweilige psychische Konstitution so sehr prägt, dass sie selbst in unwillkürliche Verhaltensweisen hineinreicht. Reuleckes Verdienst ist es, gezeigt zu haben, dass die Biographie schon der Form nach in den Prozess der Produktion und Reproduktion von Geschlechteridentitäten verwickelt ist, wobei allerdings die Projektion von ,Ich-heterogenen Momenten‘ wie ,Heimat, Herkunft, Familie‘ und ,Natur, Materie oder Unbewußtem‘ auf Frauen ebenso wie die Projektion ,autonomer Subjektivität‘ und ,geistiger Schöpfung‘ auf Männer, die bei ihr als gegebene Tatsache vorausgesetzt wird, ihrerseits der Erklärung bedürfte. Der in sich verkehrten Realität versucht sie an einigen Stellen mit paradoxen Formulierungen wie „die zur Realität gewordene Konstruktion der Geschlechter“72 oder – wiederum unter implizitem Rückgriff auf Lacan – „das gesellschaftliche Imaginäre“73 gerecht zu werden. Doch kann sie nicht überzeugend angeben, wie die Imagination in die Realität tritt, warum überhaupt der Protagonist der Biographie als Identifikationsfigur und Vorbild akzeptiert wird und welche Psychodynamik es ist, auf die die genannten Projektionen zurückgehen – es sei denn, man wollte tatsächlich von dem Unterschied zwischen der formalen Subjektivität und dem lebendigen Individuum abstrahieren und unter Ausblendung der Kritik an der Verdrängung der „materiellen Sphäre“74 das Verhältnis zwischen Erzählung und gelebtem Leben als bloße Verdopplung der sich selbst reproduzierenden Erzählstruktur auffassen. Einige von
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„Differenz“ zwischen den Lebensläufen der Individuen betont. Auf S. 126 ist die Rede von Lebensbereichen, die „ausgelassen oder gerafft“ werden. Auch das Verschweigen und die Negation der „Existenz von Frauen“ (ebd.) setzen eine Nichtidentität von gelebtem Leben und biographischem Stereotyp voraus. Vgl. ebd., S. 117, S. 122 f. Ebd., S. 119. Ebd., S. 136. Ebd., S. 129.
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Reuleckes Formulierungen lassen darauf schließen, dass sich ihr Idealismus der Not verdankt, die gesellschaftliche Realität als solche anerkennen zu müssen, ohne sie als wahre Wirklichkeit affirmieren zu können oder zu wollen: Erst die Sprache, scheinen sie zu sagen, bringt in die Sphäre, die als ,soziale Realität‘ der ,kulturellen Konstruktion‘ gegenübergestellt wird, das Moment von Willkür, Imagination und Irrealität hinein, ohne das die Geschlechteridentitäten als „substantielle Identitäten“75, und damit ist hier gemeint: als zeitlose Gegebenheiten aufgefasst werden müssten. Reuleckes Argumentation beutet die landläufige Vorstellung vom unterschiedlichen ontologischen Status der Sprache und der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit aus, der die Unwahrheit der Kategorien, auf denen die alltägliche Praxis beruht, erklären soll; weil die Sprache – so der Gedankengang – an sich bereits imaginär, artifiziell, eine „Verkennung“ ist, sind die gesellschaftlichen Beziehungen, die ihr „Effekt“ sind, scheinhaft und damit anfechtbar.76 Nur unter dieser Voraussetzung kann das Postulat vom „Vorrang der Sprache“ überhaupt als sinnvoller und einzig möglicher Weg erscheinen, die Geschlechteridentitäten „zu de-essentialisieren“.77 Gerade dieser theoretische Handstreich jedoch bringt seine eigene Voraussetzung, die Annahme einer geringeren ontologischen Dignität der Sprache, sofort zum Verschwinden: Als Ursache der realen gesellschaftlichen Beziehungen sind die sprachlichen Formationen nicht mehr und nicht weniger imaginär oder essentiell als jene selbst.78 Die Argumentation 75 Ebd., S. 119. 76 Dieser Gedanke ist nicht für Reulecke allein charakteristisch, sondern ein Allgemeingut der gendertheoretischen Literatur. Andra Maihofer dazu: „Wir haben es nie mit den Dingen selbst in ihrer objektiven Realität zu tun, sondern lediglich mit unserem sprachlich produzierten imaginären Verhältnis zu ihnen – und genau das macht das Imagin re der Realität aus.“ Und weiter: „Konsequenz ist, daß lediglich das Imagin re als real gilt. Das heißt, weil das Verhältnis zum geschlechtlichen Körper immer ein fiktionales darstellt, ist der geschlechtliche Körper bzw. ,Geschlecht‘ überhaupt in Wirklichkeit nur eine Fiktion oder Illusion.“ Andrea Maihofer: Geschlecht als Existenzweise. Macht, Moral, Recht und Geschlechterdifferenz. Frankfurt/M. 1995, S. 47, S. 73 f. 77 Reulecke: „Die Nase“, S. 135. 78 Judith Butler und andere haben Inkonsequenzen wie diese gerügt (vgl. Judith Butler: „Bodies that Matter“. In: Engaging with Irigaray. Feminist Philosophy and Modern European Thought. Hg. v. Carolyn Burke, Naomi Schor u. Margaret Whitford. New York, Chichester 1994, S. 141 – 173). Unter Rückgriff auf Foucault polemisiert Butler wiederholt gegen die Vorstellung, der „Körper“ sei etwas der „Macht“ gegenüber Eigenständiges, mit ihr nicht Identisches (vgl. bes. ebd., S. 147 f.), und dennoch kommt sie ohne eine Differenzierung zwi-
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leistet nicht das, was sie leisten soll – den gegebenen Geschlechterverhältnissen und -identitäten den Schein der Notwendigkeit zu nehmen – sondern verdoppelt im Gegenteil das, was sie anfechten wollte, indem sie es von einer ihrerseits unanfechtbaren, weil in jeder Hinsicht vorgängigen Struktur ableitet, deren vermeintlich bloß willkürlicher, von der Realität abgelöster Charakter in dem Augenblick verschwindet, in dem sie als Grund aller Realität gesetzt wird. Vorläufige Schlussbemerkung: Das Leben als ,pattern‘? Ein Argument, das in der feministischen Diskussion über die Biographie gelegentlich gegen die individualistische Ausrichtung der Biographie vorgebracht wird, lautet sinngemäß: Individualität kommt Männern, nicht Frauen zu. Exemplarisch hierfür steht eine Passage bei Maureen Quilligan, in der es heißt: Each man’s life is different from other men’s lives: that is why we read his particular biography. Each man is a distinct individual, separable from all other individuals. The fundamental premise of feminist biography is profoundly different: it assumes that each woman’s story is molded by a pattern, more or less the same pattern.79
Diese auch von Quilligan selbst problematisierte Auffassung idealisiert zwar nicht notwendigerweise die Schablonenhaftigkeit des Lebens von schen beiden auch nicht aus. Zum einen ist es ihrer Theorie nach die „Macht“, die den Körper konstituiert, nicht umgekehrt, so dass die postulierte Untrennbarkeit beider an die Vorgängigkeit, d. h. einen übergeordneten ontologischen Status der „Macht“ gebunden ist – nur wegen dieser Differenz benötigt sie überhaupt einen eigenständigen Begriff des Körpers –, und zum anderen scheint im Vokabular, wie übrigens auch bei Foucault, das als Metaphysik eskamotierte Nichtidentitische durch, etwa wenn von „constraint“, „mastery“, „subjugation“ oder „injury“ die Rede ist – denn was sollte eingeschränkt, was bemeistert, unterworfen oder verletzt werden, wenn der Körper tatsächlich nichts weiter wäre als materialisierte Macht, „the dissimulated effect of power“ (S. 168)? In Auseinandersetzung mit Irigaray betont Butler im Widerspruch zu ihren eigenen Thesen ausdrücklich die Notwendigkeit, die Grenze dessen zu denken, was vom „Diskurs“ erfasst werden kann (S. 165). Dieses implizite Zugeständnis wie auch die Beteuerung, keine Metaphysik der „Macht“ zu betreiben (vgl. S. 168), ändert aber nichts daran, dass Butler jene „taken-forgranted-ontology“, die sie am von ihr so genannten „empiricist foundationalism“ kritisiert (S. 148), über weite Strecken selbst praktiziert, nur dass das Irreduzible bei ihr nicht der Körper, sondern eben „die Macht“ ist. 79 Quilligan: „Rewriting History“, S. 261.
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Frauen, schreibt sie aber als Gegebenheit fest, während sie gleichzeitig ignoriert, wie wenig es auch auf Männer zutrifft, dass ihr Leben ,different from other men’s lives‘ ist – denn auch die ,männliche‘ Subjektivität muss als eine Form verstanden werden, die jedes Individuum nicht nur ideell, sondern auch reell jedem anderen angleicht. Dieses letztere Moment wiederum wird in anderen feministischen und gendertheoretischen Stellungnahmen zur Biographie verabsolutiert. So heißt es bei Susan Mann Trofimenkoff: „How does one fit a woman’s life to the pattern of chronological, linear development so common in biographies of men: he developed, he achieved, he declined? Most women do not have such a single direction to their lives.“80 Und Lois Rudnick schreibt ganz ähnlich: „Women’s lives have rarely fit the model of the normative biographical hero-type.“81 Hier ist es also umgekehrt die ,männliche‘ Subjektivität, die als bloßes ,pattern‘ erscheint, wobei vergessen wird, dass kein empirisches Individuum ganz mit dem ,pattern‘ identisch ist, oder besser: dass die Form ,he developed, he achieved, he declined‘ erst aus der Nichtidentität des empirischen Individuums mit reiner Subjektivität heraus entsteht. Adorno nennt an einer Stelle die Totalität des Charakters „fiktiv: man könnte ihn beinahe ein System von Narben nennen, die nur unter Leiden, und nie ganz, integriert werden“.82 Indem sie solche Narben aufzeigt, ist die Biographie trotz allem mehr als das, was sie nach Reulecke allein ist, ein Ensemble abstrakter formativer Funktionen, die durch die Herstellung von Geschlossenheit und Einheitlichkeit gekennzeichnet sind. In diesem Zusammenhang wäre Carolyn Heilbrun zu rehabilitieren83, der es keineswegs nur darum ging, die Lebensgeschichten weiblicher Schriftstellerinnen auf das Schema ,she developed, she achieved, she declined‘ zu bringen, sondern die vielmehr über „the processes and decisions, the choices and unique pain, that lay beyond 80 Susan Mann Trofimenkoff: „Feminist Biography“. In: Atlantis, Jg. 10 (1985), S. 1 – 9, hier S. 7. 81 Lois Rudnick: „The Male-Identified Woman and Other Anxieties. The Life of Mabel Dodge Luhan“. In: The Challenge of Feminist Biography. Writing the Lives of Modern American Women. Hg. v. Sara Alpern, Joyce Antler u. a. Urbana, Chicago 1992, S. 116 – 138, hier S. 118. 82 Theodor W. Adorno: „Die revidierte Psychoanalyse“. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 8. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 2003, S. 20 – 41, hier S. 24. 83 Vgl. die Einleitung von Esther Marian und Caitríona Ní Dhúill in diesem Band, S. 160 f.
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the life stories of these women“ schreiben wollte.84 Die Biographin Claire Tomalin, die ihre Protagonistinnen als „hard working girls“ rühmt, die über Nelly Ternan anerkennend sagt: „she seized her chance“ und Dora Jordan als „terrific role model“ bezeichnet, die sich ganz ähnlich wie Carlyle dafür interessiert „how they fought battles“ und erklärt: „everyone has to fight“, zielt keineswegs, wie man meinen könnte, bloß auf Erfolgsmeldungen ab, sondern was sie zeigen möchte, ist vor allem „the price paid for high achievement“.85 Wahrscheinlich ist die Zwiespältigkeit dieser Formulierungen für die Biographie als Gattung überhaupt kennzeichnend. Eine Biographie muss, wenn sie Biographie bleiben will, den von Reulecke beschriebenen Formvorgaben folgen, doch verfehlt sie ihre eigene Bestimmung auch, wenn sie sich in einem leeren Abspulen des immer gleichen Schemas erschöpft: Sie muss, um dem Anspruch der Darstellung eines einzigen, von allen anderen verschiedenen Individuums gerecht zu werden, die spezifischen Erfahrungen, die seine Entwicklung bestimmten und ihre Spuren in ihm hinterließen, benennen. Dabei ist es ein Unterschied ums Ganze, ob diese Erfahrungen – oder das, was von ihnen zugänglich ist – als untergeordnete Elemente in den Dienst einer glatten, einem vorgezeichneten Ende zustrebenden Erzählung gestellt werden oder ob die Form der Biographie aus einer Auseinandersetzung mit ihnen erst gewonnen wird. Dem letzteren Vorgehen stellen sich freilich Hindernisse entgegen, denn zu den formalen Schwierigkeiten kommen Publikumserwartungen hinzu, die von Verlegern an Autoren weitergegeben werden. Die Erfahrungen damit können so frustrierend sein wie die Linda Wagner Martins, die über ihre langwierigen Verhandlungen mit Verlegern über ihre Biographien Sylvia Plaths und der Familie Gertrude Steins berichtet: „The ,rules‘ of traditional biography work against the biographer’s following subtle leads in texts or letters; the entire process of biography works hard to sterilize painful stories so that the reader is given orderly and conventional plotlines.“86 Eine Biographik, die mehr sein will als die Anwendung eines vorgegebenen Schemas auf ein auswechselbares und letztlich gleichgültiges Individuum, hätte solchen 84 Carolyn G. Heilbrun: Writing a Woman’s Life. New York 1989, S. 31. 85 Alle Zitate aus Claire Tomalin: „The Spirit of the Age“. Vortrag auf der Konferenz The Spirit of the Age. Debating the Past, Present and Future of Life Writing, Kingston University, 4.–6. Juli 2007. 86 Linda Wagner Martin: „Notes from a Women’s Biographer“. In: Narrative. The Journal of the Society for the Study of Narrative Literature 1 (1993), S. 265 – 273, hier S. 267.
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,orderly and conventional plotlines‘ entgegenzuarbeiten, auch auf die Gefahr hin, dass die biographische Form beim Verfolgen von ,subtle leads‘ zergeht und unklar ist, was sich daraus ergibt. Ohne das Spannungsverhältnis zwischen der abstrakten Subjektivität und der Sinnlichkeit der menschlichen Existenz, das die traditionelle Form erst konstituiert, wären jedoch weder ,painful stories‘ noch Augenblicke des Gelingens denkbar, weshalb die Zerschlagung alles Biographischen, die ja zumindest als denkmögliche Alternative erscheint, womöglich noch mehr zur Sterilisierung beitragen würde als der konventionellste Plot es könnte. Ob man ein Vorgehen wie dieses ,feministisch‘ nennen will oder nicht, ist letztlich von untergeordneter Bedeutung. Der Nichtfeminist John Cody, der in seiner Biographie Emily Dickinsons die schrittweise Desintegration ihres Ichs nachvollzieht, ohne die damit verbundene Angst und Panik zu verschweigen, und sich hierbei ausdrücklich auf ein Gedicht Dickinsons beruft, dem zufolge jene Individuen, welche „Hugest of Core“ seien, kein rundes, in sich geschlossenes Leben haben, sondern eine „awkward Rind“ zeigen87, wird in seiner Empathie einer Kritik an abstrakter Subjektivität eher gerecht als feministisch sich verstehende Forderungen nach der Negation des Individuellen. Wenn Liz Stanley die Vorstellung, jemand könne „somehow different“ sein, mehrfach als elitäre Anmaßung diffamiert88, ohne sich durchgängig auf diese Haltung festzulegen, dann fällt damit gerade das unters Verdikt, was sich der Reduktion auf die immer gleiche Form versperrt. Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W.: „Die revidierte Psychoanalyse“. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 8. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 2003, S. 20 – 41. Améry, Jean: „Unmeisterliche Wanderjahre“. In: ders.: Werke. Bd. 2. Hg. v. Gerhard Scheit. Stuttgart 2002, S. 179 – 349. Barthes, Roland: Am Nullpunkt der Literatur. Frankfurt/M. 1982. Broughton, Trev Lynn: Men of Letters, Writing Lives. Masculinity and Literary Auto/Biography in the Late Victorian Period. London, New York 1999. Butler, Judith: „Bodies that Matter“. In: Engaging with Irigaray. Feminist Philosophy and Modern European Thought. Hg. v. Carolyn Burke, Naomi Schor u. Margaret Whitford. New York, Chichester 1994, S. 141 – 173. 87 John Cody: After Great Pain. The Inner Life of Emily Dickinson. Cambridge (Mass.) 1971, S. 14. 88 Stanley: The Auto/Biographical I, S. 9.
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Biographie von ,er‘ bis ,sie‘ Möglichkeiten und Grenzen relationaler Biographik
Caitr ona N Dhfflill Biographisches Schreiben unterstellt, dass es sowohl möglich als auch sinnvoll ist, durch Organisation und Interpretation archivalischer Materialien zu einem Protagonisten zu gelangen, durch den sich ein historisch nachweisbarer biologischer Körper mit einem Korpus kultureller Werke verbinden lässt. Angesichts der Tatsache, dass die Biographie explizit damit befasst ist, ein stabiles und verifizierbares Bezugsobjekt für das Pronomen ,sie‘ oder ,er‘ zu etablieren, erscheint sie als unwahrscheinlicher Schauplatz dafür, die Vertrauenswürdigkeit solcher Signifikanten anzufechten und die Vorstellungen von kohärenter Individualität und narrativ rekonstruierbarer Subjektivität aufzustören, die für biographische Texte formal wie inhaltlich konstitutiv sind. Wenn jedoch das Genre der Biographie vom Standpunkt der Gender-Theorie ins Auge gefasst wird, folgt daraus genau dieser Prozess der Anfechtung und des Aufstörens. Durch die Pronomina der dritten Person Singular, an die sie – wie es scheint, unausweichlich – gebunden ist, situiert die Biographie ihre Protagonisten in einem Sex-Gender-System.1 Judith Butler hat Geschlecht (gender) als „a practice of improvisation within a scene of constraint“ bezeichnet2, und ich nehme diese Auffassung zum 1
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Anm. d. Übers.: ,Sex‘ und ,gender‘ entsprechen grob dem umfassenderen deutschen ,Geschlecht‘; das Deutsche ignoriert allerdings die Differenzierung zwischen dem anatomischen (,sex‘) und dem grammatischen oder sozialen Geschlecht (,gender‘), die sich im Englischen auch in der eindeutigen Trennung zwischen ,female‘ und ,feminine‘ (,weiblich‘) sowie zwischen ,male‘ und ,masculine‘ (,männlich‘) niederschlägt. Hier wird meist auf die deutsche Bezeichnung zurückgegriffen, die in ihrer Mehrdeutigkeit den Vorzug hat, die Spannung und den Zusammenhang zwischen beiden im Englischen getrennten Seiten in sich zu fassen; dort, wo es sonst zu Unklarheiten kommen würde, blieb die jeweilige englische Bezeichnung in Klammern stehen. ,Sex/gender system‘ ist aus naheliegenden Gründen nicht übersetzbar. Judith Butler: Undoing Gender. Abington, New York 2004, S. 1. ( Judith Butler: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt/M. 2008.)
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Ausgangspunkt für eine Betrachtung geschlechterbezogener Fragen in der Biographie. Biographische Erzählungen sind verwickelt in die Zwangsbedingungen der Geschlechtlichkeit, insofern sie als Mittel ihrer kulturellen Einschreibung und Verbreitung fungieren. Durch ihr beharrliches ,er‘ und ,sie‘ reproduzieren und affirmieren Biographien bestehende Modelle und Normen von Geschlechtsidentität; sie schreiben und überschreiben die verfügbaren männlichen und weiblichen Entwicklungsmodelle. Wie jedes Überschreiben kann dies jedoch ein Prozess sein, der sich kritisch zu seinen eigenen Traditionen und Voraussetzungen verhält. Die Erzählung von Subjektivität macht die Spannung zwischen structure und agency sichtbar, die für Butlers Theorie zentral ist. Indem die Biographie den Prozess der Subjektkonstruktion nacherzählt, weist sie auf die produktiven Zwangsbedingungen der Geschlechtlichkeit hin: auf die Bedingungen, denen Männer und Frauen in verschiedener Weise unterworfen sind und auf die Möglichkeiten, unter diesen Bedingungen Spielräume auszuhandeln und darin zu improvisieren. Verhaltensnormen und kulturelle Erwartungen, vorgefundene Rollenmodelle und Verbote haben weitreichende Auswirkungen auf die Entwicklung des Subjekts, aber die individuelle Lebensgeschichte kann nicht auf sie reduziert werden. ,Gender-Theorie‘ bezeichnet nicht ein System, sondern ein Ensemble von Fragestellungen und Perspektiven, die feministischem Denken und feministischer Praxis entsprungen sind und sich inzwischen darüber hinaus weiterentwickelt haben. Kennzeichnend für gegenwärtige Gender-Theorien ist die Entwicklung einer ,Hermeneutik des Verdachts‘3 gegenüber Begriffen und Kategorien wie männlich und weiblich, homosexuell und heterosexuell, Natur und Kultur, Norm und Abweichung, Selbst und Anderem. Gender-Theorie untersucht das Verhältnis zwischen diesen Kategorien und stellt den Vorgang der Kategorisierung selbst in Frage. Biographische Erzählungen sind eine reiche Materialquelle für die Analyse von Geschlecht (gender) im Diskurs und als Diskurs. Diese Analyse findet auf mindestens zwei Ebenen statt: auf der des gelebten Lebens, soweit dieses, vermittelt, zugänglich ist; und auf der des erzählten Lebens, in der Wiedereinschreibung biographischer Spuren in den biographischen Text. Durch die Optik der 3
Das Konzept einer ,Hermeneutik des Verdachts‘ geht u. a. auf Paul Ricoeurs Auslegung von Freud, Marx und Nietzsche zurück. Vgl. Ricoeur: Die Interpretation: Ein Versuch ber Freud. Frankfurt/M. 1974. Siehe auch Jonathan Dollimore: Sex, Literature and Censorship. Cambridge 2001, S. 11 f.
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Gender-Theorie betrachtet, werden biographische Protagonisten wahrnehmbar als geschlechtlich formierte (sexed) Subjekte, die im spezifischen Sex-Gender-System ihrer Zeit und ihres Orts positioniert sind, so dass die biographische Erzählung als eine Bestimmung dieser Position lesbar wird. Das oft zitierte Diktum Thomas Carlyles, wonach Geschichte nichts anderes sei als die Gesamtheit der Biographien „großer Männer“4, ist an die aus gendertheoretischer Sicht problematischen Kategorien der Größe und Bedeutung gebunden. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn ,große Frauen‘ in den biographischen Kanon einbezogen werden, was zunehmend geschieht, seitdem ein bestimmtes Maß an Sichtbarkeit in traditionell männlich dominierten Sphären kultureller Produktion und Aktivität auch für Frauen erreichbar ist. Der Sachverhalt lässt sich vielleicht am anschaulichsten durch das quantitative Verhältnis zwischen Männern und Frauen in biographischen Lexika illustrieren. Im britischen Dictionary of National Biography, 1885 unter der Herausgeberschaft von Leslie Stephen begonnen, dem Vater von Virginia Woolf, waren fünf Prozent der aufgenommenen Personen Frauen. Im Oxford Dictionary of National Biography von 2004, der aktualisierten und erweiterten Fassung des ursprünglichen DNB, beträgt der Frauenanteil zehn Prozent.5 Die editorische Einleitung notiert hierzu: The shortage of articles on women, and the way their lives were treated, had come to seem perhaps the DNB’s most notorious weakness – and it was the one most frequently mentioned when opinions were canvassed on the need for a new dictionary. Women were scarce in the DNB partly because the division between ,public‘ and ,private‘ life had been particularly salient when it was being compiled. Many areas of women’s activity were then categorized as private, thus seeming beyond the Dictionary’s remit. A century later this would no longer do, if only because the line between the private and the public had always been blurred, and had subsequently shifted markedly. Many pathways into public life led out of the Victorian woman’s distinctive role – nursing, voluntary work, and charity, to name only three.6
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Thomas Carlyle: „On Heroes, Hero-Worship, & the Heroic in History“ [1840]. In: The Norman and Charlotte Strouse Edition of the Writings of Thomas Carlyle. Mit Anmerkungen u. einer Einleitung v. Michael K. Goldberg. Berkeley 1993, S. 26. Brian Harrison: „Introduction“. In: Oxford Dictionary of National Biography. Bd. 1. Hg. v. H. C. G. Matthew. Oxford 2004, S. V – XIX, hier S. XVII. Ebd., S. IX.
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Die Auswahlkriterien des neuen ODNB versuchen, das Gesamtspektrum der nationalen Kultur Großbritanniens („the full range of national life“) widerzuspiegeln und „noteworthy people of all kinds“ zu berücksichtigen: „Influence – whether for good or ill – is the principal criterion for admission.“7 ,Noteworthy‘ oder kulturell bedeutend werden Individuen durch ihre Präsenz in der öffentlichen Sphäre; dadurch aber, dass die Einteilung in die öffentliche und private Sphäre an sozialen Geschlechtergrenzen verläuft, ist ,noteworthiness‘ selbst von der Geschlechterdifferenz bestimmt. Wenn Einfluss ein Schlüsselkriterium von Biographiewürdigkeit sein soll, bleibt die Biographie gebunden an Fragen, die Einfluss und Bedeutung (prominence) betreffen: Wie wird Einfluss definiert, welche Positionen im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang werden als einflussreich eingestuft? Wem stehen diese Positionen offen, wem werden sie verwehrt? Von der Antwort auf diese Fragen hängen konstitutive Bedingungen biographischer Produktion ab: die Abwesenheit oder das Vorhandensein von Lebensspuren im Archiv, die Entscheidung, im Archiv nach diesen Spuren zu suchen, und die Begründung dieser Entscheidung. Die Frage nach dem Geschlecht der Biographie erschöpft sich also nicht in der Untersuchung von Geschlechtsidentitäten und Geschlechterbeziehungen im Leben des biographischen Subjekts. Schon die Entscheidung, gerade dieses Leben in den Mittelpunkt zu stellen, es zum Gegenstand von Forschungen zu machen und um seine Spuren herum eine Erzählung zu konstruieren, setzt voraus, dass dieses Leben geschriebene und materielle Spuren hinterlassen hat, ohne die die Aufgabe des Biographen letztlich unmöglich zu erfüllen ist. Wie kann die Biographie hoffen, zum Verständnis dessen beizutragen, was Butler ,agency‘ nennt – die Möglichkeiten der Improvisation unter den Zwangsbedingungen von Ge7
Ebd., S. VIII. Ähnliche Kriterien liegen auch anderen biographischen Lexika zugrunde, wie etwa dem projektierten Dictionary of African Biography, das unter der Herausgeberschaft von Henry Louis Gates, Jr. und Emmanuel Akyeampong in der Oxford University Press erscheinen soll: „The Dictionary of African Biography will be a major biographical dictionary covering the lives and legacies of notable African men and women from all eras and walks of life.“ http://oupreference.jot.com/WikiHome/African%20Biography/DAB%20About (Stand: 19. 11. 2008). In ihrem ersten Aufruf zur Einreichung von Beiträgen forderten die Herausgeber dazu auf, jedem eingereichten Namen ein „realm of renown“ zuzuordnen: Steven Niven u. Robert Repino: Dictionary of African Biography, 2008. https://www.h-net.org/announce/show.cgi ?ID=163429 (Stand: 19. 11. 2008).
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schlechtlichkeit (gender) –, wenn die Zwangsbedingungen, unter denen der biographische Text selbst entsteht, jenseits der Untersuchung bleiben? Während die Öffnung des biographischen Kanons hin zu life writing und Erinnerungsliteratur in den letzten Jahren zunehmendes Interesse an der Erzählung ansonsten ,unbekannter‘ Lebensgeschichten erzeugt hat, das heißt, an Lebensgeschichten von Personen, die der Leserin oder dem Leser erst durch den biographischen Text selbst zur Kenntnis gebracht werden8, bleibt der Großteil der biographischen Literatur untrennbar gebunden an die Idee der kulturell herausragenden Bedeutung oder Leistung. Die feministische Kritik daran, wie kulturelle und historische Sichtbarkeit geschaffen und aufrechterhalten wird9 und das feministische Projekt der Wiederaneignung (reclaiming) ,verlorener‘ oder ,marginaler‘ Lebensgeschichten sind zwei wichtige Momente der Herausbildung eines kritischen Bewusstseins über das Verhältnis zwischen Biographie und Sex-Gender-Systemen. Es geht dabei nicht darum, die Gültigkeit einer Geschichtsauffassung zu bestreiten, die einzelne Subjekte und ihre verifizierbaren Lebensspuren ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellt. Die Relevanz biographischer Texte, verstanden als diskursive Artefakte, wird, so die Hoffnung, durch die Anerkennung ihres komplexen Verhältnisses zur Produktion von Geschlecht (gender) eher bestätigt als negiert. Das von verschiedenen theoretischen Perspektiven aus artikulierte Unbehagen an der individualistischen Ausrichtung der Biographie führt jedoch zu einer Kritik der Voraussetzungen und Prioritäten des Genres bezüglich Autorschaft und Leistung, und dadurch eröffnen sich neue Sichtweisen auf biographische Erzählungen. Nancy Chodorows kritische Analyse der Beziehungsorientiertheit von Frauen, die zur Erklärung der gesellschaftlichen Reproduktion der Geschlechterdifferenz entwickelt wurde10, hat Implikationen für den Begriff der Subjektivität und stellt insofern ein nützliches Gegengewicht gegen die Begrenzung auf ein Einzelsubjekt dar, die das Prinzip vieler Biographien ist. Chodorows Überlegungen 8 Vgl. Encyclopedia of Life Writing: Autobiographical and Biographical Forms. 2 Bde. Hg. v. Margaretta Jolly. London, Chicago 2001. 9 Näheres hierzu in Liz Stanley: The Auto/Biographical I. The Theory and Practice of Feminist Auto/Biography. Manchester 1992. Siehe auch Ute Frevert: „Geschichte als Geschlechtergeschichte? Zur Bedeutung des ,weiblichen Blicks‘ für die Wahrnehmung von Geschichte“. In: Saeculum 43 (1992), S. 108 – 123. 10 Nancy Chodorow: The Reproduction of Mothering. Psychoanalysis and the Sociology of Gender. Berkeley 1978.
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zur Reproduktion geschlechtlich formierter (gendered) Subjektivität werden den theoretischen Rahmen für eine Analyse relationaler Biographien bilden – so nenne ich Biographien, denen biographische Quellen als eine Möglichkeit dienen, die Strukturen und Prozesse von Kanonisierung und Marginalisierung sichtbar zu machen. Die Kritik des kulturellen Kanons Auf ihrem langen Entwicklungsweg durch die moderne Epoche war die Biographie durchgehend an das Erzählschema des Heroischen oder der quest gebunden, die teleologische Geschichte des einzelnen, üblicherweise männlichen Protagonisten, der seiner Bestimmung nachgeht und diese in einem Lebenswerk oder Erbe findet, das den Tod transzendiert.11 Biographien kulturell bedeutender Figuren sind vorwiegend mit dem Verhältnis zwischen Leben und Werk befasst und ziehen oft willkürliche Grenzlinien zwischen den beiden Bereichen, um dieses Verhältnis verständlich zu machen. Feministische Theorie und GenderTheorie eröffnen eine kritische Perspektive auf die Leben-Werk-Problematik, indem sie beharrlich auf die komplexen Beziehungen von wechselseitiger Abhängigkeit verweisen, die zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre, zwischen kultureller Produktion und verschiedenen Formen historisch weniger sichtbarer Arbeit bestehen. Die gendertheoretische Perspektive macht einige der Verzerrungen der Biographie sichtbar und stellt das Modell individueller Leistung, das vielen biographischen Erzählungen zugrunde liegt, in Frage. Da sie das einzelne Subjekt als durch das soziale Geschlecht formiertes Subjekt begreift, kann sie die Normen und Zwangsbedingungen, die seine Subjektivität mitbestimmen, und die Modelle männlicher oder weiblicher Identität, die es in seinem kulturellen Milieu vorfindet, als Aspekte der Lebensgeschichte nicht ignorieren. Die Leistungen, denen das Subjekt seine kulturelle Bedeutung verdankt, erscheinen dann in einer komplexen Beziehung zu seiner Geschlechtsidentität und teilweise als Ausdruck dieser Identität. Die Bedingungen, unter denen diese Leistungen vollbracht wurden, werden in Hinblick auf familiäre und gesellschaftliche Strukturen wechselseitiger Abhängigkeit untersucht, 11 Näheres zur quest in Carolyn G. Heilbrun: Writing a Woman’s Life. New York 1988. Siehe auch die Einleitung zum Kapitel Biographie und Geschlecht, S. 157 – 167.
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einschließlich klassen- und geschlechtsspezifischer Arbeitsteilungen. Diese strukturellen Bedingungen werden nicht als nur zufällige Faktoren gesehen, die zur Werkproduktion des Protagonisten beigetragen oder ihr entgegengestanden haben, sondern, grundlegender, als der Kontext dieses Werks und zum Teil (besonders, wie wir sehen werden, im Fall literarischer Produktion) als dessen Rohmaterial, als die Bedingungen seiner Möglichkeit. Die biographische Praxis hat sich in neuester Zeit in Auseinandersetzung mit diesen Erkenntnissen verändert, die theoretische Problematik jedoch war in den reflektiertesten Biographien schon früher präsent: Das Problem der Situiertheit des Individuums in einem Netzwerk kultureller und gesellschaftlicher Verhältnisse und Verhaltensweisen und die komplexe Beziehung zwischen kultureller Produktion und ihren alltäglichen Bedingungen ist nichts anderes als der Stoff ernsthafter Biographik selbst. Eine überzeugende biographische Erzählung lebt gerade von dem Wechselspiel zwischen Individuum und Kollektiv, Privatheit und Öffentlichkeit, Kontext und Detail. Die formale und thematische Zentriertheit auf einen einzelnen Protagonisten, die das biographische Genre erfordert, arbeitet jedoch einer solchen Kontextualisierung von Subjektivität entgegen: um mit einer in der Theorie der Biographie geläufig gewordenen Metapher zu sprechen, das spotlight wirft Licht auf eine Figur und taucht nicht nur die anderen Figuren, sondern auch die Bühne selbst in Dunkelheit. Victoria Glendinning verwendet diese Metapher, um die Verzerrungen zu thematisieren, die durch die biographische Perspektive zustande kommen: The spotlight effect – the total concentration on one person that biography exacts – throws all the peripheral characters into shadow. These secondary characters may be more significant in historical terms, but they can only be partially accounted for, in so far as they impinge on the subject’s life. The result is distortion.12
Glendinning erkennt an, dass das Verhältnis von Peripherie und Zentrum erst durch die biographische Methode erzeugt wird, doch sie stützt sich nichtsdestotrotz weiterhin auf den Begriff historischer Bedeutung („significan[ce] in historical terms“) – als könnte Bedeutung unabhängig von den Prozessen der Kanonisierung, des Sichtbarmachens, des InsZentrum-Rückens ermittelt werden, zu denen die Biographie gehört. 12 Victoria Glendinning: „Lies and Silences“. In: The Troubled Face of Biography. Hg. v. Eric Homberger u. John Charmley. New York 1988, S. 49 – 62, hier S. 60.
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Im Gegensatz dazu verwendet Liz Stanley dieselbe Metapher, um historische Sichtbarkeit selbst zu problematisieren: The ,spotlight‘ approach to ,modern biography‘ emphasises the uniqueness of a particular subject, seen in individualised terms rather than as a social self lodged within a network of others. […] It essentialises the self, rather than focussing on the role of social processes in producing – and changing – what ,a self‘ consists of. And it enshrines an entirely depoliticised notion of ,greatness‘, presenting this as a characteristic of individuals rather than the product of political processes and constructions.13
Im letzten Abschnitt dieses Artikels untersuche ich vier biographische Fallbeispiele, die sich auf eine ganz bestimmte Weise der Problematik von spotlight und Schatten, Zentrum und Peripherie nähern. Die Biographien sind der relationalen Biographik zuzurechnen; ihre Stärke liegt darin, dass sie das Netzwerk, die Beziehung oder Konstellation in den Vordergrund stellen, um auf diese Weise die zuvor im Schatten oder in der Peripherie stehenden Figuren sichtbar zu machen, die zur Biographie einer als bedeutend anerkannten Person gehören. Indem sie dies tun, dezentrieren sie das bedeutende Subjekt und werfen ein Schlaglicht auf die Strukturen wechselseitiger Abhängigkeit, in denen das Werk entstand. Relationale Biographien teilen also mit anderen Typen biographischen Schreibens den Wunsch, kulturelle Produktion zu verstehen und ihr Zustandekommen zu erklären. Jene intellektuelle oder kulturelle Arbeit, mit der sich Biographien traditionell befassen, konstituiert sich durch die Verdrängung ihrer Abhängigkeit vom Körper. Wird Geschlecht nicht als Selbstverständlichkeit, sondern als Problem gesehen, das einer Theoretisierung bedarf, so wird auch der Körper problematisiert und das Verhältnis zwischen Diskurs und Körper hinterfragt. Damit ist es kein weiter Schritt mehr zu einer Untersuchung der Vorgänge, durch die der Körper in die Geschichte kultureller Produktion ein- oder aus ihr hinausgeschrieben wird. Die Biographie ist ihrem Wesen nach ambivalent in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen. Einerseits trägt sie zum Prozess der Kanonisierung und Auswahl bei, durch den kulturelle Eliten konstituiert werden und durch den sich die höhere Wertschätzung intellektueller gegenüber anderer Arbeit aufrechterhält; andererseits verfolgt der biographische Text die Spuren, die von intellektueller oder künstlerischer Arbeit zur Materialität eines gelebten, verkörperten Lebens 13 Stanley: The Auto/Biographical I, S. 214.
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zurückführen und ruft damit (zumindest potentiell) die verdrängte Verbindung zwischen Geistigem und Materiellem wieder ins Bewusstsein. Indem sie sich einem einzelnen verifizierbaren Körper zuwendet und kulturelle Produktion mit einer Zeitspanne lebendiger Erfahrung in Zusammenhang bringt, projiziert die Biographie kulturelle Arbeit auf den lebenden und sterbenden Körper. Sie beharrt auf der unwiderruflichen Verbindung zwischen der Reproduktion von Kultur und der Reproduktion von Körpern. Biographie und relationale Subjektivität Indem sie es unternimmt, das Einzelsubjekt und seine individuelle Leistung erzählend zu rekonstruieren, stellt die Biographie also implizit die Frage nach Kontext und Konstruktion jener Subjektivität und Leistung; sie lädt außerdem dazu ein, die biographierte Person als ein verkörpertes und geschlechtlich formiertes Subjekt zu begreifen. Die Untersuchung relationaler Biographien mit dem Instrumentarium von Chodorows Theorie relationaler Subjektivität eröffnet neue Perspektiven darauf, wie der produktive Zwang der Geschlechtlichkeit als Thema in Biographien präsent ist und die Formen bestimmt, in denen sie geschrieben werden.14 Wir haben gesehen, dass die Position in der öffentlichen Sphäre eine Schlüsseldeterminante dafür ist, ob ein Individuum als biographiewürdig gilt. Der Zugang von Frauen zur öffentlichen Sphäre ist nach der oben zitierten Betrachtungsweise des Oxford Dictionary of National Biography davon abhängig, dass weiblich konnotierte Fürsorge- und Pflegetätigkeiten – „nursing, voluntary work, and charity“15 – über den Bereich des Haushalts hinaus ausgeweitet wurden. Die Krankenschwester wird als öffentliche und daher historisch sichtbare Mutter wahrgenommen. Fürsorge – besonders Kinderfürsorge – ist ein Arbeitszweig, der sowohl biologisch notwendig als auch sozial und kulturell bestimmt ist und der tief reichende Verbindungen zu der ungleichen historischen (und biographischen) Sichtbarkeit von Männern und Frauen aufweist. In The 14 Zur Relevanz des Begriffs der ,relationalen Subjektivität‘ für die Analyse von Autobiographien siehe Paul John Eakin: „Relational Selves, Relational Lives: Autobiography and the Myth of Autonomy“. In: ders.: How Our Lives Become Stories: Making Selves. Ithaca (NY) 1999, S. 43 – 98. 15 Harrison: „Introduction“. In: Oxford Dictionary of National Biography, S. IX.
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Reproduction of Mothering hat Nancy Chodorow die theoretische Grundlage für eine Analyse jener Tätigkeiten gelegt, die die Mutterrolle von Frauen definieren, indem sie danach fragte, warum es Frauen sind, die Kindern die erste Fürsorge und Pflege zukommen lassen – eine Tatsache, die sich nicht allein aus anatomischen Geschlechtsunterschieden oder den weiblichen Erfahrungen der Schwangerschaft, des Gebärens und des Stillens erklären lässt. Das ,Bemuttern‘ (mothering) 16 – hiermit meint Chodorow die Fürsorglichkeit, die Frauen nicht nur gegenüber ihren eigenen Kindern, sondern auch gegenüber den Kindern anderer zeigen – kann nicht schlüssig durch Argumente aus der Natur erklärt werden; es ist, so Chodorow, eine Eigenschaft der gesellschaftlichen Struktur, dass die Betreuung von Kindern, sei sie bezahlt oder unbezahlt, eine Angelegenheit von Frauen ist.17 Danach zu fragen, wie Frauen dazu kommen zu ,bemuttern‘, heißt danach zu fragen, warum Männer es nicht tun: All people have the relational basis for parenting if they themselves are parented. Yet in spite of this, women – and not men – continue to provide parental care. What happens to potential parenting capacities in males? 18
Dies wirft weitere Fragen auf, die den unterschiedlichen Zugang betreffen, den Männer und Frauen zu produktiver und sichtbarer Arbeit in der kulturellen und öffentlichen Sphäre hatten und haben – zu jener Art von ,Arbeit‘ (work) oder ,Werken‘ (works), die biographisches Interesse auf sich ziehen. Chodorow vertritt die These, dass das Bemuttern und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung „mit anderen Institutionen und Aspekten der sozialen Organisation verknüpft“ sind.19 Ihr Hauptinteresse gilt der Frage, welche Unterschiede in der Entwicklung von männlichen und weiblichen Kindern diese Arbeitsteilung aufrechterhalten. Auf Chodorows Analyse der weiblichen Entwicklung, die aus ihrer Kritik des Freud’schen Modells erwächst, wird in der Literatur 16 Chodorow: The Reproduction of Mothering, S. 3. Anm. d. Übers.: Gitta MühlenAchs, die Übersetzerin von Chodorows The Reproduction of Mothering, übersetzt ,mothering‘ mit ,muttern‘. Hier wurde das geläufigere ,bemuttern‘ verwendet. Vgl. Nancy Chodorow: Das Erbe der M tter. Psychoanalyse und Soziologie der Geschlechter. München 1985, S. 10. 17 „Arguments from nature […] are unconvincing as explanations for women’s mothering as a feature of social structure.“ Chodorow: The Reproduction of Mothering, S. 30. 18 Ebd., S. 83. 19 Chodorow: Das Erbe der M tter, S. 50.
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über Geschlecht und Biographie oft Bezug genommen.20 Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die sich nach Chodorow durch das Erlernen von Geschlechterrollen reproduziert, hat eine zweifache Auswirkung auf die biographische Produktion: von ihr hängt sowohl ab, ob Frauen überhaupt in der Darstellung sichtbar werden, als auch, wie sie dargestellt werden. Selbst dort, wo die Geschlechtsidentitäten, die Sexualität oder die Körpererfahrungen des Protagonisten thematisiert werden, kann die Entscheidungsgrundlage oder die Motivation dafür nicht von den öffentlich erzielten Leistungen getrennt werden, die das Individuum überhaupt erst bedeutend machten.21 Im Gegensatz zu diesem implizit oder explizit auf das ,Lebenswerk‘ gerichteten Blick ist die Arbeit des Bemutterns (mothering) üblicherweise, wenn überhaupt, nur indirekt in biographischen Erzählungen präsent: durch die rückblickende Darstellung der Kindheit des Protagonisten aus der Perspektive späterer Leistungen. Das (männliche) Kind wird nicht als Sohn seiner Mutter, sondern als Vater des Mannes dargestellt.22 In Frauenbiographien werden die öffentlichen Leistungen der Frau, ihr ,Lebenswerk‘ im Sinne des konventionellen ,Leben und Werk‘-Modells 20 Vgl. Kay Ferres: „Gender, Biography, and the Public Sphere“. In: Mapping Lives. The Uses of Biography. Hg. v. Peter France u. William St Clair. Oxford 2002, S. 303 – 319, hier S. 310; Sidonie Smith u. Julia Watson: „Criticism and Theory since the 1950s: Feminism“. In: Encyclopedia of Life Writing. Hg. v. Jolly, Bd. 1, S. 250 – 252, hier S. 251; Maureen Quilligan: „Rewriting History: The Difference of Feminist Biography“. In: The Yale Review 77 (1988), S. 259 – 286, hier S. 275; Heilbrun: Writing a Woman’s Life, S. 82. 21 Ein relevantes Beispiel wäre die Biographie über Max Weber von Joachim Radkau: Max Weber: Die Leidenschaft des Denkens. München, Wien 2005. Auch in dieser Biographie geht es um die ,Erklärung‘ des Werks durch das (in diesem Fall sexuelle) Leben und um die Konstruktion eines Kausalzusammenhangs zwischen Intimsphäre und kreativ-wissenschaftlicher Arbeit, d. h. Werk und Schaffen ,rechtfertigen‘ das Interesse an anderen Aspekten des Lebens, in diesem Fall am Sexualleben. 22 Der Gedanke, dass das Kind der ,Vater des Mannes‘ ist (das Zitat stammt aus William Wordsworth: „My Heart Leaps Up“. In: ders.: ,Poems, in Two Volumes‘, and Other Poems, 1800 – 1807. Hg. v. Jared Curtis. Ithaca (NY) 1983, S. 206) wurde oft aufgegriffen, entweder um das Fortwirken von Einflüssen formativer Kindheitserfahrungen auszudrücken, oder um auf die im Kind schlummernden Möglichkeiten zu verweisen, die sich im Erwachsenenalter nach und nach entfalten. Auf die Biographie bezogen, meint diese Formel die (oft illusorische) kausale Beziehung zwischen Ereignissen der Kindheit und dem späteren Werk, die dann unterstellt wird, wenn diesen Ereignissen Erklärungskraft zugesprochen wird.
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einer Biographie, oft der Mutterrolle entgegengestellt. Anita Runge hat in Schriftstellerinnenbiographien wiederkehrende Erzählmuster aufgefunden; die Zurückweisung von „an der männlichen Berufsbiographie orientierten Darstellungsformen“ kann dazu führen, dass ein ähnlich stilisiertes oder simplifizierendes Modell einer „weiblichen Opferbiographie“ zugrunde gelegt wird, das sich um das Thema der „Verhinderung von Kreativität“ dreht.23 Diesem Modell zufolge gewinnt die weibliche Protagonistin ihr Profil in der öffentlichen oder kulturellen Sphäre den Anforderungen des Mutterseins zum Trotz24 oder weil sie keine Mutter wird25 oder als Ersatzbefriedigung.26 Um mit Kay Ferres zu sprechen: Die ständigen Anforderungen häuslichen Lebens und die Hindernisse, die sie kreativer Arbeit in den Weg legen, sind zu einem Topos in der Erzählung einer Frauenlaufbahn geworden.27 Sofern Frauenbiographien häusliche Arbeit als das Andere der Kreativität konzipieren, tragen sie zur Perpetuierung des verhängnisvollen Gegensatzes von reproduktiver Arbeit und kultureller Produktion und zur Ausschließung ersterer aus dem Kanon des historisch Sichtbaren bei. Die Arbeit des mothering ist weitgehend unbezahlt oder schlecht bezahlt und findet meistens im Haus oder in der privaten Sphäre statt; nach dem Schema der Teilung zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit, wie es sich in den Theorien von Simone de Beauvoir und anderen Feministinnen findet, ist sie reproduktiv. Chodorow beschreibt den Unterschied zwischen produktiv und reproduktiv wie folgt: The work of maintenance and reproduction is characterised by its repetitive and routine continuity, and does not involve specified sequence or progression. By contrast, work in the labour force – ,men’s work‘ – is likely to be contractual, to be more specifically delimited, and to contain a notion of defined progression and product.28 23 Anita Runge: „Geschlechterdifferenz in der literaturwissenschaftlichen Biographik. Ein Forschungsprogramm“. In: Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Hg. v. Christian Klein. Stuttgart, Weimar 2002, S. 113 – 129, hier S. 121 f. 24 Beispielsweise in Julia Briggs: A Woman of Passion: The Life of E. Nesbit, 1858 – 1924. London 1987. 25 Vgl. Winifred Gérin: Charlotte Bront . The Evolution of Genius. Oxford 1967; Claire Tomalin: Jane Austen. A Life. London 1997. 26 Vgl. James Brabazon: Dorothy L. Sayers: The Life of a Courageous Woman. London 1981. 27 Vgl. Ferres: „Gender, Biography, and the Public Sphere“. In: Mapping Lives. Hg. v. France u. St Clair, S. 303 – 319, hier S. 307. 28 Chodorow: The Reproduction of Mothering, S. 179.
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Indem sie das Leben als ein zusammenhängendes, sich entfaltendes Ganzes erzählt, erweckt die Biographie den Anschein, als sei die Arbeit oder das Werk das Ergebnis oder ,Produkt‘ des Lebens. Damit bevorzugt sie die linear-abgegrenzte Konzeption von Arbeit vor der zyklischrepetitiven. Die Schwierigkeit, sich wiederholende reproduktive Arbeit in einer geschriebenen Erzählung darzustellen, wird von Doris Lessing in The Golden Notebook (1962) herausgestellt: I-must-dress-Janet-get-her-breakfast-send-her-off-to-school-get-Michael’s-breakfast-don’t-forget-I’m-out-of-tea-etc.-etc.29
Dieselbe Frage, die Lessings prononciert feministisches Experiment aufwirft, ob und wie nämlich ein narrativer Text der repetitiven Seite insbesondere des häuslichen Lebens und Arbeitens gerecht werden kann und warum dies eine wünschenswerte Alternative zu der konventionelleren Darstellung einer teleologischen Entwicklung sein könnte, stellt sich auch für die Biographie. Angesichts des historischen Übergewichts männlicher Protagonisten in der biographischen Tradition und der ursprünglich vorherrschenden didaktischen Absicht der Biographie ist es wahrscheinlich, dass Biographien bei der Bildung und Verbreitung von Modellen und Bildern der Männlichkeit eine Rolle gespielt haben. Obwohl sie dem Kind in seinen frühen Lebensjahren nicht direkt zugänglich sind, werfen Biographien Licht auf die Bilder von Männlichkeit, die in einem kulturellen Kontext und einer historischen Epoche vorhanden sind oder idealisiert werden; in popularisierten, für Kinder geschriebenen Formen stellen sie oft die erste Begegnung des Kindes mit Geschichte oder mit der kulturellen Sphäre dar. Tatsächlich stellt die neuere Forschungsliteratur über Biographien für Kinder Identifikationsmöglichkeiten und Vorbildfunktionen als Hauptaspekte der Leseerfahrung heraus.30 Chodorow interessiert sich jedoch weniger für die Entwicklung des männlichen Kindes und seine Erlernung männlicher Geschlechterrollen als für die Dynamik der Mutter-Tochter-Beziehung. Sie vertritt die 29 Doris Lessing: The Golden Notebook. London 1993, S. 298. 30 Dorothee Hesse-Hoerstrup: „Biografien für jugendliche Leserinnen und Leser“. In: Beitr ge Jugendliteratur und Medien 58 (2006), S. 163 – 172; Geralde Schmidt-Dumont: „Schriftsteller-Biografien für Kinder und Jugendliche“. In: ebd., S. 173 – 177; Claudia Bullerjahn u. Elisabeth Volkers: „Mozart-Biographien für Kinder“. In: Kinder – Kultur. sthetische Erfahrungen, sthetische Bed rfnisse. Hg. v. Claudia Bullerjahn, Hans-Joachim Erwe u. Rudolf Weber. Opladen 1999, S. 159 – 193.
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These, dass die Geschlechtsidentifikation (gender-identification) zwischen Mutter und Tochter, wie sie sich in den frühen Erfahrungen des weiblichen Kindes abspielt, in Mädchen die Beziehungsorientiertheit des Mutterseins reproduziert. Da ihre Argumentation von zentraler Bedeutung für das feministische Projekt war, das Einzelsubjekt zu kontextualisieren und Identität neu zu fassen, nämlich als einen in Interaktionen sich vollziehenden Prozess, verdienen die folgenden Schlüsselpassagen ausführlich zitiert zu werden: Because women are themselves mothered by women, they grow up with the relational capacities and needs, and psychological definition of self-inrelationship, which commits them to mothering.31 Mothers tend to experience their daughters as more like, and continuous with, themselves. Correspondingly, girls tend to remain part of the dyadic primary mother-child relationship itself. This means that a girl continues to experience herself as involved in issues of merging and separation, and in an attachment characterised by primary identification and the fusion of identification and object choice. […] Girls emerge from this period with a basis for ,empathy‘ built into their primary definition of self in a way that boys do not. Girls emerge with a stronger basis for experiencing another’s needs or feelings as one’s own (or of thinking that one is so experiencing another’s needs and feelings). […] Because they are parented by a person of the same gender […] girls come to experience themselves as less differentiated than boys, as more continuous with and related to the external object-world. […] From the retention of preoedipal attachments to their mother, growing girls come to define and experience themselves as continuous with others; their experience of self contains more flexible or permeable ego boundaries […] The basic feminine sense of self is connected to the world, the basic masculine sense of self is separate […] relational abilities and preoccupations have been extended in women’s development and curtailed in men’s.32
Elemente der Theorie Chodorows sind in den Diskurs über Frauen, Geschlecht (gender) und Biographie eingegangen und haben dabei eine Entstellung erfahren. Ihre Erkenntnisse über die Differenzen in der Selbstwahrnehmung von Mädchen und Jungen und ihre jeweilige Stellung in der spezifischen Eltern-Kind-Konstellation der modernen Kernfamilie werden oftmals umformuliert und als Stereotyp weiblicher Identität neu bewertet: Relationalität, Beziehungsfähigkeit, Orientierung auf den anderen hin werden zu Tugenden der Weiblichkeit sti31 Chodorow: The Reproduction of Mothering, S. 209. 32 Ebd., S. 166 f.
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lisiert.33 Diese Denkfiguren sind in den Dienst einer gendertheoretischen Kritik des spotlight approach und des Kults des großen Individuums gestellt worden. Die Abhängigkeit des empirischen Subjekts von anderen und seine Einbettung in ein Netz von Beziehungen wird betont, um ein Gegengewicht zu der tradierten biographischen Akzentuierung des selbstbestimmten Individuums und der kohärenten, eindeutig gegen die Umgebung abgegrenzten Subjektivität herzustellen. Die Kritik des Individualismus beinhaltet jedoch ihre eigenen Risiken. Während sie ,große Männer‘ in familiäre und gesellschaftliche Beziehungen zurückversetzt, indem sie zeigt, wie die Leistung des Einzelindividuums in Strukturen der wechselseitigen Abhängigkeit eingeschlossen ist und durch die Arbeitsteilung ermöglicht wird, die zu dem jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontext gehört, ist diese Strategie für weibliche Figuren weniger vorteilhaft, da diese traditionell – sogar juristisch – ohnehin über ihre Beziehungen definiert wurden.34 Die Herausforderung im Fall weiblicher Protagonistinnen besteht oft darin, überhaupt erst eine eigenständige Leistung aus einer historischen und biographischen Überlieferung heraus zu rekonstruieren, da diese Überlieferung in Richtung auf eine bestimmte Definition von Weiblichkeit verzerrt ist.35 Wie Nina von Zimmermann aufgezeigt hat, tendierte die Frauenbiographik historisch dazu, die Protagonistin über ihre Weiblichkeit statt über ihre individuelle Leistung zu definieren: Wie in der Biographik über Männer wird [in Frauenbiographien des frühen 20. Jahrhunderts] die biographierte Person zwar aufgrund ihrer besonderen Leistung porträtiert, anders als dort jedoch wird als ausschlaggebend für die Biographiewürdigkeit und die Vorbildhaftigkeit nicht ihre Leistung, sondern ihre Geschlechteridentität in den Mittelpunkt gerückt.36 33 Vgl. Women, Autobiography, Theory: A Reader. Hg. v. Sidonie Smith u. Julia Watson. Madison 1998; Carol Ascher, Louise Dedalro u. Sara Ruddick (Hgg.): Between women. Biographers, Novelists, Critics, Teachers and Artists write about Their Work on Women [1984]. New York, London 1993. 34 Vgl. Gillian Fenwick: Women and the Dictionary of National Biography. Aldershot 1994, S. 5. 35 Siehe Caitríona Ní Dhúill: „Am Beispiel der Brontës. Gender-Erählungen im biographischen Kontext“. In: Spiegel und Maske. Konstruktionen biographischer Wahrheit. Hg. v. Bernhard Fetz u. Hannes Schweiger. Wien 2006 (= Profile, Bd. 13), S. 113 – 127. Vgl. Quilligan: „Rewriting History“, S. 261. 36 Nina von Zimmermann: „Zu den Wegen der Frauenbiographikforschung“. In: Frauenbiographik: Lebensbeschreibungen und Portr ts. Hg. v. Christian von Zimmermann u. Nina von Zimmermann. Tübingen 2005, S. 17 – 32, hier S. 17.
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Während der spotlight approach konventioneller Biographik daraufhin kritisch untersucht werden muss, wie er Beziehungen verdunkelt, läuft das Beharren auf Relationalität also Gefahr, Frauen in die untergeordnete Situation zurückzuversetzen, in der sie sich durch die Geschichte hindurch ohnehin befanden. In diesem Zusammenhang liegt die Stärke von Chodorows Analyse darin, dass sie Relationalität nicht zu irgendeiner wesenhaften Eigenschaft oder Stärke einer ahistorischen, universalisierbaren ,Weiblichkeit‘ hypostasiert, sondern sie einer spezifischen, gesellschaftlich konstituierten, einer bestimmten historischen Epoche angehörenden Organisation der Reproduktion und Kindererziehung zuordnet. Die Wiederaneignung von Lebensgeschichten: Marginalität und Geschlecht in relationalen Biographien Eines der zentralen Vorhaben feministischer Biographik seit den 1960er Jahren war und ist die ,Wiederaneignung‘ oder ,Zurückforderung‘ (reclaiming) von lost lives, von verschollenen Lebensgeschichten. Dieses Vorhaben ist untrennbar von der Kritik kultureller Bedeutung, die oben diskutiert wurde, und ist in vieler Hinsicht das Ergebnis der theoretischen Position, die jener Kritik zugrunde liegt. Was ist mit lost lives gemeint und wie können sie ,wiederangeeignet‘ werden? Hervorragende Beispiele hierfür sind Biographien marginaler oder unbekannter Figuren, die nur deshalb nicht völlig in Vergessenheit gerieten, weil sie mit kulturell sichtbaren Figuren in Beziehung standen. Darunter sind die Freundinnen und Freunde, Verwandten, Partnerinnen und Partner und die Ehefrauen oder Ehemänner bekannterer Individuen. Dieser Typ von Biographie wird seit den 1960er Jahren beharrlich produziert, in mehr oder weniger korrektiver Absicht und oft mit einer feministischen Zielsetzung. Jean Strouse hat die Lebensgeschichten, die in solchen Biographien dargestellt werden, „semi-private lives“ genannt.37 Wie dieser Ausdruck nahelegt, wirft das Auswahlprinzip hier mehr noch als im Fall konventioneller Biographien herausragender Figuren die Frage nach dem Öffentlichen und dem Privaten und nach der geschlechtlichen Differenziertheit dieser Sphären auf. Und dies in be37 Jean Strouse: „Semiprivate Lives“. In: Studies in Biography. Hg. v. Daniel Aaron. Cambridge (Mass.), London 1978 (= Harvard English Studies, Bd. 8), S. 113 – 129.
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sonders problematischer Weise: Denn hat dieser Typ von Biographie nicht etwas von Klatsch, von falscher Intimität, lüsterner Neugier und Voyeurismus an sich? Beruht er nicht, bestenfalls, auf dem illusorischen Versprechen, dass die Interventionen eines Individuums in die öffentliche Sphäre irgendwie unter Verweis auf sein Privatleben erklärt werden können? Wenn man sich die zwingenden Argumente gegen diese Illusion vor Augen führt, wie sie von David Nye, Sigrid Weigel und anderen vorgebracht wurden38, ist man versucht, die ,semi-private‘ Biographik in die Nähe einer populären Celebrity-Biographik zu rücken. Man fühlt sich an die Figur der Beatrice Nest in Antonia Byatts Possession erinnert: Als Wissenschaftlerin, die der Generation vor der zweiten Frauenbewegung angehört, verfasst Nest, einem herablassenden und chauvinistischen Ratschlag ihres männlichen Mentors folgend, eine Studie über die Ehefrauen von Genies mit dem Titel Helpmeets und verurteilt sich damit in Hinblick auf ihre eigene wissenschaftliche Laufbahn zur Marginalität.39 Besonders dort, wo sie es mit Beziehungen zu tun hat, in welche Schriftsteller oder andere kreative Personen involviert sind, bringt relationale Biographik die Gefahr des Biographismus mit sich, des Versuchs also, das Leben aus dem Werk und das Werk aus dem Leben zu erklären. Die folgende Passage aus Brenda Maddox’ Biographie über Nora Joyce veranschaulicht das Problem: Was Nora Molly Bloom? Joyce never said so. Often asked after Ulysses appeared, he […] used to invite friends in restaurants to guess which woman in the room was Molly. Nora also grew used to being asked if she were Molly. „No“, she would answer. „She was much fatter“. […] There are many ways in which Nora was not Molly. The customary misgivings about hunting for biographical information in works of fiction […] must give way in the face of the many obvious parallels between the real woman and the fictional creation in Joyce’s text.40
Maddox unternimmt eine Gratwanderung zwischen biographischer Kontextualisierung und Biographismus, und es gelingt ihr nicht immer, Letzteren zu vermeiden. Die Funktion des Verbs ,to be‘ in Sätzen wie „Was Nora Molly?“, „Nora was not Molly“, „in many ways [Anna Livia Plurabelle] is more Nora than Molly could ever be“41 ist hoch38 David E. Nye: The Invented Self. An Anti-Biography, from Documents of Thomas A. Edison. Odense 1983, S. 16 u. S. 184. Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999, S. 5 – 27. 39 A. S. Byatt: Possession. A Romance. London 1991, S. 112 – 116. 40 Brenda Maddox: Nora. A Biography of Nora Joyce. London 1988, S. 265 f. 41 Ebd., S. 335.
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problematisch und simplifiziert die komplexe Beziehung zwischen gelebter Erfahrung und Literatur zugunsten eines tautologisch strukturierten Biographismus.42 Selbst das Wort ,parallel‘, beliebt bei vielen Biographinnen und Biographen, die versuchen, das Verhältnis zwischen Leben und Literatur zu fassen, verdeckt ebensoviel, wie es enthüllt: Wie in der Geometrie schließt auch in der Biographie die Parallele die Konvergenz aus. Wir werden zu diesem Problem zurückkehren; zuerst sei ein näherer Blick auf die Prioritäten relationaler Biographik geworfen. Nicht nur wegen seiner hartnäckigen Präsenz in der wissenschaftlichen biographischen Produktion der letzten Jahrzehnte verdient dieser Typ von Biographie Aufmerksamkeit. Was vielleicht am meisten auffällt, wenn man sich Texte wie Nancy Milfords Zelda (1970, eine Biographie über Zelda Fitzgerald, geborene Sayre), Brenda Maddox’ Nora (1988, eine Biographie über Nora Joyce, geborene Barnacle), Claire Tomalins The Invisible Woman (1990, eine Biographie über Nelly Ternan) oder Carole Seymour-Jones Painted Shadow (2001, eine Biographie über Vivienne Eliot, geborene Haigh-Wood) 43 näher ansieht, ist ihr gemeinsames Interesse dafür, wie weit die lebendige Erfahrung einer Person zum Rohmaterial des künstlerischen Werks einer anderen werden kann und wie weit dieser Prozess von der jeweiligen Geschlechterordnung bestimmt ist. Die Auseinandersetzung mit einer Ehe oder Beziehung dient in diesen Biographien jeweils der Erkundung einiger der am wenigsten sichtbaren Bedingungen kultureller und künstlerischer Produktion. Dabei soll nicht außer Acht gelassen werden, dass es signifikante Unterschiede in der Schwerpunktsetzung der verschiedenen Texte gibt: Während Tomalins Fallstudie die Situation der ,gefallenen Frau‘ im viktorianischen England erhellt, liegt der Schwerpunkt Milfords, ebenso wie der Seymour-Jones’, auf dem Verhältnis zwischen Gesundheit, 42 Zur tautologischen Struktur biographistischer Lesarten vgl. Patricia Ingham: Dickens, Women and Language. New York 1992, S. 133: „Biographical criticism […] is locked into a tautology. It says, for instance, that Mrs Nickleby is Dickens’ mother and Dickens’ mother is Mrs Nickleby; or that Lucie Manette is Ellen Ternan and Ellen Ternan is Lucie Manette. There is nowhere for such criticism to go except backwards and forwards between the two propositions.“ 43 Es gibt zwei Schreibweisen des Namens, Vivienne und Vivien Haigh Eliot. Sie selbst bevorzugte lange Zeit die kürzere Variante, doch ich folge hier SeymourJones darin, die Schreibweise aus ihrer Geburtsurkunde zu verwenden, die sie bis zu ihrer Heirat mit T.S. Eliot benutzte und zu der sie in den letzten Jahren ihres Lebens zurückkehrte.
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Autorität und Autorschaft; zu den zentralen Themen von Maddox gehören Migration, Exil und kulturelle Identität. Anders als bei Biographien bekannterer Figuren, deren Motivation selbstverständlich scheint, ist die Biographin wegen der historischen Marginalität der jeweiligen Protagonistin gezwungen, ihre Zielsetzung offenzulegen und die auf Recherche, Schreiben und Lesen verwendete Zeit und Mühe zu rechtfertigen. Das bei Biographien größeren Umfangs häufig auftretende Problem, wie das Alltägliche erzählt werden kann, stellt sich in relationalen Biographien in einer spezifischen Weise. Wenn der Protagonist eine bekannte Figur ist, können Details des Alltags allein durch ihre Verbindung mit dem biographischen Namen mit falscher Bedeutsamkeit aufgeladen werden. Schon die archivarische Aufbewahrung von Beschreibungen von Mahlzeiten, Wohnungseinrichtungen und Reisearrangements scheint oft ihre Aufnahme in den biographischen Text zu sichern: Wenn ein Dokument überlebt hat, das beweist, dass James Joyce dies oder jenes gegessen hat, will man davon lesen – so der implizite Gedanke. Die unreflektierte Wiedergabe solcher biographischer Details ist weit weniger ausgeprägt in Biographien, die aufgrund der geringen historischen Sichtbarkeit ihrer Protagonistinnen gezwungen sind, ihre These unter Verweis auf das soziale Milieu, auf Repräsentativität, auf die Anfechtung von Autorschaft, auf die Wiederaneignung einer unterdrückten Geschichte, auf die Korrektur einer Entstellung oder auf irgendeine andere umfassende Themenstellung zu verfechten. Wenn Maddox etwa im Detail schildert, was Joyce aß, geht es darum, das Stereotyp anzufechten, dem zufolge Nora Joyce eine nachlässige oder chaotische Ehefrau gewesen sein soll, die unfähig war, einen Haushalt zu führen – und um zu illustrieren, wie das Ehepaar Joyce verschiedene, auch kulinarische kulturelle Praktiken anwandte, mit denen es die Verbindung zu Irland durch viele Jahre selbstauferlegten Exils hindurch aufrechterhalten konnte.44 Auch andere relationale Biographien versuchen die entstellende Sicht bisheriger Forschung auf die jeweilige Protagonistin zu korrigieren. Seymour-Jones macht sich explizit daran, „to restore [Vivienne Eliot] to her rightful place in the historical record“.45 Wie so oft in Biographien marginaler oder marginalisierter Individuen, findet das Gefühl der Entdeckung oder Überraschung lebhaften Ausdruck. Seymour-Jones 44 Maddox: Nora, S. 78. 45 Carole Seymour-Jones: Painted Shadow: A Life of Vivienne Eliot. London 2001, S. XVII.
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schreibt: „When I began working on Vivienne’s papers I was astonished to encounter an artistic, energetic, gifted woman, very different from the stereotype who lingered in literary history.“46 Auch Claire Tomalins The Invisible Woman stellt das Motiv der Korrektur und Revision in den Vordergrund: „This is the story of someone who – almost – wasn’t there; who vanished into thin air. Her name, dates, family and experiences very nearly disappeared from the record for good.“47 Der Fall Nelly Ternans verdeutlicht beispielhaft das allgemeine Problem, vor dem die relationale Biographik steht: das Problem historischer Sichtbarkeit und ihrer Konstruktion. Die Entstehung von Sichtbarkeit vollzieht sich an der Grenzlinie, die Leben und Kunst trennt und verbindet. Relationale Biographien versetzen den Schreibprozess in den Kontext seines täglichen Schauplatzes zurück; durch die Beschreibung des Alltags und des häuslichen Milieus machen sie allgemeine kulturelle Praktiken und gesellschaftliche Strukturen anschaulich. Die literarische Produktion wird unter dem Gesichtspunkt ihrer Auswirkungen auf Beziehungen und auf die Protagonistin der Biographie betrachtet. Das ,Rohmaterial‘, auf das die Schriftstellerin oder der Schriftsteller zurückgreift, wird in Form einer biographischen Erzählung neu konstituiert, und Spuren der Beziehung in den literarischen Texten werden ans Tageslicht gebracht. Diese literarhistorische Dimension relationaler Biographik wird von der Biographin oder dem Biographen oft nicht als Ergänzung vorhandener Forschungsliteratur, sondern als Korrektiv aufgefasst. Im Zentrum von Seymour-Jones’ Projekt steht die Behauptung, es sei „justified to view T.S. Eliot’s poetry and drama, bedrock of the modernist canon, through the lens of his life with Vivienne“.48 Maddox stimmt Phillip Herring darin zu, dass Nora „must be considered the main stylistic influence on the long interior monologue of Molly Bloom“49, und sie behauptet, dass enough [von Noras Briefen] have survived to show her enormous influence on Joyce’s writing style. She wrote as she talked; she was spontaneous, direct, humorous and, when she chose, vulgar. […] Joyce, perhaps above all other authors, used his life as the raw material of his art. From the time he met Nora, her memories were as useful as his own.50 46 Ebd. 47 Claire Tomalin: The Invisible Woman: The Story of Nelly Ternan and Charles Dickens. London 1991, S. 3. 48 Seymour-Jones: Painted Shadow, S. XVIII. 49 Maddox: Nora, S. 55. 50 Ebd., S. 4.
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Sowohl bei Seymour-Jones als auch bei Milford ist die Rede von einer engen literarischen Partnerschaft in den dargestellten Beziehungen, und beide zeigen auf, wie dokumentarische Belege von Zusammenarbeit und Co-Autorschaft durch spätere Literarhistoriker, denen es um die individuelle Autorschaft der jeweiligen männlichen Schriftsteller ging, heruntergespielt, ignoriert oder unterdrückt wurden. Der auf ein einzelnes Individuum fokussierte Blick der Biographie wird also durch relationale Biographien zweifach untergraben. Das Vorhandensein von Archivmaterial zu randständigen Figuren verdankt sich ihrer Verbindung zu bekannteren Figuren. Briefe werden aufbewahrt und archiviert, weil sie von ,bemerkenswerten‘ Personen geschrieben oder empfangen wurden, dienen aber umgekehrt als Zugang zu dem Leben der Randständigen. (Wobei der Fall Nelly Ternans komplizierter ist, da es gerade ihre Verbindung zu Charles Dickens war, die zur Vernichtung biographischer Dokumente und anderer Archivmaterialien führte.) Demnach ragt die Figur, die als bedeutend gilt, unvermeidlich in die relationale Biographie hinein und droht sie zu überschatten, trotz der Absicht, die randständigere Figur in den Mittelpunkt zu stellen. Dennoch, genau dieses Interesse für die randständige Figur rückt die bekanntere Figur in eine Konstellation und eröffnet damit neue Perspektiven auf Fragen wie die gemeinsamer Lebensarrangements, wechselseitiger ökonomischer oder emotionaler Abhängigkeiten und die Verwendung gemeinsamen biographischen Materials in der literarischen Produktion. Ein einfaches, aber schlagendes Beispiel dafür, wie dadurch, dass die randständige Figur in den Vordergrund tritt, Entstellungen in der Beschreibung der bekannteren Figur sichtbar werden, findet sich bei Maddox. In Erinnerungen eines Freundes von Nora und James Joyce, Arthur Power, wird beschrieben, auf welcher Weise die Joyces viele Abende verbrachten: „After going to the theatre they often call in on the way home at the café.“ Durch Powers Verleger wurde dies umgeändert in: „After Joyce goes to the theatre he often calls in […]“51 Das Porträt des Künstlers als autonomes Individuum führte in diesem Fall zu einer Entstellung, die durch Maddox’ Suche nach Spuren Noras aufgedeckt werden konnte. Die Frage nach der Verwendung gemeinsamen biographischen Materials im literarischen Schreibprozess ist besonders für Nancy Mil51 Maddox: Nora, S. 3. Eigentlich lautet die Stelle bei Power: „[…] after a visit to the theatre he would call in there before returning home“. Vgl. Arthur Power: Conversations with James Joyce. London 1974, S. 38.
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fords Studie über Zelda Fitzgerald zentral. F. Scott Fitzgerald hat Exzerpte aus den Briefen und Tagebüchern seiner Frau mit oft nur wenigen Abänderungen in seine literarischen Texte eingefügt, von This Side of Paradise bis zu Tender is the Night; weiteres biographisches Material, von Anekdoten und Witzen bis hin zu Szenarien, wurde von ihm als Grundlage seiner Romane und Kurzgeschichten verwendet. Dies führte zu einem Konflikt, als Zelda Fitzgerald ihren eigenen, stark autobiographischen Roman Save Me the Waltz publizierte. Es war nicht leicht zu beantworten, wer wen plagiierte, da beide Fitzgeralds auf dasselbe Material zurückgriffen, das ihres gemeinsamen Lebens. Aus den Aufzeichnungen einer Therapie, durch die das Paar gemeinsam ging, versucht Milford Scott Fitzgeralds Sicht der Dinge zu rekonstruieren: Scott was the professional writer and he was supporting Zelda; therefore, the entire fabric of their life was his material, none of it was Zelda’s. „I am the professional novelist, and I am supporting you. That is all my material. None of it is your material.“52
In dem Modell von Autorschaft und Eigentum, auf das Scott Fitzgerald sich beruft, gilt der Ehemann sowohl finanziell als auch in Hinblick auf die kulturelle Produktion als alleiniger Eigentümer des gemeinsamen Lebens. Wenn Scott Fitzgerald Zeldas Material, seien es Texte oder gelebte Erfahrung, für sich beanspruchte, so zeigt dies, dass seine Auffassung von Autorschaft durchaus den Kontext berücksichtigt – nur dass aus seiner Sicht das ökonomische Verhältnis zwischen den Ehepartnern seine Verwendung ihrer Worte rechtfertigte, da am Ende der finanzielle Ertrag seiner Arbeiten, zumindest teilweise, als Unterstützung zu ihr zurückfließen würde. Während es für Schriftstellerbiographien über Scott Fitzgerald charakteristisch ist, die Rolle Zeldas nur so weit in den Blick zu nehmen, wie sie Implikationen für die Entstehung der Texte hat53, interessiert sich Milford primär dafür, was diese Rolle schließlich für Zeldas ganze Existenz bedeutete. Im Verlauf der Biographie verwandelt sich Scotts anfängliche kühne Behauptung: „I married the heroine of my stories. I would not be interested in any other sort of woman“54 in ein verwirrteres „Sometimes I don’t know whether Zelda 52 Nancy Milford: Zelda. A Biography. New York 1970, S. 273. 53 Vgl. Arthur Mizener: The Far Side of Paradise: A Biography of F. Scott Fitzgerald. London 1969; auch Scott Donaldson: Fool for Love: F. Scott Fitzgerald. A Biographical Portrait. New York 1983. 54 Milford: Zelda, S. 77.
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isn’t a character that I created myself“55, um schließlich in den halluzinierten Stimmen wieder aufzutauchen, die Zelda in Perioden psychischer Störung hörte: „I have lost the woman I put into my book.“56 Pathologie und ökonomische Abhängigkeit tragen damit weiter zur Komplikation der bereits schwierigen Frage bei, wer, wenn überhaupt, als ,Eigentümer‘ des Rohmaterials von Kunst gelten kann. Das Augenmerk auf Parallelen zwischen lebendiger Erfahrung und ihrer literarischen Umarbeitung kann ebensoviel verdunkeln wie es erhellt: Wir haben schon gesehen, wie Maddox in diesem Zusammenhang dem Verb ,to be‘ zu viel abverlangt, und dies ist nirgends deutlicher als dort, wo sie schreibt, dass „the words of Molly Bloom and Anna Livia Plurabelle were Nora’s before they were Joyce’s“.57 Die Trenn- und Verbindungslinie zwischen Leben und Kunst entzieht sich um so mehr dem Versuch der Festlegung, wo solche verlockenden Parallelen fehlen. Dies ist die Situation, mit der Claire Tomalin in ihrer Studie über Nelly Ternan konfrontiert ist, die von einem Rezensenten treffend als Kombination aus Detektivarbeit und Sozialgeschichte charakterisiert wurde.58 Weit davon entfernt, biographistische Schlüsse zu ziehen, muss Tomalin mühsam nach Quellenmaterial suchen, um überhaupt den Kontext herzustellen: „The most striking thing about Nelly and Dickens’s fiction is her absence from it.“59 Tomalin geht es darum, ob und inwiefern die Rekonstruktion der Geschichte Nelly Ternans neues Licht auf Dickens’ Werk werfen kann, vor allem auf seine Darstellung von Frauen. Was vielen Kritikern und Kritikerinnen als erstaunlicher Mangel seiner Kunst aufgefallen ist, die Stereotypie seiner Darstellung weiblicher Figuren60, kann Tomalin zufolge teilweise mit der schwierigen Aufgabe erklärt werden, eine illegitime Beziehung über viele Jahre hinweg zu verbergen. Während biographisches Material der vielfältigsten Art, von seinen frühen Erfahrungen in einer Fabrik für Schuhpolitur bis hin zu seiner Leidenschaft für das Theater, Eingang in seine fiktionalen Texte fand, hin55 56 57 58
Ebd., S. 282. Ebd., S. 297. Maddox: Nora, S. 435. John Carey: Rezension, Sunday Times. In: Tomalin: The Invisible Woman, Titelei. 59 Tomalin: The Invisible Woman, S. 263. 60 Vgl. Hilary M. Schor: Dickens and the Daughter of the House. Cambridge 1999 (= Cambridge Studies in Nineteenth-Century Literature and Culture, Bd. 25); Ingham: Dickens, Women and Language.
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terließ die lange Verbindung mit Nelly Ternan wenig, was sich als direkte Spur bezeichnen ließe: „What could he do with that great stereotype, the Fallen Woman, with a bad girl who was bad through his fault and also beloved?“61 Weit mehr als Künstlerbiographik tendiert relationale Biographik dazu, ihre Protagonistinnen als repräsentativ für eine bestimmte gesellschaftliche oder historische Problematik zu sehen und sie zu umfassenderen Strukturen in Beziehung zu setzen. Die Beschreibung der Beziehung wird zu einer Möglichkeit, Beziehungen zu theoretisieren und zu historisieren: Die Lebensgeschichte der Protagonistin erhält eine repräsentative Funktion. Dies bringt zwar einerseits die Gefahr einer falschen Verallgemeinerung mit sich, verleiht aber andererseits der biographischen Erzählung allgemeinere Bedeutung als dies in konventionellen Biographien oft der Fall ist, in denen die Anhäufung von Details das Gefühl für den Sinn der ganzen Angelegenheit verblassen lassen kann. Dort, wo ,Größe‘, Leistung oder Bedeutung nicht vorausgesetzt werden, ist das Erzählen einer Lebensgeschichte weniger Selbstzweck als vielmehr ein Mittel zum Verständnis bestimmter gesellschaftlicher und historischer Existenzbedingungen. Nach Tomalin wirft die Geschichte Nelly Ternans Licht auf a whole area of nineteenth-century life which is still very shadowy: first the world of professional actresses, then the world of women who knew themselves to be bad and were condemned by respectable people.62
Nach Maddox gehören zu den sozialen Bedingungen, die durch Nora Joyces Geschichte illustriert werden, der eingeschränkte Zugang zu Schulbildung und andere Schwierigkeiten, vor denen Frauen im Irland des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts standen: Whatever problems women have, Irish women have them worse.63 I began to see Nora Barnacle as typical of a certain kind of Irish girl – desperate to escape from her circumstances, unequipped with anything but strength of character and charm.64
Indem sie Noras Situation in einen allgemeineren Zusammenhang stellt, gelingt es Maddox, einen Mythos anzufechten, der sich durch die 61 Tomalin: The Invisible Woman, S. 265. Vgl. auch S. 11. 62 Ebd., S. 11. 63 Diese Formulierung lässt die Begrenztheit von Maddox’ Perspektive erkennen, in der implizit ,Frauen‘ mit ,Frauen in modernen westlichen Gesellschaften‘ gleichgesetzt werden. 64 Maddox: Nora, S. 2.
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zeitgenössischen Kommentare wie auch durch die spätere Forschungsliteratur zieht, wonach es Nora an Intelligenz gemangelt haben soll: It is part of the myth of the chambermaid who ran off with the artist that Nora was ignorant and untutored. […] The belief adds to the frisson of the genius with the dunce but it is false. Nora went to school until she was twelve – the usual leaving age of that time. She had the maximum schooling that was available without fees to girls of that day. Many of both sexes had less.65
Bei Seymour-Jones wird die Erzählung über Vivienne Eliots schlechten Gesundheitszustand in den Jahren ihrer Ehe mit T.S. Eliot zu einer Fallstudie über psychische Störungen oder ,hysterische‘ Symptome – „the body language of powerlessness“.66 Die Biographie diskutiert die Möglichkeit, dass Viviennes endlose Reihe von Unpässlichkeiten eine Form von Sprache gewesen sein könnte: „a form of language (,protolanguage‘, which is more primitive than speech) by which the sufferer attempts to communicate with the carer or love-object through iconic body signs“.67 Als Studie über das komplexe Verhältnis zwischen chronischer weiblicher Gesundheitsschwäche und gesellschaftlichen Strukturen ist Viviennes Geschichte von mehr als nur literarhistorischer Relevanz. Doch wäre es irreführend, die Ähnlichkeiten dieser Biographien herauszustellen, ohne zugleich ihren signifikanten Unterschieden Aufmerksamkeit zu schenken. „Concern with the details of particular lives […] stops in their dubious tracks ,women this‘ and ,women that‘ categorical statements“, wie Liz Stanley schreibt.68 Indem sie sich den Besonderheiten eines einzigen verifizierbaren Lebens widmet, trägt die Biographie auch zur Korrektur einer allzu verallgemeinernden Darstellung gesellschaftlicher Strukturen bei, einschließlich jener, die mit dem Geschlecht (gender) in Zusammenhang stehen. Sie bezeugt nach Stanley die irreduzible Einzigartigkeit von Menschen in strukturell ähnlichen gesellschaftlichen Positionen und damit den Rest, der übrig bleibt, nachdem alle strukturellen Erklärungen sich erschöpft haben.69 Relationale Biographik lenkt die Aufmerksamkeit auf die Begrenztheit des spotlight approach, aber wenn sie Individuen vorrangig durch ihre 65 66 67 68 69
Ebd., S. 21. Seymour-Jones: Painted Shadow, S. 327. Ebd., S. 319. Stanley: The Auto/Biographical I, S. 242. Ebd., S. 242.
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Beziehungen charakterisiert, zeigt sie eine problematische Affinität zu der historischen Tendenz, Frauen über ihr Verhältnis zu Männern zu definieren. Diese Ambivalenz macht es schwierig, eine genaue Antwort auf die Frage zu finden, ob in relationaler Biographik, wie sie Maddox, Milford, Seymour-Jones und Tomalin praktizieren, ein Frauenleben als Material für die Biographie des männlichen Protagonisten verwertet wird oder ob es sich um eine neue Form biographischer Darstellung handelt. Nur durch fortwährende Reflexion auf das dialektische Verhältnis zwischen dem besonderen Fall und der allgemeinen Problematik, die er veranschaulicht, zwischen dem Individuum und dem gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem es steht, zwischen agency und structure kann die Komplexität des gelebten Geschlechts in der erzählten Lebensgeschichte anschaulich gemacht werden. Übersetzung aus dem Englischen: Esther Marian
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Vom Genre der Biographie Sarah Kofman zwischen Bibliographie und Biographie
Karoline Feyertag Einleitung Ich habe dem Kater Murr von Hoffmann einen Text gewidmet, er heißt Autobiogriffures. 1 Ich bin wie dieser Kater Murr, dessen Autobiographie nichts anderes ist als eine Zitatsammlung verschiedener Autoren. Er versucht mithilfe dieser Autobiographie sich seiner Identität zu vergewissern, aber er bemerkt nicht, dass er sie gerade beim Schreiben verliert.2 (Sarah Kofman, 1986)
Sarah Kofman könnte vielleicht einfach als ein weiteres ,Symptom‘ der französischen Postmoderne in der Tradition von Foucault, Barthes und Derrida begriffen werden, wären da nicht zwei kleine Details, das eine bibliographisch, das andere biographisch: Sarah Kofman hat seit ihrer ersten Publikation mit dem Titel Die Kindheit der Kunst eine Vermischung des philosophischen und des auto/biographischen Genres betrieben – und das an einem Ort und zu einer Zeit, als Michel Foucault den Tod des Subjekts und des Autors verkündete. Kofmans Texte waren nie ,frei‘ von auto/biographischen Details, auch wenn oder ge1
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Sarah Kofman: Schreiben wie eine Katze. Zu E.T.A. Hoffmanns ,Lebensansichten des Kater Murr‘. Wien, New York 1985. ,Autobiogriffures‘ ist ein unübersetzbares Wortspiel im Französischen und besteht aus zwei Substantiven, ,autobiographie‘ und ,griffures‘ (Krallenhieb bzw. Kratzer einer Katze). Es ist dies eine Anspielung auf die Geschichte des Kater Murr von Hoffmann, worin der Kater seine Autobiographie auf schon beschriebenen Blättern niederschreibt, die er zuvor mit seinen Krallen aus einem Heft herausgerissen hat. Eigene Übersetzung von: „J’ai consacré au Chat Murr, d’Hoffmann, un texte, Autobiogriffures. Je suis comme ce Chat Murr, dont l’autobiographie n’est qu’un assemblage de citations d’auteurs divers. Il cherche à affirmer son identité par cette autobiographie, mais il ne se rend pas compte qu’il la perd par l’écriture même.“ In: Roland Jaccard: „Apprendre aux hommes à tenir parole. Portrait de Sarah Kofman“. In: Le Monde AUJOURD‘HUI, 27./28. 4. 1986, S. VII.
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rade weil die Autorin um deren illusorischen Gehalt wusste.3 Zweitens lässt sich Kofman auch deshalb nicht einfach unter die französische Postmoderne subsumieren, weil sie eine Frau war und sich als solche mit der Geschlechterdifferenz und den darin eingeschriebenen Subjektpositionen innerhalb ihrer Disziplin, der Philosophie, und ihrer Universität, der Sorbonne, auseinandersetzen musste. Im folgenden Beitrag soll Kofman nicht allein als Objekt eines Biographie-Projekts vorgestellt werden, sondern auch als Subjekt einer Biographie-Theorie.4 Diese Intention trägt zum einen der soziologischen Biographie-Forschung, wie sie beispielsweise Bettina Dausien betreibt, und zum anderen der feministischen Frauenforschung Rechnung.5 Gerade die Frauenforschung hat sich in den letzten Jahrzehnten intensiv mit dem epistemologischen Doppelstatus der Frau als Subjekt und Objekt der Wissenschaft auseinandergesetzt. In Bezug auf ein im Laufe dieses Beitrags zu bestimmendes Genre der Biographie soll hier das Augenmerk auf die Kategorie der Erfahrung gelegt werden, wie sie seit den 1970er Jahren in der feministischen Theorie diskutiert wird. Folgendes Zitat macht den Spannungsbereich zwischen autonomen Subjekten und Subjektivierungsdiskursen deutlich, in den sich auch Kofmans Texte einschreiben: Während zu Beginn der Zweiten Frauenbewegung feministische Wissenschaftlerinnen dafür eingetreten waren, die persönlichen (auch körperlichen) Erfahrungen von Frauen als Grundlage von Wissen und Erkenntnis anzusehen, wurde die kognitive Bedeutung von Erfahrung von poststrukturalistischen Wissenschaftlerinnen mit der Begründung verworfen, dass Erfahrung und Subjektivität als Effekte von Diskursen entstehen.6 3 4
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Vgl. Pierre Bourdieu: „Die biographische Illusion“. In: BIOS. Zeitschrift f r Biografieforschung und Oral History (1990) H. 1, S. 75 – 81. Weiters: Klaus-Jürgen Bruder (Hg.): „Die biographische Wahrheit ist nicht zu haben“. Gießen 2003. Das Dissertationsvorhaben der Verfasserin besteht in einer Biographie zur Philosophin Sarah Kofman, wobei philosophische Textanalyse mit Oral History verbunden wird. Im Zuge dieses Biographie-Projekts wurden sowohl biographisch-narrative Interviews mit StudentInnen und KollegInnen Kofmans geführt als auch Archivrecherchen betrieben. Vgl. Ela Hornung u. Eva Blimlinger: „Feministische Methodendiskussion in der Geschichtswissenschaft“. In: Frauen- und Geschlechtergeschichte. Positionen/ Perspektiven. Hg. v. Johanna Gehmacher u. Maria Mesner. Wien 2003, S. 127 – 142. Renate Hof: „Einleitung“. In: GENUS. Geschlechterforschung/Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Ein Handbuch. Hg. v. Hadumod Bußmann u. Renate Hof. Stuttgart 2005, S. 2 – 41, hier S. 27 f.
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Kofmans Position zum ,Subjekt als Effekt‘ deutet sich im eingangs angeführten Zitat an: Einerseits ermöglicht nur die Collage aus Zitaten anderer Autoren eine (diskursive) Identität, andererseits gibt es zumindest ,andere Autoren‘, aus deren Texten sich die eigene Identität basteln lässt. An Kofmans Bibliographie wird ersichtlich, dass es eine beachtliche Liste an Büchern gibt, die den Namen der Autorin tragen. Allerdings gibt es nur ein Buch, in welchem sie von sich selbst spricht und kaum andere Autoren zitiert: ihre Autobiographie. Beim Schreiben dieser Autobiographie ist es ihr wie dem Kater Murr ergangen: Sie ist sich selbst abhanden gekommen. Im Jahr der Veröffentlichung, 1994, beendete Sarah Kofman ihr Leben und schloss somit dessen letztes Kapitel ab. Im eingangs zitierten Artikel hatte sie eine interessante Frage gestellt, die eine Biographie geradezu herauszufordern scheint: „Aber dieses Selbst, ist es nicht ein Irrlicht? Ist es nicht ein Irrtum zu glauben, dass ich eine andere Autobiographie hätte als jene, die durch meine Bibliographie durchscheint?“7 Kofman hat auf jeden Fall lange gezögert, bis sie diese ,andere‘ Autobiographie geschrieben hat. Dass sie sie geschrieben hat, dürfte auch etwas mit dem feministisch geprägten Erfahrungsbegriff zu tun haben, der bei Kofman durch die psychoanalytische Hintertür zurückgekommen ist. In den folgenden zwei Abschnitten werde ich auf zwei Erfahrungen Kofmans näher eingehen, die ihre singuläre, philosophische Position vor dem Hintergrund der französischen Postmoderne, dem scheinbaren ,Tod des Subjekts‘ und der Zweiten Frauenbewegung nachvollziehbar machen. Das metaphysische Geschlecht der Philosophie Die Frage ,Wer bin ich?‘ beschäftigt Philosophen ebenso wie alle anderen Menschen. Trotzdem können wir davon ausgehen, dass die Frage in ihrer Verallgemeinerung ,Was ist der Mensch?‘ eine spezifisch philosophische Frage ist. Die metaphysische Philosophie beantwortet die Frage traditionell in Zusammenhang mit einem abstrakten, vorgeblich geschlechtslosen ,Wesen‘ bzw. einer solchen ,Seele‘ des Menschen.8 Kofman wollte auf diese philosophische Frage keine andere als die postmoderne und zutiefst anti-metaphysische Antwort geben, Identität 7 8
Jaccard: „Apprendre aux hommes de tenir la parole“, S. VII. Vgl. Giulia Sissas kritische Studie zur philosophischen Metaphorisierung der Seele als Frauenkörper: Giulia Sissa: L’ me est un corps de femme. Paris 2000.
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sei nichts als eine Collage von Zitaten: „Ich weiß nicht, wer ich bin, vielleicht bin ich nichts, vielleicht rührt mein Wunsch, mich mit verschiedenen Autoren zu identifizieren, daher.“9 Etwas Eigenes oder, wie es der späte Foucault nennt, ein ,Selbst‘ tritt dennoch in dieser Aussage zutage, da sich Kofman in der sokratischen Pose der Selbst-Verleugnung immer noch des Personalpronomens ,Ich‘ bedienen muss. Das linguistische Subjekt, Kofmans Ich, äußert zumindest das Begehren, sich mit „verschiedenen Autoren“ zu „identifizieren“. Welche Autoren Kofman auswählt, hängt zuletzt von ihrem ,Selbst‘ ab.10 Es muss ein Verhältnis zwischen Subjektivierung und Selbst angenommen werden, um überhaupt einen Begriff von Identität entwickeln und die Differenz von Selbst und Anderen erfahren zu können. Im Folgenden wird gezeigt, wie sich das Verhältnis zwischen Textgattungen, Autoren und Disziplinen bei Kofman gestaltet. Kurze Zitatausschnitte aus einem Interview mit Sarah Kofman können das metaphysische Gendering von Texten, wie es von Kofman analysiert und kritisiert wurde, verdeutlichen.11 Kofman unterscheidet verschiedene Textsorten, wobei sie stilistisch und inhaltlich voneinander getrennte Genres in Zusammenhang mit geschlechtsspezifischen Zuordnungen bringt. Mit diesen Zuordnungen ist das metaphysische Gendering von Textsorten gemeint; ein Beispiel wäre die MemoirenLiteratur, die Frauen zugeordnet wird, im Gegensatz zu wissenschaftlichen Texten, als deren Verfasser lange nur Männer vorgestellt werden konnten. Solche Zuschreibungen sind problematisch, insofern sie leicht in der analytischen Darstellung – und sei diese auch aus einer kritischen 9 Jaccard: „Apprendre aux hommes de tenir la parole“, S. VII. 10 Der hier aus strategischen Gründen eingeführte Begriff eines ,Selbst‘ ist der eines sich beständig im Werden befindlichen Selbst. Dieses Selbst benötigt keine metaphysische Begründung, sondern bezieht sich in einem ersten Schritt der ,Selbst-Erkenntnis‘ auf die eigene materielle Grundlage, den eigenen Körper. Auf Foucaults Begriff des ,Selbst‘, wie er ihn in den Berkeley-Vorlesungen von 1983 entwickelt hat, kann ich im Rahmen dieses Beitrags nicht eingehen. Vgl.: Michel Foucault: Diskurs und Wahrheit. Berkeley-Vorlesungen 1983. Berlin 1996. Ein weiterer bibliographischer Hinweis zum Begriff des ,Selbst‘ sei an dieser Stelle angeführt: Autobiographisches Schreiben und philosophische Selbstsorge. Hg. v. Maria Moog-Grünewald. Heidelberg 2004. 11 „Sarah Kofman“ [Interview mit Alice Jardine. Engl. Übers. v. Janice Orion]. In: Shifting Scenes. Interviews on Women, Writing, and Politics in Post-68 France. Hg. v. Alice A. Jardine u. Anne M. Menke. New York 1991, S. 104 – 112.
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Absicht heraus unternommen – zu Festschreibungen werden.12 Dennoch entsprechen derartige geschlechtsspezifische Zuschreibungen einer soziohistorischen Realität bzw. strukturieren sie. Erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit wird das ,Geschlechterimaginäre‘ analysiert und kritisch hinterfragt.13 Aus Sarah Kofmans Aussagen geht hervor, dass sie als Philosophin diese metaphysischen Genre-Zu- und Festschreibungen zu durchkreuzen versucht: [O]ne is neither a man nor a woman: these categories are anatomical and social and refer back to the metaphysical tradition since Aristotle. The metaphysical tradition, essentially masculine, as if moved (set in motion) by a paranoid fear, has always deeply feared the confusion of the sexes […], and therefore it attempts to separate them categorically. This separation is also achieved by the social and civil division of the sexes. […] With regard to this metaphysical schism, Freud’s introduction of an original bisexuality was already progress. But we need to go further, because each of us has multiple sexual positionings. We ought now to totally rethink the sex question beyond the hallowed categories, including the psychoanalytic ones, and talk instead, for example, of transsexuality.14
In diesem Zitatausschnitt erläutert Kofman ihre analytische Ausgangsbasis und definiert ihren philosophischen Gegner, die männlich dominierte Metaphysik, die sich in starren, unflexiblen Systemen machtvoll eingerichtet hat. Kofmans Forderung nach flexiblen, transsexuellen 12 „Dabei ist immer aufs Neue zu bedenken, dass der analytische Blick auf diskriminierende Verhältnisse die Kriterien des Ausschlusses zunächst reproduziert und implizit bestätigt, indem er sie benennt. […] Dem Enthüllen und Benennen müssen weitere Schritte folgen, welche die Unselbstverständlichkeit oder Gemachtheit der jeweiligen Zuordnungen demonstrieren, indem sie normierte Beschreibungsmodi abstreifen und andersartige Konstellationen gelebten Lebens – orientiert an dessen Eigengesetzlichkeiten – zur Darstellung bringen.“ In: Ute Frietsch: „Zur gegenwärtigen Faszinationskraft von BioGraphie“. In: LebensBilder. Leben und Subjektivit t in neueren Ans tzen der Gender Studies. Hg. v. Sabine Brombach u. Bettina Wahrig. Bielefeld 2006, S. 111 – 124, hier S. 116 f. 13 Auf der Terminologie von Cornelius Castoriadis aufbauend und dessen Theorie der „Gesellschaft als imaginäre Institution“ kritisch ergänzend, spricht Alice Pechriggl von den ,geschlechtsspezifischen Schichtungen im gesellschaftlichen Imaginären‘. Das gesellschaftliche Imaginäre ist maßgeblich an der ,Institution‘ der Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität beteiligt. Pechriggl hat in ihrer Studie Corps transfigur s. Stratifications de l’imaginaire des sexes/genres (Paris 2000) die historische Entwicklung des Geschlechterimaginären in der europäischen Philosophie herausgearbeitet. 14 „Sarah Kofman“. In: Shifting Scenes. Hg. v. Jardine, S. 105 f.
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,Positionen‘ erinnert an aktuelle queere Pluralitätstheorien.15 Im Gegensatz zu queer-aktivistischen Interventionen beschränkt sich Kofmans ,Aktivismus‘ auf Textkritik, indem sie die Genre-Zuschreibungen von Texten vom ,anatomischen Geschlecht‘ der Autoren löst und das jeweilige Textgenre selbst zu einer Art zweiter Haut macht, in die der Autor oder die Autorin schlüpfen kann. Aus dieser Perspektive hat auch ein Textkorpus ein Geschlecht: Although that of a ,woman‘, my writing belongs to what tradition would call masculine writing (rational, clear, philosophical, the result of nineteen years of continuous work); if I were anatomically a man, I would not have to prove that I was capable of such writing; it would seem perfectly natural. That’s why my ,philosophical‘ writings are part of my militant feminist activity.16
Dieser Zitatausschnitt macht Kofmans ,Selbst-Erfahrung‘ als Frau deutlich: Weil sie ,anatomisch gesehen‘ eine Frau sei, hätte sie in 19jähriger, kontinuierlicher Arbeit ihre Fähigkeit unter Beweis stellen müssen, ,rational wie ein Mann‘ schreiben zu können. Dieses Eingeständnis eines Zwangs zur Selbst-Legitimierung widerspricht Kofmans Aussage von einer aus Zitaten anderer Autoren frei zusammengestellten Identität. Zumindest ist ihre Freiheit dann beschränkt, wenn sie von der metaphysischen Philosophie-Tradition als Philosophin anerkannt werden will. Anstatt sich selbst aus dieser männlichen Metaphysik auszuschließen, beharrt sie darauf, dass es ein politischer Akt sei, in die Haut dieser traditionell-männlichen Schreibweise zu schlüpfen und sich der männlich konnotierten Rationalität zu bemächtigen: „I think today it is even more necessary to show that women have this theoretical capacity than to fight for women’s ,specifity‘, within which men have always wanted to imprison women for the greatest masculine profit.“17 Abgesehen von der eindeutigen Spitze gegen das Projekt einer criture f minine von Hélène Cixous zeichnet sich hier Kofmans doppelte Strategie gegen den Ausschluss von Frauen aus der Philosophie und für eine intellektuelle Selbst-Ermächtigung ab. Kofman war dem französischen Differenz-Feminismus gegenüber skeptisch eingestellt. Sie bestand vielmehr darauf, als Frau gleichbe15 Zu Pluralität und Identität in der Queer-Theorie vgl. Gudrun Perko: QueerTheorien. Ethische, politische und logische Dimensionen plural-queeren Denkens. Köln 2005. 16 „Sarah Kofman“. In: Shifting Scenes. Hg. v. Jardine, S. 106. 17 Ebd.
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rechtigt mit ihren männlichen Kollegen Philosophie zu betreiben und zu lehren. Die Frage, ob sie als Frau anders oder eine andere Art von Philosophie betriebe, wies sie als essentialistisch zurück. Furthermore, I am not bound to this ,rational‘ writing as if it were my destiny. I also write other kinds of autobiographical texts in a freer writing style. […] So I practice a ,double strategy‘, showing that a ,woman‘ (socially and anatomically) can write both what metaphysical tradition defines as ,masculine‘ writing and what is called ,feminine‘ writing – a strategy that ought to contribute to rearranging these categories.18
Kofmans Hoffnung besteht in einem eigenständigen und schöpferischen Schreiben, das für Frauen wie für Männer gleichermaßen möglich sein und zudem die oppositären Geschlechterkategorien verschieben soll. Wir haben gesehen, dass Kofman jeglichen Begriff einer essentialistisch gedachten Subjektivität ablehnt. Gegen diese strategische Selbstpositionierung Kofmans gibt es allerdings einige Vorbehalte.19 Gerade ihre vehemente Forderung nach Gleichheit stieß und stößt nach wie vor auf Kritik innerhalb feministischer Debatten, scheint sie doch eine naive Reminiszenz an die Erste Frauenbewegung zu sein. Kofman geht es allerdings um Gleichberechtigung bei der Selbst-Positionierung: Ich denke mich nicht, ,insofern ich Frau bin‘. Es ist sehr schwierig, aus diesem Denkmuster auszubrechen, weil alle so denken. Auf meinem Personalausweis, auf meiner Sozialversicherungskarte steht ,Frau‘. […] Wir denken anhand dieser Kategorien. Aber wenn man beginnt sich psychisch zu denken, wird es möglich, sich selbst anders zu denken, das ist die große Entdeckung Freuds. Man sollte nicht die sozialen und anatomischen Unterscheidungen mit den psychischen verwechseln, denn letztere sind Posi18 Ebd. 19 Die Ambivalenz, die in Kofmans Doppelstrategie zum Ausdruck kommt, ist auch Gegenstand meiner biographischen Forschung, bei der ich Bettina Dausiens Hinweis auf die „gelegentlich konflikthaltige Doppelstrategie feministischer Wissenschaft“ folge, die als Matrix der Kofman’schen Zwiespältigkeit verstanden werden kann. Dausien sieht in der wissenschaftspolitischen Doppelstrategie den Versuch, „einerseits – mit dem Aufbau einer feministischen (Frauen-)Forschung – eine angemessene Vertretung in den akademischen Disziplinen zu erreichen, andererseits mit den Mitteln der Gleichstellungspolitik [sic!] – dafür zu kämpfen, dass Frauen als Studierende, Lehrende und Administratorinnen in einflussreichen Positionen quantitativ und qualitativ ihren männlichen Kommilitonen und Kollegen gleichgestellt werden.“ In: Bettina Dausien: „Repräsentation und Konstruktion. Lebensgeschichte und Biographie in der empirischen Geschlechterforschung“. In: LebensBilder. Hg. v. Brombach, S. 179 – 211, hier S. 184.
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tionen. […] [M]an sollte von nun an sagen ,eine sogenannte männliche Position‘, da ja diese Kategorien überhaupt verschwinden sollten.20
Kofman stieß jedoch nicht nur innerhalb feministischer Kreise auf Widerstand, sondern auch innerhalb der Universität. Obwohl oder vielleicht weil sie darauf bestand, ,männlich-philosophische‘ Texte zu schreiben, wurde sie lange Zeit in ihrem direkten akademischen Umfeld nicht ernst genommen.21 Es gibt Aussagen von Kofman, welche verdeutlichen, wie schwierig es noch in den späten 1980er Jahren war, Nietzsche oder feministische Philosophie an der Sorbonne zu lehren.22 Auch in dem schon zitierten Interview geht Kofman auf diese institutionelle Borniertheit des französischen Universitätssystems ein: The woman question has never come up in the preparation courses or exams for the agr gation, that is, at the national level. And in my university, when I give a lecture on women for a seminar, or when students study the subject for a ma trise or for their thesis, they and I are considered less than serious.23
Diese Machtdemonstration eines universitären Systems stellt die zweite Erfahrung dar, von der Kofman als Betroffene spricht und die sie nicht ,einfach‘ zu einer weiteren Repräsentantin der Postmoderne macht. Ihre Absichten, Professorin der Philosophie an der Sorbonne zu werden und gleichzeitig eine andere Art von Philosophie innerhalb der philoso20 „Interview avec Sarah Kofman. 22 mars 1991. Subvertir le philosophique ou Pour un supplement de jouissance“. In: „Reading otherwise?“ La critique des femmes. Hg. v. Evelyne Ender. Compar(a)ison. An International Journal of Comparative Literature (1993) H. 1, S. 9 – 26, hier S. 26. Eigene Übersetzung und kursive Hervorhebung. 21 Die Abwertung von Forschungsgegenständen oder sogar Disziplinen kann meist dann beobachtet werden, wenn der Frauenanteil im Forschungs- und Lehrkörper ansteigt bzw. den Männeranteil überholt. Zudem scheint mit dem prozentuellen Anstieg von diplomierten Frauen der Wert des Diploms durch die Umstellung der Curricula in der EU auf Bakkalaureatsstudien zu sinken. Dazu passt das von Kofman beobachtete Phänomen der Abwertung von Forschungsthemen, insofern sie eine In-Frage-Stellung tradierter Machtstrukturen mit sich bringen. 22 Ich habe im Zuge meines Biographie-Projekts biographisch-narrative Interviews mit ehemaligen Studierenden Kofmans durchgeführt. François Boullant zufolge hat Kofman den Lehrplan ,ausgetrickst‘, indem sie eine Vorlesung über Platon anmeldete, um schließlich von Platon ausgehend ihre eigene, an Nietzsche angelehnte Interpretation zu lehren (Interview vom 26. 6. 2007 mit François Boullant). 23 „Sarah Kofman“. In: Shifting Scenes. Hg. v. Jardine, S. 107.
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phischen Disziplin durchzusetzen, ohne sie bzw. sich maskieren zu müssen, erklären Kofmans Beharren auf dem philosophischen Genre. Ihr Denken kreist in erster Linie um die Schrift, das Schreiben, den Stil und die Form. Ihre Bemühungen beschränken sich nicht auf ein ,männliches Schreiben‘, sondern versuchen über Dichotomien hinauszuführen. Bis zu einem gewissen Grad ist es ihr gelungen, das philosophische Genre neu zu arrangieren. In ihren eigenen Worten: „Übrigens unterwandere ich auch diese strenge Kategorie, die da lautet ,ich schreibe wie ein Mann‘, indem ich auch ins Innere dieser Sprache das Spielerische, den Spaß und die Freude hineinbringe.“24 Ein Einwand ist jedoch für die Theoretisierung des biographischen Genres weiterführend: Kofman bezieht sich beinahe ausschließlich auf die Subjektdisposition der Autorin bzw. des Autors. Die Vermischung der Genres findet in ihrem Modell in der Psyche der Autorin bzw. des Autors statt: Eine ,Frau‘ wie auch ein ,Mann‘ können jeweils ,philosophisch‘ wie auch ,autobiographisch‘ oder ,frei‘ schreiben. Schreibt ,eine Frau‘ ,philosophisch‘, wird sie ,männlich‘. Schreibt sie ,frei‘, wird sie ,weiblich‘. Umgekehrt gilt dasselbe für ,den Mann‘.25 Diese Genrebzw. Gender-Zuschreibungen entwirft Kofman ganz bewusst unabhängig vom ,anatomischen Geschlecht‘. Die Texte selbst unterteilt sie trotzdem nach metaphysischen Gender-Zuschreibungen in ,philosophische‘ und ,freie‘. Insofern bleibt ihr Textbegriff bis zu einem gewissen Grad den metaphysischen Kategorien verpflichtet. Interessant wäre nun zu fragen, inwiefern nicht auch ein Textgenre selbst die gängigen, metaphysischen Zuschreibungen subvertieren kann. So wie Kofman eine grundlegende Transsexualität des Menschen postuliert, soll nun das Genre der Biographie als triton genos zwischen Theorie und Fiktion bzw. zwischen Philosophie und Literatur vorgeschlagen werden.
24 „Interview avec Sarah Kofman“, S. 26. Ein Beispiel für Kofmans spielerischen Umgang mit der Sprache ist der eingangs erwähnte Buchtitel Autobiogriffures, ein von Kofman erfundener Neologismus (vgl. Fußnote 1). 25 Kofman hat sich in etlichen ihrer Werke mit der Dekonstruktion des männlichphilosophischen Selbstverständnisses auseinandergesetzt. Als die deutlichsten Beispiele seien die Bücher Abb rations: Le devenir-femme d’Auguste Comte (Paris 1978) und Rousseau und die Frauen (Tübingen 1986) genannt.
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Hybride Texte versus institutionelle Hybris Im Grunde ist jeder Text ,hybrid‘. Weder reproduzieren sich Texte selbst, noch erfindet jeder Autor die Sprache neu. Insofern steht jeder Text auf der Schwelle zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen Selbstüberschätzung und Selbstverlust, zwischen „eigenen Bildern und fremden Sätzen“.26 Am deutlichsten wird diese grundlegende Hybridität vielleicht an der Auto/biographie.27 Der Schrägstrich verweist darauf, dass es sich bei der ,Selbstschreibung‘ immer auch zugleich um eine ,Fremdschreibung‘ handelt, dass eine Auto/biographie das eigene Leben und das Leben anderer wie auch das eigene Leben als anderes und das Leben anderer als eigenes zu beschreiben versucht. Bei Platon ist diese Polyphonie in den ,Dialogen‘ nachvollziehbar. Der klassische philosophische Standpunkt wird von Sokrates verkörpert, und es gibt personifizierte Gegenstimmen. Dieser Vermischung der Perspektiven versucht die Philosophie entgegenzusteuern, indem sie vorgibt, einen universellen, allgemeinen Standpunkt einzunehmen. Im Lauf der Geschichte der idealistisch-metaphysischen Philosophie – und nicht zuletzt durch den Einfluss der christlichen Theologie – verschwinden die Gegenstimmen und die Metaphysik beansprucht für sich allein den Standpunkt der Vernunft. Philosophische Dekonstruktion, wie sie Kofman oder Derrida betrieben haben, machte es sich – neben anderen wissenschaftlichen, politischen und künstlerischen Interventionen – zur Aufgabe, die Universalität dieses Standpunkts in Zweifel zu ziehen. Dabei bedient sich Kofman einer Übersetzungstechnik, die die Sprache der Metaphysik in einen humorvollen second degr versetzt, sie gewissermaßen parodiert.28 26 Leo Truchlar: Identit t, polymorph. Wien 2002, S. 44. 27 Vgl. Liz Stanley: The Auto/Biographical I. The Theory and Practice of Feminist Auto/Biography. Manchester, New York 1992. 28 Ein Beispiel für diese Art parodierender Paraphrase, die Kofman in nahezu allen ihren Texten betreibt, ist folgender Kommentar von ihr zu Rousseaus Emile: „Sophie und nicht Eva oder Lilith, auch nicht Pariserinnen, diese verdorbenen und verführenden Frauen, von denen alle Übel der Menschen / Männer ausgingen, weil sie nicht die natürliche Hierarchie zwischen den Geschlechtern anerkannt, ihren Platz und ihr Reservat verlassen, nach Dem Wissen gestrebt haben und sich nicht fürchteten, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen und mit dem anderen Geschlecht zu vermischen; ,skandalöse Konfusion‘ der Geschlechter, aus der, nach Rousseau, alle Unordnung, alles Übel und alle Perversionen entstehen.“ In: Sarah Kofman: Rousseau und die Frauen. Tübingen
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Dass diese Methode bei den Vertretern der klassischen Metaphysik an den französischen Universitäten auf wenig Gegenliebe stieß, kann zunächst damit erklärt werden, dass sich die Dekonstruktion der Sprache der Metaphysik sehr wohl bedienen konnte und musste, auch wenn sie das metaphysische Denken selbst ablehnte. Der spielerische Umgang mit der Sprache verunsicherte die Professoren an der Sorbonne, was im Fall von Sarah Kofman zu einem Skandal führte, der bis in die französische Presse gelangte.29 Anhand dieser universitären Auseinandersetzung kann die institutionelle Hybris nachgezeichnet werden, die sich in der Selbstanmaßung von Philosophieprofessoren ausdrückt, welche sich im Besitz der ,wahren Philosophie‘ wähnen und ihre Interpretationshoheit mit allen Mitteln gegen ein Denken der Pluralität durchzusetzen versuchen. Kofmans zweite Erfahrung betrifft nun nicht ihr ,anatomisches‘ Geschlecht, sondern das umstrittene Genre ihrer Texte. Die Verleugnung und der Ausschluss kritischer, philosophischer Avantgarden von Seiten des universitären Lehrkörpers wäre noch kein Spezifikum des Falles Kofman. Der Unterschied bei Kofman liegt darin, dass sie darauf bestand, als Philosophin an der Sorbonne mit innovativen bzw. marginalen Themen ernst genommen zu werden. Und genau hier tritt sie als Subjekt einer Biographie-Theorie in Erscheinung. Ich hatte also viel an der universitären Institution zu leiden. Darüber wurde auch in der Presse berichtet. Ich bin erst seit vorigem Jahr [1991] Professorin, davor war ich ma tre de conf rence, aber bis vor kurzem wurde mir die Professur verweigert. Aber nicht, weil ich eine Frau bin, sondern weil ich eine subversive Philosophie betreibe, die sich der Psychoanalyse, Nietzsche und Derrida verbunden fühlt, und die über die Stellung der Frauen reflektiert. […] Ich habe meine Habilitation anhand meiner bis dahin schon publizierten Werke vorgelegt und zudem noch in Vincennes bei Deleuze. Das wurde sehr schlecht bewertet; wenn Sie so wollen, bin ich eine Erbin von ’68. Ich wurde von allen universitären Instanzen gering geschätzt, aber ich habe das nie als eine Verfolgung gegen eine Frau, sondern gegen eine innovative Arbeit gesehen.30 1986, S. 16. Nicht nur eine Paraphrase auf Rousseaus Frauenbild, kann dieser Kommentar auch als Projektion des Kofman’schen Selbst als „Pariserin“ gelesen werden. 29 Bereits 1979 und in Folge wurde Kofman die Professur verweigert. 1989 veröffentlichten Derrida und Lacoue-Labarthe ein Protestschreiben, das in Zeitungen wie Le Monde, Lib ration, Le Nouvel Observateur und La Quinzaine Litt raire veröffentlicht wurde. 30 „Interview avec Sarah Kofman“, S. 19 f.
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Bereits 1979 war Kofmans Bewerbung um eine Professur vom Comit Consultatif des Universit s, welches als universitäres Gremium Berufungen zu entscheiden hat, mit unseriösen Begründungen abgewiesen worden. Diese Ablehnung und vor allem die Art der Ablehnung verletzte nicht nur Kofman, sondern empörte auch ihr nahestehende Kollegen wie Jacques Derrida, Louis Althusser, Jean-Luc Nancy und Elisabeth de Fontenay. Sie verfassten einen offenen Brief, in dem sie das CCU aufforderten, Stellung zu beziehen. Kofman zitiert den universitären Bescheid wie folgt: „Laut diesem Bescheid würde ich über die Philosophen ,in einem verdrehten, wenn nicht delirierenden Sinn‘ schreiben, ,anstatt mich ihnen respektvoll zu nähern‘.“31 Der Protestbrief fragt folglich das CCU, was ein ,respektvoller Umgang‘ mit Philosophen sei, und ob ein solcher die Bedingung darstelle, unter der man dem Wahnsinn (d lire) entkommen könne. Und weiter: Vor welcher Lesart sollen ,die Philosophen‘ geschützt werden? Kurz gesagt: Was bezweckt dieser Ordnungsruf ? Und wer richtet sich an wen mit einer derartigen Arroganz und Selbstsicherheit, die gerade jenem Respekt spottet, in dessen Namen die Gremiumsmitglieder zu sprechen scheinen? Um in einem respektvollen Ton zu sprechen, sollten wir nicht vergessen, dass die des ,Delirierens‘ beschuldigte Bewerberin Lehrbefugte der Philosophie seit 1960, habilitiert [Docteur d’Etat] seit 1976, ma tre-assistante an der Universität Paris 1 [Sorbonne] seit 1970, Gastprofessorin an ausländischen Universitäten in Europa und den USA und bekannte Autorin zahlreicher, vielfach übersetzter Werke ist. Was will man ihr verbieten? 32
Die Hybris der universitären Institution hat sich im Skandal über die verhinderte Berufung Kofmans zur Professorin eine Blöße gegeben. So ungeschickt es scheinen mag, als professorale Universitätskurie die eigene Macht an einer jungen, engagierten Philosophie-Assistentin demonstrieren zu wollen, so sehr muss diese professorale Vermessenheit und Selbstüberschätzung auch ernst genommen werden. Die viel größere Blöße verbirgt sich hinter dieser Hybris: Es ist das Auseinanderklaffen von Anspruch und Realität. In dieser Kluft nistete sich die Angst 31 „Selon les termes de ce rapport, j’aborderais les philosophes dans un ,esprit torturant et même délirant plutôt que dans une approche respectueuse‘.“ In: Sarah Kofman: „Témoignage“. In: corporatif (1979), S. 41. Kopie eines universitären Informationsblattes aus dem Privatnachlass Kofmans. Mit freundlicher Genehmigung von Alexandre Kyritsos. Eigene Übersetzung. 32 Jacques Derrida: „Protestation“. In: corporatif (1979), S. 41. Kopie eines universitären Informationsblattes aus dem Privatnachlass Kofmans. Mit freundlicher Genehmigung von Alexandre Kyritsos. Eigene Übersetzung.
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jener Professoren ein, die ihre Macht nicht mit Kofman teilen wollten. Kofmans Texte begegnen Philosophen tatsächlich ,respektlos‘, da sie den universellen Anspruch der jeweiligen Philosophie mithilfe biographischer und bibliographischer Details dekonstruieren und dadurch mit der Lebensrealität der Philosophen kontrastieren. Kofman nimmt sich dabei weder selbst aus, wie zahlreiche auto/biographische Fragmente in ihren Texten belegen, noch nimmt sie zeitgenössische Philosophen von dieser Art dekonstruktiver Lektüre aus, wie zum Beispiel ihr Buch Derrida lesen bezeugt.33 Kofmans Beitrag zu einer Theorie der Biographie besteht in der Vermischung von philosophischem und auto/biographischem Genre, indem sie Texte, die einen allgemeingültigen Anspruch haben, auf ihre ,Versprecher‘ und biographischen Details hin liest. Dadurch bricht sie den universellen Anspruch von Philosophie, ohne ihn jedoch aufzugeben. Kofmans Problem ist es nicht nur, bislang keinen Platz im philosophischen ,Kanon‘ erhalten zu haben, sondern diesen Platz auch selbst abgeschafft zu haben. Insofern ist ihre Forderung, innerhalb der universitären Philosophie als Autorin ernst genommen zu werden, paradox. Wie kommt es, dass beispielsweise Leo Truchlar von einer,Auslöschung des Subjekts‘ in Kofmans Autobiographie spricht? 34 Welche Gefahr lauert in Kofmans bibliographisch-biographischem Projekt? Kofmans Schreiben lässt sich mit der Bibelkritik als der ursprünglichen Textkritik vergleichen; Kommentare wurden an den Textrand geschrieben und als ,Glossen‘ bezeichnet. Diese Randbemerkungen nahmen in den Schriftstudien einen interessanten historischen Verlauf. In der italienischen Renaissance beginnen die Kommentare sich zu verselbstständigen, indem sich ihre Autoren zunehmend von den Textautoritäten der Scholastik emanzipieren. 35 Kofman bewegt sich auf dieser Grenzlinie zwischen Wiederholung der Autoritäten und Verselbstständigung des Kommentars bzw. Verschriftlichung des Selbst. Sie gibt der Leserin / dem Leser das Gefühl, gemeinsam den Text eines anderen Autors zu 33 Sarah Kofman: Derrida lesen. Wien 2000. 34 Truchlar: Identit t, polymorph, S. 42. 35 Hierzu ist die ,Affäre Pomponazzi‘ als eine unter vielen zu nennen, im Zuge derer die philosophische Abhandlung De immortalitate animae des italienischen Neo-Aristotelikers Pomponazzi 1516 öffentlich verbrannt wurde. Vgl. Karoline Feyertag: Hirngespinste und andere Ungeheuerlichkeiten. Versuch ber die ambivalente Bedeutung des philosophischen Begriffs ,Phantasma‘ im Rahmen des gesellschaftlichen Imagin ren ausgehend von der Renaissance-Philosophie Pietro Pomponazzis. 2003, S. 11. http://sammelpunkt.philo.at:8080/707/ (Stand: 01. 05. 2009).
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lesen. Kofman hat um die Gefahr, die in der Wiederholung liegt, Bescheid gewusst. Eine originäre Philosophie muss in ihren Augen erfinderisch und neu sein. Eine Voraussetzung für das Neue in der Philosophie ist für sie die genaue Lektüre. Sie selbst definierte sich am häufigsten als ,Leserin‘ und betrachtete es als politisches Engagement, das Lesen zu lehren: Lesen zu lehren ist für mich gleichbedeutend mit einer politischen Geste. […] Unter den vielen Fähigkeiten des Menschen sind die Fähigkeit zu töten und die Fähigkeit Wort zu halten (das bedeutet, sprechen und sprechen lassen, aber auch Versprechen machen) die zwei wichtigen Gegenpole. Denn richtig lesen lehren bedeutet den Menschen beizubringen, Wort zu halten. Indem wir versuchen, Wort zu halten, blockieren wir die Fähigkeit zu töten.36
Lesen bedeutet aber auch Wiederholen und Übersetzen. Es bedeutet, sich in eine andere Autorin bzw. in einen anderen Autor hinein zu versetzen. Diese Identifikation war Kofman sehr wichtig, wie wir im Eingangszitat gehört haben. Von der ,Identität als Zitatsammlung‘ und vom ,Identitätsverlust‘ beim Schreiben war die Rede gewesen. In einem identifikatorischen Vergleich mit Hölderlin spricht Kofman von einer ,permanenten Enteignung‘: Hölderlin – und das hat Blanchot sehr gut gezeigt – spürte nicht den Wahnsinn von sich Besitz ergreifen, als er seine Gedichte schrieb, sondern während seiner Übersetzungsarbeit. Meine ,mimetische‘ oder ,hysterische‘ Schreibweise impliziert das Risiko, verrückt zu werden, und zwar nicht, weil die Autoren, über die ich schreibe, fast alle verrückt geworden sind, sondern weil diese Methode zu einer permanenten Enteignung führt.37
Vor dieser ,Enteignung‘ schien sich Kofman jedoch nicht nur zu fürchten. Sie hat sie auch herbeigeführt und in ihrer ,Autobiographie‘ auf die Spitze getrieben. Leo Truchlar beschreibt Kofmans Stil als „hart und zart wie Glas“. Damit bestätigt er Kofmans Absicht, die Genres zu vermischen, aus der ,weiblichen‘, fiktionalen Autobiographie einen ,männlichen‘, harten Ton ohne Pathos und Sentimentalität sprechen zu lassen: Der Ton dieser Sätze ist das Entscheidende, nicht etwa die Vermittlung irgendwelcher Abläufe und Ereignisse. Es ist […] der Ton der Verdingli-
36 Jaccard: „Apprendre aux hommes de tenir la parole“, S. VII. 37 Ebd.
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chung, der Entpersönlichung, der skandalösen Ichlosigkeit, ident mit der Verlorenheit der geschundenen, ausgemergelten, nicht geliebten Kreatur.38
Aus dem ,Tod des Subjekts‘ bei Foucault wurde die ,Destruktion des Subjekts‘ bei Kofman. Dieser Selbstabschaffung Kofmans tritt der hier vorgestellte Biographie-Ansatz entgegen. Kofman soll bei dem Wort genommen werden, das sie gegeben hat: Sie vertrat eine spezielle Form philosophischer Dekonstruktion, grenzte sich von Derridas Begriff der Dekonstruktion ab, verlor aber zusehends die Konstruktion aus den Augen. Der Rezensent von Kofmans erster Publikation Die Kindheit der Kunst in Le Monde, Bernard Pingaud, machte schon 1971 einen klugen Einwand gegen den Untertitel des Buchs, Une interpr tation de l’esth tique freudienne: Man kann sich zuerst fragen, ob sie [die Autorin] Freud tatsächlich treu ist. In dieser Hinsicht ist der Begriff ,Interpretation‘, wie er im Untertitel des Buches verwendet wird, nicht glücklich gewählt. Denn es handelt sich vielmehr um eine ,Konstruktion‘ in dem Sinn, wie Freud dieses Wort am Ende seines Lebens verwendet hat. ,Interpretation‘ ist passend für Details. Aber wenn es darum geht, ,vor dem Patienten ein Stück seiner ersten, vergessenen Geschichte auszubreiten‘, das heißt, die verschiedenen Elemente miteinander zu verbinden, die im Lauf der Analyse aufgetaucht sind, dann haben wir es mit einer ,Konstruktion‘ zu tun.39
Pingaud macht hier schon auf eine frühe Form der Selbstverleugnung aufmerksam und nimmt der jungen Philosophin die ,selbstlose‘ Pose nicht ab. Kofman hätte in ihrem Buch viel mehr geleistet als eine bloße Interpretation der Freud’schen Ästhetik. Sie hätte eine Konstruktion entworfen, indem sie die einzelnen Elemente ihrer analytischen Lektüre neu miteinander verband. Daher sieht Pingaud schon 1971 eine Renaissance des Subjekts und des Autors vorher: Ich möchte nicht schwören, dass sich Freud nicht im Augenblick, als er die Idole entlarvt und den Mythos des Vaters zerstört hat, selbst an den Platz des zerstörten Vaters setzte. Ich möchte genauso wenig schwören, dass der Autor von Die Kindheit der Kunst nicht auch Freuds Platz einnimmt: Wir können noch so laut den ,Tod des Autors‘ verkünden, wir hören doch nicht auf, ihn jedes Mal, wenn wir zur Feder greifen, wiederzubeleben.40 38 Truchlar: Identit t, polymorph, S. 44. 39 Bernard Pigaud: „De l’esthétique freudienne à l’esthétique marxiste: ,L’enfance de l’art’, de Sarah Kofman“. In: Le Monde, 22. 1. 1971, S. 15. Eigene Übersetzung. 40 Ebd.
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Schluss In diesem Beitrag wurden zwei widersprüchliche Erfahrungen der Philosophin Sarah Kofman kommentiert, um die hybride Textstruktur, die das biographische Genre ausmacht, zu verdeutlichen. Kofmans Selbst-Erfahrung als ,Frau‘ hängt mit ihrer Kritik eines vorgeblich geschlechtsneutralen, metaphysischen Genres der Philosophie zusammen, welches sie als ,männliches‘ dekonstruiert hat. Dieses Gendering von Texten wird bei Kofman als Selbst-Positionierung des Autors / der Autorin begriffen. Dabei kommt Kofmans Erfahrung der universitären Machthierarchien zum Tragen, die sie als ,Querdenkerin‘ zu spüren bekam, als ihr wiederholt die Professur an der Sorbonne verweigert wurde. Kofman hat nicht nur das metaphysische Gendering von Texten dekonstruiert, sondern auch durchbrochen, indem sie philosophisches und auto/biographisches Schreiben vermischte. Bemerkenswert ist dabei, dass sie auf der philosophischen, universitären und pädagogischen Bedeutung ihrer Texte beharrte und institutionelle Inklusion anstrebte. Auf die Frage, die sich Kofman selbst gestellt hat, nämlich ob sie eine ,andere Autobiographie‘ habe als jene, die durch ihre Bibliographie hindurch scheine, wird eine affirmative Antwort gegeben, ohne einfach Kofmans Selbst-Konstruktion zu wiederholen. In einer Weiterentwicklung des Kofman’schen Textbegriffes müssen deshalb in der Biographie zu Kofman auch historische und empirische ,Fakten‘ berücksichtigt werden. Diese Vermischung von empirischem und theoretischem ,Text‘ kann ein immer aufs Neue zu bestimmendes, flexibles Genre der Biographie leisten.
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Karoline Feyertag
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Psychoanalytische Frauenbiographik und die Theorie der Geschlechterdifferenz Esther Marian Wie die psychoanalytische Kunsttheorie, aus der heraus sie entstand, lässt sich die psychoanalytische Biographik nicht als isoliertes Phänomen begreifen, sondern erschließt sich dem Verständnis erst dann, wenn man den Blick auf das umfassendere Unternehmen richtet, durch das sie sich konstituiert. Ihrem Anspruch nach war und ist die Psychoanalyse mehr als nur ein wissenschaftliches und therapeutisches Verfahren. In der Form, in der sie von Freud konzipiert wurde, hatte sie kein geringeres Ziel, als durch die Aufdeckung und reflektierte Aneignung bislang unbewusst gebliebener Triebregungen den Konflikt zwischen diesen und den sie beschränkenden, zugleich aber auf ihnen beruhenden Kulturforderungen zu lösen – wobei sich Freud mehr als jeder andere darüber klar war, dass analytische Therapiesitzungen dergleichen nicht leisten konnten1, und ständig zwischen der Forderung nach bewusster Triebunterdrückung und jener nach direkter oder indirekter Lustbefriedigung hin- und herschwankte. Die psychoanalytische Biographik ist im Zusammenhang dieses Unterfangens kein Selbstzweck und bildet ihrem Selbstverständnis nach auch keine Untergattung der Biographie. Sie ist vielmehr die Form, die die Biographie annimmt, wenn sie unter den Gesichtspunkt der Psychoanalyse gestellt wird. Aus psychoanalytischer Sicht geht es deshalb nicht darum, den Methoden der Biographie eine weitere hinzuzufügen, sondern die Biographik ist vielmehr einer von vielen Schauplätzen, an denen sich der Vorgang der universellen 1
In der berühmten Schlusspassage der „Studien über Hysterie“ heißt es, dass die Psychoanalyse zwar nicht die Verhältnisse und Schicksale beheben könne, mit denen das Leiden der Patientinnen und Patienten zusammenhänge, dass aber schon viel damit gewonnen sei, „hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln“. Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hg. v. Anna Freud u. a. Frankfurt/M. 1999 [im Folgenden: GW], Bd. 1, S. 312. Später beschäftigt sich Freud in „Die endliche und unendliche Analyse“ mit der Frage, ob es möglich ist, „einen Konflikt des Triebs mit dem Ich oder einen pathogenen Triebanspruch an das Ich durch analytische Therapie dauernd und endgültig zu erledigen“. (GW, Bd. 16, S. 68.)
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Aufdeckung und Reflexion des Unbewussten in der menschlichen Kultur abspielt. Die psychoanalytische Biographik war zunächst Künstlerbiographik und blieb es überwiegend, obwohl sie sich bald auch für Politiker, Religionsstifter, Heilige und Wissenschaftler zu interessieren begann.2 Die These Freuds, wonach das Kunstwerk ein modifizierter Tagtraum ist, in dem unbewusste, in letzter Instanz aus der Kindheit herrührende Wünsche ihre imaginäre Erfüllung finden3, bedurfte, wie bereits Otto Rank aussprach, der Einzeluntersuchungen, die „das Detail der Verknüpfung zwischen den aufzudeckenden letzten Elementartrieben des künstlerischen Schaffens und dem sonstigen offensichtlichen seelischen Verhalten der betreffenden Künstler in jedem Falle aufzeigen“.4 Was sich gegen die psychoanalytische Kunsttheorie einwenden lässt – vor allem ihre Unterschätzung des objektiven Moments der Kunst und damit die Vernachlässigung der ästhetischen Arbeit, der Austragung von Konflikten in der Form5 – lässt sich auch gegen die von ihr abgeleitete psychoanalytische Künstlerbiographik vorbringen. Sie zeigt wenig Interesse an den Kunstwerken als ästhetischen Gebilden: Indem sie diese als „rein persönliche, individuell bedingte Leistungen eines eigenartigen Seelenlebens“ auffasst6, abstrahiert sie weitgehend von dem, was Freud selbst „die eigentliche Ars Poetica“ nannte, die Überwindung der Schranken, die „sich zwischen jedem einzelnen Ich und den anderen erheben“.7 Indem sie die Triebbedingtheit der Kunst und letztlich aller Kultur aufzuweisen versucht, behält sie jedoch zugleich auch Recht gegen die Biographik, gegen die sie sich konstituierte. Dies war zum einen die sogenannte Pathographie, die auf der von der Medizin des 19. Jahrhunderts aufgerichteten, von der Psychoanalyse in Frage gestellten starren Trennung zwischen Krankheit und Gesundheit basierte und bestrebt war, die Affinitäten zwischen „Genie und Irrsinn“ herauszu2
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Vgl. Johannes Cremerius: „Verzeichnis der internationalen psychoanalytischbiographischen Publikationen von 1907 bis 1960“. In: Neurose und Genialit t. Psychoanalytische Biographien. Hg. v. Johannes Cremerius. Frankfurt/M. 1971, S. 275 – 289. Vgl. GW, Bd. 7, S. 213 – 223. Otto Rank: Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. Grundz ge einer Psychologie des dichterischen Schaffens. Wien, Leipzig 1912, S. 3. Vgl. Theodor W. Adorno: „Ästhetische Theorie“. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 2003, bes. S. 19 – 31. Rank: Inzestmotiv, S. 1. Vgl. GW, Bd. 7, S. 223.
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stellen.8 Noch Isidor Sadgers Künstlerbiographien, die in der ,Wiener Psychoanalytischen Vereinigung‘ heftig debattiert wurden – die ersten von der Psychoanalyse beeinflussten Biographien überhaupt – stehen in dieser Tradition.9 Freuds erster eigener biographischer Versuch, Eine Kindheitserinnerung Leonardo da Vincis (1910), eine Schrift, die Gedo zurecht „the prototype of psychoanalytic biography, not only as the first in the field, but also as the most influential in its impact on the intellectual community“ nennt10, stellt implizit ein Gegenmodell zu Sadgers Künstlerstudien dar, obwohl Freud sich hier noch ausdrücklich mit der „Pathographie“ identifiziert.11 Zum anderen steht die psychoanalytische Biographik in Opposition zu einem Verhalten, das Freud in Leonardo explizit thematisiert. Demnach geben sich Biographen üblicherweise einer Idealisierungsarbeit hin, die bestrebt ist, den großen Mann in die Reihe ihrer infantilen Vorbilder einzutragen, etwa die kindliche Vorstellung des Vaters in ihm neu zu beleben. Sie löschen diesem Wunsche zuliebe die individuellen Züge in seiner Physiognomie aus, glätten die Spuren seines Lebenskampfes mit inneren und äußeren Widerständen, dulden an ihm keinen Rest von menschlicher Schwäche oder Unvollkommenheit und geben uns dann wirklich eine kalte, fremde Idealgestalt anstatt des Menschen, dem wir uns entfernt verwandt fühlen könnten. Es ist zu bedauern, daß sie dies tun, denn sie opfern damit die Wahrheit einer Illusion und verzichten zugunsten ihrer infantilen Phantasien auf die Ge8 Vgl. Cesare Lombroso: Genio e follia. Prelezione ai corsi di antropologia e clinica psichiatrica. Milano 1864, in deutscher Übersetzung erschienen unter dem Titel Genie und Irrsinn in ihren Beziehungen zum Gesetz, zur Kritik und zur Geschichte. Leipzig 1887. Zur Pathographie vgl. Johannes Cremerius: „Einleitung des Herausgebers“. In: Neurose und Genialit t. Hg. v. Cremerius, S. 7 – 25 sowie Thomas Anz: „Autoren auf der Couch? Psychopathologie, Psychoanalyse und biographisches Schreiben“. In: Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis biographischen Schreibens. Hg. v. Christian Klein. Stuttgart, Weimar 2002, S. 87 – 106. 9 Vgl. Isidor Sadger: Belastung und Entartung. Ein Beitrag zur Lehre vom kranken Genie. Wien 1910, S. 4 – 5. Vgl. auch ders.: „War Goethe eine pathologische Erscheinung?“ In: Deutsche Revue ber das gesamte nationale Leben der Gegenwart 24 (1899), S. 72 – 96; ders.: Konrad Ferdinand Meyer. Eine pathographisch-psychologische Studie. Wiesbaden 1908 und ders.: Heinrich von Kleist. Eine pathographisch-psychologische Studie. Wiesbaden 1910. Sadgers Studien zum Liebesleben Nicolaus Lenaus (1909) und zu Friedrich Hebbel (1913) stehen der Theorie Freuds näher. 10 J. E. Gedo: „The Methodology of Psychoanalytic Biography“. In: Journal of the American Psychoanalytic Association 20 (1972) H. 3, S. 638 – 649, hier S. 640. 11 GW, Bd. 8, S. 202.
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legenheit, in die reizvollsten Geheimnisse der menschlichen Natur einzudringen.12
Solcher Idolatrie tritt die psychoanalytische Biographik entgegen, indem sie die Tätigkeit des Biographen der Selbstkritik unterwirft und den Blick auf jene Momente richtet, die durch die Idealisierung der Zensur anheimfallen. In der Hoffnung, durch die Analyse sonst gering geschätzter und unbeachteter Kleinigkeiten „die historische Wahrheit aufdecken“ zu können13, setzt sie sich in Gegensatz zu aller Biographik vor ihr, selbst dort, wo sie deren Verdienste anerkennt. Freuds oft zitierte Bemerkung gegenüber Arnold Zweig, wonach die biographische Wahrheit „nicht zu haben“ sei, weil Biograph zu sein die Pflicht „zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und selbst zur Verheimlichung seines Unverständnisses“ beinhalte, scheint diesen Gegensatz aufzuheben, doch ist zu bedenken, dass sie die von Zweig ausgesprochene „Drohung“ abwenden sollte, „daß Sie mein Biograph werden wollen“.14 Dass die Wahrheit nicht „zu haben“ ist, ist sicher richtig, doch nur einen Satz später bringt Freud einen ganz anderen, für ihn viel charakteristischeren Einwand gegen Zweigs Vorhaben: „Die Wahrheit ist nicht gangbar, die Menschen verdienen sie nicht.“15 Was ihn selbst betraf, fürchtete er sich – angesichts der feindseligen Reaktionen auf seine Theorie verständlicherweise – vor biographischen Versuchen, die ihn, wie er glaubte, entweder verkennen oder dem „Auspeitschen […] nach Verdienst“ ausliefern würden.16 Die Forderung, die Freud in der Leonardo-Studie aufstellt, ist kategorisch: 12 Ebd., S. 202 f. 13 Ebd., S. 152 f. 14 Sigmund Freud: Brief an Arnold Zweig, v. 31.5.1936. In: ders.: Briefe. Ausgewählt und mit einem Vorwort v. Margarete Mitscherlich-Nielsen. Frankfurt/ M. 1971, S. 178 f. 15 Ebd., S. 179. Der Satz wirkt wie eine Variation der in der Goethepreis-Rede zitierten Mephistopheles-Verse: „Das Beste, was du wissen kannst,/Darfst du den Buben doch nicht sagen.“ (GW, Bd. 14, S. 550). Die Buben sind wohl identisch mit dem „Gesindel […], das keine Überzeugung festhalten kann, das nicht warten und nicht vertrauen will und jubelt, wenn es die Illusion des Götzenbildes wieder bekommen hat.“ (GW, Bd. 10, S. 175). Nicht zuletzt bezieht sich dies auf die Psychoanalytiker, gegen die Freud fortwährend seine eigene Lehre verteidigte. 16 Vgl. Freud: Brief an Arnold Zweig, v. 31. 5. 1936, S. 179. Die Formulierung „nach Verdienst“ bedürfte weiterer Interpretation, für die hier leider kein Platz ist.
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Wenn ein biographischer Versuch wirklich zum Verständnis des Seelenlebens seines Helden durchdringen will, darf er nicht, wie dies in den meisten Biographien aus Diskretion oder aus Prüderie geschieht, die sexuelle Betätigung, die geschlechtliche Eigenart des Untersuchten mit Stillschweigen übergehen.17
Ihre Unbedingtheit ist die der verleugneten Triebe selbst; nur als Imperativ konnte sie so wichtig für die New Biography, besonders für Lytton Strachey werden.18 Sie läuft letztlich darauf hinaus, dass die Psychoanalyse zur theoretischen Grundlage jeder Biographie, zumindest jeder psychologisierenden, werden muss – was nur folgerichtig ist unter der Voraussetzung, dass Freud tatsächlich, wie er meinte, „die Gesetze des menschlichen Seelenlebens“ erkannt und dargestellt hat.19 Wie wenig es Freuds Absicht entsprach, die psychoanalytische Biographik der bereits etablierten nur ergänzend zur Seite zu stellen, zeigt sein Briefwechsel mit C. G. Jung, in dem es heißt, die Psychoanalyse müsse in Gebiete wie das der Mythologie einfallen, sie müssten „ganz von uns erobert werden […] Wir brauchen Männer, Arbeiter für weitere Feldzüge […] auch die Biographik muß unser werden“.20 So wie die Psychoanalyse insgesamt „dem Ich die fortschreitende Eroberung des Es ermöglichen“ wollte21 – freilich unter Veränderung auch des Ich selbst, das die bisher dem Es zugehörigen Gebiete nicht zerstören, sondern sich zueignen sollte –, so wollte sie auch die gesamte bisherige Biographik in ihr Hoheitsgebiet, das des souveränen Ich, hineinziehen. Die von der Psychoanalyse betriebene Umwälzung der Biographik beinhaltet notwendigerweise eine petitio principii – denn die Thesen, die dabei zur Geltung gebracht werden sollen, unterliegen selbst der Veränderung und müssen, wenn sie bestehen wollen, in der Auseinandersetzung mit dem Material ihre Wahrheit stets von Neuem erweisen. Ohne theoretische Vorannahmen kommt keine Erkenntnis aus, doch 17 GW, Bd. 8, S. 135. Hervorhebung E.M. 18 Vgl. Matthias Munsch: Psychoanalyse in der englischen Moderne. Die Bedeutung Sigmund Freuds f r die Bloomsbury Group und Lytton Stracheys biographisches Schreiben. Marburg/Lahn 2004, S. 245 – 256. 19 GW, Bd. 16, S. 276. 20 Sigmund Freud: Brief an C. G. Jung, v. 17.10.1909. In: Sigmund Freud u. C. G. Jung: Briefwechsel. Hg. v. William McGuire u. Wolfgang Sauerländer. Frankfurt/M. 1974, S. 278 – 282, hier S. 280. 21 GW, Bd. 13, S. 286; vgl. auch Bd. 15, S. 86 sowie Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Hg. v. Herman Nunberg u. Ernst Federn. 4 Bde. Frankfurt/M. 1976 – 81, Bd. 1, S. 117.
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kann die Theorie nicht einfach vorgegeben werden; ob und wie weit sie trägt, hat sich in der Darstellung selbst zu zeigen. Nicht ohne Grund gab Freud für die therapeutische Situation die Direktive aus, den Mitteilungen der Patientin oder des Patienten zunächst „unbefangen und voraussetzungslos“ zuzuhören, um der Gefahr zu entgehen, „niemals etwas anderes zu finden, als was man bereits weiß“.22 Im Gegensatz zu fast allen seinen Schülerinnen und Schülern betonte er stets, wie Anna Freud einmal anmerkte, „wie viel an all diesen Fragen noch ungeklärt und unsicher ist, so daß man das Gefühl bekommt, von lauter Fraglichem, Unbekanntem umgeben zu sein, wo man gerade hier und dort die ersten Anfänge zu sehen beginnt“.23 Wenn die frühe psychoanalytische Biographik bei allem Pioniergeist oftmals flach und reduktionistisch wirkt, dann nicht, wie spätere Vertreter einer revisionistischen, auf Ich-Psychologie geeichten Psychoanalyse meinen, weil sie zu sehr auf das unbewusste Triebleben ausgerichtet ist24, sondern weil sie sich, vielleicht zu wenig rezeptiv gegenüber diesem Triebleben, ihrer theoretischen Voraussetzungen allzu sicher fühlt. Das gilt schon für die Leonardo-Studie, deren Schlussfolgerungen über den Zusammenhang zwischen dem äußeren Leben und Werk Leonardos und seiner nur indirekt erschließbaren Ödipuskonstellation in vieler Hinsicht anfechtbar sind.25 Die Erkenntnisse, zu denen Freud an Leonardo gelangt und 22 GW, Bd. 8, S. 377, S. 380. 23 Anna Freud: Brief an Max Eitington, v. 20.8.1925. In: Library of Congress, Nachlass Anna Freud. 24 Vgl. Heinz Kohut: „Beyond the Bounds of the Basic Rule. Some Recent Contributions to Applied Psychoanalysis“. In: Journal of the American Psychoanalytic Association 8 (1960) H. 3, S. 567 – 586, hier S. 572; Gedo: „Methodology“, S. 638, S. 640 f., S. 643; Martin S. Bergmann: „Limitations of Method in Psychoanalytic Biography. A Historical Inquiry“. In: Journal of the American Psychoanalytic Association 21 (1973) H. 4, S. 833 – 850, hier S. 839 – 844, S. 847 f.; John E. Mack: „Psychoanalysis and Biography. A Narrowing Gap“. In: Journal of the Philadelphia Association for Psychoanalysis 5 (1978) H. 3/4, S. 97 – 109, hier S. 108; Cremerius: „Einleitung“, S. 23; Faye Crosby u. Travis L. Crosby: „Psychobiography and Psychohistory“. In: The Handbook of Political Behavior. Hg. v. Samuel Long. Bd. 1. New York, London 1981, S. 195 – 254, hier S. 200. 25 Es gibt zu dieser Frage eine Fülle von Literatur; einen Überblick über die 1956 von Meyer Schapiro angestoßene Debatte bietet Bradley I. Collins: Leonardo, Psychoanalysis, & Art History. A Critical Study of Psychobiographical Approaches to Leonardo da Vinci. Evanston (IL) 1997. Wer nach weiteren Literaturhinweisen sucht, sei – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – auf Collins’ Bibliographie
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durch die das ganze psychoanalytische Theoriegebäude eine Weiterentwicklung erfährt, werden dadurch kompromittiert, dass an einigen Stellen psychoanalytische Theoreme allzu siegesgewiss auf ein allzu spärliches Material übertragen werden26 und sogar an einer zentralen Stelle willkürlich ein „Hühnergeier“ oder genauer Rotmilan (ital. nibbio) in einen „Geier“ verwandelt wird.27 Was an der Studie frappiert, ist einerseits die Selbstsicherheit, mit der Freud, gestützt auf Beobachtungen aus der psychoanalytischen Praxis, aus den wenigen überlieferten Berichten über Lebensumstände und Eigenheiten Leonardos und einigen seiner hinterlassenen Aufzeichnungen, Schriften und Bilder eine Hypothese über die psychische Konstitution dieses „allseitige[n] Genie[s]“28 konstruiert, dann aber auch wieder die unvergleichliche Offenheit, mit der er die Fragilität eben dieser Konstruktion eingesteht und die Möglichkeit einräumt, „bloß einen psychoanalytischen Roman geschrieben“ zu haben.29 Malcolm Bowie spricht in Hinblick auf die schematischen Deutungen in Leonardo von „blunders“ und „all too falsifiable conjectures“.30 Solche falsifizierbaren Konjekturen sind natürlich auch in der Analysesituation möglich, die der psychoanalytischen Biographik in vielem ähnlich ist – Freud scherzte Jung gegenüber, „ein erlauchter Geist, Leonardo da Vinci“, habe ihm „für eine kleine XA stillgehalten“31; doch der Unterschied ist, dass die lebendigen Analysanden durch die freien Assoziationen und Träume, die sie liefern, und durch ihren Widerstand, ihre Indifferenz oder ihre Zustimmung die Interpretationen der Analytikerin oder des Analytikers laufend kommentieren und korrigieren.32 Weil die Toten keinerlei Gelegenheit haben zu antwor26 27
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verwiesen. Eine neuere kritische Studie ist Manfred Clemenz: Freud und Leonardo: Eine Kritik psychoanalytischer Kunstinterpretation. Frankfurt/M. 2003. Vgl. bes. GW, Bd. 8, S. 186 – 189, S. 192 f. Vgl. Protokolle. Hg. v. Nunberg u. Federn. Bd. 2, S. 308. Eine Kritik des Umgangs der psychoanalytischen Bewegung mit diesem Schnitzer findet sich bei Han Israëls: „Freuds Phantasien über Leonardo da Vinci“. In: Luzifer-Amor 5 (1992) H. 10, S. 8 – 41. GW, Bd. 8, S. 128. Ebd., S. 207. Malcolm Bowie: „Freud and the Art of Biography“. In: Mapping Lives. The Uses of Biography. Hg. v. Peter France u. William St. Clair. Oxford, New York 2002, S. 177 – 192, hier S. 188. Sigmund Freud: Brief an C. G. Jung, v. 11.11.1909. In: Freud, Jung: Briefwechsel, S. 285 – 288, hier S. 160. Dies ist ein Standardeinwand gegen die psychoanalytische Biographik, der so oft vorgebracht wird, dass es nicht als sinnvoll erscheint, hier Texte aufzu-
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ten, bleiben vorschnelle Interpretationen in einer Biographie stehen – es sei denn, jemand wendet, wie Freud es vom Analytiker forderte, „dem gebenden Unbewußten […] sein eigenes Unbewußtes als empfangendes Organ zu […] wie der Receiver des Telephons zum Teller eingestellt ist“33 und antwortet für den Verstummten, was freilich immer ein riskantes, skeptischer Selbstanalyse bedürftiges Unternehmen bleibt, da die Gefahr besteht, dass der oder die Interpretierende weniger eine andere Person in sich aufnimmt als vielmehr bloß sich selbst an ihre Stelle setzt.34 Freuds eigenen strengen Maßstäben, denen zufolge eine seriöse Analyse ohne freie Assoziation unmöglich ist35, kann die psychoanalytische Biographie nie ganz genügen; einer Bemerkung Leonard Shengolds nach ist sie, ähnlich wie die Traumdeutung im Seminar, „fascinating, but always untrustworthy“.36 Dazu kommt, dass sie sich wegen des allgemeinen Publikumsinteresses für die meisten Personen, mit denen sie es zu tun hatte, zur Popularisierung der Psychoanalyse eignete und dafür auch benutzt wurde, so dass die geduldige Aufschlüsselung des Materials gegenüber pädagogischen Demonstrationen zurücktrat. Auch Freuds Leonardo enthält manches Pädagogische; die Tendenz hierzu ging jedoch bei manchen Autoren so weit, dass die Biographierten völlig darauf reduziert wurden, als Schulbeispiele für die Richtigkeit feststehender psychoanalytischer Theoreme zu dienen.
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zählen, in denen er auftaucht. Stellvertretend zitiert sei William McKinley Runyan: Life Histories and Psychobiography. Explorations in Theory and Method. New York, Oxford 1984, S. 202 – 206. GW, Bd. 8, S. 381. Vgl. zu dieser überaus komplizierten Frage Gedo: „Methodology“, S. 644 f. sowie Elisabeth Young-Bruehl: Subject to Biography. Psychoanalysis, Feminism, and Writing Women’s Lives. Cambridge (Mass.), London 1998, S. 17 – 25. „Jedes andere Verfahren ist willkürlich und ergibt keine Sicherheit.“ (GW, Bd. 17, S. 92.) „So stehen wir den Menschen vergangener Zeiten gegenüber wie den Träumen, zu denen uns keine Assoziationen gegeben sind, und nur die Laien können fordern, daß wir solche Träume deuten sollen.“ (Sigmund Freud: Brief an Lytton Strachey, v. 25. 12. 1928, zit. nach Munsch: Psychoanalyse, S. 111.) Shengold, Leonard: „Freud’s Dreams Revisited“. In: American Imago 26 (1969) H. 3, S. 242 – 250, hier S. 246.
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Psychoanalytische Theorie der Geschlechterdifferenz Welche theoretischen Schwierigkeiten sich gerade dort ergeben können, wo alles klar und selbstverständlich zu sein scheint, und wie wenig davor selbst eine der überzeugendsten psychoanalytischen Lehren gefeit ist, die vom Ödipuskomplex, zeigt sich vielleicht am schlagendsten in der psychoanalytischen Frauenbiographik. Erst vergleichsweise spät hat die Psychoanalyse begonnen, sich der Geschlechterdifferenz als einem theoretischen Problem zuzuwenden. Lange behandelte sie die typische Entwicklung des kleinen Jungen zum heterosexuellen Mann als Normalfall und ging davon aus, dass sich die Entwicklung des kleinen Mädchens weitgehend spiegelbildlich vollziehe37, bis diese Hypothese an Beobachtungen aus der Analyse wie auch an ihrer Unvereinbarkeit mit anderen psychoanalytischen Einsichten zerbrach. Die Entwicklung der psychoanalytischen Geschlechtertheorie ist kompliziert und von zahlreichen, teilweise bis heute andauernden Kontroversen durchzogen, so dass sie hier nicht in allen ihren Aspekten dargestellt werden kann38, doch sei trotzdem – unter Beschränkung auf Freud – auf einige ihrer zentralen Probleme hingewiesen. Wie jede Theorie der Geschlechterdifferenz steht sie zunächst vor der Frage, was ,weiblich‘ und ,männlich‘ überhaupt bedeute, denn im Sprachgebrauch ist damit ja mehr gemeint als eine bestimmte Beschaffenheit der Geschlechtsorgane und andere körperliche Merkmale; vielmehr sollen diesen körperlichen Eigenschaften ,weibliche‘ und ,männliche‘ Verhaltensweisen, psychische Einstellungen und gesellschaftliche Funktionen zugeordnet sein. Freud hat die Unschärfe der Begriffe recht genau gesehen39 ; er hat sie, wie viele zögernde und relativierende Bemerkungen zeigen, mit spürbarem Unbehagen verwendet und ihren Sinn wiederholt angezweifelt. Der Unklarheit der Vorstellungen von psychischer ,Weiblichkeit‘ und ,Männlichkeit‘ wegen schlug er in den Drei Abhandlungen vor, sie durch ,Passivität‘ und ,Aktivität‘ zu ersetzen, welche sich bei Männern wie 37 Vgl. etwa GW, Bd. 2/3, S. 264; Bd. 5, S. 128 – 130; Bd. 11, S. 345 f. 38 Zur Einführung seien, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit, empfohlen: Freud on Women. A Reader. Hg. v. Elizabeth Young-Bruehl. London 1990; Young-Bruehl: Subject to Biography, S. 161 – 252; Juliet Mitchell: Psychoanalysis and Feminism. A Radical Reassessment of Freudian Psychoanalysis. With a New Introduction by the Author. New York 2000; Ljiljana Radonic: Die friedfertige Antisemitin? Kritische Theorie ber Geschlechterverh ltnis und Antisemitismus. Frankfurt/M. u. a. 2004. 39 Vgl. GW, Bd. 5, S. 121, FN.
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Frauen gleichermaßen finden könnten, wobei für ,weiblich‘ ,passiv‘ und für ,männlich‘ ,aktiv‘ eingesetzt werden sollte.40 Da er aber nur an eine relative, nicht an eine völlige Unabhängigkeit der psychischen Dispositionen von körperlichen Geschlechtsmerkmalen glaubte41, verwendete er ,männlich‘ und ,aktiv‘ sowie ,weiblich‘ und ,passiv‘ oft als Synonyme, was zu ziemlicher Verwirrung führte, bis hin zu der Behauptung, der Sexualtrieb überhaupt sei, weil aktiv, „regelmäßig und gesetzmäßig männlicher Natur“42, oder der Orgasmus der Frau habe „männlichen“ Charakter43, – bis er, hiermit selbst unzufrieden und ein wenig ratlos, in der Neuen Folge der Vorlesungen die Gleichsetzung von ,männlich‘ mit ,aktiv‘ und von ,weiblich‘ mit ,passiv‘ als untauglich verwarf und von ihr abriet: „Es erscheint mir unzweckmäßig und bringt keine neue Erkenntnis.“44 Es ist sehr leicht, sich über einen Sprachgebrauch zu erheben, der die zärtliche Liebe des kleinen Jungen zu seinem Vater nur als „feminine Einstellung“ mit „passivem“ Triebziel, als ein Stück „Weiblichkeit“ verstehen kann45, und man könnte auf den Widerspruch solcher Vorstellungen zu einer anderen psychoanalytischen These hinweisen, wonach der Trieb ursprünglich frei verschiebbar und das Geschlecht des Sexualobjekts selbst im Erwachsenenalter nicht nur von anatomischer, sondern auch von psychischer ,Männlichkeit‘ oder ,Weiblichkeit‘ weitgehend unabhängig ist46. Nur sollte nicht vergessen werden, dass die Annahme einer psychischen „Bisexualität“ im Sinne einer zwiegeschlechtlichen Anlage bei allen Menschen47, auf die solche Formulierungen sich gründen, gerade einen Versuch darstellt, die psychische Konstitution von der Anatomie abzulösen und damit die gängigen Vorurteile hinter sich zu lassen. Dem Alltagsverstand, der damals mehr noch als heute von einer unmittelbaren Determination der psy40 Vgl. ebd., S. 59, S. 121. 41 Vgl. ebd., S. 120 f; GW, Bd. 8, S. 154; Bd. 10, S. 99, S. 227; Bd. 12, S. 210; Bd. 13, S. 398, S. 401. 42 Vgl. GW, Bd. 5, S. 120, vgl. ferner Bd. 15, S. 141. Siehe auch Protokolle. Hg. v. Nunberg u. Federn. Bd. 2, S. 113. 43 Sigmund Freud: „An Unpublished Letter from Freud on Female Sexuality“. Übers. und eingel. v. Eli Zeretzky. In: Gender and Psychoanalysis 4 (1999) H. 2, S. 99 – 104, hier S. 102. 44 GW, Bd. 15, S. 123, vgl. auch S. 122, S. 128, S. 141 sowie Bd. 17, S. 115. 45 Vgl. z. B. GW, Bd. 14, S. 21. 46 Vgl. GW, Bd. 5, S. 36, S. 43 – 47, bes. FN1 sowie Bd. 10, S. 215 und Bd. 12, S. 299 f. 47 Vgl. GW, Bd. 5, S. 40, S. 121; Bd. 12, S. 224, S. 283; Bd. 13, S. 261; Bd. 14, S. 21, S. 26, S. 30; Bd. 15, S. 121, S. 124 f.; Bd. 16, S. 89; Bd. 17, S. 114 f.
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chischen Eigenschaften durch das anatomische Geschlecht ausging, hat Freud von Anbeginn widersprochen: „Der Ersatz des psychologischen Problems durch das anatomische ist ebenso müßig wie unberechtigt“48, heißt es in den Drei Abhandlungen, und in der Neuen Folge der Vorlesungen wird über das Vorhandensein von Ei- oder Samenzellen gesagt, man müsse „an der entscheidenden Bedeutung dieser Elemente irre werden und den Schluß ziehen, das, was die Männlichkeit oder die Weiblichkeit ausmache, sei ein unbekannter Charakter, den die Anatomie nicht erfassen kann“.49 Wenn Freud trotz seines Bewusstseins davon, wie zweifelhaft angesichts der „sozialen Ordnungen“, welche die Frau „in eine passive Situation drängen“, endgültige Aussagen über die Herkunft der Geschlechtscharaktere sind50, gleichzeitig meint, der anatomische Unterschied müsse sich „doch in psychischen Folgen ausprägen“51 und an einer häufig kritisierten Stelle proklamiert: „Die Anatomie ist das Schicksal“52, dann ist selbst dies nicht bloß eine Anpassung ans Vorurteil, sondern rührt von einem wirklichen theoretischen Problem her: Wie nämlich, wenn man eine völlige oder weitgehende Unabhängigkeit der psychischen Charaktere von der Anatomie annimmt, die Korrelationen zu erklären sind, welche unter den bestehenden Verhältnissen bei erwachsenen Menschen zwischen ihrem jeweiligen anatomischen Geschlecht und dem, was als psychische ,Männlichkeit‘ oder ,Weiblichkeit‘ firmiert, unzweifelhaft bestehen. Die Psychoanalyse geht nicht nur von einer konstitutionellen ,Bisexualität‘, sondern mehr noch, von einer „polymorph-perverse[n]“ Anlage aus, in welcher jede Art der Sexualbetätigung und geschlechtlichen Charakterformation als Möglichkeit enthalten ist.53 Sie steht deshalb vor der Schwierigkeit, erklären zu müssen, wie aus dem polymorph-perversen Kind, dessen Triebe nur locker unter dem Primat einzelner erogener Körperzonen wie des Mundes, des Anus und dann des Genitales stehen, eine Frau oder ein Mann wird, deren oder dessen Sexualtriebe, wie von der Gesellschaft gefordert, sich vereinheitlichen und in den Dienst der Fortpflanzung treten.54 In dieser Entwicklung, die bei Freud trotz einer relativ liberalen Haltung gegenüber den ,Perversionen‘ an vielen Stellen als Norm er48 49 50 51 52 53 54
GW, Bd. 5, S. 42. GW, Bd. 15, S. 122. Ebd., S. 123, vgl. auch S. 141. Ebd., S. 133. GW, Bd. 13, S. 400. GW, Bd. 5, S. 91 f., S. 136. Vgl. GW, Bd. 11, S. 334.
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scheint, spielt nun die Beschaffenheit des Genitales insofern eine Rolle, als sich die Differenzierung zwischen ,weiblich‘ und ,männlich‘ nach der These Freuds unter dem Einfluss des so genannten ,Kastrationskomplexes‘ vollzieht. Zunächst unterscheiden sich die Entwicklungen des Mädchens und des Jungen Freud zufolge kaum oder gar nicht. Die frühe Kindheit beider ist gekennzeichnet durch eine Reihe von Lustquellen, die sich dem Kind auftun, ihm nacheinander entzogen werden und fortan der permanenten Versagung unterliegen: das Saugen an der Brust der Mutter, die von den Eltern unkontrollierte Ausscheidung von Urin und Kot und die Beschäftigung mit den Exkrementen, das Spielen mit den Genitalien. Beide, das Mädchen wie der Junge, haben – unter den Bedingungen traditioneller familiärer Arbeitsteilung – ihr erstes Sexualobjekt in der Mutter, der sie, sobald die Genitalien unter den erogenen Körperzonen das Primat erlangen, durchaus genital gemeinte sexuelle Wünsche entgegenbringen. Beim kleinen Jungen entspricht dies der ,normalen‘ oder von Freud so bezeichneten ,positiven‘ Ödipuseinstellung, in welcher die Mutter die Geliebte und der Vater der gehasste Rivale ist, wobei daneben, weniger ausgeprägt, die sogenannte ,negative‘ oder ,invertierte‘ Ödipuseinstellung steht – die Liebe zum Vater bei einer eifersüchtig-feindseligen Einstellung gegen die Mutter.55 Beim kleinen Mädchen dagegen erfordert die Entwicklung zur heterosexuellen Frau einen Wechsel im Geschlecht des Liebesobjekts, weshalb die Konstellation, die beim Jungen als ,normal’ gilt, hier als ,negativer‘ Ödipuskomplex oder, häufiger, als ,präödipale‘ Mutterbindung bezeichnet wird.56 Freud fasst diesen Wechsel sogar als regelrechten Geschlechtswechsel des Mädchens auf, da das leitende Organ in der phallischen, vom Genital dominierten Phase die „dem männlichen Glied analoge Klitoris“ ist57, woraus er schließt, dass die Sexualbetätigung des kleinen Mädchens wie auch seine lebhafte Aktivität „männlich“ seien.58 Sehr deutlich wird dies in der Neuen Folge der Vorlesungen ausgesprochen: „Wir müssen nun anerkennen, das kleine Mädchen sei ein kleiner Mann.“59 Eine normale weibliche Entwicklung erfordert 55 Zum „positiven“ und „negativen“ Ödipuskomplex vgl. GW, Bd. 13, S. 261 f. und Bd. 14, S. 21. 56 Vgl. zur Begrifflichkeit GW, Bd. 14, S. 518. 57 Ebd. S. 520. Vgl. auch GW, Bd. 5, S. 121 f.; Bd. 7, S. 179; Bd. 8, S. 452; Bd. 11, S. 328; Bd. 15, S. 126; Bd. 17, S. 76. 58 GW, Bd. 7, S. 179. 59 GW, Bd. 15, S. 125 f.
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laut Freud die „Hinwegräumung dieser männlichen Sexualität“60 einschließlich der vollständigen Aufgabe der sexuellen Erregbarkeit der Klitoris und die restlose Abgabe ihrer Rolle an die ,passive‘ und daher eigentlich ,weibliche‘ Vagina61 – obwohl er sich, wie man zu seiner Ehrenrettung sagen muss, über den letzteren Punkt, die angebliche Notwendigkeit des psychischen Verschwindens der Klitoris, unsicher gewesen zu sein scheint.62 Die Festlegung der Vateridentifikation des kleinen Jungen – nicht der einzig mögliche, aber der typische Ausgang seiner Ödipussituation – wird Freud zufolge durch das Zusammenkommen zweier Faktoren bewerkstelligt: der Drohung, bei fortgesetzter Beschäftigung mit dem Penis werde man ihm diesen wegnehmen, und des Vergleichs seiner Genitalien mit denen von Frauen und Mädchen, der den Jungen nach schweren inneren Kämpfen zu dem Schluss führt, die Kastrationsdrohung sei glaubhaft, und ihn zur Aufgabe seiner manifest sexuellen Bemühungen um die Eltern und der Introjektion der übermächtigen gesellschaftlich-moralischen, durch den Vater repräsentierten Autorität bewegt, wodurch die kastrierende Instanz als Über-Ich dauerhaft in seiner Psyche installiert wird.63 Derselbe Vergleich der 60 GW, Bd. 7, S. 179. 61 Solange sie nicht psychisch stillgestellt sind, verhalten sich alle sexuell erregbaren Körperzonen, die Vagina, der Penis und was es sonst noch gibt, ebenso aktiv wie passiv, oder genauer: Lust gebend und empfangend, weshalb die Rede von der psychischen ,Männlichkeit‘ des phallischen kleinen Mädchens und übrigens auch des kleinen Jungen wenig Sinn ergibt. Was den Jungen, psychoanalytisch gesehen, zum Mann macht, ist nicht sein Penis als solcher, sondern eine spezifische Reaktion auf die vom Vater repräsentierte Kastrationsdrohung (s.u.). 62 Vgl. GW, Bd. 5, S. 122 f., S. 136; Bd. 7, S. 179; Bd. 11, S. 328; Bd. 14, S. 26 f., S. 517, S. 521; Bd. 15, S. 126 f. sowie Freud: „Unpublished Letter“. 63 Dass die gesellschaftliche Autorität in den heutigen westlichen Gesellschaften nicht mehr im gleichen Maße durch den Vater verkörpert wird, wie es im Österreich des frühen zwanzigsten Jahrhunderts der Fall war, und die Kastrationsdrohung seit der Liberalisierung der Erziehungspraxis nur noch selten ausgesprochen wird, besagt nichts gegen Freud, sondern lässt Schlüsse auf Veränderungen in der geschlechtlichen Bestimmtheit der Individuen zu. Diese Veränderungen sind schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts von Herbert Marcuse, Alexander Mitscherlich und anderen konstatiert und beschrieben worden, vgl. Herbert Marcuse: „Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud“. In: ders.: Schriften. Bd. 5. Frankfurt/M. 1979 [amerikanische Originalausgabe 1955], S. 86 – 94; Alexander Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie [1963]. Mit einem Vorwort v. Micha Brumlik. Weinheim, Basel, Berlin 2003. Kei-
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Genitalien ist Freud zufolge auch für das Mädchen bestimmend: Von Neid auf das größere, nach außen sichtbare Genitale des Jungen erfasst und seiner eigenen Vagina noch nicht gewahr, nimmt das Mädchen der Mutter übel, dass sie ihm „kein richtiges Genitale mitgegeben, d. h. es als Weib geboren hat“64, und wendet sich, in seinem kindlichen Narzissmus gekränkt, enttäuscht von ihr ab. Hiermit setzt der schwierige Übergang zur ,femininen‘, durch Passivität gekennzeichneten Einstellung ein, der sich in seiner ausgeprägtesten Variante als „allgemeine Abwendung von der Sexualität“ darstellt: „Das kleine Weib, durch den Vergleich mit dem Knaben geschreckt, wird mit seiner Klitoris unzufrieden, verzichtet auf seine phallische Betätigung und damit auf die Sexualität überhaupt wie auf ein gutes Stück seiner Männlichkeit auf anderen Gebieten.“65 Häufig jedoch weigert sich das Mädchen, seine „bedrohte Männlichkeit“ aufzugeben, hält über die Pubertät hinaus an seinem Peniswunsch fest und „die Phantasie, trotz alledem ein Mann zu sein“, bleibt für sein weiteres Leben bestimmend.66 Nur eine komplizierte, nach Freud „recht umwegige“ Entwicklung führt das Mädchen in die „normale weibliche Endgestaltung“, die „den Vater als Objekt nimmt und so die weibliche Form des Ödipuskomplexes findet“67, in welcher an die Stelle des Peniswunsches der Wunsch nach einem Kind tritt. Hier spätestens sind einige Fragen angebracht, denn es ist zunächst nicht klar, warum die Beschaffenheit seines Genitales für das kleine Mädchen eine solche Katastrophe bedeutet – schließlich beneidet üblicherweise auch der kleine Junge das größere Genitale des Vaters, ohne deshalb das Gefühl zu haben, selbst kein richtiges zu besitzen. Man könnte sogar annehmen, dass für das Mädchen, das schließlich der Kastrationsdrohung nicht unterliegt, sein Genitale ein Gegenstand des
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neswegs aber ist die Kastrationsdrohung als psychischer Faktor verschwunden, nur weil sie von den Eltern nicht mehr ausgesprochen wird: „The actual threat can be absent, but the idea of it still there.“ (Mitchell: Psychoanalysis, S. 74) Was die Identifikation angeht, so hat bereits Freud darauf hingewiesen, dass sie sich aufgrund des „doppelsinnigen“„vollständigen Ödipuskomplexes“ in Wirklichkeit auf viel kompliziertere Weise vollziehen muss, so dass das Ichideal später „zwei Identifizierungen [enthält], die irgendwie miteinander vereinbart werden“. GW, Bd. 13, S. 262. Vgl. auch ebd., S. 259 sowie Bd. 14, S. 21, S. 29. GW, Bd. 14, S. 527. Ebd., S. 522. Ebd. Ebd.
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Stolzes bleibt. Die Rede von der ,bedrohten Männlichkeit‘ allerdings legt nahe, dass es mit der von Freud selbst vertretenen Ansicht, die Kastrationsdrohung gehe am Mädchen vorbei68, so weit nicht her ist. Hierfür spricht auch noch etwas anderes. Was an Freuds Ausführungen zum „Kastrationskomplex“ am meisten auffällt, ist, dass sie, obwohl sie zunächst die Meinung des kleinen Jungen, das Mädchen sei verstümmelt, als den infantilen Irrglauben behandeln, der er ist69, an vielen Stellen den Eindruck erwecken, es handle sich bei der dem Knaben angedrohten und am Mädchen vollzogenen Kastration nicht um eine Einbildung, sondern um eine Tatsache.70 Dies geht so weit, dass Freud in einer Schrift aus dem Nachlass die Weigerung eines Knaben, die Kastrationsdrohung ernst zu nehmen, als „Abwendung von der Realität“ bezeichnet und einer Psychose gleichsetzt71, als ob nicht gerade das Gegenteil der Fall wäre. Der Übergang zur Weiblichkeit führt nach Freud dementsprechend über „die Annahme“, d. h. die Akzeptanz „der Kastration“.72 Nur wenige Psychoanalytiker haben sich gefragt, warum das weibliche Genitale eigentlich als kastriertes erscheint: Der brillante, völlig zu Unrecht fast vergessene Claude D. Daly, der den kulturell tief verankerten Horror vor der Vulva zu erklären versuchte73, steht mit seinen anthropologischen Spekulationen ziemlich allein. Seitens feministischer Kritikerinnen ist Freuds Sprachgebrauch meist skandalisiert, aber nicht enträtselt worden. Zieht man noch einmal in Erwägung, dass das kleine Mädchen, selbst nach Maßgabe der Gleichung Penislosigkeit = Kastration, Freud zufolge keineswegs kastriert ist, sondern ein phallisches Genitale besitzt, und dass es, um seiner künftigen Funktion als Frau gerecht zu werden, auf dieses Genitale wie auch auf seine „Männlichkeit“, das heißt auf seine Aktivität, auf einen guten Teil seines Sexualstrebens, auf seine intellektuelle Unerschrockenheit74 und 68 Vgl. ebd. S. 153; GW, Bd. 15, S. 94; Bd. 13, S. 400 f. 69 Vgl. GW, Bd. 7, S. 179; Bd. 13, S. 297; Bd. 14, S. 24; Bd. 17, S. 61. 70 Vgl. GW, Bd. 13, S. 296, S. 336 – 339, S. 398, S. 400; Bd. 14, S. 24, S. 27 – 29, S. 137, S. 153, S. 522, S. 525 – 527; Bd. 15, S. 135; Bd. 17, S. 48, S. 60 f. 71 Vgl. ebd., S. 61. 72 Vgl. GW, Bd. 16, S. 97. 73 Vgl. Claude D. Daly: „Hindu-Mythologie und Kastrationskomplex“. In: Imago 13 (1927) H. 2/3, S. 145 – 198, ders.: „Der Menstruationskomplex“. In: Imago 14 (1928) H. 1, S. 11 – 75 sowie zahlreiche weitere Schriften. Für einen Überblick siehe Mary Jane Lupton: „Claude Dagmar Daly. Notes on the Menstruation Complex“. In: American Imago 46 (1989) H. 1, S. 1 – 20. 74 Vgl. GW, Bd. 7, S. 162.
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vielleicht sogar seine spätere Fähigkeit zur Wollust als einer „masculine response“75 verzichten soll, so muss man sagen, dass die Rede von der „Annahme der Kastration“ nicht so abwegig ist, wie sie zuerst scheint. Denn tatsächlich stellt sich dieser Übergang als eine Kastration im Sinne einer erzwungenen Aufgabe und psychischen Entfunktionalisierung des Genitales dar76, so dass sich das kleine Mädchen, an sich kein kastriertes Wesen, genötigt sieht, ein solches zu werden. Kein Wunder, dass sich hierbei, wie Freud schreibt, „die Konstitution […] nicht ohne Sträuben in die Funktion fügen“ will und dass auch dann, wenn das Mädchen unter drohendem Verlust der Liebe seiner Eltern seine Kastriertheit anerkennt, „die Entfaltung der Weiblichkeit der Störung durch die Resterscheinungen der männlichen Vorzeit ausgesetzt bleibt“.77 Freud wusste und hat deutlich ausgesprochen, dass „der Libido mehr Zwang angetan wurde, wenn sie in den Dienst der weiblichen Funktion gepreßt ist“78, und diese Erkenntnis befähigte ihn sowohl zur Einfühlsamkeit gegenüber seinen Patientinnen, denen er keineswegs vorschrieb, was sie mit ihren in der Analyse ans Tageslicht getretenen Wünschen anzufangen hätten, wie auch zu einer aufgeschlossenen Haltung gegenüber Frauen, die sich für das Studium und die aktive Ausübung der Psychoanalyse interessierten. Seine Schuld liegt darin, trotz allem gegen die Libido und für die Kastration Partei ergriffen zu haben, indem er die „weibliche Funktion“, die er, wenn auch zögernd, mit der Autorität einer von der Natur vorgesehenen biologischen Bestimmung versah79, zur gesunden Norm erklärte, an welcher die Neurotikerinnen, welche sich nicht mit ihr anfreunden konnten, gescheitert seien. Dies alles ist für die psychoanalytische Biographik, soweit sie sich von Freud nicht gänzlich verabschieden will, unmittelbar relevant, denn sie zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie „die sexuelle Betätigung, 75 Vgl. Freud: „Unpublished Letter“, S. 102. 76 An einer Stelle wird „die Kastration“ von Freud ausdrücklich als „das Aufgeben des eigenen männlichen Genitales“ definiert und zur Bedingung jeder Liebe zum Vater, auch der des kleinen Jungen, erklärt. Vgl. GW, Bd. 13, S. 336 sowie Bd. 7, S. 246; Bd. 13, S. 337 – 339; Bd. 16, S. 97 und Bd. 17, S. 121. 77 GW, Bd. 15, S. 124, S. 140. 78 Ebd., S. 141. 79 Vgl. ebd., S. 127, S. 141; Bd. 14, S. 533. Freud selbst ist es hierbei offenbar unbehaglich, sonst würde er nicht gleichzeitig zugestehen, wie schwer es sei „auseinanderzuhalten, was dem Einfluss der Sexualfunktion und was der sozialen Züchtung zuzuschreiben ist“. Bd. 15, S. 141. Vgl. auch Bd. 14, S. 536.
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die geschlechtliche Eigenart des Untersuchten“ nicht „mit Stillschweigen übergehen“ kann und will, sondern die Besonderheiten des jeweiligen Werks, worin auch immer es bestehe, durch die individuell verschiedene Bewältigung oder Nichtbewältigung der Ödipussituation und die daraus sich ergebenden Konflikte zu erklären versucht. Die psychoanalytische Biographik gr ndet sich auf Annahmen, denen – und dies zu zeigen bezweckte die relativ ausführliche Darstellung – das Freudsche Gefühl, „von lauter Fraglichem, Unbekanntem umgeben zu sein“, angemessener ist als ein falscher Triumphalismus. Das gilt für Männer- und für Frauenbiographien gleichermaßen; die Frauenbiographik steht jedoch vor der besonderen Schwierigkeit, dass die Frauen, mit denen sie es zu tun hat, als bildende Künstlerinnen, Schriftstellerinnen oder sonst an exponierter Stelle tätige Individuen stets von der Norm der passiven ,Weiblichkeit‘ abweichen und sich, statt den ihnen von der Gesellschaft im Namen der ,Biologie‘ auferlegten Funktionen nachzukommen, auf ,männliche‘ Verhaltensweisen verlegt haben, die sie für eine Biographie überhaupt erst interessant werden lassen. Die psychoanalytische Frauenbiographik befasst sich demnach durchgehend mit solchen Frauen, die nach Freuds Theorie die ,normale‘ Entwicklung verfehlt, sich der ,Annahme der Kastration‘ verweigert und spätestens in der Pubertät ihren ,Männlichkeitskomplex‘ wiederbelebt haben – oder, anders gewendet, deren Individualität einiges von der ursprünglich ,bisexuellen‘ und womöglich sogar der ,polymorph-perversen‘ Anlage vor der gesellschaftlichen, mittels elterlicher Autorität durchgesetzten Versagung bewahrt hat, sei es in bewusster oder neurotischer Form. Hierauf können Biographinnen und Biographen sehr verschieden reagieren, und dies soll im Folgenden gezeigt werden. Helene Deutsch: „Beim Weibe müssen die weiblichen Anteile vorherrschen“ Eine der frühesten und meistzitierten psychoanalytischen Frauenbiographien ist Helene Deutschs Studie Ein Frauenschicksal. George Sand, ein Essay, der 1928 in der Zeitschrift Imago erschien. Neben Ruth Mack Brunswick, Jeanne Lampl de Groot, Lou Andreas-Salomé, Karen Horney, Otto Fenichel, Ernest Jones und Karl Abraham gehört Deutsch zu jenen psychoanalytischen Theoretikerinnen, die entscheidend zur Diskussion der Geschlechterdifferenz beigetragen haben; ihre noch immer lesenswerte Schrift Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen
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von 1925 enthält manches, was zu diesem Zeitpunkt unbekannt war.80 Der Essay über George Sand ist schon deshalb aufschlussreich, weil seine Veröffentlichung mitten in die Hochphase dieser Diskussion fällt, in eine Zeit also, in der die Freud’sche Theorie der weiblichen Sexualität nur ein besonders prominenter von verschiedenen Beiträgen zur Debatte war. Obwohl es sich ursprünglich um einen Vortrag vor einem Laienpublikum handelte, tritt Ein Frauenschicksal mit einem theoretischen Anspruch auf, der durch die Publikation in der Imago wie auch durch das ungewöhnliche Verhältnis von Titel und Untertitel unterstrichen wird. Wenn oben gesagt wurde, dass sich die psychoanalytische Kunsttheorie für Kunst als solche wenig interessiere, so gilt dies im vollen Ausmaß für diese Studie. Ihr Beginn ist von einer bestürzenden Rohheit: George Sands aus der Mode gekommene Schriften seien, so Deutsch, „bereits dem Tode geweiht“, wohingegen ihr „persönliches Schicksal“ dank der Psychoanalyse Aussicht habe, als Beispiel für „die typischen Schicksale des weiblichen Seelenlebens“ Unsterblichkeit zu erlangen.81 Hieraus spricht eine bemerkenswerte Geringschätzung für Sand als Schriftstellerin, die trotz der Anerkennung ihrer „fast genial zu nennenden“ psychologischen Begabung82 im gesamten Text spürbar bleibt. Sie gründet sich, wie sich zeigt, nicht zuletzt darauf, dass Sands Belletristik anders als ihre theoretischen Schriften und mehr als die Werke ihrer männlichen Schriftstellerkollegen nicht „auf der Höhe ihres ,männlichen‘ Denkvermögens“, sondern aus der „Tiefe des Unbewußten“ heraus entstanden sein soll, in einem ursprünglichen und schicksalshaften „Dämmerzustand“, dem unterworfen zu sein Deutsch für spezifisch weiblich hält: Die Frau – das Weib par excellence – unterliegt eben dort, wo sie sich vom Manne unterscheidet, dem ,Geheimnis‘ ihrer weiblichen Seele: sie agiert und reagiert aus der dunklen, geheimnisvollen Tiefe ihres Unbewußten, also affektiv, intuitiv, rätselhaft. Das Gesagte ist natürlich kein Werturteil, es ist die Feststellung einer Tatsache.83
80 Vgl. Helene Deutsch: Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen. Leipzig, Wien, Zürich 1925 (= Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse, Bd. 5). 81 Helene Deutsch: „Ein Frauenschicksal. George Sand. Öffentlicher Vortrag, gehalten am 16. März 1928 im Großen Saal des Ingenieur- und Architektenvereines in Wien“. In: Imago 14 (1928) H. 2/3, S. 334 – 357, hier S. 334. 82 Vgl. ebd., S. 338, siehe auch S. 336. 83 Ebd., S. 335, vgl. S. 337 – 339.
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Hierin, in der Zuordnung der ,Weiblichkeit‘ zum rätselhaften Unbewussten, folgt Deutsch der damals einflussreichen Geschlechtertheorie Otto Weiningers84, nicht der Freuds; wenn irgendetwas bei Freud, der das Vorhandensein unbewusster psychischer Vorgänge für universell und geschlechtsunspezifisch hielt, dieser Vorstellung überhaupt nahe kommt, dann allenfalls die These, dass ,Weiblichkeit‘, da sie auf einer umfassenderen Sexualverdrängung beruht als ,Männlichkeit‘, tendenziell ein neurotischer Zustand sei.85 Auch die Bisexualitätsthese, an der Deutsch in ihrer 1933 publizierten Rezension der Neuen Folge der Vorlesungen ausdrücklich gegen die von Freud ausgesprochenen Zweifel am Sinn der Gleichsetzung von ,aktiv‘ und ,männlich‘, ,passiv‘ und ,weiblich‘ festhält86, ist in ihrer Fassung deutlich von Weininger beeinflusst87: Deutsch zufolge sind die „gegengeschlechtlichen“ Eigenschaften, die sich in jedem Individuum finden, Reste einer „gemeinsamen Ureinheit“, die sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte ausdifferenziert habe, wobei stets die dem anatomischen Geschlecht jeweils entsprechenden Eigenschaften überwiegen, oder vielmehr – und hier stellt Deutsch eine Norm auf – überwiegen sollten: „Beim Weibe müssen die weiblichen Anteile vorherrschen, beim Manne die männlichen. Wird die Harmonie der männlichen und weiblichen Tendenzen in einem Individuum gestört, so entsteht ein innerer Konflikt.“88 Ein Frauenschicksal ist der Versuch, diese These an George Sand zu explizieren und sie – keine leichte Aufgabe – mit den Hauptthesen der Psychoanalyse in Einklang zu bringen. Deutsch führt Sand als Beispiel dafür an, wie sich aus einem „gestörten“ Verhältnis zwischen den Geschlechtscharakteren in einem Individuum „besonders für die Frau die Schicksalstragödie“ ergebe, weil die vermeintliche Störung anders als beim verstandgesteuerten und realitätstüchtigen, deshalb zur „Sublimierung“, d. h. zur Triebverschiebung auf geistige und gesellschaftliche Ziele eher fähigen Mann zwangsläufig zu der Unfähigkeit führe, „ein befriedigendes, glück84 Vgl. Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung [1903]. Wien 1947, S. 84. 85 Vgl. GW, Bd. 7, S. 154, S. 240. 86 Helene Deutsch: „Über die Weiblichkeit“. In: Imago 19 (1933) H. 4, S. 518 – 528. 87 Weininger übernahm die Bisexualitätsthese von Freud selbst, der sie seinerseits seinem Freund Wilhelm Fließ entlehnt hatte. Vgl. hierzu David Abrahamsen: The Mind and Death of a Genius. New York 1946, S. 43 – 45, S. 54 f. 88 Deutsch: „Ein Frauenschicksal“, S. 335.
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bringendes Verhältnis zum anderen Geschlecht herzustellen“.89 Damit verneint sie die verbreiteten Vorstellungen von Sand als Mann im Frauenkörper oder als Inkarnation einer geglückten Vereinigung beider Geschlechter in einem Individuum – und widerspricht damit auch Weininger, der Sand schlicht unter die Frauen mit „männlichen“ Zügen einreiht.90 Was sie zu zeigen versucht, ist, dass die ,Männlichkeit‘, für die George Sand ebenso berühmt war wie für ihre Schriften, die „Tragödie einer Frauenseele“ gewesen sei – teils das „Produkt eines mißlungenen Ringens um die weibliche Glückserfüllung […], ein Rettungsanker, dort wo die Weiblichkeit versagte“, teils ein Hindernis, das dem vorgezeichneten „weiblichen Entwicklungsweg“ störend entgegentrat.91 Sands in jeder Hinsicht unkonventionelle Lebensgeschichte hat unter diesem Gesichtspunkt nichts Glanzvolles mehr an sich, das man bewundern, beneiden oder nachahmen könnte, sondern stellt sich als ein einziges Scheitern dar – als das Herumirren eines „weiblichen Ahasverus“, der an der Weiblichkeit versagt und in ungestillter Sehnsucht nach dem Glück keine Ruhe findet.92 Die Liebesverhältnisse Sands mit ,weiblichen‘ Männern wie Frédéric Chopin oder Alfred de Musset, die nach Weininger als selbstverständliche Ergänzungswahlen interpretiert werden müssten93, erscheinen bei Deutsch im Licht der Katastrophe, als Wegmarken eines Verhängnisses, welches die Männer wie auch Sands eigene Weiblichkeit zugrunde richtete.94 Man kann diese These zu abgeschmackt finden, um sie weiter zu diskutieren; ein Urteil darüber sei jedoch zunächst zurückgestellt. Deutsch unternimmt es, sie psychoanalytisch zu begründen, indem sie die Belletristik Sands, die wohl tatsächlich in einer Art Trancezustand entstand, als Manifestation der unbewussten Persönlichkeitsteile der Schriftstellerin deutet und mit den autobiographischen Schriften vergleicht, wobei sich die Romanheldinnen jeweils als Alter Ego der autobiographischen Erzählerin entpuppen, nach dem Muster: „[S]o war es bewußt – dort, so war es tiefer im Unbewußten – hier.“95 Dabei zieht sie psychoanalytische Thesen zurate wie die, 89 90 91 92 93 94 95
Ebd., S. 353. Vgl. Weininger: Geschlecht und Charakter, S. 53 f. Deutsch: „Ein Frauenschicksal“, S. 336. Ebd. Vgl. Weininger: Geschlecht und Charakter, S. 21 – 40. Vgl. Deutsch: „Ein Frauenschicksal“, S. 336 f. Ebd., S. 339.
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daß das kleine Mädchen ihre normale Entwicklung zum Weibe in der Weise vollzieht, daß sie in ihren ersten, dunklen Liebesansprüchen an den Vater die Mutter […] haßt und sich trotzdem gerne mit der Mutter identifiziert, d. h. ihr ähnlich zu sein trachtet, um vom Vater wie sie geliebt zu werden.96
Wenn man bedenkt, dass die präödipale Mutterbeziehung zu diesem Zeitpunkt unter Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern diskutiert wurde und dass Deutsch schon 1925 davon sprach, dass die Tendenzen der phallischen Phase beim Mädchen „vollkommen männlich gerichtet“ seien97, wirkt der theoretische Rahmen der Sand-Studie, in welchem „jedes normale kleine Mädchen“ ein „kleines Weibchen“ ist98, extrem starr und konservativ, selbst für einen vor Laien gehaltenen Vortrag. Die Annahme einer unmittelbaren Offenlegung des Unbewussten in der künstlerischen Produktion ist sogar beinahe voranalytisch, denn schon in der Traumdeutung ist der Traum keineswegs das unverstellte Unbewusste selbst, sondern bereits Ergebnis eines Zensurprozesses durch das Ich. Dennoch – lässt man all dies beiseite, ist das Bild von Sand, das Deutsch aus der Analyse der Romane und autobiographischen Schriften gewinnt, trotz aller Fragwürdigkeiten nicht ganz unplausibel. Die psychische Entwicklung Aurore Dupins – so lautet George Sands Mädchenname – soll Deutsch zufolge durch einen permanenten Konflikt zwischen der hocharistokratischen, ahnenstolzen Großmutter und der plebejischen Mutter bestimmt gewesen sein, die einander in Konkurrenz um den meist abwesenden Vater der kleinen Aurore und dann um die Liebe des Töchterchens erbittert bekämpften. Von beiden Frauen gegen die jeweils andere ausgespielt, ist Aurore unfähig, sich mit einer von beiden bruchlos zu identifizieren: Die Identifikation mit der sexuell freizügigen Mutter ist nicht ohne den Hass auf die aristokratische Atmosphäre um die Großmutter, die Identifikation mit der gefühlsbeherrschten, intellektuell überlegenen Großmutter, die sie ihren Sohn nennt und aus ihr das Ebenbild des Vaters machen will, nicht ohne die Verachtung der Mutter zu haben. Aurore bleibt ohne eindeutiges mütterliches Ideal. Die Situation eskaliert, als die Mutter beschließt, ihre Familie zu verlassen, um in Paris zu leben, und von der Großmutter vor Aurore „zur Dirne erniedrigt“ wird. Die Antwort der zehnjährigen Aurore hierauf ist eine „Flucht ins Männli96 Ebd, S. 342. 97 Deutsch: Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen, S. 10. 98 Deutsch: „Ein Frauenschicksal“, S. 341.
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che“: Sie identifiziert sich mit ihrem Vater und „verwandelt sich zu einem bösartigen, undisziplinierten, wilden Knaben“.99 Dies ermöglicht ihr zum einen, Rache an ihrer Umgebung zu nehmen und zum anderen, wie die Großmutter es fordert, ihre „männlichen“ geistigen Fähigkeiten auszubilden. Deutsch bringt diese Wendung, die sich ihrer Interpretation nach in Sands Leben später immer wiederholt, auf die Formel: „Reaktion auf enttäuschte Weiblichkeit“100 – was mehr über ihre theoretischen Schemata aussagt als über Sand, denn es erscheint recht weit hergeholt, den Schmerz über den Verlust der Mutter für etwas spezifisch Weibliches zu halten. Sands Vateridentifikation, die sich durch dieses Ereignis befestigte, geht nach Deutsch in die frühere Kindheit zurück und manifestiert sich bereits in den Kriegsspielen der kleinen Aurore, mit denen sie den Vater, der als Soldat nur selten nach Hause kommt, durch Verwandlung in einen Teil ihres Ichs für dieses zu retten versucht. Auch hier ist das Wesentliche für Deutsch der rein negative Charakter von Sands „Männlichkeit“: Da sie nichts als eine Reaktion auf eine Reihe von Versagungen ist, erschöpft sie sich in sadistischen Akten. Durch eine „tragische Verquickung der Ereignisse“ wird Aurores Fähigkeit zur Identifikation mit der Mutter weiter beschädigt: Als ein neugeborenes Brüderchen stirbt und beide, die knapp vierjährige Aurore und ihre Mutter, mit Schuldgefühlen zurücklässt, gewinnt die Beziehung zwischen beiden den Charakter einer Komplizenschaft in „einer zwar unbegangenen, doch das Unbewußte belastenden Tat“.101 Der kurz darauf folgende Tod des Vaters, der ähnlich ambivalente Gefühle hervorruft, verstärkt dieses „unheilvolle Band“.102 Im Alter von zwölf Jahren erschafft sich Aurore, von der Mutter verlassen, den Vater neu in Gestalt eines Privatgotts, Corambé, der sie fortan durch ihr Leben begleitet. Corambé wird zu einem fortdauernden Hindernis für ein erfülltes weibliches Liebesleben. George Sand kann auch als Erwachsene Deutsch zufolge einen Mann nur so lieben wie eine intellektuelle Mutter ihren Sohn. Was sie wirklich sucht, ist „die Liebe des großen, starken, göttlichen Vaters“, der aber „in der Verdrängung und in der religiösen Sublimierung“ bleibt: „Inbrünstig sich nach Weiblichkeit sehnend, musste sie immer, von neuem als Weib enttäuscht, zum 99 100 101 102
Ebd., S. 344 f. Ebd., S. 345. Vgl. ebd., S. 351. Ebd.
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Manne werden.“103 Wenn diese psychische Konstellation George Sand „zu einem großen Geiste der Weltgeschichte machte“, geschah dies doch „auf Kosten ihres weiblichen Glücks“.104 Dieses finden nur die Phantasiegestalten in ihren Romanen, den Produkten ihrer wunscherfüllenden Phantasie. Weit unnachsichtiger als Freud stellt sich Deutsch damit dem Ausscheren aus der konventionellen Geschlechterrolle, für das George Sand exemplarisch steht, entgegen; jedes Unglück, das aus dem Konflikt zwischen der psychischen Konstitution der Einzelnen und der von der Gesellschaft wie von potenziellen Sexualpartnern erwarteten ,Weiblichkeit‘ erwächst, schreibt sie auf das Konto der Ersteren. Während Freuds Verhältnis zur gesellschaftlichen Norm zweideutig ist – die Inhumanität der „Bekenner des ,Normalmenschen‘“ war ihm zuwider105 – tritt seine Schülerin Deutsch als Verteidigerin der Norm gegen eine sich bereits abzeichnende Auflösung auf: In ihrer Psychology of Women (1944/45 im amerikanischen Exil publiziert) radikalisiert sie, in Übereinstimmung mit dieser Tendenz, Freuds Auffassung von der Notwendigkeit der Aufgabe der Klitoris, indem sie die Unsicherheiten in der Theorie ausräumt und die Möglichkeit einer gemeinsamen Erregung von Vagina und Klitoris ausschließt.106 Nicht die Flucht, die George Sand unternahm, sondern nur ein Einlenken in den „weiblichen Entwicklungsweg“ ermöglicht einer Frau ein befriedigendes Sexualleben, lautet die unmissverständliche Botschaft an Leserinnen und Zuhörerinnen; daran, dass diese damit wirklich besser fahren als Sand, scheint Deutsch nicht zu zweifeln. Dabei ist das, was Deutsch als ,Weiblichkeit‘ empfiehlt, zum Fürchten: Über die Angstträume der kleinen Aurore, dass ein ihr geschenkter Polichinelle, ein „Wurstl in rotgoldener Kleidung“ sie und ihre Puppe mit Feuer vom Ofen verfolge, sagt sie: „Und dieser rotgoldene Wurstl, der sie feuersprühend und angsterregend bedrängte, ich glaube, er war der einzige Mann ihres Lebens, demgegenüber George Sand vollkommen weiblich empfand.“107 Das ,weibliche‘ Empfinden reduziert sich damit auf das angstund zugleich sehnsuchtsvolle Erwarten der „aktiven Tat“108 des Man103 104 105 106
Ebd., S. 356 f. Ebd., S. 357. Vgl. GW, Bd. 7, S. 372. Vgl. Helene Deutsch: Psychology of Women. A Psychoanalytic Interpretation. Vorw. v. Stanley Cobb. Bd. 1. London 1946, S. 183 f. 107 Deutsch: „Ein Frauenschicksal“, S. 349. 108 Ebd., S. 345.
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nes, einer empfundenen oder realen Vergewaltigung109, die für Deutsch am „aktiven Organ“ und damit an den „anatomischen Gegebenheiten“110 zu hängen scheint. Wenn Deutsch schließlich Sand für ihre Meinung rügt, man überschätze die Bedeutung der anatomischen Geschlechtsunterschiede, und die Diagnose trifft, die Verschmähung des „weiblichen Masochismus“111 habe bei Sand – da Frauen aufgrund ihrer „Organlosigkeit“112 zu einer produktiven Umsetzung aggressiver Strebungen im Sexualleben „die anatomischen Mittel fehlen“ – nur dazu führen können, dass sie Männern „Böses tat“ und „von einem Teil der Umwelt mit Fluch belegt wurde“113 – dann ist dies nicht nur ein Anschlag auf jeden Versuch, aus der verordneten Passivität auszubrechen; Deutsch verkennt auch die Größe von Sands Einsicht und ignoriert gerade einige der avanciertesten Thesen Freuds. Natürlich dachte Deutsch, die am Ende des Vortrags, an ihr weibliches Publikum gerichtet, mit Blick auf Sand ausruft: „Wir haben Besseres zu tun!“114, nicht daran, sich selbst der von ihr aufgestellten Norm zu unterwerfen. Ihr theoretischer Konservatismus mag der Preis gewesen sein, den sie dafür zahlte, als Psychoanalytikerin die konventionelle Frauenrolle zu verlassen, und manche der unglücklichen Erfahrungen, die sie George Sand zuschreibt, mögen ihre eigenen gewesen sein. John Cody: „She denies the lack of a penis“ Helene Deutschs Haltung ist sicherlich im Vergleich zu der anderer Psychoanalytikerinnen extrem. Dennoch ist die Vorstellung, dass sich Neurosen und anderes Unglück aus einem Scheitern des Individuums an der Norm ergeben – und nicht etwa aus der Unvereinbarkeit der Norm mit den individuellen Dispositionen – trotz aller Unentschiedenheiten bei Freud vorgeprägt, und sie findet sich in vielen psychoanalytischen Frauenbiographien. John Codys Studie über Emily 109 Über Aurores Ängste vor dem Polichinelle heißt es: „Im Kasten neben ihrer geliebten Puppe, ihrem kleinen Töchterchen, darf er nicht eingesperrt werden. Sie ahnt für das kleine Weibchen etwas Schreckliches, Unheimliches aus dem TÞte- -tÞte mit dem Wurstl.“ Ebd., S. 348. 110 Deutsch: „Über die Weiblichkeit“, S. 524. 111 Ebd., S. 525. 112 Ebd., S. 519. 113 Deutsch: „Ein Frauenschicksal“, S. 345 f. 114 Ebd., S. 357.
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Dickinson von 1971, After Great Pain, ist eine außerordentlich sensible Arbeit, die erhellende Interpretationen von Dickinsons Gedichten enthält und manche Unzulänglichkeiten der früheren psychoanalytischen Biographik überwindet: So geht sie auf Einwände gegen die psychoanalytische Gleichsetzung von lyrischem Ich und AutorinnenIch ein, stellt die Individuen in ein komplexes Beziehungsgeflecht und weist ihr umfangreiches Quellenmaterial minuziös aus. Cody ist es darum zu tun, gegen die apologetische Erklärung, Dickinson sei stets ,gesund‘ gewesen – er hebt hervor, wie sehr diese Sicht dem Bedürfnis der Mutter entsprang, ihre Tochter posthum vor einem Publikum, das nichts von ihr wusste, zu schützen – das Leid zu betonen, von dem Dickinsons Gedichte sprechen, und damit Dickinson und ihre Sperrigkeit und Exzentrizität vor den Glättungsbestrebungen und Rationalisierungen ihrer Apologetinnen und Apologeten zu retten. Er legt ein schweres Gewicht auf den Zwang der familiären und gesellschaftlichen Regeln im Neuengland des 19. Jahrhunderts, denen Emily Dickinson gegenüber stand, und führt eindringlich vor, dass die Psychose, durch die sie seiner recht überzeugenden Argumentation zufolge vor dem Beginn ihrer produktiven Phase als Lyrikerin ging, nichts mit irgendeinem Fehler oder Mangel ihrerseits zu tun hatte, sondern den Ausbruch einer Krise darstellte, in die ihre fragile, durch eine unsichere Geschlechtsidentität und die Vermeidung entfalteter Sexualität geprägte Lösung der ödipalen Konflikte geriet. Die Abneigung Dickinsons gegen die ihr vorgegebene Frauenrolle, ihr Unwille, sich mit einer unterwürfigen, als lieblos empfundenen Mutter zu identifizieren, ihre bewusste Identifikation mit dem einschüchternden Vater sowie mit weiblichen Autorinnen und ihr äußerst kompliziertes, durch Identifikation, wechselseitige Suche nach elterlichem Schutz, Neid und inzestuöse Wünsche geprägtes Verhältnis zu ihrem Bruder Austin und dessen Verlobter Sue – all dies erscheint bei Cody zunächst als überaus nachvollziehbar und, gerade weil es zusammen mit der Begrenztheit der Dickinson gegebenen Möglichkeiten in eine tiefe psychische Krise führte, als Voraussetzung ihrer Poesie. Die Humanität Codys ist unübersehbar; über Dickinsons Psychose, der er sich durch die Briefe und Gedichte hindurch interpretierend zu nähern versucht, schreibt er: The convulsions of the spirit found in Emily Dickinson’s poems are only the culminating manifestations of processes incipient in all of us. […] Many persons, not aware that the ,insane‘ can be intelligent, warm, suffering, introspective, creative, lovable – in short, human – take the greatness of the poetry as proof that Emily Dickinson never did break down. The madman
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for them is an alien, bestial monster – a creature from outer space. Readers with this misconception remain in fearful opposition to the least suggestion that anything that initiates a resonance deep within themselves can be a product of madness.115
Gleichzeitig jedoch finden sich in After Great Pain zahlreiche Formulierungen, die nahelegen, dass Dickinson den ihr eigentlich angemessenen, erstrebenswerten Weg heterosexueller Weiblichkeit verfehlt habe. Das klingt beispielsweise an, wenn es beinahe schulmeisterhaft heißt: „In every crisis of maturation she chose the wrong path“, was freilich sofort korrigiert wird: „Or, rather, the path her diverted quest for a secure love and an inner stability forced her to take led directly away from the goals she sought.“116 Für Cody steht außer Frage, dass Dickinsons Leben weniger schmerzhaft gewesen wäre, wenn sie hätte akzeptieren können „what she basically was […] – that is, a female“ und sich mit ihrer Bestimmung als Frau, wörtlich: „her sexual destiny“, abgefunden hätte117 – obwohl er einsieht, dass sie Gründe dafür hatte, diesen Weg als Zumutung zu verwerfen. Am deutlichsten zeigt sich diese Tendenz dort, wo Cody in Zusammenhang mit seiner Interpretation des Gedichts My Life had stood – a Loaded Gun direkt auf den Kastrationskomplex zu sprechen kommt. Dickinsons Entdeckung ihrer phallisch-destruktiven, in einer Feuerwaffe symbolisierten Potenz, die Cody zufolge ihre künstlerische Produktivität freisetzte, wird hier, durchaus in Einklang mit Freud, als Entwicklungshemmung und Realitätsverleugnung charakterisiert: There are clues to be found in the poet’s writing that the ,Loaded Gun‘ may not refer exclusively to the male organ but may encompass also the genital of the so-called phallic woman. What is represented by this term is a woman who has suffered a particular arrest in her emotional development. […] She denies the lack of a penis.118
Es ist klar, dass sie dies tut; es fragt sich aber, was Cody, der diesen Schritt selbst als Befreiungsschlag und als Akzeptanz einer zuvor verdrängten ,Bisexualität‘ beschreibt, das Recht gibt zu sagen, ihre wirkliche Bestimmung sei eine andere gewesen. Cody scheint Freuds Ansicht, wonach das weibliche Genitale ,kastriert‘, das Mädchen aber bis zu 115 John Cody: After Great Pain. The Inner Life of Emily Dickinson. Cambridge (Mass.) 1971, S. 354 f. 116 Ebd., S. 260 f. 117 Ebd., S. 183, S. 55. 118 Ebd., S. 409.
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seiner alles entscheidenden ,Entdeckung‘ im Besitz eines Penisäquivalents sei, nicht zu teilen: die Kastration und der weibliche Phallus erscheinen bei ihm als zwei Seiten derselben infantilen Illusion.119 Diese Aufwertung der Vagina hat paradoxerweise zur Folge, dass die ganze Last der Verachtung der ,Weiblichkeit‘ als ,Kastriertheit‘ Dickinson aufgebürdet wird, als ob sich diese Verachtung nicht als allgemeiner Infantilismus in einer realen Erniedrigung der Frauen objektivierte, die Dickinson wie alle anderen vorfand. Cody gesteht zu, dass Emily Dickinsons Mutter kein inspirierendes Vorbild sein konnte, aber weil er das Leben Dickinsons unter dem Gesichtspunkt eines Scheiterns an einer Idealentwicklung sieht, fällt es ihm schwer anzuerkennen, dass es auch Berechtigtes hat, wenn Dickinson die Geschlechterverhältnisse nach dem Muster der ungleichen Ehe zwischen ihrem imposanten, keine eigenen Schwächen duldenden Vater und ihrer furchtsamen und passiven Mutter konzipiert. Auf der Suche nach einem Grund für die tiefen Konflikte, die in Dickinsons Kunst zum Ausdruck kommen, führt er diese schließlich auf eine einzige letzte Ursache zurück, „the failure of Mrs. Dickinson’s maternal functions“120, die Unfähigkeit der Mutter, ihre Kinder vorbehaltlos zu lieben und für sie ein bewundertes Vorbild zu sein: „To this extent it may be said that Emily Dickinson was able to become a great poet because – not in spite of – her unobtrusive, ungifted, and unstimulating mother – the ultimate progenitress, therefore, of the verse.“121 Codys Haltung hierzu ist zwiespältig, denn er glaubt zwar, dass Dickinson mit einer intelligenteren und liebenswürdigeren Mutter, die es ihr erleichtert hätte, ihre „proper function as a woman“122 zu akzeptieren, ein weniger zerrüttetes Leben gehabt hätte – doch „[i]n that case the […] impoverishment would be ours“.123 Man kann Cody nicht vorwerfen, Dickinsons Größe als Künstlerin übersehen zu haben, aber er verlangt vom Rest der Welt wenig, wenn er für ihr persönliches Unglück fast ausschließlich ihre Mutter verantwortlich macht. So wenig er den Assoziationszusammenhang in Frage stellt, in dem sich ,männlich‘ in „assertive, penetrative, and fructifying“ oder „aggressive, creative“ und ,weiblich‘ in „receptive and gestative“ übersetzt124, so wenig 119 120 121 122 123 124
Vgl. ebd., S. 409 f., S. 431 – 442. Ebd., S. 48. Ebd., S. 499. Ebd., S. 441. Ebd., S. 499. Ebd., S. 398, S. 412.
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zweifelt er eine Lebenspraxis an, in welcher die Männer, der Außenwelt zugewandt, in permanenter Konfrontation mit dieser den Lebensunterhalt der Familie zu sichern gezwungen sind, während die Frauen dafür zuständig sind, ihnen und den Kindern etwas von der Freundlichkeit und Wärme zu geben, von denen die Realität ansonsten eher wenig zu bieten hat. Elizabeth Young-Bruehl: „Many kinds of preconceptions…“ Eine psychoanalytische Biographik, die sich den vorgegebenen, an die Konvention angelehnten Normen entschlagen will, kann dies nur tun, indem sie das psychoanalytische Lehrgebäude als Ganzes erneut zur Diskussion stellt. Die repressiven Züge Freuds und, mehr noch, seiner Schülerinnen und Nachfolger werden erst unter dieser Voraussetzung überhaupt erkennbar. Viele Versuche einer Revision der Psychoanalyse bedeuteten einen Rückschritt. Das gilt schon für die Anfangszeit, in der, wie Freud schreibt, von manchen seiner ehemaligen Anhänger gerade das „[z]urückgelassen, als Irrtum verworfen“ wurde, was „an der Psychoanalyse neu ist und ihr eigentümlich zukommt“, denn: „Auf diesem Wege lassen sich die revolutionären Vorstöße der unbequemen Psychoanalyse am leichtesten zurückweisen.“125 Das kritische Potential der Psychoanalyse verflüchtigt sich aber auch dann, wenn man ihre abgründigen Thesen als Lehrsätze handhabt, die man sozusagen bereits in der Tasche hat. Dieses kritische Potential ist gerade an den Stellen am greifbarsten, an denen die psychoanalytische Theorie misslang, weil sie dort am eklatantesten ihren eigenen Einsichten widerspricht. Insofern die Neurose im Leben „brauchbar“ sei, sei sie „nicht pathologisch zu nennen“, heißt es an einer Schlüsselstelle in den ,Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung‘.126 Damit wird etwas über den Doppelsinn des ,Gesunden‘ ausgesprochen, das zum einen ungeschmälerte Versöhnung, zum anderen aber eine wie auch immer pathologische Einpassung in Nützlichkeitsforderungen im Interesse der Selbsterhaltung bezeichnen soll. Eben eine solche Brauchbarkeit kennzeichnet auch die als ,Annahme der Kastration‘ definierte ,Weiblichkeit‘, die nach Freud als Kondition der Neurose nahesteht, an der zu scheitern aber erst recht in die Neurose oder Psychose führt. Wenn 125 GW, Bd. 12, S. 82. 126 Protokolle. Hg. v. Nunberg u. Federn. Bd. 1, S. 54.
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Freud noch Jahre später die Verdrängungen – also eben die psychischen Vorgänge, die die Psychoanalyse erklärtermaßen aufzuheben bestrebt ist – als Schutz des Ich gegen die Triebregungen des Es ausdrücklich in der Analyse nur teilweise „abgetragen“, teilweise aber auch „aus soliderem Material wieder aufgebaut“ sehen will127 und im Zusammenhang damit die Verdrängung des „Gegengeschlechtliche[n]“ thematisiert128, dann widerstrebt dies wie kaum etwas anderes den psychoanalytischen Intentionen. Die Aufstellung einer ,weiblichen‘ Norm als letztes Wort der Psychoanalyse zu nehmen heißt, ob in affirmativer oder denunziatorischer Absicht, diesen zentralen Widerspruch zu eliminieren und die zweideutigen Formulierungen Freuds auf eine schale Normierungsideologie herunterzubringen. Im Geist einer Selbstkritik der Psychoanalyse, die gegen Freud „the radicality of his own fully articulated theory of sexuality“ geltend macht129, tritt Elizabeth Young-Bruehl mit Anna Freud. A Biography (1988) in der psychoanalytischen Biographik solchen reduktiven Tendenzen entgegen.130 Anna Freud war die jüngste Tochter Sigmund und Martha Freuds und zugleich eine Psychoanalytikerin, deren Schriften vor allem zu den Abwehrmechanismen des Ich und zur Kinderpsychoanalyse die Theoriediskussion entscheidend beeinflussten. Sie spielte eine wichtige Rolle in der psychoanalytischen Bewegung – nicht nur als Autorin, sondern auch als Mitarbeiterin der ,Wiener Psychoanalytischen Vereinigung‘ und des ,Psychoanalytischen Verlages‘, als Initiatorin und Leiterin psychoanalytischer Kliniken und Tagesstätten für Kinder, als Entwicklerin neuer Forschungsmethoden, als Verwalterin des Erbes ihres Vaters und durch ihre Kontroverse mit Melanie Klein, die die ,Internationale Psychoanalytische Vereinigung‘ Jahrzehnte lang in zwei Lager spaltete. Als Young-Bruehl ihre Arbeit an der Biographie begann, herrschte, wie sie schreibt, unter Historikern der Psychoanalyse die Meinung vor, dass Anna Freud keine originelle Denkerin gewesen sei, sondern lediglich auf höchst talentierte Weise die von ihrem Vater entwickelten Theorien und Techniken auf Kinder angewandt habe.131 Diese Ansicht gründete sich teils auf eine Geringschätzung der Kinderanalyse, ein hauptsächlich von Frauen ohne medizinische Ausbildung 127 128 129 130 131
GW, Bd. 16, S. 71. Vgl. ebd., S. 97 – 99. Young-Bruehl: Subject to Biography, S. 179. Elisabeth Young-Bruehl: Anna Freud. A Biography. London 1988. Ebd., S. 49.
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entwickeltes Spezialgebiet, teils aber auch auf die Vorstellung, dass theoretische Originalität mit einer Loyalität, wie Anna Freud sie ihrem Vater gegenüber zeigte und von anderen forderte, unvereinbar sei. Young-Bruehls Intention, die Eigenständigkeit und theoretische Bedeutung von Anna Freuds Werk herauszustellen, ist als solche nichts für sie Spezifisches, wohl aber der Versuch, gleichzeitig die Erfahrungen, die sich darin niedergeschlagen haben, psychoanalytisch aufzuschlüsseln.132 Weil Young-Bruehl ihren Prämissen nach das Werk Anna Freuds nicht zu einem bloß subjektiven Ausdruck einer individuellen Ödipuskonstellation erklären kann, wie es in der psychoanalytischen Künstlerbiographik meist geschieht, sondern auf die Anerkennung seines Wahrheitsanspruchs abzielt, ohne gleichzeitig seine Beziehung zum Triebleben negieren zu können, ist sie gezwungen, die psychoanalytischen Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Autorin und Werk zu überdenken. Anna Freuds theoretische Neuentdeckungen erscheinen in Young-Bruehls Biographie als Ergebnisse einer lebenslangen Selbstanalyse. Als solche sind sie zugleich persönlich, denn in ihnen sprechen sich Einsichten über die eigenen unbewussten Regungen aus, und intersubjektiv, weil der Analyseprozess selbst ein Objektivierungsprozess ist, in dem Selbsterkenntnis mit der Auflösung von Symptomen durch theoretische Reflexion zusammenfällt, und als solcher notwendig über die eigene Person hinausgeht: Die psychoanalytische Textproduktion, die Erfahrungen in der therapeutischen Praxis, die Beobachtungen an Kindern und die Diskussionen innerhalb der psychoanalytischen Bewegung gingen ebenso in Anna Freuds Selbstreflexion ein wie sie umgekehrt durch diese vermittelt sind, ohne sich auf sie reduzieren zu lassen.133 Subjektiv und zufällig sind psychoanalytische Theoreme nach Young-Bruehl vor allem dort, wo sich individuelle Widerstände und Befangenheiten in einer Blockade des Erkenntnisprozesses geltend machen; dies aufzuzeigen ist eines der unausgesprochenen, erst später explizit gemachten Interessen der Biographie.134 Noch kennzeichnender für Young-Bruehl ist, dass sie sich bewusst – und explizit im Gegensatz zu den in Anna Freuds Schriften formulierten 132 Es fällt auf, wie viele Biographien von Psychoanalytikern über Psychoanalytiker von psychoanalytischen Interpretationsmöglichkeiten keinen Gebrauch machen, sondern konventionelleren Schemata folgen. 133 Vgl. hierzu bes. Young-Bruehl: Anna Freud, S. 459 f. 134 Vgl. ebd., S. 185 – 188, S. 459, sowie Young-Bruehl: Subject to Biography, S. 53, S. 94, S. 100.
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theoretischen Postulaten135 – der Frage verweigert, ob Anna Freud ,normal‘ war oder nicht. Anna Freuds Beziehung zu ihrem Vater, mit dem sie sich zumindest bewusst stärker identifizierte als mit ihrer Mutter, war ungewöhnlich eng: Vom Zeitpunkt seiner ersten Krebsoperation an entschied sie sich, an seiner Seite zu bleiben und ihn zu pflegen, während sie gleichzeitig als Psychoanalytikerin in seine Fußstapfen trat. Sie heiratete nie und praktizierte, soweit bekannt, ihr ganzes Leben lang keinen Sexualverkehr im engeren Sinn, auch nicht mit ihrer Freundin und Lebenspartnerin Dorothy Burlingham. Zwei theoretische Aufsätze über Schlagephantasien mit Masturbationszwang, der eine von Sigmund Freud und der andere von ihr selbst verfasst, beruhen fast sicher auf ihrer Lehranalyse bei ihrem Vater136 ; es scheint, dass Anna Freud den unbewussten ödipalen Wunsch nach Liebesverkehr mit ihrem Vater zu einem wiederkehrenden, lustbesetzten, analerotisch gefärbten Tagtraum verarbeitete, in dem Knaben von einem erwachsenen Mann geschlagen werden, und dass sie diesen Traum später durch ausgedehnte Phantasien von Übertretung, Strafdrohung und Versöhnung ersetzte. Psychoanalytisch gesehen, war für sie die Askese und Vateridentifikation eine Möglichkeit, Inzestwünschen gegenüber ihrem Vater auszuweichen, ohne ihm je untreu zu werden, während ihre Tätigkeit als Psychoanalytikerin und Leiterin von Einrichtungen für Kinder es ihr zugleich erlaubte, außerhalb der üblichen Familienkonstellation die verschiedensten familiären Beziehungen, mit Kolleginnen und Kollegen wie mit Kindern, einzugehen und ihr eifersüchtiges Konkurrenzverhältnis zur Psychoanalyse hinter sich zu lassen. Es wäre sehr leicht möglich, Anna Freuds Leben als ein gescheitertes oder in seiner Entwicklung gehemmtes zu klassifizieren, und Young-Bruehl ist sich darüber völlig klar: [R]eaders might assume that ascetism is equivalent to developmental failure, that spinsterhood (to use an old-fashioned term) is necessarily emotionally threadbare; that homosexuality, whether involving sexual acts or only fantasies, is by definition pathological or, on the other hand, that homosexuality without sexual activity could only be a figment of a biographer’s homophobic imagination because it is not to be found in real life; that a father-daughter analysis is some kind of incest or, as one analyst argued to me, some kind of world-historical courage of experimentation. Many kinds of preconceptions…137 135 Vgl. ebd., S. 89 f., S. 93 f. sowie Young-Bruehl: Anna Freud, S. 327. 136 Vgl. ebd., S. 103 – 109. 137 Young-Bruehl: Subject to Biography, S. 52.
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Gegen diese ,preconceptions‘ stellt Young-Bruehl die Entscheidung, das Leben Anna Freuds nicht zu beurteilen, „not to try to package it neatly, but to set it out in all its ambiguity for the reader’s contemplation“.138 Das gelingt ihr in einem beträchtlichen Ausmaß, und dies ist nicht zuletzt einer Arbeitsmethode zu danken, die bis ins Detail das Vorhaben spiegelt, vorschnelle Klassifizierungen und formelhafte Wendungen zu vermeiden. Wie Hannah Arendt, bei der sie promovierte und über die sie die bis heute maßgebliche Standardbiographie verfasste139, teilt Young-Bruehl die Auffassung, dass eine Biographin die Dargestellte ausführlich zu Wort kommen lassen sollte, um ihre Gedankengänge nachverfolgen zu können, statt sie nur von außen zu betrachten. Dementsprechend versteht sie sich als „courier“ der lebenslangen, nur in verstreuten Fragmenten vorliegenden, mit theoretischen Entdeckungen zusammenfallenden, sich in psychoanalytischer Selbstreflexion vollziehenden Geschichte Anna Freuds.140 Hieraus folgt zum einen, dass diese Biographie im Unterschied zu der über Arendt nur eine psychoanalytische sein konnte – und Young-Bruehl nahm ihre Sache so ernst, dass sie eine Ausbildung zur professionellen Analytikerin begann –, zum anderen aber, dass das Material ein verhältnismäßig großes Gewicht erhält. In einer Vorbemerkung legt sie ihre quellenkritischen Maßstäbe offen, die weit über das übliche Maß selbst einer wissenschaftlichen Biographie hinausgehen: Mit unzähligen Gerüchten über Freud und seine Familie konfrontiert, machte sie es sich zur Regel, für jede ihrer Aussagen über Anna Freud „as much primary documentation as possible“ vorzulegen, Lücken nicht zu kaschieren, Interviewmaterial nur bei Bestätigung einer Behauptung durch mehrere unabhängige Personen zu berücksichtigen und aus anderen Texten nur durch „primary documentation“ Beglaubigtes zu übernehmen.141 Die ganze Biographie zeichnet sich dadurch aus, dass sie keine unmittelbare Kenntnis äußerer oder psychischer Vorgänge vorspiegelt, sondern ihre Abhängigkeit von ihrerseits vielfach vermittelten Dokumenten beständig in Erinnerung 138 Ebd., S. 52. 139 Elizabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt. For Love of the World. London, New Haven 1982. Im Vorwort zu ihrer Biographie über Rahel Varnhagen schreibt Arendt, es sei ihre Absicht gewesen, „Rahels Lebensgeschichte so nachzuerzählen, wie sie selbst sie hätte erzählen können“. Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen J din aus der Romantik. München, Zürich 1992, S. 10. 140 Young-Bruehl: Anna Freud, S. 18 f. 141 Ebd., S. 12.
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ruft. Während in älteren psychoanalytischen Biographien oft ganz am Anfang die Ödipuskonstellation des jeweiligen Individuums herausgearbeitet wird, um weitere Lebensereignisse daraus ableiten zu können, konstruiert Young-Bruehl Anna Freuds Verhältnis zu ihren Eltern und ihren Charakter erst nach und nach durch Gedichte, Träume und Tagträume und durch zeitgleich mit der Analyse entstandene theoretische Schriften Anna und Sigmund Freuds hindurch. Young-Bruehl behauptet also nicht einfach, die psychische Konstitution Anna Freuds zu kennen, sondern geht von zerstreuten, zunächst rätselhaften, interpretationsbedürftigen psychischen Manifestationen aus, die als solche festgehalten werden: Analysen, Selbstanalysen und Traumaufzeichnungen Anna Freuds nehmen in der Darstellung breiten Raum ein. Dieser Vorgehensweise entspricht ein reflektierter Umgang mit den eigenen theoretischen Voraussetzungen, die implizit – auch in Auseinandersetzung mit den Positionen Anna Freuds – in der Biographie thematisiert werden. Anna Freuds Leben ist von der Entwicklungsgeschichte der Psychoanalyse nicht zu trennen. Hieraus ergeben sich einerseits Schwierigkeiten der formalen Gestaltung – die weitgehend chronologische Form stößt vor allem gegen Ende der Biographie an ihre Grenzen –, andererseits bietet sich aber auch die Gelegenheit, die psychoanalytischen Theorieelemente, mit denen sich die einzelnen Biographeme aufschlüsseln lassen, darzulegen, ohne von ihrem strittigen und möglicherweise problematischen Charakter abzusehen. YoungBruehl selbst findet für dieses Vorgehen die Formulierung, dass „[Anna Freud’s] biographers cannot fail to be historians of – within – psychoanalysis“142, wobei das „within“ hier bedeutet, dass das Schreiben über psychoanalytische Theoriegeschichte nicht jenseits der Psychoanalyse als eines sich fortentwickelnden Erkenntnisprozesses stattfindet, sondern selbst ein Teil von ihr ist. Indem Young-Bruehl die Diskussionen innerhalb der psychoanalytischen Bewegung nachzeichnet – und dies tut sie ausführlich – zeigt sie, trotz weitgehender Zurückhaltung eigener Urteile, die Psychoanalyse als eine vielfach neuformulierte, ständig debattierte, wesentlich unabgeschlossene Theorie, als eine geistige Tätigkeit eher denn als ein fertig vorliegendes System. Die Veränderungen im psychoanalytischen Blick, die sich in Young-Bruehls Anna-Freud-Biographie zeigen, resultieren größtenteils aus einer minimalen Verschiebung, die darin liegt, ,Bisexualität‘ nicht als etwas zu sehen, das es zu verdrängen oder im Zuge des Erwach142 Young-Bruehl: Subject to Biography, S. 90.
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senwerdens hinter sich zu lassen gilt, sondern als etwas, das eine Vielzahl an Möglichkeiten beschreibt, die in der menschlichen Psyche liegen, „some of which are pathological and some of which are not“.143 An sich ist diese These nicht neu – sie findet sich, wie gezeigt, in dieser Allgemeinheit schon bei Freud – doch Young-Bruehl spitzt sie so zu, dass das, was sonst als ,normal‘ gilt, bei ihr als erklärungsbedürftige Einschränkung erscheint.144 Gegen die Norm setzt Young-Bruehl die Normalität der Bisexualität, und mehr noch: wie sie selbst sagt, tendiert sie dazu, diese zu idealisieren.145 Einige Stellen, an denen die Biographie trotz allem zur Formelhaftigkeit neigt, sind paradoxerweise gerade diejenigen, an denen die ,Bisexualität‘ Anna Freuds betont wird. Schon in der Einleitung wird ein Gedanke ausgesprochen, der im Verlauf der Darstellung immer wieder auftaucht: „[Anna Freud] balanced in herself to quite remarkable effect a maternal, child-loving feminity and an adventurous, feisty masculinity – both enacted in quite conventional ways.“146 Young-Bruehl hat später das Schematische der Bisexualitätsthese, die zwar das Individuum aus dem Zwangskorsett des ausschließlich ,Männlichen‘ oder ,Weiblichen‘ befreit, aber Männlichkeit und Weiblichkeit als einigermaßen starre Elemente innerhalb eines jeweils verschiedenen Mischverhältnisses festhält, deutlicher gesehen als in der Anna-Freud-Biographie, in der nur gelegentlich Zweifel anklingen.147 Auch scheint es – und auch dies deutet sich bereits in der Biographie an –, als sei für Anna Freud der Wunsch charakteristisch „to be neither sex, or staying in relative sexual undifferentiation“, im Gegensatz zu dem bei Young-Bruehl selbst vorherrschenden Wunsch „to be both“, von dem sie später im Zusammenhang einer Rekapitulation des Entstehungsprozesses der Biographie spricht.148 Noch in einem anderen Punkt gibt Young-Bruehl der Versuchung nach, biographische Eindeutigkeit und Geschlossenheit herzustellen: In der Absicht, der Neigung Anna Freuds entgegenzuarbeiten, ihr Verhältnis zu Mutterfiguren auszublenden, hebt sie die Rolle der Kinderfrau Josefine Cihlarz hervor, deren Liebling ,Annerl‘ war – was innerhalb der Logik einer psychoanalytischen Biographie sicher sinnvoll und legitim ist, aber in 143 144 145 146 147
Ebd., S. 53. Vgl. bes. Young-Bruehl: Anna Freud, S. 327. Vgl. Young-Bruehl: Subject to Biography, S. 100. Young-Bruehl: Anna Freud, S. 19. Vgl. Elizabeth Young-Bruehl: „Introduction“. In: Freud on Women. Hg. v. Young-Bruehl, S. 3 – 47, hier S. 19 f. und Young-Bruehl: Anna Freud, S. 129. 148 Young-Bruehl: Subject to Biography, S. 98.
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dem Augenblick zum Klischee wird, in dem sie die Pflegerinnen der Sterbenden, Alice Colonna und Manna Friedmann, zu ,Kinderfrauen‘ ernennt, um mit dem Satz zu schließen: „Then, when they went off to the park, the Kinderfrau and Anna Freud, she, shrunken to the size of a schoolgirl, sat wrapped inside her father’s big wool coat.“149 Im Postscript fällt Young-Bruehl in mancher Hinsicht hinter den übrigen Text zurück, indem sie eine Art Bilanz aus Anna Freuds Leben zieht.150 Die psychoanalytische Biographik gehört zu dem großen geistigen Abenteuer, welches die Psychoanalyse ist. Es ist schwer, das selbst an den misslungensten psychoanalytischen Biographien nicht wahrzunehmen, und doch hat man manchmal den Eindruck, als wäre die Biographik innerhalb der Psychoanalyse, verglichen mit Fallstudien von Patientinnen, Theorieentwürfen und nicht-biographischen Studien von Kulturerscheinungen, ein Ort, an dem eher zu Formeln erstarrte Theoreme angewandt als neue Entdeckungen gemacht werden. Vielleicht ist es gerade das Prinzip, das der Wahl dieser Textform zugrunde liegt – die Annahme eines rein persönlichen Charakters intellektueller Tätigkeit im weitesten Sinne – das psychoanalytische Biographinnen und Biographen daran hindert, genau hinzusehen. Denn die Konflikte zwischen Ich, Über-Ich und Es, die im Medium des Geistes ausgetragen werden, sind ja nicht nur dem einen Individuum eigen, das sie in einem Lebenswerk objektivierte. Die Arbeit am Werk besteht vielmehr gerade darin, die individuellen Entstehungsbedingungen, ohne die es nicht wäre, in ihm aufgehen zu lassen, ohne ihren Gehalt zum Verschwinden zu bringen, in der Hoffnung, dass dieser Gehalt in anderen Resonanz finde. Die Allgemeinheit des Anormalen zu sehen, das sich letztlich durch nichts anderes als eine Konfliktsituation definiert, wäre eine Voraussetzung dafür, dem Verhältnis zwischen Autor und Werk ebenso wie den Besonderheiten des dargestellten Individuums gerecht zu werden. Eben diese Allgemeinheit aber verschwindet dort, wo dem jeweiligen Individuum vorgerechnet wird, dass es keine ,normale‘ Entwicklung einschlug, fast ebenso sehr wie dort, wo es – wie es in der nicht-psychoanalytischen Biographik oft geschieht – zum ,Normalen‘ zurechtinterpretiert wird. Die Psychoanalyse hat die Dialektik von Krankheit und Gesundheit nicht wirklich ausgetragen. Ob dies innerhalb der psychoanalytischen Biographik geschehen kann, ist fraglich. 149 Young-Bruehl: Anna Freud, S. 453. 150 Vgl. ebd., S. 454 – 462.
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III. Biographie und Gesellschaft
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,Biographie‘ in den Sozialwissenschaften Anmerkungen zu historischen und aktuellen Problemen einer Forschungsperspektive
Peter Alheit und Bettina Dausien Die Frage nach der Bedeutung von Biographien in der sozialwissenschaftlichen Tradition ist nicht neu, und es gibt Indizien, die die Prognose erlauben, dass ihr auch eine Zukunft eingeräumt werden muss. Denn das Interesse an Biographien und am Biographischem ist im Alltag wie in der Wissenschaft von irritierender Aktualität: Einerseits scheint es modischen Trends zu folgen oder sogar ,Trendsetter‘ zu sein, was an der Konjunktur biographischer Formate in den neuen Medien (Talkshows, Blogs, Internetpräsentationen) ebenso festgemacht werden kann wie an der aktuellen Ausdifferenzierung biographiewissenschaftlicher Forschung. Andererseits scheint Biographisches, seltsam zeitlos, gleichsam ein Genre zu sein, das über wechselnde Trends hinweg auf ein relativ stabiles Interesse stößt, das die Form verändert, immer wieder neu erfunden wird und selbst den ,Tod des Subjekts‘ noch zu überleben scheint. Die folgenden Überlegungen haben den Charakter einer reflexiven Erinnerung und einer erinnernden Reflexion. Sie zeichnen Linien der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Biographie nach und diskutieren vor diesem Hintergrund aktuelle Probleme der Biographieforschung. Damit ist ein vielgestaltiges, mittlerweile vielfach ausdifferenziertes und disziplinär keineswegs konsistentes Forschungsfeld bezeichnet, das hier nicht systematisch vorgestellt werden kann.1 Vielmehr sollen an ausgewählten historisch und systematisch relevanten ,Orten‘ dieses Feldes charakteristische Merkmale des sozialwissenschaftlichen Verständnisses von Biographie herausgearbeitet
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Einen Einblick in die Breite der aktuellen soziologischen Biographieforschung gibt der von Bettina Völter, Bettina Dausien u. a. herausgegebene Band Biographieforschung im Diskurs. Wiesbaden 2005. Vgl. auch die Auswahlbibliographie zur sozialwissenschaftlichen Biographieforschung am Ende dieses Bandes.
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werden. Zunächst sind jedoch einige Vorbemerkungen erforderlich, um das Feld selbst abzustecken: – Im historischen Rückblick zeigt sich, dass die Verwendung des Biographiekonzepts in der Sozialwissenschaft unterschiedliche Formen angenommen hat: Angefangen mit der Nutzung biographischer Materialien in der empirischen Forschung, gewissermaßen als ,Quellen wissenschaftlicher Erkenntnis‘2, über die Ausarbeitung von Methoden und Methodologien der Erkenntnisproduktion (Stichwort „biographische Methode“3) bis zu einer Forschungsperspektive, die ,Biographie‘ als theoretisches Erkenntnismodell nutzt, um die Dialektik von Gesellschaft und Individuum, Struktur und Handeln, Zeitgeschichte und Lebensgeschichte konzeptionell auszudrücken. – Darüber hinaus hat der Begriff ,Biographie‘ einen eigentümlichen Doppelcharakter. Er ist einerseits ein Alltagskonzept, das je nach kulturellem Kontext und sozialer Rahmung unterschiedliche Gestalt annehmen kann, andererseits bleibt er ein elaborierter wissenschaftlicher Begriff. Dies führt nicht selten zu Missverständnissen und stellt die Wissenschaftlichkeit der ,biographischen Methode‘ gelegentlich sogar in Frage. Für die sozialwissenschaftliche Biographieforschung ist diese Doppelheit jedoch kein Manko, sondern zentrale Bedingung: Im Sinne einer rekonstruktiven Methodologie4 geht es darum, gesellschaftliche Vorstellungen von Biographie und biographisierende Praktiken im Alltag zu untersuchen und zu fragen, welche sozialen ,Effekte‘ sie hervorbringen und umgekehrt, welche sozialen Strukturen und kulturellen Muster ihnen zugrunde liegen. Damit steht die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Biographien für ein ebenso charakteristisches wie ambivalentes Erkenntnisinteresse der Moderne, das sie z. B. von der traditionellen Biographik der domi-
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Vgl. dazu Sigrid Paul: Begegnungen. Zur Geschichte persçnlicher Dokumente in Ethnologie, Soziologie und Psychologie. 2 Bde. Hohenschäftlarn 1979. Vgl. Jan Szczepan´ski: „Die biographische Methode“. In: Handbuch der empirischen Sozialforschung. Bd. 4: Komplexe Forschungsans tze. Hg. v. René König. 3., umgearb. und erw. Aufl. Stuttgart 1974, S. 226 – 252; Wolfram Fischer-Rosenthal: „Zum Konzept der subjektiven Aneignung von Gesellschaft“. In: Handbuch Qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden, Anwendungen. Hg. v. Uwe Flick, Ernst von Kardorff u. a. Weinheim 1991, S. 78 – 89. Vgl. dazu Bettina Dausien: Sozialisation – Geschlecht – Biographie. Theoretische Diskurse und Forschungsperspektiven. Wiesbaden 2009.
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nanten sozialen Klassen grundlegend unterscheidet.5 Michel Foucault hat dies in seiner wichtigen Schrift berwachen und Strafen sehr präzise auf den Begriff gebracht: Lange Zeit hindurch war die beliebige, die gemeine Individualität unterhalb der Wahrnehmungs- und Beschreibungsebene geblieben. Betrachtet werden, beobachtet werden, erzählt werden und Tag für Tag aufgezeichnet werden, waren Privilegien. Die Chronik eines Menschen, die Erzählung seines Lebens, die Geschichtsschreibung seiner Existenz gehörten zu den Ritualen der Macht. Die Disziplinarprozeduren nun kehren dieses Verhältnis um, sie setzen die Schwelle der beschreibbaren Individualität herab und machen aus der Beschreibung ein Mittel der Kontrolle und eine Methode der Beherrschung. Es geht nicht mehr um ein Monument für ein künftiges Gedächtnis, sondern um ein Dokument für eine fallweise Auswertung, und diese neue Beschreibbarkeit ist um so ausgeprägter, je rigoroser die Disziplinarverfassung ist: das Kind, der Kranke, der Wahnsinnige, der Verurteilte werden seit dem 18. Jahrhundert im Zuge des Ausbaus der Disziplinarmechanismen immer häufiger zum Gegenstand individueller Beschreibungen und biographischer Berichte. Dieses Aufschreiben der wirklichen Existenzen hat nichts mehr mit Heroisierung zu tun: sie [sic!] fungiert als objektivierende Vergegenständlichung und subjektivierende Unterwerfung. Das sorgfältige nachgeprüfte Leben des Geisteskranken oder der Delinquenten hat ebenso wie die Chronik der Könige oder die Heldensagen der großen volkstümlichen Banditen mit einer politischen Funktion der Schrift zu tun: jedoch mit einer ganz anderen Technik der Macht. Als rituelle und zugleich ,wissenschaftliche‘ Fixierung der individuellen Unterschiede, als Festlegung eines jeden auf seine Einzelheit (im Gegensatz zur Zeremonie, in der Standeszugehörigkeiten, Abstammungen, Privilegien, Ämter zu unübersehbarem Ausdruck kamen), zeigt die Prüfung das Heraufkommen einer neuen Spielart der Macht an, in der jeder seine eigene Individualität als Stand zugewiesen erhält, in der er auf die ihn charakterisierenden Eigenschaften, Maße, Abstände und ,Noten‘ festgelegt wird, die aus ihm einen ,Fall‘ machen.6
Foucaults sozialgeschichtlicher Rekurs macht deutlich, dass jenes breiter gewordene Interesse am Biographischen, an der Individualität, nicht zufällig ist. Und sein dezidierter Hinweis auf die veränderten ,Techniken der Macht‘ lässt keinen naiven Bezug auf die ,soziobiographische Methode‘ mehr zu. Freilich, seine kritische Pointe wirkt überstilisiert. Selbst wenn die Interessen gesellschaftlicher Kontrollinstanzen am in5 6
Vgl. dazu Peter Alheit u. Bettina Dausien: Modernisierung und Traditionalit t. Lebensverl ufe in zeitgençssischen proletarischen Milieus (Forschungsbericht). Bremen 1990. Michel Foucault: berwachen und Strafen. Die Geburt des Gef ngnisses. Frankfurt/ M. 1976, S. 246 f.
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dividuellen ,Fall‘ sichtbar zugenommen haben, wenn Tendenzen zu erkennen sind, jedes gesellschaftliche Individuum als ,virtuellen Fall‘ zu behandeln, ist noch nicht ausgemacht, ob jegliches Engagement für biographische Prozesse sich zwangsläufig als Kontroll- und Disziplinarinteresse entlarven muss. So wie das bürgerliche Drama das ,Höfische‘ verlässt und die Tragödie des bürgerlichen Individuums zum Thema macht, könnte die biographische Methode dem einfachen Leben Geltung verschaffen, dem diskreditierten Leben des ,Proletariats‘ oder den in patriarchalen Gesellschaften unterdrückten Erfahrungen der ,gewöhnlichen‘ Frauen. Dieses ,einfache Leben‘ ist in der Tat der bevorzugte Gegenstand soziologischer Biographieforschung, und es ist sinnvoll zu rekonstruieren, unter welchen Aspekten es untersucht wird. Wir wollen deshalb zunächst einen wissenschaftsgeschichtlichen Exkurs unternehmen (1), bevor wir aktuelle Tendenzen biographischer Forschung näher betrachten (2) und schließlich auf die Frage zurückkommen, wie die Möglichkeiten und Grenzen des sozialwissenschaftlichen Erkenntnismodells ,Biographie‘ einzuschätzen sind (3). 1. Historische Skizzen Die folgenden Rekonstruktionen zur Geschichte biographischer Forschungsansätze in unterschiedlichen fachlichen und gesellschaftlichen Rahmungen soll die Spezifik einer sozialwissenschaftlichen Biographieforschung exemplarisch verdeutlichen. Abgesehen von den Anfängen richtet sich der Blick hauptsächlich auf den deutschsprachigen Kontext. 1.1 Aufbruch und Scheitern der frühen soziobiographischen Forschungen in den USA Eine sozialgeschichtliche Rekonstruktion der biographischen Methode kann legitimerweise nicht nur deshalb an den Forschungen der Chicago School im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ansetzen, weil diese mit dem Polish Peasant 7 eine klassische Studie zur sozialen Biographie vorgelegt hat, sondern weil ihr spezifisches Erkenntnisinteresse mit einiger 7
William Thomas u. Florian Znaniecki: The Polish Peasant in Europe and America (1918 – 1920). 2 Bde. New York 1958.
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Plausibilität aus den Widersprüchen der zeitgenössischen amerikanischen Gesellschaft erklärt werden kann. Bereits zu Beginn der „Methodological Note“ zum Polish Peasant wird darauf hingewiesen, dass die Soziologie angesichts der zunehmenden Diffusion sozialer Prozesse eine ,Technik‘ entwickeln müsse, wie sie unter anderen methodologischen Prämissen den Naturwissenschaften längst zur Verfügung stehe. Die Tatsache, dass eine entsprechend effektive Zugangsweise (,procedure‘) zur sozialen Wirklichkeit fehle, liege vor allem an den dramatischen sozialen Veränderungen.8 Thomas weist in seiner Präsidentschaftsrede vor der Amerikanischen Soziologischen Gesellschaft 1927 auf die „gegenwärtige[] rapide[] Entstabilisierung der Gesellschaft [hin], die mit der Verstädterung der Bevölkerung, dem Zusammenbruch der Verwandtschaftsgruppen, der Nachrichtenzirkulation, der Kommerzialisierung des Vergnügens usw. zusammenhäng[e]“.9 Im Gegensatz zu ,naturwissenschaftlichen Phänomenen‘ (,physical phenomena‘) gilt nun freilich für soziale Phänomene (,social phenomena‘), dass sie nicht nur im Hinblick auf ihren objektiven Charakter, sondern auch unter Berücksichtigung ihres subjektiven Aspekts analysiert werden müssen: [W]hile the effect of a physical phenomenon depends exclusively on the objective nature of this phenomenon and can be calculated on the ground of the latter’s empirical content, the effect of a social phenomenon depends in addition on the subjective standpoint taken by the individual or the group toward this phenomenon and can be calculated only if we know, not only the objective content of the assumed cause, but also the meaning which it has at the given moment for the given conscious beings.10
Subjektive Einstellungen (,attitudes‘) und allgemein geltende Werte (,social values‘) sind also gleichermaßen konstitutiv für die Definition einer sozialen Situation.11 Nur so bleibt erklärbar, warum verschiedene Individuen auf ein bestimmtes Phänomen gegebenenfalls ganz unterschiedlich reagieren. Es erscheint plausibel, dass soziale Biographien ein reichhaltiges Material darstellen, in dem die Vermittlung objektiver und subjektiver ,Daten‘ dokumentiert ist. „We are safe in saying“, so Thomas und Znaniecki, „that personal life-records, as complete as 8 Ebd., Bd. I, S. 1. 9 Zit. nach Lothar Hack: Subjektivit t im Alltagsleben. Zur Konstitution sozialer Relevanzstrukturen. Frankfurt/M., New York 1977, S. 154. 10 Thomas u. Znaniecki: The Polish Peasant. Bd. I, S. 38. 11 Florian Znaniecki: On Humanistic Sociology. Selected Papers. Hg. v. Robert Bierstedt. Chicago 1969, S. 108.
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possible, constitute the perfect type of sociological material“.12 Denn eine Sozialwissenschaft, die der Komplexität sozialer Phänomene angemessen ist, „must reach the actual human experiences and attitudes which consider the full, live and active social reality beneath the formal organization of social institutions, or behind the statistically tabulated mass-phenomena which taken in themselves are nothing but symptoms of unknown causal processes“.13 Diese kritisch-emanzipatorisch klingenden Einschätzungen relativieren sich, wenn man sie in ihrem sozialen Kontext liest. Die Erfahrung einer ,Entstabilisierung der (amerikanischen) Gesellschaft‘ (Thomas) – genauer betrachtet, das Produkt des Widerspruchs zwischen der traditionsindifferenten Durchsetzung kapitalistischer Marktgesetze auch in alltäglichsten Kommunikationsbereichen und der ideologischen Resistenz traditionaler amerikanischer Werte – macht eine ,Sozialtechnologie‘ notwendig, die neue Muster der Restabilisierung entwickelt. Da die Ursachen der objektiven Veränderungsprozesse von den ,Chicagoern‘ nicht reflektiert werden, liegt es für sie nahe, die Variable ,Subjektivität‘ präziser zu erfassen – dies umso mehr, als die großen Immigrationsbewegungen zu Beginn des Jahrhunderts die Integration bzw. Exklusion von Individuen und Gruppen tatsächlich zu einem zentralen sozialen Problem werden lassen. So erscheint es konsequent, dass sich die Chicago School mit Problemen der gesellschaftlichen Integration, namentlich mit Immigrantengruppen und mit sozialen Folgeproblemen der Migration befasst. Studien zu dieser Thematik14, zu Problemen in den Ballungsräumen15, zu Prostitution16, Suizid17, Kri-
12 Thomas u. Znaniecki: The Polish Peasant. Bd. II, S. 1832. 13 Ebd., S. 1834. 14 Vgl. etwa Robert Ezra Park u. Herbert Adolphus Miller: Old World Traits Transplanted. New York, London 1921; Donald Young: American Minority Peoples. A Study in Racial and Cultural Conflicts in the United States. New York 1932. 15 Nels Anderson: The Hobo. The Sociology of the Homeless Man. Chicago 1923; Frederic M. Thrasher: The Gang: A Study of 1313 Gangs in Chicago. Chicago 1927; Harvey Warren Zorbaugh: The Gold Coast and the Slum: A Sociological Study of Chicago’s Near North Side. Chicago 1929. 16 William Isaac Thomas: The Unadjusted Girl. With Cases and Standpoints for Behavior Analyses. Boston 1923. 17 Ruth S. Cavan: Suicide. Chicago 1928.
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minalität18, Untersuchungen zu familiärer Desorganisation19 und später auch zur ,Rassenfrage‘20 dokumentieren, dass das zentrale Anliegen der Chicago School in der Frage möglicher Anpassungsleistungen des Individuums liegt.21 Die große Bedeutung, die der subjektiven Situationsdefinition für die gesellschaftliche Wirklichkeit attestiert wird – eine Position, die in den methodologischen Prämissen des symbolischen Interaktionismus22 wieder auftaucht und große Nähe auch zur phänomenologischen Verstehenssoziologie von Alfred Schütz aufweist –, suggeriert die Möglichkeit, dass bei einer umfangreichen Auswertung subjektiver Dokumente – besonders von ,life-records‘, also von Lebensgeschichten – generalisierbare Parameter sozialer Hilfe und Kontrolle entwickelt werden können.23 Es ist durchaus nicht überraschend, dass eine so geartete Sozialtheorie die amerikanische Soziologie über beinahe 40 Jahre hat dominieren können. Probleme mit der Aufnahme einer steigenden Zahl von Immigranten, die Weltwirtschaftskrise und die Depression der 1930er Jahre lassen die qualitativen Studien der Chicago School als nahe liegend, ja unverzichtbar erscheinen. Ebenso symptomatisch freilich ist es, dass mit der dramatischen Veränderung der ökonomischen Situation und des ideologischen Klimas am Ende der 1930er Jahre ihre Hegemonie bei18 William Healy: The Individual Delinquent. Boston 1915; Clifford R. Shaw: The Jack-Roller: A Delinquent Boy’s Own Story. Chicago 1930; Edwin H. Sutherland: The Professional Thief, Written by a Professional Thief. Chicago 1937. 19 Ernest R. Mowrer: Family Disorganization. Chicago 1927; Harriet Rosenthal Mowrer: Personality Adjustment and Domestic Discord. New York 1935; Ernest W. Burgess u. Leonard S. Cottrell: Predicting Success or Failure in Marriage. New York 1939. 20 Edward F. Frazier: The Negro Family in the United States. Chicago 1939. 21 Paul: Begegnungen; Werner Fuchs: Zur Reflexivit t der biographischen Methode (Werkstattbericht). Hagen 1979. 22 Vgl. Herbert Blumer: Symbolic Interactionism. Perspective and Method. Englewood Cliffs (NJ) 1969. 23 Diese äußerst kritische Reinterpretation der Interessen der Chicago School bezieht sich übrigens eher auf den sozialgeschichtlichen Kontext als auf die wissenschafts- und sozialpolitischen Ambitionen der Schule selbst, die zweifellos große Affinitäten zu den humanistischen Zielen des amerikanischen Pragmatismus haben. Vgl. dazu Wolfram Fischer-Rosenthal: „Wie man sein Leben erlebt. Zur Sinnstruktur biographischer Ereignisse und Handlungen“. In: BIOS. Zeitschrift f r Biographieforschung und Oral History 2 (1989) H. 1, S. 3 – 13; Ursula Apitzsch: Lernbiographien zwischen den Kulturen. Vortrag auf dem 12. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft am 21. März 1990. Manuskript. Frankfurt/M. 1990.
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nahe abrupt beendet wird. Statt qualitativer Analysen umfangreicher subjektiver Materialien und der (von Merton später „Thomas-Theorem“ genannten) Bedeutung der Situationsdefinition wächst die Reputation quantitativer Methoden und einer komplementären, im Parsons’schen Struktur-Funktionalismus schließlich auch differenziert ausgearbeiteten Theorie des ,intakten‘ Systems Gesellschaft. Der neue soziologische ,Harmonismus‘, der sich im Grunde nur um den Preis gestiegener Repression und Rigidität des Systems und seiner Subsysteme postulieren lässt24, reproduziert jedenfalls angemessener die Situation eines ökonomisch erstarkenden Amerika, dessen beginnende nationalistische Hysterie angesichts des bevorstehenden Kriegseintritts die sozialen Probleme der vergangenen 1930er Jahre in den Hintergrund drängt. Der vergebliche Versuch des von der Chicago School beherrschten und zuvor sehr einflussreichen Social Science Research Council, seine Position in der amerikanischen Soziologie zu wahren, ist symptomatisch. Die interdisziplinär zur Begutachtung vorgelegte Leitstudie der Schule – eben jene umfangreiche soziobiographische Untersuchung über den polnischen Immigranten Wladek – wird zwar durchaus positiv gewürdigt25, aber das Ergebnis ändert nichts am faktischen Renommeeverlust der Chicagoer Soziologie.26 Der Rückblick auf die Anfänge der Biographieforschung in der Chicago School macht sensibel für die Produktivität gesellschaftlicher Umbruchsituationen und die Interdependenzen zwischen wissenschaftlichen Forschungsansätzen einerseits und den jeweiligen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Problem- und Interessenlagen andererseits. Es wäre deshalb riskant, die Beschäftigung mit Lebensgeschichten lediglich als innerwissenschaftliches Phänomen zu betrachten. ,Konjunkturen‘ der Biographieforschung sollten immer auch skeptisch daraufhin befragt werden, auf welche gesellschaftlichen Probleme und ,Bedarfe‘ sie möglicherweise antworten. Der Zwiespalt zwischen einer forschenden Hinwendung zur Perspektive der Subjekte und ihrer Lebenspraxis in der durchaus emanzipatorischen Absicht, 24 Vgl. Jürgen Habermas: „Stichworte zur Theorie der Sozialisation“ [1968]. In: ders.: Kultur und Kritik. Frankfurt/M. 1973, S. 118 – 194. 25 Vgl. Herbert Blumer: An Appraisal of Thomas‘ and Znaniecki’s „The Polish Peasant in Europe and America“. New York 1939; G. W. Allport: The Use of Personal Documents in Psychological Science. New York 1942. 26 Vgl. dazu Patricia M. Lengermann: „The Founding oft he American Sociological Review“. In: American Sociological Review 44 (1979), S. 185 – 198.
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diese angemessen zur Geltung zu bringen und zur Grundlage sozialreformerischer Maßnahmen zu machen, und dem ,Ausforschen‘ und Bereitstellen verfeinerter Kontrollinstrumente im Sinne der Foucault’schen Beschreibung ist jedenfalls keine Besonderheit der Chicagoer Biographieforschung. 1.2 Wurzeln und Verzweigungen der Biographieforschung im deutschsprachigen Kontext Eine der Chicago School vergleichbar konsistente Tradition soziobiographischer Forschung hat es im deutschsprachigen Raum nicht gegeben. Forschungsansätze zum Thema Biographie haben ihre Wurzeln in einer Reihe von Wissenschaftsdisziplinen und reichen weiter zurück in die geisteswissenschaftliche Tradition. Auffällig ist, dass die Forschungsmotivation – anders als in den USA – zunächst nicht mit dem Anstieg sozialer Probleme, sondern mit dem historisch früher beginnenden Prozess der Selbstvergewisserung des bürgerlichen Subjekts korrespondiert. Erste Ansätze einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Biographien werden gewöhnlich mit dem von Carl Philipp Moritz herausgegebenen „Magazin der Erfahrungsseelenkunde“ (1783 – 1793) verbunden.27 Die dort gesammelten „Herzensgeschichten“ sind Ausdruck eines in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft charakteristischen Interesses am Phänomen der Individualit t – eine Tradition, die sich im 19. Jahrhundert in der Tagebuchliteratur des Bürgertums und in der zunehmenden Bedeutung der literarischen Autobiographie fortsetzt.28 Vergleichbare Motive finden sich später in der Lebensphilosophie, besonders bei Dilthey und Misch.29 Auch die Psychoanalyse mit ihrem Interesse an der Lebensgeschichte30 und andere psychiatrische und 27 Vgl. Hans Thomae: „Die biographische Methode in den anthropologischen Wissenschaften“. In: Studium Generale 5 (1952), S. 163 – 177; Paul: Begegnungen. 28 Vgl. dazu stellvertretend Bernd Neumann: Identit t und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt/M. 1970. 29 Vgl. Paul: Begegnungen. 30 Vgl. Erik H. Erikson: Gandhi’s Truth. On the Origins of Militant Nonviolence. London 1970; Erik H. Erikson: Young Man Luther. A Study in Psychoanalysis and History. New York 1958.
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psychologische Forschungsansätze31, etwa von Jaspers oder Karl und Charlotte Bühler32, sind in diesem sozialgeschichtlichen Kontext anzusiedeln. Dabei gilt das Interesse, wie schon bei Moritz, weniger den ,einfachen Leuten‘ als den ,außergewöhnlichen Persönlichkeiten‘, die sich durch besondere Leistung, Kreativität oder auch ungewöhnliche pathologische Struktur als Studienobjekt qualifizieren. Auf der Suche nach den verborgenen Geheimnissen der menschlichen Psyche fokussieren diese Ansätze zwar das Individuum mit seinen inneren Dynamiken und Sinnkonstruktionen, doch sind sie nie bloß individualistisch, sondern reflektieren den weiteren Horizont von Gesellschaft und Kultur. Eine (psychoanalytische) Sozialpsychologie in diesem Sinn kann sich nach dem Zweiten Weltkrieg – und nach der Vertreibung der zumeist jüdischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die diese Richtung geprägt haben – an deutschsprachigen Universitäten allerdings nicht mehr etablieren. Die akademische Psychologie orientiert sich – von Ausnahmen wie dem phänomenologisch orientierten Ansatz Hans Thomaes abgesehen33 – zunehmend an den Naturwissenschaften und wird damit für die weitere Entwicklung der sozialwissenschaftlichen Biographieforschung irrelevant. Im Rahmen unserer Rekapitulation ist dagegen eine andere Wurzel der Biographieforschung von Interesse, die einige Parallelen zu den Arbeiten der Chicago School aufweist, obwohl sie selbst nicht primär wissenschaftlich motiviert ist: In Deutschland entwickelt sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine erstaunliche publizistische Aufmerksamkeit für ,Arbeiterbiographien‘. Die vor allem von Paul Göhre, einem evangelischen Theologen und Sozialdemokraten, herausgegebenen Lebensge31 Die äußerst vielfältigen und heterogenen Ansätze im Feld der Psychologie, Psychiatrie und Kriminologie (vgl. Paul: Begegnungen) sind für die folgenden Überlegungen von sekundärer Bedeutung. 32 Vgl. Charlotte Bühler: Der Lebenslauf als psychologisches Problem. Leipzig 1933. 33 Hans Thomae entwirft in seinem Buch Das Individuum und seine Welt. Eine Persçnlichkeitstheorie (Göttingen 1968) eine biographisch angelegte Persönlichkeitstheorie. Sein Ansatz wird von Jürgen Straub aufgenommen (Historischpsychologische Biographieforschung: theoretische, methodologische und methodische Argumentationen in systematischer Absicht. Heidelberg 1989), kann sich aber nicht innerhalb der Disziplin etablieren. Straubs Arbeiten zu Identität und Narration (z. B. Jürgen Straub (Hg.): Erz hlung, Identit t und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt/M. 1998) finden erst in den späten 1990er Jahren über andere fachliche Wege Eingang in die sozialwissenschaftliche Biographieforschung.
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schichten34 werden interessanterweise gerade im Bürgertum zur Kenntnis genommen. Sie verschaffen spezifische Einblicke in fremde Milieus und die Lebenserfahrungen des ,Proletariats‘, das im Zuge der ,socialen Frage‘ ins Licht einer breiten öffentlichen Debatte gerückt worden war. Die ,arbeitende Masse‘ bekommt mit jeder Lebensgeschichte ein ,individuelles Gesicht‘. Die enorme Popularität dieser Publikationen resultiert allerdings eher aus sozialromantischen Ambitionen der Bourgeoisie als aus politischer Solidarität. Auch die wenigen zeitgenössischen wissenschaftlichen Arbeiten zu jenen ,Arbeiterbiographien‘ lassen zum Teil ein Maß an Arroganz und Überheblichkeit gegenüber der proletarischen Lebenslage erkennen, wie es sich in den Forschungen der Chicago School nicht findet.35 In der Wissenschaft, besonders in der deutschen Soziologie, treffen diese soziobiographischen Dokumente insgesamt jedoch auf geringes Interesse. Möglicherweise ist die Vermutung richtig, dass dieser Umstand auf jene Auseinandersetzung Max Webers mit Adolf Levenstein zurückgehe, in der Weber Levensteins Untersuchungen allenfalls den Charakter „klassenpsychologischen Materials“ attestiert36, sie unter empirisch-sozialwissenschaftlichen Aspekten aber scharf kritisiert.37 In der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg stehen zunächst andere Themen und Ansätze auf der Tagesordnung. Hier wird der Paradigmenwechsel der amerikanischen Soziologie von der Chicago School zum 34 Die berühmtesten waren: Carl Fischer: Denkw rdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters. Leipzig, Jena 1903; Moritz Th. W. Bromme: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. Jena 1905; Wenzel Holek: Lebensgang eines deutschtschechischen Handarbeiters. Leipzig, Jena 1909; Franz Rehbein: Das Leben eines Landarbeiters. Jena 1911; und, nicht von Göhre ediert, Adelheid Popp: Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin. Mit einführenden Worten von August Bebel. München 1909. 35 Robert Michels: „Psychologie der antikapitalistischen Massenbewegung“. In: ders.: Grundriß der Sozialçkonomik. Bd. IX, 1. Tübingen 1926, S. 241 – 359; Susanne Hirschberg: Das Bildungsschicksal des gewerblichen Proletariats im Lichte der Arbeiterautobiographie. Untersuchungen ber proletarische Bildungsfragen unter vorwiegender Ber cksichtigung autobiographischer Darstellungen. Diss. Köln 1928; Adelbert Koch: „Arbeitermemoiren als sozialwissenschaftliche Erkenntnisquelle“. In: Archiv f r Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 61 (1929) H. 1, S. 128 – 171. 36 Max Weber: „Zur Methodik sozialpsychologischer Enqueten und ihrer Bearbeitung“. In: Archiv f r Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 29 (1909) H. 3, S. 949 – 958, hier S. 949. 37 Vgl. Anthony Oberschall: Empirical Social Research in Germany, 1848 – 1914. Paris 1965.
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Systemfunktionalismus Talcott Parsons’ gleichsam affirmativ und methodisch unreflektiert nachvollzogen. Erst in den 1970er Jahren werden im Zuge einer politisch-kulturellen Neuorientierung in den Sozial- und Geisteswissenschaften auch diese frühen Ansätze der Biographieforschung wieder aufgenommen und methodologisch reinterpretiert.38 2. ,Wiederentdeckung‘ des Biographischen im späten 20. Jahrhundert Die Wiederentdeckung der Biographieforschung in den Sozial- und Erziehungswissenschaften der 1970er Jahre steht im Zusammenhang mit kritischen Gegenbewegungen zu den herrschenden Positionen in Wissenschaft und Gesellschaft.39 In der marxistisch orientierten Industriesoziologie, in der kritischen Geschichtsschreibung, die sich als ,Geschichte von unten‘ begreift, in der neu entstehenden Literatur und Forschung zur Situation von ,Migranten‘ bzw. ,Gastarbeitern‘, wie es zunächst heißt, oder in der Frauenforschung40 – überall, wo es um parteiliche Forschung geht, die sich an die Seite der ,kleinen Leute‘ stellen und die unterdrückten und ignorierten Perspektiven gegenüber hegemonialen Deutungssystemen stark machen will, gewinnen biographische Dokumente und Methoden an Bedeutung. Sie gelten z. B. in der Frauenbewegung und -forschung als eine Möglichkeit, die im patriarchalen System übergangenen, verschwiegenen und unterdrückten Erfahrungen von Frauen ,sichtbar‘ zu machen, Frauen aus dem ,Dunkel der Geschichte‘ zu holen, ihnen ,eine Stimme zu verleihen‘.41 Die Bevorzugung biographischer Methoden gerade in der Frauenforschung ist eine spezifische Variante der Einsicht, dass ,das Private politisch‘ ist.42 38 Vgl. Peter Alheit: Alltag und Biographie. Studien zur gesellschaftlichen Konstitution biographischer Perspektiven. 2. Aufl. Bremen 1990. 39 Biographieforschung wurde nicht nur in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften wieder entdeckt, sondern in den meisten europäischen Ländern, vgl. z. B. Lutz Niethammer (Hg.): Lebenserfahrung und kollektives Ged chtnis. Die Praxis der „Oral History“. Frankfurt/M. 1980. Dabei ist jedoch darauf hinzuweisen, dass diese Tradition in einigen Ländern schon länger besteht, in Polen etwa seit den 1920er Jahren, wesentlich beeinflusst durch Florian Znaniecki. 40 Hier besteht eine Parallele zu den frühen Konzepten der geschlechts- und klassenkritischen Sozialisationsforschung. 41 Vgl. z. B. Sheila Rowbotham: Im Dunkel der Geschichte. Frauenbewegung in England vom 17. – 20. Jahrhundert. Frankfurt/M., New York 1980. 42 Zum Zusammenhang von Frauenforschung und Biographieforschung vgl. Margret Kraul: „Biographieforschung und Frauenforschung“. In: Handbuch
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2.1 Methodisch-politische Neuansätze Die politisch motivierte Programmatik biographischer Forschung als ,Gegenwissenschaft‘ (z. B. in den Anfängen der Frauenforschung oder der Oral History) wird jedoch bald schon Gegenstand der (Selbst-)Kritik: Das Hauptargument lautet, dass der Biographiebegriff häufig unreflektiert in seiner alltagsweltlichen Bedeutung verwendet wird und hinter die Einsicht zurückfällt, dass Biographien ,social facts‘ und keine fraglos gegebenen quasi-natürlichen Kategorien der Thematisierung von Erfahrung sind. Eine Reflexion der mit Biographie zumeist stillschweigend vorausgesetzten Annahmen – dass Menschen eine Biographie ,haben‘, dass diese nach bestimmten normalbiographischen Mustern verläuft und an normativen Vorstellungen eines ,gelungenen‘ (z. B. ,emanzipierten‘) Lebens gemessen werden kann – setzt systematisch im Zuge einer kritischen Methodendiskussion und zunehmender Erfahrung mit empirischer Biographieforschung seit den 1980er Jahren ein, einer Phase, in der auch der Ansatz der interpretativen Soziologie in (West-)Deutschland auf breiter Ebene wieder neu rezipiert wird.43 Im Unterschied zum ,älteren‘ Sozialkonstruktivismus der Chicago School und daran anknüpfender Konzepte in den 1960er Jahren44 betont erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Hg. v. Heinz-Hermann Krüger u. Winfried Marotzki. Opladen 1999, S. 455 – 469; Bettina Dausien: „Erzähltes Leben – erzähltes Geschlecht? Aspekte der narrativen Konstruktion von Geschlecht im Kontext der Biographieforschung“. In: Feministische Studien 19 (2001) H. 2, S. 57 – 73; Bettina Dausien: „Bildungsbiographien von Frauen im intergenerationalen Verhältnis – ein methodologisches Plädoyer für einen biographischen Forschungsansatz“. In: Metis. Zeitschrift f r historische Frauen- und Geschlechterforschung (2001) Bd. 19: Generationenbeziehungen, S. 56 – 77; Bettina Dausien: „Frauengeschichte(n) – Perspektiven der Biographieforschung in der Frauen- und Geschlechterforschung“. In: Desiderate der çsterreichischen Frauenbiografieforschung. Hg. v. Elisabeth Lebensaft. Wien 2001, S. 12 – 26. 43 Den Anstoß zu dieser Rezeption hatte Jürgen Habermas schon in den 1960er Jahren mit seiner Schrift Zur Logik der Sozialwissenschaften. Beiheft der Philosophischen Rundschau (Tübingen 1967) gegeben. Wichtig war auch die von der „Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen“ herausgegebene zweibändige Übersetzung zentraler Texte der Interpretativen Soziologie: Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Bd. 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie; Bd. 2: Ethnotheorie und Ethnographie des Sprechens. Reinbek bei Hamburg 1973. 44 Es sind vor allem die ,Enkel‘ der Chicagoer Soziologie, die mit den theoretischen Entwürfen von Mead und Dewey, dem methodologischen Ansatz des Symbolischen Interaktionismus und sozialphänomenologischen Konzepten im Anschluss an Schütz in den 1960er Jahren den Gedanken der ,gesellschaftlichen
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die neuere Debatte stärker die soziale Standortgebundenheit und Konstruktivit t sozialwissenschaftlicher Forschung selbst. Diese selbstkritische Reflexion, die seit Ende der 1980er Jahre besonders in der Frauenforschung und anderen politisch motivierten gegenwissenschaftlichen Kontexten geführt wird, verbindet sich mit einer methodologisch ausgerichteten Diskussion in der Sozialwissenschaft. In der Biographieforschung lässt sich der Perspektivwechsel daran festmachen, dass ,Biographie‘ nicht mehr fraglos als Methode zur Erhebung gegebener Erfahrungsstrukturen verwendet (,jede(r) hat eine Biographie, die nur noch erhoben werden muss‘), sondern selbst zum Gegenstand theoretischer und empirischer Reflexion gemacht wird. ,Biographie‘ hat ihre Unschuld als ,life-record‘ endgültig verloren. 2.2 „Constructionist turn“ Die Fragen, was Biographien ,sind‘, welche Funktion sie für Individuen und Gesellschaften erfüllen, nach welchen historisch-kulturellen Mustern sie konstruiert und wie sie sozial strukturiert werden, leiten etwa Mitte der 1980er Jahre eine theoretische Debatte in der Biographieforschung ein und führen auch zu neuen methodologischen und methodischen Konzepten. Es geht nicht mehr darum, wie Biographien in unterschiedlichen Gruppen und Kontexten ,sind‘ bzw. ,verlaufen‘, sondern darum, wie Menschen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten und sozialen Situationen eine Biographie ,herstellen‘ und welche Bedingungen, Regeln und Konstruktionsmuster dabei beobachtet werden können.45 Biographie wird als soziale Konstruktion, als individuelle und kollektive ,Leistung‘, als ,biographische Arbeit‘ begriffen, die auf bestimmte gesellschaftliche Problemlagen antwortet, sich bestimmter Konstruktion der Wirklichkeit‘ (Peter L. Berger u. Thomas Luckmann: The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge. New York 1967) als wissenssoziologisches Programm formulieren bzw. das empirische Programm einer „Grounded Theory“ entwerfen (Barney G. Glaser u. Anselm L. Strauss: The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research. New York 1967). 45 Vgl. dazu Wolfram Fischer-Rosenthal: „Zum Konzept der subjektiven Aneignung von Gesellschaft“. In: Handbuch Qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden, Anwendungen. Hg. v. Uwe Flick, Ernst von Kardorff u. a. Weinheim 1991, S. 78 – 89; Wolfram Fischer-Rosenthal: „Melancholie der Identität und dezentrierte biographische Selbstbeschreibung. Anmerkungen zu einem langen Abschied aus der selbstverschuldeten Zentriertheit des Subjekts“. In: BIOS. Zeitschrift f r Biographieforschung und Oral History 12 (1999) H. 2, S. 143 – 168.
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kultureller Muster bedient und für bestimmte Akteurinnen bzw. Gruppen von Akteuren je unterschiedliche Bedeutung haben kann. In empirischen Studien geht es – vornehmlich mit der Methode des narrativen Interviews46 – darum, diese sozial spezifischen biographischen Konstruktionsmuster zu untersuchen und differenzierte Logiken der Erfahrungsrekapitulation herauszuarbeiten. Damit wird zugleich ein unhistorischer, universalistischer Begriff von Biographie dekonstruiert. Die individuelle biographische Arbeit wird auch durch zeitgenössische Metaphern hervorgehoben, die einerseits die Freiheit und Kreativität des konstruierenden Subjekts betonen wie etwa das Bild, dass jeder sein eigener Regisseur ist und das Drehbuch seines Lebens selber schreibt (und umschreibt), andererseits aber auf die Fragilität und Brüchigkeit dieser Leistung verweisen wie das Bild von der ,Bastel-‘ oder ,Patchwork-Biographie‘. Gesellschaftlicher Hintergrund für die gestiegene Sensibilität gegenüber der (riskanten) biographischen Arbeit der Einzelnen ist noch immer der historische Prozess der Individualisierung, der jedoch in der ,modernisierten Moderne‘47 eine andere Qualität angenommen hat.48 46 Diese von Fritz Schütze entwickelte Methode (vgl. u. a. Die Technik des narrativen Interviews in Interaktionsfeldstudien. Dargestellt an einem Projekt zur Erforschung von kommunalen Machtstrukturen. Unveröffentlichtes Manuskript. Bielefeld 1977; „Kognitive Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens“. In: Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beitr ge und Forschungsperspektiven. Hg. v. Martin Kohli u. Günther Robert. Stuttgart 1984, S. 78 – 117) basiert auf theoretischen Grundlagen in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus und anderer Ansätze der Interpretativen Soziologie sowie (sozio-)linguistischen Theorien (vgl. Fritz Schütze: Sprache soziologisch gesehen. 2 Bde. München 1975). Zur Anwendung der Methode in der Geschlechterforschung vgl. Bettina Dausien: „Biographieforschung als ,Königinnenweg‘. Überlegungen zur Relevanz biographischer Ansätze in der Frauenforschung“. In: Erfahrung mit Methode. Wege sozialwissenschaftlicher Frauenforschung. Hg. v. Angelika Diezinger, Hedwig Kitzer u. a. Freiburg i. B. 1994, S. 129 – 153; Bettina Dausien: Biographie und Geschlecht. Zur biographischen Konstruktion sozialer Wirklichkeit in Frauenlebensgeschichten. Bremen 1996. 47 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/ M. 1986. 48 Vgl. dazu Peter Alheit: „,Biographizität‘ als Lernpotential. Konzeptionelle Überlegungen zum biographischen Ansatz in der Erwachsenenbildung“. In: Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Hg. v. Heinz-Hermann Krüger u. Winfried Marotzki. Opladen 1995, S. 276 – 307; Peter Alheit: „,Individuelle Modernisierung‘ – Zur Logik biographischer Konstruktion in modernisierten modernen Gesellschaften“. In: Differenz und Integration. Die Zukunft moderner
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3. Reflexive Brechungen in aktuellen methodologischen Diskursen Am Ende des 20. Jahrhunderts ist das Bewusstsein gewachsen, dass ,Normalbiographien‘ allenfalls noch normative Bedeutung haben, aber keine (statistische) Normalität mehr beschreiben und keine praktisch lebbaren Modelle mehr darstellen. Dies wird besonders deutlich an den veränderten Lebensläufen von Frauen, die zwischen Struktur und Norm längst neue Muster ,erfunden‘ haben49, ehe die Sozialwissenschaft dafür angemessene Modelle und Begriffe entwickelt hat.50 Für Frauen und Männer in modernen Gesellschaften sind Veränderungen insbesondere im Kernbereich der Erwerbsarbeit bedeutsam. Sie machen kontinuierliche Bildungs- und Berufsbiographien zunehmend unwahrscheinlich. Stattdessen wird allgemein eine Pluralisierung von Lebensentwürfen diagnostiziert51, die den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern eine erheblich gestiegene Wahlmöglichkeit zubilligt und ihnen die Chance zu ,lebenslangem Lernen‘ eröffnet, aber auch die ,lebenslängliche‘ Bereitschaft abfordert, sich immer wieder neu zu orientieren und anzupassen. Die Vorstellung einer ,Wahlbiographie‘ und die These des ,flexiblen Menschen‘ werden deshalb auch kritisch betrachtet.52 Sie befördern neue, widersprüchliche Normen, ohne reale Handlungsressourcen und Wahlmöglichkeiten zu garantieren. Die Freiheit zur eigenverantwortlichen Wahl kann zum Zwang werden, die Chance der Flexibilisierung starrer biographischer Normen zur Verunsicherung. In dieser gesellschaftlichen Situation gewinnen – neben den soziologischen – auch bildungstheoretische und bildungspolitische Fragen an Bedeutung. Angesichts der diagnostizierten Veränderungen werden Erfahrungs- und Wissensressourcen früherer Generationen ebenso fraglich wie bisher funktionierende Lernmedien und Bildungskonzepte. Dabei geht es nicht nur um die marktorientierte Frage, welche Kompetenzen und Qualifikationsprofile für die erfolgreiche Bewältigung der (beruflichen) Zukunft benötigt werden, sondern sehr viel grundlegender darum, welche Lebensentwürfe und Bildungswege überhaupt noch 49 50 51 52
Gesellschaften. Verhandlungen des 28. Kongresses f r Soziologie 1996 in Dresden. Hg. v. Stefan Hradil. Frankfurt/M., New York 1997, S. 941 – 952. Claudia Born u. Helga Krüger (Hgg.): Erwerbsverl ufe von Ehepartnern und die Modernisierung weiblicher Lebensl ufe. Weinheim 1993. Vgl. Dausien: Biographie und Geschlecht, S. 44 – 83. Vgl. Beck: Risikogesellschaft u. v. a. Vgl. Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 1998.
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tragfähig sein können oder neu entwickelt werden müssen. Wie Wissen zwischen den Generationen tradiert wird, wie es retrospektiv verarbeitet und mit Blick auf die Zukunft organisiert wird, sind Themen der erziehungswissenschaftlichen Diskussion am Beginn des 21. Jahrhunderts.53 Dabei gibt es auch ein starkes Interesse an Lernprozessen im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis und die Frage, wie sich Biographien zwischen Tradierung und Neuentwurf als Lebensgeschichten von Frauen und Männern gestalten. Im Kontext dieser gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Diskussionen spielt das Konzept der Biographie eine wichtige, wenn auch mehrdeutige Rolle: Biographien werden als konstruktive Leistungen gesehen, die für Individuen wie für die Gesellschaft zugleich erheblich an Bedeutung gewonnen haben und fraglich geworden sind. Diese Perspektive auf Biographie und die ,Biographizität des Sozialen‘54 wird von verschiedenen theoretischen Strömungen beeinflusst und hat zu unterschiedlichen ,Spielarten eines biographischen Konstruktivismus‘ geführt. Einige typische Varianten sollen zur Illustration kurz skizziert werden: – Einerseits gibt es in der Biographieforschung nach wie vor eine starke Tradition des Sozialkonstruktivismus, die sich aktuell besonders mit methodologischen Fragen beschäftigt wie z. B. mit der Verknüpfung von Interaktion und Biographie und von ethnographischer und biographischer Forschung.55 Ergänzt wird die interaktionistische Sichtweise durch eine (sozial-)ph nomenologische Analyseperspektive, in der nicht nur Konstruktion und Handlung, sondern Erfahrung und Erleben als biographische Prozesse konzipiert werden. Hier ist die 53 Als Indikatoren für diese Debatte können Kongressthemen der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft angeführt werden, z. B. „Medien-Generation“ (1998), „Bildung und Erziehung in Übergangsgesellschaften“ (2000) und „Innovation durch Bildung“ (2002). 54 Peter Alheit u. Bettina Dausien: „Die biographische Konstruktion der Wirklichkeit. Überlegungen zur Biographizität des Sozialen“. In: Biographische Sozialisation. Hg. v. Erika M. Hoerning. Stuttgart 2000, S. 257 – 283. 55 Für diese Debatte sind vor allem die Arbeiten von Anselm Strauss wichtig geworden, auf die sich auch Vertreter der deutschsprachigen Biographieforschung wie Wolfram Fischer-Rosenthal, Gerhard Riemann oder Fritz Schütze zentral beziehen. Zur Verbindung ethnographischer und biographischer Methoden vgl. Bettina Dausien u. Helga Kelle: Zur Verbindung von ethnographischen und biographischen Forschungsperspektiven. Methodologische berlegungen am Beispiel der Geschlechterforschung. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript. Bielefeld 2002.
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leibliche Dimension von Lebensgeschichten ein aktuell diskutierter Ansatzpunkt56, um den Konstruktionsaspekt aus der ,Binnenwahrnehmung‘ der Subjekte heraus zu beschreiben. Mit diesen Fragestellungen bezieht sich Biographieforschung kritisch auf identitätstheoretische Konzepte. Sie betont in Absetzung insbesondere gegenüber eigenschaftstheoretischen und räumlichen Modellen von Identität den prozesshaften und konstruktiven Charakter von Lebensgeschichten. – Eine andere Variante von im weiteren Sinne sozialkonstruktivistischen Ansätzen hat mit dem Gedanken der sozialen Konstruktion von Biographien weniger die phänomenologische Perspektive und (Inter)Aktion der Subjekte im Blick, sondern akzentuiert stärker die ,äußere‘, gesellschaftliche Strukturierung und Konstitution biographischer Prozesse. Fragestellungen sind idealtypisch darauf gerichtet, welche sozialen Strukturen und historischen Bedingungen zur Konstruktion typischer Biographien führen. Forschungen dieser Richtung, die meist sozial-historisch orientiert sind, referieren auf Theorien des sozialen Raumes im Anschluss an Mannheim, Elias oder Bourdieu und betonen ausdrücklich die berindividuelle Logik von Biographien – sei es im Sinne kollektiver ,Typen‘, die – gewissermaßen als synchrone Erfahrungsgestalten – an bestimmte Milieus gebunden sind, sei es im Sinne intergenerationaler Tradierung biographischer Erfahrungen, die in diachroner Perspektive die Limitierung des Biographieverständnisses auf eine individuelle Lebensgeschichte erweitert.57 – Während die bislang genannten Ansätze den Konstruktionsgedanken in einer Verknüpfung von sozialem Handeln, subjektiver Sinnkonstruktion und historisch-gesellschaftlichen Strukturen durchaus im Sinne des ,klassischen Sozialkonstruktivimus‘ weiterführen und die 56 Vgl. stellvertretend Fischer-Rosenthal: „Melancholie der Identität“. 57 Als Beispiel für Projekte dieser Richtung vgl. Peter Alheit, Hanna Haack u. a.: Gebrochene Modernisierung – Der langsame Wandel proletarischer Milieus. Eine empirische Vergleichsstudie ost- und westdeutscher Arbeitermilieus in den 1950er Jahren. 2 Bde. Bremen 1999; Peter Alheit, Kerstin Bast-Haider u. Petra Drauschke: Die verzçgerte Ankunft im Westen. Biographien und Mentalit ten in Ostdeutschland. Frankfurt/M., New York 2004; Heidrun Herzberg: Biographie und Lernhabitus. Eine Untersuchung im Rostocker Werftarbeitermilieu. Frankfurt/M., New York 2004. Im konkreten Forschungsdesign werden in diesen historisch orientierten Studien biographische Interviews, Dokumentenanalysen und sozialgeschichtliche Methoden kombiniert.
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Konstruktion von Biographie im Sozialen – gefasst mit dem Konzept der Lebenswelt und/oder des sozialen Raumes – verorten, haben sich andere von dieser ,Bodenhaftung‘ gelöst: Der Einfluss von Theorien, die dem Etikett der ,Postmoderne‘ zugeordnet werden können, und hier insbesondere die Debatte um Identität und Differenz, haben eine theoretische Dekonstruktion der eigenen begrifflichen Voraussetzungen herausgefordert und den Prozess der symbolischen, sprachlichen und kognitiven Konstruiertheit der ,Wirklichkeit‘ in den Mittelpunkt gestellt. Dabei spielt die Frage, ob eine außersprachliche Referenz (,Leben‘, ,Wirklichkeit‘ s. o.) anzunehmen sei, nur noch eine geringe oder keine Rolle mehr. – Konzepte, die ,Biographie‘ als Konstruktion eines selbstreferenziellen Bewusstseins betrachten und dies systemtheoretisch58, kognitionstheoretisch oder unter Verweis auf Erklärungsmodelle des biologischen Konstruktivismus59 begründen, suspendieren bewusst die Frage der (sozialen) ,Wirklichkeit‘. Selbst-Konstruktion erscheint hier als autopoietische Leistung eines Bewusstseins. Über den Aspekt der Sozialität, der Ko-Konstruktion oder Interaktion zwischen Biographien soll (und/oder kann) nur sehr begrenzt etwas ausgesagt werden.60 Kennzeichnend für diese Diskussion ist das überwiegend abstrakt-theoretische Niveau der Beschäftigung.61 – Ähnliches gilt für Versuche, die Dekonstruktionsdebatte, wie sie insbesondere von der französischen poststrukturalistischen Philosophie angeregt und in der Geschlechterforschung aufgegriffen worden 58 Armin Nassehi u. Georg Weber: „Zu einer Theorie biographischer Identität. Epistemologische und systemtheoretische Argumente“. In: BIOS. Zeitschrift f r Biographieforschung und Oral History 4 (1990), S. 153 – 187; Uwe Schimank: „Biographie als Autopoiesis – eine systemtheoretische Rekonstruktion von Individualität“. In: Vom Ende des Individuums zur Individualit t ohne Ende. Hg. v. Hanns-Georg Brose u. Bruno Hildenbrand. Opladen 1988, S. 55 – 72. 59 Vgl. z. B. Humberto Maturana u. Francisco Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Bern, Wien u. a. 1987. 60 Vgl. dazu Alheit u. Dausien: „Die biographische Konstruktion der Wirklichkeit“. In: Biographische Sozialisation. Hg. v. Hoerning, S. 257 – 283. 61 Studien, die eine konsequente methodologische und empirische Umsetzung systemtheoretischer Konzepte für die Analyse von Biographien suchen, sind selten. Interessante Versuche, die systemtheoretische Perspektive für eine Methodologie der Re-Konstruktion in der erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Forschung fruchtbar zu machen, finden sich in Tilmann Sutter (Hg.): Beobachtung verstehen, Verstehen beobachten. Perspektiven einer konstruktivistischen Hermeneutik. Opladen 1997.
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ist, für die Biographieforschung fruchtbar zu machen. Sie bewegen sich in der Spannung zwischen grundlegenden theoretischen Argumenten gegen eine naturalistische, identitätslogische Konstruktion von Biographie als einheitliches, in sich geschlossenes und festschreibendes Identitätsmodell einerseits und der Erwartung andererseits, mit Biographie ein nicht fixierendes, flüssigeres sprachliches Konstruktionsformat zu finden, das Vielfalt und Widersprüche ohne Zwang zur Vereindeutigung thematisierbar macht.62 – In diesem Zusammenhang hat das Konzept der Narration eine besondere Aktualität gewonnen. Im Spannungsfeld zwischen Repräsentation und Konstruktion werden ,Geschichten‘ als Medium der Darstellung und/oder Herstellung von Identität und Biographie betrachtet: Erzählen gilt als ein Modus, der soziale Erfahrungen nicht nur kommunikabel macht und damit einen Zugang zu subjektiven Konstruktionen von Selbst und Welt schafft, sondern in die Strukturierung von Erfahrungen selbst eingreift, Identität formt und erzeugt. Überspitzt gesagt: Das Selbst wird erzählt.63 Wir „sind […], was wir uns selbst und anderen erzählen“.64 Die Verlockung, dem 62 Zu den wenigen empirischen Studien, die versuchen, die Diskrepanz zwischen abstraktem theoretischen Ansatz und empirischer Forschung zu verringern, gehören der bildungstheoretische Entwurf von Hans-Christoph Koller (Bildung und Widerstreit. Zur Struktur biographischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne. München 1999), der mit Bezug auf Lyotards Konzept des Widerstreits an biographischen Materialien Deutungsmöglichkeiten für Bildungsprozesse entwickelt, oder die von Encarnación Gutiérrez Rodriguez vorgelegte ,postkoloniale dekonstruktive Analyse‘ der Verschränkung von Vergeschlechtlichung und Ethnisierung in den Biographien ,intellektueller Migrantinnen‘: Intellektuelle Migrantinnen – Subjektivit ten im Zeitalter von Globalisierung. Eine postkoloniale dekonstruktive Analyse von Biographien im Spannungsverh ltnis von Ethnisierung und Vergeschlechtlichung. Opladen 1999. 63 Vgl. Heiner Keupp, Thomas Ahbe u. Wolfgang Gmür (Hgg.): Identit tskonstruktionen. Das Patchwork der Identit ten in der Sp tmoderne. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 101 ff; Wolfgang Kraus: Das erz hlte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identit t in der Sp tmoderne. Pfaffenweiler 1996. 64 Diese Formulierung stammt aus einer populärwissenschaftlichen Darstellung neuerer Ansätze der so genannten „narrativen Therapie“. Ein etwas ausführlicheres Zitat verdeutlicht, dass der Konstruktivismus hier sehr unbeschwert und geradezu handwerklich ,handfest‘ gedacht wird: „Wer wir sind und was wir sind, erschließt sich uns nur durch eine permanente Selbsterschaffung: Im Grunde sind wir das, was wir uns selbst und anderen erzählen. Unser Leben besteht aus einer wachsenden Zahl von Geschichten, an die wir glauben und die in ihrer Summe unsere Identität begründen“ (Heiko Ernst: „Ein neuer
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individualisierten Subjekt in den Wirren der ,neuen Unübersichtlichkeit‘ mit dem Konzept der Narration eine produktive und ermächtigende65 Rolle zuzuschreiben, ist groß. Das Subjekt wird zum Schöpfer seiner selbst stilisiert. Andere (sozial-)konstruktivistische Verständnisse sind demgegenüber skeptischer und halten den Doppelaspekt des Narrationskonzepts in der Schwebe, Wirklichkeit zugleich zu repräsentieren und zu konstruieren.66 Zusammenfassend kann für den neuen, hier beispielhaft skizzierten Blick auf die Biographieforschung Folgendes festgehalten werden: Biographie hat endgültig den Status eines methodischen ,Instruments‘ zur (kritischen) Abbildung einer individuellen oder sozialen Wirklichkeit verloren und wird als veränderliche, flüssige Konstruktion betrachtet. Die theoretischen Bezüge und Begründungen für diese Sicht sind allerdings äußerst heterogen, sie überschneiden und/oder widersprechen sich teilweise. In allen werden jedoch die Möglichkeitsräume für das Schreiben und Umschreiben von Lebensgeschichte(n) in bestimmten – mehr oder minder gewichteten – Grenzen akzentuiert. Die Differenz zwischen einem subjektiven Innen und einem gesellschaftlichen Außen scheint nicht mehr konstitutiv für den Biographiebegriff zu sein, sondern wird in den Spielarten einer konstruktivistischen Biographieforschung auf unterschiedliche Weise ,eingeklammert‘. Die Positionen variieren dabei zwischen zwei Polen: der hypothetischen Annahme eines selbstreferenziellen Bewusstseins, das nur ein Blick auf das eigene Leben“. In: Psychologie heute 29 (2002) H. 6, S. 21 – 26, hier S. 21). Etwas weiter heißt es bei demselben Autor: „Denn jede Erzählung, jede Autobiografie ist eine Textualisierung des Lebens, und nur anhand eines solchen Textes können wir dieses Leben überhaupt erkennen. Das bedeutet aber auch: Wie jeder andere Text kann die Autobiografie bearbeitet, interpretiert, umgeschrieben und umgedeutet werden“ (ebd., S. 21 f). 65 In der praktischen pädagogischen Arbeit mit Biographie, etwa in der politischen und historischen Erwachsenenbildung (hier besonders in der Frauenbildung, der Arbeit mit Migrantinnen, Alten und anderen marginalisierten Gruppen) spielt die Perspektive des Empowerment und der ,Rückgewinnung der Deutungsmacht‘ über die eigene Lebensgeschichte eine zentrale Rolle (vgl. Regina Meyer u. Susanne Bosse: „Das Göttinger Erzählcafé – eine Möglichkeit des öffentlichen Erinnerns“. In: Zeitschrift f r Politische Psychologie 6 (1998) H. 4, S. 447 – 458. 66 Die narrative Spielart des Konstruktivismus bezieht sich auf ein heterogenes Spektrum theoretischer Zugänge aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Literatur- und Kulturwissenschaft, der soziolinguistischen Erzählforschung, der Soziologie, der Pädagogik oder der Psychologie.
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,Innen‘ kennt, und einer gesellschaftstheoretischen Lesart, die Konstruktionsprozesse nach wie vor durch den sozialen Raum strukturiert sieht, aber die erkenntnistheoretische Problematik der ,Schnittstelle‘ zwischen Innen und Außen einklammert und auf einen großtheoretischen Lösungsanspruch verzichtet zugunsten einer gegenstandsbezogenen empirischen Forschungsperspektive. Unklar ist auch das Verhältnis zwischen Theorie und Empirie. Ein Ausloten biographischer Konstruktionsprozesse, ihrer Freiheiten und Begrenzungen mit den Mitteln empirischer Forschung ist kein konsenshaftes Ziel mehr. Das Interesse einiger Ansätze besteht eher in der Dekonstruktion der eigenen (wissenschaftlichen) Begriffe und Konzepte, in der kritischen Selbstanwendung der Konstruktivismusthese als in der Analyse ,empirischer Verhältnisse‘, die tendenziell unter dem Verdacht stehen, im positivistischen Sinn als Realität gedacht zu werden. In dieser Situation kommt Texten als Forschungsmaterial eine herausragende Bedeutung zu. Literarische Texte oder Interviewtranskripte werden weder als Ausdruck einer ,inneren Bildungsbewegung‘ noch als ,social facts‘ und ,life-records‘ betrachtet, sondern als ,narrative Konstruktionen‘, die nicht auf ,Wirklichkeit‘, sondern auf Regeln der Konstruktion von Wirklichkeit verweisen. Wenn Narrationen in erster Linie als Medien und Formate der Sinnerzeugung betrachtet werden, wird auch deren Perspektivit t zum Thema wissenschaftlicher Analyse. Das Schreiben und Umschreiben, Finden und Erfinden von Sinn wird als Prozess interpretiert, der Freiheitsspielräume beinhaltet, aber auch durch die Einbindung in Sprache und Symbolsysteme sowie darin eingelassene soziale und kulturelle Differenz- und Dominanzverhältnisse begrenzt ist. Lebensgeschichten sind keine linearen, eindeutigen Konstruktionen, sondern u. U. auf widersprüchliche, ,gebrochene‘ und ,patchworkartige‘ Weise mit anderen Mustern von Sinnkonstruktion verschränkt. Die These der Selbst- und Weltkonstruktion im Medium biographischen Erzählens trifft sich interessanterweise auch mit einer Kritik und Neudefinition p dagogischer Praxis aus konstruktivistischer Perspektive: Bildungsprozesse werden nicht mehr in erster Linie als Vermittlung oder Erziehung begriffen, sondern als Unterstützung und Begleitung der biographischen Arbeit der Individuen, als Bereitstellung von Arrangements und ,Ermöglichungsräumen‘ für Prozesse der SelbstKonstruktion und Selbst-Bildung. Die normative Dimension pädagogischer Theorie und Praxis wird damit zwar nicht aufgehoben, aber relativiert und als Gegenstand permanenter Aushandlungsprozesse aller
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am Bildungsprozess beteiligten Lernenden verstanden und nicht als Aufgabe des Curriculums und der Lehrenden. Schon die selektiven Hinweise auf die Geschichte biographischer Forschung zeigen, dass Biographie keine Kategorie allein zur Erfassung individueller Sicht- und Erlebnisweisen darstellt, sondern eng mit gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen verbunden ist und diese auch thematisiert. Mit einer biographischen Perspektive werden Selbst- und Weltverh ltnisse angesprochen, und zwar sowohl auf der Ebene der Alltagswelt als auch in der wissenschaftlichen Rekonstruktion. Die ausschnitthaften Skizzen zur Entstehung eines wissenschaftlichen Interesses an Biographie und Lebensgeschichte verdeutlichen zugleich, dass dieses im gleichen historischen Kontext der sich konstituierenden modernen bürgerlichen Gesellschaft anzusiedeln ist wie das Interesse an Sozialisation. Sozialisationstheoretisches und biographietheoretisches Denken sind Verarbeitungsformen der gesellschaftlichen Erfahrung des Auseinandertretens von sozialer Ordnung und individueller (Selbst-)Verortung. Der Biographiebegriff lässt sich damit auf die sozialisationstheoretische Option beziehen, die ,Schnittstelle‘ von Individuum und Gesellschaft oder – dem Biographiekonzept angemessener – das prozesshafte Ineinandergreifen von Individuation und Vergesellschaftung zu theoretisieren. Im Unterschied zum Sozialisationskonzept, das dieses Verhältnis gewissermaßen aus einer idealisierten ,externen‘ Beobachterposition heraus als Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft beschreibt, greift die Biographieforschung das Reflexivwerden des Verhältnisses zwischen ,Selbst‘ und ,Welt‘ aus der biographischen ,Binnenperspektive‘ auf, und das heißt, dass das Verhältnis ,Individuum – Gesellschaft‘ im Sinnzusammenhang einer je konkreten (Lebens-)Geschichte thematisiert wird.67 Wie die historischen Skizzen angedeutet haben, ist die Art dieser Thematisierung jedoch abhängig von den historisch konkreten Kontexten, in denen das Verhältnis ,Selbst – Welt‘ bzw. ,Individuum – 67 Das Verhältnis von ,Sozialisation‘ und ,Biographie‘ haben wir an anderer Stelle ausführlicher diskutiert, vgl. Peter Alheit u. Bettina Dausien: „Biographieforschung in der Erwachsenenbildung“. In: Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Hg. v. Krüger u. Marotzki, S. 407 – 432; Bettina Dausien: „Biographie und/oder Sozialisation? Überlegungen zur paradigmatischen und methodischen Bedeutung von Biographie in der Sozialisationsforschung“. In: Biographische Arbeit. Hg. v. Margret Kraul u. Winfried Marotzki. Opladen 2002, S. 65 – 91.
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Gesellschaft‘ konstelliert wird. Die Situation im 18. Jahrhundert kann noch mit der ,Entdeckung des Individuums‘, seiner Individualität und ,inneren Geschichte‘ assoziiert werden, einer Entdeckung, die zunächst nur für bestimmte soziale Gruppen und Individuen im Kontext einer beginnenden Individualisierung der Lebensführung bedeutsam war. Obwohl man in dieser Situation noch nicht von einer systematischen Biographieforschung sprechen kann, setzt doch eine wissenschaftliche und pädagogische Bearbeitung dieser Entdeckung ein, die (auto-)biographische Texte und Introspektionen als Quellen zum Studium des neu entdeckten Phänomens verwendet. Am Ende des 19. Jahrhunderts hingegen sind Individualisierung und Biographisierung zu allgemeinen gesellschaftlichen Phänomenen geworden, die nicht mehr bloß im ,Innern‘ des Subjekts lokalisiert werden, sondern im sozialen Raum, gewissermaßen in ihrer ,äußeren‘ Dimension, unabweislich wahrnehmbar und zu Problemen sozialer Praxis werden.68 Die Etablierung einer wissenschaftlichen Biographieforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts kann als Reaktion auf diesen Wandel interpretiert werden. Sie nutzt Lebensgeschichten und biographische Dokumente in erster Linie als Instrumente und Forschungsmaterial und reflektiert sie unter methodischen und methodologischen Hinsichten, ohne jedoch den Status von Biographie – als social fact und als soziologische Analysekategorie – zu hinterfragen und differenzierter zu untersuchen. Eine solche Perspektive setzt erst am Ende des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit einem gestiegenen Bewusstsein für gesellschaftliche Pluralität und Differenzkonstruktionen ein. Seitdem hat die Biographieforschung bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Ansätze und Theorietraditionen die gewandelte Konstruktionslogik und Funktion von Biographie selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion gemacht. Biographie wird in einer Spannung zwischen der Dekonstruktion bisher gültiger Muster der Identitätserzeugung und -beschreibung, dem Brüchigwerden und dem Bedeutungsverlust biographischer Gewissheiten einerseits und einer enormen Bedeutungssteigerung biographischer Konstruktionsleistungen andererseits thematisiert.69 Bestimmte 68 Vgl. Peter Alheit u. Morten Brandt: Autobiographie und sthetische Erfahrung. Entstehung und Wandel des Selbst in der Moderne. Frankfurt/M., New York 2006. 69 Dieses Spannungsverhältnis kann im Rahmen verschiedener Gesellschaftsdiagnosen beschrieben werden, vgl. z. B. den von Keupp u. a. vorgelegten Entwurf, Identitätskonstruktion als Phänomen der ,Spätmoderne‘ zu interpretieren (Keupp, Ahbe u. Gmür (Hgg.): Identit tskonstruktionen), oder die ,postmodernen‘ Interpretationen z. B. in Bettina Fritzsche, Jutta Hartmann u. a. (Hgg.):
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gesellschaftliche Problemlagen wie z. B. Migration, Veränderungen im Geschlechter- und Generationenverhältnis oder der Funktionsverlust herkömmlicher Bildungs- und Berufskonzepte erzeugen prototypisch neue (,Patchwork‘-)Modelle von Biographien, die es zunächst einmal empirisch zu erforschen gilt, ehe weitreichende theoretische Erklärungsansätze entwickelt werden können. Dabei müssen sich die beiden theoretischen Pointen, Biographien als sozial konstruierte Konstruktionen, die durch ihre Positionierung im sozialen Raum geprägt werden, und Biographien als konstruierende Prinzipien, als Modi der Konstruktion von sozialer Wirklichkeit zu betrachten, nicht widersprechen. Das Konzept der Biographizit t ist ein Beispiel für den Versuch, die Dialektik beider Perspektiven theoretisch einzufangen. Die Ausarbeitung dieses Entwurfs bedarf jedoch der empirischen Auseinandersetzung mit konkreten biographischen Konstruktionsprozessen in je konkreten, ,lokalen‘ Konstellationen im sozialen Raum. Mit dieser Einschätzung vertreten wir die These, dass angesichts der skizzierten Situation die empirische Hinwendung zu biographischen Konstruktionsprozessen nicht mehr mit dem theoretischen Großanspruch verbunden sein kann, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft schlüssig und umfassend zu formulieren. Wir verstehen die empirische Beschäftigung mit Biographien vielmehr als einen begründeten Versuch, von den theoretisch nicht auflösbaren Widersprüchen zu einer ,bescheideneren‘ Umgehensweise mit dieser Spannung zu gelangen. Eine Chance zu einem derart veränderten Umgehen hat die Biographieforschung vor allem dann, wenn sie empirisch rekonstruktiv an die Potenziale konkreter Subjekte anknüpft, die gesellschaftlichen Widersprüche in bestimmten sozialen Kontexten praktisch zu leben, sie in unterschiedlichen sozialen Konstruktionsformaten ,sinnvoll‘ zu machen, sie sich im Rahmen ihrer Lebensgeschichte anzueignen und aktiv zu bearbeiten. Ausgehend von dieser Perspektive kann die gegenwärtige Biographieforschung als ein Feld begriffen werden, in dem mit unterschiedlichen theoretischen und methodischen Akzentsetzungen Facetten jenes ,Großthemas‘ erarbeitet werden. Die Analyse unterschiedlicher Aspekte biographischer Arbeit, die als sozial und kulturell situierter Prozess begriffen wird, öffnet den Blick für die kontextuelle Gebundenheit und Besonderheit biographischer Konstruktionen. Ziel der wissenschaftliDekonstruktive P dagogik. Erziehungswissenschaftliche Debatten unter poststrukturalistischen Perspektiven. Opladen 2001.
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chen Beschäftigung mit Biographien ist dann nicht mehr eine – sei es im Gestus transzendentaler Philosophie oder im Stil allgemeingültiger soziologischer Gesetzesaussagen vorgetragene – Verallgemeinerung zu universalistischen, ahistorischen Modellen, sondern eine Erkundung, die biographische Prozesse immer wieder neu empirisch-konkret ,rekonstruiert‘ und theoretisch neu bedenkt. Literaturverzeichnis Alheit, Peter: Alltag und Biographie. Studien zur gesellschaftlichen Konstitution biographischer Perspektiven. 2. Aufl. Bremen 1990. Alheit, Peter: „,Biographizität‘ als Lernpotential. Konzeptionelle Überlegungen zum biographischen Ansatz in der Erwachsenenbildung“. In: Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Hg. v. Heinz-Hermann Krüger u. Winfried Marotzki. Opladen 1995, S. 276 – 307. Alheit, Peter: „,Individuelle Modernisierung‘ – Zur Logik biographischer Konstruktion in modernisierten modernen Gesellschaften“. In: Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 28. Kongresses f r Soziologie 1996 in Dresden. Hg. v. Stefan Hradil. Frankfurt/M., New York 1997, S. 941 – 952. Alheit, Peter, Kerstin Bast-Haider u. Petra Drauschke: Die verzçgerte Ankunft im Westen. Biographien und Mentalit ten in Ostdeutschland. Frankfurt/M., New York 2004. Alheit, Peter u. Morten Brandt: Autobiographie und sthetische Erfahrung. Entstehung und Wandel des Selbst in der Moderne. Frankfurt/M., New York 2006. Alheit, Peter u. Bettina Dausien: Modernisierung und Traditionalit t. Lebensverl ufe in zeitgençssischen proletarischen Milieus (Forschungsbericht). Bremen 1990. Alheit, Peter u. Bettina Dausien: „Biographieforschung in der Erwachsenenbildung“. In: Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Hg. v. Heinz-Hermann Krüger u. Winfried Marotzki. Opladen 1999, S. 407 – 432. Alheit, Peter u. Bettina Dausien: „Die biographische Konstruktion der Wirklichkeit. Überlegungen zur Biographizität des Sozialen“. In: Biographische Sozialisation. Hg. v. Erika M. Hoerning. Stuttgart 2000, S. 257 – 283. Alheit, Peter, Hanna Haack u. a.: Gebrochene Modernisierung – Der langsame Wandel proletarischer Milieus. Eine empirische Vergleichsstudie ost- und westdeutscher Arbeitermilieus in den 1950er Jahren. 2 Bde. Bremen 1999. Allport, G. W.: The Use of Personal Documents in Psychological Science. New York 1942. Apitzsch, Ursula: Lernbiographien zwischen den Kulturen. Vortrag auf dem 12. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft am 21. März 1990. Manuskript. Frankfurt/M. 1990.
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Die soziale Konstituierung von Lebensgeschichten Überlegungen zur Kollektivbiographik
Hannes Schweiger Die Biographie ist eine traditionelle Darstellungsform, die sich nach wie vor an den Mustern des Entwicklungsromans, wie er im 18. und 19. Jahrhundert entstanden ist, orientiert. Trotz zahlreicher Innovationsversuche, mit denen die Grenzen des Genres erweitert und überschritten werden, halten sich auch in der neuesten Biographik Konventionen, zu denen neben der zumeist chronologisch dargestellten Entwicklung des oder der Biographierten auch der Fokus auf ein Individuum gehört. Eine nouvelle biographie analog zum nouveau roman ist schwer vorstellbar, wie Catherine Peters zu Recht meint. Dies trifft im englischsprachigen Kontext vor allem auf die so genannte ,literary biography‘ zu: Literary biography is still an extended act of attention to one person, a canonization of a life-and-works, a privileging of one existence over others, and an assumption that the life and the writing are intimately bound up together. […] The biographer, like any romantic novelist, believes in the importance of a central character and a strong and logically connected narrative which – give or take a modish disruption or two, usually to the opening scene – proceeds from cradle to grave in an unbroken arc. The biographer-as-artist is still living in the nineteenth century.1
Eine der Innovationen, die seit den 1970er Jahren allerdings zu verzeichnen ist, stellt die Gruppen-, Sozial- oder Kollektivbiographie dar. Mit dieser Form, deren Bezeichnung uneinheitlich ist und je nach Forschungsfeld variiert, wird eine Verbindung aus Sozialgeschichtsschreibung und Individualbiographie angestrebt. Die Fokussierung auf ein Individuum verzerrt das Bild dieser Person, schließlich ereignete sich ihr Leben nicht losgelöst von allen sozialen Zusammenhängen. Daher gelte es, eine Darstellungsform „half-way between a vivid but distorted portrait of the subject and an integrated but indistinct figure in 1
Catherine Peters: „Secondary Lives: Biography in Context“. In: The Art of Literary Biography. Hg. v. John Batchelor. Oxford 1995, S. 43 – 56, hier S. 44.
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a landscape“ zu finden. „Gaining distance – but not too much distance – can help to give a clearer picture of the central character itself.“2 Dieser Forderung versucht die Kollektivbiographie nachzukommen. Zugleich stellt sich die Frage, ob es sich noch um eine Biographie handelt, wenn statt der Lebensgeschichte eines Individuums die Lebensläufe einer Gruppe bzw. eines Kollektivs in den Blick genommen werden. Ist dann nicht vielmehr von einer sozialgeschichtlichen Darstellung oder einer soziologischen Untersuchung zu sprechen? Die sozialwissenschaftliche Biographieforschung ebenso wie die kulturwissenschaftliche Biographik interessiert, wie das einzelne Leben im Vergleich zu anderen seine Konturen gewinnt, wodurch Individualität konstituiert wird und was letztlich das Unverwechselbare an der Lebensgeschichte eines und einer jeden von uns ist. Sie untersucht aber die Lebensläufe Einzelner in erster Linie im Hinblick auf ihre Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen, um über den individuellen Fall hinausgehende Aussagen treffen zu können. Das Erkenntnisinteresse der Sozialwissenschaften stehe im Gegensatz zur Fokussierung der Biographie auf das Individuum, so dass sozialwissenschaftliche Ansätze für die Biographik wenig brauchbar erscheinen, meint der Biograph und Literaturwissenschaftler David Ellis. Er bezieht sich vor allem auf die Biographien von SchriftstellerInnen und argumentiert gegen eine stärkere Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Methoden, die aus seiner Sicht das Individuum als passiv und als Produkt sozialer Bedingungen ansehen: „In their anxiety to destroy the illusion that we make our own lives, social scientists frequently give the impression that the traffic between an individual and a social group is all one way.“3 Die Biographie mache sich im Unterschied zu den Sozialwissenschaften in erster Linie zur Aufgabe, das Herausragende und über die soziale Verfasstheit Hinausgehende eines Individuums zu zeigen. Die Beziehung zwischen Individuum und Kollektiv ist grundsätzlich eine dialektische und Individuen haben „the potential to transform the primary and indeed other social groups, even as those groups are engaged with the task of transforming them“. Der biographische Blick ermögliche es, dieses Potential des Individuums zu erkennen: „What gives the individuals that potential is more likely to be revealed by the closeness which results from a biographer’s immersion in a subject’s 2 3
Ebd., S. 47. David Ellis: Literary Lives. Biography and the Search for Understanding. Edinburgh 2000, S. 115.
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diaries and letters than by an appeal to the methods and vocabulary of the social sciences.“4 Ellis trifft mit seiner Argumentation eine generalisierende und verkürzte Fehleinschätzung sozialwissenschaftlicher Arbeiten5 und übersieht das Potential einer interdisziplinären Diskussion zwischen Sozial- und Kulturwissenschaften, die gerade für die Biographie als einer Gattung, die an den Schnittpunkten unterschiedlicher Disziplinen anzusiedeln ist, in besonderem Maße relevant erscheint. Auch Christian Klein stellt fest, dass die soziologische Biographieforschung „nichts Klärendes zu Fragen der Darstellung eines Lebensverlaufs beitragen kann“, schließlich befasse sie sich ja nicht „mit der Produktion von Biographien im literaturwissenschaftlichen Sinn“. Sie untersuche in erster Linie Existenzverläufe „hinsichtlich ihrer Struktur und Eigenbedeutung, d. h. die Verlaufsstruktur der individuellen Lebensführung als Schlüsseldimension des sozialen Lebens,“ und stütze sich dabei auf autobiographische Quellen, die, so Christian Klein, „schlicht als Artikulation empirischer Realität rezipiert“ werden.6 Dass in der soziologischen Biographieforschung allerdings sehr wohl und in den vergangenen Jahren in verstärktem Maße die Textualität und Konstruiertheit autobiographischer Erzählungen wahrgenommen und reflektiert wird, zeigen beispielsweise die theoretischen Überlegungen von Gabriele Rosenthal, Bettina Dausien und Peter Alheit. Sie unterscheiden strikt zwischen der Lebensgeschichte, wie sie in autobiographischen narrativen Interviews von der befragten Person in der Interaktion mit der/dem Interviewpartner/in konstruiert wird, und den Ereignissen, Handlungen und Erfahrungen in der Vergangenheit, die retrospektiv immer wieder neu aktualisiert und interpretiert werden.7 Auch die Erziehungswissenschaftlerin Heide von Felden betont, dass Biographien, hier im Sinne von autobiographischen Erzählungen oder Beschreibungen, „nicht einfach das Leben wiedergeben, ,wie es war‘, sondern dass Biographien konstruiert sind und der eigene Blick auf das
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Ebd., S. 116. Vgl. a. Christian Klein: „Lebensbeschreibung als Lebenserschreibung? Vom Nutzen biographischer Ansätze aus der Soziologie für die Literaturwissenschaft“. In: Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Hg. v. Christian Klein. Stuttgart, Weimar 2002, S. 69 – 85, hier S. 70. Ebd., S. 72. Vgl. dazu ausführlich die Einleitung von Bernhard Fetz, S. 54 – 57.
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eigene Leben die Biographie erst herstellt“8 – das gilt auch für den biographischen Blick auf ein fremdes Leben. Autobiographische Erzählungen, wie sie in biographischen Fallstudien zumeist auf der Basis narrativer Interviews analysiert werden, ermöglichen einen „Zugang zum lebensgeschichtlichen Prozeß der Internalisierung der sozialen Welt“ und zur „Einordnung der biographischen Erfahrungen in den Wissensvorrat und damit zur Konstitution von Erfahrungsmustern, die zur gegenwärtigen und zukünftigen Orientierung in der Sozialwelt dienen“.9 Dabei wird nicht in naiver Weise von einer Entsprechung der autobiographischen Schilderungen und der tatsächlichen Ereignisse in der Vergangenheit ausgegangen. Für eine literaturwissenschaftliche Biographik kann aus der Sicht Christian Kleins in erster Linie die Feldtheorie Pierre Bourdieus von Interesse sein, ansonsten hält er aber einen soziologischen Zugang zu literaturwissenschaftlich relevanten Fragen der Biographik für wenig ertragreich und auch in Zukunft angesichts „zunehmender Autonomisierung der Sozialwissenschaften“ für immer weniger aussichtsreich.10 Dieser Beitrag soll im Gegensatz dazu die Potentiale eines interdisziplinären Dialogs zwischen Sozial- und Kulturwissenschaften für eine Diskussion theoretischer Grundfragen der Biographik sichtbar machen. David Ellis weist trotz seiner Skepsis gegenüber sozialwissenschaftlichen Ansätzen darauf hin, dass BiographInnen mitunter das soziale Gefüge vernachlässigen, in das die biographierte Person eingebettet ist, weil sie sich zu sehr auf Tagebücher, Briefe und andere private Dokumente stützen und darin weniger die soziale Bedingtheit des Lebenslaufes als die Individualität und Unabhängigkeit des Subjekts zum Ausdruck komme. Auch dadurch entstehe ein verzerrtes Bild.11 Dem Vorwurf der allzu starken Fokussierung auf das Individuum versuchen Biographien der letzten Jahre in verstärktem Maße durch sozialhistorische Darstellungen zu begegnen, die eine Betrachtung der individuellen 8 Heide von Felden: „Einleitung. Traditionslinien, Konzepte und Stand der theoretischen und methodischen Diskussion in der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung“. In: Perspektiven erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung. Hg. v. Heide von Felden. Wiesbaden 2008, S. 7 – 26, hier S. 11. 9 Wolfram Fischer-Rosenthal u. Gabriele Rosenthal: „Warum Biographieanalyse und wie man sie macht“. In: Zeitschrift f r Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie 17 (1997) H. 4, S. 405 – 427, hier S. 412. 10 Klein: „Lebensbeschreibung als Lebenserschreibung?“, S. 78. 11 Ellis: Literary Lives, S. 106.
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Lebensgeschichte vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Konstellationen und Entwicklungen ermöglichen sollen. So ist etwa Margit Szöllösi-Janze in ihrer Biographie zum Chemiker Fritz Haber bestrebt, dem Bedürfnis nach einer innovativen Biographik nachzukommen, „die ein Verständnis von Geschichte als historischer Sozialwissenschaft vorgibt, die aber vermeidet, das handelnde Individuum auf einen Träger von Strukturmerkmalen zu reduzieren und ganz hinter sozioökonomischen Großstrukturen verschwinden zu lassen“.12 Ihre Biographie zielt dementsprechend darauf ab, durch den mikroskopischen Blick auf die Lebensgeschichte eines Einzelnen zugleich „Perspektiven mit enormer Reichweite, vom Allerpersönlichsten zum Allgemeinsten“ zu eröffnen. Mit der ausführlichen Darstellung institutioneller oder sozialer Kontexte, in die das Leben Habers verwoben war, beabsichtigt Szöllösi-Janze, „nach den Handlungsspielräumen des Individuums in der Geschichte“ zu fragen.13 Sie löst diesen Anspruch in überzeugender Weise ein, indem sie beispielsweise Habers Forschungstätigkeit im Kontext der Wissenschaftspolitik des deutschen Kaiserreiches und der Weimarer Republik diskutiert oder indem sie zeigt, welchen Einfluss Rivalitäten im Wissenschaftsbetrieb auf seinen Karriereverlauf hatten. Auch das Erkenntnisinteresse soziologischer Biographieforschung ist darauf gerichtet, wie Individuen „gesellschaftlich-institutionell angebotene oder geforderte biographische Schemata“ in „der biographischen Handlungspraxis und sprachlichen Vergegenwärtigung“ in autobiographischen (Alltags-)Erzählungen realisieren.14 Ebenso versucht die sozialhistorische Biographieforschung herauszuarbeiten, „wie Individuen und Gruppen in ihrem Selbstverständnis und ihren Handlungen die vorgefundenen Strukturen aufgreifen und handelnd reproduzieren oder verändern“. Es müsse daher gelingen, „den einzelnen Menschen auch als Subjekt seiner eigenen Lebensgeschichte und als ,Konstrukteur‘ 12 Margit Szöllösi-Janze: Fritz Haber 1868 – 1934. Eine Biographie. München 1998, S. 12. 13 Ebd., S. 14. 14 Fischer-Rosenthal u. Rosenthal: „Warum Biographieanalyse“, S. 412. Vgl. a. Bettina Dausien u. Peter Alheit: „Die biographische Konstruktion der Wirklichkeit. Überlegungen zur Biographizität des Sozialen“. In: Biographische Sozialisation. Hg. v. Erika M. Hoerning. Stuttgart 2000, S. 257 – 283. Gabriele Rosenthal: „Biographische Forschung“. In: Qualitative Gesundheits- und Pflegeforschung. Hg. v. Doris Schaeffer u. Gabriele Müller-Mundt. Bern u. a. 2002, S. 133 – 147.
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seiner eigenen Biographie im Prozeß der Interaktion“ darzustellen.15 Die Biographie fungiert als Vermittlungsmedium zwischen Individuum und Gesellschaft und „reflects the history of the society in which a person lives as well as his or her actual life-as-lived“.16 In diesem Sinne stellt auch Szöllösi-Janze fest, dass die Biographie eine Verbindung von Individual- und Gesellschaftsgeschichte ermöglicht und die „Schlacht um die Biographie […] im Grunde längst geschlagen“ ist: Ohnehin hat keiner der Kombattanten je behauptet, daß sich individuelles Handeln vollständig aus sozioökonomischen Strukturen ableiten läßt, und umgekehrt vertritt auch niemand ernsthaft die Überzeugung, daß das Individuum ohne Gesellschaft überhaupt denkbar ist.17
Häufig bleibt die soziale Verfasstheit individueller Lebensgeschichten jedoch unreflektiert und das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wird in vielen Biographien in simplifizierender Weise als eines von Vorder- und Hintergrund gefasst. Eine Einbettung der Lebensgeschichten und der intellektuellen Entwicklung Martin Heideggers, Ernst Jüngers und seines Bruders Friedrich Georg Jünger „in ihren unmittelbaren kommunikativen und intellektuellen Kontext“ setzt sich auch Daniel Morat zum Ziel.18 Er knüpft in der einleitenden Darstellung seines theoretischen Bezugsrahmens explizit an die soziologische Biographieforschung an, insbesondere an den Begriff der biographischen Strategie, den Gabriele Rosenthal in ihrer Studie zur Gegenwärtigkeit des Dritten Reiches in Biographien verwendet. Biographie meint dabei nicht die Erzählung eines fremden Lebens, sondern „die kontinuierliche Fortschreibung des eigenen Lebens, die als ein ,sich selbst konstitutierendes System von Bedeutungen‘ die ,Identität der Person im Durchgang durch die verschiedenen Positionen im sozialen Raum und im Wechsel der biogra15 Andreas Gestrich: „Einleitung: Sozialhistorische Biographieforschung“. In: Biographie – sozialgeschichtlich. Hg. v. Andreas Gestrich, Peter Knoch u. Helga Merkel. Göttingen 1988, S. 5 – 28, hier S. 20 u. 21. 16 Wolfram Fischer-Rosenthal: „The Problem with Identity. Biography as Solution to Some (Post)-Modernist Dilemmas“. In: Biographical Research Methods. Hg. v. Robert Miller. Bd. 2. London, Thousand Oaks, New Delhi 2005, S. 213 – 230, hier S. 226. 17 Szöllösi-Janze: Haber, S. 12. 18 Daniel Morat: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst J nger und Friedrich Georg J nger 1920 – 1960. Göttingen 2007, S. 19.
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phischen Zustände‘ sichern soll“.19 Morat widmet sich daher mittels seines ,denkbiographischen‘ Verfahrens den „Fort- und Umschreibungen des Denkens von Heidegger und beiden Brüdern Jünger nach dem Scheitern der politischen Ambitionen um 1930“, wie sie an deren Texten ablesbar sind.20 Er orientiert sich außerdem „an neueren Ansätzen der Intellektuellengeschichtsschreibung, die, in Abkehr von der Ideengeschichte großer Denker, den Schwerpunkt auf die kommunikative Herstellung und Verbreitung von Ideen in intellektuellen Netzwerken legen“. Untersucht werden demnach die Netzwerke, die Einfluss auf ihre Denkentwicklung hatten und zugleich die für die Verbreitung ihrer Ideen notwendigen Kommunikationsstrukturen boten.21 Kollektivbiographik ist eines der Grundwerkzeuge der Sozialgeschichtsschreibung22, sie bietet aber darüber hinaus in besonderem Maße die Möglichkeit, soziologische, historiographische und kulturwissenschaftliche Zugänge in der Biographik miteinander zu verbinden. Anfang der 1980er Jahre sah Margot Peters in Kollektivbiographien (sie verwendet den Begriff ,group biographies‘) ein hohes Innovationspotential, das die Bandbreite der Biographik erweitern könnte. Sie definierte dieses Subgenre „as the interweaving of a number of lives by one writer to show how they interact with each other“, wobei sie eine Reihe von verbindenden Faktoren zwischen den einzelnen Lebensläufen aufzählt: „a family, a place, an organization, a movement, a cultural affinity, a point in time“.23 Gruppenbiographien können neue Aspekte an einer Person sichtbar machen, deren Lebensgeschichte bereits sehr gut dokumentiert ist, deren soziales Netzwerk aber nur in Teilen oder nicht eingehend analysiert wurde. Sie können aber auch dazu dienen, die Lebensgeschichten von Menschen aufzuzeichnen, die bislang nicht für biographiewürdig erachtet wurden und die keine in19 Morat: Von der Tat zur Gelassenheit, S. 20. Morat zitiert hier Heinz Bude: „Lebenskonstruktionen als Gegenstand der Biographieforschung“. In: Biographische Methoden in den Humanwissenschaften. Hg. v. Gerd Jüttemann u. Hans Thomae. Weinheim 1998, S. 247 – 258, hier S. 250. 20 Morat: Von der Tat zur Gelassenheit, S. 23. 21 Ebd., S. 24. 22 Vgl. Alison Mackinnon: „Collective Biography. Reading Early University Women from Their Own Texts“. In: Australian Feminist Studies (1992) Sonderheft Nr. 16: Writing Lives. Feminist Biography and Autobiography. Hg. v. Susan Magarey. Unter Mitarbeit v. Caroline Guerin u. Paula Hamilton, S. 95 – 103. 23 Margot Peters: „Group Biographies. Challenges and Methods“. In: New Directions in Biography. Hg. v. Anthony M. Friedson. Hawaii 1981, S. 41 – 51, hier S. 41.
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dividualbiographische Darstellung zu rechtfertigen scheinen. Ausschlaggebend für eine solche Form der biographischen Vernachlässigung sind Kanonisierungsprozesse und die Maßstäbe, mit denen die Bedeutung individuellen Lebens gemessen wird und die von einer Vielzahl an Faktoren wie Geschlecht, Macht, ethnische Zugehörigkeit oder Vorhandensein biographischer Quellen bestimmt werden. Sie erweitern das Blickfeld auf „sozialgeschichtliche Trends, Gruppenmentalitäten, typische oder untypische Entwicklungslinien“ und rücken breitere soziale Schichten in den Mittelpunkt.24 Mit der Gruppenbiographie, die zu Beginn der 1980er Jahre noch eine junge Untergattung darstellte, wird eine Entwicklung vollzogen, die sich im modernistischen Roman bereits um 1900 feststellen ließ und die Erkenntnis umsetzt „that the course of human development depends less on individualism than upon the endless ramifications of human interaction, much of which is beyond control or even consciousness“.25 Aus der Sicht einer feministischen Soziologin hat Liz Stanley gegen den ,spotlight approach‘ der Biographie argumentiert, durch den ausgeblendet würde, dass Individuen „social and cultural products“ seien.26 In feminist and cultural political terms, people’s lives and behaviours make considerably more sense when they are located through their participation in a range of overlapping social groups, rather than being portrayed as somehow different, marked out all along by the seeds of their later greatness.27
Sie sieht „non- or even anti-spotlight approaches“ als innovative Formen des Abschieds von biographischen Konventionen.28 Gerade von der feministischen Biographik wurde und wird die Kollektivbiographie als Möglichkeit gesehen, der Marginalisierung, Stereotypisierung und dem Ausschluss von Frauen aus der Geschichtsschreibung zu begegnen. Sie wird als Ausdruck der „,schwachen‘ Individualisierung“ von Frauen und zugleich als Gegenmittel gegen diese Praxis verstanden. Der Fokus auf eine Gruppe erlaubt es beispielhaft, gesellschaftliche Werte und ihre 24 Jutta Seidel: „Individual- und Kollektivbiographien. Zwei Wege historischer Erkenntnis“. In: ,Andere‘ Biographien und ihre Quellen. Biographische Zug nge zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Ein Tagungsbericht. Hg. v. Manfred Lechner u. Peter Wilding. Wien 1992, S. 9 – 16, hier S. 13. 25 Peters: „Group Biographies“, S. 44. 26 Liz Stanley: The Auto/Biographical I: The Theory and Practice of Feminist Auto/ Biography. Manchester 1992, S. 5. 27 Ebd., S. 9. 28 Ebd., S. 249.
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Wirkungsmacht auf die individuelle Lebensgestaltung zu diskutieren und im Zuge dessen auch nach den Freiräumen zu fragen, die sich das Individuum trotz sozialer Zwänge zu schaffen weiß. Kollektive Biographik bietet daher „entweder einen stark normativen Gesellschaftsbezug oder ein sehr subversives Identifikationspotential, letzteres vor allem im Kontext feministischer Biographik“.29 Gisela Febel argumentiert, dass die kollektive Frauenbiographik die „Rekonstruktion anderer Geschichtsverläufe und anderer Lebenswelten als der vorherrschend in der ,männlichen‘ Ereignisgeschichte beschriebenen“ erlaubt.30 Würde man die Kollektivbiographie allerdings allein für die Darstellung der Lebensläufe von Frauen nutzen, hieße das, ihr Potential zu beschränken. Formen der Kollektivbiographie Die Kollektivbiographie kann als Schnittmenge von Prosopographie und Individualbiographie betrachtet werden. Mit dem Terminus Prosopographie sind biographische Sammlungen und Lexika gemeint, die Kurzbiographien unter einem bestimmten Aspekt versammeln können und aus Einzeldarstellungen bestehen31, die in vielen Fällen von verschiedenen VerfasserInnen stammen. Häufig haben sie, gerade im 19. Jahrhundert, die Funktion, einen Kanon nationaler Figuren zu etablieren. Die Grenzen zwischen Prosopographie und Kollektivbiographie werden nicht immer scharf gezogen und mitunter werden die beiden Termini synonym verwendet.32 Lawrence Stone, auf dessen Arbeiten und theoretische Ausführungen Anfang der 1970er Jahre die 29 Gisela Febel: „Frauenbiographik als kollektive Biographik“. In: Frauenbiographik. Lebensbeschreibungen und Portr ts. Hg. v. Nina von Zimmermann u. Christian von Zimmermann. Tübingen 2005, S. 127 – 144, hier S. 129. 30 Ebd., S. 141. 31 Beispielsweise A Biographical Dictionary of the British Colonial Governor oder Dictionary of Modern Peace Leaders. Vgl. dazu Julie F. Codell: „Biographical Dictionaries“. In: Encyclopedia of Life Writing. Autobiographical and Biographical Forms. Bd. 1. Hg. v. Margaretta Jolly. London, Chicago 2001, S. 107 f. Als zwei Beispiele für biographische Sammlungen seien hier genannt: Deborah Jaffé: Geniale Frauen. Ber hmte Erfinderinnen von Melitta Bentz bis Marie Curie. Düsseldorf 2006; Hanne Egghardt: sterreicher entdecken die Welt. Weiße Flecken rotweißrot. Wien 2000. 32 Vgl. zum Beispiel Wolfgang Uwe Eckart u. Robert Jütte: „Biographie und Prosopographie“. In: dies.: Medizingeschichte. Eine Einf hrung. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 219 – 229, hier S. 224.
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Kollektivbiographie zurückgeführt werden kann, verstand unter dem Terminus Prosopographie „the investigation of the common background characteristics of a group of actors in history by means of a collective study of their lives“.33 Dieses gemeinsame Merkmal kann, wie im Fall der nationalen Biographielexika, auch lediglich darin bestehen, einer bestimmten Nation zugerechnet zu werden. Im Unterschied zur Prosopographie geht die Kollektivbiographie stärker qualitativ vor, untersucht kleinere Gruppen und widmet sich diesen unter einer spezifischen Fragestellung: Es wird meist ein bestimmter Lebensabschnitt herausgegriffen oder ein thematischer Schwerpunkt (auf eine künstlerische Richtung, eine wissenschaftliche Schule, etc.) gesetzt. Die Kollektivbiographie unterscheidet sich demnach von einer biographischen Sammlung „durch die Untersuchung von Vernetzungen und Einflüssen, Parallelen wie Differenzen zwischen den einzelnen Personen“.34 Der kollektivbiographische Zugang ermöglicht einen offeneren Umgang mit der Spannung zwischen Vereinzelung und Generalisierung, indem er zu Fragen nach der Repräsentativität herausfordert – und das auf zwei Ebenen. Vor dem Hintergrund einer grossen Anzahl an Personen, die aufgrund formaler oder demografischer Kriterien übereinstimmen, lässt sich das Typische oder Besondere der kleineren Gruppe einschätzen. In der näheren Betrachtung der kleinen Gruppe wird die Repräsentativität oder Besonderheit des Einzelnen deutlich.35
Kollektivbiographik hat damit nicht eine Vernachlässigung des Handlungsspielraums und des Gestaltungspotentials des Individuums zur Folge, sondern kann gerade durch die Betrachtung des sozialen Gefüges die Leistungen eines oder einer Einzelnen und das Besondere an ihrem Lebenslauf sichtbar machen. Dies betonen auch die beiden Herausgeber des Sonderheftes der Zeitschrift BIOS aus dem Jahr 1998 zum Thema „Biographie und Technikgeschichte“, wenn sie feststellen, dass der biographische Ansatz dazu dient, „historische Strukturen mit Blickwinkel auf Einzelpersönlichkeiten verstehend zu analysieren“.36 Erst 33 Lawrence Stone: The Past and the Present. Boston, London, Henley 1981, S. 45. 34 Levke Harders u. Veronika Lipphardt: „Kollektivbiografie in der Wissenschaftsgeschichte als qualitative und problemorientierte Methode“. In: Traverse (2006) H. 2, S. 81 – 91, hier S. 82. 35 Ebd., S. 86. 36 Wilhelm Füßl u. Stefan Ittner: „Einführung“. In: BIOS. Zeitschrift f r Biographieforschung und Oral History 11 (1998) Sonderheft: Biographie und Technikgeschichte. Hg. v. Wilhelm Füßl u. Stefan Ittner, S. 3 – 10, hier S. 4.
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durch den Vergleich mit anderen Lebensgeschichten und die Analyse der politischen, sozialen, wirtschaftlichen und technischen Bedingungen, die für ihren Verlauf prägend sind, wird der Handlungsspielraum des oder der Einzelnen und damit deren individuelle biographische Leistung sichtbar.37 Eine Kollektivbiographie ist „die theoretisch und methodisch reflektierte, empirische, besonders auch quantitativ gestützte Erforschung eines historischen Personenkollektivs in seinem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext anhand einer vergleichenden Analyse der individuellen Lebensläufe der Kollektivmitglieder“.38 Das (dominierende) Erkenntnisinteresse liegt einerseits darin, „Rückschlüsse auf das Typische, das Allgemeine“, d. h. „auf allgemeinere gesellschaftliche Aggregate oder auf die Gesamtgesellschaft selbst“ ziehen zu können. Es richtet sich aber andererseits „auf das Untypische, das Abweichende, das Individuelle“. Kollektivbiographik meint daher sowohl die „Untersuchung des gesellschaftlichen Wandels, der sich im individuellen und kollektiven Lebenslauf konkretisiert“, als auch die „Untersuchung des individuellen Wandels, der auf seinen kontextuellen bzw. gesellschaftlichen Lebenslauf rückgebunden wird“.39 Das Spektrum kollektivbiographischer Arbeiten reicht von der Sammlung von Kurzbiographien unter einem bestimmten Gesichtspunkt und mit vergleichenden Ausführungen über sozialwissenschaftliche Studien zu einer Generation bis hin zur Biographie einer Gruppe von Personen, die miteinander in enger Verbindung standen und sich selbst als Gruppe betrachteten. Kollektivbiographische Arbeiten lassen sich vor allem in der Soziologie und in der Geschichtswissenschaft finden, in jüngerer Zeit aber vermehrt auch im Bereich der Kulturwissenschaften und der angloamerikanischen ,literary biography‘. Aus 37 Monika Wohlrab-Sahr betont die wichtige Rolle von Vergleichshorizonten für die Analyse eines individuellen Lebensverlaufs. Man könne „das Besondere eines Falls, das, was ihn von anderen unterscheidet, nur verstehen […], wenn man sich vor Augen hält, welche anderen Möglichkeiten der Entwicklung, der Entscheidung, des Verhaltens oder der Kommunikation in einem bestimmten Kontext oder einer bestimmten Situation auch noch denkbar gewesen wären.“ Monika Wohlrab-Sahr: „Prozessstrukturen, Lebenskonstruktionen, biographische Diskurse. Positionen im Feld soziologischer Biographieforschung und mögliche Anschlüsse nach außen“. In: BIOS. Zeitschrift f r Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 15 (2002) H. 1, S. 3 – 23, hier S. 16. 38 Wilhelm Heinz Schröder, Wilhelm Weege u. Martina Zech: Historische Parlamentarismus-, Eliten-, Biographieforschung. Köln 2000, S. 69. 39 Ebd., S. 69 f.
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der Sicht von HistorikerInnen kann die „der Kollektivbiographie inhärente Spannung zwischen ihrem Verallgemeinerungspotential und der Personalisierung historischer Phänomene“ genutzt werden40, um der Gefahr zu entgehen, Geschichte als die ,biography of great men‘ (Thomas Carlyle) misszuverstehen. Grundsätzlich lassen sich kollektivbiographische Arbeiten unterteilen in solche, die ein Netzwerk von Personen in den Blick nehmen und andere, welche die Lebensläufe verschiedener Personen miteinander vergleichen, ohne dass diese notwendigerweise in (engem) Kontakt gestanden haben müssen. Auch Familien- und Paarbiographien können dazu gerechnet werden. Einer der Doyens der Biographieforschung, Leon Edel, widmete sich gegen Ende seiner Karriere der ,Bloomsbury Group‘41, die KünstlerInnen, SchriftstellerInnen und KritikerInnen umfasst, die über viele Jahre in engem Kontakt zueinander standen – sie selbst definierten sich allerdings nicht als Gruppe. Edel konzentriert sich auf neun Personen und sieht eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen ihnen42, die ihren Lebensstil, ihre moralischen Ansichten, politischen Positionen und ihre künstlerischen und schriftstellerischen Vorlieben betreffen. Durch die Konzentration auf diese neun Lebensgeschichten und deren Verbindungen untereinander blendet er eine Reihe von Figuren aus, die aus seiner Sicht nur eine marginale Rolle spielten. Damit definiert er die Gruppe auch über seine Studie hinaus. Kollektivbiographien können daher zur nachhaltigen Verfestigung der Wahrnehmung bestimmter Personen als Gruppe beitragen, mitunter auf Kosten von Figuren, die ebenfalls am Gruppengeschehen partizipierten, aber infolge von Kanonisierungsprozessen unter der Wahrnehmungsschwelle der Nachwelt agierten. Shari Benstocks 1986 erschienene Studie zu 22 amerikanischen Autorinnen und Künstlerinnen im Paris der Zeit zwischen 1900 und 1940 nimmt eine Gruppe in den Blick, deren Mitglieder einander nur teilweise kannten. Eine kollektive Identität wird trotz aller, teils eklatanter Unterschiede über andere Kriterien wie beispielsweise die sehr ähnliche Situation als amerikanische expatriates und die künstlerischen Produktionsbedingungen für Frauen hergestellt. Benstock verfolgt zwei Ziele: Zum einen will sie eine andere Perspektive auf modernistische 40 Harders: „Kollektivbiografie“, S. 88. 41 Leon Edel: Bloomsbury. A House of Lions. London 1979. 42 Vanessa und Clive Bell, Roger Fry, Duncan Grant, John Maynard Keynes, Desmond MacCarthy, Lytton Strachey sowie Virginia und Leonard Woolf.
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Schreibweisen lenken, die bislang als männlich codiert und mit Namen wie Ezra Pound, T.S. Eliot und James Joyce verbunden waren. Es sollen Alternativen zur Poetik dieser Männer aufgezeigt werden, die im Zuge einer männlich bestimmten Literaturgeschichtsschreibung und aufgrund entsprechender Kanonisierungsprozesse in Vergessenheit geraten oder übersehen worden waren. Zum anderen versucht sie, die Gemeinsamkeiten zwischen diesen Frauen herauszuarbeiten, ohne dabei alle über den Kamm des Projekts einer feministischen Schreibpraxis scheren zu wollen. Sie macht vielmehr immer wieder auf die Differenzen zwischen den porträtierten Frauen hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft, ihrer Erziehung und Bildung, ihrer ökonomischen Verhältnisse, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Freundschaften und Beziehungen und nicht zuletzt ihrer Schreibweisen aufmerksam. Allen Frauen dieser Kollektivbiographie gemeinsam ist aber abgesehen von ihrem Status als amerikanische expatriates in Paris ihre Motivation zur Auswanderung: „[T]hey wanted to escape America and to find in Europe the necessary cultural, sexual, and personal freedom to explore their creative intuitions.“43 Die spezielle Position als Ausgewanderte und das liberale Klima im Paris dieser Zeit ermöglichten ihnen eine weitaus größere Freiheit, als dies in den USA der Fall war. Ihre Lebenssituation beeinflusste damit entscheidend ihre künstlerische Produktion. In ihrem Bestreben, gegen das vorherrschende Paradigma der Literaturgeschichtsschreibung der Moderne eine alternative und vergessene, von Frauen bestimmte Tradition zu setzen, partizipiert Benstock an einer feministischen Praxis, die auch in der Biographik der 1970er und 1980er Jahre zu registrieren ist. In jeder Kollektivbiographie stellt sich die Frage nach den Kriterien für die Auswahl der biographierten Personen. Benstock lässt zwar eine detaillierte Auseinandersetzung mit dieser Frage vermissen, implizit sind aber Kriterien wie Bekanntheit, künstlerischer Wert der Arbeiten dieser Frauen und ihre Beziehungen zu anderen Männern und Frauen mit hohem symbolischen Kapital ausschlaggebend. Explizit reflektiert Benstock hingegen die Frage, inwiefern sich im Fall dieser 22 Frauen von einer ,community‘ sprechen lässt, und legt damit ihre Kriterien für die Definition dieser Gruppe offen. Als Verbindung zwischen allen Biographierten führt sie den Wohnort am linken Seineufer und die dadurch bedingte gemeinsame Erlebniswelt an. „Experiences were shared by the very fact of living in the same time and place.“44 Sie lasen 43 Shari Benstock: Women of the Left Bank. Paris, 1900 – 1940. Austin 1986, S. 10. 44 Ebd., S. 34.
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dieselben englischsprachigen Zeitungen, hielten sich in denselben Cafés auf, sahen dieselben Theateraufführungen und besuchten dieselben Konzerte – sie standen in vielen Fällen aber nicht direkt miteinander in Verbindung und nahmen sich wohl kaum als Teil einer Gemeinschaft wahr. Auch wenn sich die biographierte Person selbst nicht als Mitglied einer Gruppe positionierte, vielmehr ihren eigenen außergewöhnlichen und einzigartigen Status betonte, ist es notwendig, sie in ihrem sozialen Kontext zu betrachten. „It is important to situate Stein among the women writers of this community, even though she would argue against such an alignment.“45 Gerade durch die Kontextualisierung ihrer Lebens- und Schreibpraxis wird deren Besonderheit deutlich und die Individualität Steins gewinnt Konturen. Benstock teilt ihre Studie in drei Abschnitte: Der erste Abschnitt „charts this newly discovered country and places its early settlers in relation to one another“. Der zweite Teil „directs itself to important Paris addresses and to the activities of the women who inhabited these studies, salons, and publishing houses“. Und der dritte Abschnitt „maps the intersections of various lives and investigates the changing political and cultural conditions of the Paris setting“.46 Sie löst den Anspruch einer Perspektivierung des Kollektiven allerdings unterschiedlich stark ein. Vor allem in Kapitel 1 und 3 arbeitet sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Frauen heraus. In vielen der anderen Kapitel liefert sie in erster Linie biographische Kurzporträts Einzelner oder von Paaren, wobei den zeitlichen Schwerpunkt die Jahre zwischen 1900 und 1940 bilden und die Vorgeschichte nur in geraffter Form dargestellt wird. Ausführlich rekonstruiert sie jeweils das soziale und kulturelle Umfeld, in dem sich diese Lebensgeschichten abspielten. In einem Abschnitt des 3. Kapitels vergleicht sie die Lebenssituationen von vier Frauen (Edith Wharton, Gertrude Stein, Natalie Barney und Colette) im Jahr 1909: „[W]e can better fix them in terms of each other. Although they share no explicit set of relationships, the absence of manifest connections is striking evidence of the range of choices available to women within Paris literary community.“47 Die Protagonistinnen waren sich der Verbindungen nicht bewusst, die zwischen ihnen bestanden, und erst die Biographie stellt diese Zusammenhänge 45 Ebd., S. 19. 46 Ebd., S. IX. 47 Ebd., S. 91.
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her. Dabei betont Benstock immer wieder die Unterschiede zwischen den einzelnen Lebensgeschichten: These three women [Wharton, Stein und Barney; Anm. d. Vf.] did not share the same Paris, even though they lived quite close to one another. They did not even share the same epoch: Wharton belonged totally to the nineteenth century, although she spent thirty-seven years of her life in the twentieth. Barney […] was always caught in the afterglow of the fin de si cle. Gertrude Stein stood squarely on the twentieth century with absolutely no interest in anything but the ,continuous present‘.48
Damit entgeht Benstock der Gefahr, zu sehr die verbindenden und übereinstimmenden Elemente in den Lebensgeschichten zu behandeln, und macht deutlich, dass sie nicht auf einen Nenner zu bringen sind und die sozialen Strukturen auf sehr unterschiedliche Weise in den individuellen Biographien verarbeitet werden. Allen gemeinsam ist aber dennoch, dass ihre Lebenssituation als expatriates in Paris ihnen jene Freiheit gab, um schreiben zu können49, und dass sie sich im Schreiben als Frauen entdeckten und behaupteten.50 Zusammenfassend macht Benstock deutlich, was das verbindende Element all dieser Lebensgeschichten war und welche Rolle Paris als Lebensort spielte: For all of these women, Paris offered a place to write, releasing them from the patriarchal cultural script of marriage and motherhood enforced in other cities of the world. And in these years Paris itself underwent cultural re-vision by the women who participated in its communities of writers, painters, and musicians. Rejecting the image of Paris as an object of man’s lustful desires, these women rewrote the cultural script through their own lives, making Paris complicit in their effort to establish a female culture on the landscape of a city that had been feminized and sexualized by a masculine literary poetic.51
Benstock widmet sich in ihrer gesamten Studie ausführlich der kulturhistorischen Untersuchung des Paris nach 1900 bis in die 1940er Jahre und liefert somit zugleich eine Kollektivbiographie und die Gesellschaftsgeschichte einer Stadt. Frank Kafker hingegen untersucht die Lebensgeschichten der 140 Beiträger zur zwischen 1751 und 1765 erschienenen Encyclop die, zu denen zwar in den meisten Fällen biographische Informationen vorliegen, die allerdings nie im Sinne einer Zusammenschau miteinander in 48 49 50 51
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S. 86. S. 98. S. 90. S. 447 f.
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Beziehung gesetzt wurden. Ziel Kafkers ist es, das Vorurteil zu widerlegen, die ,Encyclopédistes‘ seien eine „cohesive group of religious and political reformers in close-knit association“.52 Kafker zeigt nun, dass es sich bei ihnen vielmehr um „a varied collection of men of letters, physicians, scientists, craftsmen, scholars, and others, each frequently following his own bent with little central direction“ handelte und die Encyclop die ein „great compendium of knowledge filled with contradictions, a mélange of ideas, some progressive and some conservative“, darstellt. Und er wirft dadurch auch ein neues Licht auf die französische Aufklärung, die nicht mehr nur als Produkt einiger Geistesgrößen wie Voltaire, Montesquieu, Rousseau und Diderot erscheint, sondern „as having been nourished and shaped by thousands of individuals“.53 Die vergleichende Betrachtung von Lebensgeschichten kann Erkenntnisse ermöglichen, die bei einer Fokussierung auf ein Individuum ausgeblendet blieben. Diese Annahme liegt auch der Doppelbiographie von David Contosta zu Abraham Lincoln und Charles Darwin zugrunde. Beide wurden am selben Tag geboren, wichtiger aber als diese Koinzidenz ist, dass ihre Lebensgeschichten viele Ähnlichkeiten, Parallelen und Berührungspunkte aufweisen, ohne dass die beiden einander jemals trafen. „Studying both men and their often intersecting needs, methods and timing explains and demystifies them in ways examining each one in isolation cannot do.“54 Auf den ersten Blick hätten die beiden Figuren wenig gemeinsam: [O]ne born to a struggling and obscure family on the American frontier, the other to a wealthy and prominent English family; one with less than a year’s formal education, the other with a degree from Cambridge University; one a lawyer and politician, the other a scientist and country gentleman; one seeking the approval of the crowd, the other a partial recluse.55
Aber die Ähnlichkeiten seien „striking, and studying these (along with the differences) helps us to understand each man better“. Die Parallelen, die Contosta herausarbeitet, betreffen das Verhältnis zu den Eltern (beide verloren früh ihre Mütter und hatten ein schwieriges Verhältnis 52 Frank A. Kafker: The Encyclopedists as a Group: A Collective Biography of the Authors of the Encyclop die. Oxford 1996, S. XII. 53 Ebd., S. XIII. 54 David R. Contosta: Rebel Giants. The Revolutionary Lives of Abraham Lincoln & Charles Darwin. Amherst 2008, S. 15. 55 Ebd., S. 15.
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zum jeweiligen Vater), ihre Lektüre (beide liebten Shakespeare), ihre politische Haltung (sie lehnten Sklaverei ab), ihre weltanschauliche Position als späte Söhne der Auflärung und ihre Charaktereigenschaften: „[A]mbitious as well as patient men, both had sure and steady mental powers rather than quick minds“.56 Vor allem aber verfügten beide über „an excellent sense of pacing that allowed them to wait until the time was ripe for their ideas and leadership“.57 Damit wurden sie zu herausragenden Figuren ihrer Zeit, die sich aufgrund dieser Eigenschaften und Gemeinsamkeiten deutlich von ihren Zeitgenossen unterschieden. Im Mittelpunkt dieser Doppelbiographie steht daher die Frage, „how and why paradigm shifts occur and how some ,rebels‘ are especially ecquipped to lead or nurture such changes“.58 Zur Beantwortung dieser Frage werden in jedem Kapitel abwechselnd Episoden, wichtige Abschnitte und Ereignisse aus den beiden Biographien in chronologischer Abfolge dargestellt und es wird explizit auf die Parallelen und Differenzen hingewiesen. Contosta betont, dass es falsch wäre, in den beiden ,superhumans‘ zu sehen. Er streicht das allgemein Menschliche an ihren Lebensläufen heraus: Liebe, Verlust von geliebten Menschen, Kinder, Zweifel die Zukunft betreffend: „Sorrows and joys that we all share.“ Er hebt dann aber auch hervor, was sie von ihren Zeitgenossen, von den Zehntausenden, die ebenfalls 1809 geboren wurden, unterscheidet: „[A]n understanding of certain personal qualities and wider circumstances is needed to explain the great successes of these revolutionary figures.“ Wichtige Motive für ihr Handeln waren der Wunsch „to prove themselves, or to go beyond their disapproving fathers“, „driving ambitions to escape from mental depression through hard work and through contributing something important to the world“. Ebenfalls wichtig war ihre Position als Autodidakte: „This self-learning may have saved them from more commonplace views of the world and freed them to seek answers that men bound by more traditional educations would never have thought of asking.“ Und schließlich: „[T]hey used their political skills to gain the support of men who could help advance their plans.“59 Contosta geht es also nicht, wie in vielen geschichts- oder sozialwissenschaftlichen Studien, um eine Untersuchung der Lebens56 57 58 59
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läufe ,gewöhnlicher‘ Menschen, die eben nicht aufgrund ihrer Handlungen oder Werke als herausragende Individuen betrachtet werden. Er arbeitet zwar das Allgemein-Menschliche an Lincoln und Darwin heraus und erhöht somit das Identifikationsangebot an die LeserInnen. Gerade durch die Einbettung in die historischen und politischen Kontexte und durch die Parallelführung der beiden Lebensgeschichten streicht er aber das Herausragende an ihnen hervor, das sie zu außergewöhnlichen und den Lauf der Geschichte nachhaltig beeinflussenden Individuen machte. Auch in den Studien von Michael Wildt und Dorothee Wierling spielt der gemeinsame Geburtsjahrgang eine wichtige Rolle für die Definition der zu untersuchenden Personengruppe. Ihr Erkenntnisinteresse ist allerdings weder darauf gerichtet, das Allgemein-Menschliche an großen Einzelfiguren noch diejenigen Charaktereigenschaften und Handlungen hervorzuheben, die sie von der Masse der Bevölkerung unterscheiden. Ihnen geht es um einen differenzierten Blick auf ,gewöhnliche‘ Menschen und um die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen institutionellen Rahmenbedingungen, historischen Ereignissen und deren Folgen für die individuellen Lebensgeschichten. Die Vorstellung von generationenbedingten biographischen Gemeinsamkeiten spielt in der deutschsprachigen Biographik eine explizitere Rolle als im englischsprachigen Raum, was nicht zuletzt auf eine vor allem auf Karl Mannheim zurückgehende Tradition der sozialwissenschaftlichen Forschung zu Generationenfragen zurückzuführen ist.60 Michael Wildt beruft sich in seiner kollektivbiographischen Untersuchung schon im Titel auf dieses Konzept, wenn er von einer „Generation des Unbedingten“ spricht. Er untersucht die Lebensgeschichten von Mitarbeitern des nationalsozialistischen Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), an dem rund 3000 Personen beschäftigt waren und das die zentrale Behörde zur Verwaltung der Sicherheitsorgane des NS-Regimes darstellte. Er konzentriert sich auf ein Sample von 221 Personen, die über längere Zeit Führungsfunktionen inne hatten, und versucht deren Handlungen aus ihren generationsgeprägten Lebensgeschichten heraus zu erklären. Neben dem Faktor Generation sieht er in der institutionellen Struktur und in der während des Krieges alltäglichen Erfahrung des Tötens entscheidende Faktoren für die Analyse der Lebensgeschichten des RSHA-Führungskorps. Es geht ihm um die „Untersuchung eines 60 Vgl. a. Mark Roseman (Hg.): Generations in Conflict. Youth Revolt and Generation Formation in Germany 1770 – 1968. Cambridge 1995.
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Prozesses dynamischer Radikalisierung von weltanschaulich radikalen Akteuren, entgrenzter Institution und mörderischer Praxis im Krieg“.61 Wildt verbindet sozialstatistische Analyse mit der Untersuchung ausgewählter Lebensläufe, wobei der methodische Schwerpunkt in der „qualitativen Untersuchung einzelner Individuen“ liegt, „deren Ensemble wiederum das Spektrum der Handlungsmöglichkeiten und des Gestaltungswillens der RSHA-Akteure widerspiegelt“.62 Indem er „die gesellschaftliche ,Produktion‘ von Lebensläufen, die Bedingtheit eigener, individueller Lebensentwürfe, deren Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Verhältnissen ebenso einbezieht wie die Selbstdeutung der Handelnden“, orientiert er sich an den Methoden der qualitativen Biographieforschung und nimmt explizit Bezug auf die sozialwissenschaftliche Debatte um Lebenslauf und Biographie.63 So wie in der sozialwissenschaftlichen Biographieforschung zumeist nicht die Rekonstruktion des individuellen Lebenslaufes das zentrale Erkenntnisinteresse ist, so zielt auch Wildt darauf ab, auf der Basis individueller Lebensläufe verschiedene Typen im RSHA zu charakterisieren. Das Potential seiner Verbindung aus biographischem Zugang und historischer Arbeit zeigt sich beispielsweise darin, dass Wildt vor Augen führt, wie sich die Annahme einer kontinuierlichen Entwicklung, die aus heutiger Sicht scheinbar zwangsläufig in die Verbrechen des Nationalsozialismus führen musste, an konkreten Lebensgeschichten Einzelner als falsch erweist. Der mikrologische und vergleichende Blick auf individuelle Biographien macht deutlich, dass die Wege vieler Mitglieder des RSHA-Führungskorps „verschlungener, weniger geradlinig und in der Zielrichtung weniger eindeutig [sind], als es ihre späteren Taten vermuten ließen“. Der Vergleich zeigt aber auch, dass „offenkundig Orientierungen, Themenfelder und Selbststilisierungen“ existierten, die diesen Männern die Nähe zum Nationalsozialismus ermöglichten, und dass sich ein gemeinsamer Habitus feststellen lässt, für den beispielsweise der „Topos der Gemeinschaft, des Bundes, des Bündischen – also die Form des Sozialen, die nicht in der Masse aufgeht, nicht in Reih und Glied marschiert, sondern sich im Gegenteil von ihr als auserwählte Elite streng abhebt“, prägend war.64 Überzeugend legt 61 Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das F hrungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg 2002, S. 29. 62 Ebd., S. 35 f. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 137.
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Wildt dar, wie für den Verlauf ihrer Biographien und für ihr Handeln nicht allein die individuelle Disposition der Akteure ausschlaggebend war, sondern auch die institutionelle Komponente eine entscheidende Rolle spielte. Er verbindet auf diese Weise Personen- und Institutionengeschichte und damit einen sozialhistorischen und einen biographischen Zugang. „Erst aus der Verbindung einer generationellen Erfahrung, die sich zu einer spezifischen Weltanschauung formte, und einer Institution neuen Typs wie das Reichssicherheitshauptamt sowie den Bedingungen des Krieges läßt sich die Praxis dieser Akteure erklären“.65 Wildt zeichnet die Lebensgeschichten der RSHA-Führungsmitglieder auch über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinaus nach und erörtert dabei die Frage nach der Bedeutung historischer Brüche und Zäsuren in den Biographien Einzelner. Dabei werden ideologische und habituelle Kontinuitäten ebenso sichtbar wie Diskontinuitäten, die durch veränderte politische Strukturen und Institutionen bedingt sind. Lebensläufe sind zwar an historische Erfahrungen, an gesellschaftliche Verhältnisse und an politische Systeme gebunden und werden von ihnen mitbestimmt. Sie gehen darin aber nicht auf, sondern enthalten immer ein individuelles Gestaltungspotential, das mehr oder weniger ausgeschöpft wird. Dorothee Wierling macht in ihrer umfangreichen, detaillierten und sozialgeschichtlich fundierten Kollektivbiographie auf die Handlungsmöglichkeiten des und der Einzelnen aufmerksam, die selbst in einem Umfeld und einem Staat wie der DDR möglich waren, der die möglichst weitgehende Kontrolle der Lebensläufe seiner BürgerInnen anstrebte. Ausgangspunkt ihrer Arbeit war, „systematisch nach den objektiven Handlungsmöglichkeiten und nach der subjektiven Wahrnehmung bzw. der Ausgestaltung dieser Räume zu fragen“. Sie beschreibt daher einerseits „die Rahmenbedingungen des Aufwachsens für die ersten Nachkriegsgeborenen“ und betont andererseits, dass es „um die Nachgeborenen als Subjekte der Geschichte, um ihre biographischen Entwürfe, ihre Spielräume und Träume gehen soll“. Ihr Zugang soll nicht eine bestimmte Deutung der DDR-Geschichte liefern, sondern die unterschiedlichen Perspektiven auf sie zeigen. Die Vielfalt dieser Betrachtungsweisen wird durch den kollektivbiographischen Ansatz sichtbar.66 In theoretischer Perspektive knüpft Wierling an 65 Ebd., S. 847. 66 Dorothee Wierling: Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiographie. Berlin 2002, S. 9.
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Mannheims Generationenkonzept und an Maurice Halbwachs’ Überlegungen zum Gedächtnis an, ohne darauf aber näher einzugehen. Im Sinne Mannheims konstituieren sich Generationen durch ihren spezifischen Ort in der Geschichte und durch eine besondere Erfahrungsschichtung. Wierling verwendet ,Generation‘ in pragmatischer Weise „als Bezeichnung der dem Jahrgang 1949 benachbarten Altersgruppe“67. Gemeinsam ist dem generationellen und biographischen Ansatz die „Verknüpfung von individuellem Leben und Gesellschaftsgeschichte“, die als „erlebte Einheit“ betrachtet werden. „Wie sich Zeitgeschichte in den Biographien der Mitlebenden ablagert und wie diese Zeitgenossen durch ihre alltägliche soziale Praxis Geschichte machen, das ist untrennbar miteinander verwoben“ und steht im Zentrum von Wierlings Erkenntnisinteresse.68 Als Quelle dienten ihr in erster Linie zwischen 1993 und 1995 durchgeführte lebensgeschichtliche Interviews mit 22 Personen, die 1949, einige 1950, geboren wurden und von denen sie die meisten in drei Phasen zu ihrem Leben befragte. Ihr Auswahlkriterium war eine „möglichst große Varianz der regionalen Herkunft, der sozialen Schicht, des Berufs, der Lebensumstände und der politischen Orientierung“.69 Abgesehen von den Interviews zieht sie aber auch Lebensläufe, Fotos, Briefe und Tagebücher aus Privatarchiven heran und arbeitet in großem Umfang historische Quellen, vor allem aus DDRArchiven, ein. Die Interviews werden nicht, wie in der soziologischen Biographieforschung sonst zumeist der Fall, sequentiell analysiert, sondern Wierling speist daraus ihren kollektivbiographischen Versuch, der chronologisch aufgebaut ist und mit der Familiengeschichte der Interviewten beginnt, ihre Kindheit, Schulzeit und Jugend abdeckt und auf eine Darstellung des Arbeitslebens und der Karriereverläufe eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Wende 1989 für die einzelnen Biographien folgen lässt. Dabei wechseln detaillierte sozialgeschichtliche Darstellungen mit vergleichenden Ausführungen zu den einzelnen Lebensgeschichten ab, in denen sie Interviewpassagen zitiert, kommentiert und kontextualisiert. Drei Fragen stellt Wierling in den Mittelpunkt der Studie: Erstens die Frage nach der relativen Autonomie des Individuums unter den Bedingungen der DDR. Zweitens die Frage danach, inwieweit sich 67 Ebd., S. 14. 68 Ebd., S. 15. 69 Ebd., S. 21.
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auch in der DDR der Prozess der Individualisierung als Biographisierung feststellen lässt, der in den westlichen Industriegesellschaften zu beobachten war. Und drittens: „Kann es so etwas geben wie eine kollektive Biographie, deren Gemeinsamkeit aus der Tatsache desselben Geburtsjahres erwächst?“70 Sie arbeitet nicht nur Gemeinsamkeiten zwischen den 22 Lebensläufen heraus, die „in den Bedingungen des Aufwachsens, im Aufbau von Erfahrungsschichten, also Gemeinsamkeiten des Erlebens, der Deutung und des Erzählens, allgemeiner: der Subjektivität“ liegen und die den „Kern dessen, was man als Kollektivbiographie der 1949er bezeichnen könnte“, bilden.71 Sie geht auch ausführlich auf die Unterschiede zwischen den Biographien ein, die vor allem durch die Faktoren Geschlecht, Region, politische Herkunft bzw. Affiliation und soziales Umfeld bedingt sind, wobei sich der Faktor soziale Herkunft bzw. Zugehörigkeit als zentral herausstellt. Diesen Befund schätzt sie als überraschend ein, wollte sich die DDR doch als egalitäre Gesellschaft verstanden wissen. Entscheidend für die Frage, ob mit Recht von einer Generation 1949 gesprochen werden kann, sind die Selbstdefinitionen der in diesem Jahr Geborenen. Sie wurden zwar immer wieder von der DDR-Politik als Generation gesehen und in Anspruch genommen, verstanden sich allerdings selbst nicht als solche. Eine 49er Generation wurde etwa im Unterschied zur 68er Generation nie in einem emphatischen Sinn gestiftet, sie besteht lediglich in den Gemeinsamkeiten einer „Generationslagerung und eines rudimentären Generationszusammenhangs“.72 So wie Dorothee Wierling als Ergebnis ihrer Untersuchung keine idealtypischen Lebensläufe destilliert, kommt auch Arno Mietschke in seiner kollektivbiographischen Studie zu Technikern in der Zwischenkriegszeit zu dem Schluss, dass weder eine bestimmte Art eines Bildungspatentes noch die soziale Herkunft als normative Kausaldeterminanten für lebenslaufverändernde Positionen nachgewiesen werden können. „Normative Aspekte institutionalisierter Praktiken“ stehen zwar im Zentrum der kollektivbiographischen Analyse von Lebensverläufen, allerdings wird dadurch das Spezifische an Lebensgeschichten nicht ausgeschaltet.73 Der kollektivbiographische Ansatz zielt nicht „auf 70 71 72 73
Ebd., S. 19. Ebd., S. 555. Ebd., S. 562. Arno Mietschke: „Der unbekannte Techniker: Lebensverläufe und Werkzeugmaschinenbau in der Zwischenkriegszeit“. In: BIOS. Zeitschrift f r Bio-
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die idealtypische Aufdeckung und Zuordnung diverser Großstrukturen“ ab, sondern versucht vielmehr, „das Interesse am historischen Individuum zu nutzen, um die ,Duality of Structure‘ von Akteur und Struktur zu rekonstruieren“.74 Der klassischen Biographie ,großer Männer‘ setzt Mietschke das Programm einer Sozialbiographie entgegen, die „Erfahrungen und Identitäten als internalisierte Ergebnisse von interaktiven Handlungen und Kommunikationsprozessen“ auch „als sozialhistorische Phänomene kollektivbiographisch thematisiert“. Nicht nur ,große Männer‘ verfügen über biographische Ich-Identität, in der Regel sind ihre Lebensläufe aber besser dokumentiert. Historische Kollektivbiographien sehen sich daher vor das grundlegende Problem des Quellenmangels gestellt. Sie können sich nicht narrativer autobiographischer Interviews mit den Biographierten als Mittel bedienen und sind damit konfrontiert, dass von Archiven und Bibliotheken in erster Linie die Dokumente ,großer Männer‘ gesammelt wurden. Stichwort Generation75 Eine Generation muss gestiftet werden und sich im gesellschaftlichen Diskurs verankern, um als Identifikationsangebot fungieren zu können, so Dorothee Wierling. „Generationen ergeben sich nicht einfach aus der Geschichte, sondern bilden auch ein historisches Konstrukt“, und sie sind mitunter vorübergehende Modeerscheinungen, wie beispielsweise die ,Generation Golf‘, die vor allem in der deutschen Literatur einige Zeit für Schlagzeilen und Verkaufserfolge sorgte.76 Auch wenn Wierling zu dem Schluss kommt, dass nicht von einer 49er Generation im emphatischen Sinn gesprochen werden kann, so arbeitet sie dennoch eine Reihe von Parallelen zwischen den auf der Basis der Interviews graphieforschung und Oral History 11 (1998) Sonderheft: Biographie und Technikgeschichte. Hg. v. Wilhelm Füßl u. Stefan Ittner, S. 234 – 246, hier S. 234. 74 Ebd., S. 236. 75 Vgl. dazu auch den entsprechenden Abschnitt in der Einleitung von Bernhard Fetz in diesem Band. Einen sehr guten Überblick zu Generationskonzepten und ihrer wissenschafts- und kulturhistorischen Entwicklung bieten Ohad Parnes, Ulrike Vedder u. Stefan Willer: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte. Frankfurt/M. 2008. 76 Dorothee Wierling: „Wie (er)findet man eine Generation? Das Beispiel des Geburtsjahrgangs 1949 in der DDR“. In: Generationalit t und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. Hg. v. Jürgen Reulecke unter Mitarbeit v. Elisabeth MüllerLuckner. München 2003, S. 217 – 228, hier S. 218.
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rekonstruierten Lebensgeschichten heraus, die auf eine gemeinsame Generationslagerung schließen lassen. Die Unterschiede nach Geschlecht, Region und vor allem sozialer Herkunft und Zugehörigkeit sind sozialgeschichtlich zu erfassen, differenzieren lassen sich die Lebensgeschichten aber auch aufgrund der „zahllosen individuellen Eigenarten“.77 Und gerade um die Exploration dieser individuellen Eigenarten geht es der Biographie. Allerdings dürfen bei dem Versuch, diesem Individuellen auf die Spur zu kommen, die anderen Faktoren nicht vernachlässigt oder gar ausgeblendet werden. Die Rede von der Generationszugehörigkeit birgt die Gefahr in sich, die Verantwortung des oder der Einzelnen für Handlungen geringzuschätzen und sie einer gewissen historischen Notwendigkeit zuzuschreiben. Biographische Darstellungen laufen dieser Exkulpation zuwider, indem sie den Handlungsspielraum des Individuums sichtbar zu machen versuchen – vorausgesetzt, sie konstruieren eine Lebensgeschichte nicht schon von seinem Ende her, auf das sie unweigerlich zuzulaufen scheint, sondern arbeiten die strukturelle Offenheit eines Lebensverlaufs und damit die Handlungsoptionen heraus, unter denen der oder die Einzelne zu einem bestimmten Zeitpunkt wählen konnte. Ulrich Herbert spricht in seiner Darstellung politischer Generationen des 20. Jahrhunderts in Analogie zu Wierling von „idealtypische[n] Konstruktionen“, die sich nicht als Prädestinationskategorie eignen und daher nicht dazu dienen, Lebensverläufe zu einem bestimmten Grad vorhersagbar zu machen. Eine Verbindung zwischen Generationszugehörigkeit und der späteren Entwicklung eines Menschen ist aus seiner Sicht unzulässig. Politische Generationen versteht er daher als „Sinnbild, als Ausdruck werdenden politischen und kulturellen Hegemoniewandels“, und als solche sind sie „geschichtsmächtig und analysierbar“.78 Auf die Wirkmächtigkeit des Sinnbilds Generation weist auch Jürgen Reulecke hin: Generation und Generationalität sind zwar immer nur „subjektive Deutungskonstrukte“, sie entfalten allerdings „in manchen historischen Zusammenhängen eine erhebliche Wirkungskraft“ und werden zu realen, vor allem mentalitätsgeschichtlichen Faktoren mit unter Umständen „erheblichen individuellen wie kollektiven Lang-
77 Ebd., S. 226. 78 Ulrich Herbert: „Generationenfolge in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts“. In: Generationalit t. Hg. v. Reulecke, S. 95 – 114, hier S. 114.
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zeitfolgen“.79 Unter Generationalität versteht er „eine einem Menschen anhaftende oder auch bloß zugeschriebene Eigenart, die etwas mit seinem altersspezifischen Herkommen, seiner ,Generationslagerung‘ (Karl Mannheim) also, zu tun hat“. Der Begriff zielt auf eine „Annäherung an die subjektive Selbst- oder Fremdverortung von Menschen in ihrer Zeit und deren damit verbundenen Sinnstiftungen“ ab.80 Einer bestimmten Generation anzugehören, bedeutet nicht notwendigerweise, die eigenen weltanschaulichen, künstlerischen oder politischen Positionen mit jenen der anderen Mitglieder dieser Generation zu teilen. Karl Mannheim differenziert daher zwischen Generationslagerung, Generationszusammenhang und Generationseinheit. Aus der Tatsache, zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt geboren zu sein, ergibt sich noch keine gemeinsame Generationslagerung. Dafür ist es notwendig, im selben historisch-sozialen Raum zur selben Zeit geboren zu sein. Von einem Generationszusammenhang spricht Mannheim, wenn noch eine konkrete Verbindung hinzukommt, nämlich „eine Partizipation an den gemeinsamen Schicksalen dieser historischsozialen Einheit“.81 Geteilte Erfahrungen und Erlebnisse haben aber keine einheitliche Art der Verarbeitung und Reaktion zur Folge. Daher verwendet er den Begriff Generationseinheit für jene Teilgruppen einer Generation, die auch die Art der Verarbeitung miteinander teilen.82 „Im Rahmen desselben Generationszusammenhanges können sich also mehrere, polar sich bekämpfende Generationseinheiten bilden.“83 Wichtig ist für Mannheim auch der Begriff des Spielraums: Die Generationslagerung hat zur Folge, dass das Individuum nur einen bestimmten Spielraum möglichen Geschehens und Handelns zur Verfügung hat84 – in Pierre Bourdieus Terminologie handelt es sich dabei um den Raum der Möglichkeiten. Entscheidende Bedeutung für die Art der Verarbeitung und der Reaktion auf Ereignisse und Erlebnisse hat aus Mannheims Sicht „die 79 Jürgen Reulecke: „Einführung: Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts – im ,Generationencontainer‘?“ In: Generationalit t. Hg. v. Reulecke, S. VII-XV, hier S. IX. 80 Ebd., S. VIII. 81 Karl Mannheim: „Das Problem der Generationen“. In: ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Eingeleitet und hg. v. Kurt H. Wolff. Berlin, Neuwied 1964, S. 509 – 565, hier S. 542. 82 Vgl. ebd., S. 544. 83 Ebd., S. 547. 84 Ebd., S. 528.
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Formierung des Bewußtseins“ in der Kindheit bzw. Jugend, wobei er keinen genaueren Zeitraum dafür nennt. „Die ersten Eindrücke haben die Tendenz, sich als nat rliches Weltbild festzusetzen“, so Mannheim, und bestimmen damit in weiterer Folge, wie ein Individuum auf Ereignisse reagiert.85 Aufgrund der unterschiedlichen Verarbeitung von Ereignissen je nach Generationszugehörigkeit entsteht auch jene Dialektik, die zu sozialem Wandel führt. Wenngleich Mannheims Konzeption des Begriffes ,Generation‘ und seine daraus folgenden Schlüsse hinsichtlich gesellschaftlicher Entwicklungen einer Revision bedürfen und für die Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr in dieser Form gültig sind86, bleibt die Frage nach der Bedeutung von Kindheit und Jugend für den weiteren Lebensverlauf und damit auch für biographische Darstellungen. Stichwort Sozialisation Biographien versuchen zu ergründen, wie ein Individuum zu dem geworden ist, als was es in der biographischen Rückschau und Rekonstruktion erscheint. Dieses Erkenntnisinteresse teilt sie mit der Sozialisationsforschung, die die wechselseitige Bedingtheit von individueller Entwicklung und sozialen Strukturen mit sozialwissenschaftlichen Methoden erforscht. In der neueren Literatur zur Sozialisationsforschung wird die Schwierigkeit einer empirischen Überprüfung dieses Zusammenhangs ebenso betont wie ein Theoriedefizit, das erst in jüngster Zeit auszugleichen versucht wird.87 Betrachtet man die laufende Theorie- und Methodendebatte in der Sozialisationsforschung, so wird deutlich, wie komplex dieses Verhältnis ist und wie notwendig eine interdisziplinäre theoretische Fundierung für die Biographik ist, will sie sich nicht dem Vorwurf einer naiven und eindimensionalen 85 Ebd., S. 536. 86 Vgl. dazu die Einleitung von Bernhard Fetz in diesem Band, S. 29 – 33; weiters: Jürgen Zinnecker: „,Das Problem der Generationen‘. Überlegungen zu Karl Mannheims kanonischem Text“. In: Generationalit t. Hg. v. Reulecke, S. 33 – 58. 87 Matthias Grundmann: „Vorwort des Herausgebers“. In: Konstruktivistische Sozialisationsforschung. Lebensweltliche Erfahrungskontexte, individuelle Handlungskompetenzen und die Konstruktion sozialer Strukturen. Hg. v. Matthias Grundmann. Frankfurt/M. 1999, S. 9 – 19, hier S. 12.
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Verknüpfung von Individuum und Gesellschaft ausliefern.88 Eine Intensivierung der Theoriediskussion in der Sozialisationsforschung erfolgt auch als Reaktion auf ein im Gefolge der Postmoderne untersozialisiertes Subjekt im Zeichen der Autonomie. Indem die Sozialisationsforschung auf eine empirische Basis gestellt wird, kann sie einen strukturlosen Subjektzentrismus vermeiden helfen.89 Der eingangs zitierte Biograph und Literaturwissenschaftler David Ellis sieht einen Gegensatz zwischen literaturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Biographik, der in einem vermeintlichen Widerspruch von Subjektorientierung und Strukturorientierung besteht. Dieser Befund ist aber nicht haltbar, wirft man einen Blick in die neuere Literatur zur Sozialisationsforschung. Der in diesem Feld einflussreiche Bildungs- und Sozialwissenschaftler Wolfgang Edelstein plädiert für eine Verbindung von soziologischem und psychologischem Zugang zur Erklärung des Verhältnisses zwischen individuellen Lebensverläufen und sozialen Strukturen. „Ohne eine erklärungsträchtige Theorie sozialer Strukturen bleibt ein auf Individuen fixierter Konstruktivismus bloße Psychologie. Gewiß, ohne Psychologie ist Soziologie blind. Umgekehrt bleibt Psychologie ohne Soziologie stumm und verblendet.“90 In Analogie dazu lässt sich feststellen, dass eine Biographie ohne Bezugnahme auf soziale Strukturen auf einem Auge blind ist und durch die Fokussierung auf das Einzelschicksal dessen Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen Prozessen aus dem Blick zu verlieren droht. Edelstein weist darauf hin, dass „die Ausbrecher“ aus dem sozialen System, „die Aufund Absteiger, die Innovatoren“ aus denselben Feldern kommen wie die „systemkonformen Akteure“. Daher sei es notwendig, „die Reproduktionsleistungen im System mit den Abweichung produzierenden Risikopfaden“ zu vergleichen.91 Mit anderen Worten: Um soziale Strukturen und ihre intergenerationelle Reproduktion verstehen zu können, sind mikrosoziologische und damit biographische Untersuchungen notwendig. Umgekehrt lässt sich die individuelle biographi88 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Peter Alheit und Bettina Dausien in diesem Band, S. 307 f. 89 Ullrich Bauer: „Keine Gesinnungsfrage: Der Subjektbegriff in der Sozialisationsforschung“. In: Sozialisationstheorie interdisziplin r. Aktuelle Perspektiven. Hg. v. Dieter Geulen u. Hermann Veith. Stuttgart 2004, S. 61 – 91, hier S. 63. 90 Wolfgang Edelstein: „Soziale Selektion, Sozialisation und individuelle Entwicklung“. In: Konstruktivistische Sozialisationsforschung. Hg. v. Grundmann, S. 35 – 52, hier S. 35. 91 Edelstein: „Soziale Selektion“, S. 50 f.
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sche Entwicklung und Leistung nur mit Blick auf die sozialen Strukturen kenntlich machen – ein Anspruch, den die Kollektivbiographik zu erfüllen versucht. Auch aus der Sicht des Sozialisationsforschers Ullrich Bauer ist eine Gegenüberstellung von Subjekt- und Strukturorientierung völlig unangebracht. Er konstatiert für die Sozialisationsforschung seit den 1970er Jahren eine zu starke Subjektorientierung im Geiste eines postmodernen autonomen Subjektbegriffs. Bauer greift daher für eine „soziologische Wiedereinbettung der Sozialisationsforschung“, die aber keinen „Rückfall in ein reduktionistisches Subjektschema“ darstellt, auf Bourdieus handlungs- und akteurstheoretische Annahmen zurück.92 Bourdieus Habituskonzept weise zwar eine „black box“, eine Leerstelle auf: Er analysierte nur die Seite des Sozialisationsergebnisses, nicht aber die des Sozialisationsprozesses.93 Aber Bourdieu ist kompatibel mit der konstruktivistischen Sozialisationsforschung, die die Kognitionspsychologie Piagets mit sozialwissenschaftlichen Ansätzen im Gefolge sozial-phänomenologischer Zugänge, vor allem von Alfred Schütz, verbindet. In ihrem Mittelpunkt steht die Entstehung und Entwicklung – kurz: die individuelle Konstruktion – eines subjektiven Wissensvorrates durch entwicklungsrelevante lebensweltliche Erfahrungen in je spezifischen Entwicklungsökologien. Subjektives Handlungswissen wird in Interaktionsbeziehungen ausgebildet – kurz: sozial konstruiert.94
Es wird nach „konkreten Bedingungen und Voraussetzungen individueller Handlungsbefähigung“ gefragt. „Kognitive Strukturen werden […] im individuellen Lernprozess zu konsistenten Wissensmustern verallgemeinert. Sie sedimentieren sich in der Struktur einer individuellen Erfahrungsbiographie.“95 Michael Meuser plädiert analog dazu für eine Reformulierung der Bourdieu’schen Habitustheorie mit Rekurs auf Karl Mannheims Wissenssoziologie. Dabei werden die Bezüge zwischen individuellem Handeln und sozialen Strukturen in ihrer Wechselwirkung deutlich. „Der Habitus, der die Handlungen strukturiert, existiert in den Handlungen und weist über sie hinaus“ auf eine Ebene der kollektiven Orientierungen, die sich als eine „eigene Di92 Bauer: „Subjektbegriff“, S. 72. Zu Bourdieus Bedeutung für die Biographik vgl. Klein: „Lebensbeschreibung als Lebenserschreibung?“, S. 74 – 77. 93 Bauer: „Subjektbegriff“, S. 77. 94 Ebd., S. 78 95 Ebd.
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mension der sinnhaften Strukturierung der sozialen Welt“ begreifen lassen.96 Erst wenn man diesen überindividuellen und transsituativen Kontext betrachtet, können individuelle Handlungen in ihren sozialstrukturellen Einbindungen analysiert werden. Lebensverläufe sind aus der Perspektive der konstruktivistischen Sozialisationsforschung und der Wissenssoziologie zwar nicht prognostizierbar, aber sie werden auch nicht allein vom Individuum bestimmt. Im Unterschied zur Individualbiographie stellt die Sozialisationsforschung die Frage nach dem Typischen in einer Erfahrungsbiographie, ohne dabei aber individuelle Ausprägungen völlig zu vernachlässigen. Das Subjekt erwirbt Dispositionen. Diese sind nicht unveränderbar. Sie programmieren einen späteren Handlungsvollzug nicht vor. Sie stellen keine eindeutigen Handlungsregeln dar. Und dennoch dienen sie dazu, einen Handlungsentwurf, d. h. die selektive Wahrnehmung, Ver- und Bearbeitung von Problemen und Bewältigungsstrategien vorzustrukturieren. Dispositionen grenzen – wiederum nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit – den individuellen Entscheidungs- und Handlungsspielraum ein. Dispositionen sind akkumuliertes Handlungswissen. Sie sind strukturiert durch frühere Erfahrungen und wirken ihrerseits strukturierend in jeder einzelnen Handlungssituation.97
Diese Annahme eines individuellen Handlungssinns „zielt auf die Rekonstruktion der Konstruktionsprinzipien der sozialen Welt in den Kognitionsmustern der handelnden Subjekte“ ab.98 Ullrich Bauer tritt für eine „wahrscheinlichkeitstheoretische Orientierung in der Sozialisationsforschung“ ein und knüpft damit an Ulrich Oevermann an.99 Bourdieus Habituskonzept erscheint ihm in diesem Zusammenhang als „ein gutes Beispiel für ein empirisches, sozialwissenschaftlich angeleitetes Subjektverständnis“ und daher als geeignete Grundlage für sein probabilistisches Verständnis von Sozialisation. Bourdieu verfahre nicht kausalistisch und stelle zwischen „performanzbedingenden sozialen Strukturen (etwa der sozialen Herkunft), individuellem Habitus und dem tatsächlichen Handeln“ 96 Michael Meuser: „Subjektive Perspektiven, habituelle Dispositionen und konjunktive Erfahrungen. Wissenssoziologie zwischen Schütz, Bourdieu und Mannheim“. In: Hermeneutische Wissenssoziologie. Standpunkte zur Theorie der Interpretation. Hg. v. Ronald Hitzler, Jo Reichertz u. Norbert Schröer. Konstanz 1999, S. 121 – 146, hier S. 139. 97 Bauer: „Subjektbegriff“, S. 79. 98 Ebd. 99 Ebd., S. 83.
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keinen deterministischen Zusammenhang her. „Jede Objekt- und Sozialbeziehung wird subjektiv konstruiert, nur – und das ist das Spezifische – immer in bestimmten, wahrscheinlichen Grenzen.“ Er fordert daher im Sinne einer umfassenderen sozialisationstheoretischen Perspektive, „von den individuellen Dispositionen“ auszugehen (Subjektorientierung) und diese mit einer „Betrachtung der Struktur der Sozialisationsbedingungen und -einflüsse (Strukturorientierung)“ zu verknüpfen.100 Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen kulturwissenschaftlicher Biographik und sozialwissenschaftlicher Biographieforschung gilt es analog, eine Dichotomisierung von Subjektversus Strukturorientierung zu vermeiden und stattdessen die beiden Forschungsperspektiven miteinander zu verbinden. Anregungen kann der in der Sozialisationsforschung vorgeschlagene interaktionistische Konstruktivismus bieten, der von der Frage ausgeht, „welche Rolle der Konstruktivität der Subjekte und welche Rolle der sozialen Außenwelt in der Sozialisationstheorie zugeschrieben werden muss“. Dabei gehe es darum, die „Vorzüge psychologischer und soziologischer Sozialisationstheorien zu verbinden“.101 Diese Verbindung führt einerseits zu der Einsicht in die relative Eigenständigkeit subjektiver und sozialer Prozesse und andererseits zur Notwendigkeit, „das Verhältnis von Entwicklungsdynamik und Entwicklungsbedingungen“ auszuloten. Aus der Sicht des interaktionistischen Konstruktivismus muss die Entwicklungsdynamik „im Bereich subjektiver Konstruktionen verortet werden, was keineswegs die überragende Rolle sozialisatorischer Interaktionen als Bedingungszusammenhang subjektiver Bildungsprozesse schmälert“.102 Dieter Geulen weist auf das Fehlen einer fundierten Theorie der Sozialisation hin, die soziologische und psychologische Komponenten miteinander verbindet. Allerdings gebe es einen Minimalkonsens in der Forschung, der folgende Grundannahmen enthält: Erstens sind Erfahrungen der materiellen, sozialen und kulturellen Umwelt konstituierende Bedingungen für die Entwicklung menschlicher Persönlichkeit. Zweitens sind diese Bedingungen nicht einfach Ursache einer be100 Ebd., S. 85. 101 Tilmann Sutter: „Sozialisation als Konstruktion subjektiver und sozialer Strukturen. Aktualität und künftige Perspektiven strukturgenetischer Sozialisationsforschungen“. In: Sozialisationstheorie interdisziplin r. Hg. v. Geulen u. Veith, S. 93 – 115, hier S. 96. 102 Sutter: „Sozialisation“, S. 97.
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stimmten Entwicklung, sondern werden erst in der Interaktion mit dem Individuum wirksam. Drittens handelt es sich um einen lebenslangen Prozess der Wechselwirkung zwischen sozialen Strukturen und der individuellen Biographie. Und viertens: Wie der Begriff Persönlichkeit verstanden wird, enthält eine normative Implikation, die auf einen gesellschaftstheoretischen, politischen Bezug verweist.103 In der Sozialisationforschung wird nicht nur von Dieter Geulen die Annahme vertreten, es gebe keinen „von der Sozialisation unberührten Persönlichkeitskern, wir sind nicht trotz, sondern aufgrund unserer Sozialisation Subjekte“.104 Sozialisation kann daher definiert werden als „ein sich wechselseitig bedingender Prozeß sozialer und individueller Konstruktion“, „der gleichermaßen durch intergenerationell vermittelte Reziprozitätserfahrungen und das sich erfahrungsbiographisch herausbildende Verstehen sozialer Beziehungen und komplexer Wissensstrukturen bestimmt ist“.105 Gerade, wenn man der Frage nachgeht, warum bestimmte Handlungsstrukturen von Individuen unterschiedlich ausgelegt werden, zeigt sich die „wechselseitige Durchdringung sozialer und individueller Konstruktionsprozesse“.106 Zentrales Anliegen der konstruktivistischen Sozialisationsforschung ist es daher, „auf Gruppierungs- und Identifikationsprozesse zu schließen, die für die Bewertung individueller, aber auch gruppen- und milieuspezifischer Handlungsmöglichkeiten konstitutiv sind“. Sie widmet sich der „Analyse von Konstruktionsprozessen, über die (a) der konstruktive Anteil des Individuums an der (Re-)Strukturierung der vorgefundenen, institutionellen Sinnstrukturen und (b) die Phänomene der sozial strukturierten Mitwelt, die für die Entwicklung des einzelnen auf besondere Art und Weise relevant werden, in den Blick genommen werden können“. Lernprozesse werden als „aktive Prozesse der Erfahrungsregulierung und -gestaltung definiert“ und das „Individuum erwirbt in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Bereichen der Lebenswelt unterschiedliche Formen von Handlungskompetenz“.107 Damit werden Subjekt- und Strukturorien103 Dieter Geulen: „Ungelöste Probleme im sozialisationstheoretischen Diskurs“. In: Sozialisationstheorie. Hg. v. Geulen u. Veith 2004, S. 3 – 20, hier S. 3 f. 104 Ebd., S. 8. 105 Matthias Grundmann: „Dimensionen einer konstruktivistischen Sozialisationsforschung“. In: Konstruktivistische Sozialisationsforschung. Hg. v. Grundmann, S. 20 – 34, hier S. 28. 106 Ebd., S. 27. 107 Ebd., S. 30.
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tierung miteinander verbunden und eine einseitige Betonung entweder individueller Verarbeitungsweisen oder sozialer Strukturen wird vermieden. Die Bedeutung sozial kontextuierter Erfahrung wird […] aus der aktiven Auseinandersetzung von Individuen mit vorgegebenen Handlungsstrukturen abgeleitet. Auf diese Weise kann beschrieben werden, wie dem Individuum Handlungswissen nahegebracht wird, wie die Herkunftsbedingungen seine Handlungsmöglichkeiten regulieren und inwieweit die so vermittelten und erfahrungsbiographisch erworbenen Handlungsstrukturen sich im sozialen System sozialer Ungleichheit bewähren.108
Jede Biographie wirft die grundsätzliche Frage nach der Freiheit des Individuums auf und damit nach den Handlungsoptionen, die gesellschaftliche Strukturen offen lassen. Damit wird sie anschlussfähig an sozialwissenschaftliche Debatten wie etwa in der Sozialisationsforschung oder der soziologischen Biographieforschung. Kollektivbiographische Studien wie jene von Michael Wildt oder Dorothee Wierling führen vor, wie gesellschaftliche Institutionen (Kindergärten, Jugendorganisationen, Bildungssysteme, Militärapparate, politische Parteien und viele andere) die Lebensprozesse jedes und jeder Einzelnen strukturieren. Daneben spielen aber auch soziale Zugehörigkeit, Familie und soziale Beziehungen eine wichtige Rolle, ohne dass sich die individuellen Handlungsentscheidungen darauf zurückführen oder daraus ableiten ließen. „Selbst unter autoritären Regimen ist der einzelne nicht überdeterminiert“, und es bleibt immer ein gewisser Handlungsspielraum, den der oder die Einzelne unterschiedlich zu nutzen weiß. „Wie könnte angesichts dessen eine taugliche Gesellschaftsgeschichte […] ohne die Empirie von Lebensgeschichten geschrieben werden?“, fragt Reinhard Sieder zu Recht.109 Die Frage muss auch umgekehrt werden: Wie können angesichts dessen taugliche Lebensgeschichten ohne Gesellschaftsgeschichte geschrieben werden? Durch ein dialektisches Verständnis von Individuation und Vergesellschaftung und die Analyse der wechselseitigen Konditionierung sozialen und individuellen Wandels wird eine „Überbewertung der Subjektivität“ vermieden.110 Und es zeigt sich darüber hinaus die 108 Ebd., S. 31. 109 Reinhard Sieder: „Gesellschaft und Person: Geschichte und Biographie“. In: Br chiges Leben. Biographien in sozialen Systemen. Hg. v. Reinhard Sieder. Wien 1999, S. 234 – 264, hier S. 259. 110 Helmut Trischler: „Im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft. Aufgaben, Themenfelder und Probleme technikbiographischer Forschung“. In:
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prinzipielle Offenheit von Biographien, in denen auch Faktoren wie Zufall und Spontaneität individueller Entscheidungen eine wesentliche Rolle spielen. Die Hauptaufgabe liegt „in der Verknüpfung des Allgemeinen mit dem Besonderen, in der Vermittlung zwischen Individualität und Sozialität mit den Mitteln der personenzentrierten Forschung“.111 Dabei können die Handlungs- und Entscheidungsspielräume herausgearbeitet werden, die kontextabhängig sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Immer bleibt aber ein Rest an individueller Freiheit. Darzustellen, wie sie genutzt und wie die Grenzen dieser Freiheit erweitert werden können, ist eine der zentralen Herausforderungen in der Biographik, der sie sich nur in einem interdisziplinären Dialog erfolgreich stellen kann. Literaturverzeichnis Bauer, Ullrich: „Keine Gesinnungsfrage: Der Subjektbegriff in der Sozialisationsforschung“. In: Sozialisationstheorie. Hg. v. Geulen u. Veith, S. 61 – 91. Benstock, Shari: Women of the Left Bank. Paris, 1900 – 1940. Austin 1986. Bude, Heinz: „Lebenskonstruktionen als Gegenstand der Biographieforschung“. In: Biographische Methoden in den Humanwissenschaften. Hg. v. Gerd Jüttemann u. Hans Thomae. Weinheim 1998, S. 247 – 258. Codell, Julie F.: „Biographical Dictionaries“. In: Encyclopedia of Life Writing. Autobiographical and Biographical Forms. Bd. 1. Hg. v. Margaretta Jolly. London u. Chicago, 2001. Contosta, David R.: Rebel Giants. The Revolutionary Lives of Abraham Lincoln & Charles Darwin. Amherst 2008. Dausien, Bettina u. Peter Alheit: „Die biographische Konstruktion der Wirklichkeit. Überlegungen zur Biographizität des Sozialen“. In: Biographische Sozialisation. Hg. v. Erika M. Hoerning. Stuttgart 2000, S. 257 – 283. Eckart, Wolfgang Uwe u. Robert Jütte: „Biographie und Prosopographie“. In: dies.: Medizingeschichte. Eine Einf hrung. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 219 – 229. Edel, Leon: Bloomsbury. A House of Lions. London 1979. Edelstein, Wolfgang: „Soziale Selektion, Sozialisation und individuelle Entwicklung“. In: Konstruktivistische Sozialisationsforschung. Hg. v. Grundmann, S. 35 – 52. Egghardt, Hanne: sterreicher entdecken die Welt. Weiße Flecken rotweißrot. Wien 2000. BIOS. Zeitschrift f r Biographieforschung und Oral History 11 (1998) Sonderheft: Biographie und Technikgeschichte. Hg. v. Wilhelm Füßl u. Stefan Ittner, S. 42 – 58, hier S. 45. 111 Ebd., S. 46.
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Hannes Schweiger
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Gegen den ,lebendigen Menschen‘ Experimentelle sowjetische Biographik der 1920er Jahre
Devin Fore Gute Kommunisten haben keine Biographie, schrieb Il’ja E˙renburg 1925.1 Damit bezeichnete er kurz und bündig die umstrittene Position der Biographie zu einem historischen Zeitpunkt, als der Solipsismus privaten Lebens angeprangert wurde und es verpönt war, seiner Individualität Ausdruck zu verleihen. Es gab eine Reihe von Gründen, weshalb in der postrevolutionären Periode auf so tiefgreifende Weise anstelle des Individuums das Kollektiv zum gesellschaftlichen Akteur wurde. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass nicht alle Ursachen als Ausdruck bolschewistischer Ideologie abgetan werden können. Die bolschewistische Version des Kommunismus, von Lenin als „[alle] Macht den Sowjets + Elektrifizierung des ganzen Landes“ definiert, war sowohl ein politisches als auch ein technologisches Programm: Einerseits wurde damit unter dem Banner des Kommunismus versucht, neue Formen politischer Repräsentation zu schaffen und die vorrevolutionären Produktionsverhältnisse völlig neu zu gestalten. Andererseits ist aber ebenso wichtig, dass die Bolschewiken durch eines der überstürztesten Industrialisierungsprogramme der Geschichte eine Agrarnation (und eine Nation, deren ohnehin geringe industrielle Kapazität während des Bürgerkrieges 1917 – 1922 weiter verringert wurde) in das Zeitalter der technologischen Moderne katapultierten.2 Mit anderen Worten, Russlands verspätete Industrialisierung trug ebenso viel zur Ächtung individuellen Ausdrucks (wie etwa in der Biographie) bei wie die bolschewistische Ideologie. Die unterschiedlichen Mittel zur Umsetzung dieser technologischen Revolution sind bereits aus anderen Kontexten bekannt: extreme Formen der Spezialisierung und der Ausbau der Arbeitsteilung; umfassende soziale Ausdifferenzierung; 1 2
Ilja Ehrenburg: Der Raffer. Berlin 1979, S. 150. Eine andere berühmte Formulierung von Lenin lautete: „Sozialismus ohne Post- und Telegraphendienst ist die leerste aller Phrasen.“
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Einführung eines abstrakten Systems der Rationalisierung; Verbreitung moderner technischer Medien und Ausbau der Massenkommunikation; und die Konzentration der Bevölkerung in städtischen Zentren. Theoretiker wie Max Weber haben gezeigt, dass soziale Rationalisierung und kulturelle Vermassung den Bereich individueller Autonomie wesentlich beschränkt haben. Die psychologischen Konsequenzen dieser Modernisierung sind nicht nur im sowjetischen Russland zu beobachten. Aber die Verbindung der ersten Welle industrieller Modernisierung mit dem politischen Programm der Bolschewiken, das kollektiven Strategien und Unternehmungen den Vorzug gegenüber der ,Anarchie‘ individueller Tätigkeit gab, machten Russland in den 1920er Jahren zu einer besonders unwirtlichen Umgebung, wenn es darum ging, der Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen und Räume psychischer Innerlichkeit zu kultivieren. Und was ist, um zum Gegenstand des vorliegenden Bandes zu kommen, die Biographie ohne Persönlichkeit? Angesichts der Vorbehalte gegen Individualismus und Subjektivismus – Carl Einstein sprach von einer „Art von psychischem Privatkapitalismus“3 – ist es besonders verwunderlich, dass sich kein Rückgang, sondern im Gegenteil eine erstaunliche Explosion biographischer Produktion in der Sowjetunion während der 1920er und frühen 1930er Jahre feststellen lässt. Um nur ein prominentes Beispiel zu nennen: Maksim Gor’kij rief dazu auf, 10 000 Biographien über sowjetische Bürger zu verfassen. Diese neuen biographischen Unternehmungen wichen allerdings entscheidend von früheren Biographien ab, die die ,Leben großer Männer‘ schilderten. Die Wiedergeburt der Biographie in den 1920er Jahren wurde vom Wunsch getragen, das Genre neu zu erfinden und durch ihre Demokratisierung die hagiographische Tendenz von Biographien zu korrigieren, die prominente Individuen als alleinige Akteure der Geschichte feierten. Die Gattungsmerkmale und formalen Mittel der neuen Biographik sind Thema dieses Beitrags, der den Blick auf die Beiträge der sowjetischen Avantgarde zum biographischen Genre richtet. Innerhalb der futuristischen Gruppe LEF (ein Akronym für Levyj Front Iskusstv oder ,Linke Front der Künste‘) flossen diese Beiträge im Programm einer „Biographie des Dings“ zusammen. Das Ziel der kollektivistischen „Biographie des Dings“ (biografija vesˇˇci) war es, das Privatkapital der Geschichte, auf das Figuren wie Napoleon, Goethe oder Pusˇkin ein Monopol hatten, zu beschlagnahmen und an 3
Carl Einstein: Die Fabrikation der Fiktionen. Reinbek bei Hamburg 1973, S. 171.
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eine Vielzahl von Akteuren umzuverteilen. Die neue sowjetische Biographie wurde als eine Art historiographische uravnilovka („Ausgleich“ oder „Nivellierung“) konzipiert und sollte Geschichte von unten neu erzählen. Für das Verständnis der neuen biographischen Mode ist Grigorij Vinokurs zu Unrecht vergessener Text Biographie und Kultur aufschlussreich.4 Mit dieser Arbeit aus dem Jahr 1927 legte Vinokur, der Mitglied der LEF sowie des Moskauer Kreises für Sprachwissenschaft (Moskovskaja lingvisticˇeskaja kruzˇka) war und eine entscheidende Rolle für die Rezeption von Saussures Werk in Russland spielte, die erste strukturalistische Analyse von Biographien vor. Er baute auf Husserls Phänomenologie von Gustav Sˇpet und der Theorie des Erlebnisses in Eduard Sprangers Lebensformen (5. Aufl. 1925) auf und er führte in Biographie und Kultur aus, dass biographisches Schreiben unerlässlich dafür ist, das Verhältnis zwischen verkörpertem Erlebnis und weltgeschichtlichen Ereignissen zu verstehen. Nur ein philologischer Zugang zur Biographie erlaube dem Kulturhistoriker, so Vinokur, die Verbindungen zwischen den vereinzelten Fakten und dem kulturell geprägten syntaktischen System zu erfassen, das einen sinnvollen Kontext für die isolierten Erlebnisse darstellt. Durch eine Untersuchung der kulturellen Struktur, die das Leben eines Individuums mit allgemeinen Wissenssystemen verbindet, vermag der an der Biographie interessierte Wissenschaftler Diskrepanzen auf verschiedenen Ebenen zu lösen: auf der epistemologischen Ebene bringt Biographie isolierte Sinnesdaten mit transsubjektiven und universellen Wissenssystemen in Übereinstimmung; auf der soziologischen Ebene schafft Biographie symbolische Bezugspunkte zwischen individuellem und kollektivem Erleben; auf der ästhetischen Ebene vermittelt Biographie zwischen der materiellen Einzigartigkeit des Kunstwerks und der Sprache der Repräsentation, die künstlerischen Ausdruck strukturiert.5 Zusammengefasst macht Vinokurs Text deutlich, dass die biographische Überproduktion der 1920er Jahre ein Symptom für das in postrevolutionärer Zeit große Bedürfnis 4 5
Grigorij Vinokur: Biografija i kul’tura. Moskau 1927. Vinokur: Biografija i Kul’tura, passim. Lidija Ginzburg bezog sich in ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema „menschlicher Dokumente“ [cˇelovecˇeskie dokumenty] auf Vinokurs Arbeit und meinte in diesem Zusammenhang: „Symbolic behavior reaches its fullest extent when generalized historical personality is expressed in it. Historical personality encounters the individual, empirical being and fits him to a mold, making various adjustments for the person in question.“ On Psychological Prose. Princeton 1991, S. 16.
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nach einer Neukonzeption des Verhältnisses zwischen alltäglichem Erleben einerseits und dem Verlauf der Geschichte andererseits ist. Die Faktographen der LEF waren überzeugt davon, dass in biographischen Darstellungen das Leben und die Entwicklung eines Individuums nicht zum Fetisch gemacht werden dürfen, indem die einzelne Lebensgeschichte vom gesellschaftlichen Leben getrennt betrachtet wird. Daher verfassten sie formal heterodoxe Texte, die wesentlich von konventionellen Biographien abwichen. Ihr Bruch mit traditionellen biographischen Genres ging auf ihre anhaltende futuristische Überzeugung zurück, dass postrevolutionäre Existenz mit den gewohnten literarischen Mitteln nicht adäquat dargestellt werden konnte, und ˇ ivoj wurde durch ihre Polemik gegen den „lebendigen Menschen“ (Z ˇcelovek) markiert. Das Programm des „lebendigen Menschen“ stammte von den führenden Vertretern des neuen proletarischen Realismus innerhalb der RAPP (,Russische Vereinigung proletarischer Schriftsteller‘), die für die Reinstallierung des souveränen menschlichen Subjekts im Zentrum der literarischen Erzählung plädierten. Während die RAPP daran festhielt, dass der „lebendige Mensch“ nur durch belletristische Mittel wie den psychologischen Roman dargestellt werden kann, beharrte die LEF auf der grundsätzlichen Inkommensurabilität zwischen der wahren menschlichen Psyche und den etablierten Methoden literarischer Darstellung. Von der behavioristischen Psychologie Ivan Pavlovs und den biomechanischen Analysen Aleksej Gastevs beeinflusst, war die LEF nicht an den psychologischen Prozessen interessiert, die sich in den Tiefen des menschlichen Bewusstseins abspielten. Stattdessen gaben sie den nach außen manifesten und quantifizierbaren Daten der experimentellen Psychologie den Vorrang. Der grundsätzliche Fehler der Vertreter des Konzepts eines „lebendigen Menschen“ ist dem LEFFaktographen Teodor Grits zufolge, dass „sie konventionelle, künstlerische Objektivität mit wahrer, historischer Objektivität verwechseln. […] Der lebendige Mensch kann nicht in der handlungsorientierten schönen Literatur existieren.“6 Viktor Sˇklovskij, ein Formalist der OPOJAZ, der auf die Entwicklung der Faktographie in den späten 1920er Jahren entscheidenden Einfluss hatte, bestand ebenfalls darauf, dass die erzählte Figur und die wahre historische Person zwei unterschiedliche und unvergleichbare Phänomene darstellen und dass es unmöglich sei, 6
Teodor Grits: „Mertvyj ˇstamp i zˇivoj cˇelovek“. In: Literatura fakta. Pervyj sbornik ˇ uzˇak. Moskau 1929, S. 127 – 130, materialov rabotnikov Lefa. Hg. v. Nikolaj C hier S. 128.
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Letztere in Gestalt der Ersteren zu beschreiben. Die kompositorischen Muster und geometrischen Regularitäten der Literatur reduzierten die komplexe Heterogenität empirischen Lebens. „Es ist schwierig, den lebendigen Menschen zu erklären, aber es ist notwendig. Gewöhnlich wird der lebendige Mensch in Gestalt einer literarischen Person erklärt. Eine gekrümmte Lebenslinie wird durch das literarische Vieleck gezogen.“7 Es ist die Aufgabe des Biographen, eine dokumentarische Darstellung eines realen Lebens zu liefern, ohne auf literarische Konventionen zurückzufallen, die das Subjekt mittels formaler Konventionen der Charakterdarstellung und teleologischer Handlung überdeterminieren. Solche Literatur stellt einen „lebendigen Menschen“ vor, der zu glatt, zu rationell ist. „Kann der ,lebendige‘ Mensch in der Literatur überhaupt existieren“, fragt T. Grits. „Wir glauben, dass es möglich ist, aber nur wenn die Deformationen des Wortes korrigiert werden. Sogar die objektivste Fotografie liefert keine völlig getreue Aufzeichnung des Objekts, da ihre grundlegende Zweidimensionalität das dreidimensionale Objekt entstellt. Und in ähnlicher Weise verfügt auch das Wort über seine eigene Zweidimensionalität […].“8 In Die Wahrheit ber Pugacˇev, entstanden am Höhepunkt der Debatte über den ,lebendigen Menschen‘ in der Literatur, brachte das LEFˇ uzˇak seine Skepsis gegenüber Darstellungen histoMitglied Nikolaj C rischer Individuen zum Ausdruck, die sich der Konventionen überkommener literarischer Genres wie des Romans bedienen. Diese Genres hätten jede Verbindung mit der Realität verloren. Obwohl es sich vordergründig um eine Biographie des legendären Kossaken ˇ uzˇak kein Emel’jan Pugacˇev aus dem 18. Jahrhundert handelt, liefert C umfassendes Porträt des Rebellenführers. Und obwohl der Titel die „Wahrheit über Pugacˇev“ verspricht, verliert sich der Autor bald in der Kommentierung der verwirrenden Vielfalt an literarischen Arbeiten ˇ uzˇak über Pugacˇev. Im Verlauf des Buches wird deutlich, dass sich C nicht mit Pugacˇev auseinandersetzt, sondern mit den Brechungen dieser Figur in der russischen Literatur. Er stellt eine ganze Serie möglicher Pugacˇevs vor, die er zahlreichen literarischen Quellen entnimmt: Esenins ,romantischen‘ Pugacˇev, Trenevs ,Pseudo-Realisten‘ Pugacˇev, Kamenskijs ,marxistischen‘ Pugacˇev, Pusˇkins Pugacˇev, etc. Viele dieser 7 8
ˇ uzˇak, S. 258 – Viktor Sˇklovskij: „Ljudi i borody“. In: Literatura fakta. Hg. v. C 260, hier S. 259. ˇ uzˇak, Grits: „Mertvyj ˇstamp i zˇivoj cˇelovek“. In: Literatura fakta. Hg. v. C S. 129.
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ˇ uzˇak feststellt, und einige Darstellungen widersprechen einander, wie C widersprechen sich auch selbst. Die Auflistung der verschiedenen ˇ uzˇak in seinem Versionen Pugacˇevs erinnert an eine Analogie, die C Essay „Der lebendige Mensch in der Geschichte“ vorgeschlagen hatte, in dem er die Geschichtswissenschaft mit der forensischen Untersuchung des Schauplatzes einer Explosion verglich: Der Historiker kommt nach dem Ereignis an den Schauplatz und muss das Geschehene aufgrund der Positionen, an denen die übrig gebliebenen Stücke zu finden sind, rekonstruieren. Auf der Basis vorhandener Daten und Fakten muss er die Konturen des ursprünglichen Ereignisses annäherungsweise und mittels Querschläger („po rikocˇetom“) bestimmen.9 Sobald aber der Interpret versucht, diesen Überresten Intentionalität oder ein Agens zuzuschreiben, um die Geschichte mit psychologischer Kohärenz und Motivation zu versehen, gefährdet er die wissenschaftliche Gewissheit seines Unterfangens. ˇ uzˇak widmet in Die Wahrheit ber Pugacˇev sein besonderes Interesse C der Legende von Pugacˇevs samozvanstvo oder Hochstapelei, insoweit dies Fragen hinsichtlich seiner Motive aufwirft, den Thron zu beanspruchen. Es war immer unklar geblieben, weshalb sich Pugacˇev wiederholt als der Zar ausgegeben hatte. Tat er dies aus strategischen Gründen, um die Untertanen des Zaren davon zu überzeugen, dass der Rebell Pugacˇev der wahre Herrscher sei, um sie auf diese Weise für seine Sache zu gewinnen? Oder war Pugacˇevs Schwindel eine respektlose Parodie des Hofes, die die Monarchie an sich der Lächerlichkeit preisgeben und auf diese Weise die Legitimation des Herrschaftsanspruchs durch den Zaren untergraben sollte? Oder war Pugacˇev einfach ein Verrückter, der tatsächlich glaubte, dass er der Zar sei? Natürlich sind alle diese Möglichkeiten plausible Darstellungen der Motive Pugacˇevs, die einander nicht notwendigerweise ausschließen. Es ist der Dünkel des Historikers, der glauben machen will, dass er die eine Ursache mit Gewissheit bestimmen kann. Von solchen Versuchen, die inneren Mechanismen von Pugacˇevs Psyche objektiv bestimmen zu ˇ uzˇak den Schluss, dass keine Biographie können, enttäuscht, zieht C Pugacˇevs Motive darstellen wird können. Aus seiner Sicht ist die psychologisierende Biographie ein sinnloses Genre, weshalb er es aufgibt, die Gründe für Pugacˇevs Handlungen zu erklären. Der Chronist kann ˇ uzˇak in Hegel’scher Manier, dass diese höchstens behaupten, so C 9
ˇ uzˇak: „Z ˇ uzˇak, ˇ ivoj cˇelovek istorii“. In: Literatura fakta. Hg. v. C Nikolaj C S. 233 – 243, hier S. 234.
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Handlungen historisch notwendig waren. Sˇklovskij hatte in ähnlicher Weise Literaturwissenschaftler vor der seit den New Critics so genannten ,intentional fallacy‘ gewarnt: „Es ist nicht notwendig, sich in die Biographie eines Künstlers zu vertiefen. Zuerst schreibt er, und dann sucht er nach einer Motivation.“ (Hervorh. d. Vf.) 10 Spekulationen über psychologische Motive können wie bei geschichtswissenschaftlichen Kausalitätsannahmen im Allgemeinen nur ex post facto, also nach der Explosion, vorgebracht werden. Und selbst dann bleiben sie vorläufig und Gegenstand möglicher Revision. Psychologische Motive gehen der Handlung nicht voraus, sondern werden vom Biographen oder von der ˇ uzˇaks Sicht Literaturwissenschaftlerin nachgereicht. Daher ist es aus C ohne Belang, ob Pugacˇev ein verblendeter Verrückter oder ein brillanter Stratege war. Die Wahrheit über Pugacˇev ist daher, dass das Verhältnis zwischen historischer Notwendigkeit und individuellem Handeln nicht durch psychologisierende Schlüsse bestimmt werden kann. Sergej Tret’jakov bemerkte in prägnanter Weise zu einer öffentlichen Vorlesung über Biographie und literarisches Porträt: „Ich denke nur eines: sprich weniger über die Seele.“11 Tret’jakov, Doyen der sowjetischen Faktographie der 1920er Jahre, befürwortete Texte, die sich ihrem Objekt wie ein Kameraauge von außen näherten und bewusst das Innenleben einer Figur ignorierten. Diese ,Äußerlichkeit‘ trägt zur scheinbaren Objektivität der Darstellung bei, insofern sie den Text empiristisch erscheinen lässt. Für Tret’jakov wies diese Sicht von außen auch noch eine ethische Dimension auf: Das Kameraauge erliegt nicht dem emotionalen Voyeurismus, den man in der ,schönen Literatur‘ finden konnte. Dem Vorstoß des Romans in das Innere des menschlichen Geistes haftet aus Tret’jakovs Sicht etwas Unanständiges, ja sogar Obszönes an. Der Respekt vor der grundlegenden Andersartigkeit des Objekts erklärt sein großes Interesse an ethnographischen Dokumenten. In Vladimir Arsen’evs Der Taigaj ger Dersu Usala (im Orig.: V debrjach Ussurijskogo kraja, 1907, Wiederabdruck 1928) entdeckte er sogar ein Modell für die Biographie. In einer enthusiastischen Rezension von Arsen’evs Bericht seiner Reisen im östlichen Sibirien konzentrierte sich Tret’jakov auf dessen Darstellung Ders Usalas, des 10 Viktor Sˇklovskij: Pjat’ ˇcelovek znakomych. Tblisi 1927, S. 16. 11 Tret’jakovs Rede bei der Vsesojuznoe sovesˇˇcanie po chudozˇestvennomu ocˇerku. In: Russkij gosudarstvennyj archiv literatury i iskusstva [RGALI], f. 631, o. 1, d. 70 – 73. Stenogramm vom 8. Juni 1934.
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indigenen Führers durch die Wildnis. Im Gegensatz zu den ,lebendigen Menschen‘ der RAPP-Vertreter war der Protagonist Dersu Tret’jakov zufolge eine „lebendige ,lebendige Person‘“, voll der Eigenheiten und Launen eines tatsächlichen Individuums.12 Indem er die Haltung eines Ethnographen einnahm, versuchte der Naturalist Arsen’ev nicht, Dersus Denken zu verstehen, sondern beschränkte sich darauf, seine Worte und Handlungen aufzuzeichnen. Die Schilderung weist wenig emotionale Tiefe auf. Tret’jakov fand Arsen’evs Text gerade deshalb so überzeugend, weil er sich weigerte, den Indigenen Dersu kulturell zu domestizieren, indem er seine Gedanken und seine Weltsicht gemäß den Mustern übersetzte, die seinem russischen Publikum vertraut waren. Er pries Arsen’ev dafür, die radikale Andersartigkeit und Unverständlichkeit der Gewohnheiten, Sitten, Techniken, des Aberglaubens und der Ansichten seines Führers bewahrt zu haben. Wenn Arsen’evs Buch als Biographie über Dersu betrachtet werden kann, ist es eine, deren Perspektive auf grundlegende Weise entfremdet ist und die mehr von anthropologischen als von psychologischen Methoden geprägt ist. Tret’jakov verfolgte in seinen eigenen Arbeiten ähnliche Strategien. Er verzeichnete lediglich die äußeren, beobachtbaren Wirkungen psychischer Phänomene und vermied Spekulationen über Prozesse im Inneren seiner biographischen Objekte. Seine populäre Biographie eines chinesischen Revolutionärs, Den Schi-Chua, stellte das Modell eines entpsychologisierten Helden dar. Den ist das Negativbild eines Romanhelden. Nicht zufällig wählte Tret’jakov, im Gefolge Arsen’evs für diese Biographie einen Protagonisten aus einer Kultur, die jener des Autors in besonderem Maße unähnlich war. Die Unbekanntheit von Dens Leben sorgte unter den nicht einschlägig vorgebildeten Lesern für einen gewissen Reiz, waren sie doch mit den exotischen Sitten und Praktiken, die im Buch beschrieben werden, wenig vertraut; aber abgesehen von dieser pädagogischen Agenda hatte Tret’jakovs Entscheidung, einen chinesischen Revolutionär darzustellen, ebenso viel mit seiner Ablehnung des exzessiven Psychologisierens im Roman zu tun. Die unüberwindbare kulturelle Andersartigkeit Dens macht es den LeserInnen unmöglich, mit ihm als Protagonisten des Buches mitzufühlen. Dens Erlebnisse bleiben ausdrücklich und ausschließlich seine eigenen. Den Schi-Chua wurde aus einer Reihe von Interviews, die der Autor mit seinem Protagonisten geführt hatte, zusammengestellt und 12 Sergej Tret’jakov: „Zˇivoj ,zˇivoj‘ cˇelovek (O knige V. K. Arsen’eva V debrjach ˇ uzˇak, S. 243 – 246, hier S. 243. Ussurijskogo kraja)“. In: Literatura fakta. Hg. v. C
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mit der Gattungsbezeichnung ,Bio-Interview‘ (Bio-interv’ju) versehen – Oral History avant la lettre. Diese Verwandtschaft ist entscheidend, da eine Reihe formaler Merkmale des Textes auf dessen Mündlichkeit zurückzuführen sind. Der Text weist einige der wesentlichen Kennzeichen eines mündlichen Epos auf, wie sie von Walter Ong dargestellt werden:13 Das ,Bio-Interview‘ verbindet objektive Wissenschaftlichkeit mit subjektiver Anekdotenhaftigkeit, Ethnographie mit Reportage; ekphrastischer Dichte wird der Vorzug gegenüber diegetischer Kontinuität gegeben; die nicht-lineare und episodische Montagestruktur des Textes erinnert an die Komposition der antiken Rhapsodie (rhapsodein = ,zusammennähen‘); und die Hauptfigur weist wenig emotionale Tiefe oder Entwicklung auf. Tret’jakov vermied eine zeitliche Strukturierung, wie sie für lineare schriftliche Medien wie den Roman charakteristisch ist und setzte Rückblenden sowie temporale Schichtungen nur minimal ein. Im Gegensatz zum roman pur, der, wie Benjamin einmal festhielt, „reines Innen“ ist und „kein Außen“ kennt14, ist Den Schi-Chua reine Äußerlichkeit. Obwohl es sich technisch gesehen um Memoiren handelt, meidet Tret’jakov jede Form der Introspektion oder der mnemotechnischen mise en abyme, wie sie in Texten wie Prousts A la recherche du temps perdu zu finden ist. Seinem Den Schi-Chua fehlt daher eine emotionale Textur, wie sie durch zeitliche Verdichtungen und Erweiterungen zustandekommt. Um die psychologische Färbung der Geschichte weiter zu reduzieren, unterbricht Tret’jakov wiederholt Dens Erzählung und relativiert auf diese Weise den Standpunkt seines Protagonisten. Den SchiChua ist eine Mischung aus Biographie und Interview und damit ein kollaboratives Unterfangen, das die Unterschiede zwischen den Perspektiven der beiden Autoren offenlegt. An mehreren Stellen des Textes ersetzt Tret’jakov Dens Darstellung der Ereignisse durch seine eigenen Beobachtungen. Diese Interventionen unterbrechen die einheitliche und erwartbare Fokalisierung der Erzählung durch den Protagonisten. Als beispielsweise Dens plötzliches Verschwinden vor dem Höhepunkt 13 Walter J. Ong: Oralit t und Literalit t. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987. Zur Wiedergeburt der antiken Epik in modernistischer Dokumentarliteratur, vgl. Devin Fore: „Döblin’s Epic: Sense, Document, and the Verbal World Picture“. In: New German Critique 99 (Fall 2006), S. 171 – 207, v. a. S. 182 – 195. 14 Walter Benjamin: „Krisis des Romans. Zu Döblins ,Berlin Alexanderplatz‘“. In: Gesammelte Schriften. Bd. III. Hg. v. Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt/M. 1972, S. 230 – 236, hier S. 232.
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der Erzählung seine Darstellung abbrechen lässt, übernimmt Tret’jakov die Rolle des Erzählers. Den hat nicht einmal in seiner eigenen Biographie das letzte Wort. Dieses Oszillieren zwischen den beiden Perspektiven kann mit der filmischen Abfolge von Schuss und Gegenschuss verglichen werden. Sowohl im Film als auch in Tret’jakovs ,Bio-Interview‘ verstärkt die Bewegung zwischen verschiedenen Standpunkten den Eindruck eines objektiven und empirischen Textes. Aber im Fall von Den Schi-Chua scheinen diese ruckhaften Deplatzierungen auch die Autorität und Wahrhaftigkeit der Darstellungen der beiden Erzähler zu untergraben. Die beiden Perspektiven widersprechen einander. An manchen Stellen ist Den die primäre Autorität der Fokalisierung, an anderen wird seine Perspektive durch jene Tret’jakovs ersetzt und er wird vom Helden der Erzählung zu einem Teil der Staffage. Aufgrund dieser perspektivischen Zusammenstöße stimmt die Welt des Textes nicht mehr mit den Wahrnehmungen Dens überein, der von einem Punkt außerhalb seiner selbst dargestellt wird. Die Diskrepanzen zwischen den beiden Perspektiven machen aus dem erzählenden Subjekt ein erzähltes Objekt. Diese Technik der Darstellung des rein Äußerlichen scheint eine hölzerne Figur zu erzeugen, der psychologische Tiefe fehlt. Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, dass dieser Mangel an emotionaler Nuancierung, der für den Großteil der biographischen Produktion der LEF-Mitglieder charakteristisch ist, nicht ihr mangelhaftes Können als Schriftsteller beweist, wie ihre Gegner meinten, vielmehr handelte es sich um eine bewusste Strategie, um dem maßlosen Psychologismus des ,lebendigen Menschen‘ etwas entgegenzusetzen. Ein wesentliches Anliegen der Faktographen der LEF war es, ein Leben darzustellen, ohne es zugleich zu überhöhen. Sie argumentierten, dass Schilderungen individuellen Heldentums die Rolle des Kollektivs vernachlässigten. Ihre Skepsis gegenüber heroisierenden Darstellungen brachte die LEF in Konflikt mit Strömungen innerhalb der Partei, die für eine mythographische Literatur zur Feier individueller Heldentaten eintraten. Diese Aversion gegenüber Helden stammte teilweise vom verständlichen Misstrauen gegenüber dem exzessiven Pathos und dem hohen Gefühlston, wie sie für die klassische Biographie des ,großen Individuums‘ und seine spätere Reinkarnation im proletarischen Roman kennzeichnend waren. Aber die Kritik an der Heldenverehrung spiegelte mehr als eine ästhetische Vorliebe für nüchterne Prosa wider. Dahinter stand auch ein Feldzug der Formalisten gegen den Helden, den auch die Faktographen als überkommene literarische Figur ablehnten. In einer Analyse des populären proletarischen Romans Cement
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von Fëdor Gladkov merkte Osip Brik, ein Formalist der OPOJAZ, an, dass Gladkovs Darstellung von Heldentum den Text in einen Selbstwiderspruch verwickelte. Cement habe zwei Protagonisten, von denen jeder Teil seiner eigenen Erzählung sei. Dies sei an und für sich nicht problematisch, Gladkov mache allerdings den Fehler, seinen beiden Protagonisten denselben Namen zu geben: Zum einen ist da Gleb, der in einer lokalen Zementfabrik die Produktion neu organisiert und die Scheinkranken und Saboteure unter Kontrolle bringt; und zum anderen gibt es noch einen Gleb, dessen Beziehung mit seiner Frau Dasha sich langsam und auf unerklärliche Weise im Lauf des Romans verschlechtert. Der Produzent Gleb und der Ehemann Gleb nehmen den gleichen Platz ein, stimmen allerdings nie wirklich überein. Daher ist es unmöglich, die beiden Handlungsstränge des Buches, die sich nie treffen, miteinander in Einklang zu bringen. Brik legte dar, dass die schizoide Struktur des Buches Resultat einer überkommenen literarischen Konvention ist, die multiple Akteure in einer einzigen Figur komprimiert – der Konvention des Heroismus. Die rätselhafte Struktur von Cement resultiert aus dem Insistieren des Autors darauf, dass mehrere Protagonisten, alle mit ihrem eigenen unabhängigen Erzählstrang, den Körper einer einzigen heroischen Figur teilen. Was den vom RAPP gepriesenen ,lebendigen Menschen‘ mit emotionaler Komplexität auszustatten schien, war nur eine belletristische Konvention, die in keiner Weise mit der psychischen Struktur wirklicher Menschen korrespondierte. Es handelt sich dabei um eine typische Strategie des psychologischen Romans, der die Errungenschaften eines Kollektivs innerhalb einer Figur vereint. Aber in Wahrheit ist, so Brik, der Held des Romans nur ein kondensiertes Ideogramm der Gesellschaft, eine durch Vermischung entstandene Figuration der Gruppe: „Heroismus ist ein literarischer Kunstgriff, der es ermöglicht, einer Einzelperson (einem Helden) die Summe der (Helden-)Taten zuzuweisen, die in Wahrheit auf die Arbeit einer Vielzahl von Menschen zurückgehen.“15 Die Faktographen entwickelten Strategien, um die dichte Ansammlung von Taten, die der Romanheld hortet, aufzulösen. Sie verteilten die Momente höchster Intensität in der Biographie des Helden auf eine Vielzahl an Akteuren über den gesamten Text. Im Unterschied zu traditionellen Romanen, die die komplexen Interaktionen zwischen verschiedenen Gesellschaftsgruppen in der Psyche eines einzelnen ˇ uzˇak, 15 Osip Brik: „Pocˇemu ponravilsja ,Cement‘“. In: Literatura fakta. Hg. v. C S. 84 – 88, hier S. 85.
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Charakters verdichteten, gaben die LEF-Biographen den Anteilen des Individuums an der Entwicklung der Erzählung nicht den Vorrang. Sie legten ihr Hauptaugenmerk nicht auf den Akteur, sondern auf die Tat. Ihr Ziel war letztlich eine Entontologisierung der Literatur, indem sie das Primat des Akteurs über die Tat, des Subjekts über das Verb umkehrten. Anstatt den einsamen Helden als Ort der erzählerischen Entwicklung zu hypostasieren und anstatt sich nur auf den Lebenslauf des Protagonisten zu konzentrieren, ließen die LEF-Autoren die Veränderungen, denen die Charaktere ausgesetzt sind, in den Vordergrund treten. Die neue biographische Mode verlangte, wie Tret’jakov anmerkte, dass der Autor nicht „handelnde Personen“, sondern „wirkende Prozesse“ darstellte.16 Der Held ist nicht mehr Quelle oder Ursprung von Handlungen, sondern Objekt dieser erzählerischen Transformationen. Dieses biographische Konzept entsprach Briks Forderung nach einer Literatur, die nicht um den ,lebendigen Menschen‘ kreiste, sondern um die ,lebendige Tat‘: „Wir müssen der Literatur folgende Aufgabe geben: uns nicht Menschen vorzustellen, sondern die Tat; nicht Menschen zu beschreiben, sondern die Tat; nicht Interesse an Menschen, sondern an Taten zeigen. Wir schätzen den Menschen nicht, weil er Gefühle erlebt, sondern aufgrund der Rolle, die er für Taten spielt.“17 Dieser Aspekt einer faktographischen Biographik geht eindeutig auf die formalistische Narratologie zurück, die den Helden einer Erzählung als ,Charakterfunktion‘ bestimmte, d. h. als behelfsmäßigen Knotenpunkt von Handlungen, die letztendlich nicht der Figur gehçren (im Sinne ontologischer Attribute), die sie ausführen.18 (Allein die Bezeichnung ,Charakterfunktion‘ spiegelt die dynamische Vorstellung von Charakter wider, die nicht auf einer festen psychologischen Identität basiert, sondern auf den Handlungen, die die Person ausführt.) Ein Charakter wird dadurch bestimmt, was er tut, nicht, was er ist. Die Vorstellung von Persönlichkeit, die solchen Biographien zugrunde lag, verlor daher nach Abschluss einer Handlung ihre Gültigkeit. Ihre Bevorzugung einer Analyse des Prozesses gegenüber einer Analyse der Persönlichkeit brachte die Faktographen dazu, das Verhältnis von Figur und Schauplatz zu untersuchen. Die Unterscheidung 16 Sergej Tret’jakov: Feld-Herren: Der Kampf um eine Kollektiv-Wirtschaft. Berlin 1931, S. 32. ˇ uzˇak, S. 88 – 93, 17 Osip Brik: „Razgrom Fadeeva“. In: Literatura fakta. Hg. v. C hier S. 93. 18 Vgl. zum Beispiel Vladimir Propp: Morphologie des M rchens. München 1972.
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zwischen dem Protagonisten und seiner Umwelt, die so zentral für die erzählerische Ökonomie des traditionellen Romans war, wurde als ideologische Konstruktion angeprangert, die dazu führte, den Helden von seinen sozialen, produktiven und schaffenden Kontexten zu trennen. Die Faktographen betonten im Gegensatz dazu die den Helden prägenden Verbindungen zu seiner Umwelt. Kjuchlja (1925) war die erste historische Biographie des Formalisten Jurij Tynjanov und zeigt beispielhaft, wie die Hierarchie von Protagonist und Setting abgebaut wird. Um den hagiographischen Tendenzen der Heldenbiographie zu entgehen, wählte Tynjanov eine vergessene Figur als Objekt seiner historischen Studie der Dezemberrevolution: Wilhelm Küchelbecker (1797 – 1846), den aus Estland stammenden Rebellen, russischen Patrioten und romantischen Dichter von geringem Rang. Vor Tynjanovs Buch war Küchelbecker sowohl in der russischen Literatur als auch in den Berichten von der Dezemberrevolution bestenfalls als Randfigur betrachtet worden. Und gerade seine Position als Figur im Hintergrund machte ihn für den Formalisten Tynjanov so attraktiv. Dieser suchte einen Weg, eine Biographie nicht über einen Helden der Geschichte zu schreiben, sondern über eine unbedeutende Figur. Mit Küchelbecker fand er die ideale Besetzung für eine historische Biographie, allerdings eine ohne Protagonisten. Für Tynjanov, der Literaturtheorie in seine Praxis als Autor integrierte, stellte die Biographie über eine Randfigur der Geschichte die Gelegenheit für eine Erzählung dar, deren Protagonist sich tatsächlich am Rand befindet, d. h. im Hintergrund. Um mit den Begriffen der Gestaltpsychologie zu sprechen: Nicht die Gestalt des Wilhelm Küchelbecker ist der Protagonist der Biographie Kjuchlja, sondern der Grund von St. Petersburg, wo sich der Aufstand ereignete. Tynjanov entzieht der Hauptfigur die Handlungsmacht und verteilt sie auf seine Umgebung, so als ob Raum und Schauplatz selbst historische Prozesse ausführten. In Kjuchlja wird der Verlauf der Dezemberrevolution durch die Architektur und die Anlage der Stadt St. Petersburg bestimmt und auch entsprechend beschrieben. Nach einer detaillierten Darstellung der räumlichen Verhältnisse in der Stadt beschreibt Tynjanov die Ereignisse von 1925: Der Aufstand des 14. Dezember war ein Kampf der Plätze. Die Volksmassen fluteten durch die Straßen wie durch ein Strombett zum Admiralitäts- und Isaakplatz. […] Die einzelnen Führer liefen an diesem Tag teils durch die Straßen und trieben das Blut der Stadt und ganz Rußlands, die Regimenter, den Plätzen zu, teils blieben sie unentschlossen stehn, wo sie standen. Der ganze Tag war ein ermüdendes Auf und Nieder der Plätze,
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die sich die Waagschale hielten, bis ein brutaler Vorstoß der kaiserlichen Artillerie der Sache ein Ende machte. Die Entscheidung kam von den Plätzen, nicht von den Straßen.19
Die formalistische Ablehnung eines psychologisierenden Realismus fällt hier mit der Kritik an historischen Darstellungen zusammen, die aus der Perspektive einer begrenzten Anzahl an Individuen geschrieben sind. Der Schauplatz des Textes nimmt die ,Charakterfunktion‘ in Anspruch, während der Protagonist auf eine historische Randerscheinung reduziert wird. Die Figur löst sich im Schauplatz der Handlung auf. Küchelbecker ist nicht mehr Herr seiner selbst und führt den historischen Handlungsablauf aus, als wäre er ein Automat, der, wie Arsen’evs Dersu oder Tret’jakovs Den, von einem Punkt außerhalb seiner selbst betrachtet wird. „Die Willkür einer unbekannten, furchtbaren und beseligenden Macht trieb ihn an; die Schritte, die Bewegungen, die er machte und die jedem Menschen komisch und sonderbar vorkommen mußten, gehörten ihm gar nicht und entzogen sich seiner Verantwortung.“20 Küchelbecker wird zu einem belebten Objekt. Der Tag des Dezemberaufstands wird damit auch zum Tag des „Aufstands der Dinge“ (Majakovskijs Vosstanie vesˇˇcej), zum Augenblick, in dem die Objekte, die zuvor den Plänen ihrer Herren, der Menschen, gehorchen mussten, und die Architektur, die einmal nur der Hintergrund für ein Geschehen war, selbst zu einem bestimmenden Faktor der Geschichte werden. In einem Essay aus dem Jahr 1929 mit dem Titel „Die Biographie des Dings“ („Biografija Vesˇˇci“) liefert Tret’jakov eine Zusammenfassung der Techniken, die seine Kollegen der LEF entwickelt hatten, um die literarische Konvention des Helden zu demontieren. Er vergleicht den traditionellen Roman mit einem ägyptischen Relief, in dem eine riesengroße Figur die Szenerie beherrscht und alle anderen Figuren auf den Status peripherer Details reduziert erscheinen. Ein solcher philosophischer Idealismus verzerre die tatsächlichen sozialen Verhältnisse völlig – nicht nur unter den Menschen, sondern auch zwischen Menschen und ihrem Besitz. Die Gegenstände und Personen, die in der Welt der Erzählung untergeordnet sind, werden zu Ornament und Beiwerk der Hauptfigur: „Im Roman erscheint der Romanheld als Angelpunkt des ganzen Weltalls. Die ganze Welt wird mit seinen Augen wahrgenommen. Ja, die ganze Welt ist im wesentlichen nur eine Ansammlung der 19 Jurij Tynjanov: Wilhelm K chelbecker. Dichter und Rebell. Übers. v. Maria Einstein. Berlin 1947, S. 240 f. 20 Ebd., S. 243.
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ihn umgebenden Details.“ Das Ergebnis: „[I]m Roman verschlingt und subjektiviert der führende Held die gesamte Realität.“21 Im Gegensatz zur Biographie des Helden, die im Roman dominiert, machte die Biographie des Dings, die Tret’jakov als „eine sehr nützliche kalte Dusche für Literaten“ bezeichnete, die Grenze zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Dinge durchlässig. Die Biographie des Dings verwarf die zentrale Stellung des individuellen ,lebendigen Menschen‘ und wandte sich stattdessen den Maschinen, Waren und anderen Phänomenen zu, die einst im Roman wie Satelliten um den Helden kreisten. Die ,kopernikanische Wende‘, die diese neue Form der Biographie mit sich brachte, verwandelt den Satelliten in eine Sonne. Damit erhält der Gegenstand eine zentrale Rolle im Zentrum des narrativen Universums. Indem die Biographie des Dings die traditionelle Hierarchie der Fokalisierung umkehrt, zeigt sie nicht den „Einzelmensch, der durch das System der Dinge“ geht, „sondern das Ding, das durch das System der Menschen geht – das ist das methodologische literarische Verfahren, das uns progressiver erscheint als die Verfahren der klassischen Belletristik“.22 Das System der Gegenstände formt nicht mehr den Hintergrund für die Abenteuer des ,lebendigen Menschen‘. Stattdessen wird die ,Biographie‘ des Gegenstands beschrieben, wie er sich durch die Gesellschaft bewegt, die die Episoden seines Lebens bestimmt. Tret’jakov schlägt einige mögliche Gegenstände für Ding-Biographien vor: Sie reichen von Rohstoffen bis zu fertigen Produkten und industriellen Unternehmen: Der Wald, Das Brot, Die Kohle, Die Baumwolle, Das Papier, Die Lokomotive und Der Betrieb. Der Gegenstand wird auch hier nicht als ontologisch Gegebenes verdinglicht, sondern von Tret’jakov als Prozess gefasst, als eine vorläufige Station in einem kontinuierlichen Spektrum von kulturellem Wert, das natürliche Ressourcen und gesellschaftliche Technologien umfasst. Dinglichkeit ist nichts Gegebenes, sondern wird geschaffen. Tret’jakov vergleicht die Biographie des Dings mit einem „Förder21 Sergej Tret’jakov: „Biografie des Dings“. In: ders.: Die Arbeit des Schriftstellers: Aufs tze, Reportagen, Portr ts. Reinbek bei Hamburg 1972, S. 81 – 85, hier S. 81. Vgl. auch Carl Einsteins Beobachtung: „Der Subjektivismus ist eine Art von psychischem Privatkapitalismus. Man betrachtet Dinge und Ereignisse als Symptome des zentrischen Individuums – und anerkennt keine psychische Zusammenarbeit, so wenig eine sociale. Alle Dinge sollen nur als Material zur Herstellung eines kostbaren Ichs dienen, d. h. man bezieht die Welt nur auf sich und keine Gemeinschaft.“ In: Die Fabrikation der Fiktionen, S. 171. 22 Tret’jakov: „Biografie des Dings“, S. 84.
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band“, das den Stoffwechsel zwischen dem menschlichen Leben und der unbelebten Welt der Materie beschreibt. Letztlich ist weder der Mensch noch das Ding der wahre Protagonist der Ding-Biographie, sondern die Tat – die Arbeit selbst als Prozess der gesellschaftlichen Verlebendigung und der Umwandlung von Materie. Tret’jakov erklärte, dass Objekte soziale Organismen seien, die am Kommunikationsprozess teilnehmen. Sie sind Protagonisten, die eine Geschichte zu erzählen haben, und es ist Aufgabe der Biographie des Dings, diese Botschaften zu entschlüsseln. Bertolt Brecht, der Tret’jakovs Essay „Die Biographie des Dings“ ins Deutsche übertrug, schrieb 1931 über die Interdependenz – ja sogar Ununterscheidbarkeit – von Netzwerken zirkulierender Gegenstände und Netzwerken menschlicher Kommunikation: „[D]er tiefere Sinn des Prozesses besteht ja darin, kein Ding ohne Beziehung zum anderen zu lassen, sondern alle zu verknüpfen, wie er auch alle Menschen (in Form von Waren) allen Menschen ausliefert, es ist eben der Prozeß der Kommunikation schlechthin.“23 1928 begann Tret’jakov ein Projekt für die sowjetische Jugendpresse mit dem Titel „Über die Tasche“ („Pro Karman“), in dem er zu zeigen versuchte, dass gesellschaftlichem Verkehr und den Taten von Gegenständen die gleiche Logik zugrunde liegt. Er forderte die LeserInnen der Pionerskaja Pravda dazu auf, den Inhalt ihrer Taschen zu dokumentieren und kurz darzustellen, woher die verzeichneten Objekte stammten und welche Bedeutung sie haben. Er appellierte an das junge Lesepublikum: „Wollen wir zusammen ein Buch schreiben. In diesem Buch wird erzählt werden, was sich in Euren Taschen befindet.“24 Ziel dieses fünf Jahre dauernden Projekts war es, die Gegenstände zum Sprechen zu bringen. Dem deutschsprachigen Publikum stellte Tret’jakov sein Projekt in Unsere Zeit 1933 unter dem Titel „Die Tasche“ vor und schilderte in einem Vorwort dessen Anfänge: Die Zeitung gab mir das Interview als Arbeitsmethode. Das Studium der Romane Pierre Hamps rief ein erhöhtes Interesse für die Biographie der Dinge hervor. Es schien mir eine Zeitlang, als ob ein Ding, das man während seiner Reise durch die Hände der Menschen und ihre Beziehungen verfolgt, mehr über eine Epoche erzählen könne als ein psycho23 Bertolt Brecht: „Der Dreigroschenprozess. Ein soziologisches Experiment“. In: Das Dreigroschenbuch: Texte, Materialien, Dokumente. Hg. v. Siegfried Unseld. Frankfurt/M. 1973, S. 117 – 175, hier S. 140. 24 Sergej Tret’jakov: „Die Tasche“. In: ders.: Die Arbeit des Schriftstellers, S. 86 – 93, hier S. 87.
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logischer Roman. So entstand der Gedanke, von Menschen zu erzählen, indem man von den Dingen erzählt, deren sie sich bedienen.25
„Die Tasche“ war Ergebnis von Tret’jakovs Arbeit zur Biographie des Dings und zeigte, dass die Herstellung von Gegenständen nicht in dem Moment endet, in dem sie die Fabrik verlassen. Der Produktionsprozess ist vielmehr ein andauernder Prozess gesellschaftlicher Investition, der am Ort der Herstellung beginnt, an dem ein Gegenstand mit einer ersten Funktion versehen wird, der aber auch sein erweitertes Dasein umfasst: verbreitet werden, gebraucht werden, außer Gebrauch kommen, wieder in Gebrauch genommen werden und weiter verbreitet werden. Obwohl Marx’ Grundrisse der Kritik der politischen konomie erst 1941 erscheinen sollten, klingen sie in Tret’jakovs Projekt an. Wie Marx sieht Tret’jakov die Ware nicht als einzelnes Ding, sondern als eine Folge – ein Kondensat – des Kreislaufs von Produktion, Distribution und Konsum. Ein Ding verfügt über Substanz nur insofern, als es im sozioökonomischen Kreislauf zirkuliert. Tret’jakov erklärt seinen LeserInnen: „Ein jedes Ding, das Ihr seht oder in Euren Händen haltet, hat ein langes und interessantes Leben. Während dieses seines Lebens ist das Ding von Hand zu Hand gegangen, ist mit vielen Menschen in Berührung gekommen, hat verschiedene Umgestaltungen gemacht. Man muß es nur dazu bringen, daß es von sich erzählt.“26 Indem er das Objekt als Vergegenständlichung von sozialem Wert betrachtet, enthüllt Tret’jakov die Organisationslogik, die die Zirkulation von Dingen und Zeichen gleichermaßen bestimmt. Er beabsichtigte Biographien von Kindern unterschiedlicher sozialer Schichten zu sammeln, um das System der Gegenstände so umfassend wie möglich darzustellen: Kinder von FabrikarbeiterInnen, Intellektuellen, Kolchosenbauern und -bäurinnen, NomadInnen, FotografInnen, HaushälterInnen, KünstlerInnen, JägerInnen und BürokratInnen. Von besonderem Interesse waren für ihn triviale Gegenstände (melkie vesˇˇci) wie Kleiderfetzen, Papierreste und kleine Notizen. Solche marginalen Gegenstände und Abfälle sollten mittels der Ding-Biographie die bislang ungeschriebene Geschichte des sowjetischen Alltagslebens erzählen. Die Faktographen sahen, dass eine Reform der Biographie mehr verlangte, als einfach den Gegenstand an jene Stelle zu setzen, der dem großen Individuum im Mittelpunkt des Romans vorbehalten war. Es 25 Ebd., S. 86. 26 Ebd., S. 87.
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reichte nicht, das menschliche Subjekt durch ein Objekt zu ersetzen, denn dies würde nichts an den latenten humanistischen Verzerrungen der traditionellen Biographik ändern. Auch ohne lebendige Charaktere und Helden wird die Struktur der fabula weiterhin psychologisch motiviert durch ihre Ähnlichkeit und ihre Verbindung mit dem Bereich menschlicher Tätigkeit. Fredric Jameson nannte dies den „inevitable anthropomorphism“ der Erzählung.27 Eine der wichtigsten Ideen der frühen formalistischen Erzähltheorie von Sˇklovskij und Tomasˇevskij war die Annahme, dass Handlungsstrukturen die sozialen Codes und die Ideologie jener Kultur widerspiegeln, in der diese Struktur ursprünglich entstand. In dem in Literatura fakta veröffentlichten Artikel „Zu einer Prosatechnik jenseits von Handlung“ hielt Sˇklovskij fest: „Handlungsschemata stimmen nur sehr grob mit der Alltagswirklichkeit überein, der sie ihre Form geben. Die Handlungsstruktur entstellt das Material aufgrund ihrer Auswahl, die auf eher willkürlichen Zeichen (priznakov) beruht…“28 Jede Handlungsstruktur, ob tragisch, romantisch, komisch etc., wird durch ein in historisch spezifischen kulturellen Konstellationen geschaffenes Gleichgewicht aufrechterhalten. Die Bildungsgeschichte eines Individuums ist beispielsweise ein im Kontext des Aufstiegs des Bürgertums im 18. und 19. Jahrhundert gültiges Handlungsschema, das aber den Faktographen zufolge seine Bedeutung verloren hat, nachdem die Revolution das Kollektiv als Subjekt der Erzählung eingesetzt hatte. Insofern die einem spezifischen kulturellen Kontext inhärenten Bedingungen und Codes die Parameter für die Lesbarkeit eines Textes bestimmen, ist der soziale Kontext den formalen Strukturen des Textes selbst eingeschrieben, das Handlungsschema – und im Speziellen dieses – eingeschlossen. Jedes Handlungsschema muss daher, wieder mit Fredric Jameson gesprochen, als „narrative ideologeme“ verstanden werden.29 Nach der Feuerprobe des Futurismus stellten die Faktographen die Gültigkeit älterer literarischer Techniken aus vorrevolutionärer Zeit in Frage. Unter den obsoleten Techniken war Handlung eine der wichtigsten: „Nur mit Schwierigkeiten kann der traditionelle psychologische Roman den sowjetischen Zuständen angeglichen werden, da seine Erzählformeln nicht brauchbar sind, um das 27 Fredric Jameson: Brecht and Method. London 1998, S. 101. 28 Viktor Sˇklovskij: „K technike vne-sjuzˇetnoj prozy“. In: Literatura fakta. Hg. v. ˇ uzˇak, S. 222 – 226, hier S. 222. C 29 Fredric Jameson: The Political Unconscious: Narrative as a Socially Symbolic Act. Ithaca 1981, S. 151
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neue Material zu verarbeiten“, erklärte Sˇklovskij in einem Essay für Literatura fakta. „Ganz einfach: die Form entspricht dem Klima nicht.“30 Den menschlichen Protagonisten durch einen unbelebten zu ersetzen, wäre demnach sinnlos, wenn alte Erzähltechniken wie das Handlungsschema nicht ebenso erneuert würden. Vladimir Trenin schrieb in einer editorischen Notiz für Literatura fakta: „Die Erfahrung hat gezeigt, dass der Roman keine Fakten aufzeichnen kann; er kann kein ,Spiegel der Wirklichkeit‘ sein, da das Handlungsschema das reale Material neutralisiert, indem er es all seiner spezifischen Eigenschaften beraubt.“31 Für den traditionellen Roman gilt laut Tret’jakov: „[D]ie ganze Welt ist nicht viel mehr als einfach eine Ansammlung von Details, die [den Helden] umgeben“; daher stand die sowjetische Biographie vor dem Problem, wie die enge Verbindung zwischen dem Protagonisten und seiner Umgebung aufrechterhalten werden kann, ohne Letztere dem Protagonisten unterzuordnen. (Wir haben bereits festgestellt, dass dieses Problem von Tynjanov in seinem Kjuchlja so zu lösen versucht wurde, dass er Charakter und Schauplatz nicht mehr voneinander trennte.) Indem sie Informationen und Fakten verarbeiten und verschlüsseln, begrenzen Erzähltechniken zwangsläufig, was im Feld symbolischer Repräsentation zur Darstellung gebracht werden kann. In „Die Fakten aufzeichnen“ kritisierte Brik die teleologische Einheit erzählerischer Kausalität – er nannte diese Cel’nost’ –, weil sie dem Textmaterial zu viel Geschlossenheit und Finalität aufzwinge. Indem beispielsweise eine Reihe psychologischer Zusammenstöße inszeniert wird, lässt die auf die Handlung ausgerichtete Prosa zentrale Aspekte des täglichen Lebens als Details zweiten Ranges erscheinen. Aufgrund der Aufmerksamkeitsökonomie, die durch die Handlungsstruktur des Romans entsteht, wird eine Hierarchie zwischen Wesentlichem und dem ornamentalen Beiwerk hergestellt.32 Die Lektüre verleiht in der Folge nur jenen Charakteren und Objekten eine Bedeutung, die für das ˇ eVerständnis des Textes zentral sind (vgl. das berühmte Gesetz des C chov’schen Gewehrs). Oskar Negt und Alexander Kluge haben daraus folgerichtig geschlossen, auf die Handlung ausgerichtete Prosa weise „ein Primat der Ökonomie [auf], welcher Erfahrung, Wirklichkeit vom 30 Viktor Sˇklovskij: „Prestuplenie epigona. Prestuplenie Martyna – roman Bahˇ uzˇak, S. 130 – 135, hier S. 130 f. met’eva“. In: Literatura fakta. Hg. v. C 31 Vladimir Trenin u. Sergej Tret’jakov: „Nuzˇno predosterecˇ’“. In: Literatura ˇ uzˇak, S. 209 – 211, hier S. 211. fakta. Hg. v. C 32 Osip Brik: „Fiksacija fakta“. In: Novyj Lef (1927) H. 11 – 12, S. 44 – 50.
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Handlungsfaden wegdrängt.“33 Die Handlung verdünnt die dichte Vielfalt gelebten Lebens. Im Unterschied dazu würden, so Brik, nicht auf die Handlung ausgerichtete dokumentarische Formen wie die ethnographische Beschreibung die Aufmerksamkeit der Leserin auf die Hintergrundmomente lenken, auf den Schauplatz, die Ränder und die lokalen Ereignisse.34 Wie Sˇklovskijs dokumentarische Arbeiten aus den 1920er Jahren zeigen, gab es eine enge Verbindung zwischen den Kompositionstechniken der Faktographen und jenen der späten „Ornamentalisten“.35 Es wird daher deutlich, warum Georg Lukács in einer seiner berühmtesten Tiraden gegen das Dokumentarische argumentierte, dass dieses nur „ein schillerndes Chaos“ unmotivierter Details biete. Lukács übernahm eine treffende Formulierung von Hebbel: „Da fängt das ,Nebenbei‘ überall zu florieren an.“36 Indem die Elemente des plot auf eine Reihe von Akteuren verteilt werden, ermögliche die Biographie des Dings eine Darstellung des Kollektivs statt nur des Individuums. „Auch eine große Anzahl von [Menschen] kann sehr weit verfolgt werden, ohne daß das die Proportionen der Erzählung zerstört.“37 Das Resultat wäre im Grunde eine Biographie des Massensubjekts. Aber das Ziel, ein Gleichgewicht zwischen Zentrum und Peripherie herzustellen – den dokumentarischen Text mit ornamentalem Beiwerk zu versehen – war nicht leicht zu erreichen. Es blieb unklar, wie der Autor einen kohärenten Text erstellen konnte, ohne zwischen Protagonist und Schauplatz, zwischen Gestalt und Umwelt zu unterscheiden. Angesichts der Funktion der 33 Oskar Negt u. Alexander Kluge: „Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit“. In: dies.: Der untersch tzte Mensch. Bd. 1. Frankfurt/M. 2001, S. 335 – 674, hier S. 642. ˇ uzˇak, S. 219 – 34 Osip Brik: „Razlozˇenie sjuzˇeta“. In: Literatura fakta. Hg. v. C 222, hier S. 219. 35 Die formale Verbindung zwischen Faktographie und ornamentaler Prosa liegt aufgrund der zahlreichen Resonanzen zwischen den drei letzten Essays („Literatur ohne ,Sujet‘“) in Sˇklovskijs Theorie der Prosa nahe, in denen er sich mit Andrej Belji, Vasilij Rozanov und einer Prosa ohne Handlung auseinandersetzt (bei Letzterem handelt es sich um einen Wiederabdruck aus der Anthologie Literatura fakta). Vgl. Theorie der Prosa. Hg. u. übers. v. Gisela Drohla. Frankfurt/ M. 1966, S. 163 – 185. 36 Georg Lukács: „Erzählen oder Beschreiben? Zur Diskussion über Naturalismus und Formalismus“. In: Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur. Eine Auswahl von Dokumenten 1935 – 1941. Berlin, Weimar 1979, S. 333 – 389, hier S. 363; 359. 37 Tret’jakov: „Biographie des Dings“. In: ders.: Die Arbeit des Schriftstellers, S. 83.
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Handlung, Informationen innerhalb des Textes miteinander zu verknüpfen, war es im besten Fall eine problematische Lösung, sie zu eliminieren. Wenn die Handlung zur Gänze gestrichen würde, bliebe vom literarischen Text nur ein Durcheinander an syntagmatisch unverbundenen Textbausteinen – ,das Florieren des Nebenbei‘. Sˇklovskij erklärte in „Zu einer Prosatechnik jenseits von Handlung“, dass die Abschaffung der Handlung als Fokalisierungstechnik die Frage unbeantwortet lässt, was den Text strukturieren wird: Allein aufgrund der Tatsache, dass die Handlung selektiert und dem Text eine Form verleiht, spielt sie eine deformierende Rolle. […] Aber wir können die Handlung, die auf der kreisförmigen Struktur des Schicksals des Helden basiert, nicht einfach ablehnen. Der Held spielt die Rolle eines Patenkindes in einer Photographie oder der Holzstücke, die auf einem strömenden Fluß schwimmen. Die Handlung vereinfacht den Mechanismus, der die Aufmerksamkeit lenkt. Im Kino beispielsweise wissen wir, dass der Spielfilm sein Material intensiver nutzt als der Dokumentarfilm. Natürlich könnten wir auch das Gegenteil feststellen: Die Handlung presst das Material aus.38
Als Technik zur Informationsverarbeitung dient eine Erzählung dazu, biographische Daten zu organisieren und zu strukturieren und sie zu einem zusammenhängenden und wahrscheinlichen Bild zu verbinden. Aber sie nimmt sich im Umgang mit dem Material auch ungebührlich viele Freiheiten heraus. „Eine Frage stellt sich heutzutage,“ meint Sˇklovskij abschießend: „Wodurch soll die Handlung in der faktischen Prosa ersetzt werden?“39 Mit anderen Worten: Wie könnten Verzerrungen durch die Handlung vermieden werden, ohne den Zusammenhang des Textes als einem strukturierten System völlig zu zerstören? ˇ uzˇak dies Rokovoj In seinem Kommentar zu Sˇklovskijs Analyse nannte C vopros, was sowohl schicksalshafte als auch tödliche Frage bedeutet.40 Die Frage, der sich die Faktographen stellen mussten, war in zweifacher Hinsicht rokovoj: Auf der einen Seite standen die Dokumentaristen an einem Wendepunkt ihrer Praxis, als es notwendig war, Kompositionstechniken zu entwickeln, die das Faktenmaterial nicht deformierten wie die Handlungen ihrer Rivalen der RAPP; auf der anderen Seite legt ˇ uzˇaks kluge Formulierung nahe, dass das Dokumentarische die C 38 Viktor Sˇklovskij: „K technike vne-sjuzˇetnoj prozy“. In: Literatura fakta. Hg. v. ˇ uzˇak, S. 224 f. C 39 Ebd., S. 225. ˇ uzˇak: „Pisatel’skaja pamjatka“. In: Literatura fakta. Hg. v. C ˇ uzˇak, 40 Nikolaj C S. 9 – 28, v. a. S. 21 – 25.
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Schicksalshaftigkeit – oder um präziser zu sein: die Tödlichkeit – überwinden muss, die erzählerische Prosa charakterisiert. Die Schicksalshaftigkeit – oder Geschlossenheit – ist ein Effekt dessen, was Brik Cel’nost’ (Einheit) der plot-Komposition nennt. Genau aus diesem Grund nannte Barthes in S/Z die Erzählung die „Sprache des Schicksals“. Die Erzählung verlangt die Geschlossenheit einer absichtsvollen Totalität, da sie prohairetisch ist, d. h. die Kausalität erzählerischer Komposition hat einen Rezeptionsmodus zur Folge, aufgrund dessen die Ereignisse nicht als offen oder ungelöst erlebt werden, nicht in einem Zustand der Präsenz und Unmittelbarkeit, sondern es wird eine Lektüre vom Ende und vom Resultat der dargestellten Handlung her nahegelegt.41 Die Erzählung muss abgeschlossen werden, damit sie Sinn ergibt. Vom Beginn der Lektüre an sind das Leben des Protagonisten ˇ uzˇaks Auseinanund sein Ende vorherbestimmt. In Anlehnung an C dersetzung mit Rokovoj vopros hebt Tret’jakov in „Die Biographie des Dings“ hervor, dass der Roman unter dem Einfluss der idealistischen Philosophie die menschlichen Tätigkeiten „unter dem Gesichtspunkt der Schicksalshaftigkeit [v rokovom razreze]“ behandelte.42 Die Form des Romans verlangt, kurz gesagt, den Tod des Helden. Die Faktographen zweifelten das Todesurteil, das die Erzählung über ihre Protagonisten verhängt, an und experimentierten mit Techniken, die die Zufälligkeit und strukturelle Offenheit empirischer Wirklichkeit bewahrten. Sonst würde Biographie zur Thanatographie. Auch wenn die Faktographen nie die tödliche und schicksalhafte Frage einer Prosa jenseits der Handlung verordnend oder programmatisch beantworteten, stellten ihre Texte doch Vorschläge für Annäherungen an die Lösung dieses Problems dar. Vor allem setzten sie das Mittel der Montage ein. Ihre Assemblagen zeichnen sich durch die Heterogenität des Materials aus. Oft handelt es sich dabei nur um eine Ansammlung 41 In einer Anmerkung zu S/Z erläutert Wlad Godzich, dass Barthes den Begriff prohairesis ins Spiel bringt „to denote the future projection of a course of action, and simplifies its meaning to the rational determination of the result of an action. He recognizes, however, that nothing is more difficult than to arrive at such a determination unless one knows beforehand what the outcome of the entire sequence of actions is going to be. Armed with this knowledge, the analyst reads backward as it were and discards those elements that will prove unproductive, keeping only those that will contribute to the general result.“ Wlad Godzich: „Introduction: The Time Machine“. In: Didier Coste: Narrative as Communication. Minneapolis 1989, S. IX-XVII, hier S. XI. 42 Tret’jakov: „Biographie des Dings“. In: ders.: Die Arbeit des Schriftstellers, S. 82.
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von Notizen, Augenzeugenberichten, Fotografien, Protokollen und anderen Dokumenten, womit das Endprodukt ihrer Arbeit alles andere als eine definitive, monumentalisierende Darstellung des Lebens eines Individuums war. Gerade die Verschiedenartigkeit der Quellen, die Uneinigkeit in den Zeugenaussagen und die Widersprüche zwischen ˇ uzˇaks Die Beweisstücken wurden von den Faktographen geschätzt. C ˇ Wahrheit ber Pugacev war in dieser Hinsicht typisch, ging sie doch insbesondere auf die Unvereinbarkeit der verschiedenen Darstellungen zu Pugacˇev ein. In einer Rezension der 1928 erschienenen Biographie über Michail Lakin, einem von den Faktographen sehr geschätzten ˇ uzˇak der Genauigkeit und Konkretheit in den Details eine Text, maß C größere Bedeutung bei, als der Eindeutigkeit der Dokumente, die im Pamphlet über Lakin präsentiert wurden.43 In solchen Texten war die Aufgabe des Biographen weniger die eines Autors, der erzählt, als vielmehr eines Herausgebers, der den Text aus einer Vielzahl an Quellen zusammenstellt. Anstatt die Fakten aktiv zu einer Geschichte zu verbinden, fungiert der Biograph lediglich als Verwalter der Fakten, als Medium, das es der Wirklichkeit erlaubt, in ihrem eigenen Namen zu sprechen. Wie bereits ausgeführt, war dies auch das Anliegen der DingBiographie Tret’jakovs. „Man muß [das Ding] nur dazu bringen, daß es von sich erzählt.“ Diese Medialität der Biographie war von einem acheiropoietischen, ja sogar pseudo-animistischen Glauben an die Fähigkeit des Objekts motiviert, seine eigene Geschichte zu erzählen und spontan seine eigene Selbst-Repräsentation zu generieren. Dieser Glaube an die Kraft des Objekts, sich selbst indexikalisch darzustellen, ohne menschliche Eingriffe oder Interpretationen, positioniert die Biographie der Faktographen im Zeitalter der vordigitalen mechanischen Medien. Solche Medien haben den Glauben an Acheiropoiesis von Beginn an genährt. Als William Henry Fox Talbot 1839 über ein „photogenic drawing“ seines Hauses schrieb, merkte er an, dass das mittels Camera obscura erzeugte Bild nicht nur sein Haus zeigte, sondern auch von diesem selbst hervorgebracht wurde: „[T]his building I believe to be the first that was ever yet known to have drawn its own picture.“44 Talbots Glaube an die Kraft der Dinge taucht in der Monˇ uzˇak: „Z ˇ uzˇak, ˇ ivoj cˇelovek istorii“. In: Literatura fakta. Hg. v. C 43 Nikolaj C S. 233 – 243. 44 William Henry Fox Talbot: „Some Account of the Art of Photogenic Drawing“. In: Photography in Print. Hg. v. Vicki Goldberg. Albuquerque 1981, S. 36 – 48, hier S. 46. Derartige Vorstellungen von Acheiropoiesis liegen
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tagearbeit der Faktographen wieder auf, die das verborgene kommunikative Potential von Gegenständen aufspüren. Das Dokumentarische erfordert vom Autor keinen kreativen Akt, sondern Selbstverleugnung, eine uneingeschränkte Ergebenheit dem Objekt gegenüber.45 Diese devote Haltung findet sich auch in James Agees Let Us Now Praise Famous Men, einer berühmten dokumentarischen Biographie über zwei Pächterfamilien aus den späten 1930er Jahren: „If I could do it, I’d do no writing here at all. It would be photographs; the rest would be fragments of cloth, bits of cotton, lumps of earth, records of speech, pieces of wood and iron, phials of odors, plates of food and of excrement. […] A piece of the body torn out by the roots might be more to the point.“46 Mit der Aufwertung des Rohmaterials als wichtigstem Element des Textes und der damit einhergehenden Abwertung der Rolle des Autors wurde die Biographie als grundsätzlich kollaboratives Unternehmen neu konzipiert. Die Aufgabe des dokumentarischen Arrangeurs war nicht etwas zu erschaffen, sondern etwas zusammenzunähen (rhapsodein), einen Text zusammenzustellen, indem die Dokumente des täglichen Lebens in den Bereich von Sprache und Repräsentation übertragen werden.47 Lev Kassil’, Autor eines Textes mit dem Titel Konduit, bestand darauf, dass er nur der Co-Autor des Buches war: Die anderen Autoren waren „die Revolution, der Direktor des Gymnasiums, der Inspektor, der Aufseher ,Tsar Tsarapych‘, die Lehrer, die Schüler und andere, die die Dokumente in diesem Buch schufen.“48 Der Autor von Konduit fungiert als Medium, indem er Selbst-Porträts von Menschen
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indexikalisch-ontologischen Theorien photographischer Praxis bis heute zugrunde und perpetuieren die Annahme, das Objekt sei der Ursprung des photographischen Abbilds, nicht so sehr die Person, die den Fotoapparat bedient. Vgl. beispielsweise André Bazins berühmte Formulierung, dass mit der Photographie „[f]or the first time an image of the world is formed automatically, without the creative intervention of man. The personality of the photographer enters into the proceedings only in his selection of the object to be photographed and by way of the purpose he has in mind.“ André Bazin: „The Ontology of the Photographic Image“. In: ders.: What is Cinema? Berkeley 1967, S. 9 – 16, hier S. 13. Zu einer Kritik der Passivität der Sachlichkeit vgl. Béla Balázs: „Männlich oder kriegsblind?“ In: Die Weltb hne 25 (1929) H. 26, S. 969 – 971. James Agee u. Walker Evans: Let Us Now Praise Famous Men. Boston 1960, S. 10. Jurij Tynjanov: „Das Literarische Faktum“. In: Russischer Formalismus. Hg. v. Jurij Striedter. München 1969, S. 393 – 431. Lev Kassil’: „Iz knigi Konduit“. In: Novyj Lef (1928) Nr. 5, S. 34 – 38, hier S. 34.
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und Dingen ermöglicht, denen ansonsten der Zugang zu den Mitteln der Repräsentation und des Ausdrucks verwehrt bliebe. „Das Buch Den Schi-Chua haben zwei Menschen gemacht“, kündigte Tret’jakov in der Einleitung zu seinem ,Bio-Interview‘ an: „Den Schi-Chua selbst hat den Rohstoff der Tatsachen geliefert, und ich habe sie ohne Entstellung gestaltet.“49 Im Unterschied zur deutschen Übersetzung von Alfred Kurella aus dem Jahr 1932 weist das russische Original sowohl Tre’jakov als auch Den als Autoren auf. Vom kollektivistischen Ethos der Zeit angestachelt, bestanden die Autoren solcher Texte darauf, dass literarisches Schaffen kollaborativ vonstatten ging und damit dem Modell industrieller Produktion folgte. „Wir, die professionalen Literaten, müssen zu ihnen [den Trägern des Materials, Anm. d. Vf.] gehen als Interviewer, als literarische Sekretäre, und ihnen helfen, wobei wir uns klar darüber sein müssen, daß wir uns einer Epoche nähern, wo die Menschen auch ohne Hilfe des Schriftstellers fixieren werden, was nötig ist, und agitieren werden, wen sie brauchen.“50 In seiner extremsten Ausprägung machte die dokumentarische Acheiropoiesis den Autor völlig überflüssig. „Die einzelne Person schreibt nicht“, hielt Sˇklovskij fest, „es ist das Zeitalter, das schreibt, die kollektive Schule, die schreibt“.51 An solchen Stellen fällt das Ziel sowjetischer Faktographie mit zwei zeitgenössischen Projekten zusammen: dem französischen Surrealismus und Mass-Observation in Großbritannien. In allen drei Strömungen findet man Schreibstrategien, die Formen kollektiver Autorschaft kultivierten, in der Hoffnung, verschlüsselte Botschaften des Massensubjekts zu dechiffrieren: so z. B. im Surrealismus mittels des schöpferischen Verfahrens von Cadavre exquis; in der Mass-Observation durch Experimente wie das Oxford Collective Poem; und in der Faktographie durch ihre DingBiographien. In den beiden letzten Fällen wurden die Techniken kollektiver Autorschaft direkt von kollektiven Produktionsformen des Journalismus übernommen. Sie setzten Novalis’ über ein Jahrhundert alte Vorhersagen in die Tat um: „Journale sind eigentlich schon gemeinschaftliche Bücher. Das Schreiben in Gesellschaft ist ein interes49 Sergej Tret’jakov u. Hsi-Hua Teng: Den Schi-Chua. Die Geschichte eines chinesischen Revolution rs. Übers. v. Alfred Kurella. Darmstadt 1974, S. 5. 50 Sergej Tret’jakov: „Fortsetzung folgt“. In: ders.: Die Arbeit des Schriftstellers, S. 74 – 79, hier S. 78. 51 Viktor Sˇklovskij: Pjat’ ˇcelovek znakomych, S. 16. Hier sind Anklänge an Osip Briks Behauptung in der ersten Ausgabe der LEF zu erkennen, dass Eugen Onegin auch dann geschrieben worden wäre, wenn Pusˇkin nie gelebt hätte. Brik: „T.n. formal’nyj metod“. In: Lef (1924) H. 1, S. 213.
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santes Symptom – das noch eine große Ausbildung der Schriftstellerey ahnden läßt. Man wird vielleicht einmal in Masse schreiben, denken, und handeln – Ganze Gemeinden, selbst Nationen werden Ein Werck unternehmen.“52 Die große Bedeutung, die die Faktographen der Zusammenarbeit zuschrieben, verlangte eine Verschränkung von Autor und biographischem Objekt. Im Grunde wurde jede Biographie zu einer Autobiographie. Einer der Aspekte, die die faktographische Produkton bestimmten, bestand darin, dass sich der Autor mit seinen lebensechten Helden auseinandersetzt, statt sich von ihnen wie ein objektiver Beobachter zu distanzieren. Dementsprechend lautete die Definition von Tret’jakovs gefeierter Theorie der Operativität (operativnost’): „Der Skizzenschreiber mußte unbedingt tiefer in das Material eindringen, mußte es zum Bestandteil seiner Biografie machen, um verantwortlich dafür sein zu können“.53 Die Forderung nach „biographischer Inklusion“ (neobchodimost’ biograficˇeskogo vkljucˇenija), wie er das 1934 in einem Vortrag bei der ,Gesamtsowjetischen Konferenz zur künstlerischen Skizze‘ (Ocˇerk) nannte, führte zur völligen Aufhebung einer Unterscheidung zwischen Autor und Figur.54 Mit anderen Worten: Es galt nicht nur das Leben des biographischen Objekts – Michail Lakin, Den Schi-Chua, etc. – in einer Biographie darzustellen: Das Leben des Autors selbst war unverzichtbarer Bestandteil jeder Darstellung. Vom gestiegenen Interesse am Leben und kulturellen Rang des Autors getragen, führte diese Neuorientierung in den späten 1920er Jahren hin zur Selbstreflexivität zu einer Explosion an didaktisch-autobiographischen Texten mit Titeln wie Mein Zeitbote (Moj Vremennik, 1929) von Boris E˙jchenbaum, Techniken des Schrifstellerhandwerks (Technika pisatel’skogo remesla, 1930) von Viktor Sˇklovskij oder die berühmte Anthologie Wie wir schreiben (Kak my pisˇem, 1930), die Beiträge von Sˇklovskij, Tynjanov und anderen enthielt. Indem das demokratische Potential neuer Medien wie Zeitungen oder Radio ausgeschöpft wurde, schuf die faktographische Avantgarde die Bedingungen für eine partizipatorische Ästhetik, die beinahe zur Gänze die Unterscheidung zwi52 Novalis, zit. n. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt/M. 1986, S. 301. 53 Sergej Tret’jakov: „Die Evolution eines Genres“. In: ders.: Lyrik, Dramatik, Prosa. Hg. v. Fritz Mierau. Leipzig 1972, S. 271 – 278, hier S. 273. 54 Tret’jakov’s Rede bei der Vsesojuznoe sovesˇˇcanie po chudozˇestvennomu ocˇerku, Zeile 106.
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schen Autor und Leser verwarf.55 „Was soll es, über einen Roman oder ein Buch, was soll es, über Krieg und Frieden zu reden“, fragte Tret’jakov, „wenn man jeden Morgen, sobald man die Zeitung in die Hand nimmt, in der Tat eine neue Seite jenes so erstaunlichen Romans umblättert, der Unser Heute heißt. Die handelnden Personen dieses Romans, seine Autoren und seine Leser – sind wir selbst“.56 Tret’jakov zufolge hat die Zeitung den Roman zerstört und das Verfassen von Texten ermöglicht, die mit der Wirklichkeit völlig übereinstimmen. Entgegen der klassischen bürgerlichen Öffentlichkeit, die den Körper und die Biographie des Autors ausgeblendet hatten, bestand Tret’jakov darauf, dass das persönliche Leben des Autors ein angemessenes literarisches Thema darstellte.57 Die Einverleibung des Autors durch den Text und die umgekehrte Textualisierung von dessen eigenem Leben stellten historische Ereignisse dar, die von drei Faktoren geprägt waren: Erstens war die Integration der persönlichen Erlebnisse des Autors in den Text eine direkte Ausweitung des avantgardistischen Projekts, Kunst und Leben durch ästhetische Entautonomisierung (oder Deautonomisierung) miteinander zu versöhnen58 ; zweitens war die Forderung nach „biographischer Inklusion“ auch ein Symptom für die bolschewistischen Bestrebungen, Alltagsleben auf einer mikrologischen Ebene anzugleichen und zu strukturieren; und drittens wurde diese Entwicklung durch die Verbreitung von Medien befördert, die Mittel der Selbstrepräsentation für die Massen zugänglich machten. Was auch immer wir als Literaturhistoriker und -wissenschaftler für den entscheidenden Faktor halten – sei es den ästhetischen, soziopolitischen oder technologischen Aspekt – es war in allen drei Bereichen die Biographie, an der das neue Verhältnis zwischen individuellem Erleben und kollektiven kulturellen Codes erprobt wurde. Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Hannes Schweiger
55 Vgl. Walter Benjamin: „Der Autor als Produzent“. In: Gesammelte Schriften. Bd. II. Frankfurt/M. 1991, S. 683 – 701. 56 Sergej Tret’jakov: „Der neue Lev Tolstoj“. In: ders.: Die Arbeit des Schriftstellers, S. 94 – 98, hier S. 97. 57 Boris Tomasˇevskij: „Literatura i biografija“. In: Kniga i revoljucija (1923) Nr. 4, S. 6 – 9. 58 Vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt/M. 1974.
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IV. Biographie und Kulturtransfer
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Nationale Grenzen und ihre biographischen Überschreitungen Hannes Schweiger und Deborah Holmes Sowohl Kulturtransferforschung als auch Biographik erleben gegenwärtig eine Konjunktur. Im Folgenden werden die bislang unterbelichteten Schnittstellen zwischen diesen beiden Wissenschaftsfeldern aufgezeigt, um dabei zu fragen, welche Rolle Biographien und BiographInnen als Vermittlungsmedien bzw. -instanzen in kulturellen Transferprozessen spielen. Beiden Untersuchungsgebieten ist eine Fokussierung auf Individuen gemeinsam: Biographien sind in den allermeisten Fällen Darstellungen der Lebensgeschichten von Einzelpersonen, in welchem Ausmaß auch immer ihr soziales Umfeld dabei beleuchtet wird. Die Kulturtransferforschung wiederum lenkt den Blick auf jene Akteure und Akteurinnen, die zwischen kulturellen Formationen vermitteln und für die Zirkulation kultureller Artefakte sorgen. Zahlreiche Studien in diesem Forschungsfeld sind biographisch angelegt und rekonstruieren die Aktivitäten von VermittlerInnen ebenso wie deren soziale Netzwerke. Kulturelle Austauschprozesse sind nicht erst für die unter dem Schlagwort der Globalisierung zusammengefasste Intensivierung von Vernetzungs- und Interaktionsprozessen durch neue mediale Möglichkeiten und erhöhte Mobilität kennzeichnend, sondern lassen sich historisch weit zurückverfolgen. Sie finden sich auch in der Geschichte der Biographik wieder, fungierten doch Biographien zu unterschiedlichen Zeiten unter anderem als Mittel der Verständigung mit und der Abgrenzung von als anders wahrgenommenen Kulturen. Trotz einer Internationalisierung der Weltgesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts prägen nationale Grenzen weiterhin das Denken und Handeln von Individuen. Im wissenschaftlichen Diskurs hat sich allerdings längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass Grenzen Verhandlungssache und damit prinzipiell veränderbar sind. Biographien bilden Prozesse des Ausverhandelns nationaler bzw. kultureller Grenzen ab, sie spiegeln Auto- und Heterostereotype wieder und sie verbreiten, wenngleich zumeist implizit, Vorstellungen über die nationale und/ oder kulturelle Identität ihrer ProtagonistInnen. Mitunter machen sie
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bestimmte Figuren zu Inkarnationen einer nationalen Kultur. Biographien ermöglichen einerseits die Bekanntmachung von Figuren über ihre nationalen Grenzen hinweg, andererseits sind BiographInnen damit konfrontiert, dass ihre Objekte Lebensläufe aufweisen, die nationale und sprachliche Grenzen überschreiten. Die Darstellung solcher globaler oder kosmopolitischer Lebensläufe kann wiederum zur zunehmenden Aufweichung nationaler Grenzen beitragen und rückt die vielfältigen Möglichkeiten der Überschreitungen dieser Grenzen ebenso in den Mittelpunkt, wie sie unterschiedliche Formen der Grenzziehung sichtbar macht. Kulturtransferforschung und Biographie Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit kulturellen Transferbeziehungen hat in den 1990er Jahren und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck einer breiten öffentlichen Diskussion über Globalisierung, Migration und Transnationalisierung, beständig zugenommen und eine entsprechende theoretische Fundierung notwendig gemacht. Ihre Wurzeln hat die neuere Kulturtransferforschung1 in den Studien und theoretischen Überlegungen einer ForscherInnengruppe um Michel Espagne und Michael Werner zu deutsch-französischen Transferprozessen, die den Blick in erster Linie auf die Akte der Vermittlung und die Rezeptions- und Verarbeitungsprozesse im Aufnahmekontext richten. Der Begriff Kulturtransfer 1
Einen kurzen und kompakten Überblick zur Kulturtransferforschung gibt Thomas Keller: „Kulturtransferforschung: Grenzgänge zwischen den Kulturen“. In: Kultur. Theorien der Gegenwart. Hg. v. Stephan Moebius u. Dirk Quadflieg. Wiesbaden 2006, S. 101 – 128; zu den Grundlagen sowie exemplarischen Fallstudien vgl. vor allem: Michel Espagne u. Michael Werner (Hgg.): Transferts. Les Relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIIe et XIXe si cle). Paris 1988; Michel Espagne: „Der theoretische Stand der Kulturtransferforschung“. In: Kulturtransfer. Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert. Hg. v. Wolfgang Schmale. Innsbruck, Wien u. a. 2003, S. 63 – 76; Michel Espagne: „Jenseits der Komparatistik. Zur Methode der Erforschung von Kulturtransfers“. In: Europ ische Kulturzeitschriften um 1900 als Medien transnationaler und transdisziplin rer Wahrnehmung. Hg. v. Ulrich Mölk. Göttingen 2006, S. 13 – 32; Helga Mitterbauer u. Katharina Scherke (Hgg.): Ent-grenzte R ume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart. Wien 2005; Federico Celestini u. Helga Mitterbauer (Hgg.): Ver-r ckte Kulturen. Zur Dynamik kultureller Transfers. Tübingen 2003. Gregor Kokorz u. Helga Mitterbauer (Hgg.): berg nge und Verflechtungen. Kulturelle Transfers in Europa. Bern, Wien u. a. 2004.
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meint allgemein die Zirkulation von kulturellen Artefakten sowie von Denk- und Handlungsmustern zwischen kulturellen oder nationalen Zusammenhängen, die als mehr oder weniger deutlich voneinander abgrenzbar wahrgenommen werden. Nach Hans-Jürgen Lüsebrink gilt es dabei drei Komponenten zu untersuchen, die, auf die Biographik übertragen, folgende zentrale Fragestellungen ergeben2 : 1. Selektionsprozesse: Welche Lebensgeschichten werden aus welchen Gründen in andere kulturelle Kontexte übertragen? Welche Biographien werden für Übersetzungen in andere Sprachen aus welchen Gründen ausgewählt? Welche Aspekte einer Lebensgeschichte werden aus fremdkultureller Perspektive hervorgehoben, welche treten in den Hintergrund? 2. Vermittlungsprozesse: Welche Kanäle dienen der Vermittlung der biographischen Quellen? Welche Personen und Institutionen fungieren als VermittlerInnen? Welche sozialen und kulturellen Positionen nehmen BiographInnen ein, die die Lebensgeschichte einer Person aus einem anderen kulturellen Kontext als dem eigenen beschreiben? 3. Prozesse der Rezeption: Dies reicht von der Nachahmung kultureller Artefakte bis hin zur kreativen Aneignung und Transformation oder auch Ablehnung und schließt vielfältige Formen der Reaktionen auf übertragene Elemente ein. Im Hinblick auf Biographien ist daher zu fragen: Inwiefern haben bestimmte Lebensläufe aus anderen kulturellen Kontexten Modell- oder Vorbildfunktion oder inwiefern dienen sie der Abgrenzung von kulturell Fremdem? Aufschlussreich ist auch die Rezeption theoretischer Modelle, die für die Biographik in einem spezifischen Kontext zu einer bestimmten Zeit einflussreich werden, also beispielsweise die Rezeption des russischen Formalismus in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft oder der Freud’schen Psychoanalyse in der englischen Biographik. Thomas Keller weist darauf hin, dass in der Kulturtransferforschung auf der Basis eines Kommunikationsmodells (Sender – Übertragungskanal – Empfänger) immer wieder suggeriert wird, dass man von Ausgangskultur und Aufnahmekultur als zwei Polen ausgeht, zwischen denen eine Übertragung stattfindet, obwohl andererseits die Vorstellung von 2
Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation: Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer. 2., aktualisierte u. erweiterte Aufl. Stuttgart, Weimar 2008, S. 132 – 134.
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abgeschlossenen Entitäten bestritten wird, etwa von Michel Espagne: „Ausgangs- und Aufnahmekontext, ob sie national oder sonstwie definiert werden, sind Notlösungen der Argumentation und keine Substanzen.“3 Keller schlägt vor, die Begriffe Ausgangs- und Zielkultur durch „Erst- und Zweitkontext oder Erst- und Zweitsystem“ zu ersetzen. „Die Bilder von Ausgang und Ziel suggerieren zwei Pole und eine gewollte Richtung des Transfers.“4 Auch die Begriffe Erst- und Zweitkontext sind aus unserer Sicht untauglich, treffen sie doch eine hierarchisierende Unterscheidung zwischen den kulturellen Formationen, zwischen denen Transferprozesse stattfinden. Wir gehen daher von der Denkfigur des Netzwerkes aus, das sich aus unterschiedlich stark ausgeprägten Knotenpunkten und den zwischen ihnen bestehenden Interaktionen zusammensetzt und potentiell nach allen Richtungen hin offen ist.5 Unter Netzwerken sollen mit Hartmut Böhme, der Kulturwissenschaft als Netzwerk-Analyse betrachtet, „biologische oder anthropogen artifizielle Organisationsformen zur Produktion, Distribution, Kommunikation von materiellen oder symbolischen Objekten“ verstanden werden.6 Die in Transferprozesse involvierten Vermittlungsinstanzen bilden Netzwerke, die sich fortlaufend verändern und sehr unterschiedliche Grade an Stabilität erreichen. Im Fall biographischen Arbeitens ist auch das Netzwerk zu thematisieren, das für die Entstehung der Biographie mitverantwortlich ist und aus Institutionen (Archiven, Bibliotheken, etc.) und Personen (InterviewpartnerInnen, DolmetscherInnen, ÜbersetzerInnen, etc.) besteht. Spannt sich dieses Netzwerk über kulturelle, soziale, politische und sprachliche Grenzen hinweg, spielen die Transaktionen und Interaktionen zwischen den einzelnen Knotenpunkten eine besonders große Rolle. Mit dem Akt des Transfers geht eine Zerlegung des Artefakts einher. „Der Transfer ist eine Anwendung, ein Vollzug, der Texte zerstückelt und neu zusammensetzt. Transferiert werden Textfragmente. Diese 3 4 5
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Espagne: „Jenseits der Komparatistik“, S. 18. Keller: „Kulturtransferforschung“, S. 109. Vgl. zum Konzept des Netzwerkes im Hinblick auf kulturelle Transferprozesse v. a. Helga Mitterbauer: „Dynamik – Netzwerk – Macht. Kulturelle Transfers ,am besonderen Beispiel‘ der Wiener Moderne“. In: Ent-grenzte R ume. Hg. v. Mitterbauer u. Scherke, S. 109 – 130; Helga Mitterbauer: Die Netzwerke des Franz Blei. Kulturvermittlung im fr hen 20. Jahrhundert. Tübingen, Basel 2003. Hartmut Böhme: „Aufgaben und Perspektiven der Kulturwissenschaft“. In: Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren. Hg. v. Iris Därmann u. Christoph Jamme. München 2007, S. 35 – 52, hier S. 47.
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werden dann in neue Diskurse reintegriert.“7 Fragmentierung und Reintegration sind somit für kulturelle Transfers charakteristisch. Hartmut Böhme verwendet dafür den Begriff der Transformation und spricht allgemein von einer transformativen Kulturwissenschaft, die „Regeln und Typen von Transformationsprozessen“ zu erarbeiten hätte. „Kultur als prozessualer Aushandlungszusammenhang über Werte, Normen, Stile, Lebensformen, Kognitionen funktioniert wesentlich nur über räumlich-dissipative wie zeitlich-verbindende Transformationen vergangener oder entfernter Artefakte im Selbstverständigungskontext einer je zeitgenössischen Gesellschaft.“8 Es stellt sich in Bezug auf die durch Transferprozesse bedingten Transformationen immer wieder die Frage nach dem Kern des transferierten Textes oder Objekts. Gerade die Kulturtransferforschung macht aber deutlich, dass es einen solchen Kern weder im Fall einzelner Texte noch im Fall einer Kultur gibt. Ebenso wenig ist in Analogie dazu eine biographierte Person ,im Kern‘ zu erfassen, den es dann in eine andere Sprache oder in einen anderen kulturellen Kontext zu übertragen gelte. Die „,Identität‘ des Transferierten“ ist „nicht verfügbar“.9 Es kommt im Zuge von Transferprozessen stets zur „Produktion von Neuem“, da eine Vielzahl von Kräften einwirken und das transferierte Objekt – vom einzelnen Text bis hin zu Wissenssystemen – „durch unterschiedliche Wahrheitskriterien, Darstellungsformen, geschlechtsspezifische Konstruktionen von Wissenschaftlichkeit, Instrumenten und Experimenten“ und durch die Orte der Wissensproduktion mitstrukturiert wird.10 In Anlehnung an Rebekka Habermas’ und Rebekka von Mallinckrodts Ausführungen zur Dynamik des Transfers von Wissenssystemen lassen sich mindestens vier Faktoren benennen, die für Biographien als Medien kultureller Transfers relevant sind: Erstens, die zugrunde liegende, implizit vorhandene oder explizit dargelegte Theorie der Biographie; zweitens die BiographInnen, die in unterschiedlichen nationalen und transnationalen Räumen handeln und deren Position innerhalb des akademischen oder kulturellen Feldes von entscheidender Bedeutung für die biographische Darstellung ist; drittens jene Akteure und Ak7 8 9 10
Keller: „Kulturtransferforschung“, S. 110. Böhme: „Kulturwissenschaft“, S. 42. Ebd., S. 112. Rebekka Habermas u. Rebekka v. Mallinckrodt: „Einleitung“. In: dies. (Hgg.): Interkultureller Transfer und nationaler Eigensinn. Europ ische und angloamerikanische Positionen der Kulturwissenschaften. Göttingen 2004, S. 9 – 23, hier S. 22 f.
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teurinnen, welche die Biographien an das Lesepublikum vermitteln: JournalistInnen, VerlegerInnen, HerausgeberInnen, etc; und viertens die spezifische Form der Dynamik zwischen diesen Faktoren.11 Kultur und Nation: Die Konstruktion kollektiver Identitäten Grundlage der neueren Kulturtransferforschung ist somit ein Kulturbegriff, der nicht von autonomen und klar voneinander zu trennenden Kulturen ausgeht, sondern Kultur selbst als Prozess des Transfers und des Austausches betrachtet – als Netzwerk und offenes, unabschließbares System von Verbindungen. Dementsprechend werden Schnittstellen und Verflechtungen zwischen Kulturen herausgearbeitet, es wird die Prozesshaftigkeit von Kultur deutlich gemacht und der Blick auf die Bedeutung von Vermittlungsinstanzen und Vermittlungsmedien gelenkt, die einen ,Dritten Raum‘ des Verhandelns kultureller Differenzen eröffnen. Der Dritte Raum im Sinne Homi Bhabhas bildet „einen diskursiven Rahmen der permanenten Konstruktion von Bedeutungen und Zuschreibungen“.12 Die Vorstellung von der Einheitlichkeit und Abgrenzbarkeit einer Kultur erweist sich damit als ideologisch motivierte Konstruktion – und dies auch in historischer Perspektive: That image of a cultural mosaic, where each culture would have been a territorial entity with clear, sharp, enduring edges, never really corresponded with realities. There were always interactions, and a diffusion of
11 Ebd., 15 f. 12 Helga Mitterbauer: „,Acting in the Third Space‘. Vermittler im Spannungsfeld kulturwissenschaftlicher Theorien“. In: Ver-r ckte Kulturen. Hg. v. Celestini u. Mitterbauer, S. 53 – 66, hier S. 57. Zur Auseinandersetzung mit Bhabhas postkolonialen Theoriekonzepten im Kontext der Kulturtransferforschung vgl. vor allem Helga Mitterbauer: „Überall und Nirgendwo. Kulturvermittler als hybride Akteure im Dritten Raum“. In: Verflechtungsfiguren. Intertextualit t und Intermedialit t in der Kultur sterreich-Ungarns. Hg. v. Endre Hárs, Wolfgang Müller-Funk u. Magdolna Orosz. Frankfurt/M., Berlin, Bern 2003, S. 189 – 206. Helga Mitterbauer: „Dynamik – Netzwerk – Macht. Kulturelle Transfers ,am besonderen Beispiel‘ der Wiener Moderne“. In: Ent-grenzte R ume. Hg. v. Mitterbauer u. Scherke, S. 109 – 130. Michaela Wolf: „,Der Kritiker muß ein Verwandlungsmensch sein, ein … Schlangenmensch des Geistes‘. Ein Beitrag zur Dynamisierung der Feldtheorie von Pierre Bourdieu am Beispiel von Hermann Bahr“. In: Ent-grenzte R ume. Hg. v. Mitterbauer u. Scherke, S. 157 – 171.
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ideas, habits and things, even if at times we have been habituated to theories of culture and society which have not emphasized such truths.13
Auf die Konstruiertheit von Kulturen und den für sie konstitutiven Austausch weist auch Hartmut Böhme in seinen Ausführungen zu den Aufgaben und Perspektiven der Kulturwissenschaft hin: „Kulturen konstruieren sich immer über Differenzen zu räumlich koexistenten oder zeitlich vorausgegangenen anderen Kulturen, die dabei selbst ,erfunden‘ bzw. konstruiert werden.“14 Dabei meint der Begriff der ,Kulturkonstruktionen‘ zweierlei: Zum einen stellen sie selbst ästhetische oder kognitive Komplexe dar, die aus einer Vielzahl kultureller Praktiken hervorgehen und in diese zurückwirken. Darum sind, zum zweiten, ,Kulturkonstruktionen‘ energiegesättigte, symbolische Gebilde mit hoher performativer Potentialität: sie erzeugen in gewisser Hinsicht das Objekt, welches sie erkennen, und indem sie dies tun, modellieren sie als historische Macht eben die Wirklichkeit, aus der sie stammen. ,Konstruktionen‘ sind deswegen mehr als eine bloß mentale, semantisch gehaltvolle Architektur, sondern sie sind zugleich eine weltbilderzeugende und wirklichkeitsmodellierende Kraft.15
,Kulturkonstruktionen‘ führen zur Entstehung neuer Leitbilder, intellektueller Formationen oder auch neuer Institutionen (Bibliotheken, Archive, Akademien, etc.). Mit dem Begriff der Konstruktion ist daher nicht Fiktionalität gemeint. Auch wenn biographische Darstellungen und die in ihnen manifest werdenden Annahmen von personaler und kultureller Identität unter dem Aspekt ihrer Konstruiertheit betrachtet werden, bedeutet dies nicht, dass sie der materiellen Wirklichkeit enthoben wären. Biographien sind Teil der performativen Prozesse, die zur Stabilisierung kultureller Formationen führen, sie stellen diese potentiell aber auch in Frage, vor allem wenn sie ihren Konstruktcharakter offenlegen. Michael Werner und Michel Espagne beziehen sich bei ihrer Definition des Begriffs Kultur unter anderem auf Edgar Morin und verstehen darunter „ein veränderliches Kommunikationssystem, das etwa den individuellen Erlebnisraum in Verbindung zu dem institutionalisierten Wissen setzt, daher einen dauernden Stoffwechsel zwischen allen Individuen einer gegebenen Gesellschaft vollzieht und sich überhaupt 13 Ulf Hannerz: Transnational Connections. Culture, People, Places. London, New York 1996, S. 18. 14 Böhme: „Kulturwissenschaft“, S. 40. 15 Ebd.
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mit dem sozialen Gefüge als ganzem artikuliert“. Sie fordern die Erfassung der „spezifischen Unterschiede von National-, Lokal- und Alltagskultur in ihrer wechselseitigen Überschneidung und Differenzierung“ und erteilen der Vorstellung einer feststehenden kollektiven Identität und Nationalkultur eine Absage.16 In Anlehnung an Gregory Bateson, der eine Typologie der ,Kulturberührungen‘ entwirft, die sowohl zwischen Kulturen als auch innerhalb einer Kultur zu beobachten sind17, verstehen Werner und Espagne Nationalkulturen als „ideologische Konstrukte, die sich durch Interdependenzen bilden“.18 In ähnlicher Weise versteht die neue Kulturgeographie kollektive Identitätsformen wie Ethnizität oder nationale Identität als Konstruktionen und untersucht deren diskursive Ausformungen. „Identitäten […] sind kontingente, unstabile, flüssige, wandelbare und hybride, oft widersprüchliche Formen. Identität ist Verhandlungssache, ein Kampf um Bedeutungen innerhalb von Diskursen, Machtoperationen, sozialen Beziehungen oder Netzen.“19 Räume sind für die Konstruktion kollektiver Identitäten wie die einer Nation wichtige Bezugsgrößen, weshalb Andreas Pott von einer „raumbezogenen (Identitäts-)Semantik“ spricht.20 Als einige der Leitfragen der neuen Kulturgeographie nennt er: Von wem, wie und in welchem Zusammenhang wird das Beobachtungsschema Identität/Differenz kommunikativ in Anspruch genommen? Wie und wozu wird es mit räumlichen Unterscheidungen und Bezügen verknüpft? Wie entstehen raumbezogene Identitätssemantiken, Orts-
16 Michel Espagne u. Michael Werner: „Deutsch-französischer Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert. Zu einem neuen interdisziplinären Forschungsprogramm des C.N.R.S.“ In: Francia 13 (1985), S. 502 – 510, hier S. 504. 17 Der Psychologe und Anthropologe Gregory Bateson geht davon aus, dass Kulturberührungen unterschiedlicher Art zur so genannten Schismogenese, also der Aufspaltung in verschiedene soziale und kulturelle Gruppen, führen. Vgl. seinen Aufsatz „Kulturberührung und Schismogenese“ in: ders.: kologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt/M. 1985, S. 99 – 114. 18 Keller: „Kulturtransferforschung“, S. 104. 19 Andreas Pott: „Identität und Raum. Perspektiven nach dem Cultural Turn“. In: Kulturelle Geographien. Zur Besch ftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn. Hg. v. Christian Berndt u. Robert Pütz. Bielefeld 2007, S. 27 – 52, hier S. 28. Vgl. a. Hans Gebhardt, Paul Reuber u. Günter Wolkersdorfer (Hgg.): Kulturgeographie. Aktuelle Ans tze und Entwicklungen. Heidelberg 2003. 20 Pott: „Identität und Raum“, S. 40.
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images, Kulturraum-Bilder usw. und wie gelingt ihre Reproduktion, aber auch ihre Veränderung? 21
Diese Fragen können auch auf die Analyse von Biographien und ihrer Funktion als Selbstverständigungsmedien von Kulturen und Nationen übertragen werden. In Analogie zum Kulturbegriff in der Kulturtransferforschung wird auch in der Nationalismusforschung, wie sie vor allem Ernest Gellner, Benedict Anderson und Eric Hobsbawm geprägt haben, ein konstruktivistisches Verständnis von Nation vertreten und diese als artifizielle Gemeinschaft begriffen. So betont Hobsbawm in der Einleitung zu Nations and Nationalism since 1780 in Anlehnung an Gellner „the element of artefact, invention and social engineering which enters into the making of nations“.22 Entscheidend ist auch sein Hinweis: „Nations do not make states and nationalisms but the other way round.“23 Damit rückt der performative Charakter nationaler Identität in den Vordergrund, der auch in neueren interkulturellen Studien, die in der Tradition der Imagologie stehen und sich zugleich von ihr abzugrenzen trachten, an konkreten Beispielen aus Kunst, Literatur, Theater und Politik untersucht wird. Dementsprechend leitet Manfred Pfister eine Sammlung von Aufsätzen zu ,Anglo-Italian Cultural Transactions‘ mit folgendem Satz ein: National identity is not some naturally given or metaphysically sanctioned racial or territorial essence that only needs to be conceptualised or spelt out in discursive texts; it emerges from, takes shape in, and is constantly defined and redefined in individual and collective performances.24
Zur Konstruktion von nationaler Identität liefern neben anderen Artefakten25 auch Biographien ihren Beitrag bzw. lassen sich an ihnen die 21 Ebd., S. 41. 22 Eric J. Hobsbawm: Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality. Cambridge 1990, S. 10. Vgl. auch Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London, New York 1983; Ernest Gellner: Nations and Nationalism. Oxford: 1983; Ernest Gellner: Nationalism. London 1997. 23 Hobsbawm: Nations, S. 10. 24 Manfred Pfister: „Introduction: Performing National Identity“. In: Performing National Identity. Anglo-Italian Cultural Transactions. Hg. v. Manfred Pfister u. Ralf Hertel. Amsterdam, New York 2008, S. 9 – 28, hier S. 9. 25 Vgl. beispielsweise: Michael Einfalt, Joseph Jurt u. a. (Hgg.): Konstrukte nationaler Identit t: Deutschland, Frankreich und Großbritannien (19. und 20. Jahrhundert). Würzburg 2002.
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Spuren der Erfindung und Fortschreibung nationaler Traditionen ablesen. Dabei kommen Aspekte der Auswahl biographischer Objekte ebenso zum Tragen wie Formen der Heroisierung bestimmter historischer Figuren und deren Stilisierung zu Nationalhelden. Vom Konstruktionscharakter von Nation und Kultur zu sprechen, bedeutet allerdings nicht, deren Wirkungsmächtigkeit zu unterschätzen. Die Vorstellung einer Nationalkultur war und ist an konkrete politische Grenzen gebunden, wurde machtpolitisch durchgesetzt und damit als Faktum anerkannt.26 Es darf bei aller Betonung der Hybridität und Artifizialität von Kultur und Nation nicht die „Stabilität von Repräsentationen und kollektiven Vorstellungswelten“ vernachlässigt werden.27 Wir leben nach wie vor in einer von nationalem Denken und Handeln geprägten Welt und sind weit davon entfernt, Nation als „Ordnungsvorstellung“ verabschiedet zu haben. Die für die Nationsbildung notwendige Erfindung von Tradition ist „ein Machtkampf, der über die Zukunft entscheidet, indem er Vergangenheitsbilder durchsetzt“.28 Dieter Langewiesche sieht Partizipation und Aggression als konstitutive Merkmale des Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert: Zum einen sollte das Individuum sich als Teil eines größeren Ganzen, eben der Nation, begreifen und auch entsprechende Möglichkeiten der politischen und gesellschaftlichen Teilnahme haben. Zum anderen bildete 26 Vgl. Wolfgang Schmale: „Erkenntnisinteressen der Kulturtransferforschung“. In: Kulturtransfer in der j dischen Geschichte. Hg. v. Wolfgang Schmale u. Martina Steer. Frankfurt, New York 2006, S. 23 – 41, hier S. 39. 27 Werner Suppanz: „Kultur in einer ,Welt in Bewegung‘: Theoretische Überlegungen zu kultureller Differenz und Kulturtransfer“. In: Kulturtransfer. Hg. v. Schmale u. Steer, S. 42 – 56, hier S. 48. Suppanz rekurriert hier auf Lutz Musner: „Kultur als Transfer. Ein regulationstheoretischer Zugang am Beispiel der Architektur“. In: Ent-grenzte R ume. Hg. v. Mitterbauer u. Scherke, S. 173 – 194. 28 Dieter Langewiesche: „Was heißt ,Erfindung der Nation‘?“. In: Auf dem Weg zum ethnisch reinen Nationalstaat? Europa in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Mathias Beer. Tübingen 2007, S. 19 – 40, hier S. 19 u. S. 38. Vgl. auch Saskia Sassen: Das Paradox des Nationalen. Territorium, Autorit t und Rechte im globalen Zeitalter. Frankfurt/M. 2008. Sie stellt auf S. 45 fest: „Nichts am Nationalstaat war natürlich, zwanglos oder vorherbestimmt“, sondern es bedurfte einiger Mühe auf institutioneller, wirtschaftlicher und politischer Ebene, „die Gesellschaft national werden zu lassen“. Sie stellt aber auch eindrucksvoll unter Beweis, wie sehr das Nationale nach wie vor unser Zusammenleben prägt und auch für die gegenwärtigen Transformationsprozesse der Globalisierung bestimmend bleibt.
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sich ein Nationalbewusstsein durch die Abgrenzung gegenüber dem Fremden, dem Anderen, dem Außen heraus. Langewiesche bezieht sich auf Theodor Schieder, der Nationalismus dementsprechend als eine „spezifische Integrationsideologie“ bezeichnet und die Abgrenzung nach außen als konstitutives Merkmal sieht. Nationsbildung vollzieht sich immer als „doppelseitiger Prozeß: nach innen Integration, nach außen Abgrenzung. Beides ist doppelbödig.“29 Die Verbreitung von Selbst- und Fremdbildern zur Abgrenzung von anderen Nationen und Kulturen ist für die Herausbildung nationalistischen Denkens von großer Bedeutung und schafft eine symbolische Gemeinschaft. „Im Bild von dem Fremden gewinnt man ein Bild von sich selbst. Und umgekehrt: Am Selbstbild formt sich das Bild des Fremden. Insofern ist jedem Nationalismus immer die Abgrenzung vom Nationsfremden eigen.“30 Der Diskurs über den Anderen als Voraussetzung für die Konstituierung der eigenen Identität kann sowohl Interaktionen mit dem Anderen vorbereiten oder begleiten als auch „intrakulturellen Verständigungsprozessen und Auseinandersetzungen zuarbeiten“.31 Es gilt daher zu fragen, welche Funktionen Biographien in unterschiedlichen nationalen und kulturellen Kontexten zu unterschiedlichen Zeiten erfüllen (sollten). Grundlage für die im Folgenden vorgestellten Fallbeispiele aus dem italienisch-deutschen und dem britisch-deutschen Kontext ist die These, dass Biographien als Medien von Eigen- und Fremdbildern einen Beitrag zu Abgrenzungsvorgängen wie auch zu interkulturellen Verständigungsprozessen leisten. Sie bilden Schaltstellen, an denen nationalkulturelle Differenzen verhandelt werden und die Konstruiertheit von Nation und Kultur sichtbar wird. Die neokonstruktivistische Kritik an Hobsbawms und Andersons Verständnis von Nation macht darauf aufmerksam, dass mit dem Nachweis der Konstruiertheit von Nation und Kultur noch nicht die „räumliche Verbreitung“ und „die zeitliche Beharrungsfähigkeit“ nationalen Denkens erklärt ist.32 Anthony D. Smith versucht daher in 29 Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München 2000, S. 40 f. 30 Ebd., 49. 31 Horst Thomé: „Vorbemerkung“. In: Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identit t in deutscher und franzçsischer Literatur. Hg. v. Ruth Florack. Tübingen 2000, S. 1 – 7, hier S. 4. 32 Hans Manfred Bock: „Nation als vorgegebene oder vorgestellte Wirklichkeit? Anmerkungen zur Analyse fremdnationaler Identitätszuschreibung“. In: Nation als Stereotyp. Hg. v. Florack, S. 11 – 36, hier S. 30.
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einer historisch-soziologischen Analyse die langfristigen Kontinuitäten im Wandel der Identitätsmerkmale von Nationen zu untersuchen und stellt fest, dass folgende Komponenten für Nationskonstruktionen charakteristisch sind: Nationen definieren sich über „einen gemeinsamen Kollektivnamen, einen gemeinsamen Herkunftsmythos, übereinstimmende historische Gedächtnisinhalte, ein oder mehrere Unterscheidungsmerkmale der allgemeinen Kultur, die Verbindung mit einem besonderen ,homeland‘ und einen Solidaritätssinn in wesentlichen Teilen der Bevölkerung“.33 Hans Manfred Bock nennt drei Dimensionen, die die historische Analyse einer nationalen Identität aufweisen soll: Zu untersuchen gilt es erstens die intellektuellen ProduzentInnen, die eine zentrale Bedeutung für die Herausbildung und Tradierung nationaler Identitätsvorstellungen haben; zweitens den nationalidentitären Diskurs und drittens die medialen Vermittlungswege.34 Es ist von elementarem Interesse für die Kenntnis der Genese fremdnationaler Wahrnehmungsstrukturen, zu wissen, in welchen politisch-institutionellen Zusammenhängen und in welchen sozio-kulturellen Gruppenbildungen der Intellektuellen-Landschaft die Autoren autoritativer Deutungen der anderen Nation angesiedelt sind. Da diese Deutungen unvermeidlich Anleihen machen beim nationalidentitären Diskurs der anderen Seite, kommt auch die Frage ins Blickfeld nach dem Standort der Wortführer dieses Diskurses in der Intellektuellen-Szene der anderen Nation.35
Die Rolle der BiographInnen als ,Wortführer dieses Diskurses‘ blieb in der vergleichenden Intellektuellengeschichte bislang unterbelichtet. Daher stellt der Anteil der Biographik an den Prozessen nationaler und kultureller Identitätsbildung ein Forschungsdesiderat dar, dem wir uns in den weiter unten folgenden Fallstudien widmen. Die Auseinandersetzung mit Biographien als Medien kultureller Transferbeziehungen basiert auf der Annahme, dass die Positionen der BiographInnen, von denen aus sie sich in den nationalkulturellen Diskurs einschreiben, von zentraler Bedeutung sind. Sie spielen eine doppelte Rolle, da sie einerseits durch ihre Vermittlungsaktivität nationale Grenzen überschreiten, andererseits diese Grenzen aber dadurch auch markieren und zu ihrer diskursiven Verfestigung beitragen. Was Marc Schalenberg hinsichtlich des Transfers im Wissenschaftsbereich für 33 Ebd., S. 30 f; Bock bezieht sich hier auf Anthony D. Smith: National Identity. Reno, London 1991, S. 21. 34 Bock: „Nation“, S. 34. 35 Ebd., S. 35.
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das 19. Jahrhundert feststellt, trifft auch auf die Biographik und auf andere Zeiten zu: Einerseits lässt sich das Insistieren auf markant ausgeprägte nationale Eigenheiten feststellen, andererseits aber auch eine starke internationale Vernetzung.36 Trotz weltweiter Vernetzungen erweist sich das Denken in nationalkulturellen Kategorien als erstaunlich langlebig. Die Stabilität kultureller Formen findet aus soziologischer Perspektive ihren Ausdruck in konkreten Handlungssituationen. Karl Hörning bezeichnet das Repertoire an erworbenen Fertigkeiten und Dispositionen, das den Individuen die „Fähigkeit zu einer mehr oder weniger ,intelligenten‘ Praxis“ verleiht, als ,kulturelles Gepäck‘.37 Mit Bourdieu gesprochen bilden die im Laufe der Sozialisation erworbenen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster eines Individuums seinen strukturell und kulturell geprägten Habitus, der in einem hohen Maße seine Handlungen mitbestimmt.38 Die Biographie verfügt über das Potential zur Darstellung des Erwerbs von Fertigkeiten und Dispositionen im Laufe der Sozialisation und der weiteren Lebensentwicklung und kann auf diese Weise die Bedingungen, die zur Stabilisierung kultureller Formen führen, nachvollziehbar machen. In interkulturellen Kontexten bieten Biographien daher auch einen privilegierten Zugang zu einer anderen Kultur und BiographInnen werden zu KulturvermittlerInnen. Was kann mit der kulturellen Identität eines Individuums überhaupt gemeint sein angesichts der grundsätzlichen Einsicht in die Prozesshaftigkeit und Heterogenität kultureller Formationen und in Anbetracht der Unmöglichkeit, zwischen Individuum und Gesellschaft als zwei klar voneinander abgrenzbaren Entitäten zu trennen? Stuart Hall betont die diskursive Verfasstheit von nationaler wie kultureller Identität und nimmt dabei unter anderem auf Benedict Andersons These von den ,imagined communities‘ oder Eric Hobsbawms Schlagwort von den erfundenen Traditionen Bezug. „Nationale Kulturen konstruieren 36 Vgl. Marc Schalenberg: „,In Deutschland betreibt man alles gewissenhaft…‘ Zur Darstellung deutschen Gelehrtentums in England und Frankreich vor 1870“. In: Das Bild ,des Anderen‘. Hg. v. Birgit Aschmann u. Michael Salewski. Stuttgart 2000, S. 156 – 164, hier S. 157. 37 Karl H. Hörning: „Kulturelle Kollisionen. Die Soziologie vor neuen Aufgaben“. In: Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Hg. v. Karl H. Hörning u. Rainer Winter. Frankfurt/M. 1999, S. 84 – 115, hier S. 90. 38 Vgl. v. a. Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt/M. 1998; Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und ,Klassen‘. LeÅon sur la leÅon. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1991.
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Identitäten, indem sie Bedeutungen der ,Nation‘ herstellen, mit denen wir uns identifizieren können“.39 Entscheidend ist daher der Grad der Identifizierung eines Individuums mit den zur Verfügung stehenden Identitätsangeboten, wobei sich im konkreten Fall die Frage nach der tatsächlichen Wahlfreiheit stellt. In seinem Plädoyer für die Herausbildung einer interkulturellen Identität meint Constantin von Barloewen, dass Individuen eine kulturelle Identität entwickeln, da sie in „ihrer eigenen Weltsicht die wesentliche Erfahrung von Wertsystemen, von Haltungen und Glaubensrichtungen der eigenen Kultur verinnerlichen“. Eine so beschaffene Identität genüge allerdings am Ende des 20. Jahrhunderts und angesichts der weltweiten Migrationsströme und der Prozesse der Globalisierung nicht mehr. Die kulturelle Identität ist zunächst keine festgelegte Persönlichkeitsstruktur, sondern ein vielschichtiges Resultat einer fortschreitenden und deutenden Aktivität, die von dem einzelnen Menschen […] vollzogen wird. Ein Wir-Gefühl, die Zuordnung des Selbst als einem Mitglied einer bestimmten kulturellen Gruppierung dient als sozialpsychologische Erklärung der kulturellen Identität. Individuen erwerben einen Sinn der Zugehörigkeit.40
Welchen kulturellen Ort gibt sich das biographische Objekt selbst bzw. wie wird er oder sie durch Fremdzuschreibungen verortet? Die Prozesse der kulturellen Positionierung einer individuellen Lebensgeschichte durch die Biographin oder den Biographen werden in unseren Fallbeispielen herausgearbeitet, um ihre Bedeutung für nationalkulturelle Konstruktionen sichtbar zu machen. Kulturelle Grenzziehungen und ihre biographische Überschreitung Christian von Zimmermann versteht die Geschichte der Biographik als Geschichte der Vereinnahmung „biographierter Gestalten für vielfältige historische, politische, soziale, ethische Zwecke“.41 Dies gilt auch für 39 Stuart Hall: „Die Frage der kulturellen Identität“. In: ders.: Rassismus und kulturelle Identit t. Hamburg 1994, S. 180 – 222, hier S. 201. 40 Constantin von Barloewen: „Fremdheit und interkulturelle Identität. Überlegungen aus der Sicht der vergleichenden Kulturforschung“. In: Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung. Hg. v. Alois Wierlacher. München 1993, S. 297 – 318, hier S. 307. 41 Christian von Zimmermann: Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830 – 1940). Berlin, New York 2006, S. 37.
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Biographien als Vermittlungsmedien in kulturellen Transferbeziehungen. Sie können der Abgrenzung und damit der Identitätssicherung oder der Betonung der eigenen kulturellen Überlegenheit und der Untermauerung des eigenen Machtanspruchs ebenso dienen wie der Hervorhebung des allgemein Menschlichen an einer individuellen Lebensgeschichte, um nationale oder kulturelle Grenzen zu überwinden. Sie können mit Blick auf die Lebensgeschichte eines Individuums und seiner kulturellen und sozialen Prägung dem Lesepublikum einen Zugang zu einer fremden Kultur verschaffen, wobei Fremdheit eine relationale Kategorie ist und ihr Grad stets vom Standort der Biographin und der Rezipientin abhängt. Für ein deutschsprachiges Lesepublikum ist im Fall von Jan-Peter Hartungs Biographie über Sayyid Abu¯ l-Hasan -Alı¯ al-Hansanı¯ Nadwı¯ die kulturelle Distanz offensichtlich sehr groß, im Falle einer englischsprachigen Goethe-Biographie im 19. Jahrhundert vermeintlich gering. Inwiefern wird das biographische Objekt jeweils als repräsentativ für seine Kultur wahrgenommen und dargestellt? Geht man von der kulturellen Repräsentativität Goethes oder Nadwı¯s aus, wird Biographie auch zur Ethnobiographie, das biographische Projekt zugleich zu einem ethnographischen: „Eine Auseinandersetzung mit Lebensgeschichten berührt immer auch die Frage, wie Person, Selbst und Lebensverläufe in unterschiedlichen Kulturen wahrgenommen und narrativ vermittelt werden.“42 Claude Lévi-Strauss geht in seiner Rezension der von Leo Simmons dargestellten Lebensgeschichte des Hopi-Indianers Sun Chief von einer universellen psychologischen Basis aus, aufgrund derer die Biographie über das Potential verfügt, kulturelle Grenzen zu überwinden und das Fremdartige am Anderen, am kulturell Fremden zu transzendieren.43 Dieses transkulturelle Potential einer Biographie kann aus anthropologischer Perspektive durch die Fokussierung auf „trans-cultural biographical patterns“ näher bestimmt werden.44 In jüngerer Zeit ist allerdings die Frage nach den jeweiligen historischen und kulturellen Ausdifferenzierungen (auto-)biographischen Schreibens in den Vordergrund getreten, jene nach den 42 Elfriede Hermann u. Birgitt Röttger-Rössler (Hgg.): Lebenswege im Spannungsfeld lokaler und globaler Prozesse. Person, Selbst und Emotion in der ethnologischen Biografieforschung. Münster 2003, S. 5. 43 Claude Lévi-Strauss: „Charles Simmons: Sun Chief“. In: Social Research 10 (1943), S. 515 – 517. 44 Frank E. Reynolds u. Donald Capps: „Introduction“. In: dies. (Hgg.): The Biographical Process. Studies in the History and Psychology of Religion. The Hague, Paris 1976, S. 1 – 33, hier S. 15.
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universalen Gemeinsamkeiten menschlichen Lebens in den Hintergrund. Nicholas Boyle reflektiert in seiner monumentalen Goethe-Biographie die kulturellen und historischen Grenzen, die es als Biograph in der Vermittlung eines fremden und vergangenen Lebens zu überwinden gilt. Er verfolgt das Anliegen, „Goethes Leben in seiner Zeit und seine Dichtung im Kontext seines Lebens“ darzustellen und somit das Werk vor seinem biographischen, philosophischen, sozialen und historischen Hintergrund zugänglich zu machen, wobei Hintergrund und Vordergrund nicht deutlich voneinander zu scheiden sind, sondern ineinander gehen.45 Boyle weiß um die historische und kulturelle Distanz seines englischen Lesepublikums, an das er sich in erster Linie richtet, und macht diese gleich vom ersten Kapitel an zum Thema. Er konstatiert eine „Entfremdung von Goethe“ auf Seiten nichtdeutscher LeserInnen und benennt dafür mehrere Ursachen. Zum einen lasse die Französische Revolution und deren Konsequenzen Goethes Leben und Zeit davor in weite Ferne rücken. Zum anderen könnten die nichtdeutschen LeserInnen nicht auf eine vertraute Literatur zurückgreifen, die zur gleichen Zeit entstanden wäre, da für das englische (und auch für das französische) Publikum das ausgehende 18. Jahrhundert eine literarisch äußerst unergiebige Zeit sei. Darüber hinaus seien in der deutschen Klassik, die zu einem wesentlichen Teil aus Goethes Werk bestehe, Romane nicht von Bedeutung, während der Roman im England des 18. Jahrhunderts die literarische Gattung par excellence sei.46 Diese Annahmen Boyles zu widerlegen, ist hier nicht der richtige Ort, sie sind in ihrer zugespitzten Form aber jedenfalls allzu pauschalisierend und aus literaturhistorischer Perspektive nicht haltbar. Entscheidend ist, dass sie seine Darstellung des Lebens Goethes mitbestimmen. Der Biograph muss angesichts der von ihm wahrgenommenen Verstehensbarrieren eine umfangreiche Rekonstruktionsarbeit gerade auch des historischen und literaturgeschichtlichen Umfelds, in dem Goethes Leben und sein Werk verankert sind, leisten, um seinem englischen Publikum das Verständnis zu erleichtern. Zugleich schreibt Boyle aber im Bewusstsein, auch deutschsprachige LeserInnen ansprechen zu wollen, deren kulturelle Schnittmenge mit Goethe und seiner Zeit eine größere ist. Er tut dies mit einer bemerkenswerten Geste der Verbeugung vor Deutschland: 45 Nicholas Boyle: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit. Band I. 1749 – 1790. München 1995, S. 10. 46 Ebd., S. 18 f.
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Ich hege die Hoffnung, daß die folgenden Seiten auch Leser in Deutschland ansprechen mögen; wurden sie doch in der Überzeugung geschrieben, daß die Bundesrepublik nicht nur für das steht, was das Beste – und Älteste – in den politischen Traditionen der Nation ist, sondern auch für das, was dem Geist Goethes am nächsten kommt, und daß es für das übrige Europa an der Zeit ist, hierfür zu danken.47
Die Wertschätzung Goethes und seines Werkes überträgt sich hier auf die Bundesrepublik Deutschland und der Dichter wird zur nationalen Ikone, die es über die Grenzen seiner Herkunftskultur hinaus zu feiern gilt. Nicht nur die deutsche Kultur der Goethezeit will Boyle hochleben lassen, sondern gerade das gegenwärtige Deutschland, in dem er den Geist Goethes fortleben sieht. Die Biographie wird von ihm zum Medium der Verständigung über die Zeiten und über politische und kulturelle Grenzen hinweg stilisiert. Für eine an der Kulturtransferforschung orientierte Biographik sind in besonderem Maße Biographien über Personen von Interesse, deren Lebensläufe kulturelle oder sprachliche Grenzen überschreiten. Der Joseph Conrad-Biograph Zdzisław Najder versteht seine Aufgabe darin, nicht eine Biographie zu schreiben, der es um eine Analyse der Persönlichkeit des Autors zu tun ist, sondern „to explain certain cultural and intellectual categories to the English-speaking reader who, while understanding the language, is not always able to grasp the implicit meanings“ von Conrads Texten.48 Einige Aspekte seiner Texte scheinen für LeserInnen, die sich nicht mit dem polnischen Hintergrund Conrads auseinandergesetzt haben oder sich aufgrund der sprachlichen Barrieren nur eingeschränkt damit beschäftigen können, rätselhaft, lassen sich aber vor dem Hintergrund seiner polnischen Prägung erklären. Es gehe daher nicht nur um individuell bedeutsame Aspekte, sondern the exploration should be conducted on the broadest possible front. We have to investigate not only his family links, or the progress of his learning, but also, and more extensively, the cultural traditions of his environment, its typical moral and political problems, its collective concerns, its whole ethos.49
47 Ebd., S. 11. 48 Zdzisław Najder: Joseph Conrad. A Life. Rochester, New York 2007, S. IX. 49 Zdzisław Najder: „Conrad’s Polish Background, or from Biography to a Study of Culture“. In: ders.: Conrad in Perspective. Essays on Art and Fidelity. Cambridge 1997, S. 11 – 17, hier S. 15.
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Zdzisław Najder schreibt daher von einer „structural quality of Conrad’s Polish background“, der für die Interpretation seines Werkes weitreichende Folgen hat, because what may have seemed to be a private code, deciphered only by biographical investigations and pointing to esoteric meaning, turns out to be a cultural language, a public system of signs, which carry meaning independently of the novelist’s own personality.50
Der Biograph will mit einer Darstellung der kulturellen Prägung Conrads als „exegete of his texts“ auftreten, die er „in the borderland of auto-translation“ lokalisiert, an der Schnittstelle dreier Sprachen und vor allem zweier Kulturen, der polnischen und der englischen.51 Najders Biographie fußt auf der Annahme, dass ein Schriftsteller „a doublepersonality creature“ sei und aus einem „personal I“ und einem „cultural, transcendental ,I‘“ besteht, die allerdings nicht einfach gleichgesetzt werden können.52 Der Fokus der Biographie wird damit vom Individuellen zum Kollektiven, vom Psychologischen zum Kulturellen erweitert. Najder treibt die Biographie an ihre Grenzen, wenn er schreibt: „[T]he proper study of the biographer is a study of culture“.53 Damit weist er ihr eine kulturgeschichtliche Funktion zu und verschiebt das Erkenntnisinteresse von der individuellen Lebensgeschichte auf die kulturellen, historischen, sozialen Prozesse, die sich an ihr nachvollziehen lassen. Ein weiteres hervorragendes Beispiel kulturellen Transfers stellen Biographien zu Vladimir Nabokov dar, dessen Leben in ein russisches und ein amerikanisches zweigeteilt war. Brian Boyd schreibt aus amerikanischer Sicht, ohne aber dabei die russischen Jahre Nabokovs zu vernachlässigen. Jedem der beiden Lebensabschnitte ist ein Band gewidmet. Als „key to Nabokov“ sieht er den Orts-, Sprach- und Kulturwechsel, war es doch „extraordinarily painful for him to envisage losing all he held precious, a country, a language, a love, this instant, that sound“.54 Aus russischer Perspektive schickt Boris Nossik eine Biographie zu Nabokov nach und fragt in der Einleitung selbst, wodurch sich seine von den bisherigen Arbeiten Boyds und des Australiers Andrew Field unterscheide. „Nun, vielleicht dadurch, daß ich aus Rußland bin. 50 51 52 53 54
Ebd. Najder: Conrad, S. IX. Ebd., S. XI. Najder: „Conrad’s Polish Background“, S. 17. Brian Boyd: Vladimir Nabokov. The Russian Years. London 1990, S. 10.
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Beide Bücher kommen mir sehr unrussisch vor. Mein Lieblingsschriftsteller aber war ein Russe (und gleichzeitig ein amerikanischer Schriftsteller)“, der Russland „gewaltsam weggenommen wurde – zusammen mit seiner Welt und der gesamten Emigrantenliteratur. Daher habe ich den Wunsch, das Weggenommene zurückzugeben.“55 Einen privilegierten Zugang zu seinem biographischen Objekt aufgrund des gemeinsamen kulturellen Hintergrunds nimmt auch Najder im Vorwort zu Joseph Conrad für sich in Anspruch. Seine Darstellung basiere darüber hinaus auf geteilten Erfahrungen. Er habe versucht, „dispassionate and matter of fact“ zu sein, aber seine eigene Lebensgeschichte fließe in die Biographie Conrads ein: Auch er habe sein Land zweimal als besetzt erlebt, von den Deutschen und von den Russen, er kenne „censorship, oppression, and brutal terror“ aus erster Hand. And I have learned about exile, living far away from my native community. I have witnessed the solitude of emigrés – those tormented by longing and those trying to cut themselves off from their past. I understand instinctively the obsessive attention Conrad paid to cultural differences, seen by him mainly not in the shape of exotic features and scenery, but in the form of conventions and norms produced by the given social and political environment.56
Kulturelle Nähe führt Najder damit ebenso ins Treffen wie eine Vertrautheit aufgrund ähnlicher Lebenserfahrungen. In allgemeiner Perspektive stellt sich die Frage, ob eine solche Nähe tatsächlich zu einer tieferen Einsicht in die Lebensgeschichte eines anderen Menschen führt, was im Kontext dieses Beitrags insbesondere im Hinblick auf kulturelle Grenzen zwischen BiographIn und biographischem Objekt bedeutsam wird. Entscheidend ist in jedem Fall, dass die Biographie an den kulturellen und intellektuellen Standort des Biographen oder der Biographin gebunden ist. BiographInnen erheben mitunter nicht nur den Anspruch auf Repräsentation einer Lebensgeschichte von ihrem kulturellen Standpunkt aus, sondern vermitteln teilweise bewusst ein in ihrem eigenen kulturellen Umfeld unbekanntes biographisches Modell. So knüpften beispielsweise Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die chinesischen Biographen Liang Qichao und Hu Shi an die europäische biographische Tradition an, verfassten Biographien, die markant vom bisher üblichen, konfuzianisch geprägten Modell der Lebensbeschrei55 Boris Nossik: Vladimir Nabokov. Die Biographie. Berlin 1997, S. 10. 56 Najder: Conrad, S. IXf.
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bung abwichen, und setzten dadurch eine nachhaltige Veränderung biographischen Schreibens in China in Gang.57 Wie Wang Gungwu feststellt, wurde in Biographien tendenziell die öffentliche Rolle, die das biographische Objekt spielte, betont. „Thus the individuality of the self was not the subject of biography. What was important was merely the type, the model or the negative example.“58 Eine Auseinandersetzung mit Biographien im Kontext von Kulturtransferforschung muss daher auch die in verschiedenen Kulturen unterschiedlich ausgeprägte Tradition der Biographik sowie die damit in Verbindung stehenden Leseerwartungen berücksichtigen. Dabei spielen neben sozioökonomischen Einflussfaktoren auch die politische Geschichte und im Kontext afrikanischer oder asiatischer Biographik im Speziellen die Geschichte der Kolonialisierung eine wesentliche Rolle.59 Keith R. Schoppa geht am Beispiel seiner Biographie zum chinesischen Revolutionär, Politiker und Intellektuellen Shen Dingyi ebenfalls auf die „culture-boundedness“ biographischer Darstellungen ein. Die zentrale Frage jedes Biographen oder jeder Biographin müsse sein: „What is the most appropriate way to deal with the biographical subject so as to express in the most meaningful and coherent way the salient aspects of his or her life within its own cultural context?“ Daher müssten BiographInnen „dealing with subjects in cultures different from their own […] ask different questions, have different emphases and priorities, and perhaps use different approaches“.60 Obwohl er als „Western biographer“ durchaus an der Individualität Shen Dingyis interessiert war, richtete er das Hauptaugenmerk auf die sozialen Beziehungen und die sozialen Rollen, die sein biographisches Objekt in unterschiedlichen Konstellationen erfüllte.61 In der ostasiatischen Biographik hatte zumindest bislang die soziale Rolle eine größere Bedeutung als individuelle Identität. Aber auch die kulturspezifische Art der Quellen sowie unterschiedliche Vorstellungen davon, in welche Phasen 57 Vgl. Shao Dongfang: „China: 19th Century to 1949“. In: Encyclopedia of Life Writing. Autobiographical and Biographical Forms. Bd. 1. Hg. v. Margaretta Jolly. London, Chicago 2001, S. 208 – 210. 58 Wang Gungwu: „Introduction“. In: Self and Biography. Essays on the Individual and Society in Asia. Hg. v. Wang Gungwu. Sydney 1975, S. 1 – 6, hier S. 1. 59 Ebd., S. 2 f. 60 Keith R. Schoppa: „Culture and Context in Biographical Studies: The Case of China“. In: Writing Biography. Historians & their Craft. Hg. v. Lloyd E. Ambrosius. Lincoln, London 2004, S. 27 – 52, hier S. 30. 61 Ebd., S. 33 f.
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ein Leben zu unterteilen ist und wie die menschliche Entwicklung innerhalb eines individuellen Lebens zu verstehen ist, spielten bei der Arbeit an dieser Biographie zu Shen Dingyi eine Rolle. Schoppa zieht daraus den Schluss: „Not to consider the cultural perspective is to commit the ,culture-bound‘ error of considering one’s own culture and worldview as the norm.“ Aber er betont auch, „culture and context are not everything: They do not necessarily determine the decisions and actions of a person.“62 In jedem Fall gilt es sich die kulturellen Unterschiede und den eigenen kulturell geprägten Standpunkt bewusst zu machen, um zu wissen, welche Fallen auf die Biographin lauern. Umfangreiche komparatistische Untersuchungen biographischer Traditionen sind dafür erst noch zu leisten. Globale Subjekte Biographische Darstellungen, die die kulturelle Prägung individueller Lebensläufe untersuchen und die einzelne Person in erster Linie als RepräsentantIn einer Kultur in einer bestimmten Zeitspanne sehen, laufen Gefahr, aus ihr einen Typus zu machen: Der jüdische Händler im Mittelalter, die englische Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts, der afrikanische Sklave in den USA des 19. Jahrhunderts, die deutsche Künstlerin in der Emigration, etc. Der individuelle Lebenslauf wird dann zum kollektiven und das Besondere am einzelnen Leben wird zum Typischen. Dieses Interesse liegt zumeist den biographischen Studien der Ethnologie und der Soziologie zu Grunde, findet sich aber auch in kollektivbiographischen Ansätzen bzw. in Zusammenstellungen von Biographien unter einem bestimmen Aspekt wieder.63 Das biographische Lexikon World Writers in English versammelt beispielsweise Kurzbiographien zu AutorInnen aus aller Welt, die auf Englisch schreiben und deren Lebensläufe in den meisten Fällen von der Überschreitung kultureller und sprachlicher Grenzen geprägt sind.64 Sie werden damit auch repräsentativ für so genannte globale Lebensläufe, für die es angesichts der verstärkten Globalisierungsprozesse des ausgehenden 20. Jahrhunderts und zunehmender weltweiter Migrationsströme ein ge62 Ebd., S. 49. 63 Zu soziologischer Biographieforschung sowie zu kollektiv- und gruppenbiographischen Ansätzen siehe Kapitel III in diesem Band. 64 Jay Parini (Hg.): World Writers in English. 2 Bde. New York, Detroit u. a. 2004.
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steigertes Interesse gibt, wie auch der von Bernd Hausberger herausgegebene Sammelband Globale Lebensl ufe zeigt. Hausberger stellt in seiner Einleitung fest, dass man gegenwärtig „auf die Beobachtung transgressiver und somit auch transnationaler Phänomene und Entwicklungen geradezu versessen“ zu sein scheint.65 Die vorgestellten Biographien nehmen die vielfachen Grenzüberschreitungen in den jeweiligen Lebensläufen in den Blick und werden damit diskursgeschichtlich, historiographisch und auch literaturgeschichtlich verortet. Die globalen Lebensläufe von so unterschiedlichen Personen wie Olaudah Equiano66, Elisa Alicia Lynch oder Leo Katz67 ließen sich auch anders und mit einer anderen Schwerpunktsetzung darstellen. Hier aber rücken sie in den Mittelpunkt des Interesses, da sie kulturelle Transferprozesse illustrieren und es ermöglichen, die „Folgen der Globalisierung, des Verlustes bzw. der (Re)konstruktion von Traditionen und der Entgrenzung oder mindestens drastischen Erweiterung der Lebenswelt für den Einzelnen“ zu untersuchen. Die Interaktionen des Einzelnen in wechselnden Norm- und Sozialsystemen lassen sich nachverfolgen, um so auch dessen Lebensstrategien und Handlungsmöglichkeiten in unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen zu rekonstruieren.68 Globale oder transkulturelle Lebensläufe haben eine große Strahlkraft, wie sich unter anderem im Verkaufserfolg der Romanbiographie Der Weltensammler von Ilija Trojanow zeigt, der er eine Darstellung des Lebens Sir Richard Francis Burtons in einer bibliophilen 65 Bernd Hausberger (Hg.): Globale Lebensl ufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen. Wien 2006, S. 23. 66 Olaudah Equiano wurde mit seiner Autobiographie The Interesting Narrative of the Life of Olaudah Equiano, or Gustavus Vassa, the African. Written by himself (1789) bekannt, in der er seine Lebensgeschichte von der Versklavung über die Befreiung aus der Sklaverei bis zu seinem öffentlichen Eintreten für deren Abschaffung erzählt. Vgl. Vincent Carretta: Equiano, the African. Biography of a Self-Made Man. London 2006. 67 Lynch und Katz werden auf der Webseite des Mandelbaum Verlags, in dem Globale Lebensl ufe erschien, wie folgt vorgestellt: „Elisa Alicia Lynch, 1835 in Irland geboren, lebte in vier Kontinenten, gilt als die bekannteste und umstrittenste Frau in der Geschichte des Landes Paraguay. Leo Katz, 1892 in der Bukowina geboren, Studium in Wien, Mitglied der KPÖ, Auslands-, dann Feuilletonredakteur und Autor in den USA, Frankreich, Deutschland, Mexico, 1936 – 38 Waffeneinkäufer für die Spanische Republik, stirbt 1954 in Wien.“ http://www.mandelbaum.at/books/761/6962 (Stand: 31.10.2008) 68 Hausberger: Globale Lebensl ufe, S. 21.
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und reich bebilderten Ausgabe unter dem Titel Nomade auf vier Kontinenten folgen ließ, die sich als globale Kulturgeschichte auf der Basis des Lebenslaufs dieses Reisenden, Abenteurers, Diplomaten, Übersetzers, Anthropologen, Geographen und Schriftstellers erweist.69 Das große Interesse an derartigen Lebensläufen wird auch von Exotismus und von der Faszination für scheinbar Fremdes, Unbekanntes und Unentdecktes gespeist und es ist fraglich, inwiefern eine solche Haltung tatsächlich zur Herausbildung einer interkulturellen Identität beiträgt. Sir Richard Francis Burton ist einer der Prototypen eines interkulturellen Mittlers und Kosmopoliten. Biographien solcher globaler Subjekte sind für die Kulturtransferforschung von besonderem Interesse, da sich an ihnen Transferprozesse exemplarisch darstellen lassen und sie zur Rekonstruktion der Netzwerke beitragen, die für Austausch und Vermittlung notwendig sind. Hans-Jürgen Lüsebrink nennt daher als Desiderat einer Untersuchung der so genannten histoire crois e oder shared history 70 auch biographische Studien, die „den Blick auf die Rolle von Individuen in Kulturtransferprozessen“71 neu perspektivieren. Er benennt zwei Typen interkultureller Lebensläufe, die es im Speziellen zu untersuchen gilt: Erstens den „Typus der durch verschiedene, intensive und langjährige interkulturelle Erfahrungen geprägten ,Migrantenbiographie‘“ und zweitens jenen „des reisenden ,interkulturellen Mittlers‘“.72 Eine komparative Untersuchung biographischer Repräsentationen von KosmopolitInnen oder von Personen, deren Leben durch unterschiedliche kulturelle Traditionen geprägt ist, ermöglicht es, Prozesse der Globalisierung zu verstehen. Madeleine Herren weist darauf hin, dass bisherige Überlegungen zu einer transnationalen oder internationalen Zivilgesellschaft in erster Linie Kollektive thematisieren, nicht aber Individuen. Sie macht die 69 Dies sind nur einige der zahlreichen Benennungen, die Trojanow seinem biographischen Objekt gibt. Vgl. Ilija Trojanow: Nomade auf vier Kontinenten. Auf den Spuren von Sir Richard Francis Burton. Frankfurt/M. 2007, S. 11. 70 Damit bezeichnet er „jene komplexen Verflechtungen zwischen Nationalgeschichten (oder national-kulturellen Systemen), die Kulturtransferprozesse erzeugt haben“. Hans-Jürgen Lüsebrink: „Kulturtransfer – neuere Forschungsansätze zu einem interdisziplinären Problemfeld der Kulturwissenschaften“. In: Ent-grenzte R ume. Hg. v. Mitterbauer u. Scherke, S. 23 – 41, hier S. 31. 71 Ebd., S. 33. 72 Ebd., S. 35. Als Beispiel für einen solchen interkulturellen Mittler nennt Lüsebrink Edmond de Nevers, zu seiner Biographie vgl.: Jean-Philippe Warren: Edmond de Nevers. Portrait d’un intellectuel (1862 – 1906). Montréal (Québec) 2005.
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„Spezifizität des globalen Subjekts“ mit dem Begriff der „Transgression“ analytisch zugänglich: Charakteristisch für das globale Subjekt sind mehrfache und vielfältige Grenzüberschreitungen. Eine Typologie des transgressiven Subjekts geht „von der Gleichzeitigkeit mehrfacher, territoriale, nationale, politische und soziale Ordnungsvorstellungen einbeziehender Grenzüberschreitungen“ aus. „Der biographische Ansatz erlaubt Internationalismus nicht nur als ein im 19. Jahrhundert entwickeltes, politisches Konzept zu erkennen, sondern als Lebensform der Grenzüberschreitung und damit als Beispiel für die Schwierigkeiten und Möglichkeiten transnationaler zivilgesellschaftlicher Aktivitäten.“73 Eine besondere Schwierigkeit in der biographischen Beschäftigung mit globalen Subjekten besteht laut Herren darin, „dass das charakteristische Merkmal dieser Biographie, nämlich deren globale Ausrichtung, gleichzeitig für dessen Unüberprüfbarkeit sorgt“.74 Von „Unüberprüfbarkeit“ zu sprechen, ist aus unserer Sicht nicht angebracht und erinnert an die Angst vor dem rätselhaften Fremden, das letztlich immer undurchschaubar bleibe und nicht zu verstehen sei. Biographien zu globalen Subjekten stellen aber zweifelsohne eine besondere Herausforderung dar, beispielsweise für die Fremdsprachenkompetenz eines Biographen oder hinsichtlich der Beschaffung von Quellen. Gerade in historischer Perspektive ist die Quellenlage aufgrund der nationalen Begrenzungen ihrer Produktion und Aufbewahrung schwierig.75 Die Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts ist in erster Linie national geprägt, was sich beispielsweise in der Sammeltätigkeit und Forschungsarbeit von Archiven und Bibliotheken niederschlägt, aus deren Material sich eine Biographie speist. Globale Subjekte gerieten daher eher in Vergessenheit, ihre Lebensdokumente verloren sich in den Grenzüberschreitungen ihrer Lebensläufe. Mitunter wurden ihre Lebensgeschichten aber auch in den Dienst nationalkultureller Selbstverständigung gestellt, wie das Beispiel Alexander von Humboldt zeigt. Sein Lebenslauf könnte den Prototyp einer kosmopolitischen Biographie darstellen, in der die Überschreitung nationaler oder kultureller Grenzen zum Programm erhoben und er als globales Subjekt dargestellt 73 Madeleine Herren: „Inszenierungen des globalen Subjekts. Vorschläge zur Typologie einer transgressiven Biographie“. In: Historische Anthropologie 13 (2005), S. 1 – 18, hier S. 17. 74 Ebd., S. 5. 75 Vgl. ebd., S. 6.
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wird.76 Humboldts Kosmopolitismus wird vor allem in jüngerer Zeit betont, doch die umfangreiche Biographik zu seiner Person erweist sich in historischer Perspektive dennoch als national geprägt. Zu verschiedenen Zeiten wurde er aus englischer, französischer, deutscher oder lateinamerikanischer Perspektive für patriotische und mitunter nationalistische Zwecke in den Dienst genommen, vom 19. Jahrhundert bis in die DDR-Zeit und darüber hinaus. Eine wichtige Rolle für Kulturtransferprozesse in der Biographik spielen Übersetzungen von bereits vorhandenen Biographien, die dann in einem anderen kulturellen Kontext als Basis weiterer biographischer Darstellungen dienen. Die erste Alexander von Humboldt-Biographie entstand nicht im deutschsprachigen Raum, sondern stammt von William MacGillivray, der 1831 The Travels and Researches of Alexander von Humboldt veröffentlichte, die 1859 zu The Life, Travels and Researches of Baron Humboldt wurden.77 Hermann Philipp Friedrich Klencke setzte Humboldt mit der ersten deutschsprachigen Biographie 1851 ein Denkmal, so der Untertitel.78 Juliette Bauer übersetzte sie ins Englische79 und nutzte sie zusammen mit Gustav Schlesiers Erinnerungen an Wilhelm von Humboldt für ihre Doppelbiographie Lives of the Brothers Humboldt, die mit drei Auflagen 1852, 1854 und 1870 als erfolgreich bezeichnet werden kann.80 Der Übersetzung von Klenckes Biographie folgten mehrere Bearbeitungen, wie etwa jene von F. A. Schwarzenberg81. Auf diese Weise erfuhr eine spezifische Lebensdarstellung zu Humboldt Verbreitung über die Grenzen des deutschsprachigen Raums hinaus und wurde zur Quelle einer Reihe biographischer Schilderungen.82 76 Vgl. Ottmar Ette: Alexander von Humboldt und die Globalisierung. Das Mobile des Wissens. Frankfurt/M. 2009. 77 William MacGillivray: The Travels and Researches of Alexander von Humboldt. Edinburgh 1831. Neuaufl.: The Life, Travels and Researches of Baron Humboldt. London, Edinburgh 1859. 78 Hermann Philipp Friedrich Klencke: Alexander von Humboldt. Ein biographisches Denkmal. Leipzig 1851. 79 Juliette Bauer: Alexander von Humboldt. A Biographical Momument. London 1852. 80 Juliette Bauer: Lives of the Brothers Humboldt. London 1852. 81 F. A. Schwarzenberg: Alexander von Humboldt; or What May be Accomplished in a Lifetime. London 1866. 82 Nicolaas Rupke: „Der Wissenschaftler als Nationalheld. Die deutsche Alexander von Humboldt-Biographik 1848 – 1971“. In: Wissenschaft und Nation in der europ ischen Geschichte. Hg. v. Ralph Jessen u. Jakob Vogel. Frankfurt/M., New York 2002, S. 168 – 186, hier S. 171.
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Die englische und die deutsche Humboldt-Biographik sind im 19. Jahrhundert zwar durchaus miteinander verwoben, verfolgten aber unterschiedliche Programme. Während von deutscher Seite Humboldt germanisiert und zum großen deutschen Schriftsteller erklärt wurde, legte man aus englischer Perspektive, vor allem bei MacGillivray, den Schwerpunkt auf seine Forschungsreisen und sah in ihm ein Vorbild, das für die eigenen imperialistischen Bestrebungen in Anspruch genommen werden konnte. In England betrachtet man Humboldt nicht als herausragenden Schriftsteller, sondern an seinen Texten wurde gerade die fehlende literarische Qualität bemängelt. Die Germanisierung Humboldts als großer Vertreter des deutschen Volkes zu einem Zeitpunkt, als die Nationswerdung 1871 erst bevorstand, ging auf Kosten seines frankophilen Hintergrunds und seiner auf Französisch verfassten Schriften, die ausgeblendet oder geringgeschätzt wurden. Als wichtigste Strategie der Verwurzelung des Reisenden und Entdeckers Humboldt in die deutsche Erde lässt sich der Vergleich mit Goethe feststellen, der immer wieder als Gradmesser der literarischen Qualität seiner Texte, allen voran des Kosmos, herangezogen wurde. Humboldt und sein wissenschaftliches Werk wurden „für die Definition einer nationalen Identität und Begründung einer deutschen Nation instrumentalisiert“, wie Nicolaas Rupke in seinem Überblick zur deutschen HumboldtBiographik vor 1871 abschließend feststellt.83 Zu beachten gilt es dabei auch die politische Position der Biographen, die im Fall von Humboldt dem linksliberalen Lager zugerechnet werden können, die in seinem Werk „die Verwirklichung der Ideale der gescheiterten Revolution von 1848“ zu sehen versuchten, indem sie ihn „zu einem Teil der Volksbildungsbewegung machten“.84 Nicolaas Rupke liefert mit seiner Darstellung des biographischen Diskurses zu Humboldt ein Modell für die Analyse der Funktion von Biographien in kulturellen Transferprozessen. Er weist zu Beginn seiner „Metabiography“ auf die „multiple identities“ Humboldts hin: „He has become a man with several lives, products of appropriation on behalf of geographically separate and chronologically successive socio-political cultures.“85 Daher verfasste er keine konventionelle Humboldt-Biographie, sondern beschäftigte sich mit den „representational approaches 83 Ebd., S. 186. 84 Ebd. 85 Nicolaas A. Rupke: Alexander von Humboldt. A Metabiography. Frankfurt/M., Berlin u. a. 2005, S. 16.
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employed by Humboldt’s biographers and with the embeddedness of these in the remembrance culture of any one period of political history“.86 Er benutzt damit das Verfahren einer „comparative biography“ und ist an den historisch und politisch bedingten Funktionalisierungen von Lebensgeschichten interessiert, die der Herstellung und Festigung der eigenen nationalen Identität dienen. Wie auch in den Sozialwissenschaften festgestellt wird, konstituieren sich Gesellschaften durch den Vergleich mit anderen Gesellschaften und die darauf basierende Abgrenzung voneinander. Der Kulturvergleich sei eine „stets unvermeidliche und lebensnötige Praxis aller Gesellschaften gewesen, weil diese mit- oder gegeneinander leben und stets miteinander rechnen müssen“.87 Daher sollte alles Augenmerk darauf gerichtet sein, wie sich die Bestimmung von Kulturen als ein wechselseitiger Prozeß der Fremd- und Selbstbestimmung mit Folgen für alle an ihm Beteiligten vollzieht, – in den Vorgängen des Vergleichens und Abgleichens in der Kulturbegegnung ebenso wie in den Bemühungen, solche Vorgänge ihrerseits zum Gegenstand der Betrachtung […] zu nehmen: im systematisch und methodisch betriebenen Kulturvergleich ,wissenschaftlicher‘ Provenienz.88
In der Kulturtransferforschung ist die Bedeutung des Kulturvergleichs als Voraussetzung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Transferprozessen umstritten. An Michel Espagnes Arbeiten wurde der Verzicht auf den Vergleich kritisiert und etwa von Seite des Historikers Johannes Paulmann eingemahnt, der auf der Notwendigkeit komparatistischer Verfahren beharrt, um überhaupt erkennen zu können, was bei einem kulturellen Transfer vor sich geht. Zu vergleichen gilt es beispielsweise die soziale Herkunft der VermittlerInnen und RezipientInnen, die Deutungen eines transferierten Textes oder Phänomens in unterschiedlichen Kontexten oder seine Bezeichnungen in den für den Transfer relevanten Sprachen.89 Auch die Sozialhistorikerin Christiane
86 Ebd., S. 18. 87 Friedrich H. Tenbruck: „Was war der Kulturvergleich, ehe es den Kulturvergleich gab?“ In: Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs. Hg. v. Joachim Matthes. Göttingen 1992, S. 13 – 35, hier S. 14. 88 Joachim Matthes: „,Zwischen‘ den Kulturen?“. In: Zwischen den Kulturen. Hg. v. Matthes, S. 3 – 9, hier S. 5. 89 Johannes Paulmann: „Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahr-
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Eisenberg mahnt den Vergleich als „Bindemittel der prozessorientierten Kulturtransferforschung“ ein.90 Sie schlägt einerseits eine Kontextanalyse vor, um „die Momentaufnahme der Kulturbegegnung […] systematisch mit Ereignissen und Entwicklungen in ihrer Umwelt in Beziehung“ zu setzen.91 Andererseits müsste die Dynamik kultureller Transfers untersucht und der Frage nachgegangen werden, welche Entwicklungen durch Transferprozesse in Gang gesetzt werden.92 Bislang gibt es sehr wenige Beispiele für vergleichende Biographien, die den genannten Anforderungen aus sozial- und geschichtswissenschaftlicher Perspektive gerecht werden. Rupkes ,Metabiographie‘ zu Alexander von Humboldt entspricht diesen am ehesten. Er zeigt, wie Humboldt immer wieder neu erfunden wurde: „Each period of political history has turned Humboldt into a hallowed, archetypal figure of its own.“93 Vergleicht man die verschiedenen Porträts Humboldts in unterschiedlichen Epochen und Kontexten miteinander, so zeigt sich, dass alle „the product of institutional cultures and embedded in changing sociopolitical contemporaneities“ sind. Eine Metabiographie hat daher in erster Linie zum Ziel „to explore the fact and the extent of the ideological embeddedness of biographical portraits, not to settle the issue of authenticity“.94 Dieser Ansatz entspricht auch dem Programm der von Richard Holmes vorgeschlagenen vergleichenden Biographik95, die der Tatsache Rechung trägt, dass jede Biographie eine von vielen möglichen Interpretationen eines Lebens ist. E. S. Shaffer sieht den Wert einer komparatistischen Perspektive in einem „supranational standpoint, overcoming, as with other intellectual and cultural history, the narrowly national interest“.96 Es werden dabei die unterschiedlichen 90
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hunderts“. In: Historische Zeitschrift 267 (Dez. 1998) H. 3, S. 649 – 685, v. a. S. 681. Christiane Eisenberg: „Kulturtransfer als historischer Prozess: ein Beitrag zur Komparatistik“. In: Vergleich und Transfer: Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften. Hg. v. Hartmut Kaelble. Frankfurt/M. 2003, S. 399 – 417, hier S. 416. Ebd., S. 407. Ebd., S. 409 f. Rupke: Humboldt, S. 210. Ebd., S. 214. Richard Holmes: „The Proper Study?“ In: Mapping Lives. The Uses of Biography. Hg. v. Peter France u. William St. Clair. Oxford, New York 2002, S. 7 – 18, hier S. 16. E. S. Shaffer: „Editor’s Introduction. Dances of life and death: comparative biography“. In: Lives of the Disciplines: Comparative Biography. Hg. v. E. S. Shaffer. Cambridge 2004, S. XV-XXIX, hier S. XVIII. Die Beiträge dieses
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ideologischen, politischen und historischen Positionen deutlich, von denen aus auf ein Leben geblickt und das entsprechend dieser kontextabhängigen Perspektive geformt wird. In den beiden folgenden Fallstudien wird ebenfalls ein metabiographischer Standpunkt eingenommen. Bei diesem Versuch einer vergleichenden Biographik über nationale Grenzen hinweg wird aber auch deutlich, welche Wirkung diese Grenzen haben. Die Biographien, die hier untersucht werden, entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und somit in einer Zeit, die zwei einander scheinbar widersprechende Entwicklungen erlebte: Einerseits verstärkten sich allerorten in Europa nationalistische Tendenzen und es bildeten sich die noch heute wirksamen nationalstaatlichen Konfigurationen heraus. Andererseits wird die Zeit zwischen 1850 und dem Ersten Weltkrieg „allgemein als eine Hochphase der Entstehung globaler Zusammenhänge und Strukturen betrachtet“.97 Diese Paradoxie ist auch für die Biographik dieser Epoche kennzeichnend, lässt sich doch einerseits am Beispiel des kulturellen Transfers zwischen dem deutschsprachigen und dem englisch- bzw. italienischsprachigen Raum an der Vielzahl an Biographien über Personen des jeweils anderen Sprach- und Kulturraums das verstärkte gegenseitige Interesse ablesen. Andererseits sind viele dieser Biographien von dem Bemühen um eine Abgrenzung des Eigenen vom Fremden geprägt, die nicht selten mit einer Aufwertung des Eigenen einhergeht.98
Sammelbandes sind interdisziplinär ausgerichtet und untersuchen biographische Darstellungen in verschiedenen Wissenschaftsfeldern. Der transkulturelle Aspekt bleibt allerdings bedauerlicherweise weitgehend ausgeblendet. 97 Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich. München 2006, S. 33. 98 Vgl. zur Funktion von Eigen- und Fremdbildern im britisch-deutschen Kontext auch Bernd Jürgen Wendt: „Einleitung“. In: Das britische Deutschlandbild im Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts. Hg. v. Bernd Jürgen Wendt. Bochum 1984, S. 7 – 36, hier S. 33 f.; im italienisch-deutschen Kontext vgl.: Angelo Ara u. Rudolf Lill (Hgg.): Deutsche Italienbilder und italienische Deutschlandbilder in der Zeit der nationalen Bewegungen (1830 – 1870). Trient 1991.
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Abgrenzung und Aneignung Deutsch-britische Transferprozesse in der Biographik des langen 19. Jahrhunderts
Hannes Schweiger Biographien können Indikatoren des Wettstreits um kulturelle Hegemonie sein, wie Hans-Martin Kruckis am Beispiel der Goethe-Biographik im 19. Jahrhundert überzeugend darstellt: Ausgerechnet ein Engländer, George Henry Lewes, beabsichtigte, die erste umfassende und die gesamte Lebenszeit umspannende Goethe-Biographie zu verfassen. „Die Sorge, ein wichtiges Territorium nicht rechtzeitig zu besetzen, treibt 1847 Heinrich Viehoff dazu, seine Goethe-Biographie in Angriff zu nehmen“, um zu verhindern, dass ein Engländer den Deutschen zuvorkommt.1 Das nationale Anliegen, das hinter einer Goethe-Biographie steht, rechtfertigt auch, dass dieses Vorhaben „im Bewußtsein eigener Unzulänglichkeiten und in einem Stadium noch völlig unzureichender Quellenerschließung“ umgesetzt wird.2 Viehoffs zwischen 1847 und 1854 erschienene 4-bändige Goethe-Biographie bleibt bis Anfang der 1880er Jahre die umfangreichste und am stärksten dem Mikrologischen verpflichtete.3 Gegen Lewes’ Biographie, die im englischen Original 1855 erschien und die sehr bald in mehrere Sprachen übersetzt wurde, formierte sich unter den deutschen Philologen eine Front der einhelligen Ablehnung. Kritisiert wurden unter anderem die angebliche Oberflächlichkeit, sachliche Fehler und „dreiste[…] Urteile“ über Goethe, die seine Biographie gerade für Lehrer unbrauchbar zu machen schien. Auch die sozialgeschichtliche Darstellung fand nicht das Wohlwollen der Kritiker, da beispielsweise die Schilde-
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Hans-Martin Kruckis: ,Ein potenziertes Abbild der Menschheit‘. Biographischer Diskurs und Etablierung der Neugermanistik in der Goethe-Biographik bis Gundolf. Heidelberg 1995, S. 207; vgl. a. Rosemary Ashton: G. H. Lewes. A Life. Oxford 1991, S. 149. Kruckis: Goethe-Biographik, S. 207. Ebd., S. 210.
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rung der Einkommensverhältnisse am Weimarer Hof „den provinziellen Charakter der deutschen Verhältnisse deutlich“ herausstellte.4 Die Kritik an Lewes berührt auch Fragen der kulturellen Differenzen hinsichtlich der Textsorte Biographie und des unterschiedlich ausgeprägten Wissenschaftsstils, wird doch beanstandet, dass er mit „auflockernd-poetisierende[n] Formulierungen“ die nüchterne Berichtssprache durchbricht. Gerade die „darstellerische Nonchalance“, das „gelegentlich anekdotenhafte Ausschweifen“ und sein „lebenspraktischer Blick (für die Kritiker Anzeichen von ,Flachheit‘)“ führten aber dazu, dass Lewes’ Biographie auch in Deutschland zu einem Publikumserfolg wurde.5 Auf seinen Deutschland-Reisen in den 1860er und 1870er Jahren wurde er daher als der Biograph ,unseres Goethe‘ gefeiert.6 Unlike the German professors who squabbled over details and demanded blind slavishness to Goethe’s perfection as man and writer, and equally unlike some of the tight-lipped English reviewers of the Life, who disapproved of both Goethe’s love affairs and Lewes’s frank discussions of them, Lewes showed himself free from prejudices. He admired and understood Goethe, and wrote about him in a way which was remarkable then and remains remarkable today.7
Die positiven Reaktionen auf Lewes frustrierten jene Philologen noch mehr, die darin auch die Begeisterung für alles Fremde durchschlagen sehen wollten. Sie bemängeln, dass einerseits Kritik an Viehoff und anderen deutschen Philologen geübt, andererseits aber ein Ausländer, der auf deren Schultern stehe und auf ihren Erkenntnissen aufbaue, gelobt werde.8 Lewes’ Erfolg dauert etwa zwei Jahrzehnte an und keine andere Goethebiographie kann mit der Popularität seiner Lebensdarstellung mithalten. Erst Goedekes Goethe’s Leben und Schriften (1874) erregt wieder mehr Aufmerksamkeit und zeichnet sich neben einer klaren Werkzentrierung durch eine stärkere Rückbindung Goethes an die deutsche Nationalgeschichte aus.9 Goedeke erfüllt aber nicht die in den Rezensionen formulierte Forderung, nicht nur eine faktenreiche, auf umfangreichen Recherchen basierende und philologisch korrekte Biographie vorzulegen, sondern auch etwas künstlerisch Wertvolles zu 4 5 6 7 8 9
Ebd., S. 214. Ebd., S. 215. Ashton: Lewes, S. 168. Ebd., S. 163. Kruckis: Goethe-Biographik, S. 215. Ebd., S. 218.
Abgrenzung und Aneignung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
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schaffen. Diese Forderung steht im Kontext der Herausbildung der nationalphilologisch orientierten Germanistik im 19. Jahrhundert. Das Desiderat einer Verbindung von wissenschaftlicher Forschung und künstlerischer Darstellung „gehört für die Goethe-Forschung in der Phase ihrer beginnenden universitären Etablierung zu den zentralen Gegenständen, an denen sie – zumindest verdeckt – ihr Selbstverständnis zu reflektieren hat.“10 Aus heutiger Sicht ist George Henry Lewes zusammen mit George Eliot und Thomas Carlyle eine der wichtigsten Vermittlungsinstanzen zwischen der englischsprachigen und der deutschsprachigen Literatur im 19. Jahrhundert, gerade auch im Kontext der Biographik. Auf deutschsprachiger Seite leistet neben Heinrich von Treitschke11 oder Julian Schmidt12 der Historiker, Philologe und Essayist Karl Hillebrand nicht nur als Vermittler zwischen England und Deutschland, sondern an den Knotenpunkten von vier Nationen und Kulturen (neben Deutschland und England auch Frankreich und Italien) wichtige Beiträge zur kulturellen Vernetzung. Geboren in Deutschland lebte er nach 1848 in Frankreich, später auch in England und Italien, schrieb auf Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch, sah in der Mittlertätigkeit zwischen den Sprachen und Nationalkulturen seine wichtigste Aufgabe und wurde damit zu einer wahrhaft europäischen Figur.13 Er schrieb neben literatur- und kulturgeschichtlichen Aufsätzen unter anderem Porträts zu einer Vielzahl von Gestalten wie etwa Petrarca, Montesquieu, Torquato Tasso, Daniel Defoe, Laurence Sterne oder Rahel Varnhagen. In seinem Porträt zu Charles Dickens stellt Hillebrand fast ausschließlich dessen Lebensgeschichte dar und vernachlässigt die Texte, da er als „Nicht-Engländer“ an ihnen „gar viel zu rügen“ habe: den Mangel aller Ökonomie; die Ungeschicklichkeit, mit welcher der Knoten meist geschürzt und gelöst wird; die Unwahrscheinlichkeit der 10 Ebd., S. 220. 11 Vgl. seine biographischen Aufsätze zu Lord Byron oder Milton in: Heinrich von Treitschke: Historische und politische Aufs tze. Bd. 1. 4. verm. Aufl. Leipzig 1871. 12 Vgl. Schmidts biographische Darstellungen zu Charles Dickens und Walter Scott in: Julian Schmidt: Bilder aus dem geistigen Leben unserer Zeit. Leipzig 1870, oder zu Lord Byron, Thomas Carlyle, Thackeray und Charles Kingsley in: Julian Schmidt: Portraits aus dem neunzehnten Jahrhundert. Berlin 1878. 13 Zu Hillebands Biographie vgl. Wolfram Mauser: Karl Hillebrand. Leben Werk Wirkung. Dornbirn 1960.
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Fabel; die Manier im Stil; die Äußerlichkeit der Komik; die fratzenhafte Übertreibung; die Unkenntnis des Gemüts- und Geisteslebens in den höhern Ständen und vieles andere, das sein unvergleichliches Genie manchmal verdunkelt. Wir wollen hier nur von dem Menschen sprechen, soweit er im Schriftsteller zutage tritt.14
Denn als Mensch sei Dickens eine beeindruckende Erscheinung, die von Hillebrand entsprechend gewürdigt wird. Hillebrand liefert seinen deutschsprachigen LeserInnen aber nicht nur eine Darstellung des individuellen Lebens eines bekannten Schriftstellers, sondern auch ein Kulturbild. Was er über Dickens schreibt, wird nicht nur für ihn geltend gemacht, sondern hochgerechnet auf die Engländer im Allgemeinen. Charakteristisch erscheinen ihm für Dickens wie für seine Landsleute: ein gesunder Menschenverstand (,common sense‘), Rationalismus, protestantische Gläubigkeit, Philanthropie sowie Ernsthaftigkeit im Beruf. Sein Porträt Miltons ist ebenfalls zugleich Charakteristik des Individuums als auch des englischen Nationalcharakters, der in seiner modernen Ausprägung seine Wurzeln in der Revolution des 17. Jahrhunderts habe, aus der die Engländer „starrer, enger, unliebenswürdiger“ hervorgegangen seien. Der Puritanismus habe nicht nur die künstlerische Seite des englischen Nationalcharakters erstickt, sondern sei auch für den ,Geniemord‘ an Milton verantwortlich. Hillebrand stellt Milton als untypischen Engländer dar: Der „hohe reine Idealist Milton“ sei zwischen „dem gesunden, lebenslustigen, humoristischen, sinnlichen, zur raschen Tat aufgelegten, klassisch gebildeten Engländer, und dem ernsten, trockenen, verständigen, tugendhaften und langweiligen ,Selfmade‘“ wie ein Fremder, der in seiner englischen Umgebung völlig isoliert ist. Anstatt aber wie Beethoven dieser Umgebung den Rücken zu kehren und vornehm allein in der Welt seines eigenen Inneren zu leben, lässt er sich verführen, teilzunehmen an dieser Gesellschaft und an den Leidenschaften, die sie bewegen. Weder er noch seine Kunde haben dabei gewonnen.15
Der in der kulturellen Umgebung Englands fremde Milton wird durch die Benennung als „Beethoven der Poesie“16 seinem englischen Kontext enthoben und mit einem Repräsentanten deutscher Kultur in Bezie14 Karl Hillebrand: Geist und Gesellschaft im alten Europa. Literarische und politische Portr ts aus f nf Jahrhunderten. Stuttgart 1954, S. 212. 15 Ebd., S. 81. 16 Ebd.
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hung gesetzt. Zugleich stellt Hillebrand als markanten Unterschied Beethovens Orientierung nach innen einerseits, Miltons Teilhabe an der Gesellschaft andererseits fest, ein Unterschied, der auf dem Ideal des nach innen gekehrten, ausschließlich mit seinem Werk beschäftigten Künstlers basiert. Es werden in diesen biographischen Darstellungen nicht nur Charakterisierungen Einzelner vorgenommen, sondern Bilder über die englische Kultur im Allgemeinen vermittelt und verbreitet. Eines der beliebtesten Objekte der deutschsprachigen Biographik des 19. Jahrhunderts über Persönlichkeiten englischer Herkunft war Lord Byron, über den bis heute insgesamt rund 200 Biographien vorliegen. Er wurde neben Shakespeare zum größten Dichter Englands erklärt, wobei gerade sein Lebenslauf eine besondere Faszination ausübte und das Interesse an ihm vor allem ein biographisches war.17 Für die deutsche Biographik spezifisch ist, dass sie Byron häufig zum germanischen Übermenschen stilisierte und er gerade von den deutschen Nationalisten in besonderem Maße verehrt wurde.18 Wie im Fall Goethes war umgekehrt der erste Byron-Biograph kein Engländer, sondern der deutsche Wilhelm Müller, der zwar zu seiner Zeit bekannt und der Verfasser der von Schubert vertonten volkstümlich-romantischen Lyrik war; seine Byron-Biographie wurde allerdings von späteren Biographen kaum mehr erwähnt. Die Richtung weisende und das deutsche Byron-Bild nachhaltig prägende Biographie stammt von Karl Elze aus dem Jahr 1870, eine mit wissenschaftlicher Akribie verfasste Arbeit, die den Schwerpunkt auf das Leben, nicht auf das Werk legt, das dennoch die zentrale Motivation für die Biographie darstellte.19 In seiner Studie zu den deutschen Byron-Biographien kommt Georg Tannheimer zu dem Ergebnis, dass nationale Typisierungen häufig und unhinterfragt vorkommen und die Definition der deutschen wie der britischen Kultur durch Vergleich und Abgrenzung erfolgt. Oft wird die geographische Lage Englands als Insel am Rande Europas als Metapher „für Bewegungsunfreiheit, für gesellschaftliche und geistige Enge“ eingesetzt, die „das Bild vom Internationalismus oder großen Geist Byrons“ unterstützt.20 Wilhelm Müller stellt Byrons Entwicklung zum 17 Frank Erik Pointner u. Hans Geisenhanslüke: „The Reception of Byron in the German-Speaking Lands“. In: The Reception of Byron in Europe. Bd. II: Northern, Central and Eastern Europe. Hg. v. Richard A. Cardwell. London, New York 2004, S. 235 – 268, hier S. 237. 18 Ebd., S. 240. 19 Georg Tannheimer: Die deutschen Byrons. Biographien. Hamburg 2001, S. 74. 20 Ebd., S. 230 f.
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Individualisten und Freiheitshelden als kontinuierlich und vor dem Hintergrund der negativ geschilderten englischen Institutionen dar. Erst durch die Auseinandersetzung mit den ,verkrusteten Strukturen‘ englischer Schulen und Universitäten wurde aus Byron der Individualist und Einzelkämpfer, wobei das deutsche Bildungssystem im Vergleich mit dem englischen als modern und fortschrittlich erscheint. Georg Brandes sieht in seiner 1876 veröffentlichten Darstellung im Kontext seiner Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts in Byron den freien Menschen, nicht den freien Engländer, und betont damit den über die nationalen Grenzen hinauswachsenden Menschen. Er instrumentalisiert ihn nicht für eine nationalistische Agenda und macht aus ihm einen globalen Schriftsteller. Byrons nationale Ungebundenheit ist laut Brandes auch für die große Wirkung bei Schriftstellern verschiedener Nationen verantwortlich.21 Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch wird Deutschland aufgrund seiner geistigen und moralischen Freiheit, wie es wiederholt heißt, als zweite Heimat Byrons gesehen und vom durch geistige Unfreiheit, Autoritätsglauben und Dogmatismus geprägten England abgehoben. Besonders deutlich wird dies in Karl Elzes 1870 erschienener Biographie.22 Im Gegensatz dazu zeigt sich Karl Bleibtreu in Byron, der Uebermensch (1897) als Freund Englands, der in Byron einen typischen Engländer sieht und zugleich die Deutschen nicht über die Engländer stellt, da beide derselben Rasse angehören würden. Bleibtreus Huldigung des englischen Nationalcharakters und seine Interpretation Byrons als germanischer Typus hinterlassen in den nur wenige Jahre darauf folgenden Biographien keine Spuren. Im Kontext des Diskurses über globale Subjekte ist Bleibtreus Studie insofern bemerkenswert, als er gerade im typisch englischen Charakter Byrons ein über die Grenzen zwischen Großbritannien und Deutschland verbindendes Element sieht. Bei Richard Ackermann (1901) finden sich ebenfalls keine Anzeichen von Englandfeindlichkeit. Er stellt lediglich fest, dass Byrons „Geist und dessen Kultus“ in England von 1830 bis Ende der 1860er Jahre „unterdrückt wurde, bis schließlich ein großartiger Rückschlag eintrat“ und auch in Byrons Heimat sein Rang als geniehafter Künstler erkannt und 21 Paul Holzhausen: „Lord Byron und seine deutschen Biographen“. In: Die Rezeption Byrons in der deutschen Kritik (1820 – 1914). Eine Dokumentation. Mit einer Byronbibliographie (1820 – 1914) von Brigitte Glaser. Hg. v. Günther Blaicher. Würzburg 2001, S. 63 – 78, hier S. 72. 22 Vgl. Tannheimer: Die deutschen Byrons, S. 237 f.
Abgrenzung und Aneignung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
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anerkannt wurde.23 So wie Brandes sieht Ackermann in Byron eine Figur, deren Bedeutung nicht mit nationalen Zuschreibungen zu fassen ist und bezeichnet ihn demgemäß als „Herold der Weltlitteratur“, „der dem modernen europäischen Denken und der europäischen Demokratie einen mächtigen Impuls verlieh“.24 Trotz der Unterschiede hinsichtlich des Englandbildes ist allen Biographien eine negative Darstellung der englischen Kirche und ihrer Anhänger gemeinsam, gegen deren moralische Rigidität Byron anzukämpfen hatte. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wandelt sich das England-Bild in den Byron-Biographien zu einem positiveren, was zum einen an der größeren Distanz zu Byrons Lebenszeit und zum anderen an der zunehmend anglophilen Atmosphäre in kulturellen Kreisen in Deutschland liegt. „Wie bei der Beurteilung englischer Schulen und Universitäten liefern die Deutschen jedoch generell eine Demonstration eigener nationaler Überlegenheit. Typisch Englisches kann in der Regel nicht besser sein als typisch Deutsches.“25 Georg Tannheimer stellt in seiner Analyse der deutschen Byron-Biographien fest, dass das Urteil der Biographen über England von ihrer zeitlichen Distanz, den politischen Verhältnissen und wirtschaftlichen Beziehungen, vor allem aber von der Würdigung bzw. fehlenden Würdigung Byrons in England abhängt.26 Die Beziehung zwischen dem Urteil über England und der jeweiligen Byron-Konstruktion ist weniger eindeutig. Im Falle Wilhelm Müllers und Eduard Engels geht „mit der Zertrümmerung Englands […] die Errichtung der Heldenstatue Byrons einher, ebenso wie die Selbstbeweihräucherung der Deutschen, die Byron zu einem der ihren machen“. Bleibtreu stellt mit seinem Englandenthusiasmus eine Ausnahme dar, der „das Hohelied auf die englische Rasse mit der Konstruktion seines ,Übermenschen‘“ verbindet. Abgesehen von Bleibtreu stellen alle Biographen die Überlegenheit Deutschlands gegenüber England fest. „Deutschland ist besser als England. Deutsche Schulen, deutsche Universitäten, deutsches Denken, deutscher Glaube, deutsche Moral und deutsche Sitte sind vorbildhaft oder zumindest den englischen Entsprechungen vorzuziehen“ – so der Grundtenor der meisten Biographien. Daher hat die „Darlegung deutscher Superiorität […] Vorrang vor der konsequenten Konstruktion eines Byron“; er wird in den Dienst 23 24 25 26
Ackermann: Byron, S. 158. Ebd. Ebd., S. 245. Vgl. ebd., S. 255.
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nationaler Selbstverständigung und der Konstruktion einer deutschen Nationalkultur in Abgrenzung zur unterlegenen englischen genommen.27 George Eliot: Eine Kulturvermittlerin als nationaler Typus George Eliot ist als Romanautorin, Essayistin und Übersetzerin eine der wichtigsten KulturvermittlerInnen des 19. Jahrhunderts, deren Leben und Werk sowohl im englischsprachigen als auch im deutschsprachigen Raum wiederholt Gegenstand literaturwissenschaftlichen und biographischen Interesses war. Wie wird ihre kulturelle Identität in der Biographik des ausgehenden 19. Jahrhunderts angesichts dieser vermittelnden Position konstruiert? Welche Prozesse nationalkultureller Selbstverständigung durch Abgrenzung und Aneignung lassen sich in der Eliot-Biographik feststellen? Welche Funktion schreiben die BiographInnen selbst ihren Lebensdarstellungen zu? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der folgenden Diskussion deutschsprachiger und englischsprachiger Eliot-Biographien vor dem Hintergrund des Diskurses über nationalkulturelle Identität und über das Verhältnis zwischen englischer und deutschsprachiger Kultur.28 George Eliot ist „die größte Dichterin, welche England erzeugt hat“, stellt der Anglist und spätere Shakespeareforscher Hermann Conrad zu Beginn seiner 1887 erschienenen und umfangreichsten deutschsprachigen Eliot-Biographie fest. Eliot sei zwar in Deutschland keineswegs unbekannt, genieße aber nicht so große Popularität wie Walter Scott, Charles Dickens, William Makepeace Thackeray und Edward Bulwer-Lytton. Daher beabsichtigt Conrad, neue LeserInnen für sie zu gewinnen. Für diesen Zweck scheint ihm eine Biographie die am besten geeignete Form; eine Biographie, die sich allerdings nicht auf eine Darstellung des Lebenslaufes beschränkt, sondern die Mitte hält zwischen „einer protokollmäßig-nüchternen Aufzählung der Vorgänge, die den Kenner langweilt, und dem nackten kritischen Verfahren“ einer
27 Ebd., S. 256. 28 Für einen sehr guten Überblick zu den zahlreichen englischsprachigen EliotBiographien vgl. Jan Je˛drzejewski: George Eliot. London, New York 2007, S. 97 – 119.
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Analyse der Werke.29 Conrad will in seiner Biographie neben einer kritischen Würdigung des Werkes Eliots den LeserInnen auch Einblicke in das Leben der Autorin bieten. Leben und Werk bilden für ihn eine Einheit und über eine Beschreibung des Lebens sollen potenzielle LeserInnen leichter Zugang zum Werk der fremdsprachigen Autorin finden. Die Biographie fungiert damit als Vermittlungsmedium, als Mittel der Werbung für eine Autorin, die gerade unter den nicht Englisch Lesenden noch zu wenig verbreitet sei. Ernst von Wolzogen, dessen biographisch-kritische Studie in der Reihe der „Charakterbilder aus der Weltliteratur des neunzehnten Jahrhunderts“ 1885 erscheint, schließt seinen Text ebenfalls mit der Hoffnung, „George Eliot neue Bewunderer zuzuführen und ihrer so segensreichen Philosophie der Sympathie recht viele Herzen zu öffnen“.30 Diese Philosophie der Sympathie findet sich laut Wolzogen sowohl in Eliots Leben als auch in ihren Texten verwirklicht. Im Gegensatz dazu ist die Diskrepanz zwischen Eliots Leben und Werk für die Anglistin Helene Richter einer der Gründe, warum eine biographische Darstellung wichtig erscheint. Schließlich würden zwar ihre Frauenfiguren altmodisch wirken, ihr Leben selbst war es allerdings ganz und gar nicht. „Man kann Lord Acton nur beistimmen, wenn er den interessantesten von George Eliots Charakteren ihren eigenen und das interessanteste ihrer Bücher ihren Lebenslauf nennt.“31 Sucht man nach Beispielen für moderne emanzipierte Frauen, die als Vorbilder dienen könnten, seien ihre Romane wenig aufschlussreich, ihre Lebensgeschichte hingegen sei dies sehr wohl. Eliot lebte moderner als ihre Figuren, so Helene Richter in einem ihrer fünf 1907 veröffentlichten Aufsätze zur Autorin, zu denen auch ein „Charakterbild“ gehört. In einer Vorbemerkung dazu weist sie auf die „Unvollständigkeit des vorliegenden biographischen Materials“ als Ursache ihrer „Beschränkung auf biographische Bruchstücke“ hin. Richter betont das „Anrecht auch auf ihr persönliches Leben“, jetzt, da sie der Weltliteratur angehört. Durch „völliges und hüllenloses Bloßlegen“ ihres pri-
29 Hermann Conrad: George Eliot. Ihr Leben und Schaffen dargestellt nach ihren Briefen und Tageb chern. Berlin 1887, S. VI. 30 Ernst von Wolzogen: George Eliot. Eine biographisch-kritische Studie. Leipzig 1885, S. 228. 31 Helene Richter: George Eliot. F nf Aufs tze. Berlin 1907, S. 124.
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vaten Lebens könne Eliot nur „an edler Menschlichkeit“ gewinnen, weshalb eine vollständige Öffnung des Nachlasses notwendig wäre.32 Schon unmittelbar nach ihrem Tod lässt sich im deutschsprachigen Raum ein starkes Interesse an George Eliot und ihrer Biographie feststellen. Zwei Jahre nach der ersten englischen Eliot-Biographie von Mathilde Blind 1883 erscheint Ernst von Wolzogens biographischkritische Studie, zeitgleich mit der dreibändigen, von ihrem letzten Ehemann John Walter Cross zusammengestellten Biographie George Eliot’s life as related in her letters and journals, in der Tradition der Life and Letters-Biographien des viktorianischen Zeitalters.33 Ebenfalls 1885 werden Helene von Druskowitz’ Studien Drei englische Dichterinnen mit einem langen biographisch-kritischen Porträt zu Eliot34 sowie in der Deutschen Rundschau die auf Biographie und Werk Bezug nehmende Skizze der Kulturvermittlerin Lady Blennerhassett veröffentlicht.35 Es folgt 1887 Hermann Conrads George Eliot. Ihr Leben und Schaffen dargestellt nach ihren Briefen und Tageb chern, das sich weitgehend an Cross orientiert und schon im Titel diese Biographie als Vorbild kennzeichnet. Damit wird auch deutlich, dass die deutschsprachigen Eliot-BiographInnen der ersten Stunde nicht auf ein Studium der Quellen aufbauen und auch nicht, wie Blind, Cross oder Oscar Browning, auf einer direkten persönlichen Verbindung zum biographischen Subjekt, sondern nur ihre Texte einerseits und englische Biographien andererseits für ihre Darstellung heranziehen. Auch Lina Morgenstern widmet sich Eliot in ihrer dreibändigen Sammlung von Kurzbiographien unter dem programmatischen Titel Die Frauen des 19. Jahrhunderts. Biographische und culturhistorische Zeit- und Charactergem lde und ordnet sie neben Harriet Beecher-Stowe oder Elizabeth Barrett Browning in den Kanon der großen Frauengestalten ein.36 Morgensterns prosopographisches Werk enthält Darstellungen zu Künstlerinnen, Sängerinnen, Schauspielerinnen, Komponistinnen, Schriftstellerinnen, Naturwissenschaftlerinnen, Medizinerinnen, Unternehmerinnen, Pädagoginnen etc. und eröffnet 32 Ebd., S. III. 33 John Walter Cross: George Eliot’s Life as Related in Her Letters and Journals. Arranged and Edited by Her Husband, J. W. Cross. 3 Bde. Edinburgh, London 1885. 34 Helene Druskowitz: Drei englische Dichterinnen. Essays. Berlin 1885. 35 Lady Blennerhassett: „George Eliot“. In: Deutsche Rundschau Bd. 44 ( Juli, August, September 1885), S. 362 – 384. 36 Lina Morgenstern: Die Frauen des 19. Jahrhunderts. Biographische u. culturhistorische Zeit- und Charactergem lde. Berlin 1889.
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damit ein breites Panorama weiblicher Lebensgeschichten. Zu nennen ist noch Hedwig Benders George Eliot. Ein Lebensbild (1894) in der „Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge“.37 Hermann Conrad nimmt gleich zu Beginn seiner biographischkritischen Studie eine Verortung Eliots im eigenen kulturellen Koordinatensystem vor. Dass sie nicht in dem Maße im deutschsprachigen Raum bekannt sei, wie es ihrer Bedeutung entsprechen würde, sei um so bedauerlicher, als sie durch ihr Dichten das echt germanische Gemüts-Bedürfnis nach poetischer Verklärung des alltäglichen Lebens in bisher unerreichtem Maße befriedigt hat; der überwiegenden Zahl ihrer Werke nach ist George Eliot eine Art von Fritz Reuter, in psychologisch unendlich vertiefter Manier.38
Eliot wird dem potenziellen Publikum ihrer Texte als eine Autorin angepriesen, die einem spezifisch ,germanischen‘ Lesebedürfnis entgegenkomme und dieses auf eine Art zu befriedigen verstehe, die auch von den Deutschen selbst noch nicht erreicht wurde. Ihr lag allerdings in Wahrheit nichts an einer ,poetischen Verklärung des Alltags-Lebens‘ und eine solche Sicht auf ihre Texte sagt daher mehr über den Biographen als über die Biographierte aus. Dem deutschsprachigen Lesepublikum wird mit Fritz Reuter ein Referenzpunkt in der eigenen Kultur angeboten, das Fremde wird dem Eigenen angenähert, mit dem Eigenen verglichen und auf diese Weise auch leichter rezipierbar. Damit findet auch eine doppelte Bewegung von De- und Rekontextualisierung statt, wie sie Peter Burke als charakteristisch für kulturellen Austausch sieht. Die transferierten Elemente werden „den Bedürfnissen des Entleihenden angepasst“, auch wenn dies nicht bedeutet, dass sie völlig aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgerissen und entwurzelt werden.39 Fritz Reuter ruft im Lesepublikum des ausgehenden 19. Jahrhunderts das Bild eines in seiner Region verankerten Autors auf, der mit den Schlüsselwörtern Humor und Heimatkunst charakterisiert werden kann. Seine Texte beziehen sich auf das ostniederdeutsche Lebensumfeld und zeichnen sich aus der Sicht Gustav Freytags, der für die Rezeption Reuters lange Zeit bestimmend war, durch die Verklärung des Alltagslebens vor allem der ,unteren‘, kleinbürgerlichen Bevölkerungs37 Hedwig Bender: George Eliot. Ein Lebensbild. Hamburg 1893 (= Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, N.F., Ser. 8, H. 170) 38 Conrad: Eliot, S. V. 39 Peter Burke: Kultureller Austausch. Frankfurt/M. 2000, S. 13.
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schichten aus.40 Durch den Vergleich mit Fritz Reuter wird auch Eliot als Regionalschriftstellerin positioniert, deren Texte sich durch Lokalkolorit auszeichnen, ohne dabei nur auf die Darstellung einer bestimmten Region beschränkt zu bleiben. Ihr wird von Conrad allerdings eine wesentlich stärker ausgeprägte psychologisierende Darstellung ihrer Figuren zugestanden, als dies bei Reuter der Fall ist. Hermann Conrad legt dem deutschsprachigen Publikum George Eliot als Autorin ans Herz, die ,germanischen Gemütsbedürfnissen‘ entspreche, ist aber zugleich darum bemüht, in ihr einen nationalen Typus zu zeigen und sie als repräsentativ für die englische Kultur darzustellen – vor allem, wenn es um ihre Urteile und Kommentare zur deutschsprachigen Literatur geht. In seiner einleitenden Behauptung, Eliot sei „die größte Dichterin, welche England erzeugt hat“, wird deutlich, dass er das Individuum als Produkt seiner national bestimmten Herkunft sieht. Wenn Helene Richter meint, Eliot wurzle „mit ihrem Geist und Gemüt im Boden der Heimat“, so hebt sie zwar damit auch die Prägung durch die englische Heimat hervor, die Verankerung in der eigenen, regionalen Umgebung, sie geht aber nicht so weit wie Conrad, sie als Repräsentantin eines englischen Nationaltypus zu sehen.41 Conrad würdigt zwar Eliots Verdienste als Vermittlerin deutscher Kultur in England, räumt aber ein, dass sie als englische Dichterin nicht imstande sei, eine fremde Kultur angemessen zu verstehen und zu beurteilen. Denn „Persönlichkeiten, die als nationale Typen gelten können, werden zur richtigen Beurteilung fremder Nationalitäten wenig tauglich sein“. Aufgrund ihrer eindeutigen kulturellen Verortung sei ihr Blick beschränkt und so habe sie „einseitig, ja kritiklos den Wert der englischen Leistungen auf geistigem Gebiete den Deutschen gegenüber erhoben“.42 Conrad geht von einer klaren Abgrenzung zwischen Nationen und spezifischen Stammes-Charakteren aus, wobei seine Kritik an Eliots Aufsätzen zur deutschen Literatur und Kultur auf eine Auseinandersetzung um den Anspruch kultureller Vorherrschaft hinausläuft, überspitzt formuliert auf einen Wettstreit der deutschen mit der 40 Vgl. zur Rezeption Reuters: Wolfgang Beutin: Der Demokrat Fritz Reuter. Hamburg 1995, v. a. S. 30 f. 41 Richter: Eliot, S. 1. 42 Conrad: Eliot, S. 112. Auf Conrads Kritik an Eliot kann hier inhaltlich nicht näher eingegangen werden. Für eine differenzierte Darstellung ihrer Rezeption deutschsprachiger Literatur und Philosophie vgl. Rosemary Ashton: The German Idea: Four English Writers and the Reception of German Thought 1800-1860. Cambridge 1980, S. 147 – 177.
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englischen Kultur. Eliot habe sich zwar intensiv mit deutscher Kultur beschäftigt, beschränke sich aber doch weitgehend auf drei Autoren: Lessing, Schiller, Goethe. Eine solche Kenntnis erhebt sie zwar über das Gros ihrer Landsleute, die nichts von der deutschen Litteratur wissen, in die Reihe der 50 bis 100 Höhergebildeten, die etwas von ihr wissen; berechtigt sie aber nicht im entferntesten zu einem Urteil über die deutsche Litteratur. Wenn sie dennoch ein Urteil gefällt hat, so hätte es höchstens zufällig richtig sein können, ist aber in Wirklichkeit, wie zu erwarten, schief und unrichtig ausgefallen.43
Ihre Feststellung, Deutschland habe keinen großen Komödiendichter und keinen großen Satiriker hervorgebracht, pariert er mit der Gegenattacke, England könne auch auf keine großen Satiriker vom Range eines Molière oder Cervantes verweisen. Shakespeare sei „keine naturgemäße, naturnotwendige Evolution des englischen Volksgeistes“ und daher könne er in diesem kulturellen Wettstreit nicht in Stellung gebracht werden. Im Unterschied zu Eliot selbst sei er kein nationaler Typus, sondern „ein Naturwunder“, das alle und alles überragt.44 Wie sehr Conrad mit nationalkulturellen Zuschreibungen arbeitet, die vor dem Hintergrund eines Wettstreits um die kulturelle Vormachtstellung vorgenommen werden, zeigt sich auch in anderen Teilen seiner Biographie. Im Kapitel zu Mill on the Floss kommt Conrad auf das Germanische in Eliots Denken zu sprechen, das in ihrem sittlichen Empfinden liege, welches er scharf gegenüber dem Einfluss aus dem Französischen abgrenzt: „Das sind freilich Anschauungen, die bei den rapiden Fortschritten welscher Infektion auf künstlerischem und sittlichem Gebiet heute auch manchen deutschen Kreisen schon veraltet vorkommen werden.“45 Eliot wird zum moralischen Bollwerk gegen den zersetzenden Einfluss moderner französischer Kultur, in der Conrad nur Verwerfliches und Dekadentes zu erkennen vermag. Seine Abwehr gegen alles Französische lässt ihn auch einen – für Eliot zweifellos untypischen – Text wie „The Lifted Veil“ ablehnen, in dem sich Eliot viel zu nahe an den Naturalismus eines Zola begebe. „Der Eindruck dieser Geschichte ist ähnlich demjenigen, welchen ein dreitägiger Londoner
43 Conrad: Eliot, S. 128. 44 Ebd., S. 129. 45 Ebd., S. 219.
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Nebel macht: man würde in Verzweiflung geraten, wenn er noch viel länger währte.“46 Mit seiner Eliot-Biographie partizipiert Conrad an einem Diskurs nationalkultureller Rivalitäten, der von Anziehung und Abgrenzung gleichermaßen geprägt ist. Im Laufe des 19. Jahrhunderts intensiviert sich der deutsch-englische Wissens- und Kulturtransfer, gleichzeitig sind diese Transferprozesse auch vom zunehmenden Konkurrenzverhältnis der beiden Nationen auf politischem, ökonomischem und auch kulturellem Gebiet geprägt, vor allem nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871. Conrad schreibt Stereotype über England und seine Kultur fort, zeigt Eliot als eine typisch englische Schriftstellerin, die in ihrer Kultur tief verwurzelt ist und sich daher trotz ihrer vielfachen Bemühungen nur schlecht als Vermittlerin zwischen den beiden Kulturen eignet. Auch wenn sie als nationaler Typus aus seiner Sicht die deutsche Kultur nicht angemessen zu verstehen und einzuschätzen wisse, sei sie gerade als repräsentative englische Schriftstellerin biographiewürdig und für das deutschsprachige Publikum von Interesse. So wie Conrad schreibt auch Ernst von Wolzogen George Eliot mit seiner biographisch-kritischen Studie in den Diskurs des nationalen Wettstreits ein, allerdings mit einem ganz anderen Ergebnis. Aus seiner Sicht geht England als Siegerin daraus hervor, genauer gesagt: Es sind die englischen Schriftstellerinnen, die ihren deutschen Kontrahentinnen überlegen sind. Der Grund dafür liege in der englischen Mädchenerziehung, die sich markant von der deutschen unterscheide, lasse sie doch eine viel freiere Entwicklung zu: Leider sind es unsere deutschen Damen, welche das größte Contingent zu der komischen Spezies der Blaustrümpfe stellen, während England eine stattliche Reihe hochbedeutender Schriftstellerinnen ins Feld zu führen hat, die jene beliebten Theorien über das Weib und die Grenzen seines geistigen Vermögens über den Haufen zu werfen verstanden. Während krankhafte Empfindelei, hohles Pathos, unverdautes Wissen und gänzliche Abwesenheit des künstlerischen Sauerteiges Humor die Durchschnittsprodukte der meisten deutschen Damen immer noch höchst unerquicklich und vor dem Richterstuhl des gesunden Menschenverstandes lächerlich machen, so zeigt der Durchschnitt der englischen ,Fiction‘ zum mindesten doch liebevolle und scharfe Beobachtung des realen Lebens ( jene dem Engländer angeborene ,shrewdness‘), eine rege Phantasie, die aber nur mit Gegebenem arbeitet, und oft sogar einen köstlichen, gesunden Humor. Die Bildung der englischen Mädchen ist sicherlich nicht besser als die der deutschen, im Allgemeinen sogar noch weit oberflächlicher; aber die 46 Ebd., S. 240.
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englische Erziehung ist gesünder. Wie die englische Frau sich schon seit langer Zeit einer weit größern Achtung und Unabhängigkeit erfreut, als die continentalen Europäerinnen, so wächst auch das Mädchen in größerer Ungebundenheit auf und wird, trotz der schrecklichen Plage des Sonntags, zu größerer Freude am Dasein gewöhnt, als das deutsche.47
Er reklamiert damit zwar für die eigene deutsche Bildung und Kultur wesentlich mehr geistigen Tiefgang, das englische Mädchen lerne aber, weniger zimperlich zu sein, mache knabenhaften Sport, und es lerne, „eher die Augen aufmachen und die Dinge sehen wie sie sind; läßt unverzagt das Leben an sich kommen und versucht ihm die beste und nützlichste Seite abzugewinnen“. Nach der Wolzogens Ausführungen zugrunde liegenden Typologie des Männlichen und des Weiblichen, die er in ihrer stereotypen Zuspitzung zwar kritisiert, die aber dennoch leitend für seine Unterscheidung der englischen von den deutschen Frauen ist, kann das englische Mädchen aufgrund der Erziehung auch männliche Attribute entwickeln und ausleben. Für Eliot wie für die Engländerin allgemein sei kennzeichnend, dass sie sich dank ihres „geistigen Muthes […] mit durchaus männlicher Consequenz auf ein Studium zu werfen vermag“ und nicht nachlasse, bis sie ihr selbst gestecktes Ziel erreiche.48 Nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Wissenschaft waren die englischen Frauen daher die ersten, die herausragende Leistungen vorweisen konnten. Wolzogen nennt hier Elizabeth Barrett Browning, Edith Sommerville, Mary Cowden Clarke (gemeinsam mit ihrem Mann Charles) oder Harriet Martineau, die zudem politisch sehr aktiv war. In Wolzogens Darstellung der kulturellen wie wissenschaftlichen Überlegenheit englischer Frauen über ihre deutschen Pendants wird George Eliot stellvertretend für ihre Landsfrauen zum „Inbegriff alles dessen, was über die landläufige Vorstellung ,vom Weibe‘ himmelweit hinausreicht, ohne den Begriff edelster Weiblichkeit je zu verletzen“. Er sieht in George Eliot eine Schriftstellerin, „die an Gedankentiefe, seelischer Intuition, unbedingter Objektivität, Wissen und Klassizität des Ausdruckes alles je und irgendwo von Frauen literarisch Produzirte in den Schatten stellt und die überhaupt in der Geschichte der Novellistik eine der ersten Stellen einnimmt“.49 Wolzogens Biographie liefert damit die Lebensbeschreibung einer Frau, die aufgrund ihrer national ge47 Wolzogen: Eliot, S. 3 f. 48 Ebd., S. 4. 49 Ebd., S. 5.
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prägten Erziehung so wie viele ihrer Landsfrauen herausragende kulturelle Leistungen zu erbringen vermochte und daher den deutschen Geschlechtsgenossinnen als Vorbild dienen soll. In ihrem Überschreiten der gängigen Vorstellungen vom Frausein, in ihrer Transgression der Geschlechtergrenzen, liegt für ihn ihre Bedeutung als Gegenstand der biographischen Darstellung, abgesehen vom literarischen Wert ihrer Texte. Die spezifisch englische Erziehung macht Wolzogen auch für ihren Realismus verantwortlich, den er als einen typischen Zug der englischen Literatur sieht. Gerade im realistischen Erzählen würden englische Schriftstellerinnen herausragende Leistungen erbringen. Wenngleich Wolzogen von den großen Leistungen Eliots und anderer englischer Schriftstellerinnen schreibt und die deutschsprachigen Autorinnen des 19. Jahrhunderts in seiner Einschätzung wesentlich schlechter abschneiden, zeigt sich auch in seiner Darstellung das Rivalitätsdenken mitunter in Form der Rede von der Größe deutscher Kultur: Aus Wolzogens Sicht hat die Kultur der deutschen Klassik, die Eliot während ihres Aufenthalts in Weimar 1854 kennen lernte, entscheidenden Einfluss auf ihre Literatur: „Es ist sehr wohl möglich, daß sie sich durch den Hauch einer glorreichen literarischen Vergangenheit, welcher sie in Weimar umwehte, sowie durch den Verkehr mit deutschen künstlerischen Freunden zuerst zu eigener Production angeregt fühlte.“50 Er macht jedoch auch auf die Bedeutung ihrer Beziehung zu Lewes für ihre literarischen Arbeiten aufmerksam: Ihm seien ihre Werke im Grunde zu verdanken, „denn er war es, der sie auf die stärkste Seite ihres Talentes, die sie, wie fast alle großen Genien, lange verkannte, aufmerksam machte, der ihr Selbstvertrauen zu kräftigen, ihre Phantasie und ihre Freude am Schaffen stets munter zu erhalten wußte“.51 Den Biographen oder die Biographin treibt einerseits das Bedürfnis nach Innovation in der eigenen Kultur an, weshalb er oder sie die fremdsprachige Autorin als Vorbild geltend macht. Andererseits wird aber auch das Motiv der nationalen Identitätsbehauptung in den biographischen Darstellungen sichtbar. Katharina Scherke zufolge sind diese beiden Motive von zentraler Bedeutung in Kulturtransferbeziehungen zwischen Gruppierungen, die als grundsätzlich ranggleich wahrgenommen werden. Innovation spielt als Motiv aber auch eine wesentliche Rolle beim Transfer von rangniedrigeren zu ranghöheren 50 Ebd., S. 24. 51 Ebd., S. 17.
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Gruppierungen.52 Im Falle der deutschsprachigen Eliot-Biographien Ende des 19. Jahrhunderts wird die Frage des kulturellen Rangunterschieds zwischen Deutschland und England selbst zum Gegenstand der biographischen Darstellung, vor allem bei Wolzogen und Conrad. Deren Ausführungen zu kulturellen Unterschieden dienen unabhängig von ihrer spezifischen Einschätzung des Stellenwerts der englischen und der deutschen Kultur der Konstruktion der eigenen wie auch der fremden kulturellen Identität. Kultur wird von ihnen national bestimmt und ist damit an den Nationalstaat gebunden. Sie fungieren mit ihren Biographien zwar als KulturvermittlerInnen und stehen in den Überlappungsbereichen der beiden Kulturen, gleichzeitig schreiben sie kulturelle Grenzen fest, die gerade in einer Zeit des verstärkten Nationalismus an nationale Grenzziehungen gebunden sind. Diese Grenzen werden in Texten wie beispielsweise den hier besprochenen Biographien verhandelt und immer wieder neu gesetzt und definiert. Auch in der englischsprachigen Eliot-Biographik Ende des 19. Jahrhunderts spielen kulturelle Rivalitäten eine Rolle, im Fall von Mathilde Blinds 1883 erschienener Lebensdarstellung – der ersten zu Eliot – ist allerdings nicht Deutschland der Gegner im Kampf um die kulturelle Hegemonie, sondern Frankreich. Sie beginnt ihre Biographie mit einem Zitat aus Eliots Essay „Woman in France: Madame de Sablé“53, in dem diese „the palm of intellectual pre-eminence“ den Französinnen verleiht. „Shall we be forced to admit that the representative women of England cannot justly be placed on as high a level?“54, fragt Blind und hält Eliots These von der intellektuellen Überlegenheit der Französinnen Namen wie Queen Elizabeth, Jane Austen oder Elizabeth Browning entgegen. Allen voran Eliot selbst sei „a triumphant refutation“ ihrer These. Blind stellt daher die rhetorische Frage: „[W]ill any one deny that, in the combination of sheer intellectual power with an unparalleled vision for the homely details of life, she takes precedence of all writers of this or any other country?“55 Ein Vergleich zwischen Eliot und George Sand vermittelt auch eine Vorstellung von den Un52 Katharina Scherke: „Kultureller Transfer zwischen sozialen Gruppierungen“. In: Ver-r ckte Kulturen. Zur Dynamik kultureller Transfers. Hg. v. Federico Celestini u. Helga Mitterbauer. Tübingen 2003, S. 108 – 113. 53 George Eliot: Selected Essays, Poems and Other Writings. Hg. v. A. S. Byatt u. Nicholas Warren. London 1990, S. 8 – 37. 54 Mathilde Blind: George Eliot. London 1883, S. 4. 55 Ebd., S. 5.
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terschieden zwischen Frankreich und Großbritannien, jeweils repräsentiert durch eine herausragende Schriftstellerin: George Sand is impassioned, turbulent, revolutionary, the spiritual daughter of Rousseau, with an enthusiastic faith in man’s future destiny. George Eliot, contemplative, observant, instinctively conservative, her imagination clearly loving to do ,a little Toryism on the sly‘, is as yet the sole outcome of the modern spirit in imaginative literature – the sole novelist who has incorporated in an artistic form some of the leading ideas of Comte, of Mazzini, and of Darwin.56
Eliot zeichnet sich in dieser Gegenüberstellung dadurch aus, dass sie neuere wissenschaftliche und philosophische Entwicklungen in ihre Literatur aufzunehmen verstand und damit im Vergleich zu George Sand als die fortschrittlichere Autorin erscheint. Auch W. H. D. Adams, der sich unter anderem auf Mathilde Blind als Quelle beruft, nimmt in seiner biographischen Darstellung aus dem Jahr 1884 Bezug auf Eliots Lob der französischen Frauen. Der Autor gesteht diesem Urteil eine gewisse Berechtigung zu, was das 18. Jahrhundert betrifft, im 19. Jahrhundert allerdings könne man auf eine Vielzahl an englischen Schriftstellerinnen verweisen, die als gleichrangig mit jeder französischen Autorin angesehen werden können – mit Ausnahme von George Sand. Aber „her equal we find in George Eliot herself“. Das 19. Jahrhundert habe in England große Fortschritte gebracht, was die intellektuelle Entwicklung der Frau betrifft, weshalb „our representative Englishwomen on a level with the noblest and best of representative Frenchwomen“ stehen. Eliot erhält unter den Frauen, die die englische Kultur und ihre Fortschritte repräsentieren, eine herausragende Stellung.57 Angeregt durch Eliots eigenen Vergleich zwischen den Leistungen englischer und französischer Autorinnen wird sie in englischen Biographien Ende des 19. Jahrhunderts in den kulturellen Wettstreit zwischen England und Frankreich eingeschrieben, mit dem Ziel, sie als eine der wichtigsten Vertreterinnen englischer Kultur darzustellen und damit zugleich deren Wert zu steigern. Dabei erweisen sich Biographien auch als Mittel der Kanonisierung, ein Prozess, für den Vergleiche mit bereits etablierten AutorInnen, sei es der eigenen, sei es der fremden Kultur, eine wichtige Funktion haben.
56 Ebd., S. 7 f. 57 W. H. D. Adams: Celebrated Englishwomen of the Victorian Era. London 1884, S. 223.
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Im Gegensatz zum Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschenden nationalistischen Programm zielt Lina Morgenstern auf eine internationalistische Perspektive ab. Die deutsche Schriftstellerin, Frauenrechtlerin und Sozialaktivistin – Gründerin von Kindergärten und Volksküchen – veröffentlichte zwischen 1888 und 1891 ihre dreibändige Sammlung „exemplarischer Lebensläufe nonkonformistischer Frauen, die sich für Frauenrechte und eine Veränderung gesellschaftlicher Strukturen einsetzten“58. Mit ihren Kurzbiographien zog sie, wie es im Nachwort heißt, hervorragende Frauen aus allen Gebieten an’s Licht, um deren Einfluß zu zeigen, als Menschenerzieherinnen, als Trägerinnen der Frauenbewegung zur sittlichen und geistigen Erhebung, als Pflegerinnen des häuslichen und Familienlebens, als humanitäre Schöpferinnen und Mitarbeiterinnen gemeinnütziger und wohltätiger Anstalten, als Förderinnen der Kunst und Wissenschaft, selbstschaffend und die Werke der Meister verbreitend.59
Morgenstern beabsichtigt im Sinne ihrer emanzipatorischen Anliegen einen internationalen Kanon von Frauen zu schaffen, die durch ihre Leistungen auf unterschiedlichen Gebieten Ausnahmeerscheinungen darstellen und Vorbildwirkung haben sollen. Eliot wird von Morgenstern nicht um ihres Lebenslaufes, sondern nur um ihrer schriftstellerischen Leistungen willen in diesen Kanon aufgenommen. Auffällig ist, dass Morgenstern Eliots Verbindung mit Lewes nicht gutheißt, obwohl sie sich gerade damit als Frau den Moralvorstellungen und auch den Gesetzen ihrer Zeit widersetzte und das Exempel eines nonkonformistischen Lebens abgeben könnte. Aus Morgensterns Sicht hat ihre Verbindung mit Lewes und mit Cross Eliot als ein „schwaches Weib“ erkennen lassen. Die starke Frau hätte, so die implizite Idealvorstellung, zugunsten ihrer geistigen Arbeit ihrem Verlangen nach der Nähe eines Mannes nicht nachgegeben: „Wie auch die Verteidigungsgründe George Eliots […] lauten mögen, sie werden uns nur belehren, daß sie ein schwaches Weib war, trotz aller Geistesstärke und Größe des Denkens, ein schwaches Weib mit dem dringenden Verlangen, sich an eine männliche Kraft anzulehnen, um zärtliche Sorge für sich walten zu 58 Nina von Zimmermann: „Zu den Wegen der Frauenbiographikforschung“. In: Frauenbiographik. Lebensbeschreibungen und Portr ts. Hg. v. Nina von Zimmermann u. Christian von Zimmermann. Tübingen 2005, S. 17 – 32, hier S. 20. 59 Morgenstern: Frauen des 19. Jahrhunderts, S. 384.
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Hannes Schweiger
sehen.“60 Nur die starke und unabhängige Frau kann aus Morgensterns Sicht als Vorbild dienen. Anders als bei Helene Richter gewinnt Eliot in Morgensterns Darstellung mit Blick auf ihr Leben nicht „an edler Menschlichkeit“.61 Lina Morgensterns biographische Sammlung fungiert wie Biographien allgemein als Mittel der Bekanntmachung und Kanonisierung. Sie liefert Porträts von Persönlichkeiten, deren Lebensläufe aus der Sicht der Biographin Vorbildcharakter haben sollen. Entscheidend ist vor dem Hintergrund des an Wolzogen und Conrad sichtbar gewordenen Identitätsdiskurses die internationalistische Perspektive Morgensterns, deren Sammlung biographische Porträts von Frauen aus Deutschland, England, Schweden, Frankreich, Russland, den USA und anderen Ländern enthält. Im Rahmen von Morgensterns Projekt tritt Eliots Identität als englische Schriftstellerin in den Hintergrund zugunsten der Etablierung eines übernationalen Kanons weiblicher Vorbilder. Damit stellt sie in der Eliot-Biographik der Jahrhundertwende eine Ausnahme dar, ist diese doch geprägt von nationalkulturellen Zuschreibungen und Stereotypisierungen, die im Wettstreit um die kulturelle Vormachtstellung der Abgrenzung dienen. Gerade George Eliot hätte ein hervorragendes Beispiel für eine Schriftstellerin abgegeben, die durch ihre eigene Vermittlungstätigkeit und ihre intensive Rezeption deutschsprachiger Literatur und Philosophie nationale Grenzen überschritten hatte. An den Darstellungen ihrer Lebensgeschichte zeigt sich aber exemplarisch, wie Biographien Teil eines Diskurses sind, der von nationalkulturell bestimmten Vorstellungsmustern geprägt ist – und dies nicht nur im 19. Jahrhundert. Literaturverzeichnis Adams, W. H. D.: Celebrated Englishwomen of the Victorian Era. London 1884. Ashton, Rosemary: G. H. Lewes. A Life. Oxford 1991. Ashton, Rosemary: The German Idea: Four English Writers and the Reception of German Thought 1800-1860. Cambridge 1980. Bender, Hedwig: George Eliot. Ein Lebensbild. Hamburg 1893 (= Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, N.F., Ser. 8, H. 170) Beutin, Wolfgang: Der Demokrat Fritz Reuter. Hamburg 1995. 60 Ebd., S. 329. 61 Richter: Eliot, S. III.
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Internationaler Nationalismus Überlegungen zur deutsch-italienischen Biographik im 19. Jahrhundert
Deborah Holmes Spätestens seit Winkelmanns archäologischen Forschungen und Goethes Italienischer Reise spielt Italiens Geschichte und Kultur eine wichtige Rolle im Werdegang vieler deutschsprachiger Intellektueller und Künstler. Die Bearbeitung bzw. Aneignung italienischer Vorbilder beeinflusste Literatur, Musik und Bildende Kunst, wobei längere Italienaufenthalte als nahezu unerlässlich für eine abgerundete Bildung galten. Im frühen 19. Jahrhundert wurden jedoch die deutsch-italienischen Kulturbeziehungen von einem deutlichen Ungleichgewicht geprägt: Italien wurde hauptsächlich als Kunstutopie und Ziel einer Reise in die Vergangenheit, selten aber als politisches Gegenwartsphänomen wahrgenommen. Goethe und seine Nachfolger legten dabei das Hauptgewicht auf das Klassische und die Antike, die Romantiker hingegen auf das Mittelalter.1 Diese Situation änderte sich erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts, vor allem nach dem Revolutionsjahr 1848: Laut Jens Petersen, akribischer Chronist dieser Beziehung, beschäftigte die Frage nach der Zukunft Italiens die deutschsprachige Öffentlichkeit in den Jahrzehnten zwischen 1840 und 1870 „in hohem Maße“, nicht zuletzt weil sie „vitaler Bestandteil des preußisch-österreichischen Dualismus“ war.2 Italiens geglückte Vereinigung im Jahre 1861 war dennoch gewissermaßen eine Überraschung, selbst für die besten deutschen Italienkenner: Das zeitlose, südliche Bildungsreiseparadies entpuppte sich anscheinend als politisch-nationaler Vorreiterstaat.
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Vgl. Wilhelm Emrich: „Das Bild Italiens in der deutschen Dichtung“. In Studien zur deutsch-italienischen Geistesgeschichte – Studi italiani 3 (1959), S. 21 – 45; Jens Petersen: „Alfred von Reumont und Italien“. In Italienbilder – Deutschlandbilder. Gesammelte Aufs tze. Hg. v. Christoph Dipper, Jens Petersen u. Wolfgang Schieber. Köln 1999, S. 9 – 34. Petersen: „Reumont“, S. 22 f.
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Es kostete vielen Kommentatoren sichtlich Mühe, sich von den rückwärtsgewandten Traditionen der deutschsprachigen Italienrezeption zu lösen. Die vielen deutschsprachigen (Kunst-)Historiker und Kulturjournalisten, die sich in ihrer Heimat als Vermittler italienischer Kultur positionierten, standen vor neuen Herausforderungen. Wie konnten sie ihr historisches Interesse an Italien und ihre bisherige Expertise mit dessen plötzlichem Eintritt in das Zeitalter des modernen Nationalstaates vereinbaren? Wie war der komplexe Prozess der Vereinigung gesellschaftlich, kulturell und politisch zu verstehen, wo war er in die italienische bzw. europäische Geschichte einzuordnen? Und wie sollten jetzt die deutschsprachigen Länder und Kulturen zu Italien stehen? Das deutsch-italienische Verhältnis war bereits zuvor von einer seltsamen Widersprüchlichkeit geprägt: Italia wurde als Kunstland und historische Größe gepriesen, zu der die minder kultivierten nordischen Besucher pilgern mussten, um ihre eigene Kultur zu bereichern. Auf der anderen Seite wurde der schönen Fremden eine sonderbar passive Rolle zugeschrieben: Die deutschen Besucher waren die aktiven Wissenschafter, die Schriftsteller oder Künstler, die produktiv waren und sich inspirieren ließen. Es wurde oft angemerkt, dass die Italiener scheinbar nicht in der Lage waren, die eigene Kultur zu schätzen oder die eigene Geschichte zu erforschen, eine Annahme, die von italienischer Seite teils dankend angenommen, teils mit Empörung abgelehnt wurde.3 Dazu kam die deutsche Gewohnheit, italienische Lebensweisen und Infrastruktur von oben herab als altmodisch, unorganisiert und südländisch nachlässig zu betrachten.4 Für den Austausch zwischen deutscher und italienischer Kultur waren daher einander überlagernde Unterlegenheits- und Überlegenheitskomplexe charakteristisch, die im Lichte der italienischen Vereinigung neu auszuhandeln waren. Italien hatte die deutschsprachigen Gebiete auf dem Feld des Fortschritts anscheinend ,geschlagen‘ und einige forderten nun den Vergleich, wo zuvor nur die Betonung der Gegensätzlichkeit das Gebot der Stunde gewesen war.5 Im Nachwort zu Viktor Hehns einflussreicher Abhandlung Italien. 3 4 5
Vgl. Otto Weiss: „La ,scienza tedesca‘ e l’Italia nell’Ottocento“. In Annali dell’Instituto storico italo-germanico in Trento 9 (1983), S. 9 – 85. Vgl. Christina Ujma: Fanny Lewalds urbanes Arkadien. Studien zu Stadt, Kunst und Politik in ihren italienischen Reiseberichten aus Vorm rz, Nachm rz und Gr nderzeit. Bielefeld 2007, hier S. 207 – 209. Fanny Lewald war eine der ersten, die Italien als mögliches Vorbild für Deutschland hochhielten. Vgl. Ujma: Fanny Lewalds urbanes Arkadien, S. 212 – 214.
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Ansichten und Streiflichter (1866, 9 Auflagen bis 1909) konstatierte der Autor zum Beispiel, die Zeit „träumerischer Versenkung in die Vergangenheit“ wäre vorbei, jetzt müssten sich Italien und Deutschland „gegenseitige Ermunterung auf dem schwierigen Wege der Wiedergeburt“ leisten.6 Diese Zeit der Umbrüche und der Umorientierung gab der Biographie wichtige neue Impulse. Das Genre trug wesentlich zur Schaffung eines Pantheons nationaler Helden bei und wurde zugleich von diesem beeinflusst. Dank der zu dieser Zeit raschen Entwicklung der Kommunikations- und Verkehrstechnologie, erlangten diese Figuren auch internationalen Ruhm; im zweiten Teil dieser Fallstudie werde ich insbesondere die deutschen Biographien des italienischen Generals Giuseppe Garibaldi untersuchen, dessen Charisma und militärisches Geschick im italienischen Vereinigungsprozess von zentraler Bedeutung waren. Neben solchen Beispielen für medienwirksamen kulturellen Transfer lassen sich subtilere und schrittweise transkulturelle Prozesse beobachten, die die Geschichtsschreibung und die deutsche Biographik revolutionierten und bis weit in das folgende Jahrhundert hinein prägten. Diese Prozesse können in zwei Hauptströmungen zusammengefasst werden, die scheinbar sehr verschieden voneinander sind, jedoch wichtige Gemeinsamkeiten aufweisen: einerseits ein neues Streben nach Objektivität auf der Grundlage von dokumentarischer Forschungsarbeit, wie es sich im Werk von Leopold Ranke niederschlägt; andererseits Theorien des herausragenden Individuums, des ,Renaissance-Menschen‘, der später zu Nietzsches ahistorischem Übermenschen und in der deutschen Biographik der Jahrhundertwende prägend wurde.7
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Zit. nach Titus Heydenreich: „Politische Dimensionen im literarischen Italienbild: die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts“. In: Deutsche Italienbilder und italienische Deutschlandbilder in der Zeit der nationalen Bewegungen (1830 – 1870) / Immagini a confronto: Italia e Germania dal 1830 all’unificazione nazionale. Hg. v. Angelo Ara u. Rudolf Lill. Trient 1991, S. 283 – 295, hier S. 286. Vgl. Roger Paulin: „Adding Stones to the Edifice: Patterns of German Biography“. In: Mapping Lives. The Uses of Biography. Hg. v. Peter France u. William St Clair. Oxford 2002, S. 103 – 114, hier S. 105; vgl. auch: Luca Farulli: „Nietzsche und die Renaissance: Die Reflexion über Grenze und Grenzüberschreitung“. In: Renaissance und Renaissancismus von Jacob Burckhardt bis Thomas Mann. Hg. v. August Buck. Tübingen 1990, S. 54 – 70.
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„Makler der deutschen Geschichtsschreibung“:8 Der Biograph Alfred von Reumont in Italien Der junge Leopold Ranke verbrachte seine Lehrjahre in den 1830er Jahren in Italien und sah darin später den Grundstein seiner Berufung zum Historiker. Im Besonderen wurde er von Italiens Reichtum an Archivmaterial und historischen Quellen dazu angeregt, seine Methode der Quellenkritik (in Italien bekannt als ,metodo tedesco‘) zu entwickeln, die der dokumentarischen Beweiskraft des Partikularen und Individuellen den Vorzug gegenüber großen geschichtlichen Entwürfen gab.9 Ihr Einfluss lässt sich in vielen biographischen Darstellungen des späten 19. Jahrhunderts erkennen, in denen die Wiedergabe von Briefen und anderen Originaldokumenten eine zunehmend wichtige Rolle spielte. Aus Rankes Sicht trafen in Italien jene Kräfte zusammen (im wörtlichen und im übertragenen Sinn), die die antike und die moderne Geschichte Europas prägen sollten. Die italienischen Fürstentümer waren für ihn eine Schaubühne, auf der die „romanischen und germanischen Völker“ ihre gegensätzlichen kollektiven Persönlichkeiten auslebten.10 Der Diplomat und Historiker Alfred von Reumont (1808 – 1887), von seiner Zeit in Florenz an ein Freund und Bewunderer Rankes, wurde im 19. Jahrhundert einer der produktivsten deutschen Experten für italienische Angelegenheiten und verbrachte den Großteil seines Berufslebens in Italien. Er führte Rankes Betonung der Primärquellen, der erzählenden Geschichtsschreibung und der internationalen politischen Beziehungen fort und legte dabei sein Hauptaugenmerk auf die Förderung der Beziehungen zwischen den beiden Kulturen. Kurz nach seinem Tod wurde Reumonts Lebenswerk wie folgt beschrieben: [S]eine Schriften [erscheinen] als ein großes Werk, das die Gestalten Deutschlands und Italiens, sich die Hände reichend, als Titelvignette tragen könnte. […] Lange, ehe ein Deutsches Reich und ein Königreich Italien sich bilden konnten, war er ein Gesandter deutschen Geistes und deutscher Wissenschaft bei der italienischen Nation, und von den tausend und tausend Fäden, aus denen das feste Band zwischen den beiden großen be-
8 Petersen: „Reumont“, S. 17. 9 Ebd., S. 15. 10 Vgl. Johannes Süssmann: Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserz hlungen zwischen Schiller und Ranke 1780 – 1824. Stuttgart 1998, S. 228 f.
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freundeten Völkern zusammengewebt ist, wird immer eine beträchtliche Zahl auf Alfred v. Reumont zurückleiten.11
Reumont wandte verschiedene Strategien an, um zwischen den beiden Kulturen zu vermitteln: Er gab das literarische Periodikum Italia (Berlin, 1838 – 1840) heraus, verfasste eine dreibändige Geschichte Roms (Berlin, 1867 – 1870), übersetzte italienische Literatur und stellte eine Bibliographie zusammen, die die jüngsten deutschsprachigen Bücher und Aufsätze zu Italiens Kunst, Geschichte und Politik enthielt. Von seiner ersten Veröffentlichung an, der Lebensbeschreibung des italienischen Malers Andrea del Sarto (Leipzig 1835), war jedoch das zentrale Medium seiner sorgfältig geplanten und ebenso durchgeführten Vermittlungstätigkeit die Biographie. Er verfasste eine Vielzahl monographisch angelegter Biographien über historische italienische Figuren, die zunächst auf Deutsch erschienen und dann häufig ins Italienische übersetzt wurden. Die Forschung hat sich mit dem Historiker Reumont zwar auseinandergesetzt, seine Biographien wurden allerdings keiner neuerlichen kritischen Betrachtung unterzogen, obwohl viele davon die ersten wissenschaftlichen Darstellungen zu den Biographierten waren und häufig noch heute als Standardwerke betrachtet werden.12 Ungewöhnlich für seine Zeit war, dass er über beinahe gleich viele weibliche wie männliche Figuren schrieb und dass seine Arbeit sowohl in Deutschland als auch in Italien als Pioniertätigkeit gelten kann, beispielsweise Die Jugend Caterina’s de Medici (Berlin, 1854), ein Text, der populär genug war, dass er in einer zweiten und erweiterten Auflage erscheinen konnte. (La giovent di Caterina de’ Medici; übers. v. Stanislao Bianciardi). Ein bewusster, schulmeisterlicher Zugang zu kultureller Vermittlung ist für Inhalt und Stil der historischen Biographien Reumonts 11 Hermann Hüffer: „Reumont, Alfred von“. In Allgemeine Deutsche Biographie 28 (1889), S. 284 – 294, hier S. 293. Reumont selbst behauptete, er liebe sowohl Italien als auch Deutschland „con amor patrio“ und sah seine Rolle als kultureller „Dolmetscher“. Alfred von Reumont: Saggi di storia e letteratura. Florenz 1880, S. V. 12 Siehe die kurze Darstellung zu Reumonts Biographie über Andrea del Sarto in Karin Hellwig: Von der Vita zur K nstlerbiographie. Berlin 2005, S. 72 – 74. Für eine Bibliographie zu Reumont als Historiker siehe Mauro Moretti: „Alfred von Reumont e Karl Hillebrand. Primi appunti per un’indagine su personaggi e temi di una mediazione culturale“. In Deutsches Ottocento. Die deutsche Wahrnehmung Italiens im Risorgimento. Hg. v. Arnold Ersch u. Jens Petersen. Tübingen 2000, S. 161 – 186, hier S. 162 – 164.
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charakteristisch. Er formuliert seine Agenda, die Arbeit italienischer Schriftsteller und Historiker zu korrigieren und zu ergänzen, im Vorwort zu seiner ersten Biographie und setzt sie bis zu seinen Spätwerken konsequent um. Andrea del Sarto beginnt mit einer vernichtenden Kritik, nicht nur von Vasaris Vite dei pittori – sie werden als größtenteils fiktiv abgetan und seien voller bedeutungsloser Ausschmückungen13 –, sondern auch der Ungenauigkeiten der kurz zuvor erschienenen Biografia universale (Venedig, 1830). Reumont übt außerdem Kritik an seinem Zeitgenossen Luigi Biadi, der gerade die Notizie inedite della vita d’Andrea del Sarto raccolte da manoscritti e documenti autentici (Florence, 1830) herausgebracht hatte. Zwar lobt er Biadis Fleiß hinsichtlich des Sammelns und Verarbeitens von Beweismaterial, kommt aber zu dem Schluss, dass Quellensammeln allein nicht genug ist: „[S]eine Arbeit […] würde freilich noch nützlicher sein, wäre der Verf. mit mehr Kritik und Kenntniß der Geschichte jener Zeit dabei verfahren.“14 Bislang ist Reumont zufolge noch niemandem eine zufriedenstellende Alternative zu Vasari, eine „Umgestaltung des Ganzen“15, gelungen, die del Sartos Leben in seinem historischen Kontext darstellen würde. Reumont gibt sich zwar in seinem Vorwort den Konventionen gemäß bescheiden, lässt aber letztlich keinen Zweifel daran, dass seine eigene Methode einen längst fälligen Neubeginn darstelle und eine Charakterschilderung des Malers ebenso liefere wie die erste zuverlässige Chronologie und den ersten Versuch einer Katalogisierung aller Werke del Sartos. Vor allem in diesem Katalog sieht er einen wichtigen ersten Schritt, um del Sarto auch nördlich der Alpen bekannter zu machen. Dies ist zwar die einzige explizite Bezugnahme auf sein deutsches Lesepublikum, der Ton des Vorworts und seine offene Kritik an der italienischen (Kunst-)Geschichtsschreibung legt allerdings eine kulturelle Hierarchie fest, die in Einklang mit dem traditionellen Muster einer Gegenüber13 Obwohl Reumont zugibt, dass Vasari in del Sartos Fall verlässlicher ist als in anderen, rümpft er dennoch die Nase, war doch Vasari del Sartos Schüler: „[M]an würde sich sehr täuschen, wenn man deshalb in seiner Arbeit eine vollständige und genaue Geschichtserzählung oder Schilderung der Werke dieses Meisters zu finden erwartete; bei näherer Prüfung ergeben sich so manche Irrthümer und Lücken, eine solche Flüchtigkeit und Ungenauigkeit in den Zeitbestimmungen, daß man davon auf andere Theile der ,Vite dei pittori‘ […] nicht eben zu ihren Gunsten schließen kann.“ Alfred von Reumont: Andrea del Sarto. Leipzig 1835, S. VIIf. 14 Ebd., S. IX. 15 Ebd., S. VIII.
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stellung von organisatorischer und intellektueller Überlegenheit auf Seiten der Deutschen und künstlerischer und kultureller Überlegenheit der Italiener steht. Dieses Grundmuster findet sich in den Einleitungen zu vielen der Biographien Reumonts wieder, beispielsweise auch in seinem späten Werk Vittoria Colonna. Leben, Dichten, Glauben im XVI. Jahrhundert (Freiburg, 1881, auf Italienisch in Turin 1883 veröffentlicht): Vittoria Colonna ist die hervorragendste Erscheinung in der italienischen Frauenwelt der letzten vier Jahrhunderte. […] Ihre Geburt, ihre Geschichte, ihre Stellung, ihre Umgebung steigern das Interesse, welches namentlich die Jetztwelt ihr entgegenbringt. Dennoch weiß man, abgesehen von den wichtigsten Thatsachen, wenig von ihr in weiteren Kreisen, und bis auf die jüngste Zeit scheint man in ihrem eigenen Vaterlande nicht daran gedacht zu haben, ihr inneres Leben im Zusammenhang mit den gewaltigen geistigen Bewegungen ihres Jahrhunderts eingehender Betrachtung zu unterziehen.16
Reumonts Ziel war es daher, nicht nur deutschsprachigen Lesern die Geschichte und Kultur Italiens näher zu bringen, sondern auch den Italienern selbst.17 Zweifellos waren deutsche historiographische Methoden im Italien des 19. Jahrhunderts einflussreich und es gibt zahlreiche Indizien dafür, dass es so manchem italienischen Historiker ein Bedürfnis war, von seinem deutschen Gegenüber zu lernen.18 Nichtsdestotrotz lässt sich in Reumonts didaktischer Haltung ein gewisser Überlegenheitsgestus erkennen, der sich aus langlebigen nationalen Stereotypen sowie aus seinen eigentümlichen Interpretationen des italienischen Volksgeistes und seiner Rolle in Europa herleitet. Deutlich lässt sich dies an seinen Biographien über italienische Zeitgenossen zeigen, die nicht ins Italienische übersetzt wurden. Reumont lehnte die italienische Vereinigung ab. Nach den folgenschweren Ereignissen von 1861 verfasste er biographische Anthologien zu Figuren, die er persönlich gekannt hatte und die er als repräsentativ für die ,wahre‘ Kultur Italiens erachtete: vorrevolutionär (nicht den Idealen von 1848 anhängend), föderal statt national eingestellt und katholisch. 16 Alfred von Reumont: Vittoria Colonna. Leben, Dichten, Glauben im XVI. Jahrhundert. Freiburg 1881, S. VII. 17 Dieser wichtige Punkt wird in den wenigen Studien zu seinem Werk übersehen. Moretti beispielsweise stellt zwar fest, dass er deutsche Kultur den Italienern und italienische Kultur den Deutschen vermittelte, nicht aber, dass er italienische Kultur auch den Italienern selbst näher brachte. Moretti: „Reumont“, S. 163. 18 Petersen: „Reumont“, S. 17.
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Bis zum Ende seines Lebens veröffentlichte er in jedem Jahrzehnt eine solche biographische Sammlung: Zeitgenossen: Biografien und Karakteristiken (Berlin 1862); Biographische Denkbl tter nach persçnlichen Erinnerungen (Leipzig 1878) und Charakterbilder aus der neueren Geschichte Italiens (Leipzig 1886). Die Soldaten, Politiker und Wissenschaftler, denen er seine biographische Aufmerksamkeit widmete, waren fast ausnahmslos Verlierer der Vereinigung, häufig Mitglieder der Aristokratie bereits verschwundener Staaten und Repräsentanten einer verlorenen Welt.19 Das Vorwort der 1886 erschienen Charakterbilder zeigt seine Angst, dass die Nachwelt ein falsches Urteil über diese Figuren fällen könnte: Die Zeit schreitet rasch. Von den Männern, welche in den italienischen Umwälzungen des Jahres 1859 eine bedeutende oder gar eine bestimmende Rolle gespielt, oder das Italien, wie der Wiener Congreß es zu Wohl und Wehe gestaltet hatte, in Wissenschaft, Literatur und Kunst vertreten haben, sind nur noch sehr wenige da. Bald wird nur die Tradition vergangener Zustände bleiben, Mitlebende und Strebende werden jenes Italien nur aus Büchern, seltener aus Mittheilungen der Väter kennen. Ob diese Kenntniß immer eine richtige sein, ob dem Guten immer rechte Anerkennung zutheil werden wird, wer kann es sagen? Die meisten der heute Thätigen waren zu Anfang jenes Jahres recht junge Leute, und ihre erste Zeit ist inmitten der Aufregung der gewaltigen Umwandlung verflossen, welche für Sammlung und ruhiges Urteil keine Muße gelassen hat. Auch auf die Studien hat dieser Umstand mächtig eingewirkt, und das seitdem verflossene Vierteljahrhundert hat größere Veränderung gebracht als die doppelte Zahl an Jahren anderer Epochen. Italien ist ein anderes geworden.20
Reumonts wichtigste Biographien über italienische Zeitgenossen sind jene über die Historiker und Politiker Gino Capponi und Cesare Balbo, die beide dem Risorgimento nicht so kritisch gegenüberstanden, wie er es 19 Moretti: „Reumont“, S. 172. 20 Alfred von Reumont: Charakterbilder aus der neueren Geschichte Italiens. Leipzig 1886, S. VIIf. Diese Ansichten und das damit verbundene Bedauern beschränken sich nicht unbedingt auf Reumont und seine Haltung gegen das Risorgimento. Sogar Deutsche, die für die Vereinigung waren, wie etwa Fanny Lewald, gaben Nostalgie für das alte Italien zu. Sie war allerdings selbstkritisch und reflektiert genug, um die Ironie ihrer Haltung als Deutsche zu verstehen: „Ich [nehme] an den jetzt befreiten […] selbstbewußten, einer neuen großen Zukunft entgegengehenden Italienern von heute nicht mehr den Herzensantheil […], wie an den unglücklichen, geknechteten […] Italienern vor einundzwanzig Jahren, […] Wie hoch erhaben über jeden Italiener von 1845 erschien sich damals jeder Deutsche in den vielversprechenden Anfängen unserer nationalen Bewegung. Jetzt ist das Ding freilich ein wenig anders.“ Fanny Lewald u. Adolf Stahr: Ein Winter in Rom. Berlin 1871, S. 79.
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gerne gehabt hätte. In politischer Hinsicht war Balbo der einfachere Fall, war er doch bereits 1853 gestorben und hatte nie eine klare Haltung zu Italiens tatsächlicher Vereinigung einnehmen müssen. Reumont konnte ihn daher zur perfekten Verkörperung eines vergangenen Italien machen.21 Im Fall von Capponi stellte es sich als schwieriger heraus, ihn für Reumonts Ablehnung der Vereinigung in Dienst zu nehmen. Und obwohl italienische Zeitgenossen von der wissenschaftlichen Leistung und der detailreichen Darstellung in Gino Capponi, 1792 – 1876. Ein Zeit- und Lebensbild (Gotha 1880) beeindruckt waren, löste die italienische Übersetzung beinahe einen kleinen diplomatischen Zwischenfall aus. Die Herausgeber des Archivio storico italiano, einer Zeitschrift, in der Reumont seit Jahrzehnten veröffentlicht hatte, fanden, dass die in dieser Biographie getroffenen Einschätzungen im Widerspruch zu den politischen Idealen des neuen Italien standen. Reumont antwortete, dass die Übersetzung ohne seine Autorisierung erfolgt war und dass er lediglich eine deutschsprachige Veröffentlichung beabsichtigt hatte. Obwohl es Reumonts erklärtes Ziel war, Capponi als Inbegriff des italienischen Patriziers zu charakterisieren und ihn als herausragenden Repräsentanten der jüngsten Vergangenheit Italiens darzustellen, scheute er davor zurück, sich der Kritik von Vertretern eben dieses modernen Italiens zu stellen. Die gebildete Gesellschaft Italiens zur Zeit Umbertos I. war von der Befürwortung des Risorgimento durchdrungen. Reumont konnte daher seine Nostalgie für ein historisches Ideal Italiens am besten im geschlossenen nationalen Kreis deutscher Autoren- und Leserschaft pflegen. Sein Brief an Archivio storico macht deutlich, dass die Biographie eine andere Gestalt angenommen hätte, wenn er sich auch an ein italienisches Publikum gerichtet hätte. Darin zeigt sich zum wiederholten Mal, wie bei Reumont historische Objektivität fortwährend von Überlegungen untergraben wird, die sich an nationalkulturellen Grenzen orientieren.22 Die Haltung seiner biographischen Objekte zu Italiens Vereinigung wurde für Reumont zum Maß aller Dinge und zum entscheidenden Faktor in seiner Beurteilung ihrer Persönlichkeiten und ihrer Rolle in der italienischen Geschichte. Andere deutsche Historiker mögen im italienischen Risorgimento den unvermeidlichen Sieg des Nationalstaates
21 Vgl. Moretti: „Reumont“, S. 175. 22 Vgl. ebd., S. 173 – 175.
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in der Entwicklung liberalen Fortschritts gesehen haben.23 Reumont sah darin einen schmerzhaften Bruch mit der Vergangenheit, der die rückwärtsgewandte Haltung seiner späten Biographien und die Strukturierung entlang der biographischen Klischees von Zäsur und Abstieg motivierte.24 Die Periode der italienischen Vereinigung ermöglicht daher aufschlussreiche Einblicke in die Art und Weise, wie in Biographien das Verhältnis des Individuums zum kulturellen und politischen Kontext behandelt wird, nicht nur weil der Kontext sich tatsächlich veränderte, sondern weil so viele Akteure dieser Zeit ein persönliches Interesse daran hatten, die Veränderungen als radikal darzustellen. Jens Petersen fordert eine Biographie zu Reumont selbst, da er aufgrund seiner Laufbahn und seiner Kontakte ein lebendiges Beispiel der Idee von Kulturtransfer darstelle. Trotzdem kommt er zum Schluss, dass keiner der Texte Reumonts eine Neuauflage verdiene, da sie aufgrund seiner kritischen Haltung gegenüber den nationalen Bewegungen in Europa bereits zu seinen Lebzeiten überholt gewesen seien.25 Anstatt sie allerdings aufgrund ihrer historischen Einschätzungen als fehlerhaft zu betrachten, könnten sie auch als wichtiges Dokument zur deutschsprachigen Biographik verstanden werden. Sie sind nicht nur aufschlussreich im Hinblick auf die Entwicklung des Genres entlang der Linie Rankes, sondern auch dafür, wie transkulturelle Netzwerke und Ziele biographische Unternehmen in Gang setzen. Italien als Wiege des modernen Individuums: Jacob Burckhardt und die italienische Renaissance Rankes Betonung Italiens als einzigartiger und bestimmender Faktor in der europäischen Geschichte wurde in den Arbeiten des Schweizer Kunsthistorikers Jacob Burckhardt weitergeführt. Die Cultur der Renaissance in Italien ist ein zentraler Text in der Geschichte der deutschitalienischen kulturellen Beziehungen.26 Und obwohl er die neuesten politischen Entwicklungen in Italien nur am Rande erwähnt, sollte er 23 Vgl. Jens Petersen über Treitschke in „Risorgimento und italienischer Einheitsstaat im Urteil Deutschlands nach 1860“. In: Italienbilder – Deutschlandbilder. Hg. v. Dipper, Petersen u. Schieber, S. 90 – 119, hier S. 90 – 92. 24 Vgl. beispielsweise Morettis Vergleich der Capponi-Biographie von Reumont mit jener von Karl Hillebrand. Moretti: „Reumont“, S. 176. 25 Petersen: „Reumont“, S. 32 – 34. 26 Jacob Burckhardt: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel 1860.
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durchaus vor dem Hintergrund eines Vergleichs der nationalen Diskurse zu Italiens Vereinigung gesehen werden. Der Band war nicht nur sehr beliebt zu seiner Zeit, u. a. weil er dem aktuellen Interesse an italienischer Geschichte entgegenkam, sondern er bleibt bis heute ein Standardwerk in der Renaissance-Forschung.27 Burckhardt untersuchte die politische Geschichte der italienischen Renaissance mit dem Ziel, Italiens vermeintliche kulturelle Vorherrschaft im Europa der Frühmoderne besser verstehen zu können. Er stellte die italienischen Kleinstaaten der Renaissance als Prototyp des modernen europäischen Staates dar. Sie verdankten ihre Existenz einem bewussten, säkularen ,Willen zur Form‘ und unabhängig davon, ob es sich um Republiken oder grausame Diktaturen handelte, insistierte Burckhardt: „[D]a tritt ein neues Lebendiges in die Geschichte: Der Staat als berechnete, bewußte Schöpfung, als Kunstwerk.“28 Die Politiker oder Generäle, die diese neuen Einheiten schufen, waren außergewöhnliche Individuen, die ohne religiöse Legitimation und ohne Verbindungen zu alteingesessenen Dynastien regierten: In der Beschaffenheit dieser Staaten, Republiken wie Tyrannien, liegt nun zwar nicht der einzige, aber der mächtigste Grund der frühzeitigen Ausbildung des Italieners zum modernen Menschen. Daß er der Erstgeborne unter den Söhnen des jetzigen Europas werden musste, hängt an diesem Punkte.29
Am einflussreichsten waren im Hinblick auf die Biographik Burckhardts Konzept des ,Renaissancemenschen‘ und sein Befund, dass die Politik des modernen Zeitalters Vorstellungen vom Selbst veränderte: Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewußtseins – nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst – wie unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder halbwach. […] Der Mensch […] erkannte sich nur als Race, Volk, Partei, Corporation, Familie oder sonst in irgend einer Form des Allgemeinen. In Italien zuerst verweht dieser Schleier in die Lüfte; es erwacht eine objective Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämmtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjective; der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches. […] Mit Ausgang des XIII. Jahrhunderts […] beginnt Italien von Persönlichkeiten zu wimmeln; der Bann, welcher auf dem Individualismus gelegen, 27 Vgl. August Buck: „Burckhardt und die italienische Renaissance“. In: Renaissance und Renaissancismus. Hg. v. Buck, S. 5 – 12. 28 Burckhardt: Renaissance, S. 3. 29 Ebd., S. 131.
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ist hier völlig gebrochen; schrankenlos specialisiren sich tausend einzelne Gesichter.30
Burckhardt gibt keine klaren Gründe an, warum diese Entwicklung in Italien früher stattgefunden haben sollte als anderswo, aber die Hinweise darauf in seinem einleitenden Abschnitt sind gerade für den Zusammenhang von Kulturtransfer und Biographik besonders aufschlussreich. Die Kleinstaaten der italienischen Renaissance wurden Burckhardt zufolge nach dem Modell des Normannenreiches Kaiser Friedrichs II. (1194 – 1250) in Unteritalien und Sizilien gestaltet. Burckhardt beschließt seine Überlegungen zu Friedrichs Gründen für seine administrativen und politischen Reformen wie folgt: Aufgewachsen unter Verrath und Gefahr in der Nähe von Saracenen, hatte er sich frühe gewöhnt an eine völlig objective Beurtheilung und Behandlung der Dinge, der erste moderne Mensch auf dem Thron. Dazu kam eine nahe, vertraute Kenntnis von dem Innern der saracenischen Staaten und ihrer Verwaltung, und jener Existenzkrieg mit den Päpsten, welcher beide Parteien nöthigte, alle denkbaren Kräfte und Mittel auf den Kampfplatz zu führen.31
Aus dieser Perspektive wäre das ,moderne europäische Individuum‘ Resultat des Kontakts mit anderen Kulturen in einem frühen Alter. Der moderne Staat, den er schaffen sollte, ist also das Ergebnis einer (gefährlichen) Nähe zu anderen Kulturen und Verwaltungseinheiten, von denen einerseits gelernt werden kann, mit denen man aber andererseits in Wettstreit tritt. Die Cultur der Renaissance in Italien ist voll von solchen Mini-Biographien, in denen Burckhardt in der Vorstellung eines moralisch ungebundenen Individuums schwelgt. Im allerersten Abschnitt des Bandes, „Der Staat als Kunstwerk“, liefert die Darstellung der Mailänder SforzaFamilie ein typisches Beispiel dafür. Bei dieser Familie handelte es sich um eine aufstrebende Dynastie von condottieri (Söldnergenerälen), an denen Burckhardt das Grausame und Extreme mit entsetzter Faszination hervorhebt. Die Sforzas verdankten ihren militärischen Erfolg ihrem individuellen Charisma, so Burckhardt, ihren Persönlichkeiten, die zur „höchsten Virtuosität“ entwickelt waren: „[E]s sind die ersten Armeen der neuern Geschichte, wo der persönliche Credit des Anführers ohne weitere Nebengedanken die bewegende Kraft ist.“32 30 Ebd., S. 131 f. 31 Ebd., S. 3. 32 Ebd., S. 22.
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Obwohl Burckhardts Buch zu seiner Zeit innovativ war und immer noch als wichtiger Durchbruch in der Renaissance-Forschung gesehen wird, bleibt das traditionelle Muster von der kulturellen und künstlerischen Überlegenheit Italiens und der moralischen Überlegenheit deutscher Kultur zumeist sehr offensichtlich. Anstatt dieses Muster hinter sich zu lassen, entwickelt er es sogar weiter, indem er den Begriff Kunstwerk nicht nur auf politische Einheiten anwendet, sondern auch auf Persönlichkeiten und Lebensweisen. Paradox für einen Kunsthistoriker ist seine Schlussfolgerung, dass es gar nicht darauf ankäme, wie großartig die Italiener als Künstler waren, sondern dass sie sich in Wahrheit vor allem durch einen unabhängigen künstlerischen Geist auszeichneten, der wie eine Naturkraft wirke. Diese Idee entwickelt er vor allem im zweiten Abschnitt „Entwicklung des Individuums“ und im vierten Abschnitt „Die Entdeckung der Welt und des Menschen“. In Letzterem schildert er nicht nur italienische Entdecker und Seeleute, sondern analysiert auch die intellektuelle Entdeckung des Individuums in der italienischen Biographie und Autobiographie der frühen Neuzeit. Er geht insbesondere auf die Autobiographie des Bildhauers Benvenuto Cellini ein, der dem deutschsprachigen Publikum in Goethes Version bekannt war.33 Cellini sparte in seinen Memoiren nichts aus und schilderte neben Einzelheiten zu seiner Ausbildung zum Künstler auch häufige Konflikte mit dem Gesetz, Prügeleien, die Zeit im Exil und soldatische Heldentaten. Dennoch ist die moralische Ambivalenz von Cellinis Leben bei Burckhardt nicht nur offensichtlich, sondern scheint zu seiner Anziehungskraft und ,Modernität‘ beizutragen. Ein verallgemeinernder Vergleich mit „unsere[n] nördischen Selbstbiographen“ dient weiters dazu, den Elan und die Vitalität dieses außergewöhnlichen Italieners zu betonen. Burckhardt stellt Reumonts Kritik der italienischen Geschichtsschreibung auf den Kopf: Die Italiener mögen zwar eine ungenierte Haltung gegenüber dem Wahrheitsgehalt und der ideologischen Integrität ihre eigenen Geschichte(n) haben, aber gerade deshalb seien ihre Werke vollendeter und überzeugender als die ihrer nördlichen Zeitgenossen. In seiner Analyse zeigt Burckhardt ein durchaus modernes Gespür für das vieldeutige Potential autobiographischer Texte. Er ist weniger an der Faktizität und Beweisbarkeit der Schilderungen Cellinis interessiert, als vielmehr daran, wie sein Stil und 33 Vgl. dazu Nicholas Boyle: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit. Band II. 1791 – 1803. München 1999, S. 436.
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seine Auswahl der Anekdoten eine andere Wahrheit über diese Person enthüllen: Es ist wahrlich kein Kleines, daß Benvenuto, dessen bedeutendste Arbeiten bloßer Entwurf geblieben und untergegangen sind […] daß Benvenuto als Mensch die Menschen beschäftigen wird bis an’s Ende der Tage. Es schadet ihm nicht, daß der Leser häufig ahnt, er möchte gelogen oder geprahlt haben; denn der Eindruck der gewaltig energischen, völlig durchgebildeten Natur überwiegt. Neben ihm erscheinen z. B. unsere nordischen Selbstbiographen, so viel höher ihre Tendenz und ihr sittliches Wesen bisweilen zu achten sein mag, doch als unvollständige Naturen. Er ist ein Mensch, der Alles kann, Alles wagt und sein Maß in sich selber trägt. Ob wir es gerne hören oder nicht, es lebt in dieser Gestalt ein ganz kenntliches Urbild des modernen Menschen.34
Die entscheidende Differenz zwischen deutschen und italienischen Autobiographien dieser Zeit liegt Burckhardt zufolge darin, dass die deutschen Autobiographen keine Form finden konnten, die sowohl ihrer inneren als auch ihrer äußeren Welt Rechnung getragen hätte. Im Gegensatz dazu war der Italiener, egal ob Künstler, Staatsmann oder Wissenschaftler, so voller Neugierde und Energie und so erfüllt von seiner Tätigkeit, dass eine Beschreibung seines Äußeren zugleich die beste Darstellung seines Inneren bedeutete. Er „ging […] völlig auf in den Dingen, ohne sich um irgendeinen sittlichen Zwiespalt sonderlich zu grämen“.35 Burckhardts ,Renaissancemensch‘ führt ein pikareskes Leben, wird von seinem eigenen Charisma getragen und lässt sich weder von persönlichem Verlust noch von moralischen Skrupeln zurückhalten.36 Der deutsche Garibaldi: neues oder altes Heldentum? Während Burckhardt in den 1850er und 1860er Jahren Die Cultur der Renaissance in Italien verfasste und sich für die vielen Neuauflagen immer wieder damit auseinandersetzte, schien der von ihm beschriebene Typus des charismatischen Tatmenschen aus den historischen Tiefen in Gestalt des Schiffskapitäns and Freischärlers Giuseppe Garibaldi wiederaufzuerstehen. ,Das Schwert Italiens‘, wie Garibaldi aufgrund seiner paramilitären Rolle im Vereinigungsprozess genannt wurde, war mit seiner 34 Burckhardt: Renaissance, S. 333. 35 Ebd. 36 Vgl. ebd., S. 336 – 338.
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schillernden Lebensgeschichte ein Geschenk für seine Biographen, wie einer von ihnen später anmerkte: „Garibaldi had, perhaps, the most romantic life that history records.“37 Er wurde 1807 in Nizza geboren, ging in jungen Jahren zur See und unternahm weite Reisen in Europa und dem Mittleren Osten. 1833 schloss er sich Mazzinis geheimer Bewegung Giovine Italia an und nahm ein Jahr später an einer gescheiterten Rebellion gegen die Habsburgerherrschaft in Piemont teil. Er war gezwungen zu fliehen und landete schlussendlich in Südamerika, wo er ein erfolgreicher Anführer der Guerrilla in den Bürgerkriegen in Brasilien und Uruguay wurde. Während der Aufstände 1848 kehrte er mit seiner brasilianischen Frau und seinen vier Kindern auf die italienische Halbinsel zurück. Dort folgten Jahrzehnte paramilitärischer Aktivitäten im Dienst des Risorgimento – manchmal mit Unterstützung des politischen Arms der nationalen Bewegung, manchmal auf eigene Faust –, die 1860 in seinem legendären „Zug der Tausend“ und damit in der Vereinigung von Norden und Süden gipfelten. Garibaldi löste keinen allgemeinen Aufstand aus, sondern übergab das Kommando dem König von Savoyen, Vittorio Emmanuele II., der 1861 zum König des vereinten Italien gekrönt wurde. Garibaldis viele Siege über Armeen, die technisch und zahlenmäßig überlegen waren; die fanatische Hingabe seiner camicie rosse, einer internationalen Truppe von Freiheitskämpfern; die Zeit in ländlicher Abgeschiedenheit in einem Gehöft, das er auf der unwirtlichen Insel Caprera nahe Sardinien errichtet hatte; all dies trug zur Bildung einer wirkungsmächtigen Volkslegende bei, die sich weit über die Grenzen des neuen Italien hinaus verbreitete. Wie Jens Petersen feststellt, waren vor allem die Deutschen von Garibaldi fasziniert: Wie die mehreren Hunderte von Veröffentlichungen über Garibaldi in deutscher Sprache zeigen, hat es einen bis in die Populärliteratur reichenden Garibaldi-Mythos gegeben […] Der Mann mit dem „cholerischen Kindergemüt, in welchem 20 Millionen grollen“, galt auch konservativen Beobachtern dank seiner Vernunftallianz mit dem monarchischen Gedanken und dank seiner strikt antinapoleonischen Einstellung als „Musterbild eines Patrioten“. Linksliberale und demokratische Kreise begeisterten sich dagegen für diesen „edelsten und uneigennützigsten […] von den Gegnern Österreichs“, weil er ihnen als Inkarnation des Volksgeistes […] der die dynastischen Fesseln abschüttelnden Nation erschien. Jeder weitere militärische Erfolg steigerte den Ruf Garibaldis weiter ins Legen37 George Macauley Trevelyan zitiert nach Anthony Campanella: „Introduction“. In: Bibliografia Garibaldiana. Bd 1. Hg. v. Anthony Campanella. Genf 1971, S. I.
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däre, niemand hat mehr für die Popularisierung des Risorgimento in Deutschland getan als er.38
Die große Zahl an Biographien, die in den 1860er Jahren über Garibaldi geschrieben wurden, trug auch zur Popularisierung dieses Genres bei.39 Sogar polemische Darstellungen, die als Propaganda für die Habsburger fungierten, konnten sich der Faszination für diese Figur nicht völlig entziehen.40 Garibaldi und das Risorgimento behielten ihre Anziehungskraft für deutschsprachige AutorInnen bis ins 20. Jahrhundert – die Texte Ricarda Huchs bilden einen Höhepunkt41 – und erlebten unter den Nationalsozialisten eine Renaissance.42 Ich richte meine Aufmerksamkeit hier allerdings auf Biographien, die von deutschsprachigen Zeitgenossen Garibaldis stammen, da sich daran zum einen sehr gut zeigen lässt, wie persönliche Beziehungen und Netzwerke Kulturtransfer beeinflussen, und weil sie zum anderen die deutsche Haltung zum soeben vereinten Italien veranschaulichen.
38 Petersen: „Risorgimento“. In: Italienbilder – Deutschlandbilder. Hg. v. Dipper, Petersen u. Schieber, S. 90 – 119, hier S. 110. 39 Vgl. Campanella: „Biografie“. In: Bibliografia Garibaldiana. Hg. v. Campanella, S. 3 – 46. 40 Vgl. die anonyme Darstellung: Kossuth, Mazzini, Garibaldi. Leben und Streben dieser freien M nner des Tages. Offen und frei dargestellt von den Tagen ihrer Jugend bis auf die j ngste Gegenwart nebst einer vertraulichen, geheimen R cksprache mit dem Leser zum Schluße. Wien 1861. Obwohl darin versucht wird, Garibaldi als Repräsentant des ,Antichristentums‘ darzustellen (S. 35), kommt der Verfasser dieser Schrift dennoch nicht umhin zu erwähnen, dass er „mit seiner Räuberbande die kühnsten Thaten“ verrichtete und dass er „geschickt“ and „siegreich“ war (S. 32). 41 Huch verfasste eine dreibändige fiktive Darstellung der italienischen Feldzüge unter dem Titel Die Geschichten von Garibaldi (1906/7) und eine Reihe kürzerer Biographien zu früheren Risorgimento-Figuren: Menschen und Schicksale aus dem Risorgimento (1908). Eine dieser baute sie in der Folge zu einem umfangreichen biographisch-historischen Roman aus, Das Leben des Grafen Federigo Confalonieri (1910). Sie stellt Garibaldi als Nietzscheanischen Übermenschen dar, während der Schwerpunkt in Confalonieri auf den langen, inaktiven Jahren liegt, die der Graf in Habsburgischen Gefängnissen verbrachte. 42 Vgl. Adolf Dresler, der das Problem der Interpretation des historischen Erbes Garibaldis dadurch gelöst zu haben glaubte, dass er ihn in der Serie Colemans kleine Biographien (Lübeck 1934) als Wegbereiter des Faschismus darstellte. Vgl. auch Friedrich Freska: Garibaldi. Das Schwert Italiens. Berlin 1940. „Ihn verstehen, heißt das heutige Italien verstehen, den unbezähmbaren nationalen Willen, den dieser Kämpfer seinem Volke eingehämmert hat“. (S. 1 f.)
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Die Vorgeschichte zur Flut an Garibaldi-Biographien stellt ein internationales Wettrennen um die Übersetzung und Veröffentlichung seines ersten autobiographischen Fragments dar. Vor seinem Erscheinen auf Italienisch 1872 wurde es auf Englisch43, Französisch44 und Deutsch veröffentlicht, übersetzt und ausgebaut von Marie Speranza von Schwartz unter ihrem griechischen Pseudonym Elpis Melena. Sie gilt gemeinhin als Garibaldis Geliebte und behauptet selbst, dass er häufig um ihre Hand anhielt.45 Persönliche Konkurrenz (vor allem mit Dumas) und die Emotionen, die für sie mit der Jagd nach den Memoiren und mit deren Übersetzung verbunden waren, wurden integraler Bestandteil ihres Sammelwerks Garibaldis Denkw rdigkeiten nach handschriftlichen Aufzeichnungen desselben, und nach authentischen Quellen (Hamburg 1861). Im Vorwort des zweibändigen Werks schildert sie, wie sie Garibaldi traf und von ihm das Manuskript erhielt. Dem folgt ihre Übersetzung der Memoiren, die zu diesem Zeitpunkt nur bis 1848 reichten. Der zweite Band enthält eine Darstellung seines Lebens bis zum Vorabend der Vereinigung 1859, der laut Schwartz auf einer Reihe von Gesprächen zwischen ihr und Garibaldi beruht, jedoch in der konventionellen Form der dritten Person geschrieben ist. Die einzige Ausnahme bildet ein Kapitel zu Garibaldis erster Frau, Anita, die wiederum aus der Feder des Generals selbst stammt. Den zweiten Band beendet ein Abschnitt mit dem Titel „Die Pineta zehn Jahre später. Eine Episode aus dem Leben der Verfasserin“, in dem Schwartz in die erste Person wechselt und beschreibt, wie sie Garibaldi 1859 auf seiner Reise in die Umgebung Ravennas begleitete, wohin er 1849 zu fliehen gezwungen war und wo Anita starb und begraben wurde. Der persönliche Rahmen von Garibaldis Denkw rdigkeiten lässt viele Rückschlüsse auf die eigentümliche Beziehung zwischen Biographin und Biographiertem und zwischen der italienischen und der deutschen 43 The Life of General Garibaldi, Translated from his Private Papers by Theodore Dwight. New York 1859. 44 M moires de Garibaldi, traduits sur le manuscrit original par Alexandre Dumas (père). Paris 1860. Zwischen den Übersetzungen bestehen erhebliche Unterschiede, vor allem was Dumas’ Version betrifft. Die Überlieferungsgeschichte der Autobiographie Garibaldis wurde zudem durch Übersetzungen der Übersetzungen verwickelter und komplizierter, vgl. z. B. Stanislaus Grabowskis deutsche Übersetzung von Dumas’ Version, veröffentlicht in Berlin 1861. 45 Daniel Pick: Rome or Death. The Obsessions of General Garibaldi. London 2005, S. 210 f; Denis Mack Smith: Garibaldi. A Great Life in Brief. New York 1956, S. 62 – 64.
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Kultur zu. Einerseits baut Schwartz Garibaldi als „unerbittlichen Heros“ auf 46, dessen Tollkühnheit in der Schlacht nur durch seine „Herzensgüte als Familienvater“ gemildert wird, ein Herkules, den die Vorsehung auserwählte, in selbstloser Weise Italien zu befreien.47 Andererseits sieht die Biographin und Übersetzerin ihre Rolle nicht als die eines passiven Mediums: Trotz all seiner Vitalität wird er als jemand dargestellt, der ihrer Dienste bedarf, nicht zuletzt zur Korrektur der „fabulösen Gerüchte“, die über ihn in Umlauf sind, „zumal in Deutschland“. Schwartz drängt ihn dazu, seine Memoiren fertigzustellen, und sucht ihn schlussendlich 1857 in Caprera persönlich auf, „um [ihn] für meinen Zweck zu gewinnen“. Es ist sein Leben, aber sie verfolgt damit einen Zweck – und obwohl Garibaldi nicht dazu bewegt werden kann, selbst weiterzuschreiben, nimmt sie das Vorhaben einer Fortsetzung der Memoiren selbst in die Hand. „Würdiger denn je erschien mir die selbstgestellte Aufgabe [Hervorhebung d. Verf.], auf dem Felde der Litteratur etwas Gutes für diesen vor der Welt quasi geächteten Menschen zu wirken, und eine ihm gebührende Anerkennung wachzurufen.“48 Obwohl die Hierarchie der weiblichen Bewunderin und des männlichen Helden aufrechterhalten bleibt, dienen das Vorwort und der Epilog dazu, Garibaldis Leben als Episode in Schwartz’ Karriere zu verorten. Gleichzeitig dient dieser Rahmen dazu, die aus so vielen deutschsprachigen Texten bekannten pittoresken Stereotype aufzurufen. Die Schilderung der Jagd nach den Memoiren ist voller klassischer Bezüge und folkloristischer Anklänge in einer Mischung aus Italienischer Reise und populärem Roman. Im Vorwort ergötzt ein befreundeter Kapitän Schwartz mit Geschichten über Garibaldi, während sie auf einer Terrasse „unter anakreontischer Weinlaube“ über den Golf von Neapel blicken und den Klängen von Mandolinen lauschen – „solche Augenblicke sind epicuräisch“49, bemerkt Schwartz und stellt en passant ihre klassische Bildung aus, die zu ihrer Zeit für eine Frau ungewöhnlich war. Im letzten Abschnitt nimmt sie ihre LeserInnen auf einen Bildungsbürgergalopp durch Ravennas antike und mittelalterliche Geschichte mit und stimmt ,Loblieder auf die Herrlichkeit seiner Pinienwälder‘ an. 46 Marie Speranza von Schwartz: Garibaldis Denkw rdigkeiten nach handschriftlichen Aufzeichnungen desselben, und nach authentischen Quellen. Hamburg 1861, S. VII. 47 Ebd., S. VIII. 48 Ebd. 49 Ebd.
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Italien ist hier wieder das antike Reiseerlebnis, Land der Kultur und des Abenteuers, weil es die deutsche Beobachterin so will und es so dokumentiert. Schwartz führt Regie und gestaltet, wobei die Bewunderung durch Herablassung abgeschwächt wird. Dies wird offensichtlicher und zugleich ambivalenter in ihrem späten Werk Garibaldi. Mittheilungen aus seinem Leben Von Elpis Melena Nebst Briefen des Generals an die Verfasserin (Hannover, 1884). Die Beziehung zwischen Schwartz und Garibaldi war vor seinem Tod 1882 deutlich abgekühlt und die Vereinigung Italiens lag einige Zeit zurück und erschien weniger dramatisch.50 Verbitterung wird deutlich, insbesondere in der Einleitung und im Nachwort. Garibaldi ist immer noch ein „Held“, aber nicht mehr „unerbittlich“; er ist „aus dem Nichts“ gekommen51 und wäre ohne den Rat guter Freunde und vor allem ohne der richtigen Frau als Schutzengel verloren. Er wird von den Massen aufgebaut, nur um von der Presse zu Boden geschlagen zu werden – der Held selbst scheint hier sehr wenig Einfluss auf sein Schicksal zu haben. Die Schilderungen beschwerlicher Reisen, die Schwartz unternahm, um an seiner Seite zu sein, strukturieren den Text, und die vielen Briefe Garibaldis, die sie in ihrer Übersetzung (angeblich) in ihrer Gesamtheit wiedergibt, sind relativ nichtssagend, abgesehen von ihren persönlichen Beziehungen zueinander – seine Briefe erzählen ihr Leben. Nicht nur die Biographin und ihre Erlebnisse werfen einen langen Schatten auf den Biographierten, sondern auch das Zielpublikum des Textes prägt die Darstellung. Schwartz macht im Vorwort der Mittheilungen viel Aufhebens um einen Ausschnitt aus dem Kirchenbuch in Rüggeberg, Grafschaft Mark, das zeigt, dass Garibaldis Großmutter väterlicherseits Deutsche war.52 Leerstelle nationale Identität Garibaldi, zu einem Viertel Deutscher, wurde in einer Stadt geboren, die von vielen als Französisch betrachtet wurde, lernte Französisch als seine erste Sprache und verbrachte einen Großteil seiner Jugend auf See, bevor er nach Südamerika ging. Marie Speranza von Schwartz stammte aus einer Hamburger Handelsfamilie, wurde aber in Südengland ge50 Pick: Rome or Death, S. 212. 51 Marie Speranza von Schwartz: Garibaldi. Mittheilungen aus seinem Leben Von Elpis Melena Nebst Briefen des Generals an die Verfasserin. Hannover 1884, S. VIII. 52 Ebd., S. 1 f.
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boren und wuchs auch dort auf, bevor sie auf ausgedehnte Reisen durch Italien und Griechenland ging.53 Als zwei Verkörperungen von Kulturtransfer in verschiedenen Richtungen verlangen die Lebensläufe der Biographin und des Biographierten einen differenzierten Blick auf nationale bzw. kulturelle Identität. Dazu wird man in ihren Texten allerdings nicht fündig, ganz im Gegenteil. Wir suchen sowohl in Schwartz’ Texten als auch in jenen ihrer Zeitgenossen über Garibaldi vergeblich nach einer differenzierten Auseinandersetzung mit seiner viel gepriesenen Vaterlandsliebe oder seiner Identität als Inbegriff des Italienischen.54 Diese vermeintliche Motivation all seiner Taten und seiner Lebensaufgabe wird als selbstverständlich betrachtet und nur in generalisierenden, rhetorischen Ausschmückungen thematisiert. Gustav Raschs 1863 erschienene Biographie Das Schwert Italiens. Lebensskizze des Generals Josef Garibaldi ist beispielsweise Elpis Melena (Schwartz) und ihrem gemeinsamen Ziel, der „heilige[n] Sache der Freiheit des italienischen Volkes“, gewidmet.55 Als Vollstreckungsinstrument dieser heiligen Sache ist Garibaldi nicht nur über jeden Tadel erhaben, sondern entzieht sich auch beinahe der Charakterisierung: Er ist ein geborener Patriot, Führer und General56 – es bleibt wenig Raum für eine Auseinandersetzung mit der Frage, welchen Einfluss seine Erziehung oder der Wechsel seines Umfeldes auf ihn hatte.57 Raschs deklariertes Ziel 53 Für biographische Details zu Schwartz vgl. die Einleitung zu einer späteren italienischen Übersetzung der Mittheilungen: Garibaldi Anedottico e Romantico. Hg. v. Antonio Monti. Mailand 1944. 54 Bis ins 20. Jahrhundert hinein fehlt eine kritische Auseinandersetzung mit nationaler Identität, vgl. die Einleitung zu Walter Friedensburg: Die Memoiren Garibaldis. Hamburg 1909, S. 15 f: „Giuseppe Garibaldi erblickte das Licht der Welt am 10. Juli 1807 in Nizza, an der Grenze italienischen und französischen Wesens, er selbst aber in seinem Denken und F hlen vom ersten Augenblick an ein Italiener [Hervorhebung d. Vf.]. Sohn einer Schifferfamilie, befuhr auch er, zuerst auf dem Schiffe seines Vaters, früh die See und lernte schon in jungen Jahren ein Stück der Welt – bis nach Konstantinopel und Odessa hin – kennen.“ Diese Beschreibung gäbe genug Anlass, seine Entwicklung als kosmopolitisch und nomadisch zu beschreiben, aber dies wird von vornherein ausgeschlossen. 55 Gustav Rasch: Das Schwert Italiens. Lebensskizze des Generals Josef Garibaldi. Zürich1863. 56 Ebd., S. 21. 57 Rasch lässt Garibaldis Kindheit und frühe Jugend mit einer Phrase aus Schwartz’ Übersetzung der Memoiren des Generals unberücksichtigt: „Die ersten Jugendjahre verstrichen ohne irgend weitere bedeutendere Ereignisse, wie die ersten Lebensjahre der meisten Kinder“. Er setzt damit fort, Garibaldi erneut als
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war die Verteidigung Garibaldis gegen die „conservative Partei und deren Organe in Deutschland“, die „dem Befreier Italiens allerlei Makel anzudichten“ versuchten.58 Selbst ein Garibaldino, der lange aktiv in Garibaldis militärischen Diensten stand, schilderte er seinen General so respektvoll wie möglich und widerlegte die Klischees vom „Räuberhauptmann“ und „Haudegen“ mit jenen des klassischen Helden, der einerseits „wahrhaft antike Züge“59 trug und andererseits ein „einfacher Mann“60 war. Garibaldi ist zugleich außergewöhnlich und repräsentativ für die gesamte Risorgimento-Bewegung und ihre Kämpfenden und Leidenden, wie Rasch in einer für die seltsam unspezifische nationalistische Rhetorik typischen Passage behauptet: Italien hat viele große Männer, welche sich durch hohe Tugenden, durch Opfermuth, durch Vaterlandsliebe und durch außerordentliche Energie ganz enorme Verdienste um die Freiheit ihres Landes erworben haben. Die Liebe zum Vaterland ist ein hervorragender Zug im Charakter des Italieners. Er kann stolz darauf sein vor den Völkern Europa’s; denn er nimmt in dieser Tugend die erste Stelle ein unter den europäischen Völkern. Der großartige Widerstand, den das ganze italienische Volk seit mehr als vierzig Jahren der Fremdherrschaft entgegengesetzt hat, ist achtunggebietend und wird ewig in der europäischen Völkergeschichte leben. Die Deutschen, die Polen und die Ungarn können sich diesen einmüthigen Wiederstand als ein leuchtendes Exemple nehmen. Und betrachtet man das Leben der einzelnen, welche, seitdem sie athmen und denken, für die Freiheit ihres Landes gerungen haben, so ist es eine lange Kette von Mühseligkeiten, Anstrengungen und Leiden, inmitten welcher diese heroischen Männer nie das einzige Ziel ihres Lebens aus den Augen verloren haben. Wollte ich alle diese Namen nennen, die Namen aller ihrer Märtyrer und Kämpfer für die nationale Auferstehung ihres Landes, ich könnte ein Buch damit füllen. Jeder von den Tausend Tapferen, die sich mit Garibaldi nach Marsala einschifften, war ein solcher Märtyrer und ein solcher Streiter. […] Aber zwei Männer stehen unter all diesen Männern in der Unermüdlichkeit ihrer Anstrengungen und in den Erfolgen, welche diese Anstrengungen gehabt haben, in erster Reihe. Der Eine ist Josef Mazzini, – der Andere Josef Garibaldi.61
Die Suche nach neuen Helden (oder Bösewichten) wurde zu einem wesentlichen Bestandteil der Suche nach einer Identität des neuen
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geborenen Helden zu charakterisieren: „Der künftige Charakter des ebenso milden wie entschlossenen und energischen Mannes sprach sich bereits in frühester Jugend aus.“ (S. 26, vgl. mit Schwartz: Denkw rdigkeiten, S. 6.) Rasch: Garibaldi, S. 14. Ebd. Ebd., S. 16. Ebd., S. 25 f.
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Italien. Während dieses Prozesses wurden einige Namen zu Synonymen für die italienische Vereinigung, sodass es nicht mehr als notwendig erschien, sich im Detail damit auseinanderzusetzen, was Italien ist oder sein sollte. Garibaldis Leben und die ,heilige Sache‘ der italienischen Vereinigung wurden für einige mehr oder weniger austauschbar62, mit dem Ergebnis, dass weder das eine noch das andere eine detaillierte Analyse erforderlich machte. Obwohl Garibaldis Patriotismus und sein Italienischsein in den deutschen Biographien dieser Zeit wieder und wieder beschworen werden, bleiben sie dennoch eine seltsame Leerstelle. Nur Heribert Raus Garibaldi, Italiens Held und Schwert. Historisches Lebensbild (Berlin 1864) bildet teilweise eine Ausnahme. Diese episodische Biographie fokussiert symbolische „Wendepunkte“, die den LeserInnen als Stationen auf Garibaldis Weg zum visionären Patrioten und Führer präsentiert werden. Rau nimmt zahlreiche Betrachtungen zum italienischen Nationalcharakter und der Art, wie Garibaldi diesen verkörpert, auf. Die Episoden werden allerdings auf sehr eigentümliche Weise ausgewählt und erzählt, häufig ohne Rücksicht auf die über Garibaldis Leben bekannten Fakten. Beispielsweise ändert Rau nicht nur das Datum, sondern auch den Ort der Geburt seines biographischen Objekts, obwohl beide in Garibaldis Memoiren verzeichnet sind. Raus Garibaldi wird nicht am 4. Juli 1807 in Nizza geboren, sondern am 26. Mai 1807 auf einem Schiff, das auf hoher See in einen Sturm gerät. Dieses geänderte Geburtsdatum fällt mit dem 2. Jahrestag der Krönung Napoleons I. als König von Italien zusammen. Der Autor suggeriert, dass die dramatischen Umstände und der Ort seiner Geburt Garibaldis furchtlosen Charakter erklären.63 Rau stellt Garibaldis Vater als glühenden Patrioten dar, dessen Schiff den Namen Italia trägt (nicht Santa Reparata, wie Garibaldi in seinen Memoiren schreibt), der darauf bedacht ist, dass sein Sohn ihm in seinen Fußstapfen folgt und Seemann wird, und der ihn mit Geschichten aus der glorreichen Vergangenheit Italiens erfreut. Im Gegensatz dazu schilderte Garibaldi seinen Vater als ruhigen und konservativen Mann, der von seinem Sohn wollte, dass er 62 Vgl. zum Beispiel Stanislaus Grabowski: Cavour u. Garibaldi. Berlin 1862, S. 6: „Blicken wir einmal in dieses vielbewegte, stets von einer einzigen erhabenen Idee getragene Leben des Volkshelden zurück – wir meinen die Idee unbegränzter Vaterlandsliebe und heiliger Opferbereitwilligkeit, die sich wohl selten in einem Manne der modernen Zeit so ausschließlich personificiert hat, als in Giuseppe Garibaldi.“ 63 Heribert Rau: Garibaldi, Italiens Held und Schwert. Historisches Lebensbild. Berlin 1864, S. 29.
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Priester oder Anwalt wird. Abgesehen von seinem Bruder Angelo, der ihn in einem Brief (wohlgemerkt aus Amerika) dazu drängte, neben Französisch auch Italienisch zu lernen, führte Garibaldi in seinen Memoiren seinen Patriotismus mehr auf die Liebe der Mutter als auf das väterliche Beispiel zurück.64 Das erschien Rau offensichtlich als nicht heroisch genug. Obwohl Rau dem möglichen Ursprung für Garibaldis Patriotismus auf die Spur zu kommen versucht, ignoriert er die verfügbaren biographischen Quellen, die darüber Aufschluss geben könnten. Die in den 1860er Jahren entstandenen deutschen Biographien über Garibaldi erheben den Anspruch, die Wahrheit darüber zu enthüllen, was gegenwärtig in Italien geschieht, wie die ,wahre‘ Identität Italiens beschaffen und welches Potential für die Zukunft vorhanden ist. Ihre Darstellung des Individuums Garibaldi ist mit den Erwartungen und rhetorischen Anforderungen an diese Aufgabe aufgeladen. Bis in die Gegenwart werden die Figuren ,großer Männer‘ dazu benutzt, Nationen zu verkörpern und miteinander zu vergleichen.65 Solche Darstellungen erreichen unausweichlich den Punkt, wo sie aufhören, biographisch zu sein, und stattdessen symbolisch oder rein fiktiv werden. Deutschsprachige AutorInnen, die über Garibaldi schrieben, verfassten auch Texte zu anderen Figuren des Risorgimento und schufen damit einen neuen Pantheon nationaler Helden mit klar zugewiesenen Rollen: Garibaldi war der Kraftprotz, Mazzini die Seele, Cavour das Hirn. Manchmal werden Cavour oder Mazzini durch Vittorio Emmanuele ersetzt, aber Garibaldi bleibt konstant: Seine dramatischen Taten zogen mehr Aufmerksamkeit auf sich als die des Denkers oder des schlauen Politikers. Diese Auswahl bedeutete zumindest, dass widersprüchliche Stereotype des typischen Italieners miteinander in Einklang gebracht werden konnten, indem sie auf mehr als einen italienischen ,Helden‘ projiziert wurden. In Stanislaus Grabowskis Cavour u. Garibaldi (Berlin 1862) beispielsweise wird das übliche Triumvirat bereits im zweiten Satz eingeführt, als „die drei Sterne […] die so glänzend und hoffnungverheißend an dem lange verschleierten Himmel über dem klassischen Lande aufgetaucht waren – Victor Emmanuel, Cavour, Garibaldi“.66 Grabowskis Garibaldi handelt „von dem heißen Temperament fortge64 Zu Garibaldis Eltern vgl. Schwartz: Denkw rdigkeiten, S. 3 – 5. 65 Vgl. Gian E. Rusconi: Deutschland-Italien / Italien-Deutschland. Geschichte einer schwierigen Beziehung von Bismarck bis zu Berlusconi. Paderborn 2006. 66 Grabowski: Cavour u. Garibaldi, S. 1.
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rissen“67 während sich Cavours Patriotismus auf macchiavellistische Art ausdrückt, in seinem „kalten, besonnenen Verstand“.68 Grabowski zieht den Schluss: „Italien bedurfte dieser Vereinigung zweier Männer von so entgegengesetztem Charakter“.69 Die Darstellungen des modernen Italien konnten sich stark voneinander unterscheiden und hingen davon ab, welchem Individuum in erster Linie die Verantwortung für die Vereinigung zugesprochen wurde: War sie das revolutionäre Kind Garibaldis, das Ergebnis von Cavours politischen Machenschaften oder das romantische Werk des Intellektuellen Mazzini? Wer war der „real arteficer of modern Italy“70 und wie war eine Biographie zu schreiben, die dies bewies? Der unterstellte Endzweck der nationalen Vereinigung – entweder ein bevorstehendes Desaster, eine Fehlentwicklung der Geschichte oder unaufhaltsamer, siegreicher Fortschritt – überlagerte die Details eines individuellen Lebens ebenso wie die ideologisch geprägten Ansichten zu Italiens Vergangenheit, insbesondere die Idealisierungen Roms als universelle kulturelle und religiöse Hauptstadt. Anmerkungen des deutschen Historikers Ferdinand Gregorovius in seinen römischen Tagebüchern zeigen, wie doppelbödig solche Idealisierungen sein konnten, soweit es um das Wesentliche einer Biographie ging. Zunächst betrachtete Gregorovius Garibaldi als nicht mehr als einen ehrlosen Verschwörer und tat seinen Versuch, Rom den Päpsten zu entreißen und als Hauptstadt eines neuen Italien neu zu erfinden, als lächerlich ab.71 Als Garibaldis militärische Erfolge seine Niederlagen zu übertreffen begannen, änderte der deutsche Historiker seine Haltung: Es ist ein wunderbares Schauspiel, das neue Reich Italien wie durch Zauber entstehen zu sehen. Wenn die Zeit jetzt jene Vorg nge hinter den Coulissen wird verh llt und alles, was daran abenteuerlich und perfide ist, verwischt haben, so werden Cavour, Victor Emmanuel und Garibaldi doch als Helden dieser Epoche hervorragen [Hervorhebung d. Vf.]. Während ich die Kämpfe und Leiden Roms im Mittelalter schreibe, ist die Beobachtung der Gegenwart, welche ein Werk ausführt, woran die Jahrhunderte verzweifelt haben, etwas gar nicht genug zu Schätzendes für den Geschichtsschreiber.72 67 68 69 70 71 72
Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Ebd. Campanella: Bibliografia garibaldiana, S. VIII. Ujma: Fanny Lewalds urbanes Arkadien, S. 255 f. Rom, 7. November 1860. In: Ferdinand Gregorovius: Rçmische Tageb cher. München 1991, S. 113.
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Gregorovius gibt hier zu, scheinbar ohne Ironie, dass die historische Distanz dabei hilft, Helden zu schaffen; ein zu genauer Blick auf die tatsächlichen Details ihrer Taten und Motive würde vom „Zauber“ ablenken, den er im Vereinigungsprozess sehen möchte. Obwohl die zeitgenössischen Garibaldi-Biographen über hochaktuelle Neuigkeiten schrieben, nahmen sie häufig bewusst eine historisierende Haltung ein, die an ältere Traditionen der Rezeption Italiens in Deutschland anknüpfte. Garibaldi wird als Renaissance-Condottiere, als klassischer Held aus dem antiken Rom oder als mittelalterlicher Volksheld gesehen – alles andere als ein moderner Guerrilla-Kämpfer. Sogar Alfred von Reumont, kein Freund des Risorgimento, ließ eine gewisse widerwillige Bewunderung für Garibaldi zu, so lange sie in historische Begriffe gefasst war: „Die Geschichte des Garibaldi’schen Feldzugs findet nur in den spanischen Expeditionen des sechzehnten Jahrhunderts in America ein Gegenstück.“73 Diese Tendenz, Italiener in pittoresker historischer Distanz darzustellen, setzte sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein fort. Ricarda Huch behauptete in der Einleitung zu ihrer biographischen Anthologie Menschen und Schicksale aus dem Risorgimento (1908): Das italienische Risorgimento ist eine Fundgrube an tatenreichen Menschen und auffallenden Begebenheiten, wie für die meisten Völker ihre Wanderungen und Eroberungskriege in entlegener Vorzeit, wie etwa für Nordamerika die Geschichte der ersten Ansiedelungen und der Verdrängung der Indianer.74
Und manche deutsche Kommentatoren des italienischen Faschismus sollten durch diese biographische Tradition zu einer Verharmlosung von Mussolinis Biographie verführt werden.75 Deutsche Biographen von Figuren des Risorgimento beschworen historische Distanz avant la lettre nicht nur, indem sie Garibaldi die Rolle eines Condottiere oder klassischen Helden gaben, sondern auch, indem sie wiederholt die geographische Distanz zwischen dem Schauplatz der Biographien und ihrem Zielpublikum betonten. Die Tradition der 73 Alfred von Reumont: Biographische Denkbl tter nach persçnlichen Erinnerungen. Leipzig 1878, S. 122 f. 74 Ricarda Huch: „Menschen und Schicksale aus dem Risorgimento“. In: dies.: Gesammelte Werke IX. Geschichte 1. S. 305 – 500, hier S. 307. 75 Vgl. zum Beispiel Emil Ludwig und Rudolf Borchardt, deren Zugänge zum Duce analysiert werden in: Deborah Holmes: Ignazio Silone in Exile. Aldershot 2005, S. 48, S. 176, S. 148 – 151.
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deutschen Reiseberichte zu Italien zeigt sich in diesen Texten fortwährend, und es ist auffällig, wie viele Garibaldi-Biographien nicht mit einer Darstellung seiner Familiengeschichte oder seiner politischen und kulturellen Bedeutung beginnen, sondern in medias res mit ausgedehnten topographischen Klischees. Wie wir gesehen haben, liefert Schwartz eine Standardschilderung des Golf von Neapel, inklusive Wein und Mandolinen; Grabowski beschreibt das Gewirr im Hafen von Genua; Rau nimmt einen Aussichtspunkt auf den Klippen über Nizza ein, von wo aus er den LeserInnen eine besonders überschwängliche Schilderung der üppigen mediterranen Vegetation, des Meeres und des Himmels liefert: …welch’ ein Blau oben und unten! Welch’ ein Blau des mittelländischen Meeres und dieses südlichen Himmels! Entzückend, unglaublich für den, der es nur aus Gemälden ahnend kennt, die Götterschöne desselben aber noch nicht selbst erschaut hat! Bei dem Anblick dieses Meeres und dieses Himmels wird es uns klar und leicht verständlich, wie die Griechen – diese einfachen und doch geistig so hochbegabten Kinder der Natur – in beiden, in Himmel und Meer, gewaltig-erhabene Gottheiten ahnten….76
Jede der Episoden in Raus eigenwilliger Biographie beginnt mit einer ausführlichen Darstellung der Landschaft oder einer Stadt. Seine Schilderung Roms klingt nach einem Reiseführer und geleitet die LeserInnen durch seine Straßen und zu Attraktionen der Vergangenheit, bevor er mit der apokryphen Geschichte des Besuches des jungen Garibaldi im Kolosseum fortsetzt. Er geht nicht nur auf die Architektur ein, sondern auch auf die Atmosphäre und Bevölkerung der Stadt und nutzt die Gelegenheit die Wirkung auszuführen, die das milde Klima und die fruchtbare Erde auf den italienischen Nationalcharakter haben. Sogar Rasch, dessen Garibaldi-Biographie ernsthafte politische Ziele verfolgt, setzt in seiner Einleitung ähnliche Klischees ein, wenngleich in einer konziseren und formelhaften Art: Beispielsweise klingt Garibaldis Stimme in seinen Ansprachen an die Bevölkerung von Neapel „[heute noch] zu mir herüber – über das blaue Meer und über die schneebedeckten Alpen“. Obwohl er behauptet, die übliche stereotype Meinung der Deutschen über die Rückständigkeit des südlichen Italien nicht zu teilen, beschreibt er die Neapolitaner wie folgt: Die schönen dunklen Augen der in Lumpen gehüllten Lazzaroni und der armen Fischer, welche auf den märchenhaft schönen Inseln des Golfs 76 Rau: Garibaldi, S. 8.
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wohnen und deren ganzer Ideenkreis sich um Maccaroni, Nichtsthun und die Madonna dreht, leuchteten vor Begeisterung, wenn sie von ihrem höchsten Wesen, von Garibaldi, sprachen, den sie für den auf die Erde niedergestiegenen Christus erklärten.77
Wie ehrlich auch immer die Biographen Garibaldi und seine Sache unterstützen, die Exotisierung Italiens an zentralen Punkten ihrer Arbeiten hält die Hierarchie des kühlen nordischen Beobachters aufrecht, der zwar voller Bewunderung ist, sich aber letztendlich von seinen einfältigen und leicht erregbaren südlichen Subjekten distanziert.78 Die Lebensgeschichte eines zeitgenössischen Nationalhelden, des werdenden Helden einer werdenden Nation, stellte sich paradoxerweise als äußerst unbrauchbar heraus, um neue Perspektiven auf das Verhältnis zwischen deutscher und italienischer Kultur zu eröffnen. Übersetzung aus dem Englischen: Hannes Schweiger
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V. Biographie und Medialität
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Lebensbilder Biographie und die Sprache der bildenden Künste
Caitr ona N Dhfflill Das enge und komplexe Verhältnis zwischen Biographie und der Sprache der bildenden Künste wurde in der jüngeren Theorie der Biographie mehr oder weniger vernachlässigt. Mit der ,Sprache der bildenden Künste‘ sind nicht die ,Codes‘ oder ,Botschaften‘ gemeint, die in Bildern, Skulpturen oder anderen visuellen Kunstformen enthalten sind oder in sie hineingelesen werden können, sondern es geht um den sprachlichen Umgang mit visuellen Kunstwerken. Bilder sollen hier demnach nicht als Gegenstand der Semiotik gesehen werden, um Licht auf ihre Funktion in biographischen Darstellungen zu werfen, obwohl auch dies eine lohnende Aufgabe wäre. Es geht vielmehr um die Frage, wie die diskursive Praxis, die rund um Bilder und das BildText-Verhältnis entstanden ist, eine reichhaltige Metaphernquelle darstellt, aus der biographische Texte schöpfen. Indem wir die Funktionsweisen der Anleihen und Analogien, die in Biographien zum Einsatz kommen, untersuchen, können wir uns einem schwierigeren Problem nähern: dem Problem der Biographie als Praxis der Repräsentation, die fortwährend an ihre eigenen formalen und medialen Grenzen stößt. Metaphern aus den bildenden Künsten Drei Zitate, aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert, machen deutlich, worauf diese Untersuchung abzielt: In jedem dieser Beispiele bedient sich ein/e Biograph/in der Sprache der Malerei oder Bildhauerei, um einen Aspekt seiner oder ihrer biographischen Praxis zu beleuchten. „In every picture there should be shade as well as light.“1 Dieser Satz stammt aus einem Abschnitt von James Boswells Life of Johnson, in dem er seine Methode erklärt, sein biographisches Objekt so darzustellen, 1
James Boswell: The Life of Samuel Johnson, LL.D [1791]. Hg. v. R. W. Chapman. Oxford 1998, S. 22.
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,wie es wirklich war‘. Boswells Bedeutung für die moderne Biographik besteht zum Teil darin, dass er seinen Ansatz – „delineation without reserve“ – klar abgrenzt von „panegyrick, which must be all praise“. Boswells Forderung nach „shade as well as light“ zeigt, wie breit das Bedeutungsspektrum von Metaphern aus den bildenden Künsten ist. Allein diese Formulierung enthält in verdichteter Form Bezüge zur Methodologie, zum Realismusanspruch und zur Pflicht des Biographen, die ,dunklen‘ Seiten einer Person nicht auszublenden. Ein späterer Biograph, Sainte-Beuve, setzt visuelle Metaphorik völlig anders als Boswell ein, um über die Begegnung zwischen dem Biographen und seinem Objekt nachzudenken: On s’enferme pendant une quinzaine de jours avec les écrits d’un mort célèbre, poète ou philosophe; on l’étudie, on le retourne, on l’interroge à loisir; on le fait poser devant soi; c’est presque comme si l’on passait quinze jours à la campagne à faire le portrait ou le buste de Byron, de Scott, de Goethe; seulement on est plus à l’aise avec son modèle, et le tête-à-tête, en même temps qu’il exige un peu plus d’attention, comporte beaucoup plus de familiarité.2
Sainte-Beuve zieht Parallelen zwischen der Herstellung einer Büste oder eines Porträts und den Untersuchungen an den schriftlichen Spuren des biographischen Objekts und gibt dabei der sprachlichen Präsenz im Text den Vorzug gegenüber einer sichtbaren Anwesenheit im Bild. Zwei Wochen, die über den schriftlichen Hinterlassenschaften verbracht werden, mögen zwar große Aufmerksamkeit erfordern, aber sie erlauben eine Vertrautheit mit dem Objekt, die eine persönliche Begegnung nicht zulässt. Damit berührt Sainte-Beuve eine grundlegende Frage, die in der Geschichte des Bild-Text-Verhältnisses immer wieder auftauchte, wobei der Vergleich zwischen den Medien auf eine Form 2
Charles Augustin Sainte-Beuve: Portraits Litt raires [1848 und 1876 – 78]. Hg. v. Gérald Antoine. Paris 1993, S. 166. Deutsch: „Man schließt sich etwa vierzehn Tage lang mit den Schriften eines berühmten Toten, sei er nun Dichter oder Philosoph, ein, man studiert ihn, man betrachtet ihn von allen Seiten, man fragt ihn nach Herzenslust aus, man läßt ihn vor sich Modell stehen. Es ist fast so, als verbrächte man zwei Wochen auf dem Lande, um ein Porträt oder eine Büste Byrons, Scotts oder Goethes zu machen. Nur daß man es mit seinem Modell bequemer hat und daß dieses Zusammensein zwar etwas mehr Aufmerksamkeit fordert, aber dafür viel mehr Vertraulichkeit gestattet.“ In: Sainte-Beuve: Literarische Portraits aus dem Frankreich des XVII.-XIX. Jahrhunderts. Hg. v. Stefan Zweig. Stuttgart u. a. 1949, S. 354.
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des Wettstreits hinauslief 3 : Welches Medium kann mehr, welches Medium hat, was dem anderen fehlt? Sollte das eine Medium versuchen, dem anderen nachzueifern, im Sinne des Diktums von Horaz: ut pictura poesis? In dieser anhaltenden Debatte eröffnet die Funktion der visuellen Metapher in Biographien eine neue Perspektive. Die Sprache der bildenden Künste kann auch genutzt werden, um sich mit einem Problem auseinanderzusetzen, das alle BiographInnen beschäftigt: das Gefühl, dass das Wissen über das biographische Objekt in einem wesentlichen Punkt unvollständig sein könnte; dass es Erkenntnisse gibt, die einem nicht bewusst sind, oder eine Perspektive, die einem fehlt und die die Sicht auf eine Person nicht nur erweitern oder verbessern, sondern sie auf radikale Weise transformieren würde. In einem Rückblick auf ihre eigene Erfahrung als Biographin schreibt Carol Ascher: What if one of them [Ascher bezieht sich auf andere WissenschaftlerInnen, die zum Zeitpunkt ihrer Recherchen zu Beauvoir arbeiten, Anm. d. Verf.] had seen a side of de Beauvoir that was nowhere else revealed? Would it throw off the outlines of my drawing or simply fill in a hazy area with delicate detail? […] I imagine Simone de Beauvoir sitting in the live-model drawing class I once took. People sit or stand on all sides of her. Some see her from the right, others from the left. One drawing focuses on a best elbow; another captures the edge of a cheek. All the drawings are of Simone de Beauvoir, but only the teacher, who moves godlike about the room and rests momentarily beside each student, can begin to perceive the whole. And even then…4
Diese drei Beispiele zeigen, wie BiographInnen auf die Sprache der bildenden Künste angewiesen sind. Sie stellen damit in der jahrhundertelangen biographischen Praxis keine Ausnahmen dar, ist doch die Indienstnahme visueller Metaphorik ein fundamentaler Bestandteil biographischen Diskurses. Die Art und Weise der Verwendung visueller Metaphorik in biographischen Texten verweist auf eine tiefergehende 3
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Zu den Schlüsseltexten in der Geschichte dieser Debatte gehören u. a.: Lionardo da Vinci: Das Buch von der Malerei. Nach dem Codex Vaticanus (Urbinas) 1270. Hg. v. Heinrich Ludwig. Wien 1882; G. E. Lessing: „Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“. In: Lessings Werke. Bd. 3. Hg. v. Kurt Wölfel. Frankfurt/M. 1967, S. 7 – 171. Carol Ascher: „On ,Clearing the Air‘. My Letter to Simone de Beauvoir“. In: Between Women. Biographers, Novelists, Critics, Teachers and Artists Write About Their Work on Women. Hg. v. Carol Ascher, Louise DeSalvo u. Sara Ruddick. London 1993, S. 85 – 103, hier S. 100. Es geht um folgende Biographie: Carol Ascher: Simone de Beauvoir. A Life of Freedom. Brighton 1981.
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intermediale Abhängigkeit. Die Konzepte der Beschreibung und Porträtierung sind erkenntnisleitend für das Verhältnis zwischen BiographIn, Objekt und LeserIn und weisen auf einige der grundlegenden Prämissen, aber auch auf Grenzen des biographischen Unterfangens hin. Die zeitliche Dimension der biographischen Erzählung muss durch andere Formen der Repräsentation ergänzt werden, um dem räumlichen Aspekt des Lebens gerecht zu werden. (Ich kehre später zur umstrittenen Koppelung der bildenden Künste mit der räumlichen, der verbalen Künste mit der zeitlichen Dimension zurück, wie sie mit Lessings Laokoon kanonisiert wurde). Biographien stützen sich in hohem Maße auf Analogien mit der Kunst des Porträtierens und setzen bei ihrem Versuch, das Objekt zu erfassen, Metaphern von Licht und Schatten, Ähnlichkeit und Perspektive ein. Die Unterschiede zwischen dem Visuellen und dem Verbalen laufen aber letztendlich auf ihre Inkommensurabilität hinaus. Das spannungsreiche intermediale Verhältnis zwischen Wort und Bild führt also zum Kernproblem der Biographie: Wie kann man ein Leben (be)schreiben? Das Biographische und das Visuelle Welche Rolle die Sprache der bildenden Künste in biographischen Texten spielt, ist Teil der umfassenderen Frage nach dem Verhältnis von Biographie und Bild. Dies ist, wenn auch nicht ausschließlich, eine mediale Frage. In einem zunehmend von Bildmedien bestimmten Zeitalter ist es einfach undenkbar, eine Biographie (sei es populär oder wissenschaftlich) ohne irgendwelche Illustrationen zu veröffentlichen. Vor weniger als einem Jahrhundert waren Biographien ohne Abbildungen keine Ausnahme.5 Bilder, Porträts und seit Beginn des fotografischen Zeitalters auch Fotos stellen zusammen eine signifikante und anscheinend notwendige Facette biographischer Repräsentationen dar, es wird jedoch deren komplexe Beziehung zum biographischen Text häufig übersehen. Das eingefrorene zwei-dimensionale Bild unterbricht 5
Beispielsweise wurden populäre biographische Sammlungen wie Emil Ludwigs Genie und Charakter (1924) und Lytton Stracheys Portraits in Miniature (1931) ohne Abbildungen veröffentlicht. Sigrid Weigels Studie zu Ingeborg Bachmann (Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999) ist eine bemerkenswerte jüngere Ausnahme von der gängigen Praxis, das biographische Objekt in Bildern vorzuführen, kann aber als Teil ihres Gegenprojekts zur Ikonisierung Bachmanns verstanden werden.
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den biographischen Erzählfluss und bestimmt die Vorstellung, welche die Leserin formt; es unterscheidet sich als Lebensspur von schriftlichen Dokumenten; es erhält den Status einer Ikone und kann vom biographischen Text wieder relativiert, kontextualisiert und in Frage gestellt werden; und in Verbindung mit anderen Bildern des biographischen Objekts manifestieren sich darin Prozesse der körperlichen Veränderung und des Alterns, die so oft verschwiegen oder in einer chronologischen Erzählung als selbstverständlich betrachtet werden können. Der Status des Bildes als Gegenstück zum geschriebenen Wort erhält eine zusätzliche Dimension im Zeitalter des Kinos, da das Verhältnis zwischen Schauspiel und Erzählung im neuen Medium Film auf eine besonders greifbare und dynamische Weise inszeniert wird. Eine eingehende Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, die verschiedene visuelle Medien für biographische Repräsentationen bieten, übersteigt den Umfang dieses Beitrages; dies würde eine Untersuchung der Biographie als eines spezifischen institutionellen Kontextes einschließen müssen, um das zu beleuchten, was W. J. T. Mitchell, einer der wichtigsten zeitgenössischen Bild-Text-Theoretiker, „the suturing of the imagetext“ nennt.6 Mit dem aus der Chirurgie stammenden Begriff des suture – wörtlich Wundnaht – wird hier die Verbindung von Text und Bild bezeichnet, bei der die Narbe als trennende und zugleich die Wunde schließende Markierung erhalten bleibt, wenngleich nicht unbedingt sichtbar. Die Bildmetaphorik im biographischen Diskurs wirft die Frage auf, welche Funktion Abbildungen in der biographischen Darstellung einer Person erfüllen. Im größeren Kontext der Bild-Text-Intermedialität wird hier das Hauptaugenmerk aber auf intermediale Bezüge innerhalb des biographischen Textes und in Texten über Biographien gerichtet.7 In der gegenwärtigen Theorie der Biographie fehlt eine eingehende Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der langen und komplexen Debatte zum Wort-Bild-Verhältnis. Trotz der zunehmenden Zahl an Studien, die sich der Analyse von Biographien widmen und die Vielfalt biographischer Praxis untersuchen, gibt es einen Mangel an Reflexion über das Verhältnis zwischen dem Visuellen und dem Verbalen in biographischen Texten. Im englischsprachigen literarischen Diskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bezeichnete das Wort portrait nicht nur 6 7
W. J. T. Mitchell: Picture Theory. Chicago, London 1994, S. 210. Zur Unterscheidung zwischen ,Intermedialität‘ und ,intermedialen Bezügen‘, vgl. Irina O. Rajewsky: Intermedialit t. Tübingen, Basel 2002, S. 3 – 5.
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bzw. nicht einmal in erster Linie die visuelle Darstellung eines Individuums, sondern vielmehr eine abgespeckte Form der Biographie, wie sie Lytton Strachey geprägt hat. Mit den portraits wollte man von der faktenbeladenen Biographie großen Umfangs wegkommen. Zu den bedeutenden historischen Beispielen zählen Sainte-Beuves bereits zitierte Portraits Litt raires (1848 und 1876 – 78); Edmond Gosses Critical Kit-Kats (1896);8 Emil Ludwigs Genie und Charakter (1924) mit dem Untertitel Sammlung m nnlicher Bildnisse; Geoffrey Scotts Portrait of Z lide (1925); und Stracheys Portraits in Miniature (1931). Diese Abwandlung des Wortes ,portrait‘ geht den postviktorianischen formalen Experimenten einer verdichteten Biographie voraus, wie in einer anonymen Rezension aus dem Jahr 1857 deutlich wird: „We want to see a portrait, not an inventory of the features possessed by the subject.“9 Die langlebige Praxis, Biographie und Porträtkunst in Beziehung zueinander zu setzen, erfährt in Nigel Hamiltons 2007 erschienener Studie Biography: A Brief History eine auffallende neue Wendung. Hamilton führt in seinem – zweifelsohne nützlichen und anregenden – Konzept der ,life depiction‘ das Visuelle und Verbale auf höchst problematische Weise zusammen. Er erweitert das biographische Spektrum um Lebensdarstellungen in verschiedenen Formen und Medien und schließt dabei die bildenden Künste und Film mit ein. Das graph in Biographie spiegelt daher in seiner Verwendung die komplexe Semantik von graphein wider, die Schreiben und Zeichnen (graphische Kunst) gleichermaßen umfasst.10 Hamilton zeigt Wahlverwandtschaften zwischen BiographInnen und PorträtkünstlerInnen quer durch die Jahrhunderte auf, wie sie beispielsweise in der folgenden Aussage von John Aubrey (1626 – 1697), einem der bedeutendsten englischsprachigen Biographen der frühen Neuzeit, deutlich werden: „If ever I had 8 Ein kit-kat ist eine Form des Porträts, weniger als halb so groß wie ein Standardporträt, das den Kopf und eine Hand zeigt; der Name kommt vom literarischen Kit-Cat Club, in dem das Speisezimmer zu niedrig für Porträts in halber oder voller Größe war. Vgl. The Penguin Dictionary of Literary Terms and Literary Theory. Hg. v. J. A. Cuddon. London 1999, Stichwort „kit-kat“. 9 Anon.: „Contemporary Literature“. In: Westminster and Foreign Quarterly Review 68 (1857), S. 581. Zit. nach: Ira Bruce Nadel: Biography. Fiction, Fact and Form. New York 1984, S. 15. 10 Zu graphein vgl. Valeska von Rosen: „Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des Ut-pictura-poesis und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept“. In: Marburger Jahrbuch f r Kunstwissenschaft 27 (2000), S. 171 – 208, hier S. 171, S. 197.
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been good for anything, ’twould have been a painter, I could fancy a thing so strongly and had so cleare an idea of it.“ Hamilton zufolge war und blieb Aubrey „not so much a biographer as a ,portraiter‘“.11 Mit Dryden wurde, so Hamilton, in der Biographik eine falsche Richtung eingeschlagen, da man sie auf das geschriebene Wort beschränkte und das Biographische in anderen künstlerischen Ausdrucksformen vernachlässigte. Er übt Kritik an dem aus seiner Sicht bestehenden Logozentrismus der modernen Biographie und zielt auf eine Ausweitung des Biographischen auf andere Formen und Medien ab.12 Dabei läuft er aber Gefahr, das Spezifische an der textuellen Darstellung auszublenden und für die Biographie dem umstrittenen Diktum ut pictura poesis wieder Geltung zu verschaffen, das die Unterscheidung zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren tendenziell aufhebt.13 Ein genauer Blick auf die Art und Weise, wie biographische Texte über die eigenen Grenzen hinaus in das Feld des Visuellen vorstoßen, eine Analyse der transmedialen Anleihen mittels Metapher, kann unser Bewusstsein für mediale Differenzen und Inkommensurabilitäten schärfen und zu einem nuancierteren Verständnis der Interaktion zwischen Wort und Bild in biographischen Texten beitragen. W. J. T. Mitchells grundlegende Fragen zum Wort-Bild-Verhältnis eröffnen eine neue Perspektive auf biographische Darstellungen: „[W]hat is the difference (or similarity) between the words and the images?“ Und: „[W]hat difference do the differences (and similarities) make? […] why does it matter how words and images are juxtaposed, blended, or separated?“14
11 Nigel Hamilton: Biography. A Brief History. Cambridge (Mass.), London 2007, S. 84. 12 Ebd., S. 82. 13 Zur langen Geschichte der Fehlinterpretation und Dekontextualisierung, die diese Horazsche Formel vom Zeitpunkt ihrer Formulierung an begleitet, siehe Gabriele K. Sprigath: „Das Dictum des Simonides: Der Vergleich von Dichtung und Malerei“. In: Poetica 36 (2004), S. 243 – 280; auch Mario Praz: „Ut pictura poesis“. In: ders.: Mnemosyne. The Parallel between Literature and the Visual Arts. Princeton 1967, S. 3 – 27. 14 Mitchell: Picture Theory, S. 91.
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Der Biograph als Porträtmaler Hamilton reiht sich mit seinem kontroversiellen Vorschlag, sehr unterschiedliche Formen und Medien unter dem Oberbegriff life depiction zu fassen15, in eine lange Tradition des Zusammenspannens von Beschreibung und Darstellung in Biographien ein. Dass eine bestimmte Form der Biographie als Porträt bezeichnet wird, scheint, wie wir gesehen haben, weitgehend anerkannt zu sein; die davon abzuleitenden Implikationen hinsichtlich des Bild-Text-Verhältnisses für die biographische Praxis müssen allerdings erst näher untersucht werden. Ira Bruce Nadels geradlinige Analogie zwischen Bild und Text erscheint typisch: „The head and the hand of the sitter reveal all.“16 Das Charakteristikum des Porträts, das es dem Betrachter erlaubt, das Objekt mit einem Blick zu erfassen, wird auf das Ideal einer verdichteten Biographie übertragen: „reduction in scale suggests room only for the essential elements.“17 Diese Analogie dient Nadel zweifelsohne dazu, Entwicklungen in der postviktorianischen Biographik zu beschreiben, nivelliert aber die Unterschiede zwischen zwei voneinander zu trennenden Arten der Wahrnehmung und Darstellung.18 Wie hingen das Sichtbare und das Sagbare, Wort und Bild im biographischen Porträt tatsächlich zusammen? Wie die Bezeichnung bereits nahelegt, beschrieben die VertreterInnen dieser Untergattung der Biographie ihre Aufgabe mit bildhaften Begriffen. Emil Ludwig spielt in seinen Überlegungen zu Porträt und Biographie mit der Vieldeutigkeit des Wortes ,Bild‘: Es kann sich erstens auf das Objekt im Sinne des leiblichen Erscheinungsbildes beziehen; zweitens auf die Vorstellung, die der Betrachter oder Wissenschaftler formt, und drittens auf die visuelle Darstellung als Porträt, Foto oder im Film. Auf die erste Bedeutung bezieht sich Ludwig, wenn er 15 Vgl. Hilary Spurlings vernichtende Kritik: „Oh come on, it’s time you got a life“. In: The Observer 20.5.2007. http://www.guardian.co.uk/books/2007/ may/20/biography.features (Stand: 24. 09. 2008). 16 Nadel: Biography. Fiction, Fact and Form, S. 61. 17 Ebd., S. 60. 18 Die semiotische Wende in der Bildwissenschaft relativiert diesen Unterschied, indem Bilder als Texte verstanden werden, die gelesen werden können. So kritisiert Victor Burgin die Tendenz, das Visuelle und das Verbale als voneinander getrennte, einander entgegengesetzte Bereiche aufzufassen. Vgl. Victor Burgin: The End of Art Theory. Houndmills 1986, S. 51. Siehe Fußnote 21 unten.
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schreibt: „Der Porträtist, das heißt der Künstler als Biograph, geht vom Bilde des Menschen aus.“19 Das Bild ist hier der Ausgangspunkt und nicht das Endprodukt der biographischen Auseinandersetzung mit einer Person; es handelt sich dabei um ein Zeichen, das es zu entschlüsseln gilt und das den Kern der Persönlichkeit zum Vorschein bringt. „Kein Dokument ist untrüglicher als das Antlitz des Menschen; man muß nur darin zu lesen verstehen.“20 Hier nimmt Ludwig die semiotische Wende in der Bildwissenschaft und damit die Idee vorweg, dass Bilder, ähnlich wie Texte, gelesen werden können, d. h. der Interpretation bedürfen21; er weist gleichzeitig dem visuellen Aspekt der Biographie eine vorrangige Bedeutung zu: Als ich Goethe beinahe nur aus seinen Bildern, diese 165 allerdings genau kannte, schrieb ich die Geschichte seines Antlitzes auf zehn Seiten nieder; als ich viele Jahre später nach Kenntnis aller Dokumente die Geschichte Goethes auf 1400 Seiten schrieb, wurde es genau dieselbe.22
Diese – leicht übertriebene – Aussage ist wenig aufschlussreich, was Ludwigs Verständnis des Bild-Text-Verhältnisses betrifft. Sie weist vielmehr auf seine Theorie der Persönlichkeit oder des Charakters als etwas Ganzheitliches hin, das in seiner äußeren Erscheinung Gestalt annimmt – in Übereinstimmung mit der Pseudowissenschaft der Physiognomik. Der hohe Stellenwert, den er dem Bild als biographischer Quelle verleiht, macht eine implizite Hierarchie der Medien deutlich. Das Wort geht in der Biographie oft auf Streifzug auf dem Terrain des Bildlichen; der Versuch, Bilder mit Hilfe von Wörtern zu erzeugen, und die beliebte Bild-Text-Analogie kehren im biographischen Diskurs häufig wieder. Im biographischen Kontext wird die Hierarchie, die dem Text den Vorzug gegenüber dem Bild gibt und in der ut pictura poesisDebatte vor und nach Lessing zu finden ist (wir haben dies schon bei 19 Emil Ludwig: Genie und Charakter. Sammlung m nnlicher Bildnisse [1924]. Berlin u. a. 1932, S. 29 f. 20 Ebd., S. 31. 21 Zur semiotischen Wende in der Bildwissenschaft sowie zur Bildwissenschaft allgemein siehe u. a. Malcolm Barnard: Approaches to Understanding Visual Culture. Basingstoke 2001; Exploring Visual Culture. Definitions, Concepts, Contexts. Hg. v. Matthew Rampley. Edinburgh 2005; Marita Sturken u. Lisa Cartwright: Practices of Looking. An Introduction to Visual Culture. Oxford 2001; sowie Visual Culture. Critical Concepts in Media and Cultural Studies. Hg. v. Joanne Morra u. Marquard Smith. London, New York 2006. 22 Ludwig: Genie und Charakter, S. 30.
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Sainte-Beuve gesehen) 23, oft umgekehrt. Wenn sich die Biographin vor die Aufgabe gestellt sieht, das Objekt zu repräsentieren, wird sie sich mitunter der Unzulänglichkeiten des Mediums Sprache bewusst – ein Problem, zu dem wir zurückkehren werden. Das abwesende Objekt der Biographie ist oder war ein sichtbares, leibliches Objekt und der biographische Text versucht es wieder zu vergegenwärtigen, es zu repräsentieren und dessen Visualisierung zu ermöglichen: ut pictura poesis. Ludwigs Überlegungen zu seiner eigenen biographischen Praxis sind auch in anderer Hinsicht aufschlussreich, beispielsweise, wenn er sich bei der Unterscheidung zwischen Archivrecherchen und der kreativen Herausforderung der biographischen Erzählung auf die BildText-Grenze beruft: Für meine Aufgabe, Bildnisse zu malen, sind durch die Forschung so viele Hilfsmittel bereit gestellt, daß es nur gilt, aus den vielen alten Quellen auszuwählen, nicht neue zu suchen. [Absatz] Aber so wenig ich durch Temperament und Gaben befähigt wäre, an der unersetzlichen Arbeit jener Archivstudien teilzunehmen, so wenig schiene mir der Quellenforscher geeignet, die Aufgabe des Porträtisten zu lösen, an die sich nur ein dramatischer Geist machen sollte.24
Ludwig geht hier an die Grenzen seines Konzepts des Porträts: Nur ein dramatischer Geist sollte sich an einem Porträt versuchen. Der Topos der Biographie als Porträt wird um die Bezugnahme auf eine völlig andere Gattung erweitert: Biographie als Drama, mit Handlung und Figuren. Und doch kann diese kategoriale Verwirrung aufschlussreich sein. Im Drama werden das Visuelle und das Verbale im Raum miteinander in Verbindung gebracht. Biographie wird damit zum Gesamtkunstwerk: zu einem bildhaften Kunstwerk auf der Basis einer Erzählung, in dem Körper im Raum Ereignisse in einem zeitlichen Ablauf darstellen.
23 Vgl. Rosen: „Die Enargeia des Gemäldes“, S. 172; auch Brian Cosgrove: „Murray Krieger. Ekphrasis as Spatial Form, Ekphrasis as Mimesis“. In: Text into Image: Image into Text. Hg. v. Jeff Morrison u. Florian Krobb. Amsterdam 1997, S. 25 – 31. 24 Emil Ludwig: Kunst und Schicksal. Vier Bildnisse. Bern 1953, S. 7 f.
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Technik, Komposition und Form Bevor die Frage von Räumlichkeit und Verkörperung im Hinblick auf ihre Implikationen für das Bild-Text-Verhältnis in biographischen Darstellungen weiter diskutiert wird, erscheint es sinnvoll, einen genaueren Blick darauf zu werfen, wie die Metaphorik der bildenden Künste in Texten zu Biographien eingesetzt wird. Licht und Schatten, Tiefe und Perspektive, Form und Technik sind einige Aspekte der Malerei, die ein starkes metaphorisches Potential für die Biographie aufweisen. Wie wir im Fall des Porträts gesehen haben, kann ein Konzept aus den bildenden Künsten als Kürzel für ein bestimmtes Verständnis biographischen Schreibens fungieren. Das Porträt à la Strachey bezeichnet ein biographisches Modell, das Kürze, Präzision und Verdichtung – „the essential elements“ – den Vorzug gibt gegenüber Detailbesessenheit und übermäßiger Faktenfülle. Auch andere Herangehensweisen werden mit Metaphern aus den bildenden Künsten beschrieben: In seinem Life of Johnson schreibt James Boswell von einem „Flemish picture“, das er von seinem Freund malt; diese Metapher beschwört den proto-photographischen Realismus der holländischen und flämischen Malerei des 17. Jahrhunderts und unterstreicht die Bedeutung von Details für die Herstellung eines Realitätseffekts in der Boswellschen Biographie. Boswell beruft sich auf diesen Malstil, um seine Aufnahme der „most minute particulars“25 zu rechtfertigen; mit dem ewigen Problem der Biographie konfrontiert, was ausgewählt und was ausgelassen werden soll, entscheidet er sich, im Gegensatz zu Strachey, für eine möglichst große Detailfülle. Die ekphrastische Geste, das Medium der Sprache zu erweitern, indem man darüber hinaus in den Bereich des Visuellen vordringt, wird von Boswell zur Legitimierung einer biographischen Methode eingesetzt, die den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und als dessen Pionierleistung sein Life of Johnson gelten kann. (Ich kehre weiter unten zum Konzept der Ekphrasis zurück). Die Bild-Text-Analogien sind nicht nur für Fragen der Form oder der realistischen Darstellung relevant, sondern auch hinsichtlich der Methode. James Field Stanfields Essay On the Study and Composition of Biography aus dem Jahr 1813, der als eine der ersten umfassenden Arbeiten zur Theorie der Biographie gilt, enthält einen Vergleich zwischen den Fähigkeiten, die für ein Porträtgemälde und jenen, die für 25 Zit. nach William H. Epstein: Recognizing Biography. Philadelphia 1987, S. 119.
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biographisches Schreiben erforderlich sind. Stanfield entwirft eine biographische Theorie in einem praxisorientierten oder angewandten Sinn. Er will dem angehenden Biographen Fertigkeiten beibringen und ihn mit seinem Handwerkszeug ausstatten. Seine bevorzugte Analogie ist dabei eine bildliche: So wie es unmöglich wäre, ein visuelles Porträt – „[to] draw the likeness of the most familiar face“ – ohne die notwendige Praxis und das erforderliche Wissen über die „general principles of the art of painting“ zu schaffen und dieses nur durch „long and assiduous exercise“ in der Praxis ausgeführt werden kann, so sollte es auch selbstverständlich sein, eine solide theoretische Grundlage zu schaffen, bevor man sich an „the delineation of a man’s life“ macht.26 Auch die schottische Schriftstellerin und Biographin Margaret Oliphant verwendet die Analogie zu den bildenden Künsten, um methodische Fragen sichtbar zu machen: „In every portrait the due value of differing surfaces and textures must be taken into account, and we must be made to perceive which is mere drapery and apparel, and which the structure of the individual beneath.“27 Bezeichnend ist, dass diese Aussage, ihrem Kontext entnommen, so gut wie wörtlich auf bildende Kunst übertragen werden könnte; tatsächlich ist aber mit Porträt hier das biographische und nicht das visuelle gemeint. Oliphant dient die Metaphorik der bildenden Kunst dazu, Fragen der Authentizität und Oberflächlichkeit anzusprechen; dabei kleidet sie das intellektuell-moralische Problem von Schein versus Wirklichkeit in die Metapher des sinnlichen Erlebens der Unterschiede zwischen verschiedenen Arten von Material. Das metaphorische Sprechen darüber, wie Darstellungen aufgebaut und strukturiert werden, was als vorrangig betrachtet und was eine größere oder kleinere Rolle im biographischen Text spielen soll, speist sich aus den bildenden Künsten. Die Beziehung zwischen Vordergrund und Hintergrund dient André Maurois in seinen 1943 gehaltenen Vorlesungen zur Theorie der Biographie als Modell für das Verhältnis des biographischen Objekts zu seinem historischen Kontext: It seems to me that the problem should be faced in the same way as the portrait painter faces the problem of composing his picture. He has a right 26 James Field Stanfield: An Essay on the Study and Composition of Biography. Sunderland 1813. Zit. nach Biography as an Art. Selected Criticism 1560 – 1960. Hg. v. James L. Clifford. London 1962, S. 61 – 62. 27 Margaret Oliphant: „The Ethics of Biography“. In: Contemporary Review ( Juli 1883), S. 82 – 84, S. 88 – 91. Zit. nach Clifford: Biography as an Art, S. 99.
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to choose between showing the painted figure isolated on a plain background, painting it in its familiar surroundings, or giving it an elaborate historical background…Also the painter has a right to leave a wider or smaller margin around the central figure…but there is a limit to the portrait painter’s freedom of choice. If the margin is too large, or the background too important, there is a risk of killing the real subject. Then the picture would no more be a portrait; it might become a landscape, or an ,intérieur‘, or a battle scene.28
Maurois nimmt für seine Darstellung einer der größten Herausforderungen des Biographen Anleihe bei der Malerei: Wie geht man in einem Genre, das per definitionem auf das Individuum fokussiert, mit dem Sozialen, dem Kollektiven um? Maurois bezeichnet Letzteres in naiver Weise als historischen ,Hintergrund‘; dadurch erinnert er uns daran, dass die Vorstellung eines historischen Hintergrunds als einer Art Kulisse, vor der das biographische Objekt platziert wird, eine Metapher ist – und zwar eine trügerische. Durch eine Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie es um die Beziehung zwischen Vordergrund und Hintergrund in den bildenden Künsten bestellt ist, können einige der grundlegenden Annahmen der Biographik in Frage gestellt werden. Vordergrund und Hintergrund weisen nämlich keine feststehende Beziehung zueinander auf, die Anspruch auf universelle Gültigkeit hätte, sondern sie sind vielmehr mediale Effekte, die durch eine bestimmte Perspektive und Kompositionstechnik erzeugt werden. Von der Analogie zur Ekphrasis Maurois ist nicht der einzige, der sich für die Auseinandersetzung mit diesem biographietheoretischen Problem der Sprache der bildenden Künste bedient. John Dryden verwendete drei Jahrhunderte zuvor in ähnlicher Weise eine bildliche Analogie, als er die Vorteile der Biographie gegenüber der Geschichtsschreibung betonte: The lineaments, features, and colourings of a single picture may be hit exactly; but in a History-piece of many figures, the general design, the ordinance or disposition of it, the Relation of one figure to another, the diversity of the posture, habits, shadowings, and all the other graces conspiring to an uniformity, are of so difficult performance, that neither is the 28 André Maurois: The Ethics of Biography [1943]. Zitiert nach Clifford: Biography as an Art, S. 163.
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resemblance of particular persons often perfect, nor the beauty of the piece compleat.29
Wenn der Biograph zu viele historische Details liefert und zu viel in seine Biographie verpackt, verlieren die LeserInnen die biographierte Person aus den Augen. Zwei Jahrhunderte nach Dryden argumentiert Lytton Strachey im Vorwort zu seinen Eminent Victorians ganz ähnlich und fasst sein Plädoyer für eine gezielte Auswahl und entsprechende Auslassungen in das anschauliche Bild vom „little bucket“, mit dem es aus dem „great ocean of material“ zu schöpfen gilt.30 Weniger entscheidend als die methodologischen Fragen Einzelobjekt versus mehrere Objekte oder Auslassungen versus Inklusion ist im Kontext unserer Fragestellung die Verwendung ekphrastischer Sprache bei Dryden. Ekphrasis heißt im Griechischen ,Beschreibung‘ und meint eine Übersetzung bildender Kunstwerke in Worte; sie wird am einfachsten als verbale Repräsentation von visuellen Repräsentationen definiert.31 Diese rhetorische Figur hat weitreichendere Implikationen für den biographischen Diskurs, als man zunächst annehmen würde. Drydens Ekphrasis betrifft in erster Linie die Struktur und die innere Ordnung des visuellen Kunstwerks und bezieht sich in diesem Fall auf ein Historiengemälde, in dem viele Figuren in unterschiedlichen ,postures‘ zu sehen sind, die mit Sorgfalt dargestellt werden: ,Habits‘, hier in der Bedeutung von Kleidung, bezieht sich beispielsweise auf die 29 John Dryden: „The Life of Plutarch“ [1683]. In: The Works of John Dryden. Bd. 17. Hg. v. H. T. Swedenberg, Jr. Berkeley 1971, S. 239 – 288, hier S. 274. 30 Lytton Strachey: Eminent Victorians [1918]. London 1960, S. 6. 31 Hans-Peter Wagner: „Ekphrasis“. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hg. v. Ansgar Nünning. Stuttgart 2008. Rajewsky stellt in jüngerer Zeit eine Tendenz fest, Ekphrasis auf die verbale Repräsentation jedes ,Textes‘ in einem nicht-sprachlichen Zeichensystem zu beziehen (Rajewsky: Intermedialit t, S. 196.); da mit diesem weit gefassten Begriff, der auch auf andere Medien und Kunstformen wie Musik und Tanz ausgedehnt wird, die Bild-Text-Problematik aus dem Blick gerät, bleibe ich bei der Definition von Ekphrasis als sprachliche Repräsentation einer bildlichen Repräsentation, wie sie von Murray Krieger, Gottfried Boehm und W. J. T. Mitchell verwendet wird. Vgl. Gottfried Boehm: „Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache“. In: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung: Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. v. Gottfried Boehm u. Helmut Pfotenhauer. München 1995, S. 23 – 40; auch Claus Clüver: „Ekphrasis Reconsidered. On Verbal Representation of Non-Verbal Texts“. In: Interart Poetics. Essays on the Interrelations of the Arts and Media. Hg. v. Ulla-Britta Lagerroth, Hans Lund u. Erik Hedling. Amsterdam 1997, S. 19 – 33.
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gemalte Illusion der Stofflichkeit, des Faltenwurfs eines Kleidungsstücks; ,shadowings‘ meint das Spiel von Licht und Schatten, von hellen und dunklen Farbtönen, das Tiefe, Perspektive und Realitätseffekt in einem zweidimensionalen Medium erzeugt; und ,the relation of one figure to another‘ bezieht sich auf den Gesamtaufbau des Gemäldes. Es ließe sich einwenden, dass es sich dabei im strengen Sinn nicht um eine Ekphrasis handelt, da nicht von einem bestimmten visuellen Kunstwerk die Rede ist, sondern von der abstrakten Vorstellung einer bildhaften Komposition. Man könnte argumentieren, Dryden gehe es lediglich um dieses imaginäre Gemälde, diese ,history-piece of many figures‘, in seiner Funktion als Analogie für den Verfasser historischer und biographischer Darstellungen; er verwendet dieses Bild, um Fragen der Überfülle und Fokussierung, des Vorder- und Hintergrunds anzusprechen. Ein genauer Blick auf die Geschichte der Ekphrasis als rhetorisches Mittel und als Ausdrucksform seit der Antike macht jedoch deutlich, dass ihre historische Praxis über die verbale Repräsentation von visuellen Repräsentationen hinausgeht. Das bekannteste Beispiel für Ekphrasis in der Antike ist Homers Beschreibung von Achilles Schild im achtzehnten Gesang der Ilias. Bereits hier zeigt sich in zweierlei Weise, dass Ekphrasis nicht einfach die verbale Repräsentation eines visuellen Kunstwerks ist. Erstens ist der Schild ein fiktionaler, kein real existierender; die Ekphrasis lässt ihn vor dem inneren Auge des Lesers oder der Zuhörerin entstehen, er wird also erst mit Hilfe von Sprache erschaffen und existiert nicht als außersprachliches Gebilde. (Die Bezeichnung ,notional ekphrasis‘ wurde vorgeschlagen, um zwischen verbalen Darstellungen fiktiver Kunstwerke und solcher real existierender zu unterscheiden.) Zweitens enthält der in der Ilias beschriebene Schild wesentlich mehr Details, als auf seiner begrenzten Oberfläche tatsächlich Platz hätten: Der Schild wird zum Bildschirm.32 Im Zeitalter von Kino und Fernsehen ruft die Lektüre von Homers Ekphrasis ein beinahe unheimliches Gefühl hervor, da sie nicht nur eine verbale Darstellung einer visuellen Repräsentation ist, sondern auch bewegte Bilder und Ton zu enthalten scheint, wie in den folgenden Schlacht- und Erntebeschreibungen deutlich wird: Schnell auf die Kommenden stürzt’ aus dem Hinterhalte die Heerschar, Raubt’ und trieb die Herden hinweg, der gehörneten Rinder Und weißwolligen Schaf’, und erschlug die begleitenden Hirten. 32 Murray Krieger: Ekphrasis. The Illusion of the Natural Sign. Baltimore, London 1992, S. XIII – XVII.
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Jene, sobald sie vernahmen das laute Getös’ um die Rinder, Welche die heiligen Tore belagerten; schnell auf die Wagen Sprangen sie, stürzten in fliegendem Lauf, und erreichten sie plötzlich. […] Jünglinge nun, aufjauchzend vor Lust, und rosige Jungfrauen Trugen die süße Frucht in schöngeflochtenen Körben. Mitten auch ging ein Knab’ in der Schar; aus klingender Leier Lockt’ er gefällige Tön’, und sang den Reigen von Linos Mit hellgellender Stimm’; und ringsum tanzten die andern, Froh mit Gesang und Jauchzen und hüpfendem Sprung ihn begleitend.33
Obwohl die Dynamik dieser Darstellung aus dem Kontext heraus damit erklärt werden kann, dass es sich um keinen gewöhnlichen Schild handelt, sondern um ein Meisterwerk, das für einen heldenhaften Kämpfer in der Werkstatt des Hephaistos, des ,Krummfüßigen‘34, geschaffen wurde, wird dennoch deutlich, dass Homer die Grenzen zwischen verschiedenen Medien auslotet. Die Beschreibung des Schilds enthält die Schilderung seiner Herstellung, auf die eine Reihe weiterer kurzer Darstellungen verschiedener Bereiche menschlicher Betätigung folgt, wie beispielsweise Rechtsstreitigkeiten, Landwirtschaft und Krieg, die alle auf dem Schild zu sehen sind. Von Beginn an hat die Ekphrasis somit die Grenzen ihres eigenen scheinbaren Zwecks der Übersetzung eines Bildes in Sprache überschritten. Svetlana Alpers zeigt, dass dies auch auf Giorgio Vasaris ekphrastische Darstellungen von RenaissanceGemälden zutrifft, die im 16. Jahrhundert entstanden.35 Ekphrasis kann in der verbalen Darstellung eines bestimmten tatsächlich existierenden Bildes oder Kunstwerkes bestehen (die frühesten Ekphrasen betrafen häufig Gegenstände wie Krüge oder Wandteppiche) 36, aber sie kann 33 Homer: Ilias und Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß [1780]. Frankfurt/M. 1990, S. 369 – 370. 34 Ebd., S. 316. 35 Vgl. Svetlana Alpers: „Ekphrasis and Aesthetic Attitudes in Vasari’s Lives“. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 23 (1960), S. 190 – 215. Vasari ist mit Blick auf die Theorie der Biographie von besonderem Interesse, da er in seinen zwischen 1550 und 1568 geschriebenen Künstlerbiographien einen neuen Zugang zu Lebensbeschreibungen wählt und dabei biographische Darstellungen mit einer Geschichte des Stils und natürlich der Ekphrasis, der sprachlichen Darstellung ausgewählter Werke italienischer Renaissancekünstler, verbindet. Vgl. Giorgio Vasari: K nstler der Renaissance: Lebensbeschreibungen der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Architekten nach Dokumenten und m ndlichen Berichten. Hg. v. Fritz Schillmann. Wiesbaden, Berlin 1959. 36 Dies spiegelt sich darin wider, dass sich neuere Theorien der Ekphrasis wie die von Mitchell und Krieger besonders für Texte interessieren, in denen solche Gegenstände vorkommen, wie zum Beispiel in Wallace Stevens’ Anecdote of the
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auch darauf abzielen, die Leserin zur Visualisierung eines fiktiven Bildes oder Gegenstandes zu veranlassen. Ekphrasis stellt auch den konventionellen Gegensatz von Beschreibung und Erzählung in Frage, da sie zwar den Fluss der Erzählung zum Stillstand bringt, jedoch auch narrative Elemente oder zeitliche Abläufe enthalten kann. Wie ist das Verhältnis zwischen der rhetorischen Figur der Ekphrasis und der Frage der visuellen Metaphorik in Biographien? Wie wir gesehen haben, werden diese Metaphern oft mit dem Anspruch eingesetzt, eine Person vor dem inneren Auge des Lesers sichtbar oder vorstellbar zu machen. Zweifelsohne weist das Leben eines Menschen außersprachliche und speziell visuelle Aspekte auf, wie etwa die äußere Erscheinung, Habitus, Gesten, Kleidung, materielle und geographische Umgebung. Im Unterschied zu sprachlichen Spuren des Lebens eines Menschen, wie etwa biographische Dokumente oder aufgezeichnete Gespräche, können die visuellen Elemente der Biographie im Text nur durch beschreibende Passagen wiedergegeben werden. Ein bestimmter Anteil an Beschreibungen, die eine Übersetzung visueller Eindrücke in Sprache zum Ziel haben, um der Leserin davon einen Eindruck zu geben, ist daher in Biographien unvermeidlich. Darüber hinaus haben Beschreibungen in Biographien eine andere Funktion als literarische Bildhaftigkeit im Roman oder in anderen literarischen Gattungen, da sie an die materielle Wirklichkeit gebunden sind. Dort, wo die materiellen Spuren eines Menschenlebens nicht mehr anders verfügbar sind als in ihrer Rekonstruktion auf der Basis sprachlich-textueller Überreste, wird der Status der Beschreibung zwar komplexer, aber das Ziel bleibt, einen bildhaften Eindruck zu vermitteln. Während häufig Fotografien und andere Bilder den biographischen Text ergänzen, verweisen sie zugleich auf die mediale Grenze zwischen Wort und Bild und auf die Komplementarität und Inkommensurabilität der Medien, die ich bereits besprochen habe; sie ergänzen den Text und machen damit seine Leerstellen deutlich.
Jar und Keats’ Ode on a Grecian Urn. Siehe Mitchell: „Ekphrasis and the Other“, S. 166 – 167, und Krieger: Ekphrasis, S. XIV.
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Leerstellen und Ergänzungen im intermedialen Verhältnis von Bild und Text Die spezifische Problematik der Bild-Text-Beziehung verdichtet sich in der Kodierung von Leerstellen und Ergänzungen (lack und supplement). Das zeigt sich schon am chiastischen Diktum von Simonides: „Poema loquens pictura, pictura tacitum poema debet esse.“ („Das Gedicht soll sprechende Malerei, Malerei ein stummes/lautloses Gedicht sein.“) Wie Gabriele Sprigath gezeigt hat, führt der häufig daraus gezogene Schluss, dass dem sprechenden Text der Vorzug gegenüber dem stummen Bild zu geben sei, zu einer Verzerrung der ursprünglichen Bedeutung im Dienste einer mimetischen Poetik.37 Mitchell setzte sich mit den ideologischen und politischen Implikationen dieser Assoziation von Bildern mit Mangel und Leerstellen, mit der Abwesenheit von Sprache und der entsprechenden Charakterisierung von Poesie und Schreiben als ,sprechender Malerei‘ auseinander. Das Bild als Objekt des Blicks ist sprachlos und wird zu etwas Besprochenem, Wörter können Bilder mit einschließen und sie wiedererschaffen, beispielsweise mit den Mitteln der Ekphrasis und der Enargeia. Bei der Enargeia handelt es sich um die Erzeugung lebendiger Bilder durch Wörter; der Hörer wird dabei zu einem Betrachter.38 Die häufige Verbindung des Visuellen mit Mangel und Schweigen und des Verbalen mit der Fähigkeit, Bilder zu erzeugen, rührt von einer Ikonophobie her, von einer Angst vor der Kraft der Bilder und von dem daraus resultierenden Wunsch, sie mittels Sprache zu beherrschen und ihre Kraft zu beschränken. Wie oft hervorgehoben wurde, liegt diese Ikonophobie einer hermeneutischen Tradition zugrunde, deren Hauptaufgabe darin besteht, das Sichtbare sagbar zu machen.39 Wenn die Aufgabe der Ekphrasis als Übersetzung eines stummen Bildes in einen sprechenden Text verstanden werden kann, so weist dies 37 Sprigath: „Das Dictum des Simonides“, S. 22. 38 „Enargeia und ihr Äquivalent evidentia bezeichnen sowohl das Verfahren eines Dichters oder Redners, die dem Leser (respektive dem Hörer) beschriebenen Gegenstände und Handlungen optimal „vor Augen zu stellen […] als auch eine dieses leistende Qualität der Sprache“. Von Rosen: „Die Enargeia des Gemäldes“, S. 171. Siehe auch Sprigath: „Das Dictum des Simonides“, S. 8 f.; Boehm: „Bildbeschreibung“, S. 35. 39 Bryan Wolf: „Confessions of a Closet Ekphrastic: Literature, Painting and Other Unnatural Relations“. In: The Yale Journal of Criticism 3 (1990), S. 181 – 203, hier S. 182.
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auf einen weiteren Punkt hin, in dem sie für biographisches Schreiben von Bedeutung ist. Sowohl Ekphrasis als auch Biographie stellen Übersetzungsleistungen dar: vom Bild in Sprache (ein Prozess, der als ,inter-semiotic transposition‘ bezeichnet wurde) 40 bzw. vom Leben in Text. Damit soll nicht behauptet werden, dass diese Übersetzungsprozesse identisch oder auch nur analog sind. Die Vorstellung vom Übersetzen als einer Art Grenzüberschreitung, als einer transformierenden Neuerschaffung in einem anderen Medium oder Bereich, ist jedoch kaum als Paradigma auf Biographie angewendet worden. Konzepte wie Konstruktion, Rekonstruktion und Repräsentation haben die Diskussion darüber dominiert, was beim Schreiben von Biographien geschieht41; sind diese Konzepte auch sehr ergiebig für eine Theorie der Biographie, so fehlt ihnen doch die Komponente der Grenzüberschreitung, die das Übersetzungskonzept nahelegt. An der intermedialen Bild-Text-Grenze zeigt sich sowohl die Schwierigkeit als auch die Faszination des biographischen Unternehmens. Die Verwendung der Sprache der bildenden Künste im biographischen Diskurs weist in eine der Ekphrasis entgegensetzte Richtung. Wenn mit Ekphrasis die Übersetzung von Bildern in Text gemeint ist, dann läuft im Gegensatz dazu die Inanspruchnahme visueller Metaphorik durch die Biographie darauf hinaus, Text in Bilder, Biographie in ein Porträt, das Erzählte in eine visualisierbare Präsenz zu übersetzen – oder zumindest die Möglichkeit einer solchen Übersetzung nahezulegen. Mitchell versteht die ,otherness‘ bildhafter Repräsentation vom Standpunkt der Textualität aus als „a relation of political, diciplinary, or cultural domination in which the ,self‘ is understood to be an active, speaking, seeing subject, while the ,other‘ is projected as a passive, seen and (usually) silent object.“42 Folgt man Mitchell, so kann die ekphrastische Geste biographischen Schreibens etwas über die Subjekt-Objekt-Beziehung offenlegen, die eine Biographie strukturiert. Das biographische Objekt ,spricht‘ durch 40 Clüver: „Ekphrasis Reconsidered“, S. 21. 41 Vgl. beispielsweise Contesting the Subject. Essays in the Postmodern Theory and Practice of Biography and Biographical Criticism. Hg. v. William H. Epstein. West Lafayette 1991; Nadel: Biography. Fiction, Fact and Form; Miranda Seymour: „Shaping the Truth“. In: Mapping Lives. The Uses of Biography. Hg. v. Peter France u. William St Clair. Oxford 2002, S. 253 – 266; Spiegel und Maske. Konstruktionen biographischer Wahrheit. Hg. v. Bernhard Fetz u. Hannes Schweiger. Wien 2006 (= Profile, Bd. 13). 42 Mitchell: „Ekphrasis and the Other“, S. 157.
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seine oder ihre textuellen Hinterlassenschaften; der biographische Text hingegen konstruiert ein besprochenes Anderes, das dem Blick der Leserin dargeboten wird. Die Geschichte der dialektischen Beziehung zwischen Wort und Bild wird durch die Berücksichtigung des biographischen Diskurses um eine Dimension erweitert. In Biographien ist die doppelte Bürde des Wortes allgegenwärtig: es muss erzählen und zeigen, Ereignisse schildern und gleichzeitig bildhafte Vorstellungen evozieren. In seiner Einleitung zu einer 1936 erschienenen Anthologie zur Biographie stellt David Cecil fest, dass die moderne Biographie ,pictorial‘ (bildhaft) ist: „Its author attempts to bring his drama before our mental eye, to make us see the faces of the characters, the scenery in which they lived.“43 Diese Vorstellung vom mentalen oder inneren Auge ist grundlegend für die Ekphrasis, die das visuelle Kunstwerk in Worte zu übersetzen sucht, damit es in der Vorstellung des Lesers in ein mentales Bild übersetzt werden kann. Dabei handelt es sich nicht um eine Bewegung vom Bild zum Text und wieder zurück zum Bild – dann würde man wieder am Ausgangspunkt ankommen –, sondern um eine komplexe Kommunikationskette, die Repräsentation, Rezeption und imaginative Konstruktion mit einschließt. Dies deutet auch Philip Toynbee in seiner Lektüre von Boswells Life of Johnson an: „[W]e transmute what we are reading into the steadily solidifying image of a real man – but always into an image, never into a man.“44 Toynbees Formulierung erfasst zwar die Vorstellung einer Repräsentation zweiten Grades, doch man stolpert dabei über das Wort ,real‘. Laokoon: Über die Grenzen einer Analogie Eine kurze Zwischenbilanz: Das beständige Wechselspiel zwischen Verbalem und Visuellem im biographischen Diskurs wirft Licht auf einige der zentralen Aspekte der Biographik im Allgemeinen. Die bildenden Künste weisen der Biographie Wege, wie das Verhältnis zwischen Subjekt und Kontext, zwischen Vorder- und Hintergrund und zwischen Methode und Ausführung gedacht werden kann. Fragen der 43 An Anthology of Modern Biography. Hg. v. David Cecil. London 1936, S. IXXVI. 44 Philip Toynbee: „Novel and Memoir“. In: Nimbus 2 (1954), S. 21 – 22. Zit. nach Clifford: Biography as an Art, S. 196.
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wirklichkeitsgetreuen Darstellung (verisimilitude) und der Verfälschung werden durch die Analogie von Genauigkeit und Detail in der Porträtkunst angesprochen: Das sprachliche Porträt zielt so wie das bildliche auf Ähnlichkeit (likeness) ab. Das Dreiecksverhältnis von Porträtiertem, Porträtisten und Betrachter wird in jenem von biographischem Objekt, Biographen und Leser so widergespiegelt, dass Fragen der Produktion und Rezeption, der Perspektive und der Erkennbarkeit sowie der Intersubjektivität des biographischen Textes neu gefasst werden können. Malerei und Porträtkunst als Praxis der Repräsentation erhellen das Problem der Darstellung in Biographien. Wie bei jeder Analogie besteht auch hier die Gefahr, dass unter dem rhetorischen Gewicht des Vergleichs die Unterschiede zwischen dem Verbalen und dem Visuellen übersehen oder verwischt werden. In der Mehrzahl der bisher diskutierten Fälle von Dryden bis Boswell, von Theoretikern des 19. Jahrhunderts bis zu BiographInnen der Gegenwart wird der Analogie und dem Vergleich der Vorzug gegenüber der Differenzierung zwischen Visuellem und Verbalem gegeben. Dies lässt den Schluss zu, dass der biographische Diskurs sich da, wo er sich der Sprache der Bilder bedient, auf einem unscharfen Verständnis von ut pictura poesis beruht. Ein geschärftes Bewusstsein für die radikale Inkommensurabilität von Wort und Bild wirkt dieser Tendenz entgegen und hebt die dialektische Spannung zwischen Wort und Bild als klar voneinander zu unterscheidenden Praktiken der Repräsentation hervor45 ; die mediale Differenz in der intermedialen Wort-Bild-Beziehung trägt so dazu bei, die Grenzen der Biographie deutlicher zu bestimmen. Daher ist eine erneute Auseinandersetzung mit Gotthold Ephraim Lessings Argumentation in Laokoon oder ber die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) angebracht. Lessing wies dem Gebiet der sprachlichen Kunst die zeitliche Dimension, der bildhaften Kunst die räumliche Dimension zu: Gegenstände, die nebeneinander oder deren Teile nebeneinander existieren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen Gegenstände der Malerei. 45 Zum Wort-Bild-Verhältnis als einem dialektischen vgl. Mitchell: Picture Theory, S. 83. Mitchell meint, die konzeptuelle Paarung ,Wort/Bild (word and image)‘ sei „simply the unsatisfactory name for an unstable dialectic that constantly shifts its location in representational practices, breaking both pictorial and discursive frames and undermining the assumptions that underwrite the separation of the verbal and visual disciplines“.
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Gegenstände, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie. […] die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters, so wie der Raum das Gebiete des Malers.46
Die meisten theoretischen Texte zum Bild-Text-Verhältnis beginnen damit, auf die Mängel von Lessings Argumentation hinzuweisen oder sich zumindest kritisch mit seiner beharrlichen Behauptung auseinanderzusetzen, dass die Grenze zwischen Malerei und Poesie, zwischen der visuellen und der verbalen Kunst nicht ohne ästhetische Verluste überschritten werden kann. Typisch ist Wolfs Bezeichnung des Laokoon als „the most enduring monument to generic purity“.47 Laut Mitchell ist die zentrale Bedeutung von Grenzen bei Lessing auf den entstehenden Diskurs des deutschen Kulturnationalismus zurückzuführen; er unterstellt eine Homologie zwischen der Trennung der Gattungen und den Mechanismen der Differenzierung nach Nation und Geschlecht.48 Andere haben die Opposition zwischen Poesie und Malerei relativiert, indem sie auf die räumliche Dimension von Texten oder die zeitliche Dimension von bildenden Kunstwerken hingewiesen haben. KunsthistorikerInnen wie Svetlana Alpers haben die narrative Komponente der Malerei betont, um Lessings These in Frage zu stellen49, während Frank Kermode feststellte, dass „forms in space […] have more temporality than Lessing supposed, since we have to read them in sequence before we know they are there, and the relations between them“.50 Trotz der langen Geschichte der Kritik an Lessings Ideen sehe ich in seinem Laokoon eine nützliche konzeptuelle Basis für die Auseinandersetzung mit visueller Metaphorik in Biographien. Denn es ist erstaunlich, dass Biographien und damit sprachliche Artefakte, die sich mit einem zeitlichen Objekt, nämlich der Lebensspanne eines Individuums, auseinandersetzen, so häufig und immer wieder aus der Quelle der Bildmetaphorik schöpfen. Lessing entwickelt an den Grenzen der Ma46 Lessing: „Laokoon“, S. 89, S. 102. 47 Wolf: „Confessions of a Closet Ekphrastic“, S. 184. Wolfs Essay zielt darauf ab, den medialen Unterschied zu verwischen und Wort und Bild unter den Oberbegriffen rhetoric und representation zu subsumieren. 48 W. J. T. Mitchell: „Space and Time. Lessing’s Laocoon and the Politics of Genre“. In: ders.: Iconology: Image, Text, Ideology. Chicago 1986, S. 95 – 115. 49 Alpers: „Ekphrasis and aesthetic attitudes“. 50 Frank Kermode: The Sense of an Ending. Studies in the Theory of Fiction. New York 1967, S. 178.
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lerei und Poesie seine Theorie, dass die eine Kunstform in angemessener Weise das Nacheinander, die andere das Nebeneinander repräsentiere. Aber die Grenze in Lessings Untertitel markiert sowohl eine Verbindungs- als auch eine Trennlinie; es wurde schon häufig darauf hingewiesen, dass Grenzen nicht nur verbinden, wo sie trennen, sondern auch zur Überschreitung geradezu auffordern, da sie die Stelle markieren, an der dies möglich ist.51 Die Grenze, mit der sich Lessing in Laokoon so intensiv auseinandersetzt, ist eine, die die Biographie zu überschreiten versucht. Eine Biographie ist nicht nur eine Lebens-Geschichte, die Erzählung einer sich entwickelnden Lebensspanne, sondern auch ein Lebens-Bild, das ein Subjekt erfasst, welches trotz aller Wechselhaftigkeit als eine irgendwie doch in sich geschlossene, dauerhafte Einheit identifizierbar ist, insofern nämlich, als sie den Raum ihres eigenen Körpers einnimmt. Drei alternative Begriffe machen dies deutlich: Lebensgeschichte, Lebensbeschreibung, Lebensbild, bezeichnen alle eine Biographie. Obwohl der Begriff des Lebensbildes selten verwendet wird und eher veraltet erscheint, macht er uns doch auf die Präsenz des Körpers ,mit [seinen] sichtbaren Eigenschaften‘ in der biographischen Erzählung aufmerksam. Für Lessing war der Körper in all seiner Bildhaftigkeit und Sichtbarkeit der wahre Gegenstand der Malerei. Wenn der biographische Diskurs von der Sprache der bildenden Künste durchzogen ist, dann ist dies möglicherweise als Antwort auf die Räumlichkeit des Lebens zu verstehen, eine verkörperte Räumlichkeit, die nicht leicht in eine narrative Form gebracht werden kann. Durch die Sprache der Bilder versucht der abwesende Körper des Subjekts wieder in den Text einzutreten. Die visuelle Metaphorik in Biographien erscheint als Eingeständnis sprachlichen Ungenügens: Obwohl Wörter gemäß der Tradition der Enargeia mentale Bilder hervorrufen und vor dem inneren Auge des Lesers oder der Zuhörerin entstehen lassen können, gelingt es ihnen nicht, einen sichtbaren, räumlichen Körper zu vergegenwärtigen. Das Leben, das die Biographie darzustellen versucht, entwickelt sich nicht nur auf der zeitlichen Achse, sondern wird auch in Gleichzeitigkeiten und räumlichen Dimensionen erlebt, deren wichtigste der Körper ist.
51 Vgl. Dietmar Voss: Dialektik der Grenze. Aufs tze zu Literatur und sthetik einer unverantwortlichen Moderne. Würzburg 2001, bes. S. 24 – 28. Voss setzt sich vor allem mit der Dialektik von Vernunft und Exzess auseinander, aber Grenzen haben in anderen dialektischen Beziehungen eine ähnliche Funktion.
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Der Anspruch der Biographie, (ein) Leben zu repräsentieren, zieht Lessings Betonung einer eindeutigen und grundlegenden Unterscheidung zwischen dem Verbalen und dem Visuellen als den jeweiligen Bereichen des Zeitlichen und des Räumlichen in Zweifel. Mit Hilfe des Konzepts der Ekphrasis lässt sich Licht auf diese vielschichtige Frage werfen. Wie wir festgestellt haben, ermöglicht die Ekphrasis den LeserInnen oder ZuhörerInnen, das beschriebene Kunstwerk vor ihrem inneren Auge zu visualisieren. Es handelt sich demnach um eine doppelt gebrochene Darstellung, eine Repräsentation einer Repräsentation: Der Schildmacher stellt das reiche Gewebe griechischen Lebens dar und Homer gibt diese Darstellung in seiner Beschreibung des Schildes wieder. Ekphrasis dient daher als Modell für die Aufgabe der Biographin. Im Falle der Biographie, vor allem der modernen Biographie auf der Basis wissenschaftlicher Forschung, handelt es sich nicht um eine Repräsentation eines Lebens, sondern um eine (Re-)Präsentation der Lebensspuren in den Dokumenten, die das Subjekt hinterlassen hat, eine Aufzeichnung einer Aufzeichnung. Wir verwandeln das, was wir lesen, in eine Repräsentation des Subjekts – ohne diesem Präsenz verleihen zu können. Diese Vorstellung einer doppelt gebrochenen Repräsentation, die so deutlich in der rhetorischen Figur der Ekphrasis zum Ausdruck kommt, verweist auf das grundlegende Problem der Biographin: Eine Biographie geht davon aus und verspricht zugleich, dass sie Leben in einen Text zu verwandeln oder einzuschreiben vermag und dass die Leserin im Akt des Lesens diesen Text wieder in Leben zurückverwandeln kann. Diese Annahme liegt nicht nur dem althergebrachten Konzept des Leben-schreibens, writing lives, zugrunde, sondern auch seinem modernen Gegenstück des life writing.52 Doch die Prozesse der Verwandlung und Übersetzung, die für das Schreiben und Lesen von Biographien konstitutiv sind, erlauben es nicht, das flüchtige Subjekt zu erfassen. Stattdessen sind sie Teil einer komplexen Dynamik der Repräsentation und Interpretation, die dadurch ausgelöst und vorangetrieben wird, was der biographische Text nie mehr vergegenwärtigen oder repräsentieren kann: das Leben eines Menschen. Übersetzung aus dem Englischen: Hannes Schweiger 52 Zum Konzept des life writing siehe: Encyclopedia of Life Writing: Autobiographical and Biographical Forms. 2 Bde. Hg. v. Margaretta Jolly. London, Chicago 2001; Teaching Life Writing Texts. Hg. v. Miriam Fuchs u. Craig Howes. New York 2008.
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Darstellungsformen des Schöpferischen in biographischen Filmen Beobachtungen an einer Untergattung des Biopics
Manfred Mittermayer Seit mehr als einem Jahrhundert wird unser Blick auf historische Lebensläufe von filmischen Bildern mitgeprägt. Das bedeutet nicht nur, dass der Film als Quelle für die Lebensbeschreibung von Personen, die in dieser Zeitspanne gelebt haben, zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Filmische Wiedergabe ist im Zeitalter der Massenmedien am Erscheinungsbild so genannter ,berühmter Persönlichkeiten‘ entscheidend beteiligt. Und auch der Spielfilm ist als biographisches Medium mittlerweile ein wesentlicher Vermittler der öffentlichen Wahrnehmung historischer Figuren und ihrer Lebensgeschichten – die durchaus weit vor dem 20. Jahrhundert angesiedelt sein können. In den letzten Jahrzehnten sind vor allem zwei umfassende Studien zum biographischen Film entstanden, die erste detaillierte Analysen des Genres geleistet haben.1 1992 untersuchte George Custen in seiner Arbeit Bio/Pics: How Hollywood Constructed Public History eine große Anzahl an biographischen Filmen, die in den USA als Produktionen der großen Hollywood-Studios entstanden waren. Zehn Jahre später folgte das Buch von Henry Taylor Rolle des Lebens: Die Filmbiographie als narratives System, dessen Perspektive sich ausdrücklich auch auf Biopics außerhalb Hollywoods erstreckte. In dieser Untersuchung wird das Genre wie folgt definiert: Biopics behandeln in fiktionalisierter Form die historische Bedeutung und zumindest in Ansätzen das Leben einer geschichtlich belegbaren Figur. Zumeist wird deren realer Name in der Diegese verwendet. Dabei muss nicht eine ganze, geschlossene Lebensgeschichte (von der Geburt bis zum 1
Vgl. auch den Sammelband Ikonen Helden Außenseiter. Film und Biographie. Hg. v. Manfred Mittermayer, Patric Blaser u. a. Wien 2009. Für einen Überblick über das Genre vgl. meinen Beitrag „Lebensgeschichten im Biopic. Skizzen zu einem historischen Überblick“. In: Die Biographie – Beitr ge zu ihrer Geschichte. Hg. v. Wilhelm Hemecker. Berlin, New York 2009.
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Tod) erzählt werden; vielmehr genügt es, wenn der ,rote Faden‘ der Handlung durch einen oder mehrere Lebensabschnitte einer historischen Person gebildet wird, deren Portr tierung im Mittelpunkt steht.2
Custen betont gleich zu Beginn seiner Studie, dass die Aufzeichnung von Lebensgeschichten nicht unabhängig von den Zeichensystemen gesehen werden kann, in denen sie erfolgt: „Biography is mediated through the creation of and competence in symbol systems.“3 In seiner Studie analysiert er, welche Typen historischer Narrationen die Studios in ihren Produktionen konstruierten: „The pattern of these lives, the narrative and other devices used to construct these lives as parts of an institutional machinery of making film narrative, are of greater interest than the distortion of a single film, book, or folk tale.“4 Auch Taylor verfolgt einen narratologischen Ansatz und untersucht hauptsächlich Erzählmuster und Figuren des Biopics. Dabei unterscheidet er zwischen der „klassisch-realistischen Form“, deren Kennzeichen vor allem die „harmonische Geschlossenheit am Ende“ sei, und einer „modernen, offenen Spielart“, bei der ein „problematischer Schluss“ dargestellt sei. Bedenkenswert ist seine Beobachtung dreier Tendenzen des Biopics: der Tendenz „zur schwachen Narration“, jener „zum selbstbezüglichen Erinnerungstext“ und einer dritten „zur Darbietung oder Performance“.5 In der Geschichte des Biopics gibt es zwei Lebensbereiche, aus denen sich die meisten Protagonist/inn/en dieses Genres rekrutieren: den Bereich der Politik und den Bereich der Kunst. In einer neueren Arbeit weisen Carolyn Anderson und Jon Lupo darauf hin, dass sich im letzten Dezennium des 20. Jahrhunderts der Trend hin zu Künstler/ inne/n noch verstärkt habe, wobei insbesondere darstellende Künstler/ 2 3 4
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Henry McKean Taylor: Rolle des Lebens: Die Filmbiographie als narratives System. Marburg 2002, S. 22. George F. Custen: Bio/Pics: How Hollywood Constructed Public History. New Brunswick 1992, S. 5. Ebd., S. 11. – Eine Darstellung des amerikanischen Biopics der 1960er und 1970er Jahre bietet der Autor in einem weiteren Aufsatz; vgl. George F. Custen: „The Mechanical Life in the Age of Human Reproduction: American Biopics, 1961 – 1980“. In: Biography 23 (2000) H. 1, S. 127 – 159. Taylor: Rolle des Lebens, S. 15 f. – Für einen kurz gefassten Überblick über die Geschichte des Biopic vgl. auch Carolyn Anderson: „Biographical Film“. In: A Handbook of American Film Genres. Hg. v. Wes Gehring. Westport 1988, S. 331 – 351.
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inne/n Konjunktur gehabt hätten.6 Im Folgenden wird, ausgehend von Anregungen der beiden eingangs genannten Studien, ein Überblick über einige wesentliche Aspekte angestrebt, die bei Biopics über schöpferische Menschen eine entscheidende Rolle spielen. Unter den besprochenen Filmen finden sich dabei ausschließlich solche, in denen das biographische Objekt zumindest zum Teil von Schauspieler/inne/n verkörpert wird; reine Dokumentationen bleiben ausgespart. Angesichts der eingangs geäußerten Bemerkung zum Einfluss des biographischen Films auf das allgemeine Verständnis von Begriffen wie ,Lebensgeschichte‘, ,Identität‘ oder ,Subjektivität‘ konzentriere ich mich auf Filme mit größerer Breitenwirkung, d. h. nicht auf Avantgarde- oder Experimentalfilme ohne großes Publikum.7 Es soll zunächst um Erzählmuster vor allem des traditionellen Biopics gehen, die zumindest im Mainstream-Kino bis heute prägend wirken. Dabei wird speziell untersucht, welche Strukturen der Erinnerung in diesen Filmen etabliert werden, um die biographische ReKonstruktion zu transportieren – zunehmend auch auf komplexere Weise als in der zuvor skizzierten traditionellen Erzählform. In einem weiteren Abschnitt wird auf die Darstellung kreativer Vorgänge und der aus ihnen hervorgegangenen Produkte im biographischen Film eingegangen. Und zuletzt werden Möglichkeiten vorgestellt, wie in neueren Filmen über real existierende Personen die aktuellen Zweifel an der Kohärenz individueller Lebensgeschichten bzw. an der Darstellbarkeit biographischer Abläufe artikuliert und mit filmischen Mitteln umgesetzt werden. Traditionelle Narrationsstrukturen Steve Neale weist darauf hin, dass sich die narrativen Strukturen der Hollywood-Biopics nicht wesentlich von den fiktionalen Spielfilmen derselben Produktionsfirmen unterschieden: „Hollywood modelled the lives it depicted according to dramatic, generic and fictional formulae 6 7
Vgl. Carolyn Anderson u. Jon Lupo: „Hollywood Lives: The State of the Biopic at the Turn of the Century“. In: Genre and Contemporary Hollywood. Hg. v. Steve Neale. London 2002, S. 77 – 104, hier S. 92. Zum Thema ,Bildende Kunst im Spielfilm‘ vgl. auch den Sammelband (samt Auswahlfilmographie) Kunst und K nstler im Film. Hg. v. Helmut Korte u. Johannes Zahlten. Hameln 1990.
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which it also used and applied to its fictions.“8 Dies lässt sich besonders an Filmen zeigen, die in den 1930er Jahren entstanden sind – zu einer Zeit, die einen ersten Höhepunkt in der Geschichte des Biopics markiert. Dabei ist vor allem der Regisseur William Dieterle zu nennen, der u. a. The Story of Louis Pasteur (USA 1935) und The Life of Emile Zola (USA 1937) inszenierte. Beide Filme waren große Erfolge, letzterer wurde mit dem Oscar für den besten Film des Jahres ausgezeichnet. Der jeweilige Hauptdarsteller Paul Muni wurde beide Male für den Oscar als bester Hauptdarsteller nominiert; für die Rolle als Louis Pasteur erhielt er die Auszeichnung auch zugesprochen. Was in diesen Filmen an narrativen Mustern und Themen entworfen wurde, prägt einen Teil der Biopic-Tradition bis heute. Der Produzent Darryl F. Zanuck erhob in diesem Zusammenhang seine bekannte Forderung nach einem „rooting interest“: Die Filme hatten so erzählt zu werden, dass man den Erwartungen und Erfahrungen des Publikums möglichst entgegenkam. Entscheidend war, dass die dargestellte Person eine klar erkennbare Motivation hatte, sodass die Menschen im Kinosaal die Handlungen dieser Person und deren Resultate ohne Schwierigkeiten nachvollziehen konnten. Custen weist darauf hin, dass dieses Prinzip oft eher dem entsprach, was der Produzent als Erwartung des Publikums unterstellte: „[T]he construct ,understandable‘ most often meant the producer’s notion of what a viewer would understand.“9 Bruce Babington fasst das hierfür grundlegende narrative Schema und dessen Umgang mit historischer Authentizität in folgende Formel: a progressive individual fighting for innovation against an outmoded establishment; a narrative formed around a ,trial‘ scene vindicating the protagonist; an extraordinary degree of research devoted to ,authentic‘ replication which, however, is contradicted by the unashamed invention of imaginary, and the suppression of real, incidents.10
Die Handlungsmuster dieser Biopics konzentrierten sich vor allem auf die Spannung zwischen einem Individuum, das neue, unbekannte Wege ging, und der unbeweglichen Tradition, die sich ihm entgegenstellte: „between the innovative individual – the novel entertainer, 8 Steve Neale: Genre and Hollywood. London, New York 2000, S. 61. 9 Custen: Bio/Pics, S. 19. 10 Bruce Babington: „,To catch a star on your fingertips‘: diagnosing the medical biopic from The Story of Louis Pasteur to Freud“. In: Signs of Life. Cinema and Medicine. Hg. v. Graeme Harper u. Andrew Moor. London, New York 2005, S. 120 – 131, hier S. 121.
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the reforming politician, the ground-breaking scientist – and established institutions and traditions“.11 Sprichwörtlich wurde ein häufig zitiertes Memo Zanucks aus Anlass des Films The Story of Alexander Graham Bell (USA 1939): „The drama of the story does not lie in the invention of the telephone any more than the drama of Zola’s life was in his writing“, heißt es dort. „Our main drama lies in Bell’s fight against the world to convince them he had something great.“12 Das im biographischen Film dargestellte Leben musste innerhalb eines logischen Rahmens verbleiben, der auf nachvollziehbare Weise eine Erklärung dafür lieferte, warum der Berühmte seine spezifische Position in der Gesellschaft verdiente: „All fame is, and therefore must be shown to be, specifically motivated.“13 Am Ende der ,klassischen‘ Biopics stand gewöhnlich die Durchsetzung der Hauptperson und ihres künstlerischen bzw. wissenschaftlichen Anliegens, ihre Etablierung als erfolgreiche Leitfigur der von ihr repräsentierten Berufssparte. Dadurch erhielten die Protagonisten häufig die Gelegenheit zu einer kleinen abschließenden Rede, in der sie eine Art Vermächtnis artikulierten. Beispiele dafür sind die Ansprache Pasteurs am Ende des genannten Films oder die analoge Rede der Marie Curie in der Abschluss-Szene des Films Madame Curie (USA 1943), in der sie vor einem Publikum von Forscher/inne/n den Nutzen und die Schönheit der Wissenschaft rühmt: „[I]ts great spiritual strength will in time cleanse the world of its evils, its ignorance, its poverty, diseases, wars and heartache […]. You take the torch of knowledge and behold the palace of the future.“ Dass das Ritual der abschließenden Anerkennung einer Lebensleistung keineswegs nur in den Biopics der 1930er und 1940er Jahre auftritt, belegt in neuerer Zeit der äußerst erfolgreiche Film Ray (USA 2004) über den Musiker Ray Charles: Dieser wird auf dem Höhepunkt einer von Drogen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten gekennzeichneten Karriere, in deren Verlauf über ihn sogar ein Einreiseverbot nach Georgia verhängt wurde, in eben diesem Bundesstaat auf triumphale Weise rehabilitiert und wendet sich ebenfalls ans Auditorium, womit der Film (ohne ausführliche Darstellung weiterer problematischer Lebensphasen) endet. Die Forschung hat bestimmte formale Elemente herausgearbeitet, die als Mittel der Darstellung prägend für die Gattung des Biopics 11 Neale: Genre and Hollywood, S. 63. 12 Zit. nach: Custen: Bio/Pics, S. 134. 13 Ebd., S. 165.
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wurden. Zu Recht betont Taylor die Ambivalenz biographischer Filme zwischen Fiktionalität und Historizität: „Als Spielfilme sind Biopics fiktionale Texte; gleichzeitig signalisieren sie aber als Biographien einen Bezug zur historischen Wirklichkeit.“14 Um das Geschehen, das sich durchaus nicht immer an die recherchierbaren Fakten hält, in einem konkreten historischen Kontext zu situieren, benützt man Schrifttafeln oder die Voice-over: manchmal eine autobiographische Stimme des dargestellten biographischen Objekts, meist aber eine neutrale Erzählstimme oder auch die Stimme einer Nebenfigur, aus deren Perspektive das Leben der Hauptfigur erzählt wird. Die beiden wichtigsten Darstellungsmittel des Biopics waren darüber hinaus schon früh die Montage und der Flashback, die bestimmte funktionale Zwecke erfüllen: „they help to mark, to motivate and to bridge the ellipses necessary in most biopics“, stellt Neale fest; außerdem ermöglichen sie eine Fokussierung auf ein bestimmtes narratives Muster – „they help endow the life with a pattern (whose significance a voice-over can help to articulate)“.15 Der Einsatz der Montage ist unerlässlich, wenn es darum geht, eines der entscheidenden Probleme des filmischen Mediums zu lösen: das Missverhältnis zwischen zur Verfügung stehender Zeit innerhalb des üblichen Filmformats und der nachzuerzählenden Zeitspanne eines Menschenlebens (oder zumindest eines Teils davon). Außerdem lassen sich mit ihrer Hilfe die entscheidenden Stationen auf dem Weg zum Ruhm besonders hervorheben: „Montage is the most powerful marker of the teleology of fame.“16 Charakteristische Beispiele für die so genannte ,Hollywood-Montage‘, die Aneinanderreihung und teilweise Überblendung sehr kurzer Einstellungen zur extremen Beschleunigung des Erzähltempos, finden sich etwa bei der Nachzeichnung von Erfolgsgeschichten im Fall von Performer-Biopics wie in dem Film The Benny Goodman Story (USA 1956), wo eine erfolgreiche Tournee durch eine Montage von fahrenden Zügen, jeweils unterbrochen durch kurze Ausschnitte von Auftritten der Band, dargestellt wird. In The Glenn Miller Story (USA 1954) werden Zeitungen, Plattencovers und die aktuelle Distributionsmaschine Jukebox in mehreren Montagen zusammengefügt. Bei Great Balls of Fire!, dem Titelsong des gleichnamigen Films (USA 1989) über Jerry Lee Lewis, wird die Bewegung der Charts 14 Taylor: Rolle des Lebens, S. 15. 15 Neale: Genre and Hollywood, S. 63. 16 Custen: Bio/Pics, S. 185.
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nach oben als Gradmesser für den Erfolg des Liedes gezeigt. In What’s Love Got to Do with It (USA 1993) über Tina Turner wechseln innerhalb der Einspielung eines einzelnen Songs (Proud Mary) Erscheinungsbild und Auftrittsort der Sängerin, um damit eine Zeitspanne von sechs Jahren zu überbrücken. Rückblenden finden sich in biographischen Filmen so häufig, dass man für die entsprechenden Beispiele geradezu beliebig zugreifen könnte; später wird auf diese Darstellungstechnik ausführlich zurückzukommen sein. Fürs Erste seien Sequenzen aus Musiker-Filmen genannt, die dort jeweils unterschiedliche, für Biopics charakteristische Funktionen erfüllen. In dem Film Mozart (auch: Reich mir die Hand, mein Leben, A 1955) handelt es sich hierbei um die Visualisierung der Arie der Pamina aus W. A. Mozarts Oper Die Zauberflçte. Der Film konzentriert sich auf die Liebesbeziehung des Komponisten zur Sängerin der Pamina aus der Uraufführung der Oper, Annie Gottlieb, die allerdings mit Verzicht (und dann mit Mozarts frühem Tod) endet. Wenn die Arie entsteht, sehen wir in einer montierten Passage Ausschnitte aus Szenen, die im Verlauf dieser Beziehung eine Rolle gespielt haben. Das Musikstück wird dadurch zu einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dieser Liebe und ihrem unglücklichen Ende stilisiert; die Rückblende suggeriert eine enge Verbindung zwischen Leben und Werk des Komponisten. Ein zweites Beispiel stammt wiederum aus Ray. In diesem Fall sieht man zunächst die frühe Lebenszeit des Sängers, in Form von Rückblenden werden jedoch Erinnerungen an jene Ereignisse nachgeholt – und damit zugleich besonders hervorgehoben –, denen im Film eine prägende Rolle für die Entwicklung des Menschen Ray Charles zugeschrieben wird: an die Beziehung zur Mutter, an den Unfalltod seines kleinen Bruders George und an das allmähliche krankheitsbedingte Erblinden. Damit wird eine narrative Strategie verfolgt, die in zahlreichen Biopics der strukturellen Integration der Handlung dient: die Rekonstruktion entscheidender frühkindlicher Ereignisse mit traumatischen Auswirkungen auf die folgende Lebensgeschichte. Auch der kaum weniger erfolgreiche, fast zeitgleich entstandene Film über Rays Musikerkollegen Johnny Cash, Walk the Line (USA/D 2005), weist diese Erzähltechnik auf. Zu Beginn wird daran erinnert, wie Jack, der Bruder des späteren Stars, bei der Arbeit an einer Kreissäge verunglückt. Johnny wird später, so insinuiert die Darstellung, nie mehr von den Vorwürfen seines übermächtigen Vaters los kommen. Damit wird die komplizierte Lebensgeschichte des Sängers in das Muster einer Vater-Sohn-Geschichte eingefügt, außerdem steht das
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Modell der Brudergeschichte von Kain und Abel im Hintergrund, wenn der Überlebende in Folge des Todes seines Bruders jahrelang von Reue geplagt wird, ehe ihn nicht zuletzt die Musik, aber auch die Liebe davon erlöst. Zu den charakteristischen Handlungselementen biographischer Filme gehören die zahlreichen Gerichtsszenen – bzw. Szenen, die eine analoge Konstellation aufweisen. Darin schlägt sich nicht nur inhaltlich der so häufige Konflikt zwischen dem biographischen Objekt und der Gesellschaft nieder, sondern sie haben auch eine wesentliche dramaturgische Funktion. Gerichtsszenen führen per definitionem zu einem Urteil, das über den Wert der Lebensleistung eines Individuums bzw. von dessen öffentlicher Bedeutung befindet; sie ermöglichen es, auf wirkungsvolle Weise öffentliche Anerkennung zu statuieren. Sie bieten aber auch die Gelegenheit, das Anliegen des biographischen Objekts – und darüber hinaus auch das des Films – zu formulieren: Die einander gegenüberstehenden Konfliktsphären lassen sich in diesem Kontext so klar wie kaum sonst wo herausarbeiten, und der Protagonist kann sich innerhalb der Diegese in einer eigens dafür inszenierten Ansprache ans Publikum, aber auch an die Menschen im Kinosaal wenden.17 Eines der eindrucksvollsten Beispiele aus der Zeit des ,klassischen‘ Biopics stammt aus The Life of Emile Zola. Der Film konzentriert sich ab etwa der Hälfte seiner Spielzeit auf Zolas Engagement in der DreyfusAffäre, und der Autor kommt deshalb auch vor Gericht, wobei er den Prozess – aufgrund eines gefälschten Dokuments – zunächst verliert; erst gegen Ende des Films wird der jahrelang auf die berüchtigte Teufelsinsel verbannte Dreyfus voll rehabilitiert. Kurz vor dem Spruch der Geschworenen erhebt Zola vor Gericht das Wort und hebt die Bedeutung seines Kampfes für die Wahrheit und die Gerechtigkeit hervor; er eröffnet damit eine kleine Serie ähnlicher Adressen ans Publikum: Bei seiner Rückkehr aus dem vorübergehenden Exil in England betont er, dass der erst zur Hälfte gewonnene Kampf im Zeichen der drei Begriffe „speech, pen, action“ fortzuführen sei. Unmittelbar vor seinem Tod verlängert er als eine Art Vermächtnis abermals seine Intentionen in die Zukunft hinein: Sein neues Buch müsse dem Frieden zwischen den Nationen dienen, man dürfe die Welt nicht durch Kriege, sondern durch Ideen erobern, die der Befreiung dienen, und dann eine neue Welt aufbauen – es ist ein Appell, der kurz vor Beginn des Zweiten 17 Vgl. ebd., S. 186.
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Weltkriegs (der Film entstand 1937) die Angst vor der Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Völkern artikuliert. Formen der filmischen Erinnerung „One of the functions of a flashback […] is to retell history from the vantage point of a particular narrator“, schreibt Custen. „This privilege allows the narrator to frame the life not just in terms of the order and content of events, but to frame its significance.“18 Dieser Struktur folgt eines der erfolgreichsten Biopics der bisherigen Filmgeschichte, der Film Amadeus (USA 1984) von Milos Forman, nach dem gleichnamigen Theaterstück von Peter Shaffer (1979). Erzähler der Szenen, die aus Mozarts Leben filmisch überliefert werden, ist der Komponist Antonio Salieri, der im kalten November des Jahres 1823 in einem Krankenhaus einem Priester im Rahmen einer Beichte von seiner Begegnung mit W. A. Mozart berichtet. Diese war für ihn gleichzeitig der Grund für eine Auseinandersetzung mit Gott, dem er als Kind versprochen hatte, keusch zu leben und all seine Kraft für den Dienst an ihm einzusetzen – wofür er erwartete, im Gegenzug mit den Fähigkeiten eines großen Komponisten ausgestattet zu werden. Als er feststellen muss, dass statt dessen ein vulgärer, infantiler junger Mann namens Mozart mit überragender Genialität begabt wurde und er selbst für immer zur Mittelmäßigkeit verdammt bleiben wird, sagt er sich von Gott los und tut alles, um diesen Mozart zu vernichten.19 So wird aus der Perspektive Salieris den ganzen Film hindurch in einer Serie von Rückblenden die Karriere Mozarts nachgezeichnet und gleichzeitig dessen Erscheinungsbild im Sinne von Salieris Wahrnehmung konstruiert: als unüberbietbares Genie (durchaus im Sinn der Tradition), aber auch als Gegenbild zur gängigen Darstellung des apollinischen Götterlieblings, wie sie nicht zuletzt in früheren Mozart-Filmen erscheint. Häufig erfolgt die filmische Erzählung aus der Perspektive der Hauptfigur. Das muss durchaus nicht die ganze Handlung betreffen, wie etwa der Film Pollock (USA 2000) zeigt: Er beginnt mit einer kurzen Szene aus einer Ausstellungsvernissage im Jahr 1950, als der US-ame18 Ebd., S. 183. 19 Eine detaillierte Analyse der narrativen Struktur von Amadeus bietet Kristin Thompson: Storytelling in the New Hollywood. Understanding Classical Narrative Technique. Cambridge (Mass.), London 1999, S. 177 – 212.
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rikanische Maler Jackson Pollock auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn steht; dann beginnt – ausgehend von einer Großaufnahme des Protagonisten – eine umfangreiche Rückblende, in deren Verlauf u. a. die Ehe mit Lee Krasner, der Weg zum Ruhm und die künstlerische Entwicklung mit der Erfindung des „drip-painting“ dargestellt werden. Erst eineinhalb Stunden später kehrt der Film zu genau derselben (Einstiegs-)Szene zurück; es folgt der verbleibende Rest des Films, der mit der Zeitangabe „Fünf Jahre später“ eingeleitet wird und die letzte Lebensphase bis zum tödlichen Verkehrsunfall 1956 schildert.20 In dem Film Goya en Burdeos (Goya in Bordeaux, ES/IT 1999) des spanischen Regisseurs Carlos Saura erleben wir den Maler Francisco Goya zunächst als alten, verwirrten Mann, der auf der Straße eine Frau trifft und sie als „Cayetana“ anredet – er sieht in ihr die Herzogin von Alba (María Teresa Cayetana), mit der ihn einst eine Liebe verband. Als er wieder zurück zu Hause ist, erzählt er seiner Tochter Rosarito die für die filmische Darstellung entscheidenden Episoden aus seinem Leben und kommentiert zwischendurch aus dem Off, wie ein autobiographisches Ich, die vergangenen Ereignisse. Am Ende kehren wir nach der bilanzierenden Frage „Wer bin ich jetzt?“ in die Rahmenhandlung zurück; als der sterbende Maler nach Rosarito ruft und sie zu ihm eilt, nennt er auch sie „Cayetana“, dann breitet sich ein großer Schatten über ihn. Eine Variation dieses narrativen Verfahrens verwendet der chilenische Regisseur Raoúl Ruiz in seinem Film Klimt (A/F/D/GB 2006): Dort liegt der Maler Gustav Klimt von Beginn an im Krankenhaus im Sterben, sein Malerkollege Egon Schiele kommt, um zuletzt die bekannte Zeichnung vom Kopf des Verstorbenen anzufertigen. Dazwischen bewegt sich die filmische Darstellung in die Vergangenheit, als liefen vor dem geistigen Auge des Sterbenden noch einmal zentrale Ereignisse seines Lebens ab, vor allem seine (fiktive) Liebesaffäre mit der Tänzerin Lea de Castro, in der wiederum mehrere Frauen in eins verschmolzen sind. Auf ganz andere Weise gibt der Fernsehfilm Der junge Freud (A/ BRD 1976) von Axel Corti (nach einem Drehbuch von Georg Stefan Troller) seiner Hauptfigur die Möglichkeit, das eigene Leben zu kommentieren. Freud wird von einem Schauspieler verkörpert (Karlheinz Hackl), der Drehbuchautor Troller mischt sich aber immer 20 Vgl. zu diesem Film auch Doris Berger: „Show me how to become a great artist: Biopics über Künstler/innen“. In: Ikonen Helden Außenseiter. Hg. v. Mittermayer, Blaser u. a., S. 35 – 51.
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wieder im Stil eines Moderators aus dem Off in die Handlung ein und öffnet auf diese Weise eine zeitliche Kluft zwischen der dargestellten Handlung und einem späteren Zeitpunkt, von dem aus auf die Vergangenheit zurückgeblickt wird – der Film stellt „seine Künstlichkeit als explizites Montageverfahren aus und erweitert dieses über die Bildebene hinaus auch auf den Ton“.21 In Interviewform veranlasst das erzählende Ich die Filmfigur Freud, das Erinnerte zu bewerten und gegebenenfalls auch das in Form von Dokumenten aus der nachgestellten Lebensphase Überlieferte neu zu interpretieren. Der Protagonist ist somit als eine Art „Fremdenführer durch seine eigene Biografie konzipiert.“22 Als er in seiner Beziehung mit Breuer zu sehen ist, konfrontiert das erzählende Ich aus dem Off den älter gewordenen Freud mit seinem damaligen, von der heutigen Einschätzung abweichenden Urteil über den Kollegen, und unmittelbar nach einem in der Spielfilmhandlung dargestellten Dialog mit Breuer erfolgt die Frage (wiederum aus viel späterer Sicht): „Was meinten Sie mit dem, was Sie eben zu Breuer sagten?“ Am Ende des Films bezweifelt das erzählende Ich auch die Aktualität der Freud’schen Erkenntnisse über die Hysterie, und der spätere Freud gesteht in der Tat selbstkritisch (und die zeitliche Distanz betonend): „Natürlich, aber das habe ich damals noch nicht wissen können.“ Eine besonders komplexe Darstellungsmethode wählte Bob Fosse für seinen Film Lenny (USA 1974) über den US-amerikanischen StandUp-Comedian Lenny Bruce. Die filmische Lebensbeschreibung konzentriert sich auf die Jahre von 1951 bis 1966, wobei chronologisch aneinandergereihte Rückblenden die als entscheidend erachteten Episoden dieser Lebensphase in Erinnerung rufen. Bezugspunkt der gesamten Rekonstruktion ist jedoch ein Auftritt aus der späteren Lebenszeit von Bruce, in dem er bestimmte Themenbereiche kommentiert, die jeweils auch in der Rückblendenserie von Bedeutung sind. Daraus ergibt sich ein fortlaufender, sarkastisch-ironischer Kommentar zum eigenen Verhalten während der dargestellten Lebensphase; ein Beispiel dafür ist die skeptische Einschätzung der künstlerischen Arbeit, auf die er ohne alle Illusionen zurückblickt: „My whole act, my whole economic success, whatever that is, is based solely on the existence of 21 Ursula von Keitz: „,Ich weiß nicht, was ich werd’. Jedenfalls kein Arzt!‘ Zwei filmische Zugänge zur Person Freud.“ In: Psyche im Kino. Sigmund Freud und der Film. Hg. v. Thomas Ballhausen, Günter Krenn u. Lydia Marinelli. Wien 2006, S. 225 – 243, hier S. 236. 22 Ebd.
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segregation, violence, despair, disease and injustice“, sagt der von Dustin Hoffman gespielte Entertainer über die Abhängigkeit seines Erfolgs von den Missständen, die er kritisiert. Zusätzlich legt Fosse noch eine weitere Kommentarebene über seinen Film: Jene Schauspieler, die in den Rollen der Verwandten und Freunde Lennys zu sehen sind, treten als Zeitzeugen in nach seinem Tod geführten Interviews über sein Leben und seine Arbeit auf. Dadurch werden die Fragmente aus Lennys Lebensgeschichte noch einmal, und zwar aus verschiedenen Perspektiven, beleuchtet – eine Strategie, die an den für den modernen biographischen Film außerordentlich einflussreichen Film Citizen Kane (USA 1941) von Orson Welles erinnert. Gerade neuere Biopics heben hervor, dass die biographische Konstruktion von den Medien abhängig ist, mit deren Hilfe sie transportiert werden. Der Film Beyond the Sea (USA/GB 2004) über den Sänger und Schauspieler Bobby Darin, der in allen wesentlichen Aspekten von seinem Hauptdarsteller, Regisseur, Drehbuchautor und Produzenten Kevin Spacey geprägt ist, beginnt mit der Aufnahme von Darins einzigem Nummer-1-Hit Mackie Messer, die für ein filmisches Selbstporträt des Sängers bestimmt ist. Unzufrieden unterbricht Darin die Arbeit, Fragen über die Struktur des geplanten Films werden erörtert, etwa darüber, was am besten an dessen Beginn stehen soll. Plötzlich mischt sich ein Kind ein, das Bobby in seinen frühesten Jahren spielen soll, und beginnt gewissermaßen als dessen jüngeres Ich („I am you“, sagt es zu ihm) mit ihm einen Dialog, der den ganzen Film überspannt. Als Darins jüngeres Alter Ego angesichts einer Szene aus seiner ärmlichen Kindheit als Sohn eines Kleinkriminellen, die im Stil eines Musicals mit singenden und tanzenden Menschen inszeniert wird, im Namen der Wahrheit Einspruch erhebt, weist der älter gewordene Darin auf den Fiktionscharakter der von ihm filmisch nachgestellten Erinnerung hin: „Memories are like moonbeams, we do with them what we want.“ Der Satz wird zu einer Art Motto des Films; am Ende wird ihn ausgerechnet der kleine Junge noch einmal zitieren. Aus demselben Jahr 2004 stammt das Cole-Porter-Biopic De-Lovely (USA 2004), in dem ebenfalls mit Hilfe jener künstlerischen Mittel, für die das biographische Objekt berühmt wurde, dessen Lebensgeschichte rekonstruiert wird. Der gealterte Komponist trifft 1964 in einem Broadway-Kino auf einen Regisseur mit Namen Gabe (in Rezensionen mitunter mit dem Erzengel Gabriel assoziiert), der über ihn ein biographisches Musical angefertigt hat. Das zunächst leere Theater wird alsbald zum Schauplatz der Wiederbelebung vergangener Ereignisse; die wesentlichen Personen aus Porters
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Leben treten auf und spielen ihm die entscheidenden Stationen seiner Biographie vor, wobei das Geschehen als Bestandteil seiner Erinnerung zu vermuten ist – er kann mit den Personen, die vor ihm spielen bzw. zu seiner Musik singen und tanzen, nicht kommunizieren, die Vergangenheit ist von der Gegenwart durch eine unüberschreitbare Kluft getrennt. Narrative Modelle in Künstlerfilmen Wenige Jahre nach seinem Erfolgsfilm The Private Life of Henry VIII. (GB 1933, mit Charles Laughton in der Titelrolle), einem Meilenstein in der Geschichte des Biopics, drehte der ungarisch-englische Regisseur Alexander Korda mit demselben Hauptdarsteller einen Film über einen Künstler, der zu den emblematischen Figuren seiner Profession gehört: Rembrandt (GB 1936). Die Handlung (für das Drehbuch zeichnete übrigens der deutsche Dramatiker Carl Zuckmayer verantwortlich) enthält ein Set an narrativen Elementen, die für filmische Darstellungen bildender Künstler geradezu paradigmatisch sind. Gleich zu Beginn erscheint das bekannte Motiv, dass ein kreatives Genie seine mediokre Umwelt überfordert, indem es die toten Regeln der Konvention bricht und unter Bezug auf das Leben eine irritierende Kunst schafft, die sich auch nicht an die Vorgaben des vermeintlich ,Schönen‘ hält: Rembrandt malt sein wohl berühmtestes Gemälde Die Nachtwache (eigentlich Die Kompanie des Frans Banning Cocq). Als es enthüllt wird, sagt ein Betrachter ausdrücklich, er verstehe es nicht; den sich brüskiert fühlenden Modellen entgegnet Rembrandt, er habe eben nicht gesellschaftliche Würdenträger malen wollen, sondern lebende Menschen. Von Beginn an wird außerdem die zum Teil tragische Beziehung des Künstlers zu den Frauen nachgezeichnet. Parallel zur Entstehungsgeschichte der Nachtwache stirbt seine Frau Saskia, es folgt die unglückliche Ehe zu seiner zweiten Frau Geertje, etwa in der Mitte des Films beginnt die Darstellung seiner Beziehung zu Hendrikje, die ihn wiederum in Konflikt mit der Gesellschaft bringt: Da er mit ihr unverheiratet zusammenlebt, kommt er sogar vor Gericht. Analog zu Saskia steht auch in ihrem Fall am Ende der Tod: Nachdem sie – als kluge ,Managerin‘ – dem Maler als Kunsthändlerin zur Seite gestanden hat, kann er sie gerade noch heiraten, ehe sie in verklärter Darstellung,
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ein letztes Mal für ihn Modell sitzend, stirbt.23 Ein weiteres tragendes Motiv des Films bildet Rembrandts zunehmend prekäre ökonomische Situation; zwischenzeitlich kehrt er (in einer Anspielung auf die Heimkehr des Verlorenen Sohnes) ins väterliche Haus, eine Mühle auf dem Lande, zurück, muss aber erkennen, dass er in der traditionellen Arbeitswelt seiner Familie kein Zuhause mehr hat – auch hier wird der Künstler als vereinzelt, als ,anders‘ dargestellt. Das letzte Lebensjahr 1669, in dem die abschließende Episode des Films spielt, zeigt einen gealterten Rembrandt, der in lustiger Runde im Gasthaus nur als Fremder erscheint und mit den Worten Salomos „Alles ist eitel“ die Nichtigkeit aller weltlichen Güter betont. Nach Kordas Rembrandt hat wohl kein Film mehr so stark das Muster für die biographische Darstellung bildender Künstler in diesem Medium festgelegt wie Lust for Life (USA 1956) von Vincente Minnelli, mit Kirk Douglas in der Rolle des Vincent van Gogh. Ellen Fischer arbeitet an diesem Film – zusammen mit zwei weiteren erfolgreichen Maler-Biopics (Moulin Rouge, GB 1952, über Henri Toulouse-Lautrec, sowie The Agony and the Ecstasy, USA 1965, über Michelangelo Buonarotti) – ein Schema für den Handlungsverlauf sowie die Darstellung der künstlerischen Arbeitsprozesse heraus, das sich in zahlreichen weiteren biographischen Filmen über bildende Künstler findet. Manche Elemente treffen dabei durchaus auch auf Vertreter anderer Kunstrichtungen zu. Die Protagonisten dieser ,konventionellen‘ KünstlerFilme werden als „egozentrische Charaktere mit den Eigenschaften übersteigerter Sensibilität und Aggressivität“ gezeigt, die mit ihrer gesellschaftlichen Umgebung in Konflikt geraten; nicht selten mündet ihre Leidensgeschichte in Trunksucht, Wahnsinn oder Selbstmord. Die Künstler werden als außergewöhnlich talentiert dargestellt, als „genial und gottbegnadet“. Sie werden allerdings von ihrer zeitgenössischen Umwelt verkannt und erlangen erst nach ihrem Tod die ihnen zustehende Berühmtheit. Während sie sich in einer Art „Schaffensrausch“ ihrer Tätigkeit hingeben, kapseln sie sich von den Mitmenschen ab und ziehen sich ganz in ihre künstlerische Vorstellungswelt zurück. Sie 23 Damit folgt der Film, so wie eine Unzahl der konventionell gebauten Biopics, im Grunde der Doppelplot-Struktur des klassischen Hollywood-Films, wie sie David Bordwell analysiert hat: „a double causal structure, two plot lines: one involving heterosexual romance (boy/girl, husband/wife), the other line involving another sphere – work, war, a mission or quest, other personal relationships“; vgl. Bordwell: Narration in the Fiction Film. Madison 1985, S. 157.
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schaffen grundsätzlich gefühlsgeleitet, „aus einem inneren Zwang heraus, dem sie nicht entfliehen können“, so Fischers Analyse.24 Grundzüge dieses Modells findet sich nicht nur in Erfolgsfilmen aus Hollywood, sondern selbst in einer künstlerisch herausragenden Produktion wie Andrej Tarkowskijs Film Andrej Rubljow (UdSSR 1966). Auch hier lebt das „anachronistische Bild vom Künstler als Genie in Gottes Gnaden“ wieder auf: Tarkowskijs Protagonist, in dem sich nicht zuletzt seine eigene ästhetische Konzeption spiegelt, ist erneut ein Künstler, der, „um Erkenntnis ringend, hingebungsvoll und kompromisslos einer prophetischen Berufung folgt“, um auf diese Weise „tiefer in die Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Existenz einzudringen und sie zu reflektieren“.25 Sogar durchaus kritisch intendierte Filme über weibliche Künstlerinnen, in denen dem männlich dominierten Kanon der großen Genies eine Tradition weiblicher Kunstproduktion entgegengesetzt werden soll, sind von den prägenden Elementen dieses Genie-Paradigmas nicht völlig frei. Verena Kuni untersuchte drei erfolgreiche Filme aus diesem Bereich: Artemisia (F/D/IT 1997, von Agnès Merlet) über die italienische Malerin Artemisia Gentileschi, Camille Claudel (F 1988, von Bruno Nuytten) über die gleichnamige französische Bildhauerin sowie Frida (USA/CA/MX 2002, von Julie Taymor) über die mexikanische Malerin Frida Kahlo. Sie stellt fest, dass in diesen Filmen jeweils „Verletzung, Krankheit, Schmerz und Leiden“ auf spezifische Weise mit der Kunst und dem Leben verknüpft würden, zumal die Künstlerinnen Werke hinterlassen hätten, in die sich die ganze „Tragik ihres Schicksals spiegeln“ lasse. Dadurch werde aber nicht das wie auch immer angelegte „Widerstandspotential“ der Künstlerin24 Ellen Fischer: „Das Künstlerbild im amerikanischen Spielfilm der 50er und 60er Jahre“. In: Film, Fernsehen, Video und die K nste. Strategien der Intermedialit t. Hg. v. Joachim Paech. Stuttgart, Weimar 1994, S. 103 – 113, hier S. 112. 25 Astrid Schünemann u. Nikolas Hülbusch: „Kunst als Offenbarung des Göttlichen. Andrej Rubljow von Andrej Tarkowski“. In: Genie und Leidenschaft. K nstlerleben im Film. Hg. v. Jürgen Felix. St. Augustin 2000, S. 55 – 76, hier S. 72. – Joan D. Lynch kritisiert an Nuyttens Film über Camille Claudel außerdem, er habe sich zu sehr an der Biographie von Reine-Marie Paris, der Urenkelin Paul Claudels, orientiert und dadurch den Anteil der Familie am Unglück der Künstlerin heruntergespielt; sein Film folge deutlich den Handlungsklischees des klassischen Melodrams und werde gerade in seiner eindimensionalen Kritik am Verhalten Auguste Rodins der realen Lebensgeschichte der Bildhauerin nicht gerecht. Vgl. dies.: „Camille Claudel. Biography Constructed as Melodrama“. In: Literature/Film Quarterly 26 (1998) H. 2, S. 117 – 123, bes. S. 117 u. 120.
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nen thematisiert, sondern vielmehr – trotz aller Darstellung der gesellschaftlichen Schwierigkeiten für weibliche Kunstschaffende – die entscheidende Konfliktzone unter Einbezug traditioneller Vorstellungen von Genialität großteils auf das persönliche Umfeld reduziert und „das gesellschaftliche ,Drama‘ auf ein Liebesdrama“ verkürzt.26 In seiner Studie über Komponisten-Biopics unterscheidet John C. Tibbetts in Anlehnung an Peter Kivys Buch The Possessor and the Possessed zwei prinzipielle Modelle für die Darstellung von Komponisten. Als „Possessor“ sei z. B. Georg Friedrich Händel mythologisiert worden: Es sei das Bild vom Original-Genie als aktivem Schöpfer, der sich die Regeln für seine Kunst selbst gebe und die vorgegebenen ästhetischen Prinzipien verletze; unbeirrbarer Wille, Exzentrizität, sogar Wahnsinn werde damit verbunden. Im Gegensatz dazu habe man etwa Mozart traditionell als „possessed“ imaginiert, als passives Genie, das unter dem Einfluss der Muse bzw. göttlicher Inspiration schöpferisch werde. Hollywood habe nun stets versucht, die beiden Modelle zu einem Ausgleich zu bringen; „possessed“ sei das Genie zu fern von weltlichen Angelegenheiten, als „possessor“ sei es wiederum zu wenig bereit, die gesellschaftlichen und künstlerischen Konventionen zu respektieren. Die „hard-working craftspersons“ wie Johann Sebastian Bach und Joseph Haydn, aber auch die bekannten Broadway-Komponisten, würden demgegenüber die nötige Balance repräsentieren, die in Filmbiographien des klassischen Hollywood angestrebt worden sei.27 Tibbetts zeichnet ein Paradigma für Komponisten-Biopics nach, wie es in den traditionellen Hollywood-Produktionen verfolgt werde. Die beiden wesentlichsten Aspekte betreffen das Verhältnis zwischen Lebensgeschichte und vorgegebenen narrativen Schemata aus dem Bereich der klassischen Hollywood-Genres sowie das Verhältnis zwischen der Lebensgeschichte der Künstler und den Lebensmodellen, die dem Publikum vorgesetzt werden sollen: 1) They conform the ,life‘ so as to make it congruent with the narrative structures and formulas common to romantic melodramas, musicals, westerns, horror films, and so on. 2) They ,normalize‘ and contain the artist’s life, depicting him or her, on 26 Verena Kuni: „Nach allen Regeln der Kunst: Gender is a Genre is a Genre? Cut Up! Versuch über Verfahren, einen gordischen Knoten zu durchschneiden“. In: Screenwise. Film, Fernsehen, Feminismus. Hg. v. Monika Bernold, Andrea B. Braidt u. Claudia Preschl. Marburg 2004, S. 221 – 232, hier S. 226 f. 27 John C. Tibbetts: Composers in the Movies: Studies in Musical Biography. New Haven 2005, S. 8 f.
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the one hand, as a somewhat marginalized individual, struggling against stifling societal conformism and, on the other, as a citizen striving to compose a ,song of the people‘ that reflects, confirms, and celebrates the community’s own commonly held experiences.28
Die Visualisierung der künstlerischen Arbeit In seiner Studie über Biopics widmet sich Henry Taylor einem Phänomen in der filmischen Darstellung von Künstlern, das er den „Overflow-Effekt“ nennt.29 Er versteht darunter, dass die Filme z. B. über Maler oft zumindest teilweise die Bildsprache des biographischen Objekts übernehmen, um gewissermaßen deren kreative Arbeit auch auf der Ebene der Darstellung ihres Lebens zu vermitteln. Taylor bezieht sich auf den bereits genannten van-Gogh-Film Lust for Life, der – anders als etwa der Rembrandt-Film Alexander Kordas – bereits auf die inzwischen entwickelte Technik des Farbfilms zurückgreifen konnte. Ein besonders instruktives Beispiel ist der Einzug van Goghs in seine Wohnung in Arles; nachdem die Bilder des Films zunächst eher dunkel und in Brauntönen gehalten sind, wird am Morgen plötzlich alles hell, man sieht eine bunte Blütenpracht und alsbald den Maler bei seiner Tätigkeit, mit deren Hilfe er die leuchtende Natur in Kunstprodukte überträgt. „I wanted to re-create the same mood and lighting as in van Gogh’s time“, schreibt der Regisseur Vincente Minnelli in seiner Autobiographie über die eigenen künstlerischen Absichten.30 Auf diese Weise erscheint die künstlerische Arbeit als „direct transcription from a real scene“, so Griselda Pollock; umgekehrt gilt: „[T]hese landscapes are offered as externalised, visualised images of the artist’s inner landscape.“31 Diese Vorgangsweise ist auch in späteren Filmen wieder aufgegriffen worden. Ein Beleg dafür ist Love Is the Devil: Study for a Portrait of Francis Bacon (GB/F/JP 1998) von John Maybury. Der Regisseur greift eine, wenn auch entscheidende und vor allem für sein malerisches Schaffen 28 Ebd., S. 20. 29 Taylor: Rolle des Lebens, S. 320. 30 Zit. nach Norbert Grob: „Unglaubliches Blau, Grün wie von geschmolzenen Smaragden. Vincent van Gogh im Film: Bilder, Assoziationen, Lektüren“. In: Genie und Leidenschaft. Hg. v. Felix, S. 77 – 94, hier S. 80. 31 Griselda Pollock: „Artists Mythologies and Media Genius, Madness and Art History“. In: Screen 21 (1980) H. 3, S. 57 – 96, hier S. 95.
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bedeutsame Episode aus Bacons Leben heraus, die Beziehung zu dem Londoner Kleinkriminellen George Dyer, der ab 1964 zu seinem Geliebten und bevorzugten Modell wird. Als narrativer Rahmen des Films fungiert der finale Moment dieser Beziehung: Als Bacon mit ihm zur Eröffnung einer großen Ausstellung am 24. Oktober 1971 in Paris weilt, nimmt sich Dyer in einem Badezimmer des Hôtel des Saint-Peres das Leben. Sein Tod wird in einer Bildersprache gezeigt, die deutlich den Gemälden des Künstlers nachempfunden ist. Auch in anderen Sequenzen von Mayburys Film werden die zerfallenden Körper, die verschwimmenden Physiognomien und die blutigen Fleischklumpen auf Bacons Gemälden visuell nachgestellt: „Der Film betrachtet den bildenden Künstler mit dessen eigenen Augen.“32 Ein weiteres erfolgreiches Biopic, in dem diese Technik angewandt wird, ist der bereits genannte Film Frida, der nicht nur durch die Farbund Bilderwelt der Künstlerin Frida Kahlo geprägt ist, sondern in dem mit Mitteln moderner Animations- und Tricktechnik auch die Entstehungsgeschichte zentraler Gemälde nachvollzogen wird. So wird etwa das bekannte Selbstbildnis mit abgeschnittenem Haar nicht nur einfach gezeigt, sondern eine Vorgeschichte inszeniert, aus der das Kunstprodukt erwächst: Zuerst ist zu sehen, wie sich Kahlo nach der schmerzvoll erlebten Trennung von Diego Rivera vor dem Spiegel die Haare abschneidet, dann erscheint ihr animiertes Bild im die Grenze zwischen Wirklichkeit und Gemälde markierenden Rahmen. Auch das Bild Die gebrochene S ule wird mit der im Film konstruierten Lebenswirklichkeit der Malerin verschaltet.33 Gerade in diesem Fall ist freilich anzumerken, dass durch die kurz geschlossenen Übergänge zwischen Kunst und filmischer Diegese die Darstellung der künstlerischen Arbeit nur sehr reduziert erfolgen kann – ein nicht zuletzt durch die dramaturgischen und technischen Gesetzmäßigkeiten des Mediums bedingter Umstand. Den Anspruch der filmischen Darstellung einer Künstlerbiographie, die besondere Begabung eines schöpferisch tätigen Menschen „allgemein begreiflich zu machen, d. h. darstellend zu vermitteln“, sei im Fall von Komponisten besonders schwierig, schreibt Cornelia Szabó-Knotik 32 Marcus Stiglegger: „Exzeß und Bestrafung. Bacon und Schiele – eine Fusion von Leben und Werk“. In: Genie und Leidenschaft. Hg. v. Felix, S. 95 – 102, hier S. 96. 33 Vgl. Verena Berger: „Frida Kahlo – Ikone, Märtyrerin und Mythos. Filmische Künstlerporträts zwischen Mexiko und Hollywood“. In: Ikonen Helden Außenseiter. Hg. v. Mittermayer, Blaser u. a., S. 53 – 69, hier S. 60.
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aus Anlass älterer Mozart-Biopics; immerhin bestehe „die äußere Form des kreativen Akts im Niederschreiben von Noten […], deren Entzifferung Spezialwissen verlangt“, und auch das musikalische Kunstwerk selbst erschließe sich in seiner eigentlichen Qualität beim Hören „nur nach einiger (Vor-)Kenntnis“.34 Sowohl in Wen die Gçtter lieben (D/A 1942) als auch in dem bereits genannten Mozart bzw. Reich mir die Hand, mein Leben (Regie beide Male: Karl Hartl) wird die Beziehung von Leben und Werk in Form einer Parallelisierung dargestellt, wobei die Musik „den Gemütszustand des Komponisten verdoppelt“.35 Üblicherweise wird das musikalische Werk der dargestellten Persönlichkeiten in den Komponisten-Biopics als Soundtrack eingesetzt – allerdings meist in völlig anderer Funktionalisierung, als sie der künstlerischen Intention ihrer Schöpfer entspräche: „[T]hey pluck the musical texts out of their historical contexts“, beschreibt Tibbetts dieses Verfahren, „and, in addition to exploiting their familiarity and performance values, transmute them into collages and pastiches deployed via the programmatic and leitmotif techniques of late-nineteenth-century ,Romantic‘ composers“.36 Wenn Mozart in den angesprochenen Filmen aus den 1940er und 1950er Jahren komponiert, so entsteht die Musik aus quasi improvisierend hervorgebrachten Klängen am Klavier und dient dann, im Sinn der zitierten Beobachtung von Tibbetts, als Leitmotiv für bestimmte Handlungsaspekte – wie bei der Arie Per piet bell’idol mio für Sopran und Orchester, KV 78, die in Wen die Gçtter lieben aus der ersten Begegnung mit Aloysia Weber heraus entsteht und dann Mozarts Beziehung zu ihr begleitet. Mozarts Beziehung zu Constanze wird zur Handlung und zur Musik der Oper Die Entf hrung aus dem Serail (mit der gleichnamigen weiblichen Hauptfigur) parallel gesetzt. Auch in Mozart bzw. Reich mir die Hand, mein Leben fungiert Musik als leitmotivische Klammer des Geschehens, in diesem Fall sind es die Oper Die Zauberflçte und das Requiem – der Film konzentriert sich auf das letzte Lebensjahr des Protagonisten. Nur kurz ist Mozart beim Komponieren zu beobachten: Als er sich nach der vermeintlichen Abreise der Sän34 Cornelia Szabó-Knotik: „Der Mann Mozart. Konstruktionen des Schöpfermythos im Film“. In: Mozart im Kino. Betrachtungen zur kinematografischen Karriere des Johannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus Mozart. Hg. v. Günter Krenn. Wien 2005 (= Edition Film + Text, Bd. 8), S. 30 – 58, hier S. 53 f. 35 Ebd., S. 35. 36 Tibbetts: Composers in the Movies, S. 21.
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gerin Annie Gottlieb in die Natur zurückzieht, sieht man ihn z. B. bei der Arbeit am Beginn des Requiem: Die aus dem Off erklingende Musik verdeutlicht „den kreativen Akt als einen innerlichen Vorgang“, dessen biographische Grundlage durch Zwischenschnitte auf die inzwischen herbeieilende Annie und durch die Nahaufnahme ihres Abschiedsbriefes behauptet wird.37 Ansonsten erscheint die Arbeit des Künstlers geradezu als „Nebensache“, so Alexander Bartl; der Film erwecke den Anschein, „als wolle er seinem Helden die genialen Ideen austreiben und ihn dadurch zum Normalbürger zähmen“38 – wir erinnern uns an die Forderung Hollywoods, die Darstellung der Künstler an die Vorstellungswelt des Publikums anzupassen. Eine ganz andere Darstellung der kompositorischen Arbeit findet sich in einem Film über Franz Schubert, der sich auch sonst um die Korrektur der mit diesem Musikerleben gerade im Film und in der traditionellen Biographik verbundenen Klischees bemüht. In seiner viereinhalbstündigen Schubert-Trilogie Mit meinen heißen Tr nen (A 1986) zeigt der Regisseur und Drehbuchautor Fritz Lehner den Komponisten bei der Arbeit an seiner späten A-Dur-Sonate für Klavier. Mit allen Mitteln demontiert er gängige Klischees von Schubert als dem „stets inspirierten Musiker, der leicht und locker seine Eingebungen und Einfälle zu Papier bringt“. Er stellt die realen Bedingungen beim Komponieren in einer unwirtlichen, feuchten Wohnung dar, in seiner filmischen Nachzeichnung des kreativen Arbeitsvorganges ist das Komponieren „kein beschwingtes Niederschreiben der Einfälle, sondern ein mühsames Herauspressen“. Wenn der Komponist Notenblatt und Feder zur Seite legt, hört man „wie aus dem Innern des leidenden Körpers“ den Mittelteil des Andantino aus der Sonate, deren mühevolles Entstehen eben zu beobachten war.39 Eine beliebte Möglichkeit, das entstandene Werk mit seiner lebensgeschichtlichen Umgebung in Verbindung zu setzen, ist die Inszenierung filmischer Sequenzen zu musikalischen Fragmenten, sodass die Musik zum Auslöser einer Bildassoziation wird, die wiederum auf die Herkunft dieser Klänge rückverweist. Besonders virtuos findet sich 37 Szabó-Knotik: „Der Mann Mozart“, S. 50. 38 Alexander Bartl: „Vom Dienstmann zum Popstar. Zur Darstellung Mozarts bei Karl Hartl und Milos Forman“. In: Genie und Leidenschaft. Hg. v. Felix, S. 129 – 144, hier S. 134. 39 Horst Fritz: „Der Tod und der Künstler. Fritz Lehners Schubert-Trilogie“. In: Genie und Leidenschaft. Hg. v. Felix, S. 115 – 128, hier S. 125 f.
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diese Vorgangsweise in den Filmen des britischen Regisseurs Ken Russell realisiert. Sie hat nach Thomas Koebner freilich zur Voraussetzung, dass der Ausdruckscharakter der Musik als „Manifestation“ für innere Vorgänge, die ihrerseits auf äußere Ereignisse reagieren, angesehen wird: Musik erscheint als „Wiedergabe der Wesensart des Komponisten selbst“. Umgekehrt betrachtet, wird in diesen filmischen (Teil-)Darstellungen von Leben und kompositorischem Werk suggeriert, dass „über die Kunst der wahre ,Geist‘ des Künstlers zu erschließen sei, etwa wie das Unbewußte über den Traum des Träumers“. Das Kunstwerk wird als „Projektion von Persönlichkeitsmerkmalen des Künstlers“ verstanden.40 Belege für diese Darstellungstechnik finden sich vor allem in Russells Filmen über Pjotr Iljitsch Tschaikowski und Gustav Mahler. In dem Tschaikowski-Film The Music Lovers (GB 1970) macht der Regisseur die Aufführung des bekannten Klavierkonzerts B-Moll zum Auslöser einer Reihe von Phantasien, die durch die Montage den Protagonisten zugeordnet sind: In der Imagination des Komponisten erscheint seine Schwester Sascha in einer idyllischen Naturszene, seine spätere Frau Nina erlebt ihre Hochzeit, aber auch andere Personen werden in das Geflecht von Phantasien einbezogen, etwa die Förderin Nadeshda von Meck. Bei der Entstehung der Briefszene aus der Oper Eugen Onegin wird mittels Parallelmontage eine Verbindung zwischen der fiktionalen Opernheldin Tatjana, der ebenfalls einen Liebesbrief schreibenden Nina, Sascha und Frau von Meck, die den Komponisten zum Gegenstand ihrer erotischen Phantasien macht, hergestellt. Besonders provokant ist die Sequenz, die Russell zur Musik der Ouvert re 1812 entwickelt; sie formuliert bildlich den Vorwurf an den Komponisten, er habe seine Kunst allzu bedenkenlos der Kommerzialisierung geopfert – er wird von kreischenden Fans wie ein Popstar auf den Schultern herumgetragen und mutiert zur mechanisch vor sich hin dirigierenden Puppe, während sein Bruder Modest das durch die Musik eingenommene Geld zählt.41 Noch ungewöhnlicher ist die filmische Inszenierung in Russells Biopic Mahler (GB 1974): Dort sind einerseits um den Haupt-Erzählstrang der Bahnreise des aus den USA zurückkehrenden todkranken 40 Thomas Koebner: „Exzentrische Genies. Ken Russells Umgang mit Gipsbüsten“. In: Genie und Leidenschaft. Hg. v. Felix, S. 102 – 114, hier S. 108. 41 Vgl. die ausführliche Analyse dieser Sequenzen bei Tibbetts: Composers in the Movies, S. 185 – 188.
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Komponisten nach Wien (1911) eine Serie von Rückblenden mit Szenen aus Mahlers Leben angeordnet, andererseits werden ausgedehnte musikalische Phantasien entfaltet, die zum Teil an Traumszenarien erinnern. Kurz nach Beginn der Handlung wird auf diese Weise das kompositorische Verfahren Mahlers illustriert: Er ist in seinem Komponierhäuschen bei der Arbeit zu sehen, wir hören Geräusche, die aus der ihn umgebenden Natur und Alltagswelt stammen. Diese werden sogleich zu Auslösern von musikalischen Fragmenten aus seiner Symphonik, ob es nun Kinderschellen sind, das Geläute von Kuhglocken oder das Spiel einer Musikkapelle. Tibbetts hält diese Visualisierung des kompositorischen Prozesses, „in which the interior diegesis of musical sounds replicate, transform, and transcend their natural references“, für die beste ihrer Art seit Abel Gances Film Un grand amour de Beethoven (F 1937).42 Ein zweites Beispiel für Russells Vorgangsweise ist die Phantasie über Mahlers Konversion, die zur Musik des Rondo Burlesco aus der Neunten Symphonie zunächst im Stil eines Stummfilms (mit Zwischentiteln) gestaltet ist, wobei Cosima Wagner in Nazi-Uniform und Mahler in der Kleidung eines jüdischen Rabbi miteinander konfrontiert werden; Mahler verwandelt sich in einen jüdischen Siegfried, der nach der Besiegung des Drachen nunmehr im Tonfilm (Zwischentitel: „Along came the Talkies“) zusammen mit Cosima auf einem riesigen Schwertgriff sitzend Küsse tauscht. Eher selten wird im biographischen Film der Vorgang des Schreibens wiedergegeben, was darstellungstechnische Gründe hat: „Schreibszenen im literarhistorischen Biopic versprechen keine dramatischen Höhepunkte“, bemerkt Siegrid Nieberle, die Autorin der bisher umfassendsten Studie über Autor/inn/en im Biopic. „[E]s kann schlicht sehr ermüdend sein, eine Figur bei den kontemplativen Tätigkeiten des Schreibens und des Lesens zu beobachten“43, während etwa bei Musikern Konzertszenen oder Sequenzen im Aufnahmestudio gezeigt werden können und auch die Arbeit bildender Künstler/innen einer filmischen Präsentation viel mehr entgegenkommt. „Writing is not an active brand of Great Work, as it transpires offscreen, or in the mind, so 42 Ebd., S. 191. Sein ausführlicher Kommentar zu den hier skizzierten Visualisierungen findet sich ebd., S. 189 – 194. 43 Vgl. Siegrid Nieberle: Literarhistorische Filmbiographien. Autorschaft und Literaturgeschichte im Kino. Berlin, New York 2008, S. 68. Ähnlich A. Mary Murphy: Limited Lives: The Problems of the Literary Biopic. http://www.kinema. uwaterloo.ca/murph021.htm (Stand: 24. 04. 2008).
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it is the lives that are dramatized in the biopics about writers.“44 Das gilt z. B. für einen der meistbeachteten neueren Filme über einen Autor, für Wilde (GB/D/JP 1997), in dem zwar die Erzählung des Protagonisten vom Selfish Giant „zur Illustration seiner seelischen Entwicklung im Konflikt zwischen Familie und Geliebtem“45 eingesetzt wird, ansonsten aber von Oscar Wildes schriftstellerischer Tätigkeit zumindest vor der Abfassung des großen autobiographischen Bekenntnistexts De profundis im Gefängnis wenig zu sehen ist. Mary Murphy fordert demgegenüber vom literarischen Biopic, nicht nur das Leben selbst zu zeigen, sondern auch „how the life gets into the work“; der Akt des Schreibens entbehre keineswegs jeglicher Dramatik. „Writing is the threshold, the way of approach and meeting, between reader and writer; if a literary biographical film is to be intellectually and emotionally satisfying, it has to stand on that threshold.“46 Ein bemerkenswerter Versuch, in einem Film über einen Schriftsteller die Darstellung des Lebens mit der eines literarischen Œuvres zu verknüpfen, ist Mishima. A Life in Four Chapters (USA 1985) von Paul Schrader. Am 25. November 1970 hatte der japanische Romancier Yukio Mishima zusammen mit Mitgliedern aus seiner Privatarmee im Hauptquartier der japanischen Armee den Kommandanten als Geisel genommen und die versammelten Truppen in einer dramatischen Rede dazu aufgefordert, gegen den Materialismus und die Dekadenz der modernen Gesellschaft die traditionelle Samurai-Ethik wiederzubeleben und sich wie einst dem Kaiser zu unterstellen. Als das erhoffte Echo ausblieb, beging Mishima Seppuku, eine rituelle Form des Selbstmords. Diese schockierende Handlung des erfolgreichen Schriftstellers, der auch als Schauspieler und Filmemacher hervorgetreten war, bildet die erste von mehreren Erzählebenen in Schraders Film. Der Regisseur teilt sein Biopic, wie der Untertitel vorgibt, in vier Teile, die jeder für sich eine zentrale Idee zum Titel haben: „Beauty“, „Art“, „Action“ und „Harmony of Pen and Sword“. Die ersten drei Teile beginnen jeweils mit einer kurzen Sequenz während der Anfahrt Mishimas und seiner 44 Lisa Levy: „Storytelling. Great Love and Great Work in the Biopic“. In: Review of Culture & Politics 29 (2002) H. 2, S. 87 – 101, hier S. 92. 45 Lucia Krämer: „Der Dichter als tragischer Held und Ideenträger. Eine Analyse jüngster Oscar Wilde-Darstellungen in Drama und Film“. In: Fakten und Fiktionen. Strategien fiktional-biographischer Dichterdarstellungen in Roman, Drama und Film. Hg. v. Christian von Zimmermann. Tübingen 2000, S. 285 – 300, hier S. 289. 46 Murphy: Limited Lives.
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Gefährten zum Armee-Hauptquartier, der vierte Teil schildert hauptsächlich die Geschehnisse ebendort. Vor allem diese ersten drei Kapitel enthalten ausgedehnte Rückblenden in frühere Lebensphasen des Autors, die auf dessen autobiographischem Roman Kamen no Kokuhaku (dt. Gest ndnis einer Maske, 1949) basieren. Zum Unterschied von den Sequenzen, die der ersten Erzählebene (der Gegenwart der Filmhandlung) angehören und in Farbe gedreht sind, im Stil einer Reportage zum Teil mit Handkamera und mit hektischen Schnitten, gibt Schrader die autobiographischen Passagen in Schwarzweiß und im Stil des klassischen japanischen Films etwa eines Yasujiro Ozu wieder; die (Film-)Stimme Mishimas kommentiert als Voice-over die Bilder. Eine dritte Erzählebene bezieht das Werk Mishimas mit ein, indem Schrader jeweils den inhaltlichen Kern von drei Romanen in ostentativ künstlich gehaltenen Sequenzen inszeniert, mit stilisierter, ,unnatürlicher‘ Farbgebung. Es handelt sich um die Romane Kinkakuji (dt. Der Tempelbrand, 1956), Kyo¯ko no Ie (dt. Kyokos Haus, 1959) und Homba (dt. Unter dem Sturmgott, 1969). Im ersten Text geht es um einen Akolyten, der unter seiner körperlichen Unzulänglichkeit leidet, aber von der Schönheit des Goldenen Tempels besessen ist und diesen schließlich zerstört. Der zweite handelt von jenem Streben nach körperlicher Perfektion, das auch Mishima selbst kennzeichnete: Er betrieb intensiv Sport und stählte seinen Körper durch ausgiebiges Bodybuilding. Der dritte bezieht sich auf Mishimas Ergebenheit gegenüber dem Kaiser, der für ihn die Seele des japanischen Volkes verkörperte. Mit der Geschichte eines Kendo-Fechters, der als Mitglied einer Verschwörung die Ermordung einer mächtigen Figur des öffentlichen Lebens und die Wiedereinsetzung des Kaisers in seine alte Macht plant, nimmt der Autor sein eigenes Ende literarisch vorweg. „Schrader suggests that if we are truly to begin to understand the subject, we have to enter his world – his experience, his language, his creations, and his ideas, including his interest in violence“, kommentiert John Wilson diese Vorgangsweise.47 Indem er immer wieder zwischen den autobiographischen Passagen in Schwarzweiß und den hochartifiziell angeordneten Sequenzen aus dem fiktionalen literarischen Werk Mishimas hin- und herschneidet, teilweise gleich lautende Sätze aus dem Leben des Autors und aus seiner Literatur als Scharniere verwendend, deutet Schrader an, dass nichts in diesem Œuvre losgelöst von der 47 John Howard Wilson: „Sources for a Neglected Masterpiece: Paul Schrader’s Mishima“. In: Biography 20 (1997) H. 2, S. 265 – 283, Zitat S. 267.
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Persönlichkeit Mishimas gelesen werden kann. Bis hin zum finalen Akt im Büro des Garnisonskommandanten, der durch eine Szene mit dem Romanhelden Isao aus Homba und eine Einstellung aus der Verfilmung einer Mishima-Kurzgeschichte mit ihm selbst in der Hauptrolle präfiguriert wird, verschränken sich in der Diegese des Films Leben und künstlerische Fiktion: „Thus art and action are almost inextricably entangled, as a fictional character, by taking his own life, imitates his creator, who had rehearsed his own suicide while portraying another of his creations.“48 Der Zerfall des biographischen Ichs „Die traditionelle Vorstellung von einer kohärenten und konsistenten Ganzheit der Subjekte und ihrer Lebensentwürfe ist im 20. Jahrhundert endgültig zerbrochen“49, lautet Hans Erich Bödekers Befund über die Situation des biographischen Schreibens zu einer Zeit, in der die Vorstellung einer lebensgeschichtlichen Kontinuität nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. So wie nach Helmut Scheuers Beobachtung die neueren biographischen Texte der „Komplexität und Differenziertheit der modernen Welt“ mit einer zunehmenden „Heterogenität der Darstellungsweisen“ begegnen50, hat man im Bereich des biographischen Films in den letzten Jahren ebenfalls nicht nur die Konventionen des traditionellen Biopics reformuliert, sondern zugleich nach Formen gesucht, die der tatsächlichen Inkohärenz unserer Lebensläufe entsprechen. Dabei gelangten die Filmemacher/innen oft zu innovativeren Lösungen, als sie im Bereich der schriftlichen Biographie gewagt wurden. Das experimentelle Biopic Thirty Two Short Films About Glenn Gould (PT/CA/FI/NL 1993) des Regisseurs François Girard besteht, wie der Titel sagt, aus 32 Kurzfilmen, deren Anzahl als Anspielung auf die 32 Abschnitte der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach zu verstehen ist – jenes Musikstücks, das wie kein anderes mit der Karriere des kanadischen Pianisten assoziiert ist. Die „Short Films“ sind einerseits 48 Ebd., S. 278. 49 Hans Erich Bödeker: „Biographie. Annäherung an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand“. In: Biographie schreiben. Hg. v. Hans Erich Bödeker. Göttingen 2003, S. 9 – 63, hier S. 24 f. 50 Helmut Scheuer: „Biographie. Überlegungen zu einer Gattungsbeschreibung“. In: Vom Anderen und vom Selbst. Beitr ge zu Fragen der Biographie und Autobiographie. Hg. v. Reinhold Grimm. Königstein/Ts. 1982, S. 9 – 29, hier S. 26.
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kurze Spielszenen, in denen Gould von dem Schauspieler Colm Feore verkörpert wird, darunter sind aber auch fünf Abschnitte, die Interviews mit Zeitgenossen des Pianisten enthalten. Es sind Filme über Gould als Musiker, über seine exzentrische Lebensweise, aber auch kurze Darstellungen seiner anderen Interessensgebiete, etwa seiner Beschäftigung mit Börsengeschäften oder seiner Arbeit an Radiosendungen (wie z. B. Film 16: The Idea of North), in denen er im Studio genauso kontrapunktisch wie bei Bachs Musik ein Geflecht menschlicher Stimmen arrangiert. Die Aufnahmen des Interpreten Glenn Gould (nicht nur Bach, auch z. B. Sibelius, Hindemith, Prokofiev und Schönberg) sind in ganz unterschiedlicher Weise inszeniert: Im dritten Film 45 Seconds and a Chair sitzt Gould in einem Sessel und lauscht einer von ihm gespielten Bach-Invention; Film 7 Variation in C Minor visualisiert die KlangAmplituden des im Titel genannten Beethoven-Stücks, in Film 10 CD318 wird das Innenleben eines Klaviers gefilmt, dessen rasend in Bewegung befindlicher Mechanismus ein Bach-Präludium zum Klingen bringt. Und Film 20 Gould Meets McLaren besteht aus einer ComputerAnimation des kanadischen Filmkünstlers Norman McLaren zur Musik einer Bach-Fuge. Die Anordnung der Filme ist bei aller Betonung des Fragmentarischen jedoch nicht zufällig. Einerseits folgt sie einer Art Kontrapunktik; in ständigem Wechsel zwischen einigen Hauptsträngen (vor allem der Musik und den Interviewpassagen) entsteht auf diese Weise ein multiperspektivischer Zugang zum Phänomen Glenn Gould. Andererseits ergibt sich durchaus eine Abfolge lebensgeschichtlich wesentlicher Stationen, wenn z. B. der zweite Film Lake Simcoe die enge Beziehung zur Mutter betont, zu seiner ersten Klavierlehrerin, wenn Film 9 The L.A. Concert von Goulds Rückzug vom öffentlichen Konzertleben am 10. 4. 1964 handelt, und wenn in Film 28 und 29 über seinen Tod berichtet wird. Film 30 und 31 handeln von einem besonders spektakulären Aspekt der Gould-Rezeption: Als im Herbst 1977 die Raumsonden Voyager I und II abgeschossen wurden, gab man ihnen Botschaften an den Rand unserer Galaxie mit, darunter auch ein BachPräludium in Goulds Interpretation. Ein eigener Schwerpunkt von Film 23 bis 25 handelt von Goulds Tablettensucht. Auch hier wählt Girard eine ungewöhnliche Darstellungsform: Film 23 Pills besteht aus Großaufnahmen der unterschiedlichen Medikamente, die er u. a. gegen Depression, Angst und Blutdruckprobleme einzunehmen pflegte. Eine spezifische Mischung aus dokumentarischen Elementen und Spielszenen zeichnet auch den Film American Splendor (USA 2003) der
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Regisseure Robert Pulcini und Shari Springer Berman aus. Er beschäftigt sich mit dem Leben Harvey Pekars, des Erfinders der gleichnamigen Comicserie, in der Episoden aus seiner trostlosen Existenz in der amerikanischen Provinz wiedergegeben sind. Die meiste Zeit über wird Pekar von dem Schauspieler Paul Giamatti verkörpert, in kurzen Interview-Sequenzen ist aber auch der reale Harvey Pekar zu sehen. Außerdem wird kurzfristig immer wieder die Ästhetik der Comics eingesetzt, etwa in Form von Sprechblasen oder von kleinen Kästchen am Bildrand. Der Film hat grundsätzlich Züge einer Autobiographie; er ist aus der Perspektive Pekars erzählt, seine Stimme kommentiert als Voice-over den Ablauf der Sequenzen. Bei aller konventionellen Aufeinanderfolge seiner narrativen Bestandteile, etwa was die Chronologie der Handlung anbelangt, enthält der Film eine Reihe selbstreflexiver Elemente, die weit über die gewohnte Nachzeichnung einer Lebensgeschichte und der daraus entstandenen künstlerischen Produkte hinausgehen. Schon zu Beginn erweist sich die Vielschichtigkeit der Darstellung. In Sprechblasen können wir zunächst lesen: „My name is Harvey Pekar. I’m a character in a celebrated underground comic book. Different artists drew me all kindsa [sic!] ways. But hey, I’m also a real guy.“ Dabei wird kurz der reale Harvey Pekar gezeigt. Der Text geht aber weiter: „An’ now this guy here playin’ me in a movie …“ An dieser Stelle deutet die gezeichnete Figur aus dem Comic mit dem Finger auf den Schauspieler, der fortan die Rolle Pekars spielen wird. Bemerkenswert ist auch eine Szene auf einem Bahnhof nach etwa zwei Fünfteln des Films, in der Pekars spätere Frau Joyce mit ihm erstmals zusammentrifft. Sie hat bisher nur telefonisch mit ihm Kontakt gehabt. Wir sehen mit Hilfe eines technischen Tricks, auf mehrere Stühle im Warteraum verteilt, gezeichnete Figuren aus den Comics – es sind die unterschiedlichen Varianten, in denen sie sich Harvey vorstellt, ehe er selbst auftaucht und sie anspricht; die Selbst-Inszenierung Pekars wirkt bis in die Wirklichkeit des Films hinein. In einer weiteren Szene wird die filmische Diegese überschritten, als im Studio die Schauspieler, die Harvey und seinen Freund Toby verkörpern, auf ihre realen Vorbilder treffen und mit ihnen ins Gespräch kommen. Indem der Film dem Publikum ein einheitliches, definitives Bild von Harvey Pekar verweigert, indem er die multiplen Repräsentationen Harveys gleichberechtigt nebeneinander stehen lässt, dokumentiert er die Unmöglichkeit eines Zugangs zum Leben jenes Individuums, das er offiziell darstellt, meint Jason Sperb: „American Splendor thus pushes to the
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forefront the constant, often contradictory, attempts at representing Harvey Pekar, while also acknowledging the elusiveness of these representations.“51 Am radikalsten wird die postmoderne Idee eines multiplen Subjekts in I’m Not There (USA/D 2007) von Todd Haynes umgesetzt. Im Vorspann heißt es, die Handlung des Films sei von der Biographie Bob Dylans inspiriert. Der Regisseur geht davon aus, so sein Kommentar in den Extras zur britischen DVD-Edition (2008), dass Dylan sein ganzes Leben hindurch ein „serial changer“ gewesen sei; „he couldn’t remain in the same skin“. Dieser permanente Wechsel in der Erscheinungsform sei deshalb auch der Schlüssel zur filmisch umkreisten Person. Haynes führt ein Verfahren weiter, das schon Todd Solondz in seinem Film Palindromes (USA 2004) anwendet; dort wird eine junge Frau von unterschiedlichen Schauspielerinnen verkörpert. Im Fall von I’m Not There sind es sechs verschiedene Personen, die von ebenso vielen Schauspielern dargestellt sind, darunter einem Afroamerikaner und einer Frau – wobei keiner von ihnen auch nur den Namen Bob Dylans trägt. Dennoch haben alle diese Figuren, die jeweils auch in unterschiedlichen filmischen Stilen dargestellt werden, mit bestimmten Aspekten von Dylans Biographie zu tun. Der Film beginnt in Farbe mit einem herumziehenden schwarzen Jungen namens Woody Guthrie, der also nach einem Sänger benannt ist, von dem Dylan zu Beginn seiner Karriere maßgeblich beeinflusst war. Es folgt ein weiterer Träger eines berühmten Namens, ein gewisser Arthur Rimbaud, dessen Befragung durch einen Untersuchungsausschuss den ganzen Film hindurch wiederholt aufgegriffen wird. Er legt in diesen in Schwarzweiß gedrehten Szenen mit Texten aus tatsächlichen Dylan-Interviews von 1965 seine künstlerische Position eines rebellischen Poeten dar. Im Stil einer Dokumentation wird der Folksänger Jack Rollins gezeigt, der im Greenwich Village der frühen 1960er Jahre als Stimme einer neuen Generation zum Idol wird; als Zeitzeugin wird dabei seine Berufskollegin Alice Fabian (die an Joan Baez erinnert) interviewt. Aus der Perspektive seiner Frau Claire, einer französischen Malerin, wird die neunjährige Ehe des Schauspielers Robbie Clark nachgezeichnet; in diese Zeit fallen dessen Durchbruch als Hauptdarsteller des Films Grain of Sand 1965, aber auch politische Zäsuren wie das Ende des Vietnam-Kriegs. In körnigem 51 Jason Sperb: „Removing the Experience: Simulacrum as an Autobiographical Act in American Splendor“. In: Biography 29 (2006) H. 1, S. 123 – 139, hier S. 131.
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Schwarzweiß sehen wir, wie der Sänger Jude Quinn (dargestellt von der Schauspielerin Cate Blanchett) beim Newport Folk Festival sein Publikum durch seine neuartige elektronische Spielweise vor den Kopf stößt. Er lehnt es ab, wie Jack Rollins als Sprachrohr einer Protestgeneration wahrgenommen zu werden, und wird als Verräter beschimpft. In einer farbig gefilmten Sequenzenfolge erinnert zuletzt die Figur des Billy the Kid, der sich auf eine entlegene Farm in Missouri zurückgezogen hat, an Dylans Faszination für die Welt des Western und an seine Mitwirkung in Sam Peckinpahs Klassiker Pat Garrett & Billy the Kid (USA 1973), für den er auch den Soundtrack schrieb; Billy trifft als Einziger mit einer der anderen Dylan-Figuren zusammen, mit dem jungen Sänger Woody. Todd Haynes löst das einheitliche Subjekt des klassischen Biopics endgültig auf. Gleichzeitig weist er auf die entscheidende Rolle der Performanz bei der Entstehung eines öffentlichen Bildes hin – im Fall eines Künstlers, der sich seine gesamte Karriere hindurch ständig neu erfunden und dadurch womöglich auch den Versuch unternommen hat, den Zuschreibungen der Öffentlichkeit immer wieder zu entkommen. Es fällt auf, wie sehr der Film auf die Rolle der modernen Medien hinweist, als Tribut an eine Zeit, in der längst zwei Welten nebeneinander bestehen, eine private Alltagswelt und eine Realität, die uns die Massenmedien vermitteln.52 Einerseits enthält I’m Not There eine Fülle von Anspielungen auf filmische Darstellungsformen und bekannte Filme (etwa von Jean-Luc Godard, Ingmar Bergman oder Federico Fellini), außerdem sind darin Bildsequenzen aus Dokumentationen über Bob Dylan nachgestellt, etwa aus D.A. Pennebakers Dont Look Back (USA 1967) oder aus Martin Scorseses No Direction Home (GB/USA/JP 2005). Andererseits zeigt er vor allem die Figur des Jude Quinn wiederholt im Umgang mit der Presse, z. B. mit dem BBC-Journalisten Keenan Jones. Als der seine Aufrichtigkeit gegenüber der Öffentlichkeit anzweifelt, entgegnet Jude, diese entspreche letztlich der des Fragestellers: „You just want me to say what you want me to say.“ Am Ende ruft er ihm ins Taxi nach: „I know more about you than you’ll ever know about me.“ Der Film liefert selbst die entscheidenden Formulierungen, aus denen der Grund für die postmoderne Verweigerung einer kohärenten 52 Vgl. Ian Christie: „A Life on Film“. In: Mapping Lives. The Uses of Biography. Hg. v. Peter France u. William St. Clair. Oxford, New York 2002, S. 283 – 301, hier S. 291.
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Darstellung des biographischen Objekts abzuleiten ist. Nach etwa einem Viertel seiner Laufzeit hören wir Claire, wie sie dem Schauspieler Robbie aus Arthur Rimbaud vorliest: „It’s wrong to say ,I think‘. One should say: ,I am thought‘. […] I is someone else.“ Dabei wird genau jene Dylan-Figur im Bild gezeigt, die sich vor dem Ausschuss mit dem Namen Rimbauds identifiziert hat. Einer der letzten Sätze des Films gehört Billy the Kid, der, im Zug dahinfahrend und seine Gitarre betastend, über sich sagt: „Me, I can change during the course of a day. I wake and I’m one person, and when I go to sleep I know for certain I’m someone else. I don’t know who I am most of the time.“ Wenige Sekunden später sehen wir, das einzige Mal im ganzen Film, tatsächlich Bob Dylan, in einer seiner bekannten Posen mit der Mundharmonika im Konzert, nachdem er zuvor zwei Stunden „Not There“ war – und doch als Bezugspunkt all der unterschiedlichen Charaktere die ganze Zeit präsent. Literaturverzeichnis Anderson, Carolyn: „Biographical Film“. In: A Handbook of American Film Genres. Hg. v. Wes Gehring. Westport 1988, S. 331 – 351. Anderson, Carolyn u. Jon Lupo: „Hollywood Lives: The State of the Biopic at the Turn of the Century“. In: Genre and Contemporary Hollywood. Hg. v. Steve Neale. London 2002, S. 77 – 104. Babington, Bruce: „,To catch a star on your fingertips‘: diagnosing the medical biopic from The Story of Louis Pasteur to Freud“. In: Signs of Life. Cinema and Medicine. Hg. v. Graeme Harper u. Andrew Moor. London, New York 2005, S. 120 – 131. Bartl, Alexander: „Vom Dienstmann zum Popstar. Zur Darstellung Mozarts bei Karl Hartl und Milos Forman“. In: Genie und Leidenschaft. Hg. v. Felix, S. 129 – 144. Berger, Doris: „Show me how to become a great artist: Biopics über Künstler/ innen“. In: Ikonen Helden Außenseiter. Hg. v. Mittermayer, Blaser u. a., S. 35 – 51. Berger, Verena: „Frida Kahlo – Ikone, Märtyrerin und Mythos. Filmische Künstlerporträts zwischen Mexiko und Hollywood“. In: Ikonen Helden Außenseiter. Hg. v. Mittermayer, Blaser u. a., S. 53 – 69. Bödeker, Hans Erich: „Biographie. Annäherung an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand“. In: Biographie schreiben. Hg. v. Hans Erich Bödeker. Göttingen 2003, S. 9 – 63. Bordwell, David: Narration in the Fiction Film. Madison 1985. Christie, Ian: „A Life on Film“. In: Mapping Lives. The Uses of Biography. Hg. v. Peter France u. William St Clair. Oxford, New York 2002, S. 283 – 301.
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Moulin Rouge (GB 1952, John Huston) Mozart (auch: Reich mir die Hand, mein Leben, A 1955, Karl Hartl) Pollock (USA 2000, Ed Harris) Ray (USA 2004, Taylor Hackford) Rembrandt (GB 1936, Alexander Korda) The Agony and the Ecstasy (USA 1965, Carol Reed) The Benny Goodman Story (USA 1956, Valentine Davies) The Glenn Miller Story (USA 1954, Anthony Mann) The Life of Emile Zola (USA 1937, William Dieterle) The Music Lovers (GB 1970, Ken Russell) The Private Life of Henry VIII. (GB 1933, Alexander Korda) The Story of Alexander Graham Bell (USA 1939, Irving Cummings) The Story of Louis Pasteur (USA 1935, William Dieterle) Thirty Two Short Films About Glenn Gould (PT/CA/FI/NL 1993, François Girard) Un grand amour de Beethoven (F 1937, Abel Gance) Walk the Line (USA/D 2005, James Mangold) Wen die Gçtter lieben (D/A 1942, Karl Hartl) What’s Love Got to Do with It (USA 1993, Brian Gibson) Wilde (GB/D/JP 1997, Brian Gilbert)
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Diese Bibliographie ist eine Auswahl aus einer umfangreichen bibliographischen Datenbank zur Geschichte und Theorie der Biographie, die am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie erstellt wird. Es ist daran gedacht, die Datenbank in Zukunft in elektronischer Form zugänglich zu machen. 1. Theorie der Biographie allgemein Aaron, Daniel (Hg.): Studies in Biography. Cambridge (Mass.), London 1978 (= Harvard English Studies, Bd. 8). Abbt, Thomas: „Hundert und ein und sechzigster Brief. Allgemeine Erfordernisse der Schreibart eines Biographen, die Herr P. nie gekannt hat“. In: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend (1761) H. 10, S. 211 – 214. Abbt, Thomas: „Zwey hundert und eilfter Brief. P. Pauli Abzug aus dem Reiche der schönen Wissenschaften, nebst desselben Abschiedsunterredung mit seinem Kunstrichter. Nützliche Regeln für Biographen, aus dem Rambler“. In: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend (1762) H. 13, S. 33 – 60. Aldridge, Alfred Owen: „Biography in the Interpretation of Poetry“. In: College English 25 (1964) H. 6, S. 412 – 420. Auty, Phyllis u. Anthony M. Friedson (Hgg.): New Directions in Biography. Manoa (Hawaii) 1981. Backscheider, Paula R.: Reflections on Biography. Oxford, New York u. a. 1999. Barthes, Roland: „Préface“. In: ders.: Sade, Fourier, Loyola. Paris 1971, S. 7 – 16. Barthes, Roland: „Der Tod des Autors“ [1967/68]. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. v. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer u. a. Stuttgart 2000, S. 185 – 193. Batchelor, John (Hg.): The Art of Literary Biography. Oxford 1995. Berschin, Walter u. Wolfgang Schamoni (Hgg.): Biographie – „So der Westen wie der Osten“? Zwçlf Studien. Heidelberg 2003. Bertram, Ernst: „Einleitung: Legende“. In: ders.: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Mit einem Nachwort v. Hartmut Buchner. 8. Aufl. Bonn 1965 [Erstausg. 1918], S. 9 – 18. Bödeker, Hans Erich (Hg.): Biographie schreiben. Göttingen 2003 (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Bd. 18). Boswell, James: „[Introduction]“. In: ders.: Life of Johnson. Together with Boswell’s Journal of a Tour to the Hebrides and Johnson’s Diary of a Journey into North Wales [1791]. Bd. 1. Hg. v. George Birkbeck Hill u. L. F. Powell. Oxford 1934, S. 25 – 34. Bourdieu, Pierre: „Die biographische Illusion“. In: BIOS. Zeitschrift f r Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 3 (1990) H. 1, S. 75 – 81. Bowen, Catherine Drinker: The Writing of Biography. Boston (Mass.) 1951. Bowen, Catherine Drinker: Biography. The Craft and the Calling. Westport (CT) 1978.
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