Das Musikalische im Film: Zur Grundlegung einer Ästhetik der Filmmusik 9783487422466

Unter welchen Voraussetzungen kann von einer audiovisuellen Verbindung im Film gesprochen werden, die Ton und Musik nich

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Table of contents :
Iakovos Steinhauer: DAS MUSIKALISCHE IM FILM
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Musikalisches im Film
1. Musik und Filmbild
1.1 Zeit-Rhythmus-Montage
1.2 Organisation des Raumes. Musik der Verwandlung
2. Das „Bewegungs- und Zeitbild“ von Gilles Deleuze
3. Phänomenologie des Filmtons
3.1 Topologie des Tons und der Musik
3.1.1 Geste
3.1.2 Geräusch
3.2 Musikimmanente Intentionalität
3.3 „Kinästhetischer Körper“ im Film
3.4 Der kinästhetische Körper des Filmtons
II. Funktionen des Tons in der Filmwelt
1. Deleuze und die Filmmusik
1.1 Das „Ritornell“: Musik und Virtualität
1.2 Das Ritornell der Filmmusik
1.3 Eine Szene aus „Oldboy“
1.4 Aktuell – virtuell
1.5 „Informelle“ Filmmusik
2. Territorialisierung
2.1 Bildung von Klanglandschaften und -physiognomien
2.2 Die Zeitterritorien
2.3 Psychologisches Territorium
3. Deterritorialisierende Motivation
3.1 Aufforderung zur Näherbestimmung
3.2 Motivation von räumlicher Bewegung
3.3 Motivation von zeitlicher Deterritorialisierung
3.4 Motivation von Gemütsbewegung
3.5 Akustische Deterritorialisierung – Geräusch und
musikalischer Klang
4. Molekularisierung (Absolutes hors-champ)
III. Filmmusik und Subjekt
1. Die „Transzendenz“ des Filmtons
1.1 Phänomenologie – Epoché in der Musik
1.2 Eidetische Reduktion durch den Ton
2. Epoché in der Filmmusik
2.1 Formen
2.1.1 Ton als akustisches „Wahrnehmungsbild“
2.1.2 Affektbild – Triebbild – Aktionsbild
2.1.3 Musik als mentales Bild
2.2 Das „Unwahrnehmbare“ bei Hitchcock
2.2.1 Die musikalische Epoché in „Psycho“
2.2.2 Die „eidetische Variation“ des Geräusches in„The Birds“
2.3 Das musikalisierte Geräusch
Resümee
Literaturverzeichnis
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Das Musikalische im Film: Zur Grundlegung einer Ästhetik der Filmmusik
 9783487422466

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Iakovos Steinhauer

DAS MUSIKALISCHE IM FILM Zur Grundlegung einer Ästhetik der Filmmusik

Olms

Studien und Materialien zur Musikwissenschaft Band 102 Iakovos Steinhauer Das Musikalische im Film Zur Grundlegung einer Ästhetik der Filmmusik

Georg Olms Verlag Hildesheim · Zürich · New York 2018

Iakovos Steinhauer

Das Musikalische im Film Zur Grundlegung einer Ästhetik der Filmmusik

Georg Olms Verlag Hildesheim · Zürich · New York 2018

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© Georg Olms Verlag AG, Hildesheim 2018 www.olms.de E-Book Umschlaggestaltung: Barbara Gutjahr, Hamburg Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-487-42246-6

Inhalt

Einleitung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I. Musikalisches im Film

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1. Musik und Filmbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.1 Zeit-Rhythmus-Montage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.2 Organisation des Raumes. Musik der Verwandlung . . . . . . . . 30

2. Das „Bewegungs- und Zeitbild“ von Gilles Deleuze

. . . . . . . . . . . 40

3. Phänomenologie des Filmtons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Topologie des Tons und der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Geste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Geräusch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Musikimmanente Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 „Kinästhetischer Körper“ im Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Der kinästhetische Körper des Filmtons . . . . . . . . . . . . . . . . .

II. Funktionen des Tons in der Filmwelt

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1.

Deleuze und die Filmmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 1.1 Das „Ritornell“: Musik und Virtualität . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 1.2 Das Ritornell der Filmmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1.3 Eine Szene aus „Oldboy“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1.4 Aktuell – virtuell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1.5 „Informelle“ Filmmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

2.

Territorialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2.1 Bildung von Klanglandschaften und -physiognomien . . . . . . 142 2.2 Die Zeitterritorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 2.3 Psychologisches Territorium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5

Inhalt 3. Deterritorialisierende Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3.1 Aufforderung zur Näherbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3.2 Motivation von räumlicher Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 3.3 Motivation von zeitlicher Deterritorialisierung . . . . . . . . . . . 169 3.4 Motivation von Gemütsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3.5 Akustische Deterritorialisierung – Geräusch und musikalischer Klang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

4. Molekularisierung (Absolutes hors-champ)

III. Filmmusik und Subjekt

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1. Die „Transzendenz“ des Filmtons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 1.1 Phänomenologie – Epoché in der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . 201 1.2 Eidetische Reduktion durch den Ton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 2. Epoché in der Filmmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 2.1 Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 2.1.1 Ton als akustisches „Wahrnehmungsbild“ . . . . . . . . . . . 215 2.1.2 Affektbild – Triebbild – Aktionsbild . . . . . . . . . . . . . . . 218 2.1.3 Musik als mentales Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 2.2 Das „Unwahrnehmbare“ bei Hitchcock . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 2.2.1 Die musikalische Epoché in „Psycho“ . . . . . . . . . . . . . . 227 2.2.2 Die „eidetische Variation“ des Geräusches in „The Birds“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 2.3 Das musikalisierte Geräusch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Resümee

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Literaturverzeichnis

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Einleitung

Roman Ingarden, Philosoph und Autor einer der wenigen ausführlichen Untersuchungen zur Struktur und Seinsweise der Kunstwerke von Literatur, Malerei, Musik und Film aus phänomenologischer Perspektive hat in seiner Abhandlung über die Filmkunst einen bemerkenswerten Ansatz über das Verhältnis von Musik und Film formuliert. Der Film begründet sich als eine synthetische Kunst, die eine besondere Verbindung mit der Musik aufweist: Er bildet eine „eigentümliche Musik der Bewegung und der Verwandlung“1, kommt folglich einer übergeordneten Form des Musikalischen nach, die sich über das Klang­ liche hinaus manifestiert. Nimmt man Ingarden beim Wort und unterstellt der Musik, dass sie nur einen „Sonderbereich“ der übergreifenden Kunstform des Films als Musik der Verwandlung des Raumes in der Zeit ist, so fragt man sich gerade dann, wenn die rein auditive Musik die bewegten Bilder des Films begleitet, nach der Art, wie dieses Verhältnis konkret wird, nach welchen Prinzipien sie gleichzeitig als autonome Tonkunst und auch als Teil der „Musik“ in ihrer übergreifenden Bedeutung fungieren kann. Diese Fragestellung steht im Mittelpunkt der vorliegenden Studie. Welche Merkmale einer Musik sind es, die ihre Eigenständigkeit trotz ihrer spezifischen Rolle, bestimmte dramaturgische Funktionen im Film auszuüben, nicht negiert, vielmehr ihren immanenten Zusammenhang erst durch die Konfrontation mit dem anderen Medium gewinnt? Wie ist eine Filmmusik beschaffen, die nicht illustriert, sondern mit ihren eigenen künstlerischen Mitteln ihre ­eigenen Räume und Rhythmen bildet, die als quasi-immanente Strukturen des Films aufgefasst und in die filmische Logik integriert werden? Wann kann man von einer Musik sprechen, die

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Roman Ingarden: Untersuchungen zur Ontologie der Kunst (Der Film), Tübingen 1962, S. 339 f.

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Einleitung ohne assoziativ Bilder zu verdoppeln und somit die allein von außen her, nämlich vom vorgeordneten Filmsystem herrührenden Bildinhalte auf die Klang­ ebene zu übertragen, dennoch in der Lage ist, die diegetischen und visuellen Strukturen des Films zu reflektieren und grundlegende Funktionen zu übernehmen? Gesucht werden die Eigenschaften einer Musik, die ein inneres Verhältnis zum Film aufbaut, ihn ­dabei gemäß ihrer spezifischen ästhetischen Form mit zusätzlichem Sinn kontrapunktiert. Hat man ein solches von Grund auf dialektisches Verhältnis im Blick, so ist davon auszugehen, dass Elemente in der jeweiligen Kunst zu finden sind, die diese Art der engen Verbindung begründen, die eine gemeinsame Basis für ihre enge Korrelation schaffen. Welche Elemente aber sind es, die quasi a priori eine analoge Welt der „Verwandlung und Bewegung“ (Ingarden) schaffen und das Zusammenwirken der beiden Künste vorprägen? Erst wenn diese Qualitäten bekannt sind, kann über die konkrete Rolle der Musik im Film, nämlich über die mannigfaltigen Arten ihrer Verbindung mit den anderen Ebenen der filmischen Darstellung nachgedacht werden. Um das Gefüge dieser komplexen Beziehung analysieren zu können, muss also als Erstes die Musik selbst betrachtet bzw. ihre immanenten formbildenden Mittel erkannt werden, die sie zur Verbindung mit dem Film „prädestinieren“. Diskutiert werden sollten diejenigen ästhetischen Prinzipien des Musikalischen, die bereits unabhängig von der Herstellung eines konkreten Zusammenhangs von Bild und Musik Analogien zur bildnerischen Filmgestaltung offenlegen und aufgrund dieser Eigenschaft die Vermittlung zwischen den beiden Medien übernehmen können. Sucht man nach solchen intermedialen Qualitäten der Musik, so wird man in der Filmtheorie schnell fündig. Sie werden bereits durch die elementare Terminologie des Films seit der Stummfilmära, in der Musik­ begriffe wie Rhythmus und Kontrapunkt eine wesentliche Rolle spielen, angezeigt. Ein „visueller Rhythmus“ als Instanz für die Regulierung der einzelnen Einstellungsdauern, aber auch der internen Bewegung der dargestellten Personen und Gegenstände und der Bewegung der Kamera verkörpert für René Clair2 die Grundlage der zeitlichen Organisation im Film. Sergej Eisensteins

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René Clair in den Beilagen zur Zeitschrift Cinéma (1925), zit. nach Norbert Jürgen Schneider: Komponieren für Film und Fernsehen, Mainz 1997, S. 147.

Einleitung Prinzip der „Vertikalmontage“3, sein Versuch einer engen Verbindung von ­Musik und Film, die durch die Montage von Bildern nach dem musikalischen Rhythmus idealerweise auch die Umkehrung der gewöhnlichen Prozedur des Komponierens aufgrund des fertiggedrehten Films realisiert, repräsentiert für ihn die adäquate Methode eines schöpferischen Zusammenwirkens der beiden Kunstarten mit ihren spezifischen Mitteln. Aber auch in neueren und stilistisch gegensätzlichen Filmkonzeptionen, in denen nicht die Montage, sondern das zweite zentrale Gestaltungsmittel des Films, nämlich die Einstellung zum primären Ausdrucksmittel erhoben wird, bildet die musikalische Kategorie des Rhythmus den zentralen Faktor filmischer Arbeit. Im Werk des Regisseurs ­Andrej Tarkowski wird Rhythmus, für ihn das entscheidende formbildende Element des Kinos, nicht primär durch den Schnitt, also die Bestimmung der Länge der einzelnen Bilder erzeugt, sondern mittels des „zeitlichen Spannungsdrucks“4 innerhalb der einzelnen Einstellung, der qualitativen Dichte von Erwartungs- und Erfüllungsvorgängen im einzelnen Bild hergestellt. Obwohl er sich in seinen Filmen mit der musikalischen Qualität der Bilder selbst befasst, die akustische Dimension prinzipiell als Verdoppelung der bereits „musikalisch“ organisierten Bilder versteht und weitgehend vernachlässigt, wird der Rhythmus auch bei ihm als der engste Berührungspunkt der beiden Künste zum Hauptelement filmischer Konstruktion erklärt. So eindeutig Grundmerkmale einer Korrelation von Film und Musik ausgehend von der Ästhetik des Films erschlossen werden können, so abwegig erscheint es zunächst, mit Begriffen aus dem Bereich des Films in der viel älteren Kunst der Musik zu operieren, um dadurch die Grundlage der Synthese beider Künste in der filmischen Organisation des visuellen Raumes erfassen zu wollen. Diese Auffassung ändert sich dann, wenn man sich die Bedeutung elementarer musikalischer Erfahrungen vor Augen führt, sich mit ästhetischen Grund­ phänomenen der Tonkunst auseinandersetzt. Einen Anhaltspunkt für eine

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Sergej Eisenstein: Selected Works. 2. Towards a Theory of Montage (Hg. Michael Glenny, Richard Taylor), London 1994, S. 327–399. Andrej Tarkowski: Die versiegelte Zeit: Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, Frankfurt/M. und Berlin 1996, S. 125 ff.

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Einleitung s­ olche Korrelation liefert die räumliche Vorstellung in der Musik.5 Die durch sie ermöglichte Bestimmung von musikalischen Strukturelementen nach Kriterien, die der Realität sowohl der musikalischen als auch der filmischen Gestaltung entsprechen, bildet eines der Mittel, die eine innere Verknüpfung der ­visuellen und auditiven Schicht begründen können. So hat der Filmtheoretiker Béla Balázs in einer kurzen Filmbeschreibung innerhalb seiner Schriften zur Ästhetik die Bedeutung der „Großaufnahme“ für den Film benannt6, ein filmtechnisches Mittel zur gezielten Hervorhebung von Details im Bild, das beispielhaft auf eine strukturelle Analogie zwischen filmischer und musikalischer Erfahrung verweist. Im Film „Heimkehr“ von Joe May werden die Flucht eines Soldaten aus der sibirischen Gefangenschaft und sein wochenlanger Weg in seine deutsche Heimat gezeigt. Der Regisseur muss die reale Zeit verkürzen, das setzt er künstlerisch dadurch um, dass er den Verfall der Schuhe des Soldaten in unterschiedlichen Phasen zeigt. Erst die Großaufnahme dieses Details macht – so Balázs – den zeitlichen Übergang glaubwürdig. Würde er in einer Totalaufnahme den ganzen Menschen und die Umgebung mit ins Bild nehmen, so könnte er die riesige Distanz nicht so überzeugend darstellen, er hätte Übergänge zwischen den Landschaften schaffen müssen, die wesentlich mehr Zeit in Anspruch nehmen und verhindern würden, in der extremen Kürze einiger Sekunden den erwünschten räumlichen und zeitlichen Eindruck zu vermitteln. Erweitert man nun den Gedanken Balázs’, indem man eine Analogie zwischen dem filmischen Bild und der Melodie herstellt, so erhält man ein zentrales Gestaltungsprinzip auch der musikalischen Sprache. Ähnlich wie durch die Fokussierung auf physiognomische Details im Film präsentiert sich das Motiv oder gar eine einzelne motivische Zelle in der Musik als Möglichkeit der Befreiung von der harmonischen und formalen Umgebung und als Verbindungsknoten zeitlich weit voneinander entfernter Kompositionsmomente. Die Abspaltung motivischer Elemente aus einem Thema oder Motiv ist bekanntlich eines der Grundprinzipien musikalischer Entwicklung, eine wichtige Voraussetzung für die Entfaltung musikalischer Form. Je kürzer die 5 6

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Über die allgemeine Bedeutung des Raumes in der Filmmusik siehe: Norbert Jürgen Schneider: Komponieren für Film und Fernsehen, a. a. O., S. 111–138. Béla Balázs: Schriften zum Film. Bd. 2: Der Geist des Films (Hg. Helmut H. Diederichs, Wolfgang Gersch), Budapest 1984, S. 95 f.

Einleitung Struktur des melodischen Gebildes, desto leichter kann es zwischen unterschiedlichen harmonischen Ebenen vermitteln. Man muss sich nicht auf das gängige viertönige Motiv aus Ludwig van Beethovens Fünfter Symphonie und seine Bedeutung für das gesamte Werk berufen, um den Beweis für diese Eigenart der musikalischen Komposition vorzubringen, die offenbar auch in der ­atonalen Musik ihre Gültigkeit bewahrt. Arnold Schönbergs Zurückführung thematischer Prozesse auf einzelne motivische Zellen, die sogar aus einem einzigen Intervall bestehen können, in einer Vielzahl seiner musikwissenschaft­ lichen Analysen7 sowie die extreme Kürze der meisten Werke Anton Weberns berufen sich auf diesen Sachverhalt in der Neuen Musik. Ein kurzes prägnantes Motiv beschleunigt den Prozess thematischer Entwicklung. Wie die Großaufnahme im Beispiel Balázs’ kann es einen logischen Zusammenhang auf engstem Raum und zwischen nicht unmittelbar korrelierenden strukturellen Momenten herstellen. Das einzelne Intervall kann dadurch, dass es als Bestandteil von in ihrer Ganzheit völlig disparaten Gebilden fungiert, rasch Vermittlungen schaffen, die, würde man den gesamtmelodischen oder gar harmonischen Kontext berücksichtigen, längerer Übergangsphasen bedurft hätten. Ähnlich wie im Film wird durch die Reduktion auf motivische Details zeitliche und räumliche Dichte geschaffen, ein Merkmal musikalischer Arbeit, das auf ein allgemeines Phänomen der Musik hinweist und eine Möglichkeit von organischer Partizipation der Musik am Filmganzen begründen kann. Daher überrascht es nicht, dass dieses Gestaltungsprinzip bereits Eingang in die Kompositionspraxis von Filmmusik gefunden hat. So beispielsweise im Werk des Komponisten Bernard Herrmann, der im Gegensatz zur üblichen Anwendung der Leitmotivtechnik Einheit im filmmusikalischen Entwicklungsverlauf durch kurze, leicht variable Motive realisiert8. Deshalb ist es auch keine Übertreibung, wenn man, angeregt durch diese konkrete Parallele, auch

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Vgl. Arnold Schönbergs Analyse des Streichquartetts op. 51,2 von Johannes Brahms in: Arnold Schönberg: Brahms der Fortschrittliche in: ders.: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik. Gesammelte Schriften Bd. 1 (Hg. Ivan Vojtech), Frankfurt/M. 1976, S. 62 ff. Vgl. die Analyse der Musik zu Alfred Hitchcocks „Psycho“ von Horst Liebenau in: ders.: Bernard Herrmanns Filmmusik für „PSYCHO“ in: Musikpädagogische Forschungsberichte (1993), S. 362 f.

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Einleitung im Bereich musikalischer Vorgänge von „Bildern“ spricht, wenn man damit über die zeitlichen Momente der Entwicklung und Wiederholung klanglicher Formationen hinaus Phänomene beschreiben will, die, obwohl sie in der Zeit ablaufen, dennoch ihr charakteristisches Merkmal in der Kürze und in der ­quasi räumlichen, verdichteten Prägnanz des Ausdrucks haben und dabei so variabel sind, dass sie montageartig beliebig kombinierbar und unterschied­ lichen Kontexten anpassbar sind. Lassen sich diese Gestalten im theoretischen Kontext des Begriffs der musikalischen „Geste“9 beschreiben, dann wird dadurch nicht nur die Existenz einer dem Visuellen wie auch dem Musikalischen immanenten ästhetischen Kategorie erkannt. Die komprimierten physiognomischen Musikgestalten fungieren ähnlich den viel näher an der Diegese des Films stehenden und dennoch „musikalisierbaren“ Geräuschen als Elemente, die trotz ihres intermedialen Charakters auf die ästhetische Eigenart des jeweiligen Mediums hinweisen. Lässt sich in der Idee des „gestischen Prinzips“ in der filmischen Ton- und Musikebene die Möglichkeit einer immanent motivierten intermedialen Synthese erkennen, so stellen sich angesichts der Struktur des Gestischen im Bild und im Ton, aber auch der Vielfalt möglicher filmmusikalischer Korrelations­ beziehungen und Funktionen, die die Musik im Film erfüllen kann, folgende entscheidende Fragen: Lässt sich die Existenz eines konsequent konzipierten filmmusikalischen Zusammenhangs allein aufgrund eines formellen Parallelismus zwischen Film und Musik, also allein anlässlich der Feststellung analoger Strukturprinzipien in beiden Künsten begründen? Garantiert die Verwendung vergleichbarer Elemente in der visuellen und musikalischen Raum- und Zeitgestaltung allein eine sinnvolle intermediale Verknüpfung, in der die Musik zu einer organisch integrierten und dennoch selbständigen, ihren immanenten Gesetzmäßigkeiten nicht widersprechenden Schicht des multimedialen Kunstwerks wird? Entspricht eine solche Verbindung den Grundlagen der Erfahrung eines solchen Werkes, oder ignoriert sie die Existenz ästhetischer Prinzipien, die das Zusammenwirken der beiden doch wesentlich verschiedenen Künste prägen? Soll im Rahmen dieser Studie hauptsächlich der narrative Film ins Auge gefasst werden, so stellt sich damit die Frage nach den Möglichkeiten des gegen-

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Vgl. Kap. I.3.1.1 dieser Arbeit.

Einleitung seitigen Ineinandertretens der Inhalte beider Medien. Unter welchen Umständen wird ein solcher Bezug des akustischen Mediums zum filmischen Bild ersichtlich, der nicht den Charakter eines vom Visuellen auferlegten annimmt, sondern sich zwingend an einem konsistenten audiovisuellen Gefüge als Ort der Doppelempfindung diegetischer und nichtdiegetischer Wahrnehmung orientiert? Wann gelingt es der Musik, dem Klang und dem Geräusch sich im Filmbild derartig zu situieren, dass dieses sich mit ihnen konstituiert, dass ein wahrer Austausch zwischen dem akustischen und dem ­visuellen „Bild“ stattfindet? Zur Beantwortung dieser Fragen kann zunächst davon ausgegangen werden, dass kein einheitliches Prinzip oder Kriterium genannt werden kann, das alle relevanten Formen einer gelungenen Zuordnung von Bild und Klang umfasst, ohne die Spezifik der einzelnen Beziehung zu reduzieren. Unternimmt man dennoch den Versuch, die innige Verbindung der beiden Medien zu ­erkunden, so lässt sich in einer ästhetisch-philosophischen Betrachtung eine wesentliche Eigentümlichkeit im Verhältnis bildnerischer und musikalischer Darstellung feststellen, die als Fundament der auditiv-visuellen Synthese betrachtet werden kann. Zofia Lissa hat in ihrem zentralen Buch über Filmmusik diese Eigenart als ein antithetisches Verhältnis zwischen Wahrnehmung und innerem Erleben ­beschrieben, eine Auffassung, die einen wesentlichen Aspekt der Bild-Tonbeziehung benennt, wenngleich diese als Ausgangspunkt unserer Untersuchung einer Ergänzung bedarf: Was wir sehen, bildet für uns immer ein außerhalb unserer selbst existierendes „Ding“, das unabhängig davon existiert, ob wir es sehen oder nicht. […] Beim Musikhören führt uns der Höreindruck nicht aus uns selbst hinaus, zur außerhalb unserer selbst liegenden Wirklichkeit hin, sondern konzentriert uns eher auf uns selbst, auf unsere eigenen Vorstellungen, unser Erlebnis.10

So scharf Lissa den Unterschied zwischen den beiden Wahrnehmungsarten betont, indem sie prinzipiell richtig die Objektivität des Visuellen von der subjektiven Qualität des Hörerlebnisses unterstreicht und diese fundamentale Differenz zum Prinzip ihrer Filmmusikästhetik erklärt, so deutlich verfehlt sie den

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Zofia Lissa: Ästhetik der Filmmusik, Berlin 1965, S. 67.

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Einleitung tatsächlichen Ort ihrer Beziehung, der gerade in einer Zwischenschicht, nämlich in einer durch die Gegenständlichkeit des Films implizierten Subjektivität liegt. Zwar fungiert die Musik  – darin dem Blick der Kamera ähnlich  – als subjektiver Blick auf die Gegenstände: Das Bild einer Alltagssituation, das durch die Verbindung mit Musik quasi von der emotionalen Perspektive des Zuschauers erlebt wird, ist ein deutliches Beispiel für die Dialektik zwischen Objektivität und Subjektivität, die durch die klangliche Komponente geprägt wird. Im Unterschied zur Auffassung Lissas ist diese Subjektivität allerdings nicht nur in der Vorstellung des Zuschauers anzusiedeln, sondern auch außerhalb davon, nämlich in der Darstellung selbst. Was man hört, ist ein Teil der künstlichen Realität, die der Film erzeugt und welche die Vorstellung des ­Zuschauers dadurch übersteigt, dass sie sie künstlerisch organisiert. Die alltägliche Szenerie erscheint durch die Musik – gerade wenn Letztere nicht illustrativ eingesetzt wird –, als würde sie selbst ein Eigenleben entwickeln, die Musik trägt zur Entfaltung eines „Ichs“ bei, das im Sinne der Filmtheorie Dziga Vertovs „in den Dingen selbst ist“ und vom Zuschauer als solches erlebt wird. Auch Vertovs Auffassung des „Kinoglaz“ („Filmauges“)11, einer Filmsprache, die sich nicht auf die zuschauerperspektivische subjektive Erscheinung der Gegenstände beschränkt, sondern durch die entsprechende Bewegung der Kamera innerhalb des filmischen Geschehens und durch die Montage mehrperspektivischer Aufnahmen von Details, Zeitlupen und zergliederten Bildern Einstellungen ermöglicht, die nicht den Eindrücken einer gewöhnlichen Wahrnehmung entsprechen, sondern auf ein Wahrnehmungssystem außerhalb des Zuschauerauges hinweisen, lässt sich auf die Filmmusik übertragen. Sie teilt ebenfalls das Wesensmerkmal der Freiheit vom Darstellungsgegenstand, das etwa die freie Kameraeinstellung im Film hat. Sie schafft durch eine Reihe von technischen Mitteln (harmonische und melodische Verdichtung, Tempovariationen, dynamische Schwankungen usw.), die Einfluss auf die Bilderwahrnehmung ausüben, eine beinah autonome Existenz von Vorgängen und Zuständlichkeiten. Die accelerierende, ursprünglich liedhafte Melodik von Edmund Meisel am Beginn von Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“, welche durch ein kontinu11

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Vgl. die Schriften Dziga Vertovs: Kinoglaz, in: Texte zur Theorie des Films (Hg. Franz-Josef Albersmeier) Stuttgart 1984, S. 39–41, auch: Kinoki – Umsturz (1923), in: ders.: Schriften zum Film (Hg. Wolfgang Beilenhoff), München 1973, S. 11–24.

Einleitung ierliches Crescendo in ein hektisches Stimmengeflecht verwandelt wird, korreliert – als Zeichen der steigenden Wut der hungernden Matrosen beim Anblick eines ihnen als Speise vorgesetzten verfaulten Fleisches  – mit dem durch die Narration evozierten Zuschauererlebnis. Indem sie eine Kontinuität im Wechsel der Stimmungen und gezeigten Personen herstellt, prägt sie eine eigene ­ästhetische Schicht. Im Kontrast zu dem eher ruhigen Rhythmus der Bilder wird durch die Temposteigerung – dieses Gestaltungsmittel behält sich Eisenstein für die Bilderebene späterer Filmabschnitte vor – ein autonomer „subjektiver“ bzw. kollektiver Blick auf die gezeigte Situation vermittelt. Entsprechend den Möglichkeiten der filmischen Arbeit wird die aktive Präsenz eines filmimmanenten „Betrachters“ manifest, der sich in wechselnder Orientierung, abhängig vom subjektiven Gestaltungswillen des Komponisten in Relation zu den Gegebenheiten setzt. Seine Anwesenheit ist es, die der Musik erlaubt, eine gemein­same Basis mit dem Visuellen zu bilden und an der visuellen Organisationsstruktur aktiv zu partizipieren. Die Musik schafft auf diese Weise eine Filmebene, die sich auf die abgebildeten Personen, Dinge und Handlungen dadurch bezieht, dass sie diesen ein künstlerisch organisiertes Eigenleben verleiht. In Analogie zu Verfahrensweisen der visuellen Darstellung schafft die Filmmusik einen auditiven Zugang zu einer Scheinwelt, die ihre eigene Realität selbst stiftet. Sie ist eines der Mittel, das trotz des prinzipiellen Unvermögens der Musik, die Realität wiederzugeben, zur bemerkenswert lebendigen Seinsweise des Films zwischen Fiktion und Wirklichkeit beiträgt. Erkennt man in der Dialektik von visueller Objektivität und subjektivem Klangerlebnis einen Kern­aspekt des Wirkungszusammenhangs von Film und Musik und will man die Rolle der Filmmusik in diesem Sinne weiter ergründen, so erweist sich eine Bemerkung Theodor W. Adornos als besonders hilfreich: Er sieht in der Musik den Impuls für die in den Bildern nur äußerlich ausgedrückte körperliche Bewegung, eine Bemerkung, die den Anstoß für eine Diskussion der Rolle der Musik im Film aus phänomenologischer Perspektive gibt. Dem körperlichen Bilde als Phänomen an sich fehlt es an Motivation der Bewegung; nur abgeleitet, vermittelt ist zu verstehen, dass die Bilder sich bewegen, dass der dinghafte Abdruck der Wirklichkeit mit einem Male eben jene Spontaneität zu bewähren scheint, die ihm durch seine Fixierung ent­ zogen ward: dass das als erstarrt Kenntliche gleichsam von sich aus Leben

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Einleitung bekundet. An dieser Stelle tritt Musik ein, die gewissermaßen Schwerkraft, Muskelenergie und Körpergefühl ersetzt. Sie ist also in der ästhetischen Wirkung ein Stimulans der Bewegung, nicht deren Verdopplung […].12

Folgt man der Phänomenologie13, so verweist die von Adorno konstatierte Dualität zwischen Bewegung und Bewegungsmotivation auf eine ihrer Kernaus­ sagen, auf die Trennung zwischen einer dem wahrgenommenen Objekt zuzuschreibenden äußerlichen und einer innerlichen, vom Ich motivierten und durchgeführten Bewegung. Jede Bewegung resultiert für das Bewusstsein als Korrelation der Bewegung des beobachteten Objekts und der Empfindung der Bewegung des eigenen Körpers („Kinästhese“). Was uns erscheint, ergibt sich aus der in der Regel nur empfundenen und nicht „gesehenen“ Stellung und Bewegung der eigenen Augen, des Kopfes und des gesamten Körpers bezogen auf einen ruhenden oder selbst bewegten Gegenstand. Diese notwendig den Wahrnehmungsprozess begleitende Eigenempfindung kann sich bewusst oder weniger bewusst vollziehen. Das Auge kann automatisch auf eine Objektbewegung reagieren, etwa um dieses Objekt im Blickfeld zu behalten, oder ich kann meinen ganzen Körper willentlich so bewegen, dass ich einen weit entfernten Gegenstand besser erfassen kann. Das Subjekt geht auf diese Weise ein funktionales Abhängigkeitsverhältnis zum Objekt ein, ein Verhältnis, das unter Berücksichtigung nicht nur der räumlich-kinästhetischen, sondern auch der zeitlichen und emotionalen Empfindungen der Korrelation von Film und Musik entspricht. Die Musik übernimmt die Funktion einer Rückführung der filmischen Welt auf die intentionalen Erlebnisse des Filmsubjekts bzw. des Zuschauers. Sie gibt das eigentlich nicht darstellbare Merkmal der räumlichen, zeitlichen und emotionalen Bewegungsempfindungen wieder, sie korreliert zum visuellen Ereignis dadurch, dass sie das Motivationsumfeld eines Bildes als notwendigen Teil seiner Erscheinung anschaulich bzw. hörbar macht. Die Musik regelt die „Umstände“, unter denen das Dargestellte erscheint. Sie reagiert auf visuelle Daten, beispielsweise indem sie dem vom Film vorgegebenen Montagerhythmus oder 12 13

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Theodor W. Adorno: Komposition für den Film, Frankfurt/M. 1976, S. 77. Ich beziehe mich hierbei auf Edmund Husserls Phänomenologie des Raumes. Vgl. Edmund Husserl: Ding und Raum, Hamburg 1991, S. 154 ff.

Einleitung seiner Stimmung folgt, oder sie motiviert selbst eine spezifische Sichtweise des Bildes, indem sie ihm ihren Charakter aufprägt. So lässt die Synchronisation einer eher ausdruckslosen Gesichtsaufnahme mit einem energischen musikalischen Puls den Eindruck einer inneren Spannung, die Erwartung etwa eines Bewegungsausbruchs der abgebildeten Person entstehen. Die Art, in der dieser Rhythmus komponiert ist, kann sogar Aufschluss über die Qualität dieser Spannung geben und andeuten, ob es sich hierbei um Angst oder Sehnsucht handelt, wobei Trugschlüsse als ein beliebtes Stilmittel zum Spannungsaufbau fungieren. Die oft zu beobachtende Technik, einzelne Szenen in einer sonst tonalen Partitur atonal zu vertonen, um den Horrorszenen häufig immanenten, durch unruhige Kamerabewegungen und abrupte Schnitte suggerierten Eindruck von Ungewissheit und Angst14 bei einer nicht eindeutig zu interpretierenden Handlungssituation zu vermitteln, deutet auf die in der eigenen Gesetz­ mäßigkeit der Musik verwurzelten Möglichkeit hin, den visuellen Blickwinkel auf diejenigen Gegebenheiten lenken zu können, die am stärksten die geforderte Stimmung auslösen. Durch eine immanent musikalische Eigenschaft in der Atonalität, das Fehlen der Tonikaperspektive und damit der Orientierungsmöglichkeit im harmonischen Raum, wird dem Bildcharakter der Unsicherheit am treffsichersten entsprochen. In all diesen Fällen bildet die Musik ein selbständiges ästhetisches Gefüge, das zur filmischen Ordnungsstruktur erscheint und Einfluss auf die Explikation der Bildinhalte ausübt. Obwohl sie die dargestellten Gegenstände und Handlungen in ihrer visuellen Daseinsweise unberührt lässt, prägt sie die Art, in welcher das Gezeigte dem Zuschauer in eigener Selbstheit aktuell wird. Durch die Musik erlangt das Bild einen Bewusstseinsbezug, der visuelle Raum wird durch sie als Spielraum von Handlungen erfahren, in dem jede Situation in unterschiedliche Richtungen gelenkt oder passiv erlitten wird. Unter diesen Voraussetzungen wird Musik als diejenige Schicht des Films aufgefasst, durch die das Bild zu einem Betätigungsfeld wird, zu einem Orientierungsraum, der von einem aktiven filmischen Ich aufgebaut wird. Durch eine spezifische Art von Kameraarbeit, die hauptsächlich darauf gerichtet ist, die 14

Vgl. etwa den Horrorklassiker „Der Exorzist“ (1973), in dem der Regisseur William Friedkin atonale Musik von Krzysztof Penderecki, Hans Werner Henze und Anton Webern eingesetzt hat.

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Einleitung wahrgenommenen Gegenstände als Korrelat subjektiver Bewegungsvollzüge zu präsentieren, aber auch durch die Musik, die auf der klanglichen Ebene eine ähnliche Funktion wie die Kamera ausübt, weshalb sie Ihre Grundlage immanent auch in der Struktur des visuellen Aspekts der filmischen Erfahrung hat, erhalten die Bildinhalte die Dimension einer subjektiven Erscheinungsweise, erlangen sie den Status von subjektiv motivierten Möglichkeiten. Eine Eigenschaft, die nicht nur auf der vorwiegend in der Spannung zwischen Motivation und Aktualisierung sich ausbildenden Handlungsebene die treibende Kraft des Kinos ist. Berücksichtigt man diese Eigenschaft der Musik im Film, so wird eine Zugangsweise zum Problem der Verbindung der beiden Künste eröffnet, die die Möglichkeit ihrer dialektischen Synthese auf die Existenz eines fundamentalen Korrelationsprinzips zurückführt. Die durch den Filmklang gegebene Option, zwischen der Ebene des ästhetischen Erlebens der intentionalen Bezüge zum Visuellen und der Ebene der – meist visuellen – Erfahrung der Darstellungs­ objekte selbst zu unterscheiden, fungiert als das Kriterium einer immanent motivierten Film-Musik-Synthese. Diese grenzt die Rolle der Musik nicht in einem „äußerlichen“, allein auf ihren situativen Bezug zu spezifischen visuellen Handlungs- oder Strukturmomenten sich beschränkenden „Funktionscharakter“ ein, sondern lässt eine die unterschiedliche ästhetische Qualität des jeweiligen Mediums respektierende notwendige Beziehung zwischen dem Ton und dem Bild gewahr werden. Findet eine solche Zuordnung des tonlichen Filmaspekts zu der Sphäre der ästhetischen Ausführung intentionaler Bewusstseinserlebnisse in der phänomenologisch geprägten Filmtheorie15 ihren Ausgangspunkt, so erweist sich die Befragung auch der kritischen Ansätze einer nicht auf dem traditionellen, leibzentrierten Erfahrungsbegriff basierten „postsubjektivistischen“16 Filmästhetik gegenüber dieser Theorie als notwendig. Der in der Philosophie Gilles Deleuzes vertretene Abschied von der Perspektive einer subjektzentrierten, auf den festen Strukturen der Alltagswahrnehmung des Zuschauers basierenden, aus dem 15 16

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Vgl. Vivian Sobchack: The Address of the Eye. A Phenomenology of Film Experience, Princeton 1992, S. 57 ff. Thomas Morsch: Filmische Erfahrung im Spannungsfeld zwischen Körper, Sinnlichkeit und Ästhetik, in: montage AV 19 /1 / 2010, S. 69.

Einleitung Körperbewusstsein resultierenden ästhetischen Filmerfahrung zugunsten eines offenen „Fremderlebens“, wo die Immanenz, das Werden und die Durchdringung von Subjekt und Objekt im Vordergrund stehen, bildet die Grundlage für eine erneute Überprüfung der These vom Motivationscharakter der Musik im Film. Die Frage, die sich dabei stellt, ist folgende: Ließe sich im Rahmen einer nicht-subjektzentrierten Filmauffassung ein audiovisuelles Verhältnis im Film erblicken, das sich über die angenommene Zuordnung des Tons zum Ort der subjektiven Innenerfahrung hinaus definiert? Ließen sich eventuell auch unabhängig von stilistischen oder historischen Bezügen Aussagen über die Tonebene des Films machen, die eine nicht mehr eindeutig von einer Eigenperspektive ausgehende Wahrnehmung ermöglichen? Das filmische Denken Deleuzes weist einen historischen Bezug aus 17, der entgegen den in der vorliegenden Studie angestrebten Zielen eine stilistische Einordnung filmästhetischer Phänomene, so auch einer entsubjektivierten Wahrnehmung, vorsieht. Bezieht man dennoch seine philosophische Schrift „Tausend Plateaus“, die sich keinem linearen Geschichtsbild verpflichtet, sondern von einer „kartographischen“ Polyphonie philosophischer Formulierungen ausgeht, mit in die Diskussion ein, so ergibt sich die Möglichkeit, Charakteristika einer depersonalisierten Filmästhetik im Ton auch des klassischen Kinos herauszuarbeiten und zu bewerten. Diese Unternehmung trägt wesentlich zur Verfolgung des übergreifenden Ziels dieser Studie bei, nämlich die ­Voraussetzungen der mannigfaltigen Verknüpfungsweisen von filmischem Ton

17

Eine historische Einordnung der ästhetischen Bedeutung des Filmtons erscheint für den Autor der vorliegenden Arbeit weniger fruchtbar als die systematische Feststellung von individuellen Eigenschaften des jeweiligen Filmes oder Regisseurs innerhalb der aus der Philosophie Deleuzes heraus zu kristallisierenden Methodik. Eine historische Perspektive auf Deleuzes Filmtheorie schlägt dagegen Silke Martin in ihrem Aufsatz vor: „Vom klassischen Film zur Zweiten Moderne – Überlegungen zur Differenz von Bild und Ton im Film, in: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung 2/2008 (Online-Zeitschrift). Martin will ergänzend zum Moderne-Begriff Deleuzes noch Elemente einer „Postmoderne“ („Star Wars“, 1977) und einer „Zweiten Moderne“ („Trois Couleurs: Bleu“ 1993) herausarbeiten können, wobei sie letzterer Filmperiode „das Bestreben“ attestiert, „den klassischen und modernen Film zusammenzuführen“, eine „Gleichzeitigkeit von Narration und Reflexion, von Interaktion und Autonomie von Akustischem und Visuellem“ herbeizuführen (ebd., S. 64).

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Einleitung und Bild aufgrund einer ästhetisch-philosophischen Betrachtung der in den Filmen aktualisierten Grundstrukturen filmspezifischer Wahrnehmung zu eruieren. Ergibt sich die Notwendigkeit eines philosophischen Zugangs zur Filmtonproblematik nicht zuletzt aufgrund der engen Affinität des Films zur Lebenswelt, die durch die ästhetischen Verfahren gerade auch der am weitesten von der „Realität“ entfernten tonlichen Gestaltung im Film in einer besonderen Einstellung erlebt wird, so ist man primär bestrebt, die Strukturen dieser spezifisch filmischen Einstellung zu erkunden. Ließe sich dabei eine im Rahmen dieser Arbeit zu hinterfragende Hypothese aufstellen, die des Sinns der Musik und des Tons im Film vorrangig darin gewahr wird, einen Zugang zur durch den immanent fragmentarischen Charakter des Filmmediums durchkreuzten Unmittelbarkeit der (ästhetischen) Lebenserfahrung zu ermöglichen, so werden dadurch die Bedingungen eines erweiterten Begriffs einer auch tonlich/musikalisch konstituierbaren filmischen Lebenswelt untersucht. Die vorliegende Studie knüpft an zwei älteren Abhandlungen an, die dezidiert die Ästhetik der Filmmusik behandeln. Theodor W. Adornos „Komposition für den Film“, eine Schrift, die neben der Kritik an der bestehenden Filmmusikpraxis auch eine Perspektive für eine ästhetisch stimmiges Verhältnis von Musik und Film in Aussicht stellt, und Zofia Lissas „Ästhetik der Filmmusik“, die ausgehend von einer Analyse der Funktionen der Musik im Film zu ästhetischen Aussagen über das Verhältnis der beiden Medien gelangt. Beide liefern sie einige der Grundbegriffe, die im Kontext der älteren (Eisenstein, Balázs u. a.) und neueren Filmtheorie (Gilles Deleuze) erörtert und anhand von konkreten Filmwerken veranschaulicht und weitergedacht werden. Stehen im Mittelpunkt der jüngeren Forschung hauptsächlich Themen wie die Beschreibung der Funktionen der Filmmusik18 und des Filmtons19 oder die Aufarbeitung historischer 18

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20

Dazu gehören u. a. folgende Untersuchungen: Zofia Lissa: Die Ästhetik der Filmmusik, Berlin 1961, Helga de la Motte-Haber, Hans Emons: Filmmusik. Eine systematische Beschreibung, München und Wien 1980; Josef Kloppenburg: Die dramatische Funktion der Musik in den Filmen Alfred Hitchcocks, München 1986, Norbert Jürgen Schneider: Handbuch der Filmmusik I. Musikdramaturgie im Neuen Deutschen Film; München 1990; Hansjörg Pauli: Filmmusik. Stummfilm, Stuttgart 1991; Claudia Bullerjahn: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik, Augsburg 2007. Vgl. Barbara Flückiger: Sound Design: Die virtuelle Klangwelt des Films, Schüren 2007.

Einleitung Schwerpunkte des Filmmusikdiskurses (Musik im Stummfilm usw.)20, so sind die Bücher von Adorno und Lissa – mit Ausnahme der Schriften von Michel Chion, die auf empirischem Wege einzelne Aspekte der „Ästhetik und Poetik“ des Filmtons thematisieren,21 und zwei weiteren, im Folgenden zu thematisierenden Arbeiten22 – die einzigen, deren Potenzial sich für die Fortführung einer philosophischen Auseinandersetzung mit dem Thema der Musik bzw. des Tons im Film als fruchtbar erweist.

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21 22

Eine Übersicht über den Stand der Filmmusikforschung liefert: Tarek Krohn und Claus Tieber: Perspektiven Filmmusikforschung. Zum Stand der Dinge, in: Medienwissenschaft 2/2011. Michel Chion: Film. A Sound Art, New York 2009, S. 189–464. Lorenz Engell: Bild und Ort des Klangs. Musik als Reflexion auf die Medialität des Films, in: Victoria Piel et al. (Hg.): Filmmusik. Beiträge zu ihrer Theorie und Vermittlung, Hildesheim 2008, S.  11–24. Silke Martin: Die Sichtbarkeit des Tons im Film – Akustische Modernisierungen des Films seit den 1920er Jahren, Schüren 2010, S. 30–152.

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I. Musikalisches im Film

1. Musik und Filmbild Die Zeitdimension des Films führte von Anfang der Filmgeschichte an zu e­ iner Korrespondenz ­dieser Kunst mit der Musik. Hauptsächlich in der Montage bzw. im durch diese Technik erzeugten Erlebnis eines „visuellen Rhythmus“ wurde das Musikalische als eine zentrale Dimension des filmischen Schaffens erkannt. Durch die Montage gelingt es dem Regisseur, eine selbstständige, von den dargestellten Gegenständen und Personen unabhängige visuelle Schicht zu etablieren, die sich nicht den Gesetzmäßigkeiten der inhaltlichen Logik fügen muss, sondern eigene, „musikalische“ Zusammenhänge verursacht. Das Tempo der Montage ist aber nicht immer nur Atem und Akzentuierung, sie ist nicht bloß eine Art Ausdrucksbewegung des dramatischen Inhalts. Montagerhythmus kann einen ganz eigenen, unabhängigen, gleichsam musikalischen Wert bekommen, der zum Inhalt nur noch eine entfernte und irrationale Beziehung hat. Die Bilder einer Landschaft, Bilder von Gebäuden oder Gegenständen, die gar keinen dramatischen Inhalt haben, können durch die Montage einen optischen Rhythmus ergeben, der nicht weniger ausdrucksvoll ist als eben Musik.23

Wie für Balázs, so bildet die Existenz musikalischer Kategorien, die über das Klangliche hinaus auf visuelle Phänomene übertragbar zu sein scheint, auch für Sergej Eisenstein die Quelle einer über das Narrative hinweg sich gründenden Filmkonzeption.

23

Béla Balázs: Der Geist des Films, a. a. O., S. 90.

23

I. Musikalisches im Film Und auf diesen Kreuzwegen habe ich den Eindruck gewonnen, dass mir die Grundlagen von musikalischem Rhythmus, die ich an der Architektur studiert habe, der Wechsel der Tonalitäten, die ich an den verschiedenartigen Spitzbögen der Kathedrale von Chartres erkannt habe, der Plein-chant, den ich über die gebündelten Sonnenstrahlen begriffen habe, die durch Glas­ malereien aus dem 13. Jahrhundert fallen, der Kontrapunkt, der mir durch die Raum-Zeit-Bewegung bei den Ponton-Arbeiten lieb geworden ist, und die Fuge, die sich mir an den Paradoxa der Joyce-Prosa erschlossen hat, mehr gegeben haben, mich vielfältiger für meine Arbeit bereichert haben als allein die Bekanntschaft mit den klassischen Werken von Bach oder Tanejew.24

Aus den Aussagen von Eisenstein und Balázs lässt sich deutlich erkennen, dass der Filmkunst ein Musikbegriff immanent ist, der sich nicht etwa auf den das Filmgeschehen begleitenden Klang oder die Musik beschränkt, sondern gerade das Bild und seine autonome Existenz betrifft.25 Etwas verallgemeinernd wäre zu sagen, dass alle Elemente des Films, die einer von der künstlerisch repräsentierten Welt autonomisierten und zu ihr in ein künstlerisch vermitteltes Verhältnis eingehenden Schicht angehören, als „musikalisch“ bezeichnet werden können. Besonders interessant ist es, dass Balázs bereits innerhalb der filmischen Inszenierung zwischen konkreten, der natürlichen Einstellung zugehörigen und abstrakten, allgemeinen, nicht mit empirischen Gegenständen verbundenen Elementen differenziert. Diese zweite Art filmischer Elemente beansprucht den Charakter des Musikalischen. Formen, Bilder, Bewegung und Mienenspiel können Ideen ausdrücken, die unabhängig von Begriffen und Worten existieren. Die filmische Lebenswelt kann die durch den Überfluss rationaler Begriffe herbeigeführte Distanzierung von der unmittelbaren Erscheinung überwin24 25

24

Sergej M. Eisenstein: Yo. Ich selbst. Memoiren (Bd. 2), Frankfurt/M. 1988, S. 839 f. Eine vergleichbare Auffassung vertritt auch Rudolf Harms in seiner „Ästhetik des Films“: „Hat aber auch nicht jeder Film seine eigene Musik, so hat er doch seine eigene Musikalität. Seine innere Musikalität und die Art ihrer Durchführung, das heißt der Art der Vermittlung vom Stoff zur Form ist das, was man seinen Stil nennen kann. Diese innere Musikalität des am Auge des Beschauers vorübereilenden Films bildet gewissermaßen den Resonanzboden, dessen Eigenschwingungen die Schwingungen der Musik erst die Resonanz, den Widerklang geben, dessen Form sie mit Inhalt füllen.“ Rudolf Harms: Ästhetik des Films (Hg. Birgit Recki), Meiner 2011, S. 82.

1. Musik und Filmbild den26, dadurch der begrifflichen Kultur eine neue, im Inneren des Menschen beheimatete visuelle Kultur entgegensetzen. Denn ein Mensch der visuellen Kultur wird durch seine Gesten nicht ­Worte ersetzen. […] Was hier ausgedrückt werden soll, liegt tief in einer Schicht der Seele, die von Worten und Begriffen nicht erreicht werden kann, ähnlich wie ja unsere musikalischen Erlebnisse nicht in rationale Begriffe eingefangen werden können. Auf dem Antlitz des Menschen und in seinem ­Mienenspiel erscheint ein Geist, der ohne Worte unmittelbar Gestalt annimmt und sichtbar wird, so wie der „Geist der Musik“ unmittelbar akustische Gestalt annimmt.27

Vielfältig sind die künstlerisch-ästhetischen Möglichkeiten, die diese neue Kultur eröffnen kann. Die Überwindung der noch im Theater unüberbrückbaren Distanz zwischen Zuschauer und filmischer Welt, aber auch die unvollkommene, ausschnitthafte Wahrnehmung bilden dafür die Grundlage. Balázs betont, dass sich in der neuen, durch die Montage erzeugten Schicht des Films der subjektive Blick emanzipiert. Was durch die Montage entsteht ist „nicht Ausdruck des Gegenstandes, sondern lyrischer Ausdruck der Stimmung des Betrachters oder eines Regietemperaments“28. Die „bewegliche Kamera nimmt mein Auge, und damit mein Bewusstsein mit: mitten in das Bild, mitten in den Spielraum

26

27 28

Diese Haltung entspricht der von Husserl in seiner „Krisis der europäischen Wissenschaften“ monierten Form des wissenschaftlichen Denkens seiner Zeit. „Wenn der wissenschaftliche Objektivismus die Lebenswelt als scheinhaft hinstellt und ihre Transzendierung auf die einzig wahre wissenschaftliche Gegenstandswelt hin fordert; wenn diese aber zugleich immer abstrakter und unanschaulicher wird und die Möglichkeit, sie noch in einer Beziehung zur anschaulich gegebenen Welt zu sehen, zunehmend schwindet, so tritt zuletzt die Welt als solche dem Menschen in entfrem­ deter, sinnentleerter Gestalt gegenüber.“ (Rainer Thurnher: Husserls Idee einer „wirklichen, echten Wissenschaftstheorie“ in: Helmuth Vetter (Hg.): Krise der Wissenschaften – Wissenschaft der Krisis? Wiener Tagungen zur Phänomenologie im Gedenken an Husserls Krisis-Abhandlung (1935/36–1995), Reihe der Österreichischen Gesellschaft für Phänomenologie – Bd. 1, Wien 2005, S. 22. Béla Balázs: Der sichtbare Mensch, in: ders.: Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst, Wien 1976, S. 29. Béla Balázs: Der Geist des Films, a. a. O., S. 91.

25

I. Musikalisches im Film der Handlung hinein.“29 Die Montage gliedert sich in die Reihe der „subjektivierenden“ Elemente der filmischen Erzählung ein, wozu noch die Großaufnahme und die Kameraeinstellung gehören. Auch diese beiden Momente haben für Balázs eine musikalische Komponente. Dann, wenn die Einstellung ein mit einem bestimmten Inhalt verbundenes Objekt zum Ausdruck bringt, kann sie wie die Musik verfahren, um es ähnlich wie ein „‚Thema con variazione‘ […] weiterzudeuten“30. Die in einer Großaufnahme präsentierte Physiognomie wäre wie eine Melodie aufzufassen. „Wie die Melodie zur Zeit, so verhält sich die Physiognomie zum Raum.“31 Diese der Definition des Themas von Riemann als „ein Gebilde von Charakter und bestimmter Physiognomie“32 verwandte Deutung geht von einer „geistigen“ Dimension der Melodie aus. Die Melodie ist, weil sie als Einheit und als eine durch die überzeitliche Beziehung ihrer Töne untereinander hervorgebrachte Gestalt erfasst wird, ebenso wenig zeitlich wie die nur sekundär durch ihre Ausdehnung und Richtung erkannte Physiognomie räumlich ist. Melodie und Physiognomie transzendieren wie die „Vorstellungen und Assoziationen“33 die Kategorien Raum und Zeit. Die „musikalische“ Eigenschaft des Filmischen besteht wohl darin, dass die Vorstellungskraft dazu animiert wird, in Freiheit das Partielle zu ergänzen. Montage- und Einstellungstechniken sind in der Lage, den Fortlauf der dramatischen Aktion zu suggerieren, wenn diese gerade nicht sichtbar ist. S­ owohl der räumliche Aspekt, nämlich die Einstellung, als auch die zeitliche Ebene des Films, der Rhythmus der Montage, haben ihre Grundlage darin, über das aktuell Gegebene hinauszuführen, in einem im Subjekt lokalisierten stimmigen Wahrnehmungsverlauf nicht das Aktuelle wiederzugeben, sondern gerade den Horizont, nämlich die Möglichkeiten der Erscheinung des filmischen Objekts zu implizieren.34 29 30 31 32 33 34

26

Béla Balázs: Zur Kunstphilosophie des Films, in: Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 1984, S. 215. Béla Balázs: Der Geist des Films, a. a. O., S. 80. Ebd., S. 58. Vgl. das Lemma „Thema“ in: Terminologie der musikalischen Komposition (Hg. Hans Heinrich Eggebrecht), Stuttgart 1996, S. 23. Béla Balázs: Der Geist des Films, a. a. O., S. 59. Diese Eigenart des Musikalischen im Film entspricht einer wesentlichen Struktur der phänomenologischen Methode der Wesenserkenntnis. Vgl. Kap. I.1.2 (Anm. 43) ­dieser Arbeit.

1. Musik und Filmbild

1.1 Zeit-Rhythmus-Montage Die Identifizierung von Rhythmus und Wahrnehmung als Begriffe des Films liefert einen wichtigen Anhaltspunkt, um weitere Schichten des Musikbegriffs im Film zu durchleuchten. So lässt sich die hier festgestellte Bedeutung des „Musikalischen“ im Film in Verbindung mit dem von der Phänomenologie Merleau-Pontys vertretenen philosophischen Grundsatzdiskurs über das Verhältnis von Wahrnehmung und Gegenstand bringen. Plausibel gemacht wird diese Einheit durch die Verwendung des Begriffs „Rhythmus“, der vom Philosophen am Beispiel Film umschrieben wird. In Zukunft wird der Zuschauer, wie bereits heute, bei einem gelungenen Werk, ohne hierüber eine klare Vorstellung entwickeln zu müssen, eine Einheit und eine Notwendigkeit der zeitlichen Entfaltung erleben. In Zukunft wird das Werk, wie bereits heute, in seinem Geist nicht etwa eine Ansammlung von Rezepten hinterlassen, sondern ein erstrahlendes Bild, einen Rhythmus. In Zukunft wird die kinematographische Erfahrung, wie bereits heute, Wahrnehmung sein.35

Als „überdeutliches“ Beispiel für die Bedeutung des Rhythmus und für den darin aufgehobenen Gegensatz zwischen Gegenstand und Wahrnehmung fungiert für Merleau-Ponty die Musik. Beziehe sich die moderne Malerei (so etwa bei Cézanne) nicht auf die Abbildung von reinen Gegenständen, sondern auf den zeitlichen Entstehungsprozess der gegenständlichen Welt durch das Nachzeichnen der möglichen Wahrnehmungsvorgänge36, so bringe sich in der Musik die Wahrnehmung als solche zum Vorschein. Die Musik bildet eine reine, über die Erfahrung selbst nicht hinausgehende Herangehensweise an die „Wesensstruktur“ der auszudrückenden Sache, „so wie die Wahrnehmung die Dinge betrachtet, ohne unser Nachsinnen beizumischen“37. Auch beim Versuch, die Kunst des Films vom Theater zu befreien, die Autonomie des Films als Kunst durch die Betonung des Bildes sowie des Aktes der Verfilmung selbst (und nicht des Gegenstands der Darstellung) zu erlangen, 35 36 37

Maurice Merleau-Ponty: Causerien 1948 (Hg. Ignaz Knips), Köln 2006, S. 51. Ebd., S. 20 ff. Ebd., S. 52.

27

I. Musikalisches im Film bildet der musikalische Begriff des Rhythmus einen wichtigen Anhaltspunkt. Für Pudowkin bildet der Rhythmus eine Kategorie, unter welche die unterschiedlichen filmischen Elemente subsumiert werden. Der Rhythmus entspricht gewissermaßen dem Gesetz der Verknüpfung der unterschiedlichen filmischen Komponenten, ermöglicht die Herstellung einer stimmigen Einheit der mannigfaltigen intermedialen Gegebenheiten. Der Rhythmus bildet das Korrelationsgesetz, das Vermögen „a priori“, das nicht an sich, nicht in den (gefilmten) Phänomenen existiert, sondern allein in Relation zu dem Subjekt (des Regisseurs) steht. Bild, Klang und Sprache werden erst durch den Rhythmus zu filmischen „Objekten“, erst durch ihn lassen sie sich einer Gesetzmäßigkeit unterordnen. Rhythmus wird zur Bedingung der Möglichkeit „filmischer“ Erfahrung. Durch den Rhythmus denkt der Künstler etwas in die Realität hinein. Durch ihn verbinden wir in einer Stufe, die der gedanklichen Leistung analog steht, Erscheinungen unterschiedlicher Sinne miteinander, die wir erst dann als Gegenstände identifizieren können. Für Pudowkin kreiert sich die Welt in zwei „Rhythmen“, wobei beide sowohl visuell als auch akustisch zur Anschauung kommen können. Der „objektive“, in zeitlichen Abständen messbare Rhythmus eines Tagesablaufs und der erlebte, mit Emotionen und Intensitätsschwankungen in der Wahrnehmung behaftete „subjektive“ Rhythmus bilden zwei Formen des zeitlichen Daseins, die im Leben ­eines Menschen parallel existieren, sich ergänzen, und abwechselnd an Bedeutung gewinnen können. Always there exist two rhythms, the rhythmic course of the objective world and the tempo and rhythm with which man observes this world. The world is a whole rhythm, while man receives only partial impressions of this world through his eyes and ears and to a lesser extent through his very skin. The tempo of his impressions varies with the rousing and calming of his emotions, while the rhythm of the objective world he perceives continues in unchanged tempo.38

Die Möglichkeit, dass beide Rhythmen, sowohl in der visuellen als auch in der akustischen Ebene sich manifestieren können, erlaubt dem Filmkünstler, beide 38

28

V.  I. Pudovkin: Film Technique and Film Acting. The Cinema Writings of V.  I. ­Pudovkin, London 1958, S. 186.

1. Musik und Filmbild Schichten miteinander zu konfrontieren, objektive und psychologisierende Erfahrung miteinander in Beziehung zu setzen, und durch einen „Kontrapunkt“ von visueller und akustischer Formulierung Situationen erlebbar zu machen, die über die natürliche, gewöhnliche Wahrnehmung hinausreichen, dabei zeitliche Verdichtungen inhaltlicher Abläufe und tiefere, allein durch die visuelle Vermittlung nicht erzielbare Sinnzusammenhänge produziert. Wie Pudowkin über seinen Film „Deserter“ erklärt, kann eine in ihrem Charakter beständig bleibende Musik, die zu einem stark sich verändernden visuellen Handlungsgeschehen klingt, den nicht unmittelbar in den Bildern sichtbaren, aber doch latent vorhandenen unabänderlichen, zuversichtlichen Willen nach Widerstand ausdrücken. The image succession gives us in its progress first the emotion of hope, its replacement by danger, then the rousing of the workers’ spirit of resistance, at first successful, at least defeated, then finally the gathering and reassembly of their inherent power and the hoisting of their flag. The images’ progress curves like a sick man’s temperature char; while the music in direct contrast is firm and steady. […] What role does the music play here? Just as the image is an objective perception of events, so the music expresses the subjective appreciation of this objectivity. The sound reminds the audience that with every defeat the fighting spirit only receives new impetus to the struggle for final victory in the future.39

Die These von einer gemeinsamen Gesetzmäßigkeit klanglicher und visueller Rhythmen darf im S­ inne Pudowkins nicht zu dem Glauben verleiten, dass die visuelle und die akustische Filmebene demselben jeweils konkret gewählten Rhythmus unterzuordnen sei. Der Begriff des Rhythmus als Kategorie des ­filmischen „Verstandes“ muss dringend von der rhythmischen Struktur des ­jeweils aktuell anschaulich Gegebenen unterschieden werden. Es ist gerade die Existenz der übergeordneten Kategorie des Rhythmus, die es möglich macht, der Vielfalt, aber auch den konkreten Anforderungen des einzelnen Mediums dadurch gerecht zu werden, dass jede filmische Schicht ihren eigenen Rhythmus entwickelt und sich in ihrer eigenen organischen Präsenz manifestiert. Auf 39

Zit. nach: Marian Hannah Winter: The Function of Film Music, in: The Musical Quarterly 27,2 (1941), S. 157.

29

I. Musikalisches im Film diese Weise, nämlich durch eine polyrhythmische Interaktion, kann nicht nur das pleonastische Nebeneinander vermieden, sondern können auch neue Inhalte generiert werden. I believe that sound film will approach nearer to true musical rhythm than silent film ever did, and this rhythm must derive not merely from the movement of artist and objects on the screen, but also […] from exact cutting of the sound and arrangement of the sound pieces into a clear counterpoint with the image.40

Die Bedeutung nicht nur des visuellen, sondern auch des klanglichen Rhythmus für die Entstehung des „wahren musikalischen Rhythmus“ im Film deutet auf die Möglichkeiten eines polyrhythmischen gesamtfilmischen Verlaufs, die bereits zu Zeiten des Stummfilms erkannt worden sind. Studies of film rhythm and audio-reception were carried forward until, in 1928, with sound film a reality, Guido Bagier exclaimed (in Der Kommende Film): Film is Rhythm – outwardly perceived harmonic movement! Music is Rhythm  – inwardly perceived articulated movement! And a veritable avalanche of manifestos ensued! The co-functioning of both musical and film rhythms […] was ­essential.41

1.2 Organisation des Raumes. Musik der Verwandlung Nicht nur in Bezug auf die filmische Zeitauffassung, sondern auch hinsichtlich der Raumfrage zeigt die Auseinandersetzung mit der Musik eine fruchtbare Perspektive für das neue Medium auf. Im allgemeinen Kontext der allmählichen Dynamisierung des physikalischen und philosophischen Raumbegriffs durch die Relativitätstheorie Albert Einsteins und durch die Phänomenologie Edmund Husserls seit dem Anfang des 20.  Jahrhunderts rückt die visuelle Kunst in die Nähe der Musik. Die Musik, nach herkömmlicher Vorstellung eine Zeitkunst par excellence, fungiert als eine Form der zeitlichen Organisation von Raumstrukturen. Ihre Fähigkeit, eine Raumlogik zu etablieren, die 40 41

30

V. I. Pudovkin: Film Technique and Film Acting, a. a. O., S. 199. Marian Hannah Winter: The Function of Music in Sound Film, a. a. O., S. 153.

1. Musik und Filmbild Raum nicht als eine absolute, dreidimensionale Größe betrachtet, sondern Raum lediglich als Beziehungsgefüge auffasst, das seine Kriterien erst in einem wandelbaren Relationssystem erlangt, seine fundamentale Struktur also erst in der dynamischen Veränderung von melodischen und harmonischen Gestalten erwirkt, wird als grundlegendes Prinzip der neuen Raumvorstellung aufgefasst. Die Veranlagung der Musik, ein gleichermaßen abstraktes, imaginäres und relationales, allein durch Wahrnehmung sich ausbildendes organisiertes Raumgefüge zu begründen, wird in einer Zeit, in der die neue Wissenschaft der Wahrnehmungspsychologie das Durchbrechen der konventionellen hierarchischen Raumauffassungsstruktur in Gang setzte, als Vorbild für die ästhetische Evidenz der neuen Raumauffassung gesehen. Die Musik als eine Kunst, die in einem unaufhörlichen Transformationsprozess der intervallischen Ortsverhältnisse und im stetigen Wandel der „perspektivischen“ Ausrichtungen eine räumliche Logik auszubilden und räumlichen Sinnzusammenhang zu generieren imstande ist, wird zu einem wesentlichen Teil für die Begründung der neuen relationalen Raumästhetik verantwortlich gemacht. Kann die Musik als ein nicht-darstellendes Element im Filmbild gelten, so legt ein Gedanke Roman Ingardens zum Kubismus eine interessante Perspektive in dieser neuen Raumästhetik offen. In einem Bilde des von Picasso eingeführten Typus treten gewöhnlich viele verschiedene Fragmente, Stücke desselben Dinges, die von verschiedenen Gesichtspunkten aus gesehen werden, auf und regen den Betrachter zur vorstellungsmäßigen Zusammenlegung dieser Stücke in das Ganze einer Sache an, und zwar so, dass er diese Sache sozusagen auf einmal von verschiedenen Seiten aus und eventuell auch in verschiedenen Phasen ihrer Existenz zur anschaulichen Vorstellung bringt, obwohl er zugleich genötigt ist, auf das Bild hinzuschauen und zu sehen, was an ihm gezeigt wird. Uneinheitlich ist hier sowohl die Einstellung des Betrachters als auch der erfasste Gegenstand: das Bild.42

Wie das Fragmentarische, das Ingarden an den Bildern Picassos feststellt, den Betrachter zur Synthesis – nicht etwa zu wirklicher perzeptiver Erschauung – 42

Roman Ingarden: Untersuchungen zur Ontologie der Kunst (Das Bild), a. a. O., S. 228.

31

I. Musikalisches im Film der Ansichten, folglich zum produktiven Prozess des Vorstellens des ganzen „Dinges“ anregt, so ist das Abstrakte allgemein in der Lage, über das Gesehene hinauszuführen, in größerer Freiheit als die gegenständlichen Bilder in die Welt „bloß vorgestellter Gegenständlichkeiten“ einzudringen.43 Dass dieses Fragmentarische bei Ingarden gerade in der Musik eine zentrale Bedeutung hat, zeigt sich in seiner Bestimmung des „musikalischen Raumes“. Als eine „nichtakustische“ Kategorie umfasst der musikalische Raum zwei Bedeutungen, den 43

32

Das Fragmentarische als philosophisches Prinzip hat seinen Ursprung bei Husserl. Als Triebfeder der intentionalen Akte im Bereich der räumlichen Wahrnehmung wird die Grundbetrachtung aufgefasst, dass die Wahrnehmung eines räumlichen Dinges perspektivisch einseitig ist. Im Wahrnehmungsprozess wird nur ein „­ Aspekt“ (Edmund Husserl: Ding und Raum, a. a. O., S. 127 und 185) des räumlichen Gegenstands und niemals das Ganze erfasst, so wie etwa bei der Betrachtung eines Hauses jeweils nur eine Seite, beispielsweise die Vorderseite anschaulich wird. Diese räum­ liche Perspektivität bleibt dabei nicht auf sich selbst bezogen, sondern motiviert eine Reihe intentionaler Akte und bildet so den Rahmen für mögliche weiterführende intentionale Implikationen. So setzt die Wahrnehmung der Vorderseite des Hauses voraus, dass auch andere zusammengehörige Ansichten erfahren werden können. Diese nicht aktuell wahrgenommenen Aspekte, die „uneigentlichen Erscheinungen“ (ebd., S. 54) begleiten in Gestalt von künftig wahrnehmbaren Aspekten die aktuell wahrgenommenen Bilder. Sie werden durch die Struktur der aktuellen Erfahrung bestimmt. Erwartet wird eine Kontinuität in der Veränderung der Aspekte, der „Erscheinungsabwandlungen“ (ebd., S. 225 ff.) oder, anders formuliert, man verlangt nach einem weiteren Aspekt des Dinges, der zu seiner Konstitution beitragen kann. Der Komplex der potentiell zur Erscheinung kommenden Aspekte bildet den „Erlebnishorizont“ ­(Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie in: Husserliana Bd. 3,1, Hg. K. Schumann 1976, S. 184 ff.). Der Erkenntnisprozess beschränkt sich natürlich nicht auf die Antizipation möglicher Ansichten des Gegenstands, sondern vollzieht sich in der Realisation von neuen Erscheinungsabwandlungen, die den vorgedeuteten Bildern entsprechen können oder nicht. Mit der Aktualisierung einer mehr oder weniger konkret erwarteten Perspektive ist die Möglichkeit einer Bestätigung oder Enttäuschung verbunden. Der Fortlauf der Intentionen kann die von der ursprünglichen räumlich-dinglichen Erscheinung des Gegenstandes motivierten Merkmale anschaulich werden lassen, sie aber auch negieren. Im ersten Fall vollzieht sich eine im sinnlichen Bewusstsein sich abspielende „Identitätsverschmelzung“, die ein einheitliches Ding bewusst werden lässt (Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Zweiter Teil, in: Husserliana, Bd. 19,2, Hg. Ursula Panzer, Den Haag 1984, S. 628).

1. Musik und Filmbild „vorgestellten Raum der dargestellten, außermusikalischen Gegenständlichkeiten“ und den „echten“ musikalischen Raum der melodischen Bewegung.44 Während der erste charakteristisch nur für bestimmte, reale Raumvorstellungen intendierende Werke, wie etwa die der Programm-Musik, ist, fungiert der zweite als eine allgemeine Kategorie der abstrakten musikalischen Vorstellung. Erst in diesem zweiten, abstrakten Raum kommt es zur Entfaltung der Vorstellungskräfte, die auf die volle Entwicklung der Bewegungserscheinung abzielen. „Dieselbe“ Melodie kann sogar in einem Werke mehrmals ihren Anfang nehmen und nicht zur vollen Entwicklung und zum Abschluss kommen, und es ist ein besonders beunruhigendes, den Zuhörer außerordentlich „bewegendes“ Phänomen, wenn dies auftritt; und es wirkt wie eine Befreiung, wenn es endlich zur vollen Entfaltung der betreffenden Melodie kommt: die erstrebte Vollendung wird endlich, wie ein Glück erreicht.45.

44 45

Roman Ingarden: Untersuchungen zur Ontologie der Kunst (Das Musikwerk), a. a. O., S. 68. Ebd., S. 70. Dass gerade in der athematischen atonalen Musik das Prinzip der Ergänzung eines der Grundprinzipien für die Herstellung von Sinnzusammenhang ist, hat Adorno erkannt. („Das experimentierende Ohr kann sich nun im Raum der zwölf Töne des Chromas der Erfahrung nicht entziehen, daß jeder einzelne dieser komplexen Klänge grundsätzlich zur sei’s gleichzeitigen, sei’s sukzessiven Ergänzung diejenigen Töne der chromatischen Skala verlangt, die in ihm selber nicht vorkommen. Spannung und Lösung in der Zwölftonmusik sind allemal mit Rücksicht auf den virtuellen Zwölfklang zu verstehen. […] Zugleich vermag es die komplementäre Harmonik, im jähen Umschlag diese Akkorde so aufleuchten zu lassen, daß all ihre latente Kraft offenbar wird. Durch den Wechsel von einer durch den Akkord definierten Ebene auf die nächste, komplementäre werden harmonische Tiefenwirkungen, eine Art von Perspektive hergestellt.“ Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt/M. 1989 [5], S.  80  f.) Das Verfahren der komplementären Harmonik, von Adorno besonders in den Werken der frühen Zwölftonmusik konstatiert (er erwähnt Stellen aus op. 26 und op. 27 Schönbergs, vgl. Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, a. a. O., S.  81, Fußnote), vermag die Erfahrung einer immanenten Sukzessionslogik im Einvernehmen mit den Anforderungen des neuen Materials erlebbar zu machen. Während selbst die tonale Logik (die Problematik einer melodisch sinnvollen bzw. erwarteten Fortschreitung bildet einen Gegenstand der musikalischen Logik, wie sie von Adolf Nowak u. a. bei Moritz Hauptmann herausgearbeitet wurde, vgl. Adolf Nowak: Musikalische Logik. Prinzipien und Modelle musikalischen Denkens in ihren geschichtlichen Kontexten, Hildes-

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I. Musikalisches im Film Nicht innerhalb der ersten Raumkategorie, sondern in ihrer abstrakten Auffassung kommt es auch zu einer inneren Verbindung des Musikalischen mit dem Visuellen des Films. Das visuell Abstrakte kann sich völlig autonom aber auch im „Innern der Darstellungswelt“ bekunden, dabei als „Musikalisches“ im Film auftreten bzw. eine musikalische Kategorie begründen, die nicht nur in der Musik, sondern über sie hinaus in allen Ausprägungen des Phänomens der Bewegung Geltung hat. Ingardens Erweiterung des Musikbegriffs in Bereichen, wo der „Stoff, der zur Organisation der Zeit führt, durch Bestimmtheiten konstituiert ist, die von jeglichem akustischen Phänomen grundsätzlich verschieden sind“46, so im Film, eröffnet eine Perspektive für eine sinnvolle Verbindung der beiden Künste. Wenn wir beachten, dass in verschiedenen Phasen des Filmschauspiels sich mannigfaltige Gestaltungen der Organisation des Raumes ausbilden und dass es zu einer Umbildung der einen Gestaltungen in andere kommt, dass wir Zeuge davon sind, wie sich verschiedene Räume im Laufe der Zeit öffnen und schließen, z. B. Straßen, Plätze, Täler usw., wie sie sich entfalten, entfernen oder nähern, ausbreiten oder sich zusammenziehen, verstehen wir, dass es auf diesem Gebiet einen besonderen Rhythmus und eigentümliche Effekte der Dynamik der Verwandlung gibt, die sich alle mit der Organisation der Zeit innig verbinden und im Innern der dargestellten Welt eine eigentümliche Mu s i k d e r B e w e g u n g u n d d e r Ve r w a n d l u n g konstituieren, im Vergleich zu welcher die gewöhnlich rein klangliche Musik nur einen besonderen Spezialfall bildet.47



46 47

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heim 2015, S. 183 ff.) sich nicht nur auf die Tonalitätsgesetze verlassen kann, sondern unabhängig davon primär auch eine „sinnvolle motivische und thematische Gedankendarstellung“ (Arnold Schönberg: Brahms der Fortschrittliche, in: ders.: Stil und Gedanke, a. a. O., S. 63. Vgl. dazu auch Adolf Nowak: Musikalische Logik. Prinzipien und Modelle musikalischen Denkens in ihren geschichtlichen Kontexten, a. a. O., S. 274) entwickeln muss, so gilt es umso mehr für die nicht auf thematische Gestalten, sondern nur aufeinander bezogenen Töne der atonalen Musik, dass die motivischen Einzelgestalten und ihre Fortsetzungen für die Konstitution des Gesamtzusammenhangs verantwortlich sind. Ebd., S. 337. Roman Ingarden: Untersuchungen zur Ontologie der Kunst (Der Film), a. a. O., S. 339 f.

1. Musik und Filmbild Dass das Ideal einer solchen Verschmelzung der beiden Medien Umsetzung finden kann, zeigt sich im Genre des „abstrakten Films“. Filme wie Dziga Vertovs „Enthusiasm. Symphony of the Donbas“ (1931) beruhen auf einem solchen innigen Verhältnis zwischen Musik- und Bilderkomposition. „Enthusiasm“ ist der Versuch, im nunmehr aktuellen Medium des Tonfilms zu beweisen, dass die Einführung des Tons nicht unbedingt die unzulässige Missachtung der Eigenqualität des Bildes48 bedeutet. Durch die gleichzeitige, aber auch separate Aufnahme von visuellen und klanglichen „Bildern“49, die auf der Grundlage einer akustischen Collage in verschiedenen Weisen zusammengeführt wurden, schuf Vertov ein Kontinuum komplexer, realitätsfremder bzw. nicht kausaler audiovisueller Zusammenhänge, die beide Medien auf die gleiche Wahrnehmungs­ ebene stellen. The overture, meanwhile, examines whether a visual element can be replaced by a sound in the form of an association, a rhythmic pattern, or a sign of subjectivity. The auditory sense is visualized and becomes an image. In essence Vertov transfers onto the level of sound the same principles he had used when working with images: 1. deformation; 2. change of speed (acceleration, deceleration) and direction (reverse sound); 3. montage of contrasting sounds using abrupt, hard cuts (Vertov avoids dissolves); 4. leitmotivs and their contrapuntal transposition.50

Das Fragmentarische im Film Vertovs lässt (im Sinne der Bemerkung Ingardens zu den kubistischen Bildern51) eine audiovisuelle Gegenstandssynthese der ­gegensätzlichen, asynchronen filmischen Bild- und Tonelemente lediglich in der Phantasie des Zuschauers entstehen. Das Disparate fungiert als die Bedingung des Ergänzungsprozesses im filmischen Medium. Dass im Fragmentarischen des filmischen Raumes, nämlich im Bedürfnis des filmischen Bildes auf Ergänzung, eine Wesensbestimmung des filmischen Kunstwerkes erkannt werden soll, wobei hier eine zentrale Funktion dem 48 49 50 51

Solche Befürchtungen wurden u. a. von Rudolf Arnheim geäußert. Siehe weiter unten. Oksana Bulgakowa: The Ear against the Eye: Vertov’s Symphony, in: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 2 (2008), S. 153. Ebd., S. 147. Siehe weiter oben.

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I. Musikalisches im Film ­ usikalischen im Film zugewiesen wird, ist von mehreren Autoren festgestellt M worden. Zofia Lissa schreibt in ihrem Buch über die Ästhetik der Filmmusik: Hier muss hinzugefügt werden, dass der Raum im Film uns immer fragmentarisch geboten wird. Die Begrenzungen der Leinwand schränken ihn stark ein. Für den Zuschauer existiert diese Einschränkung jedoch nicht: Er perzipiert die gezeigten Ausschnitte als eine Repräsentation des ganzen räumlichen Gegenstands. Wenn es anders wäre, wenn diese Repräsentation pars pro toto nicht einträte, dann könnte der Zuschauer die gezeigte Welt nicht analog zu seiner eigenen auffassen. Der Filmzuschauer intendiert somit aufgrund des gezeigten Abschnittes eines dargestellten Raumes immer auf eine breitere, nicht gezeigte, sondern nur vorgestellte Filmwelt. […] Der dargestellte Raum wird somit in der Vorstellung des Zuschauers durch gegenwärtig nicht dargestellte weitere Partien ergänzt, die unter Umständen entweder vorher schon dargestellt wurden oder möglicherweise im weiteren Verlauf der Handlung noch dargestellt werden, die aber auf alle Fälle das Anschauliche bereichern.52

Für Lissa bildet der Raum als visuelle, aber auch als klangliche Komponente die Grundlage für Korrespondenzen zwischen den beiden Schichten des Filmwerks. Die Musik beteiligt sich an der Erschaffung des filmischen Raumes als Ergänzung des aktuell Anschaulichen, indem sie Intendiertes antizipiert, noch nicht Gesehenes klanglich repräsentiert.53 Wie auch für den Literaturtheoretiker Jan Mukařovský ermöglicht der Ton eine „simultane“ Konstituierbarkeit des filmischen Raumes. „In den Einstellungen ist der Filmraum sukzessiv durch die Aufeinanderfolge der Bilder gegeben, und wir empfinden ihn beim Wechsel der Bilder. Der Tonfilm nun hat zu der Möglichkeit einer simultanen Gegebenheit des Filmraums geführt.“54 Die Tatsache, dass man im Film etwas hören 52 53

54

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Zofia Lissa: Ästhetik der Filmmusik, a. a. O., S. 80. Dass durch diese Antizipation gleichzeitig die Richtung und die Art der Intentionen auf Ergänzung des filmischen Raumes „hörbar“ werden, der Verlauf der filmischen Konstitution dadurch vorgeprägt wird, dass durch die Musik die Mannigfaltigkeit von möglichen Näherbestimmungsmomenten des offenen, mehrdeutig bestimmten Bilderhorizonts eingegrenzt wird, wird in Kapitel I.3 dieser Arbeit gezeigt. Jan Mukařovský: Zur Ästhetik des Films, in: Wolfgang Beilenhoff (Hg.): Poetika Kino. Theorie und Praxis des Films im russischen Formalismus, Frankfurt/M. 2005, S. 358.

1. Musik und Filmbild kann, das man im Bild nicht sieht, man aber dennoch annimmt, dass es zum gesehenen Raum dazugehört, lässt das „Bewusstsein eines Raumes ‚zwischen‘ Bild und Ton“55 entstehen. Wie Lissa und Mukařovský, so hebt auch Balázs die „Ergänzung“ als Hauptprinzip im Verhältnis von Bild und Ton hervor. Die Ergänzung wird ein wesentliches Prinzip des Tonfilms werden. Wir sollen nicht das oder zumindest nicht nur das hören, was wir ohnehin sehen. Das Akustische soll nicht bloß die Natürlichkeitswirkung ergänzen, sondern mit dem Ton etwas betonen, worauf wir sonst nicht geachtet hätten. Es soll in uns Vorstellungen und Assoziationen wecken, die das stumme Bild allein nicht geweckt hätte. Tonmontage und Bildmontage werden dann kontrapunktisch wie zwei Melodien einander zugeordnet.56

Besonders nennenswert gerade an den Beobachtungen Balázs’ ist der Umstand, dass er als Ton erstrangig die unmittelbar mit den dargestellten Gegenständen und Personen zusammenhängenden Geräusche versteht und die Musik über weite Strecken unberücksichtigt lässt. Seine Ideen über das Verhältnis von Bild und Ton beruhen auf der Vorstellung einer analog zur Bildmontage sich bestimmenden Tonmontage. Die Möglichkeit der Aufnahme und Synthese mannigfaltiger akustischer „Bilder“ eines real produzierten Geräusches, Bilder, die durch die unterschiedlichen akustischen Eigenschaften des Ortes, in dem dieses erklingt, nämlich durch die entsprechende Fokussierung im Verhältnis zu der ihm umgebenden Geräuschwelt erzeugt werden, lässt Formen einer künstlerischen Arbeit mit „Tonbildern“57 entstehen, die vergleichbar mit der Montage von visuellen Bildern ist. Die Existenz des Tons als „anhängende Bestimmtheit“58 von Gegenständlichkeiten, die dadurch hergestellte intermediale Verwandtschaft von visuellen und akustischen Objekten, liefert die Grundlage für solche Ergänzungsvorgänge. Das von Balázs so genannte „Nachpanoramieren“59, das Filmverfahren nämlich, eine gehörte, aber zunächst im filmischen

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Ebd. Béla Balázs: Der Geist des Films, a. a. O., S. 168. Ebd., S. 172. Edmund Husserl: Ding und Raum, a. a. O., S. 105. Béla Balázs: Der Geist des Films, a. a. O., S. 168 f.

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I. Musikalisches im Film Bild nicht verkörperte Stimme durch das Wandern der Kamera „aufzuspüren“, die Quelle der Stimme zu zeigen, basiert auf solchen Verwandtschaften. Das Verfahren der durch den Ton motivierten Realisierung von Filmraum ergänzt auf die genannte Weise andere, rein visuelle Verfahren wie die der Raumorientierung dienende Organisation der Verhältnisse der Einstellungsgrößen zueinander. So wird im visuellen Bereich die Totale […] als lediglich orientierendes Element des Filmsatzes, als – in der alten Terminologie  – eine Art „Umstandsbestimmung des Ortes oder der Zeit“ beibehalten. Die akzentualen Satzglieder werden durch Vordergrundeinstellungen und Großaufnahmen geschaffen, die eine Art Subjekt und Prädikat des Filmsatzes sind. Die Bewegung der Aufnahmedistanzen (von der Totale zum Vordergrund und danach zur Großaufnahme oder auch in anderer Reihenfolge), in deren Zentrum die Großaufnahme als grundlegender stilistischer Akzent steht, ist das fundamentale Konstruktionsgesetz des Filmsatzes.60

Interessant im Verhältnis von Bild und Ton ist, dass wir offenbar ähnliche Strukturen in beiden Medien feststellen können, so dass Ergänzungen auch auf der strukturellen Ebene stattfinden können. So hat beispielsweise die Großaufnahme im Bild ihre Entsprechung in der „Tongroßaufnahme“61, die sich ebenfalls durch die Fokussierung auf einen einzelnen Eindruck auszeichnet, wobei sie im Unterschied zur ihrem visuellen Pendant die akustische Umgebung nicht ganz ausschließen kann62. Durch die Zusammenführung beider Formen ergeben sich neue Möglichkeiten des filmischen Ausdrucks. „Wir können in Großaufnahme sehen und hören, wie ein einzelner schreit und zugleich im selben Bilde hören, wie seine Stimme im Getöse verloren- und einsam untergeht.“63 Aber auch andere räumliche Phänomene werden durch den Ton realisierbar. So lässt die Aufteilung der Tonebene aufgrund von Lautstärkeunterschieden und variierter Prägnanz Figur-Grundbeziehungen registrieren. „Mit dem Ton

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Boris Ejchenbaum: Probleme der Filmstilistik, in: W. Beilenhoff (Hg.): Poetika Kino, a. a. O., S. 44. Béla Balázs: Der Geist des Films, a. a. O., S. 163. Vgl. ebd., S. 165 f. Ebd., S. 166.

1. Musik und Filmbild kann – entsprechend der visuellen Raumaufteilung – Vorder-, Mittel- und Hintergrund akustisch inszeniert werden.“64 Insgesamt kann der Film übergeordnet räumliche Ordnungsstrukturen aufweisen, die – wie etwa im Film „Sentimentale Romanze“ von Eisenstein – die Idee eines „absoluten“ Films Realität werden lassen. Denn Sentimentale Romanze ist der Versuch, in einem „absoluten“ Film jene Vorstellungen, die eine Melodie weckt, im Bild zu bannen, der Versuch, die Flut der Landschaftsvisionen filmisch zu gestalten, die so oft Musik begleiten im Tagtraum unserer Phantasie.65

Die Analogie zwischen filmischer Figur und Melodie, wenngleich von Theoretikern vielfach kritisiert66, lässt musikalische Prozesse im Film möglich werden, die sich ausschließlich dem reinen Ausdruck und nicht der Narration verpflichten. Auffallend ist […], dass in all dieser Landschaft eine Linie (ein Ast, ein Blatt, die Silhouette eines Ufers usw.) ganz vorn im Bild, auch im Valeur, sehr akzentuiert ist. Diese Linie ist nun im Bildkader einmal unten, einmal in der Mitte, einmal oben, je nachdem die Linie der Melodie sinkt oder steigt. Es wird geradezu wie eine graphische Darstellung, eine lineare Begleitung des Auf und Nieder der Melodie. Es gibt Kapellmeister, deren Anblick die Musik sichtbar macht, denn sie scheinen im Sturm der Töne zu flattern. Diese ­Bilder sind wie von der Melodie hingezeichnet!67

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Rayd Khouloki: Der filmische Raum, Berlin 2009, S. 94. Vgl. auch Thomas Clifton: Music as heard. A study in applied phenomenology, New Haven, London 1983, S. 179. „But in musical space, a melodic line or gesture can sound either close at the hand or far away and will still retain its size. That is, an object in musical space heard ‘in front of ’ some other object will still be heard with the same magnitude as when it is heard ‘behind’ another object. The experience of ‘before’ and ‘behind’ in music cannot therefore be correlated with the size of the musical gesture, but with its dynamic level, tone color, and the kind of texture involved.“ Béla Balázs: Der Geist des Films, a. a. O., S. 279. Vgl. dabei die Kritik Adornos in: ders.: Komposition für den Film, a. a. O., S. 48. Siehe Kap. II.1.4 dieser ­Arbeit. Béla Balázs: Der Geist des Films, a. a. O., S. 280.

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I. Musikalisches im Film

2. Das „Bewegungs- und Zeitbild“ von Gilles Deleuze Will man der Problematik einer Synthese von visueller und akustischer Kunst im Medium des Films auf den Grund gehen, so findet man in der Philosophie und Filmtheorie Gilles Deleuzes wichtige Anhaltspunkte. Darin kehrt nicht nur die allgemeine Idee eines erweiterten Musikbegriffs im filmischen Diskurs wieder, sondern auch der bereits als Grundprinzip der filmischen Darstellung erkannte „räumliche“ Begriff der „Ergänzung“, ein Begriff, der durch die Deleuze’sche Philosophie weiter ausdifferenziert und entwickelt werden kann. Mit Hilfe der Deleuze’schen Terminologie lassen sich erste Erkenntnisse über zentrale ästhetisch-philosophische Aspekte der filmischen Ton-Bild-Relation gewinnen, die den Kern einer breiten Auseinandersetzung mit dieser Proble­ matik bilden. Die bereits spezifizierten zwei Arten der Ergänzung kommen bei Deleuze als historische Kategorien des Films, die das klassische vom modernen Kino unterscheiden, zur Sprache. Charakteristisch für das klassische Kino ist für Deleuze die Konzeption des „inneren Monologs“68, einer filmischen Visualisierung, die er an der „musika­ lischen Konzeption“69 Eisensteins exemplifiziert. Mit den Begriffen „Dominante“ und „Oberton“ aus dem theoretischen Vokabular Eisensteins beschreibt Deleuze eine „tonale“ Weise der filmischen Komposition, in der eine logische Verknüpfung der einzelnen Bilder nach Art modulatorischer Prozesse stattfindet. „Rationale Schnitte“, „aufgelöste Akkorde“70 dienen lediglich positiven Transformationsprozessen, die die Bilderkontinuität bewahren, ihren Sinn in einem „offenen Ganzen“71 erhalten. Jedes einzelne Element unterliegt einem stetigen Werdeprozess, einem Prozess der Erschließung neuer Varianten, die aber niemals die Einheit des Ganzen in Frage stellen, niemals als autonomisierte Bedeutungseinheiten fungieren, sondern sich stets dem höheren Ziel einer konsequenten Bildersynthese, eines in sich logisch aufgebauten, zum Telos ­einer vollkommenen Idee hinstrebenden visuellen Entwicklungsverlaufs fügen. 68 69

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40

Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M. 1997, S. 236 f. Ebd. Zu Eisensteins „musikalischer“ Montage vgl. Iakovos Steinhauer: Musik und Montage bei Sergej Eisenstein, in: H. Engelke, R. M. Fischer, R. Prange (Hg.): Film als Raumkunst, Marburg 2012, S. 103–114. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 237. Ebd., S. 233.

2. Das „Bewegungs- und Zeitbild“ von Gilles Deleuze Als zentrale Kategorie des klassischen Filmes und in einer gewissen Analogie zum bereits gedeuteten filmästhetischen Begriff der „Ergänzung“ fungiert bei Deleuze der sowohl allgemein als auch in Bezug auf den Sinn der akustischen Dimension des Films konkret angewandte Terminus des „hors-champ“. Horschamp (außerhalb des Bildfeldes), eine ästhetische Grundkategorie des Films, die sich auf alle seine Aspekte (Dialoge, Montage, Einstellung usw.) bezieht, bedeutet für Deleuze zunächst eine Relation von Bildern, die dadurch zustande kommt, dass beispielsweise ein akustisches Ereignis, ein Geräusch, eine Stimme oder auch Musik, deren Quellen sich nicht im sichtbaren Bild befinden, auf ein Bild außerhalb des Gesehenen verweisen, das den sichtbaren Raum erweitert und auf diese Weise die natürliche Verbindung seiner einzelnen Momentaufnahmen ermöglicht. Das Hörbare verleiht dem Jenseitigen des Bildes eine akustisch-aktuelle und gleichzeitig visuell-potenzielle Präsenz. Das hors-champ verweist auf einen Raum, der noch nicht in der Cadrage des aktuellen Bildes liegt, der nicht sichtbar ist, aber aufgrund von Hinweisen, die in der Struktur des gegenwärtigen Raums vorhanden sind, oder aber vor allem aufgrund von akustischen Ereignissen, erwartet wird. Geräusche, Stimmen, die aus dem Off erklingen, sind Träger dieser Erwartungen. Die Veränderung der Funktion des hors-champ markiert einen Bruch zwischen klassischem und modernem (seit dem Neorealismus und der „Nouvelle Vague“) Film. Sein Vermögen, ein niemals sich erfüllendes „Ganzes“ zu sein, wird hier auf seine Möglichkeit, weder hörbares noch sichtbares Absolutes zu äußern, auf eine „Idee“ (auch im husserlsch-kantischen Sinne), die für Deleuze ein „par excellence musikalisches Element“72 ist, verschoben. Deleuze scheint von einer Vorbildfunktion der Musik in Bezug auf die Entwicklung des Films auszugehen. Im klassischen Kino wurde das hors-champ ­lediglich auf indirektem Wege durch die Bilder denkbar gemacht. Die Musik dagegen war – im G ­ egensatz zum Geräusch oder der Stimme, die eher im dialogisierenden linearen Prozess beteiligt sind – schon immer in der Lage, dieses Ganze direkt zu zeigen. Kurz, der Tonfilm fügt der indirekten Darstellung der Zeit als veränderlichem Ganzen eine direkte Darstellung hinzu: freilich eine musikalische und nur musikalische, nicht-korrespondierende Darstellung. Gerade dies 72

Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 304.

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I. Musikalisches im Film ist der lebendige Begriff, der das visuelle Bild überwindet, ohne auf es ­verzichten zu können.73

Die Verselbständigung des einzelnen Bildes, das nicht mehr die Aufeinanderfolge, nicht die Montage benötigt, um mit Sinn erfüllt zu sein, sondern selbst, etwa durch das Verfahren der Tiefenschärfe, eine Bedeutung erlangt und dazu fähig ist, das, was früher nur durch die Musik möglich war, nämlich die Zeit direkt darzustellen, verweist unmittelbar auf das Vermögen der Kunst der Töne. Während diese direkte Darstellung von Zeit im Bewegungskino nur durch die Musik eintreten konnte74, wird das Bild des modernen Kinos insofern selbst „musikalisch“, als es in der Lage ist, sich über den empirischen Verlauf der Zeit hinwegzusetzen, Situationen aufkommen zu lassen, die keiner Fortsetzung bedürfen, keine Aktionen und Reaktionen motivieren, sondern auf sich selbst beruhend „Stilleben“75 als Durchdringung virtueller und aktueller Bilder produzieren. Falsche Anschlüsse und Einstellungen, eine Fragmentierung von Raum, Körperbewegung, Sprache und Geräusch verursachen eine nicht-natürliche, „serielle“ Verkettung von Bildern, einen nicht-organischen, „kristallinen“ Bilderverlauf, der die Zeit topologisch ordnet, wo sich Vergangenheit und Zukunft, Aktuelles und Virtuelles durchdringen. „Die fehlende Übereinstimmung ist lediglich das Sichtbarwerden einer Verbindung, die sich auf unendlich viele Weisen herstellen kann.“76 Definiert das in sich logisch geordnete Ganze des Filmverlaufs ein Wesensmerkmal des klassischen Kinos, so wird dieses im modernen Kino von der Existenz eines „Zwischenraums“77 verdrängt, der zwischen den Bildern, aber auch zwischen der visuellen und einer die Qualität eines Bildfeldes annehmenden akustischen Ebene liegt. Subsumierten sich im Filmganzen des klassischen Kinos sowohl visuelle als auch akustische Merkmale unter die „Dominante“ einer gemeinsamen Bedeutungseinheit, so verselbständigen sich nun beide Schichten. Sie werden nicht mehr eindeutig einander zugeord73 74 75 76 77

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Ebd., S. 308. „Die einzige direkte Darstellung ist [im klassischen Kino] also in der Musik anzutreffen.“ Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 347. Ebd., S. 348. Ebd., S. 314. Ebd., S. 235.

2. Das „Bewegungs- und Zeitbild“ von Gilles Deleuze net, sondern unterliegen asynchronen Beziehungen, die die Kontinuität der filmischen Einheit zerstören. Die akustische Ebene entwickelt ein Eigenleben, einen differenten Sinn, der sich nicht notwendigerweise mit dem des Visuellen deckt. Im modernen Kino „gibt [es] keine vollkommenen oder ,aufgelösten‘ ­Akkorde mehr, sondern lediglich dissonante Akkorde oder irrationale Schnitte, insofern es nicht länger Obertöne des Bildes gibt, sondern allenfalls ,entfesselte‘ Töne, die Serien bilden“.78 Deleuze schlägt bei seiner Beschreibung des modernen Kinos eine Definition des filmischen Raumes vor, die – in Analogie zur Schönberg’schen Definition des musikalischen Raumes der Dodekaphonie79 – Raum als ein nichtzentriertes System begreift, in dem „alle Bilder, auf alle Seiten und in allen Teilen, wechselseitig aufeinander einwirken und reagieren“.80 In seiner Philosophie zeigt sich somit eine Wechselbeziehung zwischen dem sich in äußerer und in innerer Bewegung manifestierenden Raum. Der Aufzeichnung äußerer Erscheinungen stellt sich die innere Bewegung gegenüber, die als unteilbare, virtuelle, in ihrem reinen Ausdruck potenziell unbegrenzte zutage tritt. In dieser Auffassung spiegelt sich der fundamentale Gegensatz zwischen geometrischer Ordnung und fließender Bewegung, zwischen „gekerbtem“ und glattem“ Raum

78 79

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Ebd., S. 237. Interessant erscheint dabei die Tatsache, dass die musikalische Raumidee Schönbergs auch in seine Vorstellung von Filmkunst Eingang fand. Worauf Schönberg in der Verfilmung der „Glücklichen Hand“ wert legt, ist die Betonung des Farblichts. Nicht die Narration, sondern eine Betonung der Abstraktheit des Filmischen wollte er erreichen. Ihm ging es um das „Farben-Licht-Spiel“, in dem „sehr starke Lichtquellen“ und „gute Farben“ nötig sind. Jelena Hahl-Koch (Hg.): Arnold Schönberg, Wassily Kandinsky, Salzburg, Wien 1980, S. 126. Vgl. dazu: Peter Roloff: Der tönende Film, in: Positionen. Film Musik Video (Februar 1994), S.  3. Ein nicht-musikalischer „Sinn“ sollte vermieden werden zugunsten eines spezifisch musikalischen. „So wie die Musik nie einen Sinn mit sich herumschleppt, wenigstens nicht in ihrer Erscheinungsform, obwohl sie ihn ihrem Wesen nach hat, so soll das bloß für’s Auge klingen und jeder soll meinetwegen ähnliches dabei denken oder empfinden wie bei Musik.“ Erwin Stein: Arnold Schönberg  – Briefe, Mainz 1958, zit. nach: Peter Roloff: Der tönende Film, a. a. O., S. 3. Gilles Deleuze: Das Bewegungsbild. Kino 1, Frankfurt/M. 1997, S.  92. Vgl. dazu auch: Laura Frahm: Jenseits des Raums. Zur filmischen Topologie des Urbanen, Bielefeld 2010, S. 154.

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I. Musikalisches im Film wieder, eine Differenz, die sich u. a. auch in der Neuen Musik kundtut. Die Verwendung des – von Heinz-Klaus Metzger eingeführten – Begriffs der „Diagonale“81 bei Boulez, um die Erweiterung der Dimensionen der Horizontalen und Vertikalen im Klangraum der Werke Anton Weberns zu beschreiben82, entspricht diesem Ansatz. Um zu dem einfachen Gegensatz zurückzukehren, das Gekerbte oder Geriffelte ist das, was das Festgelegte und Variable miteinander verflicht, was unterschiedliche Formen ordnet und einander folgen lässt und was horizontale Melodielinien und vertikale Harmonieebenen organisiert. Das Glatte ist kontinuierliche Variation, die kontinuierliche Entwicklung der Form und die Verschmelzung von Harmonie und Melodie zugunsten einer Freisetzung von im eigentlichen Sinne rhythmischen Werten, die reine Linie einer Diagonale quer zur Vertikalen und Horizontalen.83

Der Deleuze’sche Vergleich mit der Musik liegt insofern nahe, als dass im Determinationszentrum des modernen filmischen Raumes nicht mehr ein Nullpunkt der Bewegung, ein statisches Bildzentrum steht, von dem sich ein System von perspektivisch orientierten Bewegungen ausbreitet. Die „Nullstelle des filmischen Raumes bildet der bewegte Raum selbst“84, wie in der Musik liegt allen durchlaufenen Räumen und aktualisierten Bewegungen die Existenz einer universellen Veränderlichkeit zugrunde, die alle diese Bewegungen in sich enthält. Deleuze erwähnt Jean-Luc Godard als denjenigen Regisseur, der die Technik der seriellen Musik von Pierre Boulez „verallgemeinert“85 habe. Tatsächlich lässt sich das „rationale“ Verfahren Godards, in dem unvermittelt nicht miteinander korrespondierende Sprechakte, Gesten und Bilder aufeinandertreffen und nach dem gleichen Reihenschema organisiert werden, mit der Konzeption Boulez’, 81

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44

Deleuze verweist selbst auf das Buch von Pierre Boulez: Musikdenken heute 1, (übers. v. J. Häusler, P. Stoll) Mainz 1963, S. 72 ff. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie (übers. v. G. Ricke, R. Voullié), Berlin 2005 (6), S. 662. Vgl. dazu: Gisela Nauck: Musik im Raum, Raum in der Musik: ein Beitrag zur Geschichte der seriellen Musik, Stuttgart 1997, S. 78 f. Ebd., S. 663. Laura Frahm: Jenseits des Raums, a. a. O., S. 155. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 353.

2. Das „Bewegungs- und Zeitbild“ von Gilles Deleuze etwa im seriellen Organisationsverfahren von Sprache und Musik in seinem „Marteau sans Maître“, vergleichen. Unterschiedliche Arten der Sprachbehandlung ermöglichen in der Musik Boulez’ eine Serialisierung der Vokalebene zwischen Gesang und Sprechen, lassen analog zur abgestuften Fragmentierung zwischen Visuellem und Sprachlichem bei Godard Verknüpfungen zwischen verschiedenen ästhetischen Ebenen entstehen. Geometrisierung, die „Abschaffung der Tiefenwirkung“ und die „Flachheit des Bildes“ scheinen Merkmale sowohl des modernen Kinos als auch der seriellen Musik86 zu sein, wobei die Idee einer direkten Darstellung von Zeit als Synthese von Aktuellem und Virtuellem, als Koinzidenz von vorstrukturiertem Material und konkreter Darstellung bereits bei Schönberg vorgeprägt wurde: Für die Vorstellungskraft und die schöpferische Kraft sind die Beziehungen in der materiellen S­ phäre so unabhängig von Richtungen oder Ebenen, wie es die materiellen Objekte in ihrer Sphäre für unser Wahrnehmungsvermögen sind. Gerade so, wie unser Verstand zum Beispiel ein Messer, eine Flasche oder eine Uhr ungeachtet ihrer Lage erkennt und sich in der Phantasie in allen möglichen Lagen vorzustellen vermag, gerade so kann der Verstand des Musikschöpfers mit einer Reihe von Tönen arbeiten […].87

Entsprechend lautet die Beschreibung des musikalischen Raumes der Neuen Musik bei Adorno. In einer Musik, in der jeder einzelne Ton durchsichtig durch die Konstruktion des Ganzen determiniert ist, verschwindet der Unterschied von Essentiellem und Akzidentellem. In allen ihren Momenten ist eine solche Musik gleich nahe zum Mittelpunkt. Damit verlieren die Formkonventionen, welche einmal Nähe und Ferne vom Mittelpunkt geregelt hatten, ihren Sinn. Es gibt keinen unwesentlichen Übergang mehr zwischen den wesentlichen ­Momenten, den „Themen“; folgerecht überhaupt keine Themen und in strengem Sinn auch keine „Entwicklung“.88

86 87 88

Ebd., S. 58. Arnold Schönberg: Komposition mit zwölf Tönen, in: ders.: Stil und Gedanke (Hg. I. Vojtech), Frankfurt/M. 1992, S. 115. Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, a. a. O., S. 61.

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I. Musikalisches im Film Weberns Musik ist bestes Beispiel für einen solchen Raum, in dem, wie im modernen Kino, „die Montage bereits im Bild stattfindet“ und die „Bestandteile des Bildes bereits die Montage voraussetzen“.89 Montage als die Verkettung von Einstellungen entspricht hier der Zusammenfügung der Tonfolgen nach dem Reihenschema. Strukturelle Verknüpfungen, etwa Symmetrien zwischen den Reihengestalten, die in den „thematisch“ fundierten, durch ein freies Melos geprägten Reihen erst während des Kompositionsverlaufs realisiert wären, werden hier in der vorgeprägten, überzeitlichen Ordnung der Reihe manifest. Die Idee der Einheit des Raumes kongruiert mit der Formulierung des Reihen­ denkens, ein Ideal, dem die Musik Weberns besonders nah kam. „Sein [Weberns] Ziel ist es, den Anspruch der Reihen mit dem des Werkes zur Deckung zu bringen. Er strebt danach, die Lücke zwischen regelhaft disponiertem Material und frei schaltender Komposition auszufüllen.“90 Bei Webern ist ein Stadium erreicht, in dem die Reihenidee die Gestaltbildung negiert und mit einem virtuellen Raum möglicher Gestaltungsprozesse identifiziert wird. Es tritt eine Entwicklungsstufe des Reihendenkens ein, in der das Prinzip der einheitlichen Darstellung die individuelle Reihengestalt ablöst, es selbst zum „Gedanken“ der Komposition wird. Was hier zur Darstellung kommt, ist nicht die einzelne ­Reihengestalt, sondern die Idee des musikalischen Raumes als Einheit selbst. Wie Adorno erklärt: Das Werkzeug kompositorischer Dynamik, die Variation, wird total. Damit kündigt sie der Dynamik den Dienst. Das musikalische Phänomen präsentiert sich nicht länger als selbst in Entwicklung begriffen. Die thematische Arbeit wird zur bloßen Vorarbeit des Komponisten. Die Variation tritt als solche überhaupt nicht mehr in Erscheinung. Alles und Nichts ist Variation; das Variieren wird ins Material zurückverlegt und präformiert es, ehe die Komposition eigentlich anhebt.91

In diesem Zusammenhang fällt der Hinweis Adornos auf einen weiteren Komponisten der Generation Weberns auf, nämlich auf Edgard Varèse. Hinsichtlich der von ihm formulierten Kristallmetapher geht auch er von einem transzen89 90 91

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Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 62. Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, a. a. O., S. 106. Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, a. a. O., S. 62 f.

2. Das „Bewegungs- und Zeitbild“ von Gilles Deleuze dierenden, zwölftönigen Schema in seinen Werken aus, das jedoch im Unterschied zur Dodekaphonie keine bestimmte Tonreihenfolge vorgibt, sondern sich im Sinne des Kristallbildes bei Deleuze in der Koexistenz des aktuellen und des virtuellen Bildes92 und im Austausch und ihrer Synthese manifestiert.93 Ließe sich die zitierte Aussage Adornos dennoch unmittelbar auch auf Varèse beziehen, so ist die Beschreibung des Hauptmotivs des modernen Kinos bei Deleuze ähnlich dem Adorn’schen Entwurf. Wir haben es hier mit der Herrschaft der universellen Variation zu tun, welche die menschlichen Grenzen des sensomotorischen Schemas auf eine nicht-menschliche Welt hin übersteigt, in der die Bewegung der Materie gleicht, oder gar auf eine übermenschliche hin, die von einem neuen Geist zeugt.94

Die absolute Distanznahme vom subjektiven Ausdruck, die Vorstellung einer objektivierten Ästhetik, die sich von den als natürlich empfundenen Grundstrukturen menschlichen Daseins und Kausalzusammenhängen verselbständigt, bildet die Grundlage eines Systems permanenten Austausches und wechselseitiger Bestimmung. Nicht das Subjekt, sondern die situationsbedingte

92 93

94

Vgl. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 114. „Das Kristall ist sowohl durch eine bestimmte äußere Form als auch durch eine bestimmte innere Struktur zweifach charakterisiert. Die innere Struktur basiert auf der kristallinen Einheit, welche die kleinste Atomgruppierung darstellt, die die Anordnung und Zusammensetzung der Substanz aufweist. Die Ausdehnung dieser Einheit in den Raum bildet das ganze Kristall. Aber trotz der relativ begrenzten Varianz von inneren Strukturen sind die äußeren Formen von Kristallen unbegrenzt.“ (Edgard Varèse: Die Befreiung des Klangs, in: H. K. Metzger, R. Riehn [Hg.]: Edgard Varèse. Rückblick auf die Zukunft, Musik-Konzepte 6, München 1983, S.  18.) Die Werke Varèses beruhen auf der Idee eines Keims (vgl. dazu die Analysen des Varèse-Schülers Chou Wen-Chung: Varèse: A Sketch of the Man and His Music, in: The Musical Quarterly. Bd.  52, Nr.  2, 1966, S.  151–170), eines „virtuellen Bildes“, das „eine im aktuellen Zustand amorphe Umwelt“ (Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 103) zum Kristallisieren bringt. Die Töne bilden dann einen „vollkommenen Kristall“ (ebd., S. 114), wenn der Keim als aktuelle symmetrische Struktur erscheint. Virtualität und Aktualität der Symmetrie durchdringen sich gegenseitig, wenn ein auf symmetrische Ergänzung ausgerichtetes Motiv sein Pendant trifft. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 60.

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I. Musikalisches im Film Verflechtung disparater Elemente erzeugt das Kunstwerk als ein Gewebe. Ganz in diese Sinne lokalisiert Deleuze die Eigenschaften des modernen Kinos in folgenden Topoi: a. Das moderne Kino entfaltet sich als eine Kunst bruchstückhafter Situationen durch die Technik des „irrationalen Schnitts“, durch eine Montage, die den Zwischenraum betont, eine Grenze zwischen zwei Bildsequenzen aufzeigt, die nicht auf der Folgerichtigkeit von Episoden eines gemein­ samen narrativen Inhalts beruhen.95 b. „[…] das Kino wird zum Medium des Erkennens, nicht mehr des Wiedererkennens, zur Wissenschaft der visuellen Eindrücke, die uns zwingt, unsere Logik und unsere Sehgewohnheiten zu vergessen. […]“96 c. „[…] das aktuelle und das virtuelle Bild koexistieren und kristallisieren gemeinsam, beide Bilder treten in einen Kreislauf, der uns beständig von einem auf das andere verweist, sie bilden ein und dieselbe ,Szene‘, in der die Personen zwar dem Realen angehören, aber dennoch eine Rolle spielen. Kurz: das Reale und das Leben in seiner Gesamtheit sind, gemäß den Erfordernissen der reinen optischen und akustischen Wahrnehmung, zu einem Schauspiel geworden.“97 d. Das moderne Kino führt den Zusammenbruch des „sensomotorischen Schemas“, der Einheit von Handlung und diese Handlung veranlassender Situation herbei. Der Sprechakt verselbständigt sich immer mehr von der Kette von Aktionen und Reaktionen der visuellen Filmebene. „Er zieht sich auf sich selbst zurück, er drückt keine Abhängigkeit vom oder Zugehörigkeit zum visuellen Bild mehr aus, er wird zu einem vollwertigen akustischen Bild, er gewinnt eine kinematographische Autonomie, und das Kino wird wahrhaft audio-visuell. […] Das Zerreißen des sensomotorischen Bandes affiziert nicht nur den Sprechakt, der sich auf sich selbst zurückzieht und aushöhlt […]. Ebenfalls affiziert er das visuelle Bild, das nun beliebige Räume freigibt, nämlich die für das moderne Kino charakteristischen leeren oder abgetrennten Räume.“98 95 96 97 98

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Vgl. ebd., S. 236 f. Ebd., S. 33. Ebd., S. 114 f. Ebd., S. 311 f.

2. Das „Bewegungs- und Zeitbild“ von Gilles Deleuze e. „Eine optische und akustische Situation setzt sich nicht in Aktion um, sowenig sie von ihr veranlasst wird. Ihre Funktion besteht darin, etwas begreifbar zu machen, und im Allgemeinen nimmt man an, dass sie etwas Untragbares und Unerträgliches fassbar macht. […]“99 f. „Wir haben es nunmehr mit einem Kino des Sehenden und nicht mehr mit einem Kino der Aktion zu tun. […] Nun aber kehrt sich die Identifikation (= des Zuschauers mit den Figuren) tatsächlich um: die Figur wird selbst gewissermaßen zum Zuschauer. Sie bewegt sich vergebens, rennt vergebens und hetzt sich vergebens ab, insofern die Situation, in der sie sich befindet, in jeder Hinsicht ihre motorischen Fähigkeiten übersteigt und sie dasjenige sehen und verstehen lässt, was nicht mehr von einer Antwort oder Handlung abhängt. Kaum zur Reaktion fähig, registriert sie nur noch. Kaum zum Eingriff in eine Handlung fähig, ist sie einer Vision ausgeliefert, wird von ihr verfolgt oder verfolgt sie selbst.“100 Allgemeines Merkmal des modernen Kinos ist folglich eine „Verweltlichung“, eine „Depersonalisierung“ oder „Pronominalisierung“ der Bewegung. Gemeint ist der Übergang von einer Bewegung der Figuren im Film, die auf akustische und optische Situationen reagieren, in eine verallgemeinernde Bewegung, von der nicht das Subjekt, sondern das gesamte visuelle Koordinatensystem betroffen ist. Deleuze erwähnt u. a. das Motiv des Vergnügungsparks mit all seinen „Rutschbahnen, Tunnels, Rolltreppen, Raketen und Achterbahnen“101 bei Fellini, um die Verwandlung der persönlichen Bewegungsabläufe in abstrakte, die Gesamtheit der optischen Wahrnehmung betreffende Bewegungen, von denen auch die einzelnen Personen mitgerissen werden, zu beschreiben. Die Situation ähnelt der ­seriellen Musik des 20. Jahrhunderts, in der es nicht die Motive und Themen sind, die die formbil­denden Prozesse antreiben. Es vollzieht sich eine Überführung solcher subjektiven kinästhetischen Situationen in generelle Bewegungsschemata, in denen das vorstrukturierte Material selbst bewegt wird, dieses nicht den Hintergrund, nicht die Basis der Entstehung von individueller, also melodisch thematischer Bewegung bildet, sondern durch seine Transformierbarkeit selbst zu einem sich abstrakt bewegenden Körper wird. 99 100 101

Ebd. 32 f. Ebd., S. 13. Ebd., S. 85.

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I. Musikalisches im Film

3. Phänomenologie des Filmtons Die Analyse des Films aus Perspektive ihrer ursächlichen Beziehung zur älteren Kunst der Musik hat deutlich gemacht, dass die Bedeutung des Musikalischen im visuellen Filmmedium sich nicht auf den gewöhnlichen Einsatz der Filmmusik als akustische Unterstützung konkreter, narrativer oder formaler Prozesse beschränken muss, sondern sich auch auf die ästhetischen Fundamente des filmischen Ausdrucks erstreckt. Anhand der Ausführungen von Eisenstein, Balázs und Deleuze wurde gezeigt, dass das dem Film inhärente musikalische Moment als Grundlage für eine vom Diktat der Sprache und des Narrativen befreite ­visuelle Kunst gesehen wurde. Die Frage, die sich nunmehr stellt, ist, was passiert, wenn beide Künste hier und jetzt zusammentreffen, wenn Musik nicht mehr nur als Modell für die Entwicklung einer Konzeption des absoluten Films steht, sondern sie tatsächlich zu den im Film ablaufenden Bildern erklingt. Lässt sich das Verhältnis von Ton und Bild aufgrund ihrer Analogien adäquat erfassen, oder ist die Differenz zwischen den beiden Medien so eklatant, dass man ihr weiter auf den Grund zu gehen hat? Für Zofia Lissa verweist das Bild auf die äußere Wirklichkeit, während „beim Musikhören […] uns der Höreindruck nicht aus uns selbst hinaus [führt], zur außerhalb unserer selbst liegenden Wirklichkeit hin, sondern uns eher auf uns selbst, auf unsere eigenen Vorstellungen, unser Erlebnis [konzentriert]“102. Die Tatsache, dass man von einem allgemeinen Musikbegriff ausgehen kann, der nicht nur akustisch-musikalische, sondern genauso visuelle Vorgänge mit einbezieht, darf folglich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die beiden Medien unterschiedlicher Natur sind, dass die Bestrebung, sie als eine Einheit aufzufassen, ihre jeweils spezifische Beschaffenheit in hohem Maße ignoriert. Adorno zitiert in seinen „Ideen zur Ästhetik“ der Filmmusik Eisenstein und formuliert seine Abneigung gegen die Auffassung eines Zusammenhangs von Musik und Bild, der von der Existenz von „absolute sound-color equivalents“ ausgeht. Die „absoluten Äquivalente“ wären beispielsweise s­ olche zwischen bestimmten Tonarten oder Akkorden und Farben, deren Schimäre

102

50

Zofia Lissa: Ästhetik der Filmmusik, a. a. O., S. 67. Vgl. auch die Einleitung dieser Arbeit.

3. Phänomenologie des Filmtons seit Berlioz die Theoretiker immer wieder nachjagen und die etwa dazu herhalten sollen, jede Farbnuance eines Films mit einer „identischen“ des Klangs zu verkuppeln.103 Sollte sich der Zusammenhang von Bild und Ton folglich nicht auf solche direkten Korrelationen beschränken, welche Formen könnte die – auch durch die Musik geprägte – Dialektik zwischen Subjekt und Objekt im filmischen Medium annehmen? Nach welchen Prinzipien prägt das Verhältnis der geistigen (musikalischen) Innenwelt zur materiellen Außenwelt das filmische Schaffen? Eine weitere fundamentale Beobachtung Zofia Lissas könnte den Ausgangspunkt für eine intensivere Erörterung dieser Fragen bilden: Das Sehen führt unmittelbar zu Erkennungsakten; die gesehene Erscheinung erfordert eine intellektuelle Verarbeitung, das heißt das Verständnis ihres Inhalts, Sinns, ihre Bestimmung, ihre Beiordnung zu einer Klasse von Erscheinungen, es führt uns sozusagen aus uns selbst heraus, lässt uns die eigene Person vergessen und uns auf den gesehenen Gegenstand konzentrieren.104

Lissa knüpft dabei an Brelet an: „Das Gesicht ist ein Akt der Erkenntnis, das Gehör ein Akt des Bewusstseins.“105 Spricht Lissa die Begriffe „Erkenntnis“ und „Bewusstsein“ an, so berührt sie das Hauptproblem philosophischen Denkens spätestens seit Kant, nämlich das Problem der Erkenntnis durch die Verbindung (Synthesis) der aus der Sinnlichkeit stammenden Anschauungen mit den Begriffen des Verstandes. Möchte man sich diesem Problem, das sich als Frage nach der Konstitution der räumlichen Welt deuten lässt und ein zentrales ­Problem der Filmästhetik darstellt, annähern, bietet sich die Phänomenologie ­Edmund Husserls und Merleau-Pontys als ein geeignetes Analyseinstrument an. Steht der Leib im Mittelpunkt ihrer Erkenntnislehren, so kann eine von der Leiblichkeit des Tons und der Musik im Film ausgehende Untersuchung wichtige Erkenntnisse zu Grundstrukturen der audiovisuellen Synthese in dieser Kunst liefern.

103 104 105

Theodor W. Adorno: Komposition für den Film, a. a. O., S. 67. Zofia Lissa: Ästhetik der Filmmusik, a. a. O., S. 67. Ebd., S. 68.

51

I. Musikalisches im Film

3.1 Topologie des Tons und der Musik Lissas These vom „subjektiven“ Charakter der Musik im Film wird auch vom Regisseur Wsewolod Pudowkin geteilt. Anders als von der Musikwissenschaftlerin nahegelegt, scheint die Korrelation ­Musik/Subjekt jedoch nicht a priori gegeben, sondern von der künstlerischen Entscheidungsgewalt des Regisseurs abhängig zu sein. What role does the music play here? Just as the image is an objective perception of events, so the music expresses the subjective appreciation of this objectivity. The sound reminds the audience that with every defeat the fighting spirit only receives new impetus to the struggle for final victory in the future. It will be appreciated that this instance, where the sound plays the subjective part in the film, and the image the objective, is only one of many diverse ways in which the medium of sound film allows us to build a counterpoint, and I maintain that only by such counterpoint can primitive naturalism be surpassed and the rich deeps of meaning potential in sound film creatively handled be discovered and plumbed.106

Geht Pudowkin von einem kontrapunktischen Verhältnis zwischen objektivem Bild und subjektivem Ton aus, so kann dadurch die bloße Suggestion von 106

52

I. V. Pudowkin: Asynchronism as a Principle, in: Elisabeth Weis, John Belton (Hg.): Film Sound. Theory and Practice, New York 1985, S. 91. Interessant in diesem Zusammenhang erscheinen auch die Gedanken Pudowkins zum Verhältnis von Musik und Malerei. „Malerei und Bildhauerei geben ein verallgemeinertes Bild ohne seine Bewegung in der Zeit. Fast polar im Verhältnis zur Malerei steht die Musik. Ihr Element ist die Zeit im sinnlichen Ausdruck ihrer Bewegung, im Rhythmus. Wenn in der Malerei die Bewegung in der Zeit nicht dargestellt wird, so wird in der Musik aber auch nur sie dargestellt. Die visuelle, sichtbare Verallgemeinerung fehlt in ihr. Sie kann nur als Resonanz aufkommen ebenso wie in der Malerei die Resonanz musikalischer Harmonie. Die Musik lebt und entwickelt sich in einem Bereich bewussten Abgehens von den realen Beobachtungen zum Versuch ihrer Verallgemeinerung. Die Musik liefert die Geschichte der menschlichen Ge­fühle und Gedanken ohne reale Gegenstände, die diese Gefühle und Gedanken hervorrufen. Die Musik gibt im Unterschied zur Malerei die unmittelbare Empfindung der Bewegung in der Zeit, Geschichte ohne reale, räumliche Bilder, die nur dazugedacht werden können.“ I. V. Pudowkin: Über die Montage, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films, Leipzig 1999 (5), S. 89.

3. Phänomenologie des Filmtons Realität zugunsten eines tieferen Sinns filmischer Formulierung überwunden werden. Entscheidend für das von Pudowkin erkannte Verhältnis von Bild und Musik ist die Aufführungssituation des Films in der Stummfilmzeit, in der ein ­Pianist oder ein Ensemble die stummen Film­bilder begleitete. Die Musik im Stummfilm war Teil des Kinoraums und damit näher am Zuschauer und in realer Distanz zum entmaterialisierten, die Realität nur repräsentierenden filmischen Bild. Klang und Filmbild gehörten einer anderen ontologischen Schicht an. Während der Klang Teil des realen Raumes und der realen Zeit der Zuschauer und damit einzigartig und einmalig war, blieb das Bild ein eher „unrealistisches“ Phänomen. Dabei war es der Kinoraum selbst, also das Auditorium, und nicht der Filmraum, in dem die Bedeutung und Variationsbreite des Films erzeugt wurde. Der Filmzuschauer war Teil des performativen und variablen Raums, in dem die Vorstellung ihre Einzigartigkeit gewann.107

Könnte man in Bezug auf die damalige Kinosituation folglich von einem intentionalen Verhältnis zwischen dem im konkreten Hier und Jetzt der Filmaufführung agierenden Zuschauer/Musiker und dem vorgefertigten, obgleich auch in der konkreten Zeit der Aufführung sich präsentierenden Filmbild sprechen, so war es das Verdienst von Roman Ingarden, diesen zentralen Topos der Phänomenologie, die „Intentionalität“, auf eine ähnliche Weise in die Musikästhetik einzuführen. In der Unternehmung Ingardens, die „Seinsweise des musikalischen Werkes“ zu bestimmen und ausgehend von der grundlegenden phänomenologischen Differenzierung zwischen dem Gegenstand als Bewusstseinserlebnis und seiner reellen, in seiner objektiven materiellen Beschaffenheit gegebenen Seinsweise, vollzieht der Philosoph die wesentliche Trennung zwischen dem überzeitlichen, dem „konkreten individuellen Erlebnissen transzendenten“108 und mit Unbestimmtheitsstellen behafteten Musikwerk und seinen reellen „akustischen“ Momenten. Diese werden durch die Ausführung des Werkes aktualisiert und füllen seine Unbestimmtheit und seine „quasi-zeitliche“ Ordnung mit konkreten, in der realen Zeitlichkeit organisierten Empfindun107 108

T. Elsaesser, M. Hagener: Filmtheorie zur Einführung, Hamburg 2007, S. 168. Roman Ingarden: Das Musikwerk, a. a. O., S. 105.

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I. Musikalisches im Film gen aus. Diese Trennung ist zumindest dann, wenn man von den Anfängen des Kinos ausgeht und die Praxis der Musikbegleitung im Stummfilm zugrunde legt, auch im Filmwerk gegeben. Im Sinne Ingardens wäre dann zwischen der Objektivität des ein für alle Mal auf dem Filmstreifen festgelegten visuellen Teils und dem „schöpferischen Akt“ des Musikers zu unterscheiden, der das „schematische Gebilde“ des Films zum Ausgangspunkt nimmt, um seine „Unbestimmtheitsstellen“ hic et nunc mit Klang zu füllen. Der Film wäre dann ein intentionaler Gegenstand, der sein Seinsfundament im fertigen Filmstreifen hat und seine Aktualisierung durch die Akte seiner klanglichen Realisation durch die Musiker erfährt. Sicher ist eine These, die vom Intentionalitätscharakter des Filmwerkes allein aufgrund seiner Musik ausgeht, nicht unproblematisch, weil man nicht voraussetzen kann, dass die Intention des Films sich auf seine musikalische Realisation richtet. Selbst bei Filmen, die wie im abstrakten Film der 20er Jahre ihre Struktur weitgehend aus der Musik schöpfen, wäre es äußerst schwer, Konstanten in der musikalischen Umsetzung der im Film aufgezeichneten Gebilde festzustellen, zumal zwar Parallelen beispielsweise im räumlichen Aufbau des filmischvisuellen und des musikalisch-klanglichen Bildes ersichtlich sind109, aber es keinen einheitlichen Code der Übersetzung visueller in klangliche Inhalte gibt. Dennoch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass der Zusammenhang von Bild und Klang auf keinem ontologisch einheitlichen Fundament steht. Die Musik, gerade dann, wenn sie live gespielt wird, verleiht dem Film ein lebendiges, individuelles Moment, das als Ausdruck einer spontanen, auf die Bildstruktur sich beziehenden Handlung empfunden wird. Sie ergänzt das Filmschauspiel dadurch, dass sie ihm die durch die technische Bildaufzeichnung verlorengegangene Eigenschaft eines aus der aktuellen Situation heraus entstandenen Ausdrucks zurückgibt. Ohne Mitwirkung der Musik wäre das Filmschauspiel schon dadurch, dass es in die Domäne der konkreten Zeit eingreift, etwas in sich Verstümmeltes, etwas, dem die volle Realisierung einer Bestimmtheit fehlt, die es selbst in

109

54

Auf solchen Parallelen, beispielsweise auf der Analogie zwischen Melodieverlauf und Bildkontur beruht etwa das Prinzip der vertikalen Montage Eisensteins. Vgl. Sergej Eisenstein: Selected Works. 2. Towards a Theory of Montage, a. a. O.

3. Phänomenologie des Filmtons einer gewissen Potentialität in sich trägt bzw. von sich aus bestimmt, ohne sie aber durch seine eigenen, rein visuellen Mittel voll verkörpern zu können.110

Bezieht sich der Intentionalitätsbegriff bei Ingarden dennoch primär auf das Verhältnis zwischen Kunstwerk und seiner Aufführung, so ist auch eine andere Form der Intentionalität des Filmwerkes auszumachen. Sie ergibt sich dann, wenn man die Musik als einen integralen Bestandteil des Films begreift, in ihr eines der „Fundamente seines Scheins und Erscheinens“111 erkennt. Richten sich die Akte der Perzeption der musikalischen Schicht im Film nämlich gerade vorrangig nicht an die Erfassung der musikalischen Elemente selbst, so rufen sie eine bestimmte Möglichkeit der Wahrnehmung der gesamtästhetischen Struktur des Filmwerkes hervor. Die Musik trägt wesentlich dazu bei, die in der Struktur des Filmwerkes sich manifestierende Intentionalität zu erfassen. Sie ermöglicht die Bewusstwerdung der intentionalen Akte nicht nur beim Zuschauer, sondern auch derjenigen Intentionen, die sich innerhalb des filmischen Geschehens abspielen, die von den an der Filmhandlung beteiligten Personen oder von dem diese Handlung erzählenden und kommentierenden Subjekt ausgehen. Ingarden hat in seinen Ausführungen zum Film auf den „Schein der Wirklichkeit“ aufmerksam gemacht, der daraus entsteht, dass man die filmisch präsentierten Dinge und Personen als vom Zuschauer unabhängige, autonom agierende Elemente auffasst. Es treten vor ihm nicht bloß menschliche Körper, sondern Menschen auf, leibliche, mit psychischem Leben und seelischen Charaktereigenschaften ausgestattete Wesen. Er versteht ihre Gemütsbewegungen, ihre Sehnsucht und ihre Liebe oder ihren Haß und ihr Ressentiment. Er dringt in ihre Pläne und die Realisierung ihrer Erwartungen ein, er versteht bis zu einem gewissen Grade sogar ihre Vorstellungen und Gedanken. Er erfasst somit ihre Handlungen nicht bloß von außen her, sondern auch von innen, und begreift deren Sinn.112

110 111 112

Roman Ingarden: Untersuchungen zur Ontologie der Kunst (Der Film), a. a. O., S. 337. Ebd., S. 130. Ebd., S. 329.

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I. Musikalisches im Film Könnte man bezüglich dieser Ebene des filmischen Geschehens von einer „filmimmanenten Intentionalität“ sprechen, die gerade beim Tonfilm manifest wird, so ist die Musik daran genauso beteiligt wie auch am direkten Bezug des Zuschauers zum filmischen Objekt. War die Musik im Stummfilm als Teil der aktuellen Realität des Kinoraums nämlich quasi auf der Seite des Zuschauers – wenngleich sie gänzlich am Filmgeschehen partizipierte –, so bedeutete ihre Integration in die abstrakte Welt des Visuellen im Tonfilm nicht den Verlust, sondern eine Verschiebung des Moments der lebendigen Körperlichkeit des Musikalischen. Nicht an die realen Körper der Musiker, sondern an die imaginären Körper und Gegenstände des Films hängte sich nunmehr die Musik an. Sie verlor zwar ihren körperlichen Existenzmodus, der Film errang aber dadurch die Illusion einer plastischen Realität, eine Eigenschaft, die für viele Theoretiker des späten Stummfilms den Verlust des eigentlichen künstlerischen Sinns des Films markierte. Das Akustische vervollkommnet die Illusion so, dass sie komplett wird. Und sogleich ist auch der Bildrand kein Rahmen mehr, sondern die Begrenzung eines Loches, eines Theaterraums: – der Ton macht die Filmwand zur räumlichen Bühne. Nun liegt aber ein Haupt- und Sonderreiz des Films darin, dass eine Filmszene immer ein Wettstreit: Bildaufteilung und Bewegung in der Fläche contra plastischer Körper und Bewegung im Raum ist. Der Tonfilm hebt dies ästhetisch wichtige Doppelspiel fast restlos auf.113

Aufschlussreich an dieser Bemerkung Arnheims ist, dass die nunmehr aufgezeichnete leibliche Bewegung des Tones und der Musik im Raum des Tonfilmes nicht dem Schicksal der fotografierten leib­lichen Bewegung allgemein folgt und in die zweidimensionale Räumlichkeit des Films integriert wird, sondern dass sie trotz ihrer mechanischen Reproduktion ihre Plastizität beibehält, sogar in der Lage ist, das Zweidimensionale des filmischen Bildes zu verräumlichen, folglich den Realitätseindruck des Films zu vervollkommnen. Wurde in der Dialektik zwischen flachem Bild und realem körperlichen Ton gerade das Kunstvolle im Stummfilm in den Vordergrund gerückt, so dass gewissermaßen die Existenz unterschiedlicher Schichten des Filmwerkes für eine künstlerische 113

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Rudolf Arnheim: Der tönende Film, in: Die Weltbühne, Nr. 42 (1928), zit. nach: T. Elsaesser, M. Hagener: Filmtheorie zur Einführung, a. a. O., S. 169.

3. Phänomenologie des Filmtons Verwertung der Distanz zwischen den Zuschauern/Musikern und den visuellen Objekten geschaffen wurde, so folgt dem Verlust dieses ontologischen Doppeltstatus im Tonfilm eine – um einen Adorn’schen Begriff in einem neuen Kontext zu verwenden – „Pseudomorphose“114 des filmischen Objekts an die außerfilmische Realität. Nicht die künstlerisch wertvolle Antithese von lebendiger Subjektivität und räumlicher ­Abstraktion, sondern eine äußerliche Mimesis des Lebendigen durch mechanisch hervorgebrachte Töne und Bilder steht hier im Vordergrund filmischer Arbeit. Im Versuch, den filmischen Raum in diesem Zusammenhang von anderen Räumen, so etwa des Theaters, abzugrenzen, benennt der Literaturtheoretiker Jan Mukařovský eine wesentliche Komponente des Klangs im Film, die uns weiterhelfen wird, das ästhetische Fundament der filmischen Klangschicht zu bestimmen. Für Mukařovský fungiert der Klang neben zwei anderen filmischen Verfahren, nämlich dem Einstellungswechsel und der Großaufnahme, als wichtiger raumkonstituierender Faktor. Wir sehen ein Bild und hören einen Ton, dessen Quelle wir aber keineswegs im Bild, sondern irgendwo außerhalb des Bildes lokalisieren müssen. Wir sehen z. B. das Gesicht einer Person und hören eine Stimme, die nicht die der Person auf dem Bild ist; oder wir sehen die Beine tanzender Menschen und hören gleichzeitig ihre Stimmen; oder es zieht auf dem Bild eine aus einer fahrenden Kutsche gesehene Straße vorbei – die Kutsche selbst bleibt unsichtbar – und wir hören gleichzeitig das Getrappel der Kutschenpferde usw. Hierdurch entsteht das Bewusstsein eines Raumes „zwischen“ Bild und Ton.115

Die Feststellung der „außerbildlichen Lokalisierung“ des Tons als eines Grund­ elements der Konstituierbarkeit des spezifischen filmischen Raumes liefert einen wichtigen Hinweis im Hinblick auf die Bestimmung des Ortes des Klangs im Film. Es ist gerade die charakteristische Eigenschaft des Klangs, nicht nur ein ­„Etwas“ mit besonderen Strukturmerkmalen im Raum, das uns gegenübertritt, 114

115

Dieser Begriff bezeichnet ursprünglich den Versuch der Musik, etwa Strawinskys, die ästhetische Wahrnehmungsstruktur des Visuellen nachzuahmen. Vgl. Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, a. a. O., S. 174. Jan Mukařovský: Zur Ästhetik des Films (1933), in: W. Beilenhoff (Hg.): Poetika Kino, a. a. O., S. 358.

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I. Musikalisches im Film zu sein, sondern gleichzeitig, etwas „in uns“, ein Phänomen, das sich von der äußeren Realität verselbständigen kann, uns dabei aber mit der Welt verbindet, eine Beziehung zur Welt herstellt. Der Klang im Film lässt die Gegenstände (wie das Beispiel Mukařovskýs zeigt) erst als Korrelate eines „Hörbewusstseins“ zutage treten: Die Pferdegeräusche setzen die sichtbare Welt in Beziehung zu uns als die in einer Kutsche Fahrenden. Sie lassen das „Wie“, nämlich die Umstände, in der die Welt erfahren wird, erblicken, schaffen einen akustischen Selbstbezug als Bedingung der Auseinandersetzung mit der Welt. Obwohl die Pferdegeräusche nicht „uns“ gehören, so werden sie doch als eine Fremdheit quasi am eigenen Leib erfahren. Die Geräusche weisen auf den eigenen Leib in der Kutsche hin. Der Ton verhält sich ambivalent zum Körper, einerseits indem er die Körperlichkeit des Bildes prägt, andererseits indem er sich in Distanz zum visuellen Körper befindet. „Der Ton verleiht dem Film einen ,Körper‘, nämlich eine dritte Dimension […], aber er bedroht auf der anderen Seite auch die Integrität des Körpers […]“.116 Die im Stummfilm realiter bewahrte, im Tonfilm zum Teil aufgehobene Distanz zwischen Bild und Ton stellt sich aus vielerlei Gründen als grundlegende Eigenschaft im Verhältnis der beiden Medien im Film heraus. Sie bildet die Voraussetzung für eine körperliche Filmwahrnehmung, die das filmische Objekt nicht nur einschichtig aus einer externen Beobachterposition, sondern in einem Wechselverhältnis zwischen einer auf sich selbst, nämlich auf den Zuschauer als wahrnehmendem Leib gerichteten Innen- und einer Außenerfahrung erfasst. Die „anthropologische“ Struktur der Wahrnehmung, durch den Ton „eine dreidimensionale Orientierung und vor allem eine Rundum-Sicherheit zu ermöglichen“117, durch das Bild dagegen das entfernte Zielobjekt festzumachen, spiegelt sich auf diese Weise in der ästhetischen Filmwahrnehmung wider. Will man die Wahrnehmung im Film weiterhin auf ihre phänomenologischen Voraussetzungen in der Sinneserfahrung zurückführen, so wäre von der einheitlichen Struktur des (ästhetischen) Wahrnehmungsgegenstandes auszugehen. 116 117

58

T. Elsaesser, M. Hagener: Filmtheorie zur Einführung, a. a. O., S. 172. Mirjam Schaub: Bilder aus dem Off. Zum philosophischen Stand der Kinotheorie, Weimar 2003, S. 76. Vgl. dazu auch: T. Elsaesser, M. Hagener: Filmtheorie zur Einführung, a. a. O., S. 165.

3. Phänomenologie des Filmtons Der intersensorische Gegenstand verhält sich zum Sehgegenstand wie dieser zu den monokularen Bildern der Diplopie, die Sinne kommunizieren miteinander in der Wahrnehmung, wie beide Augen im Sehen zusammenwirken. Das Sehen von Tönen, das Hören von Farben kommt zustande wie die Einheit des Blicks durch beide Augen: dadurch, dass der Leib nicht eine Summe nebeneinander gesetzter Organe, sondern ein synergisches System ist, dessen sämtliche Funktionen übernommen und verbunden sind in der umfassenden Bewegung des Zur-Welt-Seins, dadurch, dass er die geronnene Gestalt der Existenz selbst ist. Das Fundament der Einheit der Sinne ist die Bewegung, nicht die objektive Bewegung und die Ortsveränderung, sondern der Bewegungsentwurf oder die „virtuelle Bewegung“.118

Was Merleau-Ponty als „virtuelle Bewegung“ bezeichnet, ist nichts anderes als der Akt des Entstehens des synästhetischen einheitlichen Gegenstandes in ­Abhängigkeit zum Leibsubjekt. Demnach ist der Bewegung eine „prospektive Aktivität“ eigen, eine Differenz zwischen einem Sehhorizont und dem anschließenden Fixieren. Was das Verhältnis dieser Differenz verbindet, ist in einer „Gestik“ erfahrbar, ist ein „gewisser Stil der Bewegungen“119. Merleau-Ponty kommt einer Analogie zwischen Leib und Kunstwerk auf die Spur. Wie der Leib so auch das Kunstwerk zunächst nicht aufgrund eines „Konstruktionsgesetzes“ oder als Produkt einer Erkenntnisleistung zu erfassen sind, so verwirklichen sich beide beim Durchlaufen von „Existenzmodulationen“, von Prozessen, in denen die Wechselwirkung der einzelnen Glieder erprobt wird und es sukzessiv zur Ausbildung einheitlicher synthetischer Strukturen kommt, die die Physiognomie, das Wesen des Leibes und des Kunstwerkes, erscheinen lassen. Ein Roman, ein Gedicht, ein Bild, ein Musikstück sind Individuen, das heißt Wesen, in denen Ausdruck und Ausgedrücktes nicht zu unterscheiden sind, deren Sinn nur in unmittelbarem Kontakt zugänglich ist und die ihre Bedeutung ausstrahlen, ohne ihren zeitlich-räumlichen Ort zu verlassen. In

118

119

Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1974, S. 273 f. Vgl. dazu auch: Heinz Paetzold: Ästhetik der Neueren Moderne. Sinnlichkeit und Reflexion in der konzeptionellen Kunst der ­Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 27. Ebd.

59

I. Musikalisches im Film diesem Sinne ist unser Leib dem Kunstwerk vergleichbar. Er ist ein Knotenpunkt lebendiger Bedeutungen, nicht das Gesetz einer bestimmten Anzahl miteinander variabler Koeffizienten.120

Wie eng die Leiblichkeit und das Kunstwerk miteinander verflochten sind, zeigt der Philosoph an folgendem Beispiel: Die musikalische Bedeutung einer Sonate ist unablöslich von den sie tragenden Tönen: ehe wir sie nicht gehört, lässt keine Analyse sie uns erraten; haben wir die Sonate einmal spielen können, so sind wir zu keiner intellektuellen Analyse des Werkes mehr imstande, die sich nicht auf diese Erfahrung zurückbezöge; während des Spielens selbst sind die Töne nicht „Zeichen“ des Werkes, sondern nur durch die Töne selbst ist die Sonate da, sie „steigt in sie herab“.121

Würde man die Analogie Merleau-Pontys auf den Film122 und auf die Unterscheidung des filmischen Raumes zwischen einem unmittelbar Darstellbaren und einem aus den Bewegungen herauslösbaren „Bewegtsein“, das die „Essenz“123 dieser Bewegungen bildet – eine Trennung, die nach Jean Epstein für das Verhältnis der unterschiedlichen Perspektiven zum visuellen Gegenstand in der kubistischen ­Malerei charakteristisch ist124 –, übertragen, so wäre die akustische Sphäre des Films dadurch zu orten, dass man sie in Beziehung zu diesen beiden Seiten des filmischen Raumes setzt: Geräusche und Stimmen, beides akustische Phänomene, die an den Bewegungsträgern haften; auf der anderen Seite die Musik, eine nicht-körperliche, invisible, aber den „äußeren“ Bewegungen zugrunde liegende „innere“ Bewegung. Das tonlich-leibliche Subjekt ist auf diese Weise gleichzeitig konstituierendes und konstituiertes Subjekt: Der

120 121 122

123 124

60

Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., S. 181 f. Ebd., S. 217. Die Verbindung zwischen Film und Körper findet sich auch bei Rudolf Harms wieder. Für ihn löst der Film „Bewegungsgefühle“ aus und lässt Bewegung als „Mitbewegtheit“ erleben. Vgl: Rudolf Harms: Philosophie des Films, zit. nach: Birgit Recki: Film. Die Suggestionskraft des Mediums, in: Carl Friedrich Gethmann (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft, Hamburg 2011, S. 635. Gilles Deleuze: Das Bewegungsbild, a. a. O., S. 41. Jean Epstein: Écrits sur le Cinéma, Bd. 1, Paris 1974, zit. nach: ebd., S. 42.

3. Phänomenologie des Filmtons Ton, aber auch die Musik prägen die filmische Atmosphäre, gleichzeitig, reagieren sie auf die visuellen Ereignisse, werden durch sie beeinflusst bzw. durch ihre Erscheinung anders wahrgenommen. Über den tonlichen Leib und – vermittelt durch den diegetischen Ton – im ständigen Kontakt zum filmischen Bild findet so eine Kommunikation mit dem visuellen Milieu statt. Es ergibt sich eine Auflösung der Dualität von Aktion und Passivität, der zufolge man stets zwischen einem aktiven Subjekt und einem passiven Objekt differenzieren müsste. Der Ton unterliegt gerade durch seine Doppelexistenz als diegetischer und nichtdiegetischer Ton nicht nur der subjektiven Selbstbestimmung (durch die Musik), sondern ist ebenso der Eigengesetzlichkeit der Welt unterworfen (durch den diegetischen Klang). Die durch den diegetischen Ton vermittelte, vom visuellen Milieu ausgehende Aufforderung lässt eine tonliche Sphäre entstehen, die noch vor der Ausbildung subjektiver Intentionen spontan auf dieses Milieu reagiert und es gleichzeitig mitprägt. Dem Umstand, dass der Ton als Umschlagstelle zwischen den Polen des musikalisch Subjektiven und visuell Objektiven zu bewerten ist, wäre folglich eine wichtige Bedeutung zuzumessen.

3.1.1 Geste Noch vor der Einführung des Tonfilms und zwanzig Jahre vor der Phänomenologie der Wahrnehmung Merleau-Pontys hebt Béla Balázs das Mienenspiel und die Gestik als zentrale Parameter der Filmsprache hervor. Es ist nicht verwunderlich, dass der Körper und nicht die – in der neuen Kunstform noch weitgehend abwesende – Sprache die Hauptrolle seiner Filmästhetik bildet. Der Film wird anders als das Theater nicht als eine Kunst betrachtet, die das Bild, die Mimik und Gestik der Schauspieler als Beiwerk, als Mittel zur Ausdruckssteigerung des Wortinhalts einsetzt. In einer Auffassung, die die Phänomenologie MerleauPontys antizipiert, wird der Körper im Film als fähig dazu angesehen, durch den gestischen Ausdruck selbst eine künstlerische Qualität zu entfesseln. Dass die Geste einen selbständigen Ausdruckswert besitzt, hat Vilém Flusser formuliert. „Die Geste ist eine Bewegung des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeugs, für die es keine zufriedenstellende kausale Erklärung gibt.“125 ­Wesentliches Merkmal der Geste für Flusser ist ihr symbolischer Charakter, der

125

Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt/M. 1994, S. 8.

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I. Musikalisches im Film sie von anderen körperlichen Erscheinungen, so z. B. von der automatischen Reaktion auf einen Schmerz unterscheidet. Indem er das Wort „Gestimmtheit“ als „die symbolische Darstellung von Stimmungen durch Gesten“126 definiert, macht er auch auf den ästhetischen Charakter der Geste aufmerksam. „Die ­Gestimmtheit […] stellt formale, ästhetische Probleme. Die Gestimmtheit löst die Stimmungen aus ihrem ursprünglichen Kontext heraus und lässt sie ästhetisch (formal) werden – in Form von Gesten. Sie werden künstlich.“127 Die Beobachtungen Flussers zur Geste lassen den Bezug des Gestenbegriffs, so auch der visuellen Geste des Stummfilms, zum musikalischen Ausdruck erahnen. Beide sind dazu fähig in ihrer Ganzheit stets mehr auszudrücken als die Addition ihrer einzelnen Momente. Sie sind dazu imstande, in aller Deutlichkeit Sachverhalte zu äußern, die Begriffe niemals bezeichnen könnten. Wie ­später Merleau-Ponty unterstützt auch Balázs die These von einer spezifisch gestischen Sprache, die nicht ableitbar ist vom Wort, keine Übersetzung der wörtlichen Sprache, sondern ein genuin körperlicher Ausdruck des Geistes ist. […] der Mensch der visuellen Kultur […] denkt nicht an Worte, deren Silben er, Morsezeichen vergleichbar, in die Luft schreibt. Seine Gesten bedeuten Begriffe und Empfindungen, die durch Worte überhaupt nicht ausgedrückt werden können. Sie stellen innere Erlebnisse dar (nicht rationale Gedanken), die auch dann unausgesprochen geblieben wären, wenn der Mensch alles, was mit Worten und Begriffen nicht erreicht werden kann, bereits gesagt hätte. Was hier ausgedrückt werden soll, liegt tief in einer Schicht der Seele, die von Worten und Begriffen nicht erreicht werden kann, ähnlich wie ja unsere musikalischen Erlebnisse nicht in rationale Begriffe eingefangen werden können.128

Es ist nicht selten, dass dabei der Vergleich der Gestik mit der Musik heran­ gezogen wird. Der Gesichtsausdruck ist überhaupt polyphoner als die Sprache. Das Nacheinander der Worte ist wie das Nacheinander der Töne einer Melodie. Doch in einem Gesicht können die verschiedensten Dinge gleichzeitig erscheinen 126 127 128

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Ebd., S. 12. Ebd., S. 14. Béla Balázs: Der sichtbare Mensch, a. a. O., S. 29.

3. Phänomenologie des Filmtons wie in einem Akkord, und das Verhältnis dieser verschiedenen Züge zueinander ergibt die reichsten Harmonien und Modulationen. Das sind die Gefühlsakkorde, deren Wesen eben in der Gleichzeitigkeit besteht.129

Im gleichen Sinne wie Merleau-Pontys Begriff der virtuellen Bewegung bedeutet die Gestik mehr als nur die Schicht akustischer oder visueller Formulierung sprachlicher Äußerungen, sie umfasst die Veranschaulichung seelischer Vorgänge, die unmittelbar und begriffslos sind. Gerade im Stummfilm, wo das Fehlen von Sprache eine Bedeutungshierarchie zwischen dem sprechenden Menschen und der relativ stummen Umgebung gar nicht erst aufkommen lässt, wo selbst die Dinge einen ähnlichen Ausdruckswert besitzen wie die lebendigen Gestalten, so dass selbst Maschinen „ein Gesicht“130 bekommen, erhält das quasi musikalische Moment der Gestik und Mimik, das sich als Ausdruck der inneren Bewegung zeigt, eine dominierende Funktion. Jede Sprache hat ein musikalisches Element und jedes Wort seine Melodie. Doch diese Melodie der Sprache – obwohl im Akustischen der wirklichen Musik ähnlich – bedeutet keine innere Musik. Sie trägt die Atmosphäre der Begriffe und dient zu rationeller Nuancierung. Musik ist aber nicht nur eine akustische Angelegenheit, sondern ein eigenes Gebiet der Seele. Miene und Gebärde sind auch nicht nur eine optische Angelegenheit.131

Balázs plädiert für die Wiederentdeckung einer Kultur des Körpers. Die Filmkunst – wohlgemerkt in Zeiten des Stummfilms – sei dazu in der Lage, „den Weg vom abstrakten Geist zum sichtbaren Körper“132 zu vollziehen, wieder – wie zu Zeiten der antiken griechischen Plastik – die historisch als „letztes Resultat der Kulturentwicklung“133 charakteristische Wende zur „ersten internationalen Sprache“ der Mienen und Gebärden zu realisieren. Der durch den Begriff der Geste sich manifestierende direkte Bezug zwischen der Musik und dem Film lässt sich im Stummfilm, so auch in den Filmen 129 130 131 132 133

Ebd., S. 45. Béla Balázs: Der Geist des Films, a. a. O., S. 220. Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt/M. 2001, S. 33 f. Ebd., S. 21. Ebd.

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I. Musikalisches im Film Charlie Chaplins eindrucksvoll beobachten. Eingebettet in den persönlichen Konflikt zwischen dem Impetus gesellschaftlicher Anerkennung und tatsäch­ licher Unterlegenheit als Bettler, so im Film „City Lights“, bestimmt sich die Gestensprache Chaplins im Wechselspiel gesellschaftlicher und individueller Ausdrucksgesten. Das die gesellschaftlichen Gesten verbindende emotionale Merkmal ist das Gefühl von Selbstsicherheit und Überlegenheit, wohingegen die expressiven Gesten von Chaplin als Bettler sich um den emotionalen Komplex von Minderwertigkeit gruppieren.134

Bildet die Reibung zwischen den beiden Arten von Gesten eine wichtige Quelle des Humorvollen in seinen Filmen, so wird dieser Konflikt auch in der Musik bzw. zwischen Musik und visueller Geste ausgetragen. Der Widerspruch zwischen der Landeshymne und dem grotesken Aussehen des Bettlers am gerade eingeweihten Denkmal zu Beginn des Films oder die Salonmusik zu einem auf dem rutschigen Boden sich fast tänzerisch Halt verschaffenden Chaplin, wenn er in Begleitung des gerade geretteten betrunkenen Millionärs ins Café eintritt, illustrieren in kontrapunktischer Weise das Verhältnis von Bild und Musik bzw. von visueller und musikalischer Geste. Werden darüber hinaus auch die visuellen Gesten ins Musikalische übersetzt, so dass sich beispielsweise witzige musikalische Mickey-Mousing-Effekte mit musikalischen Einlagen abwechseln, wird deutlich, dass die Musik ein grundlegender Faktor des die Filme Chaplins dominierenden Gestenspiels ist. Auf ein direktes Verhältnis zwischen Musik und Geste hat Theodor W. ­Adorno explizit hingewiesen, wobei er das Vorbild einer auf das Gestische sich festlegenden Musik bei Richard Wagner findet. Ließen sich beim Opernkomponisten einige Voraussetzungen der Synthese von visueller Inszenierung und Musik, die später im Film umgesetzt wurden, registrieren (die Bedeutung des Leitmotivs im Bereich der Filmmusik ist dabei nur ein zu überdeutliches Zeichen), so sind diese nach Adorno durch die Distanzierung von den Kategorien der immanent musikalischen Logik zugunsten eines rein gestischen Prinzips in der Musik Wagners begründet. 134

64

Jan Mukařovský: Versuch einer Strukturanalyse des Schauspielerischen (Chaplin in City Lights), in: W. Beilenhoff (Hg.): Poetika Kino, a. a. O., S. 348.

3. Phänomenologie des Filmtons Mängel der technisch-kompositorischen Gestaltung rühren bei ihm durchwegs daher, dass die musikalische Logik, die vom Material seiner Zeit allenthalben vorausgesetzt wird, aufgeweicht ist und durch eine Art von Gestikulieren ersetzt, etwa wie Agitatoren durch Sprachgesten die diskursive Entwicklung der Gedanken ersetzen. Gewiß weist alle Musik auf dies Gestische zurück und bewahrt es in sich. Im Abendland jedoch hat sie es zum Ausdruck vergeistigt und verinnerlicht.135

Erscheint das Gestische bei Wagner also direkt und nicht mehr in den Kontext formaler Relationsprinzipien eingebettet, so heißt es weiterhin in negativem Ton bei Adorno: „Die Wagnerschen Gesten sind immer schon Übertragungen von Verhaltensweisen des imaginierten Publikums, von Volks­gemurmel, Beifall, Triumph der Selbstbestätigung, Wogen der Begeisterung, auf die Bühne.“136 Mit dem Vorwurf der Verdinglichung und damit zusammenhängend des ­Warencharakters137 bewertet ­Adorno den „archaischen“ Charakter der Geste in der Musik Wagners, die sich dem Zeitkontinuum nicht fügen kann, sondern als „auswendiger“, beinah gewalttätiger Akt sich gegen den freien subjektiven Ausdruck behauptet. Vielleicht noch interessanter in Zusammenhang mit der Kunst des Films als die Kritik an Wagner ist folgende Äußerung Adornos zur Geste: Das konkrete Einheitsmoment von Musik und Film liegt in der Gestik. Es bezieht sich nicht auf Bewegung oder „Rhythmus“ des Films an sich, sondern auf die fotografierten Bewegungen und allenfalls auf deren Reflexion in der Form des Films selber. Es ist aber weit weniger ihr Sinn, diese Bewegung „auszudrücken“ – das ist der von Einfühlungslehre und Gesamtkunstwerk

135 136 137

Theodor W. Adorno: Versuch über Wagner, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 13 (Hg. Rolf Tiedemann), Frankfurt/M. 1971, S. 32. Ebd., S. 33. „Wagners Opern tendieren zum Blendwerk, wie Schopenhauer die Außenseite der schlechten Ware nennt: zur Phantasmagorie.“ Ebd., S. 82. Adorno erkennt offenbar bereits bei Wagner Eigenschaften, so den ausgeprägten – im Begriff der Phantasmagorie mitgemeinten – „Scheincharakter“ seiner Werke, die später seine Kritik gegenüber dem Film begründen. Vgl. Theodor W. Adorno: Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug, in: ders: Kritik der Aufklärung. Gesammelte Schriften Bd. 3, Frankfurt/M. 1981, S. 141 ff.

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I. Musikalisches im Film inspirierte Irrtum Eisensteins – als die Bewegung auszulösen oder genauer gesprochen, sie zu rechtfertigen.138

Kommt bei Adorno die bereits bei Merleau-Ponty festgestellte Eigenschaft der „prospektiven Aktivität“139 der Geste zum Vorschein, wonach sich darin nicht nur die aktuelle, sondern auch die „virtuelle“ Daseinsweise der Bewegung manifestiert, so werden beim deutschen Philosophen die Umstände der „Motivation“ oder „Rechtfertigung“ von Bewegung berührt, die uns wieder auf den Ergänzungsbegriff140 verweisen. Nicht der Ausdruck von Bewegung ist die ­eigentliche Funktion der Musik im Film. Die Musik soll entgegen der Eisen­ stein’schen Vorstellung einer Analogie von Klang und Bild im Konzept der „vertikalen Montage“141 nicht das wiedergeben, was bereits im Bild sichtbar ist, sondern das visuell Auszudrückende innerlich vorbereiten, den körperlichen inneren Impuls für die sichtbare Bewegung geben. Im Sinne Hanslicks hinsichtlich der Frage, was die Musik von den Gefühlen explizieren kann, wäre nach Adorno zu behaupten, dass die Musik im Film das körperliche Gefühl bzw. das „Dynamische“ desselben erzeugt, die „Bewegung eines psychischen Vorganges nach den Momenten: schnell, langsam, stark, schwach, steigernd, fallend“ nachbildet, dadurch den inneren Bewegungsvorgang materialisiert, der das filmische Bild antizipiert.142 Wie durch die Gestik, so wird auch durch die Musik der wirkliche emotionale Zustand als Bewegungsstruktur nur erahnt bzw. von ihr abgeleitet. In dem Maße, wie ein Mensch gelernt hat, den emotionalen Zustand eines Gegenübers aus dessen sprachlichen und motorischen Gesten abzuleiten, in dem Maße wird er auch in der Lage sein, etwas diesen Gesten Analoges in die Musik hineinzuprojizieren, es dort wiederzufinden, es als diesen oder jenen Ausdruck zu interpretieren.143 138 139 140 141 142 143

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Theodor W. Adorno: Komposition für den Film, a. a. O., S. 77. Siehe weiter oben, Kap. I.3.1. Siehe weiter oben, Kap. I.1.2. Vgl. Sergej Eisenstein: Selected Works. 2. Towards a Theory of Montage (Hg. Michael Glenny, Richard ­Taylor), a. a. O, S. 327–399. Vgl. Klaus-E. Behne (Hg.): Musik – Kommunikation oder Geste? Gefühl als Erlebnis – Ausdruck als Sinn (Musikpädagogische Forschung Bd. 3), Laaber 1982, S. 135. Ebd.

3. Phänomenologie des Filmtons In ähnlichem Duktus, jedoch nicht in Bezug auf die visuelle Bewegung, sondern auf die Wort-Geste-Problematik, zeigt sich eine Definition der Geste nicht nur als „Ergänzung“ des Wortes, sondern als sein „Soufflieren“. Für den Literaten und Filmtheoretiker Juri N. Tynjanov lässt sich gerade in Fällen, in denen Gestik und Mimik in Relation zum Wort gebracht werden, das Phänomen ­beobachten, dass der Körper die sprachliche Aussage durch seine Bewegung vorwegnimmt, dadurch sogar – so in Fällen, in denen eine „Pointe“ vorbereitet wird – als störendes Element fungiert, weil er die sprachliche Aussage obsolet macht. Tynjanov zitiert hierbei Heinrich Heine: „Die Muskeln des Gesichts sind in allzu heftiger, erregter Bewegung, und wer sie beobachtet, sieht die Gedanken des Redenden, ehe sie ausgesprochen sind. Dies ist witzigen Einfällen hinderlich.“144 Wäre die Analogie zwischen Musik im Film und Geste zum Wort insofern gegeben, als dass auch die Musik eine Vorahnung des dann ausgesprochenen Gedankens sein kann, so ließe sich hier ebenfalls zeigen, dass der Ton als Geste quasi zeitversetzt in Relation zur visuellen Geste im Bild agiert, sich als ein Griff aus der Gegenwart in die zu erwartende Zukunft zeigt. Vielleicht würde entsprechend den bereits festgestellten gegensätzlichen Seinsweisen (diegetischer und nicht-diegetischer) und Funktionen des Tons, nämlich einerseits für mehr Realismus zu sorgen und die Plastizität des Visuellen zu steigern, andererseits sich vom Bild zu lösen und eine zweite Existenzweise zu bilden, auch für die akustische Ebene des Films – wenngleich nicht unbedingt im Sinne ihrer historischen Entwicklung – das gelten, was für die Geste im Film seit der Stummfilmzeit charakteristisch war: Zielt sie [die Geste] in letzterem [im narrativen Kino] vor allem darauf ab, dem Verhalten oder den Gefühlen der Figur Authentizität, Natürlichkeit oder Glaubwürdigkeit in der jeweiligen narrativen Situation zu verleihen, hat sie in der Frühzeit die Aufgabe, je nach Kontext eine Situation, eine ­Intention, eine Reaktion oder eine Emotion für den Betrachter eindeutig zu charakterisieren. Dabei kann sie immer noch narrativ funktional sein, doch gleichsam auf einer Art Metaniveau: Einerseits ereignet sie sich zwangsläufig

144

Heinrich Heine: „Englische Fragmente“, Kap. 8 („Die Oppositionsparteien“) zit. nach: J. N. Tynjanov: Über die Grundlagen des Films, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films, a. a. O., S. 159.

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I. Musikalisches im Film innerhalb des jeweiligen diegetischen Raums, wobei sie andererseits aber über diesen hinausweist, indem die Gestik den Zuschauern zugewandt ist und eher auf das Erleben der Figuren hindeutet, anstatt ihm in einer den Normen des realistischen Darstellungsstils entsprechenden Weise Ausdruck zu verleihen.145

Das im Stummfilm hervortretende Merkmal der Geste, individuelle Intentionen, Reaktionen oder Emotionen der Filmfiguren für den Betrachter deutlich zu machen, hängt mit einer zweiten grundlegenden Eigenschaft der ästhetischen Kategorie der Geste in ihrem Bezug zur tonlichen Schicht des Films zusammen. Der fragmentarische, nicht auf Entwicklung ausgerichtete, konzentrierte Charakter der Geste entspricht zumindest dann, wenn die Musik oder der Ton nicht – wie oft im Stummfilm – lediglich die Funktion eines Klang­ teppichs erfüllt, sondern konkrete Bezüge zum Visuellen und zur Narration des Films herstellt, einem zentralen Strukturmerkmal des Filmisch-Musikalischen. Eine solche Auffassung spielt für die vom Gestusbegriff stark geprägte Kunst­ ästhetik Bertolt Brechts und Kurt Weills eine zentrale Rolle. Ihre Verwertung auf der Tonebene des Films beansprucht über die spezifisch Brecht’sche Ästhetik hinaus Geltung. Für Brecht ist die dialektische Struktur der Geste als zeitlicher Verlauf und gleichzeitig als beständige Ordnung eines ihrer Grundelemente. Diese Dialektik zwischen der Offenheit der Form und der Prägnanz einzelner Gebilde – eine Dialektik, die Widersprüche und Brüche zulässt und somit den Horizont des linearen Zeitkontinuums unterbricht – wird zum Merkmal der Geste, auch der musikalischen. Diese strenge rahmenhafte Geschlossenheit jedes Elements einer Haltung, die doch als ganze in lebendigem Fluss sich befindet, ist sogar eines der dialektischen Grundphänomene der Geste. Es ergibt sich daraus ein wichtiger Schluss: Gesten erhalten wir umso mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen. Für das epische Theater steht daher die Unterbrechung der Handlung im Vordergrunde […]. Der retardierende Charakter der Unter145

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Frank Kessler: Anmerkungen zur Geste im frühen Film, in: R. Görling, T. Skrandies, S.  Trinkhaus (Hg.): Geste: Bewegungen zwischen Film und Tanz, Bielefeld 2009, S. 79.

3. Phänomenologie des Filmtons brechung, der episodische Charakter der Umrahmung sind es, welche das gestische Theater zu einem epischen machen.146

Die Unterbrechung bzw. der fragmentarische Charakter des Kunstwerks ermöglicht einen nach ­Gesten strukturierenden dramatischen Verlauf, der sich dem realistischen Schein einer Kontinuität entzieht, dabei die nachdenkliche Fokussierung auf einzelne gehaltvolle Momente ermöglicht. Alle Elemente dieses Werks sind so aufeinander abgestimmt, dass sie die einzelnen formalen Einheiten klar voneinander trennen, Zeitintervalle kreieren, die zur Reflexion bewegen. Das epische Theater seinerseits rückt, den Bildern des Filmstreifens vergleichbar, in Stößen vor. Seine Grundform ist die des Choks, mit dem die wohlabgehobenen Situationen des Stücks aufeinandertreffen. Die Songs, die Beschriftungen im Bühnenbilde, die gestischen Konventionen der Spielenden heben die eine Situation von der anderen ab. So entstehen überall Intervalle, die die Illusion des Publikums eher beeinträchtigen. Diese Intervalle sind einer kritischen Stellungnahme, seinem Nachdenken reserviert.147

Auch die gestische Bedeutung der Musik entwickelt sich in Zusammenhang mit der Entstehung der neuen „epischen“ Theaterform, die sich grundsätzlich durch die Negation der zentralen Elemente des „dramatischen“ Theaters des 19. Jahrhunderts ausbilden sollte. Brecht drückt sein Unbehagen gegenüber einer szenischen Musik aus, die Dialoge untermalt und Stimmungen anregt. „Die Begleitmusik ist also eine Situationsmusik. Sie drückt sozusagen die Gefühle des Dramaturgen aus. Sein ,Ach, wie traurig!‘ und ,Ach, wie spannend!‘ wird in ­Musik gesetzt.“148 Ebenfalls in Bezug auf die szenische Rolle der Musik schreibt er: Wenn man zum Beispiel die Musik dafür einsetzen will und kann, seelische Vorgänge in den Menschen auszudrücken, dann braucht man allerhand ­keine Aktion mehr, die sonst den Zweck verfolgen könnte, die betreffenden 146 147 148

Walter Benjamin: Versuche über Brecht, Frankfurt/M. 1966, S. 9 f. Vgl. auch: Hans Martin Ritter: Das gestische Prinzip, Köln 1986, S. 20. Walter Benjamin: Versuche über Brecht, Frankfurt/M. 1988, S. 50. Bertolt Brecht: Gesammelte Werke 15, Frankfurt/M.1967, S. 494. Vgl. auch: Hans Martin Ritter: Das gestische Prinzip, a. a. O., S. 79.

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I. Musikalisches im Film seelischen Vorgänge auszudrücken. Das Reifen eines Entschlusses zur Tat etwa kann dann in einem Mann pantomimisch dargestellt werden; das heißt, der Mann kann allein hin und her gezeigt werden, während die Musik die Darstellung seiner Gefühlskurve übernimmt. Je weniger Mimik der Darsteller produziert dabei, desto stärker wird die Wirkung vermutlich sein. In solch einer Szene tritt Musik vollkommen selbständig auf und leistet echte dramatische Beihilfe.149

Die Musik ersetzt für Brecht nicht nur die Gesten und Handlungen, die Ausdruck der inneren Dramatik der Personen sind, sondern auch deren Mimik. Nicht die pleonastische Verdopplung von Inhalten beim Einsatz der unterschiedlichen filmischen Mittel, sondern die Konzentration auf die Musik, die allein in der Lage ist, Gefühlsregungen und dramatische Situationen anzuregen, ist das Ziel der musikalischen Komposition. Dabei erfüllt nicht nur die Fokussierung auf ein einziges Ausdrucks­mittel, sondern auch die Verwendung gegensätzlicher Charaktere beim simultanen Einsatz von visuellen und klanglichen Elementen den Zweck einer sinnreichen Formulierung. Die Musik erhalte ­dabei ihre größte Autonomie. Nehmen wir eine andere Möglichkeit: Ein junger Mann rudert seine Geliebte auf den See hinaus, bringt den Nachen zum Kippen und lässt das Mädchen ertrinken. Der Musiker kann zweierlei tun. Er kann in seiner Begleitmusik die Gefühle des Mädchens antizipieren, auf Spannung hinarbeiten, die Finsternis der Tat ausmalen und so weiter. Er kann aber auch die Heiterkeit der Seelandschaft in seiner Musik ausdrücken, die Indifferenz der Natur, die Alltäglichkeit des Vorgangs, soweit er ein bloßer Ausflug ist. Wählt er diese Möglichkeit, so den Mord umso schrecklicher und unnatürlicher erscheinen lassend, teilt er der Musik eine weit selbständigere Aufgabe zu.150

Untersucht man den Begriff des Gestischen bei Brecht weiter, so zeigen sich die Konsequenzen seiner Ästhetik gerade im Bereich der Filmmusik deutlich. Zunächst scheint der Begriff der Geste im Theater Brechts seinen Ursprung im Stummfilm zu haben. „Die gestische Spielweise verdankt viel dem stummen

149 150

70

Ebd. Ebd., S. 81.

3. Phänomenologie des Filmtons Film, Elemente davon, wurden in die Schauspielkunst hineingenommen.“151 Für Walter Benjamin entsprechen die Brecht’schen Theaterformen „den neuen technischen Formen, dem Film, wie dem Rundfunk“.152 Zentrales Merkmal, das den Gestusbegriff mit der Filmmusik zusammenbringt, ist die Herstellung abgeschlossener gestischer Komplexe. Grundlegendes Element der Geste in der Musik wie auch in den anderen Komponenten (Aktion, Text und Bild) ist ihre intermittierende Funktion innerhalb eines kontinuierlichen Vorgangs. „Das epische Theater, meint Brecht, hat nicht so sehr Handlungen, sondern Zustände darzustellen.“153 Die Unterbrechung der Handlungen, die Bildung von in sich geschlossenen, vollendeten Bildern, von „Momentaufnahmen“, ist gerade dasjenige Element, das die spezifische Qualität der gestischen Musik ausmacht. Funktioniert Filmmusik gerade auch umgekehrt, nämlich indem sie durch ihren Einsatz nicht zur Ausbildung von in sich zusammenhängenden geschlossenen Einheiten beiträgt, sondern indem sie unterschiedliche Einstellungen verknüpft, so ist das für Brecht kein Widerspruch im Rahmen des epischen Prinzips. Angesichts des Primats der klaren Trennung der Elemente im „Gesamtkunstwerk“ Theater und Film kann gerade der vereinheitlichende Einsatz der Musik, insofern er einen deutlich markierten Grundgestus zum Ausdruck bringt und nicht psychologisierend wirkt, nämlich das „Moment der Betrachtung“ nicht im „Prozess des Erlebens“ auflöst154, zur angestrebten Dialektik zwischen den einzelnen filmischen Ereignissen beitragen. Die Musik wird, wie erwähnt, im Film häufig dafür eingesetzt, Willkürlichkeiten, Sprünge und Ungereimtheiten der Handlung zu „übertönen“. Es ist für Musiker leicht, eine gewisse artifizielle Logik zusammenzumusizieren, das heißt, das Gefühl von Schicksalhaftigkeit, Unentrinnbarkeit und so weiter zu erzeugen! Der Musiker liefert hier die Logik, wie gewisse Köche zu ihren Speisen Vitamintabletten liefern. Tatsächlich könnte die Fähigkeit der Musiker, die ihren Stücken innewohnende Logik des Aufbaus eines Materials durch einige Kunstgriffe heraustreten zu lassen und damit ­einen eigenen Spaß an Logik zu erzeugen, richtig eingesetzt, für den Film Bedeutung erlan151 152 153 154

Hans Martin Ritter: Das gestische Prinzip, a. a. O., S. 19. Walter Benjamin: Versuche über Brecht, a. a. O., S. 189. Hans Martin Ritter: Das gestische Prinzip, a. a. O., S. 20. Vgl. Bertolt Brecht: Gesammelte Werke 15, a. a. O., S. 249.

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I. Musikalisches im Film gen. Man kann durch solche Musik scheinbar unzusammenhängende Ereignisse binden, widersprüchliche Ereignisse in eine bestimmte Richtung dirigieren. Umgekehrt ausgedrückt: Der Filmschreiber kann, falls die Musik ihm das Publikum in die „Einzelheiten sammelnde“, konstruierende Haltung versetzt, den Gang der Ereignisse viel dialektischer, das heißt in ihrer wirklichen Widersprüchlichkeit und Sprunghaftigkeit schildern.155

Nicht nur Brecht, sondern auch Kurt Weill lässt den Gestus-Begriff mit der Musik verknüpfen.156 Weill sieht dabei konkrete Funktionen der Musik im Bereich des Gestischen. Sie kann den Gestus wiedergeben, der den Vorgang der Bühne veranschaulicht, sie kann sogar eine Art von Grundgestus schaffen, durch den sie dem Darsteller eine bestimmte Haltung vorschreibt, die jeden Zweifel und jedes Missverständnis über den betreffenden Vorgang ausschaltet, sie kann im idealen Falle diesen Gestus so stark fixieren, dass eine falsche Darstellung des betreffenden Vorgangs nicht mehr möglich ist.157

Weill stimmt mit der Ästhetik Brechts überein. Beide sehen das Zerlegen des Handlungszusammenhangs in seine einzelnen Grundgesten als Aufgabe der Musik im Film. Nur so trete ihre Funktion zutage, das Denken über die Wirklichkeit anzuregen. Da das Publikum ja nicht eingeladen werde, sich in die Fabel wie in einen Fluss zu werfen, um sich hierhin und dorthin unbestimmt treiben zu lassen, müssen die einzelnen Geschehnisse so verknüpft sein, dass die Knoten auffällig werden. Die Geschehnisse dürfen sich nicht unmerklich folgen, sondern man muss mit dem Urteil dazwischenkommen können.158

Die Musik dient also dazu, den Film nicht als Mimesis des Lebens, sondern als Erkenntnisakt zu erachten. Durch einen Vorgang, der etwa der Titelfindung für 155 156 157 158

72

Ebd., S. 83. Kurt Weill: Über den gestischen Charakter der Musik, in: Die Musik 21 (Jg. 1929), S. 419 ff. Kurt Weill: Ausgewählte Schriften, Frankfurt/M. 1975, S. 42. Vgl. auch: Hans Martin Ritter: Das gestische Prinzip, a. a. O., S. 71. Bertolt Brecht: Gesammelte Werke 16, Frankfurt/M. 1967, S. 694. Vgl. auch: Hans Martin Ritter: Das gestische Prinzip, a. a. O., S. 24.

3. Phänomenologie des Filmtons einzelne „Knoten“ des theatralischen Gesamtablaufes entspricht, lässt die Musik – im Rahmen eines Grundgestus, der die gesamte Komposition dominiert – einzelne sich widersprechende Gesten aufeinanderfolgen, die dialektisch die Wahrheit des Handlungszusammenhangs erraten lassen. Auch bei Weill erweist sich der fragmentarische Charakter der Geste als ein Grundprinzip, das die Wahrheit des Kunstwerkes zum Vorschein bringt, Kunst als Kritik an den wirklichen Lebensumständen fungieren lässt. Dass die Brecht’sche Ästhetik des Fragmentarischen auch außerhalb der eigenen Kunst Ausdruck findet, zeigt sich in der Filmkunst etwa am Beispiel der „Nouvelle Vague“ und speziell Jean-Luc G ­ odards. So ergibt sich das Gestische der Musik in seinem Film „Prénom Carmen“ aus den harten Schnitten der Musik, die wiederum durch die Handlung, nämlich durch den von sich aus fragmentarischen Charakter der Probe gerechtfertigt sind. Grundgestalt seiner Montage ist das Fragment. Um die Musik in seine Filme überhaupt integrieren zu können, muss Godard fragmentarische Klangstrukturen aber erst herstellen. Er tut dieses entweder gewaltsam durch harte, nicht musikimmanent motivierte Schnitte oder indem er die Musik in jenem Zustand vorführt, wo sie zwangsläufig unvollendet erklingt: bei der Probe.159

Doch die Bedeutung der Musik gerade in diesem Film beschränkt sich nicht auf einzelne gestische Fragmente. Ein von der Körperlichkeit der probenden Musiker ausgehender musikalischer „Gestus“ prägt eine filmische „Theatralisierung“160, die über die Handlung hinaus ihren Eigenwert behauptet. In Anlehnung an den Gestusbegriff Brechts zeigt Deleuze, wie die Verhaltensweisen der Filmfiguren in diesem Film nicht auf die Handlung, sondern auf einen „musikalischen Gestus“ verweisen, von ihm koordiniert werden. Im Prénom Carmen beziehen sich die Haltungen des Körpers fortwährend auf eine musikalische Geste, die jene unabhängig vom Verlauf der Geschichte aufeinander abstimmt, was die Haltungen aufhebt und in eine höhere Art von Beziehung zueinander stellt, aber zugleich all ihre Möglichkeiten frei-

159

160

Fred van der Kooij: Wo unter den Bildern sind die Klänge daheim? Das Orten der Tonspur in den Filmen von Jean-Luc Godard, in: A. Messerli, J. Osolin (Hg.): ­Cinema Jg. 37 (1991), S. 41. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 251.

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I. Musikalisches im Film setzt: Die Proben des Quartetts sind nicht darauf beschränkt, nur die Klangqualitäten des Bildes zu entwickeln und voranzutreiben, sondern auch die visuellen Qualitäten. In dem Sinn nämlich, dass die Kurve, die der Arm des Geigers beschreibt, die Bewegungen, die die Körper machen, während sie sich umarmen, verändert.161

Weisen die einzelnen Bewegungen des Körpers in diesem Film auf das Flüch­ tige, Ephemere und Fragmentarische hin, so konkretisiert die musikalisch-körperliche Geste keinen beliebigen einzelnen Moment, sondern bringt in einem „Zeitbild“, das das „Vorher und Nachher, die Erschöpfung und die Erwartung“162 vereint, die Potenzialität von Vorgängen und Handlungen zum Ausdruck. Die Musik bringt wie auch die Geste den „prägnanten Augenblick“ im „Nu“ einer Jetztzeit ins Zentrum. Benjamin führt das Beispiel163 eines plötzlich in das Zimmer einer sich zerstreitenden Familie eintretenden Fremden an, um die Bedeutung des „richtigen Augenblicks“ zu betonen, in dem die eigentliche Beziehungsstruktur der Familie, also die wahre Substanz der Szene, offenbart wird. Nicht als Handlung, sondern als Zustand wird die Situation erfahren, „verstörte Mienen, verwüstetes Mobiliar“ zeigen in einem Augenblick den Gestus der gesamten Szene. Ähnlich die Musik. Wie ein Fremder ist sie in der Lage, den Szenenablauf zu unterbrechen, dadurch den Gestus als die Situation, in der Menschen zueinander in Beziehung stehen, oder auch die allgemeine Stimmung dieser Menschen deutlich zu machen. Kann das Konstruktionsprinzip des Gestischen, das die Vorgänge auseinanderlegt, gestische Komplexe in ihre gegensätzliche Elemente auflöst und in der Gesamtkomposition aller gestischen Vorgänge neu zusammenfügt, mit der Technik der Montage verglichen werden  – von Brecht/Weill durch das Einmontieren von Songs in der „Dreigroschenoper“ und in „Mahagonny“ angewandt –, so fungiert die Filmmusik als Äußerung von „Gestus“, ein Terminus, der im Sinne Brechts und im Unterschied zu den Begriffen der Geste und Ges-

161 162 163

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Ebd. Vgl. dazu: Fred van der Kooj: Wo unter den Bildern sind die Klänge daheim?, in: A. Messerli, J. Osolin (Hg): Cinema Jg. 37, a. a. O., S. 41. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 244. Walter Benjamin zit. nach: Hans Martin Ritter: Das gestische Prinzip, a. a. O., S. 20 f.

3. Phänomenologie des Filmtons tik als „Komplex einzelner Gesten“ zu definieren ist.164 Nach Brecht lassen sich drei Aspekte des Gestus-Begriffs unterscheiden, wobei ihre Bedeutung über das epische Theater hinaus sehr wohl auch im Film erhalten bleibt: „1. Komplex von Gesten und Äußerungen, die Gesamthaltung aller an diesem Vorgang Beteiligten betreffend. 2. Komplex von Gesten und Äußerungen, bei einem einzelnen Menschen Vorgänge auslösend. 3. Komplex von Gesten und Äußerungen, die Grundhaltung eines einzelnen Menschen betreffend.165

Zieht man ein Beispiel von Filmmusik heran, das sicherlich keine Verwandtschaft mit der Ästhetik des epischen Kunstwerks aufweist, so die Musik zu Hitchcocks „Psycho“, bemerkt man, dass sich die Kategorisierung der Geste bei Brecht nicht auf die spezifische ästhetische Form des epischen Theaters beschränken, sondern allgemeiner gefasst werden muss. Die von Brecht definierten drei Kategorien des Gestusbegriffs lassen einen Einblick in wichtige Elemente des Einsatzes der Musik im Film zu. Das im Vorspann von „Psycho“ erklingende „Prelude“ prägt noch bevor ein einziges Bild gezeigt wird oder die Narration begonnen hat, den Grundgestus des Films. Der Komponist Bernard Herrmann selbst sagt über die Funktion der Vorspannmusik im Allgemeinen: „Musically, the prelude tells you what the whole film is about“.166 Es ist der Grundgestus der psychischen Spaltung, der durch die strukturelle Beschaffenheit des Motivs (harmonisch durch das Fehlen einer deutlichen Dur- oder Moll-Zugehörigkeit des sog. Hitchcock-Akkords als Mollakkord mit großer Septe vermittelt) markiert wird, das sich, obwohl es sich einzelnen Szenen des Films, hauptsächlich durch seinen energischen Rhythmus, teilweise anschmiegt und begleitend wirkt (Autofahrt Marions), durch seinen abgeschlossenen, wiedererkennbaren Charakter deutlich als Geste erweist. Die mit dieser auch musikalisch ausgedrückten Dissoziation gepaarte 164 165 166

Vgl. Bertolt Brecht: Gesammelte Werke 16, a. a. O., S. 753. Vgl. dazu auch: ebd., S. 22. Ebd. Bernard Herrmann: Vorlesung am National Film Theater am 11. Juni 1972. Zit. nach: Steven C. Smith.: A Heart at Fire’s Center. The Life and Music of Bernard Herrmann, Berkley, Los Angeles 1991, S. 79.

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I. Musikalisches im Film Ungewissheit über das zu Erwartende formiert den Gestus einer allgemeinen Ambivalenz des Denkens, Handelns und Fühlens bei Filmfiguren und Zuschauer, die im Sinne Brechts alle an der Filmhandlung Partizipierenden, dabei selbst die Zuschauer involviert. Beinhaltet das Prelude interessanterweise Strukturmerkmale, die die Keimstruktur weiterer musikalischer Narrationsmotive im Verlauf des Films prägen,167 so wird deutlich, dass die Musik des Prelude, ähnlich der Brecht’schen Gestusauffassung und ihrer „analytischen Qualität“, einen Grundgestus entwirft, der aus einer komplexen Erscheinung zwischenmenschlichen Handelns einzelne Phasen und Züge, […] Einzel- und Teilvorgänge, Gesten, mimische Äußerungen, Sätze, Tonfälle usw. heraus[löst], und ihnen eine spezifische Bedeutung innerhalb eines umfassenden Handlungszusammenhangs zu[schreibt].168

Wird im Prelude von „Psycho“ der allgemeine Gestus der psychischen Spaltung zum Ausdruck gebracht, so dient das Motiv des Erstechens als eine inhaltliche, aber auch musikalische Konkretisierung dieses Grundgestus. Die Dissonanzen der kleinen Sekunde (bzw. der großen Septime) in exponiert hoher Lage der Streicher in Kombination mit dem monotonen insistierenden Rhythmus fachen einen penetrierenden Gestus des Horrors an. Nicht als Ausdruck allgemeiner oder persönlicher emotionaler Befindlichkeit, sondern konkret mit dem Ermordungsakt verbunden, fungiert dieser einer einzelnen Person zugewiesene musikalische Gestus als ein einen bestimmten Vorgang auslösendes Motiv. Eine spezifische Form des Grundgestus der psychischen Dissoziation, die Persönlichkeitsspaltung des Mörders, erhält hier eine konkrete musikalische Präsenz, die sich aber nicht auf die Gesamthaltung der betreffenden Person, sondern auf den Wirkungszusammenhang zwischen der psychischen Störung und dem Vorgang des Mordens bezieht. Diese Beziehung äußert sich auch musikalisch, indem das Erstechungsmotiv sich vom Thema des Grundgestus ableitet.169 167

168 169

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Vgl. Stephen Husarik: Transformation of “The Psycho Theme” in Bernard Herr­ mann’s Music for Psycho (http://www.bernardherrmann.org/legacy/site/articles/ misc/transformation_of_the_psycho_theme/transformation_of_the_psycho_ theme.pdf ). Hans Martin Ritter: Das gestische Prinzip, a. a. O, S. 16. Vgl. Stephen Husarik: Transformation of “The Psycho Theme” in Bernard Herr­ mann’s Music for Psycho. a. a. O., S. 146 ff.

3. Phänomenologie des Filmtons Nicht mit einem konkreten Vorgang verknüpft, sondern die Befindlichkeit einer Person, in diesem Fall die Figur Marion betreffend, ist schließlich das vom Grundgestus abgelöste Motiv des gestohlenen Geldes. Der beunruhigende, zögerliche Charakter des Ostinato in Relation zum Klang alterierter Septakkorde weist einen hohen Spannungsgehalt auf, der sich deutlich auf den psychischen Konflikt Marions bezieht, nämlich den moralisch verwerflichen Akt des Geldstehlens, der aber gleichzeitig ihr Glück mit ihrem Verlobten sichern soll, zu vollziehen. Das dreimalige, jedes Mal in Tempo und Instrumentierung variierte Erklingen des Motivs im Film steht jeweils in konkretem Zusammenhang mit dem Bild des gestohlenen Geldkuverts, passt sich dabei der jeweiligen aktuellen Befindlichkeit Marions an, behält aber stets seine Physiognomie, die ihm einen klaren Gestuscharakter zuweist.

3.1.2 Geräusch Neben der musikalischen Geste kann auch das Geräusch im Zwischenraum zwischen der visuellen Objektivität des Filmes und seiner subjektiv „musikalischen“ Komponente verortet werden. Es wurde bereits darauf hingewiesen170, dass Balázs im „musikalischen“ Element der Montage die Emanzipation einer subjektiven Qualität von der filmischen Gegenstandsdarstellung gesehen hat. Wiewohl sich die Montage auf Gegenstände und Handlungen bezieht, ihr Ziel in ihrer adäquaten visuellen Artikulation findet, so gehört es eben zur Erreichung dieses Ziels, ein gewisses Maß an ästhetischer Autonomisierung aufzubringen. Eine adäquate filmische Darstellung impliziert die Emanzipation und Hervorhebung der vom „künstlerischen“ Subjekt ausgehenden, in der Montage ausgedrückten Intentionen, Intentionen, die vielfältiger Natur sind, sich auf die Klarheit und Deutlichkeit der Wahrnehmung, aber auch auf die Bildung von Urteilen sowie auf die Erfüllung von Wunschvorstellungen beziehen können. Verfolgt man die Ausführungen Balázs’ zum Film, so wäre die Einführung des Tons als ein weiteres Stadium dieser Emanzipation des subjektiven Montageprinzips zu bestimmen. Sein Stichwort hinsichtlich der Bedeutung der filmischen Mittel in ihrer Beziehung zu den gezeigten Gegenständen lautet auch hier „Ergänzung“: die Erweiterung der natürlichen Wirkung des gegenständlichen Bildes durch vorstellungsmäßige oder assoziative Tonmomente. 170

Vgl. weiter oben, Kap. I.

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I. Musikalisches im Film Balázs geht bei seinen Ausführungen zum Ton im Film von einer Perspektive der künstlerischen Umsetzung des Verhältnisses zwischen akustischen und visuellen Bildern aus, die über eine bloß ­akustische Wiedergabe des Visuellen hinaus eine „tiefere Bedeutung“171 für das Filmwerk impliziert. Ähnlichkeit, „akustische Ergänzung“, „asynchrone Montage“ und „synchrone Montage einer asynchronen Wirklichkeit“ sind einige der Möglichkeiten einer „inneren geistigen Verbindung“172 von Ton und Bild. Voll ausgeschöpft werden können diese Möglichkeiten nach Balázs dann, wenn es technisch umsetzbar wird, in Analogie zum Visuellen von Gegenständen einen „subjektiven“ Blick auf die „Tongegenstände“ offenzulegen, so dass Töne nicht nur hinsichtlich ihres gegenständlichen Hintergrunds, sondern auch als Korrelate einer mannigfaltige Formen annehmenden Ich-Zuwendung erfasst werden können. „Die Tonfilmkunst wird bald auch soweit sein, dass sie nicht einfach die Töne der Außenwelt reproduziert, sondern ihren Widerhall in uns darstellt. Akustische Impressionen, akustische Gefühle, akustische Gedanken.“173 Dass die Vision Balázs’ längst Realität geworden ist, dass in Zeiten des Sounddesign das Geräusch nunmehr weit entfernt davon ist, nur ein akustisches Abbild der realen Gegenständlichkeit zu sein, kann anhand jedes beliebigen aktuellen Films bestätigt werden. Nicht die Verdopplung des Visuellen durch die akustische Repräsentation der Bildinhalte, sondern eine „Dissoziation“ von Ton und Bild, eine „subjektivierte“ Erfahrung der auditiven Wirklichkeit prägt die Klangwelt des Films. Wie Barbara Flückiger in ihrer Studie zum „Sounddesign“174 belegt, beginnt bereits mit Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ und mit Alfred Hitchcocks „Blackmail“ eine Ära der zunehmenden Arbeit an einer expliziten Wirkung der klanglichen Ebene des Films, die zwar in den 30er und 40er Jahren in Stillstand gerät, dann aber zu einem allmählich stets signifikanter werdenden Teil des filmischen Schaffens wird. Unabhängig von rein akustischen Aspekten, die u. a. die Frage betreffen, ob in Analogie zur visuellen Ebene auch in der auditiven Schicht eine perspektivische, von der Setzung eines hypothetischen Subjekts ausgehende hierarchische 171 172 173 174

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Béla Balázs: Der Geist des Films, a. a. O., S. 170. Ebd., S. 168 ff. Ebd., S. 170. Barbara Flückiger: Sound Design: Die virtuelle Klangwelt des Films, a. a. O.

3. Phänomenologie des Filmtons Organisation eines „Blickpunkts“ (Point of View) konstitutiv werden kann, hat die Anwendung einer Reihe von Gestaltungsstrategien eine fokussierte, auf der Identität eines Wahrnehmungsbewusstseins basierende Geräuschartikulation zur Folge. Flückiger unterscheidet sechs Subjektivierungsstrategien, die ihre Grundlage in der Störung der als „natürlich“ empfundenen, „objektiven“ Beziehung zwischen Ton und Bild haben: Das „Verschwinden“ von Geräuschen, nämlich die entgegen der gewöhnlichen Erwartung eingesetzte Stille bei visuell dargestellten Geräuschquellen, fungiert als die häufigste Technik einer Abminderung des Realitätscharakters einer Szene. Die Modifikation der räumlichen und zeitlichen Charakteristika der Geräuschqualität bildet die Grundeigenschaft von drei weiteren Subjektivierungstechniken: die Erweiterung des akustischen Raumes durch die Einwirkung von Halleffekten, um beispielsweise Rückblendsituationen zu markieren, die Zeitlupe und die explizit als künstlerisches Mittel eingesetzte Hervorhebung einzelner Geräusche aus dem Zusammenhang durch Erhöhung ihrer Lautstärke sind Mittel, die das intermodale Geschehen aus einer gewählten individuellen Perspektive „erklingen“ lassen. Ein populäres und besonders effektives Mittel, das unmittelbar auf die Umkehrung der natürlichen Wahrnehmungssituation abzielt, bildet auch das Hörbarmachen der Eigen­ geräusche des Herzklopfens oder Atmens. Nicht das nach außen hin gerichtete Wahrnehmen, sondern die Bewusstwerdung des inneren Zustands, die beispielsweise auf physische oder psychische Anstrengung hinweisen kann, definiert hier den fokussierten Blick auf die Realität. Als letzte Möglichkeit einer nicht neutralen, nicht bloß abbildenden Funktionsweise des Geräusches thematisiert Flückiger die sog. „antinaturalistische Selektion“175. Als Oberbegriff für jede nicht konventionelle Aufbereitung der Tonspur, in der nicht das objektive Umfeld, sondern die intentionalen Akte einer entweder innerhalb oder auch außerhalb des Bildgeschehens sich befindlichen Person als Oberinstanz eines Selektionsprozesses aus der Fülle der möglichen Geräusche fungieren, dient auch dieses Mittel einem Vorgang des konzentrierten, perspektivisch orientierten filmischen „Hinhörens“. Dass Flückigers Kategorisierung erweitert werden kann, zeigt eine weitere Möglichkeit, das Geräusch von seiner Objektivität zu befreien, hier durch die 175

Ebd., S. 407.

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I. Musikalisches im Film quasi-musikalische Nachahmung seiner Klangfarbe durch Klanginstrumente wie den Synthesizer. In Filmen wie Hitchcocks „Die Vögel“ wird durch die synthetische Klangerzeugung das Geräusch von seiner ursprünglichen, die filmische Realität abbildenden Funktion befreit, „deterritorialisiert“176, so dass es näher an die nicht-diegetische Sphäre des Films rückt. „Alle elektronisch erzeugten Geräusche in ‚The Birds‘ haben eine Zwitterfunktion als Bestandteil der Handlung (Imitation von Flügelschlagen, Kreischen etc. der Vögel) und als soundtrack (Interpretation, Suggestion, Animation).“177 Kann die von Flückiger kategorisierte Verselbständigung also auch der subjektiv-„musikalischen“ Schicht des Tones als eine der Grundlagen für die Realisation einer auf Ergänzung und nicht auf Wiederholung basierten Bild-Ton-Beziehung aufgefasst werden, so liegt es nahe, darin auch die Funktion der „Begleitmusik“, Musik als „Ergänzung“ des Geräusches und folglich auch des Bildes zu sehen. So lässt der „ungegenständliche“ Charakter der Musik für Balázs eine Ergänzung des Bildes nur dann eintreten, wenn die Geräuschwelt als Vermittler fungiert, durch ihre Nähe zu den dargestellten Gegenständen die Basis für ihr Erleben in der inneren Bewusstseinssphäre bildet. „Beim Tonfilm wird eine ganz abstrakte Begleitmusik, soweit sie überhaupt noch vorkommen wird, ganz unmöglich sein. Denn die Geräusche schaffen gleichsam ein verbindendes Medium zwischen dem Bild der Wirklichkeit und der Musik und assimilieren sie.“178 Wenngleich Balázs’ ästhetische Prämisse allgemein an die historisch nicht exakt datierbare Idee des musikalisierten Geräusches anknüpft (der Gedanke einer musikalischen Nachahmung von realen Geräuschen geht mindestens bis in die Onomatopoeia des 16. Jahrhunderts zurück, so etwa in der Vogelimitation in Frescobaldis „Capriccio sopra il cucho“ aus dem ersten Buch seiner Capricci, Rom 1624), so entspricht sie in diesem Zusammenhang den immanenten Forderungen des Mediums Film. Das Beispiel der orchestralen „Maschinenmusik“ Edmund Meisels als Suggestion der Schiffsgeräusche aus Sergej ­Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ dient Balázs als Beweis seiner These von der Bedeu176 177 178

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Zur Deterritorialisierungsfunktion der Musik und des Tons vgl. Kap.  II.3 dieser Arbeit. Josef Kloppenburg: Die dramaturgische Funktion der Musik in den Filmen Alfred Hitchcocks, München 1986, S. 185. Béla Balázs: Der Geist des Films, a. a. O., S. 173.

3. Phänomenologie des Filmtons tung des Geräusches für die Filmmusikkomposition. Das Beispiel bildet die eine Grenze des Wirkungsbereichs der Musik im Film. Ihre absolute Verselbständigung, eine im visuellen Bereich kein Pendant findende Musik, markiert die andere Grenze. Eine solche „reine Musik“179 kann nach Balázs allerdings nur dann funktionieren, wenn die Musik und nicht das Visuelle die „Realität“180 einer konkreten Filmszene bestimmt, wenn die musikalische Vorstellung und Empfindung selbst die Ausgangsidee der filmischen Arbeit bereitstellt. Auch andere Filmtheoretiker, so Adorno und Lissa, teilen die Auffassung Balázs’ zum Ton. Adorno sieht die Funktion des Geräusches dann angebracht, wenn ein akustisches Ereignis gefordert wird, das sich im Hintergrund abspielt, „unhörbar“, quasi als Hörkulisse eine realistische Umgebung neben der dominierenden visuellen oder sprachlichen Ebene bilden soll181. Das Primat der „Unauffälligkeit“ soll nicht für die Musik, sondern für das Geräusch geltend gemacht werden, allerdings erst dann, wenn es planmäßig durch das Drehbuch erfordert wird. Für Lissa ist die Ergänzung der „räumlichen“ Dimension des filmischen Bildes durch den Ton das erwünschte Resultat der audiovisuellen Beziehung. Die Anpassung der Klangstrukturen an die visuellen Abläufe unterstreicht im Film die in ihnen verborgenen räumlichen Qualitäten. […] Die dynamischen Züge der Musik, die im autonomen Werk nur das Wogen der energetischen Spannungen unterstreichen, können in der Filmmusik – besonders der Musik im Kader (ein näher kommendes Orchester auf der Straße, größere Lautstärke beim Öffnen des Fensters usw.) – die Repräsentation räumlicher Erscheinungen sein; die Musik vermittelt hier die Dimension der Tiefe, vertritt nicht gezeigte weitere Partien des Filmraumes, welche die Leinwand im jeweiligen Augenblick selbst nicht zeigt.182

Dass der Ton im Film eine ausgeprägt räumliche Dimension hat, wurde bereits von Balázs deutlich erklärt. Der Ton kann keine einzelnen Orte hörbar werden lassen, sondern den Eindruck von Räumlichkeit allgemein anschaulich machen. 179 180 181 182

Ebd. Ebd. Theodor W. Adorno: Komposition für den Film, a. a. O., S. 20. Zofia Lissa: Ästhetik der Filmmusik, a. a. O., S. 82 f.

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I. Musikalisches im Film Eigentlich ist es merkwürdig, dass der Ton nicht raumbildend ist, dass er so wenig Perspektive und Richtung bestimmen kann, denn er hat viel mehr Raumcharakter als die visuelle Erscheinung […] Wir hören wohl den Raum, aber die Position des Tones im Raume können wir nicht hören.183

Nicht konkret auf die Kunst des Films, sondern auf die ästhetische Wahrnehmung allgemein bezogen, jedoch in Übereinstimmung mit den erwähnten Autoren, sieht Bernhard Waldenfels die Rolle der Geräusche als „Umschlagstelle“184 zwischen Musik und Lebenswelt. Ähnlich der Funktion des „Leibes“, so auch des musizierenden Leibes, der selbst der Natur angehörend durch seine Bewegung in der Natur nicht vorhandene Töne einer autochthonen „Hörwelt“ entstehen lässt, vermag auch das Geräusch zwischen Kultur und Quasi-Natur bzw. zwischen künstlerischem Ausdruck und primär visuell präsentierter Realität zu vermitteln. Waldenfels untermauert in gewissem Sinne philosophisch die ausgeführten Thesen zum Ton im Film, indem er die Musik bzw. den musikalischen Ton auf ihren Ursprung in der Geräuschwelt zurückführt. Musikalische Töne sind wie Edelsteine im gewöhnlichen Gestein, das nicht durchweg taub ist. Sie entstammen einem Prozess der Läuterung, einer ­Reinigung und Filterung von Geräuschen, ohne dass der Herkunftsbereich darüber verschwindet. Töne sind daher niemals völlig reine Töne, ähnlich wie die Vernunft nie völlig rein ist. Es gibt einen produktiven Grenzverkehr zwischen Musik, Klangwelt und Geräuschwelt.185

Waldenfels erwähnt zwar keine Filme, sondern die künstlerischen Klanglandschaften bzw. die akustischen Porträts von Städten wie New York186, um das Phänomen der Synthese von Geräusch und Klang zu veranschaulichen. Dass auch der Film ein Ort ist, wo sich ein solcher Grenzverkehr, vom Künstler mehr oder weniger explizit intendiert, abspielt, ist allerdings zahlreichen Beispielen zu entnehmen.

183 184 185 186

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Béla Balázs: Der Geist des Films, a. a. O., S. 157. Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt/M. 1999, S. 192. Ebd., S. 193. Ebd.

3. Phänomenologie des Filmtons Das Werk Godards ist auch hier ein gutes Beispiel für eine durchdachte Arbeit mit dem Geräusch in Relation zum filmischen Bild. Indem es sich mit filmischen Motiven verbindet, die sich der rationalen Eindeutigkeit entgegenstellen, vermittelt es ähnlich der musikalischen Geste zwischen innerer und äußerer Welt. Die Geräusche wären dann am anderen Ende des Sichtbaren zu suchen und dem Ultraviolett gleichzustellen, das sich – jeder Kameramann weiß es – wie ein Nebel, wie ein die Bilder verunklärender Schleier auf den Film legen kann. Vor allem in der Nähe von Wasseroberflächen geschieht das leicht. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass das Geräusch sich in Godards jüngsten Filmen mit dem Meer verbündet hat, dass es dort mit den Wellen in einem unablässigen gemeinsamen Kampf gegen Klarheit und Eindeutigkeit sich verschworen zu haben scheint. Geräusch und Meer sind geradezu zu einer verschwisterten Metapher des Ungeordneten, des Chaos geworden; Sinnbilder jener Totalität, die das Kameraauge zwar dauernd umringen, aber nie ganz erfassen wird.187

Das Geräusch bei Godard weist auf eine ästhetische Ebene hin, in der  – im Unterschied zum bisher Ausgeführten  – das Unbestimmte nicht der inneren Welt des Subjekts, sondern der gegenständlichen Natur zugewiesen wird. Das Geräusch ist in der Lage, einen allgemeinen Begriff von Natur hörbar zu machen, eine Natur, die sich so abstrakt hinstellt, dass sie sich als philosophischer Begriff des Kosmos gibt, nicht das spezifisch natürliche Phänomen, sondern die „Idee“ von Natur widerspiegelt.

3.2 Musikimmanente Intentionalität Durch ihre Subjektivierung ermöglichen das Geräusch und der Ton eine von einem inneren Sinn ausgehende Zuwendung zur objektiven Realität, die die Subjektivierungsstrategien im visuellen Bereich, wie etwa die entsprechende Anwendung der Montage, ergänzt. Bildet der gesamte Bereich des Filmtones eine autonome Sphäre, in der sowohl die Geräusche als auch ihre – im Sinne

187

Fred van der Kooij: Wo unter den Bildern sind die Klänge daheim?, a. a. O., S. 24.

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I. Musikalisches im Film Balázs’ – Reflexion im Inneren des Subjekts angesiedelt sind, so agiert die am weitesten vom Gegenständlichen entfernte Musik als Opponent einerseits des filmischen Bildes, andererseits aber auch des Geräusches. Mag diese Relation Aufschluss darüber geben, welche Funktionen der Musik im Film sich daraus ableiten können, so bleibt eine essenzielle Frage offen. Ist die Filmmusik tatsächlich nur der subjek­tive Aspekt einer visuell artikulierten Gegenständlichkeit, oder kann man das Musikalische weiter differenzieren, darin Zeichen des Dualismus zwischen einem Subjekt und einem intentional bzw. „körperlich“ mit ihm verbundenen Objekt erkennen? Lässt sich nämlich im visuellen Bereich des Films die Konstellation Zuschauer – Kamera –filmisches Objekt festmachen, wobei die Filmkamera stellvertretend für einen im Film inkorporierten Betrachter188 steht, sie quasi die Weise des filmischen Blickens auf das Objekt bestimmt, so ergibt sich die Frage nach einer analogen Struktur in der Filmmusik. Bildet die Musik in Entsprechung zum Filmisch-Visuellen, aber auch zum Bereich des – ebenfalls im Dualismus zwischen Objekt und Subjekt sich manifestierenden – Geräusches eine Entität mit dem gleichen ontologischen Schema, oder bleibt ihr aufgrund der weiten Distanz zur Gegenständlichkeit eine Teilung in subjektive und quasi objektive Momente verweigert? Eine solche Differenzierung der Sphäre des Musikalischen würde dann entsprechende Konsequenzen für die Korrelation der Musik zum Bild im Film nach sich ziehen. Die zentrale Frage, die sich im Zusammenhang mit der Musik stellt, ist also diejenige nach deren intentionalen Strukturen: ob Komponenten des musika­ lischen Phänomens aufzuspüren sind, die das hörende Subjekt dermaßen „affizieren“189, die intentionale Zuwendung dieses Subjekts dermaßen in Gang setzen, dass sie als in der Musik „verkörperte“ Subjekte fungieren können. 188 189

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Vgl. die Thesen Vivian Sobchacks weiter unten, Kap. I.3.3. Husserl spricht in Zusammenhang mit der Abhebung von sinnlichen Daten eines Gegenstandes von einer „Affektion“, die dieser Gegenstand auf das Ich ausübt. Affektion findet statt, wenn mehrere sinnliche Daten aufgrund ihrer Ähnlichkeit oder Verwandtschaft sich im Kontrast zu nicht ähnlichen Daten gruppieren. „Die Abhebung war für uns also Abhebung durch inhaltliche Verschmelzung unter Kontrast.“ (Edmund Husserl: Analysen zur passiven Synthesis, a. a. O., S. 149. Vgl. dazu auch: João I dos Reis Piedade: Der bewegte Leib – Kinästhesen bei Husserl im Spannungsfeld von Intention und Erfüllung, Wien 2001, S. 92). Die Affektion „kann verschiedene Intensität, verschiedene Anziehungsgrade besitzen, je nachdem er sich stärker

3. Phänomenologie des Filmtons Husserl unterscheidet zwei Arten der „Affektion“. Bei der ersten Affektion werden wir einer Empfindung zwar gewahr werden, dennoch wenden wir uns ihr nicht zu und schenken ihr keine besondere Aufmerksamkeit. Die Affektionen finden im Hintergrund unserer Wahrnehmung statt, so dass selbst ihre Änderung uns nicht von unserer gewohnten Wahrnehmungsbahn ablenken könnte. Die Wahrnehmung einer Filmmusik, die sich gänzlich im Hintergrund des filmischen Geschehens abspielt, lediglich eine nicht ins Bewusstseinsfeld eintretende Hörkulisse ist, die das filmische Bild unterschwellig unterstützt, ihm aber nicht folgt, uns also nicht in seine Sphäre hineinzieht, wäre diesem Affektionstypus zuzurechnen. „Erleidet das Bewusstsein eine solche Affektion, der es nicht im Modus der ich-lichen Tätigkeit folgt, handelt es sich um eine passive Kinästhese, die das sinnlich-assoziative Hintergrundfeld der thematischen Aufmerksamkeit ändert.“190 Anders wäre es bei einer Affektion, die uns zu einer Verschiebung unserer thematischen Perspektivierung führt. Diese Affektion verleitet uns zu einem aktiven Tun, zu einem nicht zufälligen, sondern zu einem (nach dem eigenen Möglichkeitshorizont) bestimmten „Streben“, die vom affizierten Gegenstand erweckten Erwartungen zu erfüllen. Am Beispiel eines zu erfassenden Geräusches formuliert Husserl es folgendermaßen: „Im Ich ist eine positive Tendenz, sich dem Gegenstand zuzuwenden, geweckt, sein ‚Interesse‘ ist erregt – es wird zu aktuell bestätigtem Interesse in der Zuwendung, in der diese positive, vom Ichpol auf das Geräusch hingehende Tendenz sich strebend erfüllt.“191

190

191

oder schwächer nach dem Ich drängt“ (ebd.) Je deutlicher die Verschmelzung unter Kontrast stattfindet, desto intensiver wird das Ich vom Gegenstand affiziert. Husserl verwendet das Beispiel „roter Flecken auf einem weißen Hintergrund“ (Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie in: Husserliana Bd. 6 [Hg. Walter Biemel], Den Haag 1976, S. 76, zit. nach: ebd.), um dies zu verdeutlichen. Die Ähnlichkeit der roten Flecken untereinander vereinigt sie zu einem homogenen Sinnesfeld, das sich von dem weißen Hintergrund abhebt. Christian Lotz: „Husserls Genuss. Über den Zusammenhang von Leib, Affektion, Fühlen und Werthaftigkeit“, in: Husserl-Studies, 18/1, 2002 (https://christianlotz. files.wordpress.com/2009/11/lotz_husserls_genuss.pdf, S. 4). Edmund Husserl: Analysen zur passiven Synthesis: Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten (1918–1926), in: Husserliana Bd. 11 (Hg. Margot Fleischer), Den Haag 1965, S. 166.

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I. Musikalisches im Film Geht man von dieser Unterscheidung aus, so wäre entsprechend der Art der Affektion auch im Bereich musikalischer Phänomene eine – wie Husserl sagt – „subjektiv orientierte“ und eine „objektiv orientierte Seite“192 zu differenzieren, die beide eine musikimmanente Intentionalität begründen können. Es würde sich auch innerhalb der Musik ein das „Ich“ affizierendes, musikalisches QuasiSubjekt lokalisieren, das in Analogie zur Kamera des Films oder zum subjektivierten Geräusch zwischen dem Zuhörer und dem musikalischen Objekt vermittelt, folglich sich als ein in die Musik inkorporiertes Wahrnehmungssubjekt gibt. Die Bestimmung eines solchen Ich-Pols auch in der Musik würde das gesamte Feld der akustischen Schicht im Film dergestalt strukturierend ergänzen, dass zumindest theoretisch ein tonliches Filmwahrnehmungsfeld entsteht, ein Möglichkeitsspielraum, in dem sowohl akustische als auch visuelle Phänomene eingeordnet werden können. Ein erster Hinweis auf eine solche differenzierte Auffassung musikalischer Erlebnisse kann der ­Musikästhetik Hegels entnommen werden. Hegel hat den Unterschied von Melodieinstrumenten und solchen mit unbestimmter Tonhöhe jeweils mit den Kategorien des „Linearen“ und „Flächenhaften“ besetzt und betont, dass die primäre Form des „Freiwerdens der Innerlichkeit“ der menschlichen Seele, zu der die Musik vor allem durch die menschliche Stimme befähigt, eben durch den dieser näherstehenden – eine bestimmte Tonhöhe produzierenden – Klang gewährleistet wird.193 Die innere Form ist „Insichsein“ und gleicht als solche dem Punkt, wie auch das menschliche Subjekt als „geistiger Punkt“ bestimmt werden kann. Denn der Punkt ist reines Insichsein, ohne alle Ausdehnung, Negation des Raumes. Aber gerade als Negation des Raumes ist er auf den Raum bezogen. Er ist wesentlich diese negative Beziehung auf den Raum und in diesem Ausschließen des Raumes schon selbst räumlich: Er hebt sich auf in die Linie und in die Fläche. Da nun der Klang [der menschlichen Stimme] die adäquate Äußerung des Seelischen ist, dieses aber als reines Fürsichsein „geistiger Punkt“ ist, muss das Medium der eigentlichen Seelenäußerung die Form

192

193

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Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 5. (Hg. Elisabeth Ströker), Hamburg 1992, S. 180. Vgl. Adolf Nowak: Hegels Musikästhetik, Regensburg 1971, S. 56.

3. Phänomenologie des Filmtons der nächsten Aufhebung annehmen: die einfache lineare Richtung. Sie wird von der elastischen materiellen Säule der Saiteninstrumente und ebenso von der kohäsionsloseren Luftsäule der Blasinstrumente […] realisiert. Breite und runde Flächen dagegen sind als Entäußerung des Punktes dem Vernehmen der Innerlichkeit weniger angemessen. Trommelinstrumente werden ihr am wenigsten gerecht.194

Tonhöhen- und Schlagzeuginstrumente haben ontologisch also einen unterschiedlichen Status, denn nur die ersten sind imstande, als Medium des in der Zeitlichkeit sich aufhebenden – primär in der Stimme sich bekundenden195 – Selbst dessen „innerliche Form“196 zu aktualisieren. Der Klang der Tonhöheninstrumente ist näher als der unbestimmte Klang der Schlaginstrumente an der einzig adäquaten Äußerung der Subjektivität durch die Stimme. Diese kann sich im Klang mit bestimmter Tonhöhe eher vernehmbar machen, „die elementare Struktur des eigenen Inneren, des Selbst“197 wiederfinden. Sofern man d ­ iese von Hegel konstatierte Eigenschaft der Tonhöhe in einer wahrnehmungs­ phänomenologischen Weise deuten kann, so könnte man diese „Nähe“ als eine Art Identifikation des wahrnehmenden Subjekts mit dem Klang der Tonhöheninstrumente auffassen, die als die Voraussetzung für das Erfassen des musikalischen Zusammenhangs zu sehen ist. Als „Darstellung“ der für die adäquate Anschauung von räumlichen Gegenständen notwendigen freien körperlichen Selbstbewegung im Raum, als ihr Analogon im fiktiven musikalischen Raum, bildet die lineare Tonhöhenbewegung denjenigen Vorgang, an dem sich das Hören bei der Anschauung des Klangfarbenraumes festhalten und ihn dadurch beurteilen kann. Als „Subjekt“ dieser Anschauung, als diejenige Qualität, die innerhalb des musikalischen Raumes quasi als „Vertreter“ eines sich im Raum bewegenden Subjekts auftritt, fungieren die Klänge mit bestimmter Tonhöhe. Durch sie 194 195 196

197

Ebd. Vgl. ebd., S. 47 ff. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830, § 300 (Sämtliche Werke, Neue kritische Ausgabe, Hg. Johannes Hofmeister), Hamburg 1959. Vgl. dazu auch Adolf Nowak: Hegels Musikästhetik, a. a. O., S. 43. Ebd., S. 90.

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I. Musikalisches im Film findet der Zugang zur Wahrnehmung des gesamten musikalischen Raumes statt. Dadurch, dass sie das räumlich-musikalische Hören stärker als die Schlagzeugfarben affizieren, bilden sie den Bezugspunkt für die Beurteilung der aktuellen Tiefenstruktur dieses Raumes. Die Wahrnehmung des räumlichen Verlaufs vollzieht sich dadurch, dass man das gesamte räumliche Geschehen in Korrelation zur prägnanteren melodisch-thematischen Gestalt setzt. Auch Dahlhaus spricht der Linearität ein näheres Verhältnis zum Subjekt zu. Die horizontale ­Dimension konstituiert dadurch, dass sie sich der Zeitlichkeit bedient, den musikalischen Raum. Versteht man im phänomenologischen Sinne den Raum als Korrelat der subjektiven Bewegungs- und Bewusstseinsvoll­ züge, so ist die Melodie quasi ein Analogon der körperlichen, alles Räumliche in einem wahrnehmenden Bewusstsein konstituierenden Bewegung. Erst in der Sukzession ist der Eindruck einer Distanz zwischen den Tönen – einer Vertikale als Dimension des Tonraums – deutlich. Dass aber, zurückhaltend formuliert, die Prägnanz des Abstands- und Raumcharakters bei Zusammenklängen geringer ist als bei Tonfolgen, dürfte am einfachsten durch die Hypothese erklärbar sein, dass die Vorstellung eines Tonraums eine Abstraktion vom Phänomen der musikalischen Bewegung ist, einer Bewegung, deren fundierendes Moment, von dem die anderen abhängig sind, das rhythmische ist: die Vertikale – dass Tonunterschiede räumlich vorstellbare Distanzen seien – konstituiert sich erst zusammen mit der Horizontale. Und da Bewegung und Rhythmus beim Simultanintervall ausfallen, ist auch der Distanz- und Raumeindruck reduziert oder sogar […] ausgelöscht.198

In phänomenologischer Deutung entspricht die Melodie dem intentionalen Akt, der Weise, in der das Subjekt sich auf den „Gegenstand“ Harmonie bezieht. Die Melodie ist eine konkrete Form des „Vermeinens“, des „Ich-Blicks“ auf das harmonische „Objekt“. Die Harmonie dagegen ist das Korrelat dieser Vermeinungsakte, ihr jeweiliger Sinn ergibt sich aufgrund des aktuellen melodischen Kontextes. Die Harmonie tritt jeweils als der „Charakter“ auf, den wir als „notwendig Zugehöriges in Korrelation zu den betreffenden Arten noetischer Erlebnisse“199, das heißt zu den Weisen der melodischen Zuwendung zur 198 199

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Carl Dahlhaus: Musikästhetik, Köln 1967, S. 120. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie, a. a. O., S. 210.

3. Phänomenologie des Filmtons harmonischen Struktur vorfinden. Die konkrete aktuelle Weise, wie ein Dominantseptakkord sich in einer Tonika auflöst, die Stellung, Vollständigkeit usw. der an der Kadenz beteiligten Akkorde ist durch die melodische Führung bedingt. Obgleich die harmonische „Idee“200, beispielsweise eine Dur- oder MollKadenz, eine „bestimmte Wanderung“ der Melodie „fixiert“201 bzw. vorschreibt, von der wir aber, etwa durch „Nicht-Bemerkung“202 bzw. Weglassen bestimmter gegenständlicher Merkmale, abweichen können, so ist die Aktualisierung dieser Idee durch den einen oder anderen, den „Charakter der Subjektivität“ innehabenden Modus des intentionalen Bezugs eine Frage des melodischen Vollzugs. Dass die Melodie eben durch diese Eigenschaft einen besonderen Status innerhalb der filmmusikalischen Erfahrung erlangt, wird zu zeigen sein.

3.3 „Kinästhetischer Körper“ im Film In der phänomenologisch geprägten Tradition der Filmwissenschaft geht man von einer neuen Philosophie des Körpers im Film aus, die nicht nur die Pole wahrnehmender Leib und wahrgenommener Gegenstand berücksichtigt, sondern auch ein Zwischenglied einschließt, das man etwas umständlich als „wahrgenommen wahrnehmenden Leib“ bezeichnen könnte. Im Film verschachteln sich zwei Wahrnehmungsarten: einerseits die Wahrnehmung der Bewegungsbilder als solche, in einem Akt, der den intentionalen Bezug des Zuschauers zu den dargestellten Gegenständen betrifft, andererseits eine in die Bilder eingeschriebene Intentionalität, die durch das Quasi-Subjekt der Kamera, nämlich die Auswahl, die sie trifft und die Art und Weise, wie sie die Gegenstände aufnimmt, die erste Wahrnehmung lenkt. Der Zuschauer kann zwischen diesen Wahrnehmungsarten umschalten, sich in seiner Wahrnehmung von der Perspektive eines subjektiven Kameraverlaufs leiten lassen oder selbst unabhängige Wahrnehmungsabläufe durchführen. Diese sich von der Narration des Films distanzierende Auffassung, die auf das Primat der Wahrnehmung und deren notwendig leibliche Verfassung fokussiert, findet ihren Ausdruck in der Filmtheorie Vivian Sobchacks. 200 201 202

Ebd., S. 212. Ebd. Ebd., S. 213.

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I. Musikalisches im Film Die Grundlage ihrer Philosophie der filmischen Erfahrung ist für Sobchack die „Phänomenologie der Wahrnehmung“ von Merleau-Ponty, eine Theorie, in der der Leib die Bedingung der Wahrnehmung ist, aber selbst unsichtbar bleibt. Wie die Kamera, so ist auch der Leib nicht nur Gegenstand von bewusster Reflexion der eigenen Möglichkeiten, sondern vermittelt zwischen dem Zuschauer und dem filmischen Objekt. Der Zuschauer – mitunter durch die künstlerischen Entscheidungen des Regisseurs motiviert  – hat auf diese Weise die Gelegenheit, sich den Bildern entweder ausgehend von einer filmimmanenten subjektiven Intentionalität zuzuwenden oder sich auf diese Bilder als filmische Objekte direkt zu beziehen. Benennt Sobchack die erste, durch die Kamera in den Film inkorporierte Form der intentionalen Beziehung zu den Filmbildern als „viewed view“, so ist das direkte Sehen des Zuschauers als „viewing view“ bezeichnet.203 Sinn der filmischen Erfahrung ist es nicht, die Gegenstände, die Personen und deren Handlungen nur von außen zu betrachten, sondern sie durch ein zweites, mehr oder weniger bewusst gewordenes Subjekt hindurch, zu dem wir in ein quasi intersubjektives Verhältnis eintreten, zu erleben. Sobchacks Begriff des „introceptive image“204, also des sichtbaren Ausdrucks der Wahrnehmung eines Anderen, beinhaltet dabei nicht nur die leibliche Bewegung des filmischen Subjekts, sondern sein gesamtes intentionales Verhalten. Mit dem Film treten wir in Beziehung zu einem weiteren Subjekt, das sich in der Welt gleichzeitig mit uns situiert. Der Film macht Sinn, weil er uns die Welt nicht zeigt, ohne uns die „verkörperte Intentionalität unseres Zur-Welt-Seins“ zu geben: die lebensweltlichleibliche Situiertheit eines Bewusstseins, das im notwendigen Bezug zu „etwas“ steht, vielmehr: sich bewegt.205

In der intersubjektiven Begegnung zweier Menschen außerhalb der filmischen Welt sind im Unterschied zur filmischen Erfahrung allein der fremde Leib und seine Handlungen wahrnehmbar, wobei die Innenwahrnehmung, das Bewusst203 204 205

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Vivian Sobchack: The Address of the Eye. A Phenomenology of Film Experience, Princeton 1992, S. 204 ff. Ebd., S. 123. Drehli Robnik: Körper-Erfahrung und Film-Phänomenologie, in: Jürgen Felix (Hg.): Moderne Filmtheorie, Mainz 2002, S. 248.

3. Phänomenologie des Filmtons sein und die Vorstellungswelt des Fremden, selbst wenn man durch seine Sprache und Gestik mittelbar Zugang zu seinem Wahrnehmen, Denken und Fühlen erhält, unsichtbar bleibt. Ausgehend von der Begegnung zweier Subjekte können bezüglich des gemeinsamen Objektes zwar Beobachtungen angestellt und Urteile gefällt werden, doch niemals kann die Welt, wie der Andere sie sieht und durch seinen Leib wahrnimmt, einem so erscheinen wie die eigene Wahrnehmung. In this sense, the basic correlation between film and spectator transcends a central invariant impossibility of non-cinematically mediated experience: that one subject can never directly experience the introceptive vision of ­another.206

In phänomenologischer Reflexion zeigt sich das nicht-filmische Sehen […] als auf die Welt gehefteter Blick, und eben daher vermag es für mich den Blick eines Anderen zu geben, kann jenes Ausdrucksmittel, das wir ein Gesicht nennen, Träger einer Existenz sein, so wie meine eigene Existenz getragen ist von dem Erkenntniswerkzeug, das mein Leib ist. […] Auf die gleiche Weise verstehe ich den Anderen. Auch hier finde ich nur die Spur eines Bewusstseins, dessen Aktualität sich mir entzieht […]207.

Dass es sich in der Filmsituation anders verhält, dass man dabei von einer veränderten Auffassung von Intersubjektivität ausgehen muss, lässt sich anhand des philosophischen Begriffs der „Zwischenleiblichkeit“208 von Bernhard Waldenfels zeigen. Die „Zwischenleiblichkeit“ versteht sich nicht als ein Gegenübertreten des eigenen zum fremden Subjekt, sondern als eine Form der „Verschränkung“ beider Subjekte. Ihr liegt keine hierarchische Struktur der Fremderfahrung ob der vermuteten Ähnlichkeit des fremden mit dem eigenen Bewusstsein zu206

207 208

Kevin Fisher: Dasein and the Existential Structure of Cinematic Spectatorship: A Heideggerian Analysis, in: Glimpse, Hg. Society for Phenomenology and Media Studies, Bd. 1, Heft 1 (1999), S. 39. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., S. 403. Vgl. Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt/M. 2000, S. 284 ff.

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I. Musikalisches im Film grunde, sondern die Gleichzeitigkeit von Fremdbezug und Selbstbezug, die „eine gewisse Form der Fremdheit schon in mir selbst“209 voraussetzt. Sie ist die Sphäre, die sich erst zwischen beiden Subjekten herauskristallisiert und Züge des „Mitempfindens“, der „Synergie“, der „gemeinsamen Räumlichkeit“ beinhaltet.210 Das „Freuen“ im Sinne eines nicht nur subjektiven Empfindens, sondern als Zustand, den wir mit Anderen teilen, ebenso das „Ineinandergreifen von eigenem und fremdem Tun“, etwa im gemeinsamen Musizieren, und schließlich auch eine Räumlichkeitsauffassung, die sich nicht auf den realen Ort meines Körpers beschränkt, sondern in der ich mich in meiner Vorstellung in die Nähe beispielsweise einer geliebten Person versetze, sind Komponenten einer solchen Zwischenleiblichkeit. Von der grundlegenden Prämisse phänomenologischen Denkens ausgehend, nämlich davon, dass jede Wahrnehmung, so auch unsere, einseitig perspektivisch ist, so dass auch Andere sich auf ihre Weise auf dasselbe Objekt beziehen, entsteht zwischen den Subjekten ein im Bereich der „vorprädikativen“, nicht urteilsmäßigen Wahrnehmung sinnkonstituierender Erfahrungsaustausch. Dieser lässt Inhalte und Gedanken entstehen, die keinem der einzelnen Subjekte zugerechnet werden können, sondern die einem Subjekt durch die „passive Synthesis“211 begegnen, nämlich durch ein nicht durch das Subjekt intendiertes, aktives Zusammensetzen oder Zuschreiben von Eigenschaften – wie etwa in der Zeiterfahrung. Waldenfels setzt dieses Ineinandergreifen von Handlungen unterschiedlicher Subjekte in Analogie zum Musikhören. Man errät oder erahnt die Äußerungen des Anderen, wie man in der Musik den Fortgang auf gewisse Weise schon vorwegnimmt: es wird nicht nur der augenblickliche Laut oder Lautkomplex gehört, sondern zu Beginn eines Satzes kündigt sich eine Fortsetzung an, die im Satzschema ungefähr vorgezeichnet ist. Wir sind nicht auf das beschränkt, was wir jetzt hören, sondern hören immer schon mit, was kommt.212

209 210 211 212

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Ebd., S. 285. Ebd., S. 288 ff. Den Husserl’schen Begriff der „passiven Synthesis“ verwendet Waldenfels, um die Zwischenwelt zwischen eigenem und fremdem Subjekt zu markieren. Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst, a. a. O., S. 300.

3. Phänomenologie des Filmtons Das Phänomen der Zwischenleiblichkeit, bei der keine Intentionen ausgedrückt werden, sondern diese im Prozess der Interaktion entstehen, wird im Film gerade dann deutlich, wenn unnatürliche, schräge oder ungewöhnlich sich bewegende Kameraperspektiven angewandt werden. Wenn sie die Aufmerksamkeit auf die „Leiblichkeit“ der Kamera derart lenken, dass mit den sichtbaren Bildern auf der Leinwand auch eine zweite leibliche Situation der Filmwahrnehmung mitaufgefasst wird. Die deutliche Verschiebung vom „normalen“ Sehen verweist auf die Unterscheidung zweier Wahrnehmungssysteme, die, obwohl sie sich stets ihres Zusammenhangs bewusst sind, doch unterschiedlich strukturiert sein können. Dabei tritt der doch ungewöhnliche Vorgang auf, dass wir – wie das Experiment Wertheimers213 bewiesen hat – die Verschiebung zunächst als fremdartig empfinden, jedoch sogleich eine Anpassung an die neue räumliche Ordnung erleben. Gibt diese Anpassung eben den wichtigen Hinweis auf die Existenz eines Leibes, der zwischen Subjekt und Objekt vermittelt, so wird er von MerleauPonty mit der Konstruktion eines „virtuellen Leibes“, der sich vom fleischlichen Leib des Subjektes lösen kann, neue Arme und Beine empfindet und sich im neuen Raum des „Schauspiels“ etabliert, beschrieben. Werden die Erwartungen, die dieser Leib stellt, erfüllt, so ermöglicht diese Erweiterung des Wahrnehmungsfeldes die Konstitution der „vollen Welt.“214 Lässt sich die Geschichte des Films als Prozess der Ablösung des Kameraleibes von der Materialität des Zuschauerleibes beschreiben215, so ist die Rolle der Musik dabei nicht unerheblich. Interessant an Merleau-Pontys Beschreibung der virtuellen Wahrnehmung ist, dass er den Vergleich mit der Musik bringt und den neuen virtuellen Raum als „Transposition“ des ursprünglichen leib­ lichen Raumes bezeichnet. 213

214 215

Darin müssen Versuchspersonen das Zimmer, das sie betreten, in einem um 45˚ geneigten Spiegel ansehen. Was zunächst als schief empfunden wird, passt sich langsam der natürlichen Raumwahrnehmung der Probanden an. Vgl. Max Wertheimer: Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung, in: Zeitschrift für Psychologie, 61 (1912), S. 258. Ebenso: Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., S. 290. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., S. 292. Vgl. Michael Albert Islinger: Die schräge Kamera. Formen und Funktionen der ungewöhnlichen Kameraperspektive in Film und Fernsehen (http://www.gib.unituebingen.de/image/ausgaben–3?function=fnArticle&showArticle=45).

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I. Musikalisches im Film Wenn also die Transposition sich systematisch, gleichwohl aber nur schrittweise und allmählich vollzieht, so offenbar weil ich von einem Stellensystem ins andere übergehe, ohne im Besitz des Schlüssel beider zu sein, so wie jemand eine Melodie, die er gehört hat, in einer anderen Tonart nachsingt, ohne dazu irgendwelcher musikalischer Kenntnisse zu bedürfen. Der Besitz eines Leibes führt das Vermögen eines Niveauwechsels und eines Raum„Verständnisses“ mit sich, so wie der Besitz der Stimme das des Tonartenwechsels.216

Eine in der Leiblichkeit verankerte Möglichkeit räumlicher Verschiebung sowohl im realen als auch im musikalischen Raum, liefert die Grundlage für eine Erweiterung des Horizonts der Wahrnehmung. Sie bedingt die Erzeugung virtueller Leiber und Wahrnehmungsfelder, die neue, nicht individuelle, sondern ausschließlich aus dem leiblichen Zwiegespräch resultierende Inhalte generieren. Ist dieser Gedanke im Bereich der Filmkunst weiterzuführen, indem man die subjektivierten Momente im Film, von Bild und Kamera zu Geräusch und Musik, in ihre Korrelation zum Zuschauerleib setzt217 und die daraus sich ergebenden Interaktionen analysiert, so ist die Rolle der Musik darin zu suchen. Die Musik hilft zwar immer dabei, die Distanz von Zuschauer und Fremdleib zu überbrücken, dadurch, dass der Zuschauer der Aktion des Fremdleibes als einer willentlichen Aktion, die auch von ihm ausgeübt werden kann, Ausdruck verleiht. Darüber hinaus ist sie aber in der Lage, einen virtuellen musikalischen Leib im Film hervorzubringen, der die Filmwahrnehmung durch eine neue Erfahrungsschicht ergänzt.

3.4 Der kinästhetische Körper des Filmtons Die Eigenschaften der leiblichen Wahrnehmung im Film beschränken sich folglich nicht nur auf die visuelle Welt, sondern umfassen auch die akustische Erfahrung. Charakteristisch ist auch hier die doppelte Seinsweise des wahrneh216 217

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Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., S. 293. Die Bedeutung des Zuschauerkörpers im Verhältnis zwischen Musik, Film und ­Gefühl steht im Mittelpunkt der Untersuchung von Jan-Hendrik Bakels: Audiovisuelle Rhythmen: Filmmusik, Bewegungskomposition und die dynamische Affizierung des Zuschauers, Berlin 2017.

3. Phänomenologie des Filmtons menden Leibes, nicht nur passiv Eindrücke zu empfangen, sondern auch aktiv Handlungen durchzuführen. Der hörende Leib ist kein bloßes Registriergerät, sondern ein mitschwingender Resonanzkörper. Hören bedeutet von vorneherein mehr als die Tatsache, dass unsere Hörorgane kausalen Einwirkungen unterliegen, es bedeutet leibliches Sichbewegen, Erregung, Aufschrecken, Mitgerissenwerden, Mitgehen. Aisthesis und Kinesis begegnen sich in Form einer Kinästhese, die sich nicht als Bewegungsempfindung versteht, sondern als sich empfindende Bewegung und sich bewegendes Empfinden, also auch als Hörbewegung.218

Diese Doppeldeutigkeit des Hörens geht mit der ambivalenten Stellung des Leibes einher, zwischen der äußeren Welt und der inneren Bewusstseinsebene zu vermitteln. Körper und Geist, Intelligibles und Empirisches sind somit über den Leib miteinander verbunden. Leibsein bedeutet aber nicht nur eine ständige Vermittlung zwischen Innen und Außen, sondern darüber hinaus, dass man als leibliches Subjekt stets Teil der Welt ist, auf die man sich wahrnehmend, handelnd und reflektierend bezieht. Das leibliche Subjekt unterliegt somit nicht nur der subjektiven Selbstbestimmung, sondern ist ebenso der Eigengesetzlichkeit der Welt unterworfen.219

Unternimmt man in Entsprechung dazu eine toplogische Zuordnung des Tons im Film, so wird seine Nähe zum Leib bestätigt. Ist der Ton als Geräusch der äußeren Welt unterworfen, so vollbringt er auf der anderen Seite als Musik den Ausdruck der subjektiven Bewusstseinsintentionalität. Dass bereits innerhalb der Geräuschsphäre Subjektivierungstendenzen aktiv werden, die das Geräusch stärker am aktiven Teil der gesamten filmischen Wahrnehmungsstruktur beteiligen, ist schon erwähnt worden. Die akustische Modifikation natürlicher Geräusche, die unterschiedliche Hörsituationen simuliert (Entfernung, Innen- bzw. Außenraumakustik usw.), ist zweifellos eine 218 219

Bernhard Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel. Berlin 2010, S. 170. Barbara Becker: Die Akzentuierungsmöglichkeiten leiblicher Subjekte, in: Ingrid Rügge u. a. (Hg.): Arbeiten und begreifen. Neue Mensch-Maschine-Schnittstellen, Münster 1998, S. 6.

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I. Musikalisches im Film mit der des durch die Kamera vermittelten subjektiven Blicks auf das filmische Objekt vergleichbare Situation. Dabei treten allerdings gleich die Unterschiede zwischen Hör- und Sehwahrnehmung zutage. Im Gegensatz zum Kamerablick, der jedes Mal einen klaren Hinweis auf den „Beobachter“ gibt, sei es der Zuschauer, eine Filmfigur oder ein am Handlungsgeschehen unbeteiligter Erzähler, lässt sich nämlich nicht genau sagen, wem das Hören zuzuordnen ist.220 Eine Distanz zwischen Hör- und Sichtpunkt, nämlich die nicht eingehaltene natürliche Koinzidenz zwischen Klängen und Bildern, lässt keine eindeutige Position des Hörers festmachen. Ist bereits der Sichtpunkt ein unklarer, ständig wechselnder Parameter des Films, denn er kann sich sowohl auf den Ort der Kamera als auch auf eine Handlungsperson beziehen, so entpuppt sich die ­Annahme einer Identifikation von Sicht- und Hörpunkt als ein Trugschluss. Chion hat auf die „Dissoziationen“ zwischen einem „Sicht-“ und einem „Hörpunkt“ aufmerksam gemacht. Im Falle von in großer Entfernung gezeigten dialogisierenden Personen erlaubt es „die Kamera [uns] aus der Verpflichtung der Verständlichkeit des Dialogs zu befreien und die Personen frei im Raum anzuordnen, während man mit ihnen, durch die Stimme, das Band der Aufmerksamkeit und Identifikation aufrechterhält.“221 Es ist gerade die Distanz bzw. die Ergänzung der visuellen Wahrnehmung durch die akustische Schicht, die den filmischen Sinnzusammenhang herstellt. Nicht durch die gewaltsame Übertragung visueller Strukturen auf das Akustische, sondern eben durch den Austausch der verschiedenen Wahrnehmungsweisen in der Zwischenleiblichkeit der visuellen und akustischen Subjekte wird die Synthese von Ton und Bild vollbracht. Dass man nun auch bei der Filmmusik von einer Leibempfindung sprechen kann, hat nicht zuletzt Adorno mit seiner Bemerkung zur Musik im Film als „Muskel­energie“ der visuellen Bewegung nahegelegt222. Die Musik ermöglicht die Einfühlung in die kinetischen Vorgänge des Films. Sehen Sie sich dann die Bewegung auf der Leinwand genau an: Wie schwer die Pferde in der Leere galoppieren! Man geht nicht mit bei ihrem Lauf. Die 220 221 222

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Michel Chion: Les douze oreilles/Die zwölf Ohren, in: Petra Maria Meyer: Acoustic turn, München 2008, S. 569. Ebd., S. 571. Vgl. Einleitung dieser Arbeit.

3. Phänomenologie des Filmtons Bewegungen verlieren ihre Leichtigkeit, die Steigerung der Handlung bedrückt wie ein Stein. Nimmt man dem Film die Musik, dann macht man ihn tatsächlich stumm, die Rede der Helden, eines ihrer Elemente beraubt, wird zu etwas ­Störendem, Unfertigem. Die Handlung wird zerstört. Hier haben wir einen zweiten Punkt: Die Musik im Film rhythmisiert die Handlung.223

Die Wirkung der Musik scheint sich im Sinne des psychologischen sog. „Carpenter-Effekts“ zu ­entfalten: Die Wahrnehmung oder Vorstellung einer Bewegung erregt im Wahrnehmenden oder Vorstellenden den Antrieb zur Ausführung der gleichen Bewegung. Hierzu gehören die unbewusste Nachahmung von Gebärden, Gesten, Gang, Tanz, Rhythmus usw.224

Wird hier gerade durch den synchronen Rhythmus der Eindruck einer inneren Bewegungsmotivation und, in Konsequenz dazu, die wesensmäßige, quasi organische Zusammengehörigkeit zwischen Bild und Ton generiert, so fungiert der Klang, wenn er gleichzeitig zum Bild auftritt225, als Ausdruck einer realen Existenz visueller Empfindungen. Der Klang im Film ist demnach nicht zuletzt auch Körperersatz. Sogar der Nacktheit verleiht ein Streicherklang dort erst ihre Sinnlichkeit. […] Ausgerechnet die Töne, die wir gerade im Jenseits der Bilder geortet haben, verleihen diesen ihre Diesseitigkeit! Und beileibe nicht durch den Kontrast. Im Gegenteil: Der Ton ist ein Ersatz für den im Kino nicht in Anspruch genom223 224

225

Jurij Tynjanov: Kino – Wort – Musik, zit. nach: W. Beilenhoff (Hg.): Poetika Kino. a. a. O., S. 241. „Carpenter-Effekt“, zit. nach: K. Eckert: Empathie und Psychotherapie, in: M. Cierpka, P. Buchenheim (Hg.): Psycho-dynamische Konzepte, Berlin, Heidelberg. 2001, S. 329. Die gleichzeitige Erscheinung visueller und klanglicher Empfindungen lässt den Eindruck einer Zusammengehörigkeit in Bezug auf einen Gegenstand oder eine Handlung auch dann entstehen, wenn keine inhaltliche Verwandtschaft zwischen beiden besteht. Der von Chion geprägte Begriff der „Synchresis“ besagt, dass der Zuschauer selbst weit voneinander entfernte Bild-Ton-Relationen, etwa die Synchronisation der Bewegung einer Pendeluhr mit der Regelmäßigkeit eines Schlagzeugrhythmus, zulässt bzw. nicht als ungewöhnlich auffasst. Vgl. Michel Chion: Sound on Screen, New York 1994, S. 63 f.

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I. Musikalisches im Film menen Tastsinn. Er täuscht vor, dass der Zuschauer das berühren kann, was er sieht, dass es wirklich da ist und nicht bloß eine ingeniöse optische Täuschung.226

Würde man über einen solchen somatischen Begriff der „Berührung“ als den Eindruck einer durch den Ton suggerierten, quasi materiellen Existenz des visuellen Bildes nachdenken, indem man ausgehend von der Bedingung ihres Entstehens, der Synchronizität zwischen Bild und Ton ihn allgemeiner deutet, so würde man in der Phänomenologie wichtige Hinweise dafür finden können. Die Husserl’sche Lehre geht von einer ursprünglich in der Bewegung des Leibes (Kinästhese) fundierten räumlichen Wahrnehmung aus, so dass „jede gesehene Bewegung eines äusseren Dinges […] ihr Gegenstück in einer möglichen subjektiven Bewegung [hat], in der ich subjektiv denselben Bewegungsraum ‚durchlaufe‘“227. Diese subjektive Bewegung wird von der Möglichkeit der Berührung des Gegenstands durch den Leib bestimmt. Die Entfernung zum Gegenstand ergibt sich als das Bewusstsein von demjenigen Raum, den das leib­ liche Subjekt beschreiten soll, um den Gegenstand zu berühren.228 Indem aller Seinssinn von Aussendingen zurückbezogen ist hinsichtlich aller ontischen Gegebenheitsweisen, der orientierten, auf die Nahsphäre der Berührbarkeit und Greifbarkeit, der praktischen, unmittelbaren Vermöglichkeit des Schiebens, Stossens etc., sind alle Aussendinge – immer in der Primordialität, im Rahmen meiner eigenen originalen Erfahrung  – eo ipso zurückbezogen auf meinen berührenden Leib.229

Definiert die durch die Leibbewegung zu überwindende Distanz bis zur Berührung auch eine zeitliche Dauer, so markiert die Gleichzeitigkeit unterschied­ 226 227

228

229

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Fred van der Kooij: Wo unter den Bildern sind die Klänge daheim?, a. a. O., S. 29 f. Edmund Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil: 1921–1928, in: Husserliana Bd. 14 (Hg. Iso Kern), Den Haag 1973, S. 516. „Mit jedem unmittelbar haptisch wahrgenommenen Objekt ist eo ipso von der Berührung her appräsentiert der berührende Leib, also auch mittelbar von Seiten einer optischen Erscheinungsweise, die z. B. als Fernerscheinung auf Naherscheinungen und von da durch die Appräsentation auf mögliche Berührung ‚durch den Leib‘ verweist.“ Edmund Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. a. a. O., S. 306. Ebd., S. 309.

3. Phänomenologie des Filmtons licher Ereignisse eben den Zeitpunkt ihrer unmittelbaren Nähe. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich die Erfahrung eines Wahrnehmungshorizonts, der sich nicht nur auf das Verhältnis zwischen Bild und Klang, sondern auf alle diejenigen Besonderheiten des filmischen Geschehens, die Subjektivierungseigenschaften vorweisen, erstreckt, eben im Tonbereich des Films auf das Geräusch und die Musik. Dass der gemeinsame Wahrnehmungshorizont und auch die „Berührung“, die sich zwischen Ton und Bild etablieren, darüber hinaus die formale Struktur der filmischen Ereignisse mit der narrativen Dramatik verknüpfen kann, lässt sich anhand einer Szene aus Kubricks „Shining“ demonstrieren. Der mit seiner Familie in ein Berghotel frisch eingezogene Schriftsteller Jack ist dabei, seinen ­Roman zu schreiben. Obwohl seine später eintretende Konzentrationsschwäche, seine mangelnde Inspiration und seine Schizophrenie noch nicht eingesetzt hat, so gibt der Regisseur – u. a. durch den Einsatz von unheimlich wirkender atonaler Musik – subtile Hinweise darauf, dass sich hinter der oberflächlichen Idylle etwas Unheilvolles verbirgt. Dazu gehört auch das regelmäßige, durch seine hallende Charakteristik voluminös und dramatisch erklingende, zunächst unidentifizierbare Geräusch, das eine langsame, auf die Schreibmaschine des Schriftstellers gerichtete Kamerabewegung begleitet. Durch seine Relation zum menschenleeren Bild lässt dieses hämmernde Geräusch eine ­bedrohliche Wirkung anwachsen. Diese hält allerdings nur solange an, bis es sich als ein von Jack immer wieder gegen die Wand geworfener Ball entpuppt. Die sofort eintretende Identifizierung der Geräuschquelle, die sichtbare Koinzidenz zwischen Bild und Geräusch, verändert abrupt den dramatischen Ausdruck des Geräusches, das sich als akustisches Zeichen eines harm­ losen Spiels im Alltag des Hotels erweist. Die „Berührung“ von visuellem und akustischem Erlebnis in der Synchronizität manifestiert sich als das (in befriedigender Weise) erreichte Ziel einer gemeinsamen, zwischenleiblichen Operation zwischen Bild und Ton. In Analogie zu Sobchacks filmischem Leib wird durch das Geräusch dieser Szene ein „virtueller Leib“ konstituiert. Das Geräusch ermöglicht in Konfrontation mit dem sich bewegenden Kamerablick eine Wahrnehmung, die auf eine Auflösung des Rätsels der Geräuschquelle hinsteuert. Es aktiviert den Akt der Wahrnehmung, begründet die eingeschlagene Richtung der virtuellen Motorik des Sehens (Kamerabewegung), die die Natur der visuellen Wahrnehmung dadurch ergänzt, dass sie ihr 99

I. Musikalisches im Film das fehlende Moment der „Kinästhese“, nämlich des Empfindens der eigenen, subjektiven Bewegung in Relation zu dem sich bewegenden akustischen „Gegenstand“, verleiht. Wie die Sehweise, die in der gesamten Szene nicht im Gesehenen aufgeht, sondern die Strukturen der Blickbewegung miteinbezieht, so beschränkt sich auch das Hören des Geräusches in dieser Szene nicht auf das Gehörte als bekanntes und wiedererkanntes Hörobjekt. Die Distanz zwischen Bild und Ton lässt die Bewegung als Resultat einer „medialen Sukzession“230 agieren, die den filmischen Gegenstand (Spiel mit dem Ball) in einem offenen System von Möglichkeiten erst sukzessive entstehen lässt und durch die Synchronisation von Bild und Ton als Einheitssynthese konstituiert. Dass das Geräusch allgemein und der Klang in ihrer Relation zum Bild auch unabhängig von ihrer „Berührungs“komponente die Erfahrung eines Wahrnehmungshorizonts motivieren, hat Michel Chion gezeigt. Er führt das Ver­ mögen des Klangs, dem Bild eine zeitliche Ordnung aufzuprägen und eine „zeitliche Fluchtlinie“ zu bilden, auf die den natürlichen Klangphänomenen immanente Zeitlichkeit zurück. Schließlich ist der Klang generell in der Zeit angesiedelt. Vor allem die natürlichen Klänge […] haben fast immer eine Geschichte, die an der Zeit ausgerichtet ist. Das kann eine angenäherte Folge oder ein weites Ausbreiten von Spannungen und Entspannungen, Stößen und Dämpfungen, Explosionen und Auslöschungen sein, die viele Zeitpfeile bilden, die vom Gegenwärtigen zum Zukünftigen gerichtet sind. […] Im Gegensatz dazu kann ein Kinobild, eine Großaufnahme des Blicks, aber auch das Bild von jemandem, der spricht – das heißt, der alternierende Gesten des Öffnens und Schließens des Mundes ausführt –, sehr wohl nicht an der Zeit ausgerichtet sein. Wenn der Klang fehlt, bestimmt auch die Verkettung mit einer anderen Einstellung die zeitliche Verbindung nicht: es kann sein, dass nichts dazu einlädt, zwischen Abfolge und Gleichzeitigkeit zu unterscheiden. Der Klang fügt dieser Bildverkettung eine doppelte Bedeutung von zeitlicher Fluchtlinie und Abfolge hinzu (une double valeur ajoutée).231

230 231

100

Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen, a. a. O., S. 73. Michel Chion: Le phrasé audio-visuel/ Die audiovisuelle Phrasierung, in: Petra ­Maria Meyer: Acoustic turn, a. a. O., S. 545.

3. Phänomenologie des Filmtons Der Klang bewirkt also allein durch seine zeitliche Struktur eine perspektivierende Erfahrung des filmischen Bildes. Durch seine immanente Zeitlichkeit organisiert er die Bilder in einer logischen Folge von Ereignissen, lässt im Filmkontinuum einen durch Erwartungen und Erinnerungen geprägten Horizont erblicken. Lässt die Konfrontation des Bildes mit dem Geräusch folglich Synergieeffekte, etwa die besagten perspektivischen Wahrnehmungsphänomene entstehen, so kann man bei der Korrelation zwischen Bild- und Musikleib ein ähnliches Wahrnehmungsverhalten konstatieren. Musik und Bild zeigen einen Wahrnehmungshorizont auf, in dem die filmischen Vorgänge zu einem Gesamtspiel synchronisiert und organisiert werden. Ließe sich der im Möglichkeitshorizont dieses Verhältnisses angelegte Berührungspunkt zwischen Musik und Bild in Vorgängen wie der Koordination von Musik- und Montagerhythmus (auch im Sinne der Eisenstein’schen „vertikalen Montage“232) oder einem übereinstimmenden intermedialen emotionalen Ausdruck feststellen  – wobei der andere Pol Techniken wie die kontrapunktische Relation von Musik und Bild enthält –, so weist dieser durch die Zwischenleiblichkeit von Musik und Bild aufgeschlagene Horizont eine besondere Eigenschaft auf. Die Musik als die unmittelbarste, enger an das Subjekt gebundene und weit von der „objektiven“ visuellen Welt entfernte Filmschicht bezieht sich nur indirekt, vermittelt durch ihre Relation zum Geräusch, auf das Bild. Es wird deutlich, dass es sich im Falle der Musik zunächst nicht um einen in der realen Welt verankerten, sondern um einen entmaterialisierten, abstrakten Wahrnehmungsleib handelt. Dass trotz der weiten Distanz zwischen dem visuellen und dem musikalischen Leib dennoch gemeinsame Sinnzusammenhänge entstehen, in der Weise, dass man sogar in Analogie zum Begriff des „introceptive image“ den Terminus „introceptive sound“ prägen kann, ist im Folgenden auszuführen. Dass man zunächst auch in der Musik Subjektivierungsphänomene erschließen kann, wurde bereits anhand der Affektivität der Wahrnehmung durch die Melodie deutlich.233 Dass man dabei, und zwar in einer elementaren Stufe, ­einen Ort des wahrnehmenden Subjekts bestimmen kann, der als „Nullpunkt

232 233

Vgl. Kap. I.3.1.1 dieser Arbeit. Vgl. Kap. I.3.2 dieser Arbeit.

101

I. Musikalisches im Film erscheinungsmäßiger Orientierung“234 in einem durch ihn motivierten Erscheinungshorizont zu gelten hat, wurde von Ernest Ansermet anschaulich gemacht. Ansermet geht in seiner umfassenden phänomenologischen Analyse der Musik davon aus, dass die Bedingung einer jeden musikalischen Wahrnehmung, etwa einer Melodie, die „Synchronisation“ des musikalischen Bewusstseins mit ­einem Ton ist. Erst dadurch, nämlich aus der Perspektive dieses Tones, die den Ort seines Bewusstseins fundiert, ist der Wahrnehmende in der Lage, den musikalischen Raum nicht nur als objektive Veränderung von Tonpositionen passiv wahrzunehmen, sondern auch in einer „reflektierte[n] Selbstaffektion“235 durch diesen Ton, ihn als Reflexion der eigenen Bewusstseinsstrukturen in seinem eigenen „Existenzweg“236 zu erleben. Erweist sich der musikalische Hörakt dadurch selbst als ein subjektzentrierter Vorgang, so ließe sich sein Bezug zu den der Objektivität der äußeren Welt näherstehenden Elementen des Geräusches und des filmischen Bildes entsprechend bestimmen. Die Musik bestimmt – gerade dadurch, dass sie die subjektive Wahrnehmung so stark affiziert – den „Hörwinkel“, durch welchen Geräusch und Bild zutage treten. Als Fortsetzung der subjektivierten Wahrnehmung des Geräusches in Richtung einer quasi autonom subjektiven Erfahrung schreibt die Musik im Sinne eines „introceptive sound“, nämlich eines Wahrnehmung ermöglichenden Erlebnisses, die Richtung und die inneren Bedingungen vor, in der jedes akustische und auch visuelle Ereignis erscheint. In Zusammenhang dazu sei angemerkt, dass man das von Adorno monierte Vorurteil, „Filmmusik soll man nicht hören“237, zumindest von einer musikalischen Leibtheorie aus, nicht ganz von der Hand weisen muss. Deutet man nämlich diese Aussage im Sinne der hier ausgeführten filmmusikalischen Leibästhetik um, so erhält man grundlegende Einsichten in die Rolle des Tons und der Musik im Kunstwerk des Films. Denn begreift man Filmmusik auf diese Weise in ihrer „Leibfunktion“, dann ist ihre Nicht-Wahrnehmbarkeit nicht lediglich die „subalternste“238 der Mög234 235 236 237 238

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Rudolf Bernet, Iso Kern, Eduard Marbach: Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, a. a. O., S. 128. Ernest Ansermet: Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein, München 1965, S. 47 f. Ebd., S. 127. Theodor W. Adorno: Komposition für den Film, a. a. O., S. 19. Ebd.

3. Phänomenologie des Filmtons lichkeiten ihres Bezugs zur Realität des Films. Dagegen ist sie eine der beiden grundsätzlichen Möglichkeiten, sich mit dem visuellen Medium des Films zu verknüpfen. Die Musik im Film hat ähnlich dem Leib eine aktive und eine passive Wahrnehmungseigenschaft. Sie weist eine doppelte Verfasstheit als hörbar machende und hörbare, als empfindende und empfundene auf. Sie ist nicht nur etwas, das in der Welt des Films erklingt, sondern etwas, das ein Verhältnis zu dieser Welt, und zwar nicht nur auf klanglicher Ebene, sondern auch hinsichtlich der Empfindungen, Handlungen, Charaktere usw. herstellt. Die Musik motiviert die Kommunikation der Subjekte im Film, fördert eine intersubjektive Prozesshaftigkeit, in der Gehörtes und Nicht-Gehörtes verflochten sind. Sie bildet einen Zwischenraum zwischen Objekt und Subjekt. Sie ist zwar ein Objekt, das Struktur und Material aufweist, gleichermaßen aber bringt sie die Art, wie ein Subjekt etwas empfindet, zum Erklingen. Verfolgt man weiter die These von einem filmmusikalischen Leib, so kann man im Sinne Waldenfels’ von der „Unfasslichkeit“ des filmmusikalischen Leibes sprechen. In Analogie zu der charakteristischen Schwierigkeit des Leibes, sich – etwa anhand der Subjekt-Objekt-Dialektik – dem Denken direkt zu erschließen, lässt sich die „Unfasslichkeit“ des filmmusikalischen Leibes an zwei Phänomenen festmachen: a. die Eigenschaft der Musik, dem visuellen Geschehen vorauszugehen, in Relation zu ihm in der Form eines „impliziten Fungierens“ zu stehen. Verhilft die Musik im Film dazu, sich eine Orientierung in der emotionalen, aber auch Gedankenebene zu verschaffen, so ist es immer das Bild bzw. die Sprache, die die Musik nachträglich inhaltlich explizit macht. Die Musik grenzt das Feld ein, in dem Bild und Sprache gedeutet werden können. b. die „innere Ambiguität“ des filmmusikalischen Leibes, weder der Filmwelt selbst noch der wahrnehmenden Subjekte anzugehören, seine Eigenschaft, Element der Vorstellung des Zuschauers, der Handlungsakteure, aber auch der Dingwelt zu sein. Klang und Musik schaffen einen Ort, der sich zwischen der realen und der von den Zuschauern und/oder den Filmfiguren erlebten Vorstellungswelt situiert.

Der Zwischenraum, der durch die Filmmusik erfahren wird, ist also ein inter­ medialer Raum, in dem Gesten, Gegenstände, Sprache, Musik und Geräusche aufeinander wirken. Die Musik generiert ein Geflecht von Empfindungen, Sicht- und Hörweisen, sie öffnet Horizonte der Selbsterkennung – beispielsweise 103

I. Musikalisches im Film dann, wenn die enge Verbindung eines Charakters mit einem Leitmotiv zur Ausformung eines Selbstbilds, einer musikalisch-psychologischen Physiognomie führt – oder des Fremdbezugs und seiner Näherbestimmung. Die Zwischenstellung der Filmmusik zeigt sich vor allem daran, dass sie den Unterschied zwischen Aktion und Passivität ignoriert. Die Musik pendelt zwischen ihrer Fähigkeit, dem Bilderfluss eine emotionale Note aufzuerlegen, und ihrer Eigenschaft, von den Bildern selbst in ihrem Sinngehalt geprägt zu werden. Sie vibriert zwischen ihrer formgebenden Funktion und ihrer reagierenden Seinsweise. Während sie auf der einen Seite Ausdruck der subjektiven, die konkrete Ansicht auf das visuelle Filmmilieu prägenden Intention wird, wird sie durch das Bild in ihrem Sinngehalt geformt. Es ist zu einem wesentlichen Teil das Verdienst der Musik und des Tons, dass wir in die Gedanken- und Gefühlswelt der visuell dargebotenen Personen eindringen können. Der Umstand, dass die akustischmusikalische Sphäre alle drei Räume im Film (den narrativen Raum, in dem sich die Schauspieler bewegen und welcher sich nicht auf das Gezeigte begrenzt, den durch die Kamera gezeigten Raum und schließlich den Raum des Kinos) durchdringt und vom Zuschauer nicht als ein entfernter Vorgang erlebt wird, lässt ihren Status als wesentlich freieres filmisches Leibsubjekt im Gegensatz zum ­statischen, in der Leinwand gefangenen visuellen Leib deutlich werden. Will man zusammenfassend die Musik und den Ton ontologisch im Filmgeschehen orten, so ist sie der „Stimme“ am nächsten. „The voice displays what is inaccessible to the image, what exceeds the visible: the ‘inner life’ of the character. The voice here is the privileged mark of interiority, turning the body ‘insideout’.“239 Im Unterschied zum Visuellen bleibt sie der inneren Welt des Subjekts stets verhaftet. Grob gesprochen, gehört alle Musik, auch die ganz „objektiv“ gefügte und nicht expressive, ihrer Substanz nach primär in den Innenraum der Subjektivität, während noch die beseelteste Malerei schwer an der Last eines unaufgelöst Objektiven zu tragen hat. Die Filmmusik muß versuchen, dies Verhältnis fruchtbar zu machen, nicht es in trüber Differenzlosigkeit zu verleugnen.240

239 240

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Mary Ann Doane: The Voice in the Cinema. The Articulation of Body and Space, in: E. Weis, J. Belton (Hg.): Film Sound, a. a. O., S. 168. Theodor W. Adorno: Komposition für den Film, a. a. O., S. 71.

3. Phänomenologie des Filmtons Im Sinne des Begriffs der „inneren Rede“241 bei B. M. Ejchenbaum verharrt sie im Innenraum der Subjektivität. Die „innere Rede“, der Sinn des Films, der sich hinter der Verkettung der unterschiedlichen Einstellungen verbirgt und ihre Logik ausmacht, wird durch die Musik leichter wahrgenommen. Die Musik trägt dazu bei, den Prozess der Sinnbildung und des Verstehens, des „Enträtselns“ der „Symbole und Metaphern“, die der Film hervorbringt, als einheit­ lichen Prozess zu erfahren. Die Musik bestätigt und sichert das Bewusstsein über die Einheitlichkeit der sich vollziehenden intentionalen Akte, lässt folglich das Subjekt selbst als Träger dieser Akte auftreten und das Filmgeschehen als Korrelat der sinngebenden Akte eines einheitlichen Subjekts erfassen. Sie übt eine grundlegende Funktion aus, indem sie zur Konstitution eines „transzendentalen Ichs“, das allen mit der Filmperzeption zusammenhängenden Bewusstseinsakten zugrunde liegt, beiträgt bzw. diese unterstützt.

241

Vgl. B. M. Ejchenbaum: Probleme der Filmstilistik, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films, a. a. O., S. 159.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt

1. Deleuze und die Filmmusik Beim Versuch, die „Seinsweise“ des Tons und der Musik im Film tiefergehend zu beleuchten, fungiert ein zentraler Begriff der Philosophie Gilles Deleuzes als ein geeignetes Instrument. Anhand des „musikalischen“ Begriffs des „Ritornells“, eines Hauptterminus seiner Philosophie der „Differenz und Wiederholung“242, wird nicht nur die hervorragende Stellung der Tonkunst im theoretischen System des Philosophen deutlich. Ausgehend von einer Analyse des Ritornell-Begriffs lassen sich darüber hinaus Erkenntnisse über das Verhältnis von Klang und Bild gewinnen, die im Rahmen einer Auseinandersetzung mit der Ästhetik der Filmmusik fruchtbar gemacht werden können. Dazu gehört vor allem, einen möglichen Umgang mit den Hauptakteuren seines Denkens, nämlich den zwei Grundvorgängen der „Territorialisierung“ und der „Deterritorialisierung“, im Bereich des Filmtons zu skizzieren. Die philosophische Idee eines sog. „kosmischen“ Ritornells als Resultat der potenziellen Erweiterung des Wirkungsbereiches des „territorialen“ Ritornells prägt eine ästhetische Zielvorstellung, die auch in der Filmmusik ihre Geltung bewahrt.

1.1 Das „Ritornell“: Musik und Virtualität In seiner Kritik der transzendentalphilosophischen Tradition fungiert das „Ritornell“ für Deleuze als Sinnbild einer nichtdialektischen Philosophie des Wer242

Deleuzes Philosophie erhebt den Anspruch, die Grundkategorien der dialektischen Philosophie zu ersetzen, „an die Stelle des Identischen und des Negativen, der Identität und des Widerspruchs“ zu treten. Gilles D ­ eleuze: Differenz und Wiederholung, München 1977, S. 11.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt dens als Aufbauprozess eines locker gefügten, beweglichen Netzes von unter­ einander agierenden autonomen Feldern. Diese sind nicht hierarchisch organisiert und lassen keine Identität aufkommen, sondern sind als „Plateaus“ auf einer „Karte“ offen für vielfältige Zugangs- und Verknüpfungsmöglichkeiten. Das Ritornell zeichnet sich durch drei ­Aspekte aus: Zunächst legt es sich als Zentrum in einem prinzipiell „chaotischen“ Umfeld fest. Ein Kind, das im Dunkeln Angst bekommt, beruhigt sich, indem es singt. Hat es sich verlaufen, versteckt es sich, so gut es geht, hinter dem Lied, oder versucht, sich recht und schlecht an seinem kleinen Lied zu orientieren. Dieses Lied ist so etwas wie der erste Ansatz für ein stabiles und ruhiges, für ein stabilisierendes und beruhigendes Zentrum mitten im Chaos.243

Es ist kein Zufall, dass Deleuze den Ritornellgedanken am Phänomen des Lieds bzw. des Klangs exemplifiziert. Die Möglichkeit eines hauptsächlich nichtmateriellen Gegenstands, doch an einen Ort gebunden zu sein, stellt sich für ­Deleuze als ein Modell für den offenen, nicht auf einer festgelegten Subjekt-ObjektDualität beruhenden Charakter seines philosophischen Konzepts heraus. Bezeichnend dabei ist es, dass er keinen Unterschied zwischen einer „künst­lichen“ Musik und dem natür­lichen Klang macht. [Das Ritornell] ist ortsgebunden, territorial, es ist ein territoriales Gefüge. Vogelgesang: der singende Vogel markiert auf diese Weise sein Revier… Die griechischen Tonarten oder die hinduistischen Rhythmen sind an sich schon territorial, provinziell und regional bestimmt.244

Ausgehend von der topologischen Bestimmung des Ritornells, territorial mit einem bestimmten Ort verbunden zu sein, fungiert jeder Vorgang, der auf der Gewissheit des Wohlbekannten beruht, so in Situationen nicht nur räumlicher, sondern auch zeitlicher Berechenbarkeit (etwa die periodische Wiederholung des Taktes usw.) als ein Territorialisierungsmoment. Neben der Bestimmung eines räumlichen bzw. zeitlichen Bezugspunktes sind die Bildung einer „Klangmauer“ sowie ihre gelegentliche Öffnung die zwei 243 244

108

Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, a. a. O., S. 424. Ebd., S. 426.

1. Deleuze und die Filmmusik weiteren Elemente des Ritornells. Ist die Herstellung einer solchen beschützenden Abgrenzung des territorialen Zentrums, die den Innenraum absichert und zerstörende Faktoren in Abstand hält, von einem gemeinschaftlichen Modus des Agierens und des Denkens abhängig, so ist die Sicherheit dieses abgegrenzten Gebietes stets durch Deterritorialisierungsfaktoren gefährdet. Die Öffnung, die Unterbrechung der territorialen Grenzen, ein Akt, der den Übergang zu anderen territorialen Gefügen ermöglicht sowie die Interaktion und das gegenseitige ­„Profitieren“ der unterschiedlichen Bereiche sicherstellt, ist das dritte Merkmal des Ritornells. Deleuze macht den Deterritorialisierungsprozess an verschiedenen Phänomenen der Musik fest. Die befreiende Veränderungskraft der Musik wird zunächst im Rhythmus und in seiner „kritischen“ Eigenschaft, zwischen Regelmäßigkeiten zu vermitteln und Fragmente unterschiedlicher periodischer Bildungen für sich nutzbar zu machen, gesehen. Ebenso versteht er die Stimme als Deterritorialisierung der Sprache, eine Deterritorialisierung, die dann, wenn die Stimme, – beispielsweise in Verdis Auflösung des Belcanto – ihren „natür­ lichen“, subjektiv-menschlichen Klangcharakter negierend, zum Instrument wird, eine höhere Stufe erreicht. Anhand von Komponisten wie Schumann, Bartók oder Wagner zeigt Deleuze darüber hinaus, dass die Konfrontation von fest gefügten, objektivierten Ordnungen mit den immanenten Kräften der ­Deterritorialisierung neue Formen bewirken kann, die sich der Sterilität der abstrakten Struktur entziehen und organisch eine dynamische Konstruktion erzeugen. Die „Verselbständigung des Intermezzo“ bei Schumann, die dadurch möglich gewordene Aufhebung des Entwicklungscharakters der motivischen Arbeit, ist demnach ein deutlicher Hinweis auf die der Musik innewohnende Deterritorialisierungstendenz. Die Negation des evolutionistischen Denkens zugunsten einer „topographischen“ Auffassung der Komposition fungiert als ein musikimmanenter Trieb, der in der räumlich-zeitlichen Doppelstruktur der Musik begründet liegt.245 Neben Schumann erweist sich die Musik Béla Bartóks als ein Hauptparadigma für einen konstruktiven Umgang mit dem Deterritorialisierungsschema. Dem Problem, wie „man von territorialen und volkstümlichen, autonomen und sich selbst genügenden Melodien ausgehend, die in sich selbst geschlossen sind 245

Vgl. P. Gente, P. Weibel (Hg.): Deleuze und die Künste, Frankfurt/M. 2007, S. 153 f.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt wie Modi, eine neue Chromatik schaffen, die sie kommunizieren lässt, und damit ‚Themen‘ schaffen [kann], die eine Entwicklung der Form oder vielmehr ein Werden der Kräfte ermöglichen“246, stellt sich Bartók erfolgreich. Die Deterritorialisierung der Volksliedmelodik, die Möglichkeit ihrer „Molekularisierung“, befähigt sie dazu, ihren Ursprungstopos zu verlassen und zu reorganisieren, so dass sie nunmehr offen für dynamische Formbildungen, aber auch für den persönlichen Ausdruck ist. Die Volksmusik befreit sich von ihrer Verbindung mit einem spezifischen Territorium und von ihrer Hinweisfunktion, der Klang wird selbst expressiv, schafft seine autonome Existenz, indem er zwischen „Stabilität und Variabilität“ pendelt, sich in einem „äußeren Milieu“247 den Umständen anpasst, sie als „Kontrapunkt“248 benutzt, um dynamisch und lebendig zum Ausdruck zu kommen. Erhellend im Falle von Bartók ist ein Vergleich zwischen den analytischen Herangehensweisen Deleuzes und Theodor W. Adornos. Wie ­Deleuze, so weist auch Adorno auf das grundsätzliche Problem Bartóks hin, eine Symbiose von Volksidiomatik und offener Struktur zu schaffen, wobei Adorno diese Symbiose zwischen einem klar ausgeprägten Ich und der Form des Werks verortet. Wie alle Komponisten seiner Generation stelle sich Bartók der Frage, wie sich die Musik nach der „von der menschlichen Existenz abgelösten Romantik“ wieder der Wirklichkeit zuwenden könne. Die Erforschung der noch vorhandenen „Wirklichkeit“, nämlich die Verflechtung von „realer“ Volksmusik und subjektiver Kompositionsarbeit, ermögliche das „Durchdringen von Ich und Objekt“. Er weiß, nicht in der Reflexion zwar, doch als Gestalter, dass die Formen, die vom Ich sich losrissen und starr wurden bei sich, ihre verpflichtende Macht über das Ich verloren; dass ihnen von sich aus keine Wirklichkeit mehr innewohnt; und er verzichtet darauf, sie so zu fügen, als wären sie wirklich. Aber er weiß auch, dass die Formen noch übrig sind, wenngleich sie nicht mehr existieren; dass ihre Forderung stets noch an das Ich ergeht, wenngleich es ihr nicht mehr genügen kann, so wie sie ihm nicht mehr genügen.249

246 247 248 249

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Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 477. Ebd., S. 432. Ebd., S. 433. Theodor W. Adorno: Pult und Taktstock (Hg. E. Stein), Jg. 2, H.6, zit. nach: ders.: Über Béla Bartók. Aufsätze und Auszüge aus Kritiken, zusammengestellt von Rainer Riehn, in: Béla Bartók. Musikkonzepte 22, München 1981, S. 124.

1. Deleuze und die Filmmusik Nicht in der Oszillation zwischen Ich und Form, sondern zwischen Hinweisfunktion und Selbst­referenz der Leitmotive spielt sich das Deterritorialisierungsthema bei Wagner ab. Als hochinteressant erweist sich der Hinweis ­Deleuzes auf die Wagner’sche Oper, weil erstmals das Verhältnis von Handlung und Musik thematisiert wird, ein Verhältnis, das den Zusammenhang zwischen Musik und Film berührt. Die Leitmotive Wagners fungieren zunächst wie „Wegweiser“, um im Laufe des Werkes aber „ihre eigene Ebene“ ausbilden zu können, indem sie autonom gegenüber der Handlung werden und ihre eigenen „Melodielandschaften und rhythmischen Figuren“ strukturieren. Paraphrasiert man einen Satz Deleuzes250, so erhält man den Sinn der Deterritorialisierung und zwar nicht nur bei Wagner: Das Leitmotiv hat eine große Zukunft, aber nur, wenn es zerstört und aufgelöst wird. Das Leitmotiv soll sich von seiner Signifikationsfunktion ablösen, wie wenn sich die Gesichtszüge eines Menschen von der subjektiven Identität eines Gesichtsganzen distanzieren, wenn die Gesichtszüge sich endlich der Organisation des Gesichts entziehen und sich dem Gesicht nicht mehr unterordnen lassen, Sommersprossen, die zum Horizont ziehen, vom Wind verwehte Haare, Augen, durch die man hindurchgeht, anstatt sich in ihnen zu spiegeln oder sie im trübseligen von Angesicht zu Angesicht signifikanter Subjektivitäten zu betrachten.251

Nicht mehr sollen sich die Leitmotive Personen und ihren „geheimen Antrieben“ unterordnen. Die Motive begeben sich in einer kontinuierlichen Variation auf die Suche nach einer „verinnerlichten“ Klanglandschaft. Fungieren die Leitmotive zunächst als „Plakat“ oder „Schild“, so wird ihre „Signatur“ zum „Stil“, zum autonomen Ausdruck. Expressive Eigenschaften oder Ausdrucksmaterien gehen miteinander bewegliche Verhältnisse ein, die das Verhältnis des Territoriums, das sie abstecken, zum inneren Milieu der Impulse und zum äußeren Milieu der Umstände „ausdrücken“.252 Obwohl der Begriff des Territoriums bei Deleuze also selbst im Fall der ­Musik unterschiedliche Ausprägungen findet, so lässt sich aus seinen Ausfüh250

251 252

„Ein organloser Körper. Ja, das Gesicht hat eine große Zukunft, aber nur, wenn es zerstört und aufgelöst wird.“ Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 235. Zum Begriff des „organlosen Körpers“ vgl. Kap. II.4 dieser Arbeit. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 234. Ebd., S. 432.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt rungen eine gemeinsame Linie herauslesen. Die Synthese von Virtuellem und Aktuellem253, von individueller Melodie und „dividuellem“, „molekularem“ Reihendenken, von Leitmotiv und „Melodielandschaft“, von instrumentalem und maschinellem Klang fungiert als Voraussetzung für eine „Zukunftsöffnung“, einen „Zukunftsdrang“254, für eine Suche nach etwas Neuem. Sie leitet den Übergang in ein neues Gefüge ein, das nicht das alte negiert, sondern es von innen heraus transformiert. Bei allen Gegensatzpaaren fungiert die dem Territorium immanente Kraft zur Deterritorialisierung als Ziel des künstlerischen Schaffens.

1.2 Das Ritornell der Filmmusik Die im Begriff des Ritornells zum Ausdruck kommende Strategie strukturphilosophischen Denkens zwischen Territorialisierung und Detererritorialisierung lässt sich als ein geeignetes Modell für die Analyse der Grundmodi des Einsatzes des Tonlich-Musikalischen im Film betrachten. Überträgt man die drei Komponenten des Ritornells auf die Sphäre des Filmtons, so begegnet man grundsätzlichen Aspekten der Relation zwischen Ton und Musik im Film. Die Erschaffung von Anfangsimpulsen einer (musikalischen) Ordnung im filmischen „Chaos“ wäre ein erster Bereich, wo die Wirkung der Tonkunst auf die Organisation der visuellen Welt des Films kenntlich wird. Der Zustand von Chaos im Film wäre im Allgemeinen die Abwesenheit von jeglicher Form von Zentrierung auf einen Gegenstand, eine Person, eine Aktion, eine Atmosphäre oder ein Gefühl. Chaos wäre gerade jenes Element, das im Gegensatz zu den Grundelementen der Kontinuität und des logischen Sinnzusammenhangs beim Ausdruck von Gedanken und Ideen im Film steht. Es bezeichnet die Abwesenheit genau jener deskriptiven, psychologischen und narrativen Kräfte, die jedem einzelnen Bild innewohnen, über dieses hinausweisen und eine bedeutungsvolle Fortsetzung als notwendig erachten lassen. Haften diesen chaotischen 253

254

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Diese Begriffe dienen dem Bestreben Michael Gallopes, einen auf der reinen Immanenz beruhenden Deleuze’schen Begriff des Musikwerkes zu umschreiben. Vgl. Michael Gallope: Is There a Deleuzian Musical Work?, in: Perspectives of New Music, Vol. 46,2 (2008), S. 93–129. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 120.

1. Deleuze und die Filmmusik Umständen die Gefühle von Uninteressiertheit oder Nervosität an, so dient das musikalische Ritornell dazu, ein stabilisierendes und beruhigendes Zentrum zu etablieren. Der Beginn von Stanley Kubricks „Odyssey 2001“ mit G ­ yörgy ­Ligetis „Atmosphères“, ein Werk, das hier quasi die Ouvertüre zu den Anfangs­ takten von Strauss’ „Also sprach Zarathustra“ bildet, lässt sich in diesem Sinne als musikalisches Bild der ursprünglichen Territorialisierungsidee auffassen. Der tonale Akkord der Strauss’chen Musik wirkt wie ein Anziehungspunkt im diffusen Feld der Klangflächen Ligetis, der die Genese einer Ur-Ordnung im filmischen Raum markiert. Die Zuschauer wissen, dass sie sich einen Film ansehen werden, der sich ausschließlich im Weltraum abspielt. Mit der Musik wird eine Stimmung gesetzt, sie wird quasi zum Fluidum des leeren, dunklen, geschichtslosen Raums. Mit den direkt anschließenden Anfangstakten von Zarathustra ward Licht und C-Dur. Im zuvor leeren Raum befinden sich nun Sonne, Mond und Erde, dem dichten klanglichen Gewebe Atmosphères folgt eine einzelne Stimme, bzw. wirkt es aufgrund des direkten Anschlusses, als träte sie daraus hervor.255

Stellt der Eintritt tonaler Elemente in ein atonales Umfeld das Urstadium des Territorialisierungsvorgangs dar, so gehört ein beliebtes Mittel der Praxis der Filmmusikkomposition, nämlich die Verwendung der Leitmotivik, zu denjenigen Verfahren, die das Territorialisierungszentrum als Bezugspunkt im variablen Gefüge mannigfaltiger Verknüpfungen festigen. Die Leitmotive schaffen analoge Strukturen wie die Protagonisten in der visuellen Ebene. Durch ihre wiedererkennbare Identität, die ihnen auch zu einer vom Bild losgelösten, selbständigen Seinsweise im Film verhilft, bilden sie „rhythmische Gesichter oder Figuren“256, charakteristische Orte mit „expressiven Eigenschaften“257, die in veränderliche oder konstante Verhältnisse zueinander treten. Indem sie sich nicht nur auf konkrete Orte, Zeiten oder Situationen beziehen können, wo sie als „Wegweiser“258 eine sowohl topologisch als auch chronologisch lokalisieren255 256 257 258

Julia Heimerdinger: Neue Musik im Spielfilm, Saarbrücken 2007, S. 43. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 434. Ebd., S. 432. Deleuze verweist dabei auf die Kritik Debussys an der Leitmotivik Wagners. „Debussy kritisierte Wagner, indem er dessen Leitmotive mit Wegweisern verglich, die

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt de Funktion übernehmen, sondern sich von den ihnen zugeordneten Personen oder Handlungen verselbständigen können, tragen sie – zumindest auf der Musikebene des Films – zur Herstellung von dramaturgischer Kontinuität und formaler Einheit bei; Eigenschaften, die den durch die Montagetechnik bedingten fragmentarischen Charakter des filmischen Bildes musikalisch (visuelle Techniken wie der „unsichtbare Schnitt“ tragen zumindest im klassischen Kino vornehmlich dazu bei) aufheben sollen.259 Die über die vorübergehende Bildung eines Zentrums hinaus erfolgte Festlegung und Organisation eines kollektiven Raumes, der sich vorm chaotischen Rest durch eine „Klangmauer“ schützt, bildet die zweite Eigenschaft des Ritornells. Ist der Versuch, mitten im Chaos vorübergehend oder nachhaltig ein Zentrum bzw. einen Ansatz von Ordnung zu markieren, eine erste Etappe im Territorialisierungsprozess, so schließt die Bildung eines festen, abgegrenzten Raumes, der eine klare Trennung von Innen und Außen ermöglicht, chaotische Umstände dadurch aus, dass dieser Raum durch „Kräfte des Selektierens, Eliminierens und Extrahierens“ abgesteckt wird, womit eine Phase der dauerhaften Etablierung der Territorialisierungsstruktur in Aussicht gestellt wird. Bemerkenswert an der allgemeinen Beschreibung dieser Territorialisierungsetappe bei Deleuze ist, dass das Klangliche als ein wichtiges Medium von territorialer Absicherung hervorgehoben wird. Dabei sind vokale oder klangliche Komponenten sehr wichtig: eine Klangmauer, oder jedenfalls eine Mauer, in der bestimmte Steine mitschwingen. Ein Kind summt leise vor sich hin, um Kräfte für die Schularbeiten zu schaffen. Eine Hausfrau singt vor sich hin oder macht das Radio an, während sie gleichzeitig die gegen das Chaos gerichteten Kräfte für ihre Arbeit aufbaut. Radio und Fernsehgeräte sind eine Art von Klangmauer für jeden Haushalt und stecken Territorien ab.260



259 260

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auf die verborgenen Umstände einer Situation hinweisen würden, auf die geheimen Antriebe einer Person. […].“ Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 435. Die charakteristische Verwendung der Leitmotivtechnik durch Bernard Herrmann in den Filmen Hitchcocks ist ein solches Beispiel. Vgl. Kap. III.2.1.1 dieser Arbeit. Ebd., S. 424.

1. Deleuze und die Filmmusik Charakteristisch für diesen Aspekt des Ritornells ist die gemeinschaftliche Organisation innerhalb des Territoriums, das „Zusammenhalten von heterogenen Elementen“261, seine Struktur als „Ensemble von Ausdrucksmaterien“262, die nicht nur für Deleuze, sondern auch für Adorno „klanglich“263 ist, ein „spezifisch musikalisches Unternehmen“ aktualisiert. In der Filmmusikschrift Adornos heißt es: Darum wohnt der akustischen Wahrnehmung als solcher unvergleichlich mehr als der optischen ein Moment von altertümlicher Kollektivität inne. Zumindest zwei der wichtigsten Elemente der abendländischen Musik, die harmonisch-kontrapunktische Mehrstimmigkeit und ihre rhythmische Artikulation, verweisen unmittelbar auf eine Vielheit nach dem Modell der ­einstigen kirchlichen Gemeinde als auf ihr allein mögliches Subjekt. Dies unmittelbare, am Phänomen haftende Verhältnis zum Kollektiv hängt wahrscheinlich mit der Raumtiefe zusammen, dem Gefühl des Umfassenden, den Einzelnen Einbeziehenden, das von aller Musik ausgeht.264

Wie bei Adorno, so auch bei Deleuze grenzt die Musik im Film kulturelle, geographische, aber auch Bereiche, in denen bestimmte Emotionen vorherrschend sind, ab. Durch bestimmte stilistische, von der realen Klang- und Geräuschwelt abweichende Merkmale bildet sie konsistente Hörsphären, die die visuell dargestellten Szenen in eine gemeinschaftliche Atmosphäre, die auch den Zuschauer involviert, einbetten.265 Der dritte Aspekt des Ritornells schließlich ist die Öffnung des stabilen Kreises, die Schaffung von Möglichkeiten von Übergängen zu anderen Bereichen, die – wie Deleuze hervorhebt – keine Orte sind, wo die alten Kräfte des Chaos andrängen, sondern die selbst Gefüge individueller Ordnungen formieren. In der Form eines „Improvisierens“ verlässt man die gewohnten Bahnen, um sich neuen Kräften und der Zukunft zu öffnen. Expressive Handlungen, die den 261 262 263 264 265

Ebd., S. 441. Ebd., S. 440. Ebd. Theodor W. Adorno: Komposition für den Film, a. a. O., S. 29 f. Vgl. die Filmfunktion „Gruppengefühl erzeugen“ in der Auflistung von Norbert Jürgen Schneider in: ders.: Handbuch Filmmusik Bd.  1. Musikdramaturgie im ­Neuen Deutschen Film, München 1986, S. 97 f.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt markierten Bereich verlassen und sich neue Eigenschaften fremder Bereiche aneignen, Handlungen, die neue, umfassendere und universale Gefüge entstehen lassen. Diese Deterritorialisierungseigenschaft des Klangs ergänzt die doppelte Struktur des Ritornells, gleichzeitig als „expressives Binnengefüge“266, aber auch als Öffnung zu neuen Territorien zu fungieren. Ähnlichkeiten mit dem Adorn’schen Gestusbegriff, so in seiner Anmerkung zum Fragmentarischen bei Wagner267, verweisen auf den Immanenzcharakter der aufspaltenden, sich neuen Gebilden öffnenden Kraft des Ritornells. Technisch ist dessen Träger das Motiv. Bühnenmusik und Leitmotiv sind historisch vermittelt durchs Ritornell in jener Gestalt, die es in der älteren Oper bis hinauf zu Weber annahm. Die Orchestereinwürfe während der Rezitative erfüllen gestische Funktion. Sie durchbrechen, gleich den Bühnen­ musiken, den Gesang, ja das kompositorische Gewebe, und zeichnen die Gebärden der Figuren auf der Szene nach. Insofern haben sie intermittierenden Charakter. Aber indem sie nicht auf der Bühne, sondern im Orchester erklingen, gehören sie doch wiederum auch dem kompositorischen, nicht nur dem gestischen Zusammenhang.268

In Analogie zu Deleuze ist das orchestrale Opernritornell für Adorno der Ort, in dem sowohl die theatralischen Momente insofern deterritorialisiert werden, als sie nun ins Orchester, dadurch in die Musik übertragen werden, als aber auch die Musik sich der Welt der Bühne öffnet, sich dadurch deterritorialisiert. Die Musik reißt die theatralischen Vorgänge, die auf der Bühne stattfinden, an sich, nimmt das visuelle Geschehen in Besitz, entfernt sich folglich von ihrem immanenten Gefüge, indem sie eine umfangreichere Ordnung, die auch das heterogene visuelle filmische Element beinhaltet, schafft. Die darauf konzentrierte Funktion des Tons und der Musik Hugo Riesenfelds, zu Beginn von Murnaus Film „Sunrise“ die Szene der Begegnung des verliebten Paares in der Natur durch das Bild des erträumten pulsierenden Stadtlebens zu verwandeln, kann als Beispiel der deterritorialisierenden Wirk266 267 268

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Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 440. Vgl. auch Kap. I.3.1 dieser Arbeit. Theodor W. Adorno: Die musikalischen Monographien. Wagner, Mahler, Berg, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 13, Frankfurt/M. 1977, S. 33.

1. Deleuze und die Filmmusik samkeit der filmischen Musikebene herangezogen werden. Musikinstrumentenähnliche Straßengeräusche (hauptsächlich Hupen und Klingel) und auch Bigband-Musik, die zu den entsprechenden Bildern aus der virtuellen Welt ertönen, deterritorialisieren die aktuelle Handlung, die durch eine ­lyrische orchestrale Musik untermalt wird. Eben die Tatsache, dass die ursprüngliche Musik ungehindert weiter erklingt und das neue akustische Bild kontrapunktiert, lässt das intermittierende audiovisuelle Geschehen aber dem Bereich der Vision zurechnen. Obwohl die Geräusche und die „virtuelle“ Musik eindeutig die Jetztzeit der Narration durchbrechen und auch ihre „realen“ Auswirkungen ­darauf zeigen, so im frenetischen Tanz der Frau im Anschluss an die Bilder der Stadt, lässt die Orchestermusik den Bezug zur „Realität“ weiterbestehen. Beobachtet man weitere Deterritoralisierungsvorgänge im Film, so auch dann, wenn die Musik oder das Geräusch die visuellen Bewegungen nachzeichnen (u. a. durch die Technik des „Mickey-Mousing“), aber auch, wenn die Musik reale Geräusche stilisiert269, ist der ambivalente Charakter des deterritorialisierenden Einsatzes von Ton, einerseits nah am fragmentarischen Charakter der Geste oder des Geräusches, andererseits doch Teil des musikalischen Kontinuums zu sein, deutlich zu bemerken. Setzt man die Beobachtungen auch weiterer Aspekte des Deterritorialisierungstopos im Bereich der Filmmusik fort, so stellt man eine seiner wichtigsten Funktionen im filmischen Zusammenhang fest. Zofia Lissa weist in phänomenologischer Tradition auf den fragmentarischen Charakter aller darstellenden Künste hin. Wie das durch einen Rahmen abgegrenzte Bild in der Malerei, die Bühne im Theater oder in der Oper, so sei auch die Filmleinwand lediglich in der Lage, einen Ausschnitt des vom realen Raum der Zuschauer abgetrennten dargestellten Raumes anschaulich werden zu lassen. Der Zuschauer wird in die Wahrnehmungssituation versetzt, sich die Fortsetzung des aktuellen Raum­ abschnittes vorzustellen, das gezeigte Fragment in der darin angeschlagenen immanenten Logik zu ergänzen. Viel stärker als die anderen Künste vermag die Filmkunst dieses Verhältnis zwischen dem aktuell und dem potentiell Gezeigten zur Schau zu stellen. Ohne auch visuell erscheinen zu können oder zu müssen, lassen sich durch die Musik Inhalte explizieren, die sowohl dramaturgisch als auch formal von zentraler Bedeutung für die filmische Beschreibung sind. 269

Vgl. Zofia Lissa: Ästhetik der Filmmusik, a. a. O., S. 124 ff.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt Die Musik kann also wie alle Erscheinungen der auditiven Sphäre diese hinzugedachte Welt, diese „Fortsetzung“ selbständig repräsentieren, ohne dass sie aktuell gezeigt wird; dann greift sie aktiv in die Dramaturgie des Films ein, nimmt als spezifisches Mittel der Repräsentation bestimmter Inhalte an seiner Konstruktion teil, indem sie etwas zu dem auf der Leinwand gezeigten Bild hinzufügt, die weitere Entwicklung der Handlung motiviert oder auch statt des Visuellen über viele Dinge informiert.270

1.3 Eine Szene aus „Oldboy“ Die ästhetische Wirksamkeit der Aspekte des Ritornells lässt sich anhand eines Films nachvollziehen, der in einer besonders plastischen Weise die möglichen Realitätsschichten der filmischen Darstellung nachzeichnet. Der Film „Oldboy“ von Park Chan-wook macht deutlich, dass die theoretische Fundierung des Ritornellgedankens nicht nur zur Beschreibung der Weise, wie sich die Verhältnisse der unterschiedlichen filmischen Aspekte entfalten, verhelfen kann. Das Ritornell erweist sich darüber hinaus als ein fundamentales Grundschema, das sich unterhalb der Realität des Kunstwerks als Phänomen verbirgt und welches erst dessen Komplexität und Vielschichtigkeit hervortreten lässt. Wird weiter unten auf die Gründe eingegangen, warum gerade der Klang dazu geeignet ist, die These der Territorialisierung und der Deterritorialisierung zu untermauern, so steht anhand dieses Films die Möglichkeit einer Analyse von klangvisuellen filmischen Zusammenhängen auf der Grundlage der Philosophie des Ritornells auf dem Prüfstand. Beim folgenden Analyseversuch geht es darum, sowohl die Territorialisierungs- und Deterritorialisierungsprozesse des Klangs als auch diejenigen zwischen Klang und Bild zu erkunden. Ziel wird es sein, gerade die Zwischenqualitäten bestimmen zu können, die sich im Wechselverhältnis der beiden Medien ergeben. Es gilt die „Konsistenz“271, nämlich den Zusammenhalt der Faktoren, die ein Territorium prägen, herauszufinden, sogar dann, wenn sich die Konsistenz, gerade in Prozessen der Deterritorialisierung kundtut. Was bewirkt der Klang, wenn er ein Verhältnis mit dem filmischen Bild eingeht, welche Territo270 271

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Ebd., S. 132. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 446.

1. Deleuze und die Filmmusik rialisierungs- und Deterritorialisierungsprozesse spielen sich ab? Was passiert mit dem Klang selbst, wenn er synchron zum Bild auftritt und mit seinem Inhalt assoziiert wird? In Bezug auf die Deterritorialisierungsvorgänge spricht Deleuze davon, dass gerade die akustischen Gefüge etwas anderes „werden“272 können, so dass beispielsweise der musikalische Klang, sollte er natürliche Geräusche, etwa den Vogelklang – wie im Fall Messiaens oder Hitchcocks – nachahmen, eben das nicht tut, sondern er selbst zum Vogelgesang „wird“. Wie lässt sich aber dieses Werden analysieren und wie wirkt es sich auf die Filmperzeption aus? Objekt der Betrachtung wird es sein, gerade diese Fluchtlinien des Visuellen herauszuarbeiten, die sich durch die Berührung mit dem Klang bilden, nämlich das „Werden“ des visuellen Inhalts korrelativ zum Klang zu verfolgen. Die Geschichte von „Oldboy“ berichtet von der Figur des Oh Dae-su, der am Abend des Geburtstages seiner Tochter betrunken von der Polizei festgenommen wird. Eingesperrt in einer Zelle, in der ein Fernseher sein einziger Kontakt zur Außenwelt ist, erfährt er, dass er des Mordes an seiner Frau beschuldigt wird. Sein Wunsch, durch hartes Training und mühsames Kratzen an der Zellenwand dem Gefängnis zu entkommen, wird auf seltsame Art, nämlich durch die Hilfe einer weiblichen Person, die ihn hypnotisiert und entführt, erfüllt. Die Suche nach den Menschen, die ihn zu Unrecht beschuldigt haben, beginnt. Die Verhältnisse zwischen dem Chaos und der ordnenden Kraft des Ritornells sind in diesem Film vielfältig verteilt. Chaos bedeutet für den angeblichen Mörder zunächst seine Unwissenheit über die Umstände, die ihn in die Zelle geführt haben, sowie die Angst und die Ahnungslosigkeit hinsichtlich der ungewissen Dauer des weiteren Verbleibs in der Isolation. Dagegen hat er zu kämpfen, und das tut er zunächst dadurch, dass er sich an seine Situation gewöhnt, indem er dem Wächter Fragen zu seinem Aufenthalt stellt, ihn beschimpft und Essen gegen die Wand schmeißt, oder sich quasi wie im Spiegel in einer Porträtkarikatur an der Wand sieht. Seine diffuse psychische Kraft versucht er dadurch in eine bestimmte emotionale Richtung zu lenken, dass er sich einen gewissen Alltag in der Zelle schafft, dass er sich der tagtäglichen Rituale (u. a. der täglichen Zufuhr eines Gases zum Einschlafen) im Gefängnis bewusst wird und er

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Ebd., S. 407 ff.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt damit umzugehen lernt. Dienen diese Aktionen im Sinne des ersten Ritornellaspekts hauptsächlich dazu, sich der persönlichen Situation zu vergewissern, sich in einem labilen und unbestimmten Zustand zu zentrieren, so setzen andere Handlungen an, die nicht mehr der Bewusstwerdung dienen, sondern konkrete Aufgabe erfüllen und den realen Alltag im begrenzten Raum organisieren. Das Schreiben eines Tagebuchs, das Eintätowieren der Gefängnisjahre sowie seine Faustschläge gegen die Wand etablieren den persönlichen Raum, bilden ein Intra­gefüge, indem sie gegen die chaotischen, zerstörerischen Kräfte des unerträglichen monotonen Verbleibs im abgeschirmten Raum geistig und körperlich zu kämpfen helfen. Darin manifestiert sich der zweite Aspekt des Ritornells. Das gebildete Gefüge ist ein sowohl realer als auch mentaler Raum, der vor der Bedrohung eines Chaos schützt, das weder abstrakt-bedrohlich noch ein nicht lokalisierbares, dimensionsloses „schwarzes Loch“273 ist, sondern als Raum einer Zelle eng und klar umrissen ist und dennoch eine Gefahr für die einigermaßen „ruhige und gefestigte Haltung“ seines Insassen birgt. Dass trotz des beschützenden Gefüges dieses Chaos jederzeit die Überhand gewinnen kann, wird durch die – an den „Andalusischen Hund“ Buñuels erinnernde – Illusion einer ­Ameise, die vom Arm des Protagonisten hervorsticht und ihn vorübergehend in den – durch einen Zeitraffer inszeniert  – Wahnsinn treibt, deutlich gemacht. „Ein Fehler in der Geschwindigkeit, im Rhythmus oder in der Harmonie wäre eine Katastrophe, denn er würde den Schöpfer und die Schöpfung zerstören, indem er die Kräfte des Chaos wieder eindringen ließe.“274 Eine besondere Beachtung bei der allmählichen Bildung des Ritornells im Verlauf der Szene beanspruchen zweifellos der Fernseher und seine deterritorialisierende Funktion. Der Fernseher ist eine Apparatur, die zwischen den zwei Aspekten des Ritornells vibriert, nämlich zwischen dem territorialen Gefüge, das sich Oh Dae-su geschaffen hat, und dem „Zwischengefüge“275 als Öffnung nach außen. Bildet er einen realen Gegenstand, der sich in der Zelle befindet, so weist er gleichzeitig auf eine Welt außerhalb der Zelle hin, eine Welt, die weder real noch fiktiv ist, sich als Zukunft, aber auch als Vergangenheit präsentiert. Der Fernseher steckt einerseits durch seine Klangmauer das Territorium 273 274 275

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Ebd., S. 455. Ebd., S. 424. Ebd., S. 455.

1. Deleuze und die Filmmusik ab, wobei er seine Binnenstruktur organisiert (Ordnung des Zeitablaufs in der Isolation des Protagonisten), gleichzeitig öffnet er es, indem er die Kommunikation mit anderen Milieus ermöglicht und Fluchtkomponenten generiert, die eine Interaktion der territorialen Gefüge möglich machen und ein „Intergefüge“ erzeugen. Durch den Fernseher treten das Innen- und das Außengefüge in Kontakt. Die Worte von Oh Dae-su: „Ich empfehle Dir ein inniges Verhältnis zum Fernseher aufzubauen. Es ist Deine Schule, Dein Zuhause, Deine Religion, Dein Freund, und… er ist auch Dein Geliebte“ sowie der Versuch des Eingesperrten, die Frau im Bild im sexuellen Sinne zu berühren, verdeutlichen das. Durch den Fernseher entgeht man der teleologischen Organisation des Binnengefüges und wagt Unvorhersehbares, man „improvisiert“: „Man bricht aus, wagt eine Improvisation. Aber Improvisieren bedeutet, sich mit der Welt zu verbinden und zu vermischen.“276 Der Fernseher bildet ein „Zwischengefüge“, oszilliert zwischen zwei unterschiedlichen abgegrenzten Ordnungen, zwischen spezifischen „Raum-Zeit-Verbindungen“ (blocs d’espace-temps), die den „Rhythmus“ der Szene herbeiführen. Der „Rhythmus“ koordiniert für Deleuze geradezu die Kräfte des jeweiligen Milieus. Obwohl er selbst keinen „Code“, keine stabile Ordnung und Regelmäßigkeit bestimmter Merkmale und Funktionen aufweist, die dem jewei­ ligen Milieu seine spezifische Physiognomie aufprägen könnten, organisiert er die Wechselseitigkeit, die unaufhörliche Transcodierung bzw. Übersetzbarkeit zwischen den Milieus, so dass das System nicht in Gefahr gerät, im Chaos zu versinken. Ausgehend von einem quasi polyrhythmischen Denken bezeichnet der Rhythmus die Kommunikation von unterschied­lichen periodischen Vorgängen, die ein „Inkommensurables“277 nach sich zieht, das völlig verschieden ist vom jeweiligen Stamm-Milieu, eine eigene Qualität erreichen kann aber nicht muss. Nur wenn der Rhythmus, diese Überlagerung von Milieus, eine dauerhafte Markierung erreicht, „expressiv“ wird, nimmt er die Form eines Territoriums an. Blickt man wieder auf den Film „Oldboy“, so lassen sich anhand des Territorialisierungskonzepts wichtige Bemerkungen zum Verhältnis von Bild und Klang machen. Die gesamte erwähnte Szene lässt sich als ein fortwährender 276 277

Ebd., S. 425. Ebd., S. 427.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt Prozess von De- bzw. Territorialisierungen zwischen Klang und Bild in einem umfassenden Ritornell, das durch die Erzählung des Protagonisten geprägt wird, beschreiben. Liefert nämlich die Deterritorialisierung des natürlichen Gasgeräusches in der Zelle von Oh Dae-su durch die diegetische elektronische Melodie, die den Einsatz des Schlafgases ankündigt, einen auslösenden Impuls, so schafft das sich anschließende Ritornell der über die gesamte Szene andauernden nicht-diegetischen Streichermusik einen abgegrenzten Bereich, der das innere Milieu des Mannes zusammenhält. Dieses Ritornell widersteht den bedrohlichen, „chaotischen“ Geräuschen des Gases und der in das Zimmer eingedrungenen Ärzte ebenso, wie es sich gegen den Fernseher dadurch behauptet, dass es den Rhythmus des darin gezeigten gewichthebenden Bodybuilders in den Rhythmus der Musik integriert. Ein Splittergeräusch beendet abrupt dieses Ritornell, unterbricht dabei die Szene, indem es nach einer von Elektro­ geräuschen begleiteten musikalischen Klimax das Bild Oh Dae-sus auf dem ­Boden antizipiert. Die bereits erfolgte Berührung der Klangmilieus Musik und Fernseher bleibt allerdings nicht ohne Folgen für die darauffolgende Szene. Die durch den Fernseher erfolgte Öffnung der musikalischen Klangmauer278, die den Raum fürs „Improvisieren“, nämlich für das „Vermischen“ des individuellen Raumes mit der Außenwelt, freilegte, prägt den weiteren Verlauf. Die zum Teil musikalische Klang-Collage aus verschiedenen Sendungen übernimmt die Rolle des anfänglichen Musikritornells, indem sie es deterritorialisiert. Das innere, emotionale Milieu Oh Dae-sus wird nach außen in den Fernsehapparat projiziert. Nicht mehr seine persönliche, einheitliche melancholische Empfindung bestimmt seine Situation und sein Handeln, sondern das fragmentarische Fernsehbild. Diese wortwörtliche Deterritorialisierung des Ritornells hält allerdings nicht lange an. Die bereits erwähnte sexuell motivierte Berührung mit der Sängerin im Bild holt das Ritornell gewissermaßen zurück in den Körper des Protagonisten. Nachdem das Splittergeräusch wieder einmal die Kontinuität der Diegese unterbricht, vollzieht sich durch eine Deterritorialisierung des Fernsehers – die Geräusche werden nunmehr allein durch den Körper Oh Dae-sus produziert, 278

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Das stimmt überein mit der Bemerkung Deleuzes, dass die Öffnung des Kreises nicht an der Stelle der alten Chaos-Kräfte stattfindet, sondern vom Kreis selber geschaffen wird. Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 425.

1. Deleuze und die Filmmusik indem er sich quasi in Fortführung des gezeigten Bodybuildertrainings durch Faustschläge gegen die Wand sportlich betätigt – eine Reterritorialisierung bzw. eine Rückkehr des Ritornells in das Territorium der Psyche des Gefangenen. Findet diese Rückkehr durch eine „Transduktion“279 der Körpergeräusche in eine rhythmische Unterhaltungsmusik mit nunmehr optimistischem Gestus statt, so werden im Unterschied zur Anfangsmusik jegliche Geräusche ausselektiert, so dass ein selbstbewusstes, unzerstörbares territoriales inneres Gefüge entsteht. Damit gehen weitere De- und Reterritorialisierungsprozesse im visuellen Bereich einher: Das reale Boxen des Oh Dae-sus wird als Fernsehbild ­deterritorialisiert, um zunächst als Schattenspiel, schließlich als Luftboxen reterritorialisiert zu werden. Die Szene mündet in das erste hörbare Natur­ geräusch aus der Welt außerhalb der Zelle, nämlich in das Rauschen des Regens, ein Resultat aus der mehrere Jahre andauernden Öffnung der Mauer des Territoriums der Zelle. Die gesamte Szene erweist sich als ein einheitlicher Verwandlungsprozess in einem kontrapunktischen Balanceakt zwischen Klang und Bild. Sie erhält den Status einer „Melodielandschaft“280, in der keines der beiden Milieus mehr als Hinweis auf die ihnen zugrunde liegenden Bestimmtheiten zu werten ist, sondern beide sich davon verselbständigen und im Sinne des Deleuze’schen Rhythmusbegriffes gemeinsam eine Eigenqualität des Werdens erlangen. Mensch und Zelle, realer und virtueller Körper, Klang und Bild überwinden ihre Distanz zueinander, organisieren sich in einem gemeinsamen Rhythmus, der die Voraussetzung für ihre Deterritorialisierung ist. Die Szene aus „Oldboy“ zeigt ­geradezu mustergültig, wie Klang und Bild miteinander kommunizieren, ihren jeweiligen Bereich öffnen, um sich gegenseitig zu verflechten und neue, intermediale Gefüge zu bilden. Es ist bezeichnend, dass Deleuze das Ritornell als diejenige Instanz sieht, die das Verhältnis von Klang und Bild koordiniert. Im Ritornell wird eine Wechselwirkung von Zeit- und Raumparametern vollzogen, die unter der „musikalischen“ Idee der Deterritorialisierung die ideale Form eines akustisch-visuellen Kontinuums erzielen kann. Wenngleich auf unterschiedlichen Voraussetzungen basierend, werden Ton und Bild durch das

279 280

Ebd., S. 427. Ebd., S. 434.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt Ritornell in ein Austauschverhältnis gebracht, das filmischen Raum und filmische Zeit in Relation setzt. Aber was ist nun ein Ritornell? Glass harmonica: das Ritornell ist ein Prisma, ein Raum-Zeit-Kristall. Es wirkt auf seine Umgebung ein, auf den Klang oder das Licht, um daraus verschiedene Vibrationen, Auflösungen, Projektionen und Transformationen zu gewinnen. Das Ritornell hat auch eine Katalysatorfunktion: es steigert nicht nur die Austausch- und Reaktionsgeschwindigkeit in seiner Umgebung, sondern ermöglicht auch indirekte Interaktionen zwischen Elementen, die angeblich keine natürliche Affinität haben, und bildet dadurch organisierte Massen.281

Zwei Aspekte sind im filmischen Ritornell wichtig: erstens, dass die Musik quasi die Führung im Deterritorialisierungsprozess für sich beansprucht. Zweitens, dass sich im sogenannten „kosmischen Ritornell“, nämlich in jenem deterritorialisierten Ritornell, das auf abstrahierten, „molekularisierten“ Milieus beruht, ein Idealtypus von Kunst zum Ausdruck kommt. Deleuze spricht das Verhältnis von Farbe und Klang im Kontext der Synästhesie an, um das Privileg des Klangs zu verdeutlichen. Es ist gerade die für den Klang spezifische fehlende Körperlichkeit, seine prinzipielle Möglichkeit, sich in seine elementaren Eigenschaften zu zergliedern, respektive deterritorialisieren zu können, ohne dabei seine Identität zu verlieren, die ihm den Vorrang in künstlerischen Transformationsprozessen gibt. Der Klang scheint sich immer mehr zu verfeinern, zu spezifizieren und autonom zu werden, wenn er sich deterritorialisiert. Während die Farbe vor allem haften bleibt, und zwar nicht so sehr am Gegenstand, sondern an der Territorialität. Wenn sie sich deterritorialisiert, tendiert sie dahin, sich aufzulösen und sich von anderen Komponenten steuern zu lassen. Das wird recht gut an den Phänomenen der Synästhesie deutlich, die sich nicht auf eine schlichte Korrespondenz von Farbe und Klang reduzieren lassen, sondern bei denen die Töne eine Steuerungsfunktion haben und Farben einführen, die die wahrgenommenen Farben überlagern, ihnen einen Rhythmus und eine im eigentlichen Sinne klangliche Bewegung geben.282 281 282

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Ebd., S. 476. Ebd., S. 474 f.

1. Deleuze und die Filmmusik Das Defizit des Visuellen, beim Verlust seiner engen Haftung am Territorium seine formbildende Kraft und seine morphologische Autonomie zu verlieren, lässt in einem Denken, in dem die Kraft der Umwandlung und der Anpassung die ausschlaggebende Bedeutung erlangt, das Klangliche die Vorreiterrolle übernehmen. Dadurch, dass das Ton- im Unterschied zum visuellen Material nicht nur gegenständlichen, sondern auch „geistigen“ Ursprungs ist, gelingt es ihm leichter, Prozesse der Deterritorialisierung zu vollziehen. Der Ton ist in der Lage, zwischen territorialer, irdischer Natur und abstraktem Kosmos zu vermitteln, er kann sich den Kräften des Territoriums anschließen, kann sich mit den irdischen Lebensrhythmen synchronisieren, um sie dann in eine abstrakte Welt zu überführen, wo sich die reinen Kräfte der Deterritorialisierung verselbständigen können. Er „verlässt die Erde, um uns in ein schwarzes Loch fallen zu lassen und auch, um uns für einen Kosmos zu öffnen.“283 Beachtenswert am ontologischen Begriff des Ritornells bei Deleuze im Zusammenhang mit den Betrachtungen zum „Oldboy“ ist, dass dieser aus dem Musikalischen stammende Terminus eine ­immanente Beziehung zum Filmmedium eingeht. Im Einklang mit seiner Philosophie, die dem „Haben“ den Vorrang vor dem „Sein“ gibt, dadurch den unmittelbaren Bezug auf das, wodurch ein Individuum zu einem Individuum wird, hervorhebt, geht es bei Deleuze nicht um das apriorische Vorhandensein von Eigenschaften in einem jeweiligen Gefüge, die eventuell von einem anderen „imitiert“ werden können. Ihm geht es um die Möglichkeiten, sich diese Eigenschaften anzueignen, sie dadurch selbst zu entwickeln und neue Gefüge ausbilden zu können. Diese Auffassung lässt sich auf die akustischen und visuellen Gefüge des Films übertragen. Die filmischen Gefüge Ton und Bild wären demzufolge nicht als abgeschlossene Entitäten zu begreifen, die in Kontakt treten und sich gegenseitig nachahmen bzw. sich untereinander auf den jeweiligen Gegenstand und Inhalt des anderen beziehen. Im Sinne eines innigen Verhältnisses von Klang und Bild im Film284 handelt es sich um keine binäre Beziehung. Klang und Bild verstehen sich als Resultate von Transcodierungen und Deterritorialisierungsprozessen, die als unterschiedliche Bereiche expressiv werden oder sich lediglich als Stationen von Übergangsprozessen zeigen können. 283 284

Ebd., S. 475. Siehe Einleitung dieser Arbeit.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt

1.4 Aktuell – virtuell Wäre ein immanentes Verhältnis von Ton und Bild nach Deleuze auf die Prozesse ihrer gegenseitigen Deterritorialisierung zurückzuführen, so liefern einige Hinweise des Philosophen direkt auf die Filmmusik eine konkrete Vorstellung des Deterritorialisierungsschemas. Zwei zentrale Elemente, nämlich das Ritornell, hier in der konkreten Bedeutung eines „melodischen“ Gebildes, und der Galopp als „reiner Rhythmus“ bestimmen zwei Grundmomente der Deleuze’schen Ästhetik, die den beiden Zeitdimensionen285 des Filmbildes entsprechen und dadurch eine prinzipielle Unterscheidung der akustischen Komponenten und ihrer Funktion im filmischen Zusammenhang möglich machen. Ritornell und Galopp fungieren bei Deleuze als zwei grundlegende Elemente des „Zeitkristalls“, eine Kategorie, die in Bergsons Zeitphilosophie ihren Ausgang nimmt und die Koexistenz von Aktuellem als auf die Gegenwart Bezogenem und Virtuellem als zeitgleich Vergangenem in jedem gegenwärtigen – so auch im filmischen –Erlebnis veranschaulicht. Die Vergangenheit koexistiert mit der Gegenwart, die sie gewesen ist; die Vergangenheit bewahrt sich als allgemeine (achronologische) Vergangenheit; die Zeit teilt sich in jedem Augenblick in Gegenwart und Vergangenheit auf, in vorübergehende Gegenwart und sich bewahrende Vergangenheit.286

Das Aktuelle ist das Objektive, das Virtuelle dagegen das Subjektive, aber – wie Deleuze ausdrücklich sagt – „nicht das unsrige, sondern die Innerlichkeit als die Zeit selbst“287. In seinen Ausführungen zur kristallinen Zeit im modernen Film sind es die beiden Elemente, die aufeinanderfolgend, sich überlappend, einander ergänzend und entgegensetzend das Fundament der musikalischen Bewegung bilden, durch ihr Oszillieren die übergeordnete Bedeutung der Musik im Film kenntlich machen. Was man im Kristall hört, sind Galopp und Ritornell als die beiden Dimensionen der musikalischen Zeit, die eine als Überstürzung der vorübergehenden Gegenwarten, die andere als Aufheben oder Zurückfallen der sich be285 286 287

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Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 126. Ebd., S. 113. Ebd.

1. Deleuze und die Filmmusik wahrenden Vergangenheiten. Fragt man sich nun nach der Besonderheit der Filmmusik, so scheint es uns, dass sich diese Besonderheit nicht einfach durch eine Dialektik des Akustischen und Optischen definieren lässt, die in eine neue Synthese eintreten (Eisenstein, Adorno). Die Filmmusik zielt von sich aus darauf ab, das Ritornell und den Galopp als zwei reine und sich selbst genügende Elemente vorzuführen […].288

Kann nach Deleuze die Wechselbeziehung zwischen aktuellem und virtuellem Bild im Film unterschiedliche Formen annehmen, so dass je nach dem individuellen Gepräge des jeweiligen Elements sich auch andere filmische Zeitkristalle bilden289, wobei auf die Bedeutung des Akustischen übertragen, von keiner festen Zuordnung des Visuellen zum aktuell Objektiven bzw. des Akustischen zum virtuellen Bild auszugehen wäre290, so bilden das Aktuelle und Virtuelle zwei Kategorien, die auch im speziellen Fall des „akustischen“ Kristalls über die Unterscheidung zwischen Galopp und Ritornell hinaus zur Klassifikation der akustischen Elemente, aber auch ihrer jeweiligen Funktion im Film beitragen können. Lissa hat an zahlreichen Beispielen deutlich gemacht, wie die Filmmusik eine „Zeitspaltung“ hervorrufen kann, so etwa wenn „die authentische Musik einer historischen Periode uns diese Periode unmittelbar repräsentiert, während das Filmbild diese Periode nur ‚darstellt‘, also mit modernen Mitteln zeigt.“291 Würde eine solche Auffassung auf die Aktualität, damit auf den „Galopp“ des Tons bzw. der Musik hinweisen, so ist ihr Beispiel des französischen Films „Lumière d’été“292, in dem das aktuelle visuelle Bild eines Liebespaares durch die virtuel288 289

290 291 292

Ebd., S. 126. Nach Deleuze können die beiden Kategorien je nach den künstlerischen Bedürfnissen des Regisseurs unterschiedliche Konnotationen im Film annehmen, so dass beispielsweise bei Renoir der Galopp die richtungsweisende Kraft erhält, während das Ritornell die melancholische Stimmung einer Vergangenheitserinnerung widerspiegelt. Bei Fellini tritt eine entgegengesetzte Zuordnung der beiden Komponenten auf, woraus sichtbar wird, dass jede dieser grundlegenden musikalischen Bewegungen mit unterschiedlichen Inhalten besetzt werden kann. Vgl. ebd., S. 127. Vgl. die Zwischenstellung des Tons zwischen subjektivem und objektivem Ausdruck in Kap. I.3.1 dieser Arbeit. Zofia Lissa: Ästhetik der Filmmusik, a. a. O., S. 147 f. Ebd., S. 149.

127

II. Funktionen des Tons in der Filmwelt len akustischen Erinnerungsbilder des jeweiligen Partners ergänzt wird (einerseits durch eine lyrische Musik, andererseits durch Schüsse und Lärm vertreten), als eindeutiger Hinweis auf das gespaltene Zeitverhältnis des Klangs im filmischen Bild zu werten. Dieses lässt sich auch bei Deleuze feststellen. In seinen Vorlesungen spricht er sich für eine deutliche Differenz zwischen den musikalischen Kategorien von Galopp und Ritornell aus. Dem zyklischen Charakter des Ritornells steht dabei die lineare Tendenz des Galopps gegenüber, die im Gegensatz zum auch rückwärtsgewandten Ritornell den ungestillten Drang nach immer neuen Gegenwarten, somit das Aktuelle repräsentiert: Et oui le galop, ce n’est pas une ritournelle, le galop. C’est un vecteur linéaire, avec précipitation, vitesse accrue. Vous me direz: la ronde aussi peut prendre une vitesse accrue, d’accord. Mais ce n’est pas une ligne, ce n’est pas un vecteur. Le galop, pour que ça marche il faudrait que le galop soit un élément musical aussi important que la ritournelle.293

Dass man ausgehend von dieser Auffassung nicht nur allgemeine Konsequenzen für die Funktion des Akustischen im Film ziehen, sondern darüber hinaus konkret jene akustischen Elemente im Film, denen eine „räumliche“ Zeit­ vorstellung des Aktuellen im Nacheinander von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft zugrunde liegt, von anderen, die von der Idee einer gleichzeitigen Existenz von Gegenwärtigem und Vergangenem oder gar zukünftigem Bild im Sinne des Ritornellgedankens ausgehen, abgrenzen kann, ist ein Befund, der weitreichende Folgen für die Bewertung des Musikalischen im filmischen Ganzen hat. Aus dieser Differenzierung lassen sich neben der Zuordnung der akustischen Komponenten und Techniken des Filmtons zu verschiedenen Bereichen des Filmischen auch stilistische Entscheidungen in Bezug auf den Toneinsatz im Film ans Licht bringen. So sind die klanglichen Momente, die auf mannigfaltige Weise am „natürlichen“ Verlauf der Zeit im Film partizipieren, einerseits indem sie sich dem diegetischen Kontinuum fügen, andererseits  – im Sinne der „temporal

293

128

Gilles Deleuze: Vérité et temps, Cours 58 (20/03/1984), Tonaufzeichnung des Seminars von Deleuze, transkribiert von E. Roques (http://www2.univ-paris8.fr/deleuze/ article.php3?id_article=337).

1. Deleuze und die Filmmusik vectoriza­tion“294 – eine zeitliche Sukzession wahrnehmbar machen, von solchen zu unterscheiden, die ein virtuelles akustisches Bild hervorbringen, das mit dem Aktuellen koexistiert und ihm eine zweite Schicht des Erinnerns verleiht. Könnte man zunächst grob der aktuellen Ebene diejenigen Elemente des Akustischen zuweisen, die unter die Kategorie der „Beschreibung“ unterzuordnen sind, so wären die Komponenten, die sich vom Visuellen entfernen und sich gerade auf die Einfühlung oder – im Gegenteil – auf die kritische Stellung des Zuschauers beziehen, zu den Elementen der virtuellen Schicht des audiovisuellen Kontinuums zu rechnen. Unter der Kategorie des Aktuellen lassen sich demzufolge diejenigen film­ akustischen Elemente subsumieren, die einen „Illustrationscharakter“ aufweisen. Nach Lissa: Das Illustrative bildet die Grundlage zweier Funktionen der Musik im Film: 1. der Funktion des Unterstreichens der Gestaltqualität visuell im Bild gezeigter Bewegungserscheinungen und 2. der Funktion der musikalischen Stilisierung auditiver Erscheinungen, die den im Bild gezeigten Gegenständen zugehören. Es sind zwei im Prinzip recht verschiedene Funktionen: Die erste bezieht sich ausschließlich auf die Sphäre der Bewegungen im Bild, die zweite auf die Schicht der dargestellten Gegenstände und der ihnen in Korre­la­ tion zugehörenden auditiven Erscheinungen.295

Die von Lissa erkannten Funktionen der Filmmusik wie die Unterstreichung von Bewegungen, die musikalische Stilisierung realer Geräusche sowie die akustische Repräsentation des dargestellten Raumes und der Zeit wären folglich dem aktuellen akustischen Bild zuzuordnen. Auch der Einsatz von Geräuschen gehört dazu, wobei aus den Worten Lissas ein grundlegendes Merkmal der Aktualität im Verhältnis von Ton und Bild ersichtlich wird. Geräuscheffekte, die als natürliches Korrelat zu allen Lebenserscheinungen, besonders Bewegungs­erscheinungen gehören, können also in der auditiven Schicht des Films ebenso funktionieren wie im Leben: Sie informieren uns

294 295

Vgl. Kap. II.2.2 dieser Arbeit. Zofia Lissa: Ästhetik der Filmmusik, a. a. O., S. 119.

129

II. Funktionen des Tons in der Filmwelt über gezeigte oder nicht gezeigte Erscheinungen, werden zur Ursache des Handelns usw.296

Der unmittelbare, ursächliche Bezug des Tons zu Gegenständen oder Handlungen verweist auf die ­Gegenwärtigkeit des audiovisuellen Kontakts. Im Anschluss an Bergson fungiert die zeitnahe, unbewusste und unreflektierte Korrelation von Wirkung und Reaktion, so wohl auch im audiovisuellen filmischen Kontext, als Zeichen von Aktualität und steht dabei im Gegensatz zu zeitlich entfernten Verbindungen, die den nötigen Spielraum sowohl für geistige als auch emotionale Prozesse bereitstellen. Mit einem Wort: je unmittelbarer die Reaktion sein muß, um so mehr muß die Wahrnehmung einer bloßen Berührung gleichen, und der ganze Vorgang von Wahrnehmung und Reaktion unterscheidet sich dann kaum von einem mechanischen Anstoß mit notwendig darauffolgender Bewegung. Aber je ungewisser die Reaktion wird und je mehr sie ein Abwarten zuläßt, desto mehr nimmt auch die ­Entfernung zu, in der das Lebewesen die Wirkung des Gegenstandes, der es beschäftigt, empfindet.297

Im Gegensatz zur Gegenwärtigkeit der beschriebenen Funktionen der Film­ musik und im Anschluss an die Beobachtung Bergsons weist die Wirkung der Filmmusik auf emotionaler Ebene einen eindeutig virtuellen Charakter auf. Lissas Kategorien einer Musik, die „als Ausdruck psychischer Erlebnisse“ fungiert, haben eines gemeinsam, sie fundieren eine zweite zeitliche Schicht, die synchron zur visuellen Ebene präsent wird und dennoch nicht die sichtbaren Inhalte akustisch wiederholt, sondern dadurch, dass sie „Eingänge“ zur Vergangenheit, Phantasie oder Traum zulässt, die Aktualitätsebene virtuell ergänzt. „Kindheitserinnerung, der Alptraum, die Entspannung, die Träumerei, die Phantasie, das ‚Déjà-vu‘“298, für Deleuze Öffnungen oder Risse des filmischen Zeitkristalls, folglich Voraussetzungen für seine kontinuierliche Veränderung und Umformung, sind bei Lissa eben gerade die Situationen, die am besten durch die Musik ausgedrückt oder repräsentiert werden können. Die „Reprä-

296 297 298

130

Ebd., S. 233. Henry Bergson: Materie und Gedächtnis, Hamburg 1991, S. 16 f. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 121.

1. Deleuze und die Filmmusik sentation von Erinnerungen“, „die Widerspiegelung von Phantasievorstellungen“, „die Aufdeckung von Trauminhalten und Halluzinationen“ gehören zu den zentralen Funktionen, die die Musik im Film als Ausdrucksmittel psychischer Erlebnisse übernehmen kann. Sie alle aktivieren eine virtuelle akustische Schicht, die sowohl die akustische als auch die visuelle Aktualitätsebene des Films ergänzt. Lässt sich aufgrund der Bestimmung aktueller und virtueller Ton-Bild-Beziehungen eine Zuordnung zu den grundlegenden Filmmusiktechniken vollziehen, so dass der beschreibende299, „aktuelle“ Charakter des sog. „Underscoring“ von der die Einfühlung des Zuschauers ansprechenden „virtuellen“ „Mood-Technik“ zu unterscheiden ist, so führen beide Formen eine differente Weise der Ergänzung des übergreifenden audiovisuellen Zusammenhangs herbei. Sie nehmen Einfluss auf die Formung des für den jeweiligen Film spezifischen „audiovisuellen Kristalls“, der quasi als morphologische Hauptinstanz die Interferenz der beiden filmischen Dimensionen, der akustischen und der visuellen koordiniert. Im unentwegten Austausch zwischen den Realitätsschichten, zwischen Aktuellem und Virtuellem, zwischen deutlicher und undurchsichtiger Erscheinung, zwischen Subjekt und Objekt300 offenbart der Kristall einen reinen Begriff von Zeit, der nicht mittelbar durch die visuelle oder die akustisch-musikalische Bewegung, sondern auch im Film als Wesen und Ewiges aufgefasst wird. Von besonderem Interesse im Hinblick auf die Bestimmung der Zeitlichkeit in der Filmmusik durch Deleuze sind wieder die Parallelen zur Filmmusiktheorie Adornos, der mit dem Begriff der „Gegenwärtigkeit musikalischer Ereignisse“ und ihrem Verhältnis zum Film eine ähnliche Argumentation verfolgt, ­dabei jedoch bei der Frage nach der allgemeinen Funktion des Akustisch-Musikalischen im Film einen anderen Akzent setzt. Während nämlich in der ästhetischen Auseinandersetzung Adornos mit der Filmmusik eindeutig das Vorziehen des dynamischen, sich fortschreitenden Charakters der Musik im Film erkennbar wird, so lässt die favorisierte Verwendung des in sich ruhenden Begriffs des Ritornells bei Deleuze seine Präferenz für die „polyphone“, auf der Simultaneität der filmischen Aspekte basierte Tongestaltung sichtbar werden. 299 300

Deleuze nennt explizit das aktuelle Bild, sei es visueller oder akustischer Natur, „Beschreibung“. Vgl. ebd., S. 68. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 99.

131

II. Funktionen des Tons in der Filmwelt Adorno geht in seiner Auseinandersetzung mit der Musik im Film zunächst von ihrer Abgrenzung von der absoluten Musik aus. Während er in der absoluten Musik und konkret im klassischen Sonatensatz auf die grundlegende Differenzierung zwischen den thematischen Abschnitten, wo die musikalischen ­Ereignisse, eben die Themen, „es selbst sind, nämlich als das Erwartete und Erinnerte wahrgenommen werden“301, und den Übergangsmomenten hinweist, die „auf ein solches Erwartetes oder Erinnertes hin- oder von ihm wegleiten“302, so konstatiert er im Bereich der Filmmusik eine andere Situation. Nicht die Musik, sondern der Bildverlauf liefert nunmehr diese Elemente, die eine höhere Autonomie insofern aufweisen, als sie zum Gegenstand von Erinnerung und Erwartung gemacht werden können. Die Rolle der Musik im Film beschränkt sich darauf, Übergänge zu schaffen, die a­ llein in ihrem „Gestus“ als solche sichtbar werden, sich nicht als Teil von Entwicklungsprozessen bestimmen, sondern aktuelle, nämlich vorbereitende, abschließende oder ähnliche Funktionen erfüllen. Die Musik im Film dürfe nicht „auf sich selber reflektieren“303, indem sie erinnerbare, aus dem Klangverlauf hervortretende Themen und Melodien verwendet. Während diese Aufgabe eher dem Bild vorbehalten werden solle, so dass eine unvorteilhafte Konkurrenz der beiden Filmelemente vermieden wird, sei eben das Ziel der Musik, den „Hintergrund“ der Wahrnehmung mit ästhetischen Inhalten zu besetzen. Der konventionelle Begriff der Melodie ist gleichbedeutend mit Oberstimmenmelodie. Diese aber, dem Liedstil entlehnt, ist von vornherein darauf angelegt, den Vordergrund der Wahrnehmung zu übernehmen. Die Oberstimmenmelodie ist Figur, nicht Hintergrund. Figur im Film ist aber das Bild, und ein Bild permanent mit Oberstimmenmelodik zu begleiten, führt eben darum zu Undeutlichkeiten, Verwischtheit und Verwirrung.304

Ergibt sich daraus, dass die Neue Musik mit ihrem Charakter, „gleich nah am Mittelpunkt zu sein“305, also wegen ihrer nichthierarchischen, quasi molekula301 302 303 304 305

132

Theodor W. Adorno: Komposition für den Film, a. a. O., S. 94. Ebd. Ebd. Ebd., S. 48. Vgl. Kap. I.2 dieser Arbeit.

1. Deleuze und die Filmmusik ren, nicht-thematischen Textur geeigneter ist, eine konstruktive Funktion zu meistern, so wird die Auffassung Adornos in Gegenüberstellung zu der Deleuzes deutlich: Nicht die wiederkennbare Figur des Ritornells (im Sinne eines sich mehr oder weniger vom musikalischen oder narrativen Kontext verselbständigenden Motivs) verbindet das Bild und den Klang. Grundlage der Filmmusik ist nicht die Formulierung individueller, territorialer musikalischer Gefüge. Als kompositorisches Ziel fungiert die Bildung von rein funktionellen musikalischen Vorgängen, die trotz ihres punktuellen, von jeglicher musikalischen Entwicklungslogik losgelösten Charakters in der Lage sind, Effekte zu erzeugen, die in Korrelation zum Bild formbildend wirken können. Die Bildung von Höhepunkten oder von auf einen dramatischen Schluss hinzielenden Klangprozessen gehört dazu. Für die Filmmusikkomposition entscheidend ist der planvolle Einsatz von klanglichen Momenten, die unabhängig von jeglichem, im Film ohnehin nicht tragfähigen, musikalischen Zusammenhang dazu geeignet sind, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, auf abstrakte Weise Wirkungszusammenhänge mit dem Bild bewusst werden zu lassen. Im Rahmen einer solchen Auffassung erlangt ein Prinzip der Neuen Musik eine besondere Bedeutung. Berücksichtigt man den Stellenwert, den Adorno der Dissonanz in der Filmmusik zuschreibt, so wäre dem rhythmischen Charakter des Galopps der Aspekt der harmonischen Dissonanz hinzuzu­fügen. Im Unterschied zum melodischen Element, dem sowohl von Deleuze als auch von Adorno eine statische Eigenschaft zugewiesen wird, fungiert die den Charakter des rhythmischen Galopps aufweisende dominierende Dissonanz als eine vorantreibende Kraft, die dem „prosa-artigen Charakter“306 des Films entspricht. Der Klang wird seiner Statik beraubt und durch das immer präsente Moment des „Unaufgelösten“ dynamisiert. Die neue Sprache ist gleichsam dramatisch, noch ehe es zum Konflikt, zur motivisch-thematischen Auseinandersetzung der Durchführung kommt. Ein verwandter Zug ist dem Film eigentümlich. In ihm ist das Spannungsprinzip, selbst in der schwächsten Produktion, latent so durchaus wirksam, dass noch Vorgänge, denen als ­solche gar keine Bedeutung zukommt, wie versprengte Bruchstücke eines Sinnes erscheinen, den das Ganze einlösen soll. Solche Vorgänge treiben weit

306

Theodor W. Adorno: Komposition für den Film, a. a. O., S. 93.

133

II. Funktionen des Tons in der Filmwelt über sich hinaus. Diesem Element des Films vermag die neue musikalische Sprache besonders treu zu folgen.307

Das von Adorno bemerkte, sich in der Dissonanz manifestierende Spannungsprinzip entspricht dem Begriff des „Affekts“308 bei Deleuze. Der Affekt ist eine Kategorie, die wiederum dem Adorn’schen „Mimesisbegriff“ insofern nahesteht, als er auf eine entsubjektivierende philosophische Haltung ­hinausläuft309, dabei die Offenheit und Veränderbarkeit eines Gefüges durch die Verbindung mit anderen Gefügen betont. In einem Prozess des „Werdens“ wird das Subjekt nur in seinem Affiziert-Werden von anderen Körpern oder Inhalten, also nur in den Übergängen zwischen Affektzuständen, begriffen. „Denn der Affekt ist kein persönliches Gefühl und auch keine Eigenschaft mehr, sondern eine Auswirkung der Kraft der Meute, die das Ich in Aufregung versetzt und taumeln lässt.“310 Affekte sind eben diese Vermögen, die unterschiedliche Gefüge in Zusammenhang treten lassen, die „keine Identifizierung“, aber eine „Symbiose“311 zwischen verschiedenen Individuen bewirken. Wir wissen nichts von einem Körper, wenn wir nicht wissen, was er vermag, das heißt, welche Affekte er hat, wie sie sich mit anderen Affekten, den ­Affekten eines anderen Körpers, verbinden können oder nicht, um ihn entweder zu zerstören oder von ihm zerstört zu werden, um entweder zu handeln oder zu leiden, oder mit ihm einen Körper zu bilden, der noch mehr vermag als er.312

307 308 309

310 311 312

134

Ebd., S. 46 f. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 328. Vgl. Hartmut Winkler: Über das mimetische Vermögen, seine Zukunft und seine Maschinen (http://homepages.uni-paderborn.de/winkler/mimesis.html). „Mimesis hat für Adorno eine utopische Qualität, weil sie die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt, die die begriffliche Erkenntnis nicht überschreiten kann, überschreitet. Sie trägt der Tatsache Rechnung, daß das Subjekt mit seinem Körper in die Sphäre des zu Erkennenden immer schon involviert ist und sich nur künstlich und gewaltförmig von dieser absetzen kann.“ Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 328. Ebd., S. 351. Ebd., S. 350.

1. Deleuze und die Filmmusik Die Affekte verlaufen in der Zeit des „Äon“313, im Gegensatz zu der Maße, Dinge und Subjekte determinierenden Zeit des „Chronos“, der unbestimmten „Zeit des Ereignisses“, der fließenden Linie, einer Zeit, die nur Geschwindigkeiten kennt und „in etwas schon Vorhandenes und in etwas noch nicht Vorhandenes“ aufteilt. Fungiert auch der das Adorn’sche Primat des Übergangs und der Dissonanz umfassende Affektbegriff als Teil des Deterritorialisierungsprozesses, – so dass von der allgemeinen philosophischen Perspektive Deleuzes zur Filmmusik aus betrachtet, sich eine Übereinstimmung mit Adorno ergibt – so ist das „immanente Ziel“ dieses Prozesses für Deleuze das „Unwahrnehmbare“314. Stimmt die Idee des Unwahrnehmbaren, würde man sie auf die Filmmusik übertragen, mit der Auffassung von Adorno insofern überein, als damit selbstverständlich nicht das Klischee „Filmmusik soll man nicht hören“315 gemeint ist, sondern, dass die Musik im Film weniger einen auf sich selbst bezogenen Themencharakter besitze, sie vielmehr Übergänge schaffe und flexibel auf die abrupten Szenenwechsel reagieren solle, so ersetzen auch bei Deleuze die reinen Veränderungsmechanismen, „Steigerungen und Ver­ringerungen, Verzögerungen und Beschleunigungen“316 das (musikalische) Individuum als Form und Gestalt. Unter anderem in der Musik Schumanns317 sieht Deleuze die Realisierung des Prinzips des Unwahrnehmbaren, nämlich die Auflösung von Formen und Motiven, aus deren Bruchstücken Beziehungen hergestellt werden, für die allein der „Prozess des Begehrens“318, schlicht die Anziehungskraft „in der Zone der Nachbarschaft“, entscheidend ist. Nicht die Objekte oder Gestalten selbst werden wahrnehmbar, sondern lediglich die (kinästhetischen) Empfindungen von Beschleunigungs- oder Verlangsamungsprozessen. Wie die fetten japanischen Ringer, die so langsam herankommen und so schnell und plötzlich zupacken, dass man es nicht sehen kann. Was sich also zusammenschließt, sind weniger die Ringer, als vielmehr die unendliche 313 314 315 316 317 318

Ebd., S. 356. Ebd., S. 380. Vgl. Theodor W. Adorno: Komposition für den Film, a. a. O., S. 19 f. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 368. Ebd. Ebd., S. 371.

135

II. Funktionen des Tons in der Filmwelt Langsamkeit der Erwartung (Was wird passieren?) und die unendliche Schnelligkeit des Ergebnisses (Was ist passiert?).319

1.5 „Informelle“ Filmmusik Die Theorie des Ritornells öffnet einen breiten Deutungsspielraum in Bezug auf die Rolle der Musik im Film. Die Zusammenfügung und Bewahrung von Territorien einerseits, die Öffnung dieser Territorien und die Motivation neuer andererseits bilden zwei Grundfunktionen, die die Musik im Film erfüllen kann. Machen die Ausführungen Deleuzes zur Filmmusik darüber hinaus eine Perspektive für eine grundsätzliche Bestimmung des Verhältnisses zwischen Musik und filmischem Bild auf der Grundlage des Gedankens der „kristallinen Zeit“ zugänglich, die doch wesentliche gemeinsame Züge mit der Theorie ­Adornos über die Aufgaben der Musik im Film aufweist, so lassen sich im ­Anschluss an beide Autoren Thesen zu einem immanenten Verhältnis von Ton/ Musik und Bild aussprechen. Will man die Beschaffenheit einer Musik beschreiben, die nach Deleuze und auch nach Adorno in der Lage ist, ihre Möglichkeiten in einem produktiven Austausch mit dem Filmmedium auszuschöpfen, indem sie nicht akzessorisch, sondern substanziell Einsatz findet, so kann man auf eine theoretische Konzeption Adornos zurückgreifen, die, obwohl sie nicht das Problem der Musik im Film konkret betrifft, so doch beim Versuch einer Formulierung der wesentlichen Eigenschaften einer solchen Musik sich als besonders aussichtsreich anbietet. Das Problem der Neuen Musik, wie es von Adorno in seinem Aufsatz „Vers une musique informelle“ thematisiert wird, lässt sich in diesem Sinne auf das Verhältnis zwischen Bild und Klang übertragen. Die Beobachtung, dass sich auch nach Adorno  – wie sein Zitat über das Vordergrund-Hintergrund-Verhältnis zwischen Musik und filmischem Bild bezeugt320 – ein immanenter intermedialer Austausch zwischen Film und Musik vollziehen kann, versetzt neben weiteren seiner Ausführungen zur Filmmusik, die geradezu zu solch einem Schritt hinführen, in die Lage, eine solche Unternehmung zu erproben.

319 320

136

Ebd., S. 382. Vgl. weiter oben, Kap. II.1.4 (Anm. 304).

1. Deleuze und die Filmmusik Das Problem, das Adorno der Neuen Musik attestiert, um ihm mit der Skizzierung seiner „informellen“ Musikkonzeption entgegenzuwirken, ist wohl ihr Defizit, Zeit – im spezifischen Sinne des Philosophen – auszudrücken. Facetten dieses grundsätzlichen Mangels der atonalen und noch gravierender der Zwölftonmusik sind die gestörten Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt, kompositorischer Vorstellung und logischer Konstruktion, Allgemeinem und Besonderem, Dynamik und Statik, Entwicklung und abstrakter Gesamtordnung, motivisch-thematischer Arbeit und integraler Durchbildung. Die Negation jeglicher „triebähnlicher Relationen“, allen voran des Leittons, verhindert das Aufkeimen „organischer“ Zusammenhänge, die die Zeit als Entfaltung von den individuellen Teilen zum formalen Ganzen perzipieren lässt. „Nur was unmittelbar sich berührt, wirkt, als wüchse es. Nach dem Urbild des Leittons wurde das organische Verhältnis stets als das zweier benachbarter Sukzessivereignisse vorgestellt, die bruchlos ineinander sind.“321 Es ist die Vorstellung einer vom Subjekt unabhängigen, „natürlichen“ Zeitsukzession, die Adorno in der Neuen Musik vermisst und welche er unter Berücksichtigung des aktuellen Materialstands wiederzubeleben versucht. Der minimale, gleichsam anstrengungslose Übergang des Halbtonschritts assoziiert sich regelmäßig mit der Erinnerung an pflanzlich Treibendes, als wäre er nicht veranstaltet, sondern wüchse er zu seinem Telos ohne subjektiven Eingriff von sich aus.322

Die Bedeutung, die Adorno im Horizont dieses ästhetischen Ziels der „informellen Musik“ verleiht, einer Musik also, die die musikalische Zeit dadurch wieder erlebbar machen soll, dass sie „alle ihr äußerlich, abstrakt, starr gegenüberstehenden Formen abgeworfen hat, die aber, vollkommen frei vom heteronom Auferlegten und ihr Fremden, doch objektiv zwingend im Phänomen, nicht in diesen auswendigen Gesetzmäßigkeiten konstituiert,“323 kann auch für die Inhalte und die Funktionen einer Filmmusik geltend gemacht werden. Ist man von einer solchen Auffassung ausgehend bestrebt, den Begriff einer – in 321 322 323

Theodor W. Adorno: Vers une musique informelle, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 16 (Hg. R. Tiedemann), Frankfurt/M. 1982, S. 528 f. Ebd., S. 526. Ebd., S. 496.

137

II. Funktionen des Tons in der Filmwelt Analogie zum Adorn’schen Terminus – „informellen Filmmusik“ zu formulieren, so wäre ihr primärer Zweck darin zu suchen, dass sie sich ihren Sinn nicht durch das fremde, heteronome Element des Bildes diktieren lässt, sondern sich von ihm entkoppelt; nicht etwa durch eine vollkommene Emanzipation, sondern dadurch, dass sie den Sinn des heterogenen Bildes erst als Resultat ihrer Aktivität hervortreten lässt. Man könnte Bergson paraphrasieren324, um das Wesen der informellen Filmmusik zu beschreiben: Die Musik im Film verhält sich wie ein Bild, das andere Bilder reflektiert, indem es sie unter dem Gesichtspunkte der verschiedenen Wirkungen, die es auf sie ausüben kann, analysiert. Im Sinne der Funktion des Leibes bei der wahrnehmungsmäßigen Konstitution der aus­gedehnten Gegenstände in der Bergson’schen Diktion wäre also auch die Musik als die akustische Repräsentation derjenigen Inhalte des filmischen Bildes zu verstehen, auf die sie Einfluss nimmt, sie im Einklang mit ihrem eigenen Gehalt in einem unterschiedlichen „Licht“ erscheinen lässt. Während das filmische Bild sich als Reflexion des musikalischen Bildes zeigt, erlangt die Musik durch das Bild eine Objektivität, die aber nicht vom visuellen Gegenstand diktiert wird, sondern das Resultat einer sich am visuellen Gegenstand orientierenden, mit einem gewissen „Bedürfnis“325 verknüpften Handlung ist. In der absoluten Musik erfolgt dieser Objektivierungsprozess musik­ immanent. Musik negiert die Psychologie dialektisch. Wohl trägt sie im Innenraum, einem Imaginativen und insofern Subjektiven sich zu; indem sie aber durch ihre Logik sich objektiviert, geformte Gestalt wird, entäußert sie sich ihm zugleich, wird zur Objektivität zweiter Potenz, sogar einer quasi-räumlichen. In ihr kehrt die auswendige Objektivität als die des Subjekts wieder.326

Das Material der Musik, die eigentliche Objektivität, wird vermittelt durch das Subjekt zur zweiten Objektivität, die die Spuren des Subjektiven, bei Adorno also des „relationalen Moments“327, in sich trägt. Im Falle der „informellen“ Filmmusik ereignet sich diese dynamisierende Wechselbeziehung zwischen Bild und 324 325 326 327

138

Vgl. Henri Bergson: Materie und Gedächtnis, a. a. O., S. 34. Ebd., S. 35. Theodor W. Adorno: Vers une musique informelle, a. a. O., S. 521 f. Ebd., S. 522.

1. Deleuze und die Filmmusik Klang. Als relationales Moment im Film fungiert die Musik, die das Bild „beseelt“328, das „Unmittelbare“ der filmischen Erfahrung, das unbestreitbar das Bild ist, „zum Moment relativiert“329. Ähnlich wie die Variation der musikalischen Gestalt trotz der Veränderung ihre Identität nicht negiert, so fungiert auch die Musik in Relation zum Bild als subjektiver Anteil an der weitgehend nicht antastbaren Objektivität des Bildes. Wenngleich die Musik nicht dazu fähig ist, die Objektivität des Bildes in Frage zu stellen, so kann sie doch der Impuls für seine Veränderung sein. Gerade dann, wenn sie diegetischer Natur ist und ihre Wesensgrundlage im Bild hat, so wird es für sie möglich, einen Ausgleich zwischen subjektivem musikalischen Eingriff und objektiver visueller Natur zu schaffen, das Subjektive gewissermaßen als Objektives auftreten zu lassen. Diese Absicht sieht Adorno in der Musik „Tristans“, so in der Bedeutung des chromatischen Schritts sowohl als Resultat der kompositorischen Entscheidung wie auch als Bestandteil des Materials der Musik, erfüllt.330 Selbst in ­einem Kunstwerk, das gerade von der abstrakten Heteronomie zwischen Bild und Musik lebt, wird es so, vornehmlich durch den diegetischen Klang, der quasi im „Sukzessivverhältnis“331 zum Bild, nämlich in unmittelbarer Beziehung zu ihm steht, realisierbar, dass der „Schein des Organischen“332 eine vollkommene Entfremdung zwischen Bild und Klang verhindert. So wird ein Einsatz der Musik legitimiert, der nicht von oben her, also von der abstrakten Organisation der Montage determiniert wird, sondern als Trieb der filmischen Elemente vernommen wird. Die Musik, obwohl sie selbst diskontinuierlich und gestisch erklingen kann, gibt dem Bildkontinuum die durch die Montage abstrakt gewordene, „verräumlichte“ organische Zeitordnung wieder. Gravierender nämlich als im Falle der montageartig disponierten quasi-filmischen Tonfelder Strawinskys, die trotz der allgemeinen Statik aufgrund einer der Musik allgemein inhärenten Logik des Zeitverlaufs doch nicht beliebig austauschbar sind333, fehlt es dem filmischen Bildfluss (selbst bei Anwendung der Prinzipien des „unsichtbaren

328 329 330 331 332 333

Ebd., S. 521. Ebd., S. 520. Ebd., S. 526. Ebd., S. 529. Ebd., S. 526. Ebd., S. 516.

139

II. Funktionen des Tons in der Filmwelt Schnitts“) weitgehend an einer natürlich anmutenden, stringenten Kontinuität. Sowohl für Strawinsky als auch für den Film gilt bei Adorno, dass die Komposition den Zeitverlauf dissoziiert, sie die Nebeneinanderstellung von getrennten Elementen dem Prinzip der ­dialektischen Synthese vorzieht. Erinnerungstrümmer werden aneinandergereiht, nicht musikalisch unmittelbares Material aus der eigenen Triebkraft entfaltet. Die Komposition verwirklicht sich nicht durch Entwicklung, sondern vermöge der Risse, welche sie durchfurchen. Sie übernehmen die Rolle, die früher dem Ausdruck zufiel: ähnlich wie Eisenstein von der Filmmontage erklärte, der „allgemeine Begriff“, die Bedeutung, die Synthese der Teilelemente des Vorwurfs gehe gerade aus ihrer Nebeneinanderstellung als getrennte hervor. Damit aber dissoziiert sich das musikalische Zeitkontinuum selber. Strawinskys Musik bleibt Randphänomen trotz der Ausbreitung ihres Stils über die gesamte jüngere Generation, weil sie die dialektische Auseinandersetzung mit dem musikalischen Zeitverlauf vermeidet, die das Wesen aller großen Musik seit Bach ausmacht.334

Der Einsatz von Musik im Film kann dazu verhelfen, das Erleben des Zeitkontinuums wiederherzustellen. Als ein quasi „motivisch-thematisches“ Element im Film rechtfertigt die Musik die Durchgänge zwischen den Einstellungen, entzieht der Montage den notwendig mechanischen Charakter, indem sie ihr ein intentionales Moment zufügt. Wird dem Film durch die Musik ein „Schein des Organischen“335 verliehen, so wird gerade bei ihrem Einsatz das Lebendige wieder spürbar. Gerade im Falle der Musik für den Film wirkt die Synthese der visuellen Objektivität mit dem nicht von der visuellen Konstruktion vorgeschriebenen, vielmehr gesetzt subjektiven musikalischen Eingriff nicht künstlich, sondern wie eine Synthese aus einem inneren Prinzip heraus. Selbst beim weit verbreiteten Einsatz nicht-diegetischer Musik wird das Natürliche des Vorgangs nicht in Zweifel gezogen. Niemand würde sich skeptisch darüber äußern, wenn in einer Szene im Weltraum ein romantisches Orchester den Flug eines Raumschiffs begleitet, niemand würde sich dafür interessieren, dass diese Verknüpfung jeder inhaltlichen Konsistenz entbehrt. Allein die Tatsache, dass ein Ereignis dem anderen unmittelbar folgt, genügt, um die Glaubwürdigkeit des 334 335

140

Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, a. a. O., S. 171. Theodor W. Adorno: Vers une musique informelle, a. a. O., S. 525.

2. Territorialisierung Vorgangs nicht in Frage zu stellen, um einen organischen Zusammenhang zwischen den beiden Elementen zumindest anzunehmen. Wie für die absolute Musik, so gilt auch hier wieder der Leitsatz Adornos: „Nur was unmittelbar sich berührt, wirkt, als wüchse es.“336 Die Filmmusik übernimmt die Funktion eines filmischen „Leittons“, hat eine nicht widerlegbare Tendenz zur Konsequenz, die im Bild ihre Erfüllung finden kann oder auch nicht. Ist genau diese triebähnliche Kraft, die von der Musik ausgeht, als Grund für die Verwendung des Dominantenbegriffs in der Eisenstein’schen Montage­ theorie337 zu vermuten, so ist darin ein Grundprinzip der klanglichen Filmdimension zu erkennen. Die „Spannung“ als Voraussetzung für einen Zeitbegriff, der sich als „Entwicklung“ definiert, ist in Analogie zur Situation in der Neuen Musik ein zentrales Kriterium der musikalischen Komposition im Film. Als sinnvoller Übergang zu einem Nicht-Identischen heißt Entwicklung notwendig stets Spannung zwischen dem Verschiedenen. Offen, ob der Ausgleich der Spannung, die Wiederherstellung eines Gleichgewichts, der Identität des Nicht-Identischen im Ganzen, das Ideal jeder dialektischen ent­ falteten Komposition sei.338

2. Territorialisierung Ist die im Sinne der informellen Filmmusik vollzogene Wiederherstellung von zeitlicher Entwicklungsdynamik im Film auf das Potenzial des filmischen Tons bzw. der Musik zurückzuführen, so wäre sie eine von mehreren Funktionen, die die akustische Filmschicht im Rahmen einer Theorie des filmmusikalischen Ritornells vorzuweisen hat. Die Mitwirkung bei der Entstehung von räumlichen, aber auch emotionalen territorialen Sinnzusammenhängen gehört ebenso wie die Formation zeitlicher Kontinua zu den wesentlichen Aufgaben der filmischen Tonarbeit. 336 337 338

Ebd., S. 528. Vgl. Iakovos Steinhauer: Musik und Montage bei Sergej Eisenstein, in: H. Engelke, R. M. Fischer, R. Prange (Hg.): Film als Raumkunst, a. a. O., S. 104 ff. Theodor W. Adorno: Kriterien der neuen Musik, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 16, a. a. O., S. 224.

141

II. Funktionen des Tons in der Filmwelt

2.1 Bildung von Klanglandschaften und -physiognomien Bezeichnend für das Verhältnis zwischen Ton und filmischem Raum ist es, dass selbst dann, wenn die Tonebene gerade durch den Einsatz von Musik sich am weitesten von der Realität der filmischen Darstellung entfernt, sie dennoch dazu fähig ist, einen zwar latenten jedoch intensiven Eindruck von Raumempfindung und eine Atmosphäre zu schaffen. Die Musik fördert dann den allgemeinen Charakter, die Stimmung zutage, die als untergründige Strömung der Handlung im Visuellen keinen Platz findet. Sie unterstützt die Handlung nach dem Prinzip, das Eisenstein das Prinzip der „Obertöne“ im Film genannt hat. Wie die Obertöne im Klang für dessen Farbe entscheidend seien, so trägt eine Musik, die dem Bild nur die Ausdrucksatmosphäre verleiht, zu einer bestimmten künstlerischen Aussage der Szenen bei. Daher kann sie die Szenen mit verschiedenem ­Inhalt zu einem Ganzen verbinden, indem sie jene Emotion hinzufügt, die sie selbst in sich trägt.339

In Zusammenhang damit können Geräusche und Musik die Vertrautheit eines akustisch wohl­bekannten Ortes vermitteln. Der häusliche Raum, der Wohnraum (ungefähres Gegenstück zum tierischen Territorium) ist ein Raum vertrauter, wieder erkannter Geräusche, die zusammen eine Art häusliche Symphonie bilden: das unterschiedliche Schlagen der Türen, Stimmfetzen, Geräusche aus der Küche, aus Rohren, Lärm von draußen.340

Interessant an solchen Geräuschformationen ist, dass nicht das akustische Gesamtbild, sondern ­einzelne charakteristische Geräusche die aurale Physiognomie des jeweiligen Raumes prägen. Diese wiederum besteht nicht allein aus semantisch neutralen akustischen Signalen, sondern ist mit einem bestimmten konnotativen Gehalt versehen. Sie bringt die „Stimmung“ einer Szene zum Ausdruck, für Balázs die „Seele einer Landschaft oder irgendeines Milieus“341. 339 340 341

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Zofia Lissa: Ästhetik der Filmmusik, a. a. O., S. 195. Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt/M. 1990, S. 250. Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, a. a. O., S. 57.

2. Territorialisierung Dies kann nicht in einer objektiven und allumfassenden Gesamtdarstellung erfasst werden, sondern eher in aussagekräftigen Details. Wie auch die „Stimmung eines Menschen“ gerade im Detail des Blicks seiner Augen eher expressiv wird als in anderen Teilen seines Körpers, so ist auch das klangliche Bild der Welt „im Kolorit eines Temperaments, in der Beleuchtung eines Gefühls“342 nicht im amorphen Ganzen, sondern durch die „Großaufnahme“ charakteristischer Klangsegmente gewährleistet. Der Beginn von „M“, des ersten Tonfilms von Fritz Lang, ist ein gutes Beispiel für die Schöpfung solch abgeschlossener akustischer Territorien, die aus charakteristischen Geräuschkompositionen bestehen, die in die Narration integriert werden. Es sind das refrainartige Singen der Kinder im Hof, die repetitiven Geräuschmuster am Waschbrett der Mutter, die ihre Tochter nach der Schule erwartet, die Treppengeräusche der Schulkinder im gemeinsamen Haus und schließlich das in den Glockenklang der Schule überleitende Geräusch der Kuckucksuhr im Wohnungszimmer, die die Atmosphäre des Haus- und Stadtterritoriums prägen und den Anschein normaler und angenehmer Augenblicke einer Alltagszene am Anfang des Films erwecken. Dennoch: Einen Laut gab es, der den Lärm des geschäftigen Lebens immer wieder übertönte, der, wenn auch so vielfältig doch nie verwirrend klang und alles vorübergehend in eine Sphäre der Ordnung emporhob: die Glocken. Die Glocken waren im täglichen Leben wie warnende gute Geister, die mit vertrauter Stimme bald Trauer, bald Freude, bald Ruhe, bald Unruhe verkündeten.343

Geben die – wohlgemerkt nicht auf den Film Langs bezogenen – Worte des Kulturhistorikers Huizinga die Stimmung des Filmes insofern wieder, als dass einige der Geräusche, und zwar neben den Glocken vor allem die Autohupen, ein ambivalentes, zwischen alltäglicher Ruhe und Bedrohung sich manifestierendes emotionales Filmambiente schaffen, so ist es eben diese Atmosphäre, die die gesamte Szene prägt, alle übrigen Geräusche integriert und die verdeckten Emotionen der Erzählung veräußerlicht. In einem Dialog zwischen Außenund Innengeräuschen, der zwei Milieus innerhalb des Stadtterritoriums gegen342 343

Ebd., S. 58. Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters, zit. nach: Raymond Murray Schafer: Klang und Krach, Frankfurt/M. 1988, S. 74.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt einander abgrenzt, trägt der Ton nicht nur zur Bestätigung des realistischen Gesamteindrucks als akustische Bestätigung visueller Vorgänge bei, sondern schafft einen psychologischen Grundton, der die Ausgangslage für die dramatische Entwicklung bildet. Die „musikalisch“ organisierten Geräusche bewirken trotz ihres, dem Ursprung der meisten Geräuschstrukturen entsprechenden, fragmentarischen Charakters eine Kontinuität im filmischen Verlauf, stiften eine „besondere Filmatmosphäre“, in der sowohl Dinge als auch Menschen in ihrer „gemeinsamen Substanz“ ans Licht kommen bzw. auf die gleiche Art mit Leben erfüllt werden. Durch den Einsatz einer konsequent komponierten Geräuschsphäre wird Wesensverschiedenes wie die Sprache, die Bilder und der Ton einheitlich wahrgenommen; ein Vorgang, der sonst in ähnlicher Form von Béla Balázs im Stummfilm, dort gerade aufgrund der Abwesenheit der hörbaren Sprache beobachtet und in Gegenüberstellung zum Theater gepriesen wurde. In der Welt des sprechenden Menschen sind die stummen Dinge viel lebloser und unbedeutender als der Mensch. Sie bekommen nur ein Leben zweiten und dritten Grades und das auch nur in den seltenen Momenten besonders hellsichtiger Empfindlichkeit der Menschen, die sie betrachten. Auf dem Theater ist ein Valeurunterschied zwischen dem sprechenden Menschen und den stummen Dingen. Sie leben in verschiedenen Dimensionen. Im Film verschwindet dieser Valeurunterschied. Dort sind die Dinge nicht so zurückgesetzt und degradiert. In der gemeinsamen Stummheit werden sie mit den Menschen fast homogen und gewinnen dadurch an Lebendigkeit und Bedeutung.344

Das Beispiel aus „M“ zeigt, dass es selbst im Tonfilm möglich ist, die von Balázs monierten „Valeurunterschiede“ aufzuheben, und zwar hier in umgekehrter Weise, nämlich dadurch, dass nunmehr „die stummen Dinge“ des Films durch die Geräusche zum „akustischen“ Leben erweckt und auf dieselbe Höhe mit der Sprache gestellt werden. Die hervorragende Stellung der Geräusche lässt hier das gesamte filmische Geschehen, so auch die Sprache und die visuelle Schicht als eine Einheit wahrnehmen.

344

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Béla Balázs, Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, a. a. O., S. 31f.

2. Territorialisierung Das visuelle Diskontinuum wird am nachhaltigsten durch Geräuschatmosphären aufgehoben, die keinen direkten Bezug zur Einzeleinstellung mehr haben, sondern an den lokalen und situativen Kontext der gesamten Sequenz gebunden sind.345

Geräusche können also allgemein dazu beitragen, Klangatmosphären zu entwerfen, die zwar ein konkretes räumliches Pendant (Landschaft, Stadt usw.) haben können, aber sich von diesem verselbständigen können, um einheitliche Gemütssphären zu evozieren. Die Geräusche deuten dann über ihre rein illustrative Funktion hinaus auf bestimmte Stimmungen oder emotionale Zustände hin, die mit dem bestimmten „Soundscape“ indirekt, nämlich assoziativ zusammenhängen (Stadtverkehrsgeräusche/Unruhe und Aufregung usw.). Dass bei der Formung solcher Atmosphären also nicht die realistische Wiedergabe, sondern mehr das Auslösen der entsprechenden Stimmung im Vordergrund steht, hat Michel Chion erkannt, so etwa am Beispiel der Nachtstimmung. Adventure and fanstasy films routinely accompany night scenes with the sound of crickets, even when in reality there might not be any there at all. Even though this noise is false on the level of strict realism, it is true on the level of the cinematic rendering of night. […] Through a cricket’s solitary song a film can evoke in condensed form this ensemble of heightened perception that is not specifically auditory, while at the same time suggesting a certain feeling of space and terrain.346

Wie auch Barbara Flückiger feststellt, gehört zur akustischen Raumgestaltung neben der quasi äußeren Schicht der ortsspezifischen Geräusche auch der entsprechende „emotionale Rahmen“. Die einzelnen Orientierungslaute sind auf der Tonspur in spezifischen, übergeordneten Strukturen organisiert. Als Begriff für diese Substrukturen schlage ich den bereits bestehenden Terminus Atmosphäre vor. Im Technikjargon und für die Organisation von Geräuscharchiven hat sich der Begriff etabliert, um ganze Lautsphären sprachlich zu fassen. Wie zum Beispiel Hafen, Bahn345 346

Harald Wolff: Geräusche und Film. Materialbezogene und darstellerische Aspekte eines Gestaltungsmittels, Frankfurt/M. 1996, S. 265. Michel Chion: Film. A Sound Art, a. a. O., S. 239.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt hof, Bergwiese. […] [Atmosphären] sind das akustische Setting, das sowohl die raumzeitliche Orientierung ermöglicht als auch den emotionalen Rahmen nicht nur für die Zuschauer, sondern auch für die Filmfiguren abgibt.347

Diese von Flückiger erwähnte Aspekt der „raumzeitlichen Orientierung“ lässt sich – in einer philosophischen Deutung – allgemein als Hinweis auf die Relation der Klangatmosphäre zum Leib lesen. Zunächst wäre dabei von einer anthropologischen Perspektive aus zu bemerken, dass der durch das Gehör wahrgenommene Raum eine zentrale Funktion erfüllt, die eine eher passive Rolle des subjektiven Leibs anzeigt. Anthropologische Hauptaufgabe des Gehörs [ist es,] unseren Körper im Raum zu stabilisieren, ihn aufrecht zu halten, ihm eine dreidimensionale Orientierung und vor allem eine Rundum-Sicherheit zu ermöglichen, die auch jene Räume, Dinge und Ereignisse einschließt, die wir nicht sehen können, vor allem das, was hinter unserem Rücken vorgeht. Während das Auge sucht und Beute macht, lauscht das Ohr auf das, was uns erbeutet. Das Ohr ist das Organ der Angst.348

Zentral in dieser Bemerkung ist der Hinweis, dass die Wahrnehmung im Fall des Gehörs zunächst nicht handlungsorientiert bzw. nicht intentional vom Leibsubjekt gesteuert, sondern eine ohne Voraussicht auf irgendwelche Ziele geprägte Verhaltensweise ist. Ein solches „akustisches Territorium“ besitzt keine feste, vom Subjekt hervorgehende Gliederung und perspektivische Struktur, sondern einen dieses Subjekt umgebenden, von ihm erlebten Charakter. Akustischer Raum besitzt keinen begünstigten Fokus. Er ist eine Sphäre ohne feste Grenzen, ein vom Ding selber gebildeter Raum, kein Raum, der das Ding enthält. Er ist kein Bildraum, er ist gebündelt, dynamisch, immer im Fluss, in jedem Augenblick seine eigenen Dimensionen schaffend; er ist indif347

348

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Barbara Flückiger: Narrative Funktionen des Filmsounddesigns: Orientierung, Setting, Szenographie, in: H. Segeberg, F. Schätzlein (Hg.): Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien. Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GFM), Marburg 2005, S. 145. Mirjam Schaub: Bilder aus dem Off. Zum philosophischen Stand der Kinotheorie, Weimar 2005, S. 76. Vgl. auch: T. Elsaesser, M. Hagener: Filmtheorie zur Einführung, a. a. O., S. 165.

2. Territorialisierung ferent gegenüber dem Hintergrund. Das Auge fokussiert, peilt ein Punktziel an, abstrahiert, lokalisiert jedes Objekt im physikalischen Raum vor einem Hintergrund; das Ohr jedoch begünstigt Laute aus jeder Richtung.349

Der akustische Raum ergibt sich durch den Ton der Dinge, er bildet den Rahmen, der zwar als bestimmter Ort in der Welt identifiziert werden kann, der aber vom Subjekt nicht aktiv geprägt und modifiziert werden kann, sondern nur passiv erlitten wird. Das akustische Territorium hat die Eigenschaften eines „gestimmten Raumes“. Sein Vernehmen ist kein Wahrnehmen, sein Gewahren kein Erkennen, es ist vielmehr Ergriffen- und Betroffensein. Der Raum übt zwar seine „Wirkung“ aus, er steht aber zum Erleben nicht in einem Kausalverhältnis, sondern er „teilt sich mit“, „spricht an“. Der Raum ist primär nicht Gegenstand für ein Subjekt raumerfassender Akte; sondern als gestimmter Raum eignet ihm eine Weise des Mitdaseins mit dem Erlebnisich, die sich allen begrifflichen Fixierungen eines an der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt orientierten Denkens als „Relation“, „Beziehung“, „Verhältnis“ entzieht, weil vielmehr diese ihrerseits schon in jener ursprünglichen, nicht hintergehbaren Verbundenheit von Leibsubjekt und Raum gründen.350

Im gestimmten Raum gibt es keine vom wahrnehmenden Ich zentripetal ausgehende hierarchische Struktur der Entfernung. Der Wahrnehmungsakt und das wahrgenommene Ding bilden eine ununterscheidbare Einheit, es herrscht ein Ausgleich zwischen den Akten des subjektiven Erfassens und des von den Außendingen Erfasst-Werdens. Der gestimmte Raum ähnelt der in der japanischen Kultur verbreiteten Idee einer Atmosphäre des Mitseins mit dem Anderen oder mit den Dingen („Ki“)351, die in der Partizipation an einem gemeinsamen Ursprung, einer gemeinsamen „Luft“ wurzelt und die Voraussetzung eines gegenseitigen Verständnisses ist. Wie im „Ki“, so auch im gestimmten Raum entsteht eine gemeinsame gefühlsmäßige Umgebung, eine psychische Disposi349 350 351

A. E. Beeby: Sounds Effects in Tape, London 1966, S. 48 f., zit. nach: Raymond Murray Schafer: Klang und Krach, a. a. O., S. 200. Elisabeth Ströker: Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt/M. 1977, S. 22 f. Vgl. Hubert Tellenbach: Das Atmosphärische als das Umgreifende, in: Stephan Günzel: Texte zur Theorie des Raums, Stuttgart 2013, S. 66.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt tion, die eine non-­verbale Kommunikation zwischen Subjekt und Welt sich einstellen lässt. Beiden Phänomenen ist dieselbe ästhetische Dimension eigen. Der Leib bleibt im gestimmten Raum als eine qualitative Ganzheit. Seine Bewegungen vollziehen sich nach ästhetischen Valeurs, wie Anmut, Grazie oder Harmonie. Gestimmte Räume durchschreitet man. Oder man tanzt in ihnen. Die Bewegungen des Leibes unterliegen nicht  – wie im Aktionsraum – Kriterien ökonomischer Effizienz.352

Dass nun als Ergänzung solcher durch Geräusche produzierter „gestimmten Räume“ gerade in der Filmkunst auch Musik eingesetzt werden kann, hat eine mehrschichtige, „polyphone“ Struktur zur Folge, die den Fokus verstärkt auf die subjektiven Empfindungen setzt. Über die Geräusch-„Atmo“ (die leise auf mehreren Mischbändern gefahrene Geräuschkulisse eines Raumes) hinausgehend kann Musik eine atmosphärische Ganzheit herstellen, in der neben den Geräuschen auch die Stimmung sowie die psychologischen Grundtöne der anwesenden Personen enthalten sind. In der Polyphonie der auditiven Ebene liegt beschlossen, dass in einer atmosphärischen Klangschichtung gleichzeitig heterogene Bestandteile (z. B. die Grundstimmung „verliebt“ des einen, und die Grundstimmung „ängstlich“ des anderen Darstellers) enthalten sein können.353

Extremen Formen filmischer Inszenierung von gestimmten Räumen begegnet man in den sog. „filmischen Tableaus“. Kompositionen wie von Miklós Rósza für „Lust for Life“ dienen den Autoren Helga de la Motte-Haber und Hans Emons als Beispiele für Musikpassagen im Film, die in Entsprechung zu den meistens von Naturbildern geprägten Szenen einen in sich ruhenden, ziellosen Klangverlauf aufweisen. Mit „Tableau“ sind jene Totalen oder panoramierenden Schwenks gemeint, in denen der Fortgang der Filmhandlung unterbrochen bzw. die Handlung sistiert wird zugunsten des Blicks auf ihre Naturkulisse oder auf das von jeder

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Heinz Paetzold: Ästhetik der Neueren Moderne, a. a. O., S. 29. Nobert Jürgen Schneider: Filmmusik Bd. 1. Musikdramaturgie im neuen deutschen Film, a. a. O., S. 91.

2. Territorialisierung unmittelbaren Funktion befreite Bild der Natur als des Gegenparts menschlicher Aktivität.354

In Analogie dazu sind die entsprechenden musikalischen Abschnitte durch statische Gebilde geprägt, die keine Entwicklung oder Dramatik herbeiführen, sondern emotional konnotierte Zustände generieren. Was die verschiedenen Ausprägungen musikalischer Tableaus miteinander verbindet und dem Leinwandgeschehen kommensurabel macht, ist das ­Moment der Statik. Harmonisch funktionslos gegeneinander verschobenen Akkorden, pentatonisch oder modal den Leitton meidenden Melodiemodellen und der klangzauberischen „Pseudomorphose an Malerei“ (Adorno) des Debussy-Idioms gemeinsam ist das Fehlen von Entwicklung, ist die Suspension der musikalischen Zeit.355

2.2 Die Zeitterritorien Im Gegensatz zur statischen Struktur des räumlichen Territoriums beruht das durch die Ton- und Musikebene formierte filmische Zeitterritorium auf der Eigenschaft der Entwicklung und Veränderung. Ausgehend von der Beobachtung, dass jedem Geräusch eine linear gerichtete zeitliche Struktur eigen ist, spricht Chion von der „Überleitungs-“(Vectorization-)eigenschaft des Tons. Demnach weisen selbst repetitive, scheinbar unveränderliche natürliche Klänge innerlich Mikrostrukturen auf, an welchen ihre zukunftsgerichtete, irreversible Form erkennbar wird. „[…] sound is generally directional in time: natural sounds in particular […] almost always have an evolution – a “story” of muffing, explosions and extinctions – so many temporal vectors oriented in the direction from present to future. Many sounds that seem to us fixed and outside of time (e. g., sawing of cicadas) are often crammed with microevents that are each a tiny story that indicates the irreversible direction in which time is flowing. This is what I call a temporal vector.356 354 355 356

Helga de la Motte-Haber, Hans Emons: Filmmusik, München 1985, S. 120. Ebd., S. 124. Michel Chion, Film. A Sound Art, a. a. O., S. 266.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt Dass natürlich auch die Musik im Film als „temporal vector“ fungieren kann, hat Chion ebenfalls betont. Das Beispiel aus Kubricks „2001. Space Odyssey“, wo unter der Musikbegleitung der Strauß’chen „Blauen Donau“ unterschied­ liche im Weltraum freischwebende Raumschiffe gezeigt werden, sei ein Hinweis darauf, dass eben erst durch die Musik das visuelle Geschehen eine Zeitlichkeit erlangt, der anscheinend willkürliche visuelle Verlauf einen zeitlichen „Sinn“ bekommt. Durch die Musik wird eine Ordnung des Vorher und Nachher der Raumschiffsbilder bestimmt, die eine vermeintlich in sich stimmige Entwicklung der Aufnahmen nach sich zieht. In „2001. Odyssee im Weltraum“ sehen wir zu Beginn des futuristischen Teiles Raumschiffe sich drehen oder am Himmel vorbei ziehen, nur akzentuiert durch eine opulente orchestrale „Schöne blaue Donau“, ohne irgend­ einen anderen Klang. In dieser Szene zwingt uns nichts dazu, zu ent­ scheiden, ob ein Raumobjekt nach demjenigen, welches wir in der vorhergehenden Einstellung die Leinwand durchqueren sahen, durch den Raum gleitet. […] Die Frage erscheint nicht einmal sinnvoll. Wir befinden uns also im Stummfilm.357

Musikalische Techniken, die die Erwartungshaltung des Zuhörers intensivieren, ihm erlauben, die Entwicklung des Geschehens zu antizipieren, so etwa die Kadenz in der Harmonik, die konsequente Art der melodischen Führung, die sich kontinuierlich steigernde Dynamik oder die schneller werdende Rhythmik, fungieren als Mittel, filmische Sinneinheiten ausbilden zu können, sie lassen filmmusikalische „zeitliche Territorien“ formieren. Dass dabei auch der Einsatz von sogenannten Synch-Points358, nämlich von Synchronisationspunkten zwischen Klang und Bild, die auch unabhängig von eventuellen inhalt­ lichen Zusammenhängen lediglich aufgrund ihres zeitlichen Zusammentreffens als zusammen­gehörig empfunden werden, dazu beiträgt, ließe sich an zahl­ reichen Beispielen zeigen359.

357 358 359

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Michel Chion: Die audiovisuelle Phrasierung, in: Petra Maria Meyer (Hg.): Acoustic turn, a. a. O., S. 544. Vgl. Michel Chion: Audio-Vision. Sound on Screen, New York 1994, S. 58 ff. Vgl. dazu auch den Begriff der „Berührung“ in Kap. I.3.4 dieser Arbeit. Ebd.

2. Territorialisierung Die Szene der versuchten Vergewaltigung und der sich daran anschließenden Schlägerei der rivalisierenden Gangs unter der Musik von Rossinis Ouvertüre zu „La gazza ladra“ im Film „Clockwork Orange“ von Stanley Kubrick zeigt die zeitlich territorialisierende Funktion der Musik besonders anschaulich. Es ist die dominierende Rolle der Musik in dieser Szene, die das visuelle Geschehen als choreographierte Bewegung unter dem Rhythmus und dem Gestus der ­Musik auftreten lässt. Während die Bedeutung der Musik bereits im ersten Abschnitt dieser Szene dadurch deutlich wird, dass die Vergewaltigung zunächst durch die Musik, aber auch durch das Gesamtinterieur eines alten verlassenen Theaters in ein virtuelles „musikalisches“ Gefüge eingebettet wird, so lässt die exakte Synchronisation der Musik mit dem Schlagabtausch zwischen den Banden die Handlungen vor der Kamera dem musikalischen Kontinuum folgen. Die Synch-Points zwischen den Kampfschlägen und den Schlagzeugeinsätzen in der Musik verstärken die Bindung zwischen Ton und Bild, lassen das realistisch narrative Element der Szene zugunsten einer ästhetisierten tänzerischen Stimmung in den Hintergrund treten. Die Musik verbindet die ersten beiden Abschnitte auch mit der nächsten neuen Einstellung, in der die jubelnd flüchtenden Mitglieder der protagonistischen Bande im Auto gezeigt werden. Die vorherrschende, durch die Musik motivierte enthusiastische Atmosphäre hält die unterschiedlichen Abschnitte zusammen, integriert die neue Einstellung in eine geschlossene Sinneinheit. Durch die Ouvertüre wird ein Zeitterritorium gebildet, das den eigentlichen Inhalt der Szene, die Ausübung von Gewalt überhöht und gleichzeitig eine sinnreichere, ambivalente Deutung motiviert. Könnte man nämlich die von der Musik ausgehende Stimmung mit der intersubjektiven Empfindung der gewalttätigen Bande identifizieren, so dass man durch sie das filmische Geschehen aus ihrer emotionalen Perspektive erlebt, so würde man von einem durch ein intersubjektives Bewusstsein konstituiertes Zeitterritorium sprechen können. Wäre dagegen die Musik als „Kommentar“ des führenden Bandenmitglieds Alex zu werten360, so müsste man von einem Zeitterritorium sprechen, das sich 360

Vgl. Knut Holtsträter: Musik als Mittel der Perspektivierung im narrativen Film „A Clockwork Orange“ von Stanley Kubrick, in: Victoria Piel, Knut Holtsträter, Oliver Huck (Hg.): Filmmusik. Beiträge zu ihrer Theorie und Vermittlung, Hildesheim u. a. 2008, S. 106 ff.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt zwischen zwei zeitlich (und räumlich) verschiedenen Perspektiven generiert, nämlich zwischen der Erzähl- und der Handlungsebene. Ursprung der Territorialisierungskräfte in beiden Lesarten ist aber ihr „Rhythmus“361, für Deleuze der Zustand einer ständigen Vibration zwischen unterschiedlichen Milieus, hier zwischen der Musik und dem narrativen Moment des Streits, zwischen „Konstruiertem“ und „natürlich Gewachsenem“362. Gaston Bachelard zitierend stellt Deleuze fest, dass „die Verbindung von wahrhaft aktiven Augenblicken (Rhythmus) immer auf einer Ebene geschieht, die sich von der Ebene unterscheidet, auf der die Handlung stattfindet.“363 So auch in der beschriebenen Szene, in der der Rhythmus zwischen Musik und Bild entsteht, dadurch kunstvoll über das Handlungsgeschehen hinausgeht.364 Der Rhythmus entsteht zwischen Realität und Kunst, zwischen Geräusch und Musik, zwischen Klang- und Bildbewegung, zwischen körperlicher Gewalt und Tanz, zwischen der protagonistischen, durch die Off-Erzählung ihres Führungsmitglieds für den Zuschauer vertraut gewordenen Bande und der gegnerischen Gruppe, zwischen der Erzählebene und der tatsächlichen Handlung. Dabei ist er nicht nur funktional zu deuten, etwa um das narrative Element der Schlägerei zum besonderen Ausdruck zu bringen. Erst dadurch, dass der Rhythmus dieser Szene „expressiv“365 wird, dass die filmische Wiedergabe der Gewaltakte nicht mehr die Funktion der filmischen Erzählung erfüllt, sondern für sich steht, ihre eigene Qualität erlangt, wird er zu einem Territorium im Sinne Deleuzes. Das musikalische und 361 362 363 364

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Zum Begriff des Rhythmus bei Deleuze vgl. Kap. II.1.3 dieser Arbeit. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 427. Gaston Bachelard: La dialectique de la durée, Paris 1936, S. 128 f., zit. nach: ebd. Dass eben dieser Rhythmus es ist, der vom Regisseur im Hinblick auf eine gelungene Montage aufgespürt werden muss, hat Rolf Baesdow folgendermaßen erklärt: „Es gibt vor allem einen Rhythmus, der zwischen den Personen sich ereignet, einen inneren Rhythmus. Wenn zwei Personen sprechen, gibt es zwischen ihnen ein Seelenleben. Diesen Rhythmus des inneren Ausdrucks muss man beim Schneiden durch Suchen herausfinden. Neben diesem Rhythmus gibt es den Erzählrhythmus, der eben von außen kommt. Auch Action, Zuspitzungen, Dramatik, die außerhalb der Person stattfindet. Das ist eine gesetzte und gewollte Rhythmik, von der ich aber erst am Schluss weiß, wie sie eigentlich funktioniert.“ Zit. nach: Norbert Jürgen Schneider: Handbuch Filmmusik 1, a. a. O., S. 123 f. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 431. Vgl. auch Kap. II.1.1. dieser Arbeit.

2. Territorialisierung das narrative Milieu der Gewalt bilden einen „Kontrapunkt“366, der das Territorium der Szene ausmacht, wobei die formale Struktur dieses Territoriums in ihren Phasen (a. Beobachtung der Vergewaltigung, b. Schlägerei, c. Autoflucht) die territorialen Eigenschaften der Selbständigkeit und der „zeitlichen Konstanz“367 bei einem sich variierenden narrativen Kontext zusätzlich bestätigt.

2.3 Psychologisches Territorium Wurden die Stimmung und die subjektiven bzw. kollektiven psychischen Zustände als prägende Komponenten innerhalb des akustischen Raum- und Zeitterritoriums festgestellt, die zur stets offenen Struktur des Territoriumsbegriffs beitragen, so bildet der Aspekt der Innerlichkeit, etwa durch den Ausdruck von Wahrnehmungen, Phantasievorstellungen, Träumen, Absichten, Erinnerungen, Affekten, Gefühlen usw. des Filmsubjektes, das prinzipielle Wesensmerkmal des „psychologischen Territoriums“. Ein psychologisches Territorium grenzt sich von anderen ab, indem es einer Person oder einem Kollektiv zugewiesen wird. Als Person kann dabei die handelnde Person im Film, eine Film­ figur, die als Erzähler fungierend das Filmgeschehen von einer von der Handlung abgehobenen raumzeitlichen Ebene aus kommentiert, oder schließlich ein auktorialer Erzähler, der auch der Filmemacher sein kann, fungieren.368 Ort des psychologischen Territoriums ist vornehmlich der Handlungsbereich des „sound-over“, das heißt der Raum, der sich zwischen den „internen diegetischen“ (im Sinne von Klängen, die in Zusammenhang mit einer Handlungsperson stehen, aber nicht von anderen Filmfiguren gehört werden) und den vom auktorialen Erzähler ausgehenden bzw. an den Zuschauer sich richtenden nicht-diegetischen Klängen erstreckt.

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Deleuze spricht von einem Kontrapunkt zwischen natürlichen und musikalischen Rhythmen, nämlich zwischen Vogelgesängen und „autonomen rhythmischen ­Figuren“ im Territorialisierungsprozess des Werkes „Chronochromie“ von Olivier Messiaen. Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 429. Vgl. die verschiedenen Erzählperspektiven im Film und die dazugehörigen Funktionen der Musik in: Knut Holtsträter: Musik als Mittel der Perspektivierung im narrativen Film, a. a. O., S. 106 ff.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt Often a filmmaker uses sound to represent what a character is thinking. We hear the character’s voice speaking his or her thoughts even though that character’s lips do not move; presumably, other characters cannot hear these thoughts. Here the narration uses sound to achieve subjectivity, giving us information about the mental state of the character. Such spoken thoughts are comparable to mental images on the visual track. A character may also remember words, snatches of music, or events represented by sound effects. […] Internal diegetic sound is that which comes from inside the mind of a character; it’s subjective. Nondiegetic and internal diegetic sounds are often called sound over because they do not come from the real space of the scene. Internal diegetic sound can’t be heard by other characters.369

Lissa unterscheidet hinsichtlich der Funktion der Musik in der psychischen Sphäre des Films zwei Bereiche: Einerseits fungiert Musik als „Zeichen“ von psychischen Zuständen und Vorgängen. Die Musik informiert dabei über die psychischen Situationen in der Handlungsebene, indem sie den leiblichen Ausdruck beim Empfinden bestimmter innerer Vorgänge ins Musikalische übersetzt. Sie kann „Ausdrucksbewegungen“, nämlich „Gesten, Mimik, Arten des Sich-Bewegens, Weinen, Seufzen, Lachen, Stimmintonationen“370 wiedergeben, durch ihre eigenen Mittel, Rhythmus, Melodie, Harmonie, Agogik, Dynamik usw. leibliche Bewegungen ins Klangliche übertragen. Andererseits dient die Musik als „Grundlage der Einfühlung“ beim Zuschauer. Insofern dieser nicht nur auf die musikalisch ausgedrückten psychischen Vorgänge der Filmfiguren, sondern mit seinem eigenen Inneren auf die Musik reagiert, wird seine psychische Welt in das Filmgeschehen integriert. „Im Erlebnis des Film­ zuschauers schichten sich die vorgestellten Emotionen, die er den Filmgestalten zuschreibt, auf seine eigenen, die von der Musik hervorgerufen werden.“371 Eben diese Überlappung zwischen ausgedrückten und selbst empfundenen ­psychischen Erlebnissen, nämlich die gegenseitige Ergänzung der Emotionen, die einerseits den Filmfiguren zugeschrieben werden, andererseits sich an den Zuschauer richten, lässt das psychologische Territorium entstehen. 369 370 371

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David Bordwell, Kristin Thompson: Film Art. An Introduction, New York 1997 (2008), S. 284. Zofia Lissa: Ästhetik der Filmmusik, a. a. O., S. 174. Ebd., S. 193.

2. Territorialisierung Die Verflechtung von dargestellten und eingefühlten Erlebnissen kann zwei Formen des psychischen Territoriums ergeben. Die erste Form beruht darauf, dass der Ausdruck psychischer Erscheinungen eine einheitliche Schicht ergibt, in der sich die Empfindungen sowohl der Filmfiguren untereinander als auch zwischen Zuschauer und Filmfigur angleichen. In einer Musik wie derjenigen zur berühmten Mordszene in Hitchcocks „Psycho“ heben sich auf diese Weise die jeweiligen dargestellten und die vom Zuschauer erlebten, individuellen IchErfahrungen zugunsten eines einheitlichen Schock­erlebnisses auf. A single musical cue such as Herrmann’s shower scene plays a triple role in evoking the doomed women’s alarm, her killer’s uncontrollable fury and the spectator’s rocketing anxiety. As these various emotional perspectives wrap around each other  – become intimate  – boundaries of individual identity vanish. As characters, objects and spectators fuse, dramatic opposition tends to coalesce in a kind of unity: “he” becomes “she” becomes “I”. Momentarily at least, there is an amalgamation of emotional experiences.372

Beruht die Vereinheitlichung der inneren Erlebnisse in dieser Szene primär auch auf der Kongruenz und Synchronizität des Visuellen mit dem Akustischen, so kann das Grundprinzip der „Verallgemeinerung“373 bei der Erzeugung des psychologischen Territoriums auch in Form einer Assimilation der Empfindungsinhalte unterschiedlicher Bilder durch den allgemeinen Ausdrucksgehalt der Musik erfolgen. Eine solche Integration des visuellen Verlaufes durch die Musik hat Lissa mit dem Begriff des „Obertons“ bzw. der „Obertonmontage“ bei Eisenstein zu fassen versucht. „Wie die Obertöne im Klang für dessen Farbe entscheidend sind, so trage eine Musik, die dem Bild nur die Ausdrucksatmosphäre verleiht, zu einer bestimmten künstlerischen Aussage der Szenen bei.“374 Anhand der Szene des toten Matrosen aus „Panzerkreuzer Potemkin“ macht Lissa deutlich, wie der düstere Ton einer Marschmusik qua-

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Stan Link: Sympathy for the Devil? Music of the Psycho Post-Psycho, in: Screen 45/1 (2004), S. 3, zit. nach: Ross J. Fenimore: Voices That Lie Within. The Heard and Unheard in Psycho, in: Neil Lerner: Music in the Horror Film, New York, London 2010, S. 88 f. Zofia Lissa: Ästhetik der Filmmusik, a. a. O., S. 195. Ebd.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt si das „Ostinato“ liefert, zu welchem die visuellen Eindrücke den „veränder­ lichen Kontrapunkt“ bilden. Die zweite Form des psychologischen Territoriums entsteht durch das „kontrapunktische“ Verhältnis zwischen Bild und Ton. Wie im von Lissa angeführten Beispiel aus Chaplins „Der große Diktator“, in dem der Diktator Chaplin mit einem Luftballon in Erdgestalt zu Wagners „Lohengrin“ spielt, so ist der „Kontrast“ des Ausdrucks zwischen dem Visuellen und dem Akustischen, hier des Spielerischen mit dem metaphysisch Ernsten, die Grundlage für die Entstehung eines innerlich gespaltenen Territoriums. Liefert diese ambivalente, dadurch unbeständige Form des psychologischen Territoriums – in Relation zur ersten Form – eher die Voraussetzungen für die Entstehung neuer, in diesem Fall ironischer psychischer Inhalte, die die ursprünglichen „deterritorialisieren“, so verkörpert auch hier das Aufeinanderbeziehen von dargestellten (Chaplins Spielfreude) und eingefühlten (die ernste Wirkung Wagners auf den Zuschauer) Empfindungen das Fundament des territorialen Gefüges. Auch andere Möglichkeiten wie die Wechselwirkung zwischen durch Geräusche, Dialoge oder durch bestimmte Filmtechniken formulierten Ausdrucksbewegungen und der Musik können psychologische Territorien bilden. Selbst innerhalb der Sphäre des musikalischen Klangs ist das möglich. Die Verbindung einer bestimmten Klangfarbe, etwa des Streicherklangs, mit einer sanglichen, lyrischen Melodie ist oft als der klare Ausdruck eines psychologischen Territoriums, das beispielsweise mit dem Gefühl von Liebe identifiziert wird, zu betrachten. Wenngleich die Selbstverständlichkeit, mit der gewisse Verknüpfungen dieser Art quasi als „natürlich“ geltend angenommen werden, generell in Frage zu stellen wäre, so lassen gewisse etablierte Assoziationen zwischen zusammengehörigen Ton-Gefühl-Relationen diachrone, gleichzeitig aber auch logisch nachvollziehbare Konventionen deutlich werden. Dass diesbezüglich lehrreiche Beobachtungen gemacht werden können, zeigt folgende Beschreibung der emotionalen Konnotation des Streicherklangs. Die Gründe für eine so ungewöhnlich langlebige und gegen jegliche Klangdifferenzierung der Moderne immune Bindung eines Affekts an ein bestimmtes Instrumentarium liegen zunächst in dessen Physis. Die Art seiner Hervorbringung macht es der Spontaneität und der Subjektivität noch der feinsten Ausdrucksvaleurs nächst der menschlichen Stimme am ehesten

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3. Deterritorialisierende Motivation dienstbar. Was im Chor der Violinen neutralisiert zu werden droht, rettet sich als gleichsam ungeschützte Innerlichkeit in den Klang der Solovioline.375

Die Beschreibung des Streicherklangs von de la Motte-Haber im Kontext der Filmmusik ist insofern beachtenswert, als hier zwei unterschiedliche Territorialisierungsebenen angesprochen werden. Die Bezeichnung des Soloklangs als „ungeschützt“ liefert einen Hinweis auf die unterschiedliche Sensibilität zwischen Tutti- und Soloklang für Ausdrucksdifferenzierungen jeglicher Art. Das Solospiel bietet sich als viel empfindlicher für Kräfte dar, die den ursprüng­ lichen Charakter des Violinklangs stören, kontrapunktieren oder gar über­ decken, ihn dadurch anfällig für „Deterritorialisierungen“ machen, während der massive Klang des Streichorchesters die gesamte Atmosphäre dominiert, sie gegen fremde Einflüsse schützt. Am Beispiel einer einzelnen Klangfarbe wird somit ein wichtiger Aspekt der Ton-/Musikebene des Films angesprochen: Ihr Vermögen, empfindlich für ihr musikalisches oder auch filmisches Umfeld zu sein, lässt sie Prozesse der Transformation vollziehen, die sie zu einer „wahren“ Interaktion mit den visuellen Elementen des Films befähigt. Der musikalische Klang, aber auch das Geräusch sind imstande, sich durch Deterritorialisierungen aller Art so zu verändern und sich an die filmische Umgebung anzupassen, dass sie zu einem gleichberechtigten, konstruktiven Element der audiovisuellen filmischen Sprache werden können. Erst dadurch kann es ihnen gelingen, nicht nur passiv auf die Dominanz des Visuellen zu reagieren, sondern eine aktive, „motivierende“ Rolle im Film zu übernehmen.

3. Deterritorialisierende Motivation Als Gegentendenz zu den genannten Territorialisierungsformen fungiert das Deterritorialisierungsvermögen des Tons und der Musik. Der filmische Topos des nicht oder noch nicht im Bild Erscheinenden ist dabei von wesentlicher Relevanz. Noël Burchs Differenzierung zwischen „zwei Arten im Film jenseits

375

Helga de la Motte-Haber, Hans Emons: Filmmusik. Eine systematische Beschreibung, München 1980, S. 145.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt des Bildes zu sein, und zwar eines konkreten und eines imaginären“376, lässt sich anhand der Doppelstruktur der intentionalen Beziehung bei Husserl377, nämlich als „eigentliche“, auf eine bestimmte Wahrnehmung bezogene, und als „leere“, das heißt nur vorgestellte Intention nachvollziehen. Besteht nämlich eine wesentliche Funktion des Geräusches im Film darin, akustische Bestätigungsprozesse von visuell motivierten Intentionen in Gang zu setzen, so scheint die Musik an einem besonderen Bereich der filmischen Darstellung teilzuhaben, der in erster Linie nicht auf dem Verhältnis „eigentlicher“, das heißt je erfüllter Intentionen beruht.378 Wie Fred van der Kooij bemerkt: „Im Ton sind beide filmisch vertreten, das Geräusch als das jederzeit auch visuell Konkretisierbare, die Musik als Statthalterin des Imaginären, als das, was zwar anwesend ist, aber sich dem Blick entzieht.“379 Dass sogar in der Abwesenheit jeglichen akustischen Ereignisses, nämlich im Stummfilm, das Verlangen einer Visualisierung der Geräusche gegeben ist, wird durch den emphatischen visuellen Einsatz von „klingenden“ oder auf Klang hinweisenden Gegenständen oder Erscheinungen deutlich. Anders als in der einer anderen Realitätssphäre des Stummfilms zuzuordnenden, im Zuschauerraum sich abspielenden Musik scheint der unmittelbare Bezug des (hörbaren oder vorgestellten) Geräusches zu seinem visuellen Pendant eine ästhetische Notwendigkeit zu sein. Der Mangel, der dem Kino vor der Tonfilmeinführung retrospektiv immer wieder attestiert worden ist (und wird), wurde von den damaligen Filme­ machern keineswegs als solcher empfunden, sondern eher als Ansporn, Ton zu visualisieren: Großaufnahmen von lauschenden Ohren, Zehenspitzen, die über Kies laufen, Menschen, die sich erstaunt umdrehen, Kirchenglocken 376 377 378

379

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Fred van der Kooij: Wo unter den Bildern sind Klänge daheim?, a. a. O., S. 23. Van der Kooij bezieht sich hierbei auf Noël Burch: Praxis du cinéma, Paris 1986. Zum Husserl’schen Begriff der Motivation vgl. die Einleitung dieser Arbeit. Eine Möglichkeit, den phänomenologischen Status der Musik im Sinne Husserls zu erfassen, wäre dann gegeben, wenn man von der „Neutralitätsmodifikation“ ihrer Wahrnehmung ausgeht. Die für sie charakteristische Abstraktion sowohl vom realakustischen als auch vom filmisch-visuellen Bezug lässt die Musik im Modus des „bloß Wahrgenommenen“, von der willentlichen, intentionalen Korrelation Unabhängigen erscheinen. Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, a. a. O., S. 247 ff. Fred van der Kooij: Wo unter den Bildern sind Klänge daheim?, a. a. O., S. 23.

3. Deterritorialisierende Motivation und Musikinstrumente, Trommeln und Geschütze, Explosionen und Singvögel. Man sieht Objekte, die Töne hervorbringen, Menschen, die auf Ton reagieren, sowie die physischen und psychischen Reaktionen von Gesichtern und Körpern auf bestimmte Geräusche.380

Wenngleich es stimmt, dass man im Gegensatz zum Geräusch beim Hören beispielsweise einer orchestralen Filmmusik wohl selten die Erwartung hat, dass das Orchester irgendwann tatsächlich visua­lisiert wird, so ist doch eine klare Trennung zwischen dem auf visuelle Bestätigung abzielenden Geräusch und der von der nicht-diegetischen Filmmusik ausgehenden, visuell in der Regel nicht realisierbaren Intention nicht immer gegeben. Michel Chion unterscheidet zwischen zwei Arten von Geräuschen, je nachdem, ob sie auf eine visuelle Konkretisierung hinsteuern oder nicht, zwischen „active“ und „passive offscreen sounds“: I shall give the name active offscreen sound to acousmatic sound that raises questions – What is this? What is happening? – whose answer lies offscreen and which incite the look to go there and find out. Such sound creates a curiosity that propels the film forward, and it engages the spectator’s anti­ cipation.381

Diesen Klängen gegenüber stehen die „passive offscreen sounds“: Passive offscreen sound, on the other hand, is sound which creates an atmosphere that envelops and stabilizes the image, without in any way inspiring us to look elsewhere or to anticipate seeing its source. Passive sound space does not contribute to the dynamics of editing and scene construction – rather the opposite, since it provides the ear a stable place […].

Das Grundmaterial der zweiten Kategorie bilden die sog. „territory sounds“, die durch ihre kontinuierliche Präsenz einen spezifischen Ort identifizierbar machen.382 Dass folglich auch das Geräusch, aber vor allem die Musik keine konkrete „Reaktion“ durch ein anderes filmisches Element hervorruft, mag mit der 380 381 382

T. Elsaesser, M. Hagener: Filmtheorie zur Einführung, a. a. O., S. 168. Michel Chion: Audio-Vision. Sound on Screen, a. a. O., S. 85. Ebd., S. 75.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt ­ assivität zusammenhängen, die dem Vorgang des Hörens innewohnt. WaldenP fels geht von der weitgehenden Abwesenheit eines intentionalen Bezugs beim Hören aus, eine Eigenart der akustischen Wahrnehmung, die sich in den unpersönlichen Äußerungen „es raschelt“ oder „es klingelt“ manifestiert.383 Das Hören ist unbestimmt, die Klänge, die wir hören, füllen den Raum, lassen sich folglich nur schwer orten, und das gerade, wenn wir Musik hören. Der Raum, in dem Musik aufgeführt wird, gehört zu ihr, er „spielt mit“384, in dem Sinne, dass die Musik sich nicht auf die Standorte der Musiker und deren Instrumente beschränkt, sondern überall anwesend ist. Hängt mit der Existenz des Raumcharakters in der Musik zusammen, dass sie gerade im Film ein geeignetes Darstellungsmedium dadurch finden kann, dass ihr akustischer Raum eine Relation zum visuellen Raum eingeht,385, so ist das ein anderes Symptom dafür, dass sie – selbst wenn sie territorial fungiert – sich kaum strikt auf einzelne Gegenstände und Personen bezieht, sondern stets Zwischenräume festlegt. Für Van der Kooij ist die Leere der eigentliche Ort der Musik. Was bevorzugt die Musik? […] Sie liebt die Leere! Verständlicherweise, denn eine Leere im Bild ähnelt eben noch am ehesten dem, was nicht im Bild ist. Nennen wir es also Heimweh, wenn sie zu Wolken, Landschaftstotalen und verlassenen Gegenden und Räumen eine größere innere Beziehung hat als, sagen wir, zu Lastwagen und Vorratskammern. Und wo keine Leere vorhanden, sucht sie sich eben Ersatz, beispielsweise bei den Menschen im Film, nistet sich in deren psychischen Hohlräumen ein und mimt dort, einer Bauchrednerin gleich, den inneren Monolog des parasitär besetzten Körpers; macht das Gezeigte zum Resonanzkörper des Gehörten und zeigt, wie ein Stimmungsbarometer, den inneren Druck der Figuren an.386

383 384 385

386

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Vgl. Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst, a. a. O., S. 380 f. Ebd., S. 382. Balázs hebt hervor, dass etwa bei einer Konzertaufführung und aufgrund der spezifischen Akustik die ursprüngliche Klangatmosphäre eines kirchlichen Chorgesanges nicht realisiert werden kann, weil eben der Raum ein anderer ist. Die im Film mögliche Verwendung einer in der Kirche realisierten Aufnahme des Chores kann bessere Ergebnisse liefern. Fred van der Kooij: Wo unter den Bildern sind die Klänge daheim?, a. a. O., S. 27.

3. Deterritorialisierende Motivation

3.1 Aufforderung zur Näherbestimmung Ist die Musik, in gewissen Fällen auch das Geräusch, zunächst unbestimmt und eher auf eine passive Wahrnehmung ausgerichtet, so bedarf der Versuch ihrer Bewusstwerdung des Aktes des „Hinhörens“ also der aktiven Zuwendung, die stets mit einer Auswahl und dem Ignorieren einer Vielzahl von Tönen einhergeht. Auf diesen Akt der Zuwendung folgt der Akt der Näherbestimmung und der Identifizierung. „Zu dieser offenen Situation gehört ein appellatives Zu-­ etwas: das, worauf ich höre, fordert zu etwas auf. Das unbestimmte Worauf verschwindet, wenn ich es identifiziere.“387 Identifizierung wird für Waldenfels sowohl für die Geräusche als auch für die Musik durch die „Wiederholung“ ermöglicht. „Wie kommt es dazu, dass wir ein bestimmtes Etwas hören? Zu einem Etwas kommt es erst durch Wiederholung, wir hören Klanggestalten immer wieder, oder Geräusche tauchen immer wieder in bestimmten Zusammenhängen auf.“388 Eine Situation, die uns dazu veranlasst, auf die Geräusche zu reagieren und sie zu identifizieren, tritt vor allem dann auf, wenn das Zuhören als Erkennen der äußeren Bedrohung eingesetzt werden muss. Die Verteidigung des eigenen Territoriums aktiviert die erkennende Funktion des Gehörs. Wie Roland Barthes feststellt: Am besten erfasst man die Funktion des Zuhörens durch den Begriff des Territoriums […], insofern sich das Territorium hauptsächlich als Raum der Sicherheit definieren lässt […]: Das Horchen ist jene vorausgehende Aufmerksamkeit, durch die sich alles erfassen lässt, was das territoriale System stören kann; es ist eine Weise, sich gegen Überraschungen zu schützen; sein Objekt (worauf es sich richtet) ist die Bedrohung oder, umgekehrt, das Bedürfnis.389

Kehrt man zum bereits erörterten Film „M“ von Fritz Lang zurück390, so bestätigt sich die Feststellung Roland Barthes, wobei von besonderem Interesse darin die Verflechtung zwischen beiden Emotionen, nämlich zwischen Bedrohung

387 388 389 390

Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst, a. a. O., S. 382. Ebd. Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, a. a. O., S. 251. Vgl. Kap. II.2.1 dieser Arbeit.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt und Bedürfnis, ist. Es ist zunächst das „Bedürfnis“ bzw. die Sehnsucht der Mutter, die Tochter wiederzusehen, die ihre Aufmerksamkeit maximiert, wobei die latente, aber kontinuierlich wachsende Sorge diese Sehnsucht noch potenziert. Lassen die trivialen Geräusche von einer neutralen Zuschauerperspektive aus ein räumliches Territorium und eine spezifische Alltagsatmosphäre entstehen, so sind es genau diese Geräusche, die diese Atmosphäre hin zu einer ungewissen Zukunft öffnen und sich als Bedrohung kundtun. Die ihren Charakter variierende, zwischen der frohen Ankündigung des Schulendes und der Erinnerung an das doch verspätete Kind pendelnde Wirkung des Geräusches der Kuckucksuhr, die sehnsuchtsvoll erwartete, aber nicht bestätigte Erscheinung der durch die Treppenschritte und die Türklingel angekündigten Tochter und schließlich der vergebliche Ruf der Mutter intensivieren die innere Anspannung der Bilder. Die anfänglich unge­störte, unmittelbar „aktuelle“ Frage-Antwort-Beziehung zwischen Geräusch und visueller Entsprechung endet im „virtuellen“, unsichtbaren Schrei nach der Tochter, der nur durch leere Räume visuell erwidert wird, eine Szene, die sich im Anschluss ebenfalls in einem virtuellen, hinsichtlich des Verhältnisses von Ton und Bild umgekehrten Gefüge fortsetzt: Man bekommt das stumme Bild eines Symbols der Tochter, nämlich eines – vom Mörder geschenkten  – frei schwebenden, menschenähnlichen Ballons zu Gesicht, ein Bild, das ihren Tod suggeriert. Dass der – auch im Film Langs thematisierte – Akt von Bedrohung filmischer Territorien mittels des Tons noch verstärkt zum Ausdruck gebracht werden kann, ein Akt, der das Bedürfnis nach Ausgleich durch die visuelle Bestätigung weckt, scheint seine Ursache in der „Kultur unseres Gehörs“ selbst zu haben, darin, dass dieses zwar sehr differenziert und fein Wahrnehmungsempfindungen registriert, sie jedoch – im Unterschied zum Sehsinn – nicht einfach identifizieren kann. Es besteht jedoch ein Unterschied zwischen der Wahrnehmung des Tons und der Bestimmung seiner Quelle. Ich kann wahrnehmen, dass ich jetzt einen anderen Ton vernehme, ohne zu wissen, woher er stammt. Die Bilder der Dinge nehme ich vielleicht schwerer wahr, ich erkenne sie jedoch sofort.391

391

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Béla Balázs: Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst, Wien 1976, S. 196.

3. Deterritorialisierende Motivation Spricht Balázs von einer „Unkultiviertheit“ des Hörens deswegen, weil man, in anthropologischer Perspektive betrachtet, offenbar gelernt hat, sich nicht durch den Hörsinn, sondern durch das Sehen in der Welt zu orientieren, so wird die auf Erkenntnis abzielende Funktion des Tons nicht als die dominierende Eigenschaft des Films angesehen. Wie der Filmregisseur Alberto Cavalcanti, übrigens aufgrund einer kurzen Besprechung des Films „M“ von Fritz Lang, urteilt: I think that we have enough material in this review of sound to conclude that, while the picture is the medium of statement, the sound is the medium of suggestion. This is not to say that the picture cannot make suggestions, or that the sound cannot make statements. That would be far too much to say. But I think we can allow that the picture lends itself to clear statement, while the sound lends itself to suggestion.392

Obwohl sie sicherlich auch möglich ist, so scheint eine primär auf der Suggestion basierte Inszenierung der visuellen Ebene nicht diesem Medium zu entsprechen. Cavalcanti erwähnt Filme des deutschen Expressionismus, die die visuelle Suggestion so weit treiben, nämlich sich von der Realität so weit entfernen, dass sie unglaubhaft wirken und ihr Ziel verfehlen. Es ist das dem Medium des Tons und der Musik immanente Defizit, nichts außer sich selbst auszu­ drücken, das ihnen das direkte Bekunden von Fakten verwehrt und dafür ihre Suggestionskraft anschwellen lässt. Kann sich die Suggestion zwar gewiss auch auf bekannte und wiedererkennbare Geräusche richten, wobei die Erwartungshaltung dann zwischen dem Geräusch und der visuell zu bestätigenden Quelle dieser Geräusche entsteht, ergibt sich im Falle nicht identifizierbarer Geräusche bzw. von Musik dennoch eine noch intensivere, weil unbestimmte Erwartung nach einer Bestimmung ihrer unbekannten Quelle. Eine bemerkenswerte Art von Suggestion bei nicht identifizierbarer Geräuschquelle erwähnt Béla Balázs. Die Suggestionskraft des Geräusches könne dadurch gesteigert werden, dass die Gestik der Schauspieler auf das vom Zuschauer nicht wahrgenommene akustische Ereignis reagiert.

392

Alberto Cavalcanti: Sound in Films, in: E. Weis, J. Belton (Hg.): Film Sound. ­Theory and Practice, a. a. O., S. 109 f.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt In der Nahaufnahme, in der die Umgebung nicht sichtbar ist, wirkt der von außen eindringende Ton oft geheimnisvoll, einfach darum, weil wir nicht sehen, zu wem die Stimme gehört, woher das Geräusch stammt. Dadurch löst er Spannung aus. Es kommt manchmal vor, dass das Publikum nicht weiß, welche Art Ton es ist, die es hört, dass aber die darstellende Person des Films, die diesen Ton im Bild vernimmt, den Kopf dorthin wendet, woher er kommt, und die Tonquelle gleichsam früher erspäht als das Publikum. Eine solche Handhabung von Bild und Ton bietet an Spannungen und Überraschungen reiche Wirkungsmöglichkeiten.393

Die Trennung des Geräusches von seiner Quelle ist auch in diesem Beispiel dafür verantwortlich, dass die Spannung zwischen Hörbarem und visuell Darstellbarem potenziert wird. Verantwortlich dafür sind jene Klänge, die man zwar hören kann, deren Ursache aber nicht bestimmbar ist bzw. nicht zu sehen ist. Im Unterschied zu den „visualisierten“ Tongebilden sind die sog. „akusmatischen“ Klänge wie die aus dem Radio, der Schallplatte, dem Telefon oder generell aus einer nicht gesehenen Quelle deswegen stets spannungsgeladen, weil sie – selbst wenn man ihr visuelles Pendant vorher wahrgenommen hat  – mit einer Unbestimmtheit behaftet sind. „Im Kino hingegen erweist sich die akusmatische Zone als schwankend und permanent der Möglichkeit ausgesetzt, durch das in Frage gestellt zu werden, was man als nächstes sehen wird.“394 Dass das Akusmatische eine besondere filmische Wirkung ausüben kann, lässt sich anhand eines Werkes zeigen, das gezielt mit der Tragweite des Geräuscheinsatzes im Film geradezu experimentiert. Beobachtet man die verschiedenen Erscheinungen der Vögel im gleichnamigen Film von Alfred Hitchcock, so ist eben ihr sechster Auftritt, nämlich der Angriff auf das Haus der sich darin aufhaltenden Protagonisten deswegen der wohl unheimlichste, weil man die angreifenden Vögel im Unterschied zu den vorherigen Attacken nicht sieht, sondern sie aufgrund ihrer akustischen Präsenz nur vermutet. „The bird sounds are all the more abstract and terrifying when they come 393 394

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Béla Balázs: Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst, a. a. O., S. 193. Michel Chion: Mabuse – Magie und Kräfte des „Acousmetre“. Auszüge aus: „Die Stimme im Kino“ in: Cornelia Epping-Jäger, Erika Linz (Hg.): Medien/Stimmen, Köln 2003, S. 129.

3. Deterritorialisierende Motivation from unseen sources. As in many a horror film, the enemy is most threatening when invisible.“395 Der Zuschauer, der sich wohl mit den bedrohten Personen identifiziert, hat, anders als in den vorherigen Angriffen, keinen visuellen Wissensvorsprung im Vergleich zu den Filmfiguren. Er kann dieses Mal weder die hinter ihrem Rücken stattfindenden Angriffsvorbereitungen sehen (Angriff auf die Schule) noch ihre Bewegungen aus der Vogelperspektive erschauen. Wenngleich auch gerade die Szene in der Schule durch die Quasi-Umkehrung der Idee des Akusmatischen (man sieht, aber man hört nicht bzw. man hört etwas anderes), nämlich dadurch, dass das – in diesem Fall ruhevolle – Bild der Vögel nicht mit seiner bekannten knirschenden Geräuschkulisse synchronisiert wird, sondern durch den Gesang der ahnungslosen Schulkinder in der Klasse kontrapunktiert wird, eine ähnlich hohe Ausdruckskraft erhält, so ist bei ihr das furchterregende Moment nicht so stark ausgeprägt, weil der Zuschauer doch über visuelle Kenntnis der gesamten Situation verfügt. Anders im Angriff auf das Haus. „Eingesperrt“ wie die Filmfiguren im Haus, ohne die Möglichkeit, die Vögel außerhalb zu sehen, ist der Zuschauer gezwungen, mit den Filmfiguren die Ohren zu spitzen, um die drohende Gefahr zu lokalisieren. Obwohl er die mörderischen Kreaturen bereits kennt, so erzwingt diese neue Situation ein intensiviertes Wahrnehmungsverhalten. Ohne das Privileg, über zusätzliche Bildinformationen zu verfügen, wird er dazu genötigt, allein mit den Ohren der Gefahr zu begegnen, beinah ausweglos sich der Bedrohung zu unterwerfen. Auch in einem anderen Film Hitchcocks, in „Psycho“, wird ein akusmatisches Element zu einem geheimnisvollen, auf seine visuelle Aufklärung hinstrebenden Bestandteil der Handlung. In der Form eines „Acousmetre“,396 nämlich des lediglich durch seine Stimme präsenten Filmcharakters der Mutter des Mörders Norman wird eine Spannung entzündet, die einen aktiven Akt des Identifizierenwollens motiviert.

395 396

Elisabeth Weis: Style and Sound in The Birds, in: E. Weis, J. Belton (Hg.): Film Sound. Theory and Practice, a. a. O., S. 306. “Acousmetre. An invisible character created for the audio-viewer by means of an acousmatic voice heard either offscreen, or onscreen but hidden. […] The voice must occur frequently and coherently enough to constitute a true character.” Michel Chion: Film. A Sound Art, a. a. O., S. 466.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt Psycho is haunted by phantom voices. Such acousmatic sounds (sounds one hears but is unable to locate on-screen) are a hallmark of horror film – the dislocation between what we hear and see creates a fundamental tension that blurs the known and the unknown, what we hear and what we do not (or what we think we hear, but quickly deny).397

Durch das Akusmatische wird die visuelle Darstellungswelt derart in die Bewusstseinssphäre zurückgeführt, dass sie eine „Inaktualitätsmodifikation“398 erfährt. Das nur implizit, nämlich durch die akusmatische Stimme im Hintergrund präsente Erlebnis wird dem Aktualitätsbewusstsein zugeleitet. Das Subjekt wendet sich nunmehr bewusst diesem Erlebnis zu. Weil es auf dem Bildschirm ist, ohne dort zu sein, weil es auf der Oberfläche des Bildschirms umherirrt, ohne in es einzutreten, ist das acousmetre ein destabilisierender, ein Spannungsfaktor, ist es eine Einladung, nachschauen zu gehen, und kann es auch eine Einladung sein, sich darin zu verlieren.399

Durch das Akusmatische wird der „gestimmte Raum“ in einen „Aktionsraum“, nämlich in „diejenige Struktur der Räumlichkeit [verwandelt], die sich dem handelnden Leib erschließt. Handeln ist hier zu interpretieren als zielgerich­ tetes Tun.“400

3.2 Motivation von räumlicher Bewegung Eine weitere Form auditiver Deterritorialisierung sind die akustisch motivierten Grenzüberschreitungsvorgänge von audiovisuellen Territorien zu visuell nicht bestimmbaren Orten. Es handelt sich dabei um Versuche, konkret artikulierte filmische Sphären zu überqueren, dadurch unterschiedliche, sowohl visuelle als auch akustische Horizonte zu erkunden. Die beschriebene Szene aus Hitchcocks „The Birds“ liefert dazu bereits einen ersten Hinweis. Die Vogel­ 397 398 399 400

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Ross J. Fenimore: Voices That Lie Within. The Heard and Unheard in Psycho, in: Neil Lerner: Music in the Horror Film, a. a. O, S. 80. Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie, a. a. O., S. 71 f. Michel Chion: Mabuse – Magie und Kräfte des „Acousmetre“. Auszüge aus: „Die Stimme im Kino“ a. a. O., S. 131. Heinz Paetzold: Ästhetik der Neueren Moderne, a. a. O., S. 31.

3. Deterritorialisierende Motivation geräusche, die das Haus der Filmfiguren belagern, erweitern akustisch den visuellen Innenraum, den sowohl Filmfiguren als auch Zuschauer gleichermaßen gezwungen sind, nicht zu verlassen. Während sie der Grund sind, weshalb die Protagonisten des Films aus dem häuslichen Raum nicht hinaustreten können, so ermöglichen sie als einzige der akustischen Quellen die Wahrnehmung des Außenraumes, der doch als das ersehnte Fluchtziel der Filmfiguren fungiert. Die Vögel motivieren eine Öffnung des gezeigten Raumes, gleichzeitig sind sie aber der Grund, dass dies in der Narration nicht möglich ist. Ist das ästhetische Hauptinteresse in diesem Beispiel aus „The Birds“ dennoch primär nicht auf den äußeren, visuell nicht dargestellten Raum, sondern auf den klaustrophobisch empfundenen, filmischen Innenraum gerichtet, so dass die durch die Vogelgeräusche motivierte Deterritorialisierung in dieser Szene zunächst keine visuelle Fortsetzung findet, so wird in einem weiteren Film, in „A Man Escaped“ von Robert Bresson, ein akustischer Erkundungsprozess bzw. eine Öffnung des Klangterritoriums initiiert, die durch die Narration, nämlich den Befreiungswunsch eines im Gefängnis sitzenden Mannes begründet wird. Am Anfang dieses Prozesses werden den leisen, „sichtbaren“ Geräuschen beim Versuch des Gefängnisinsassen, den Fluchtversuch vorzubereiten, die weitgehend von der riesigen Architektur geprägten, echobelasteten Geräusche der Wächter und der Sirenen entgegengesetzt. In einer anderen akustischen Dimension, nämlich in der freien Luft, fungieren die Geräusche zunächst einer Trambahn und dann eines Zuges als „Embleme“ von leiblich nicht zugänglichen Orten außerhalb der Gefängniszelle. Entspricht das zunächst visualisierte, dann das den Kader verlassende Tramgeräusch dem bekannten, „familiären“ Territorium der Stadt unweit des Gefängnisses, so ist das weit entfernte, unsichtbare Zuggeräusch ein Hinweis auf einen weit weg gelegenen, „unbekannten“ Ort, der nach konkreter Visualisierung ruft. Das Erklingen einer nicht-diegetischen Musik schließlich, nämlich der c-Moll-Messe von Mozart, transzendiert den angestrebten Raum, deutet auf einen „unerreichbaren“, „spirituellen“ Raum, der nicht körperlich, sondern nur mental betreten werden kann, hin. Es ist ein Raum, der die Realität der Filmfigur dadurch erweitert, dass er zum Raum auch des Zuschauers wird, eine Tatsache, die die Distanz zwischen filmischer Narration und Realität im Kinosaal aufhebt. Ist also die Musik (wie in der angeführten Szene von Bresson) im Gegensatz zum Geräusch meistens mit einer nur in der Phantasie stattfindenden Erweite167

II. Funktionen des Tons in der Filmwelt rung des Raumes verknüpft, so kann sie dann, wenn sie als Akt des Musizierens filmisch gezeigt wird, sehr wohl auch zum Teil von räumlichen Übergangsprozessen werden. Norbert Jürgen Schneider unterscheidet in einem Versuch, systematisch die durch die Musik motivierten Raumbewegungen zu beschreiben, grundsätzlich zwei Arten des „musikalischen“ Raumes, dem Raum des „on“ und dem des „off“. Die Musik sei dazu qualifiziert, räumliche Funktionen sowohl im „on-Raum“ als auch im „off-Raum“ zu erfüllen.401 Von Interesse in der Beschreibung Schneiders sind die Vorgänge, die die Übergänge zwischen „Bild“- und „Fremdton“402 herbeiführen. Der im Film „Deutschland, bleiche Mutter“ von Helma Sanders-Brahms hergestellte Übergang vom nicht-diegetischen Fremdton eines Klavierspiels, der zunächst einen unbestimmten, emotionalen Vorstellungsraum eröffnet, zum Bild eines Spielers, der die gleiche Musik an einem kaputten Klavier spielt und dadurch in die Realität zurückholt, zeigt die durch Musik motivierte Möglichkeit, den Raum der visuellen Imagination zu verlassen, um konkrete, realitätsnahe Bilder zu schaffen. Ist auch der gegensätzliche Vorgang, etwa der Übergang von einer „realen“ Lokalatmo­ sphäre, in der eine bestimmte Musik gespielt wird, die dann die Grundlage von stimmungsvollen Erinnerungsbildern wird403, möglich, so lässt sich eine große Vielfalt von akustisch motivierten räumlichen Prozessen, wie etwa auch „zyklischen“ Bewegungen (Realität – Imagination – Realität), erschaffen. Geräusch und Musik motivieren eine Vielfalt räumlicher Prozesse, die hauptsächlich den Übergang zwischen inneren, emotionalen oder vorgestellten, ersehnten oder gefürchteten und objektiven, realitätsnahen Orten betreffen. Geräusche und Musik erweitern die Grenzen des visuellen Raumes, deterritori401

402 403

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„1. Musik ,füllt‘ die Leere zwischen Leinwand und Betrachter im Sinne einer dritten Dimension. 2. Musik konditioniert durch Einwirkung auf das Raum- und Zeitempfinden den Betrachter solcherart, dass er in sich selbst einen weiten Raum wahrnimmt. 3. Musik scheint deshalb auch dem auf der flächigen Leinwand Dargestellten die dritte Dimension zu geben und das Leinwandbild zum Raum zu machen. 4.  Musik gibt unzugängliche psychische ,Innenräume‘ der Filmfiguren oder der ­gezeigten Objekte an. 5. Musik vermittelt einen fiktiven Raum über, unter sowie hinter der real scheinenden Räumlichkeit des auf der Leinwand Gezeigten.“ Norbert Jürgen Schneider: Handbuch Filmmusik I, a. a. O., S. 135. Ebd. Schneider erwähnt dabei den Film Josef Rödls „Grenzenlos“. Vgl. Norbert Jürgen Schneider: Handbuch Filmmusik I, a. a. O., S. 137.

3. Deterritorialisierende Motivation alisieren den ursprünglichen Raumcharakter einer Szene, leisten dadurch einen aktiven Beitrag nicht nur auf der morphologischen, sondern auch auf der narrativen Ebene des Filmes. Die akustische Ebene des Films öffnet die Schranken zwischen den unterschiedlichen filmischen Milieus, lässt sie in Kontakt zu­ einander treten, wodurch neue, von der visuellen Struktur oder der Handlung nicht unbedingt gerechtfertigte, sondern rein akustisch motivierte filmische Gefüge entstehen. Extension of the sound environment is our designation for the degree of openness and breadth of the concrete space suggested by sounds, beyond the borders of the visual field, and also within the visual field around the characters.404

Finden Geräusche oder Musik, im Sinne von „Orientierungslauten“405, territorialen Einsatz dadurch, dass sie Orte geographisch, zeitlich, kulturell, ethnisch oder sozial definieren, so liefern sie gleichzeitig die Grundlage, diese konkreten Orte zu verlassen und deterritorialisierend Beziehungen zwischen fremden Milieus aufgrund einer rein filmimmanenten Logik zu schaffen.

3.3 Motivation von zeitlicher Deterritorialisierung Neben der räumlichen Deterritorialisierung ist die Motivation von Verschiebungen zeitlicher Gefüge eine weitere der Grundfunktionen des filmischen Tons und der Musik. Wurde die territoriale Eigenschaft des Tons im Bereich der filmischen Zeit dadurch bestimmt, dass sowohl Geräusche als auch Musik visuell oder narrativ mehr oder minder zusammenhängende Szenen entweder in einem linearen Zeithorizont zusammenfassen oder sie auf einen dramatischen Synchronpunkt hinlenken können, so ist seine deterritorialisierende Funktion dadurch bestimmt, dass er ausdrücklich auf ein anderes, in der 404 405

Michel Chion: Audio-Vision, a. a. O., S. 87. Barbara Flückiger: Narrative Funktionen des Filmdesigns: Orientierung, Setting, Szenographie, in: Jarro Segeberg, Frank Schätzlein: Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, Marburg 2005, S. 144. Vgl. dazu auch: Dieter Merlin: Diegetic Sound, in: T. Krohn, W. Strank (Hg.): Film und Musik als multimedialer Raum, Schüren 2012, S. 127.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt ­ ergangenheit oder in der Zukunft liegendes selbständiges Zeitobjekt hinweist. V Durch Modifikationen des Tonbildes wird darauf aufmerksam gemacht, dass das Erinnerte oder in der Zukunft Vorgestellte zwar anschaulich gegeben ist, aber doch eben als Vergegenwärtigtes, Erinnertes oder zu Erwartendes eine andere Qualität leibhaftiger Gegebenheit aufweist, so dass es „zugleich als vergangen und gegenwärtig, als abwesend und anwesend erscheint.“406 Die Szene in Orson Welles’ „Citizen Kane“ mit der Musik Bernard Herrmanns, die, ausgehend von der Lektüre eines Briefes über die erste Begegnung des Kindes Kane mit seinem späteren Ziehvater, in eine Rückblende mündet, in der das Kind kurz vor seiner Trennung von seinen Eltern noch sorglos im Schnee spielt, liefert ein treffendes Beispiel für eine zeitliche Deterritorialisierung durch die Musik. Eine die räumliche Annäherung der Kamera an den die Biografie Kanes recherchierenden Reporter begleitende, langsam repetitive Flötenmelodie, die während des Zooms auf die Schriftzeichen der Lebenslauf­ dokumente schneller wird, leitet den Übergang in eine völlig gegensätzliche Szenerie im Freien ein, wo Kane als Kind mit dem Schnee spielt. Lyrische Streichermelodien und Harfenarpeggien, die ergänzend zu den Repetitions­motiven erklingen, untermalen das Spiel, wobei ein orchestraler Mickey-Mouse-Effekt den Wurf eines Schneeballes an das Elternhaus – den Unmut des von den Eltern zu trennenden Kindes antizipierend  – klanglich simuliert. Dieser Wurf beendet auch die Musik, so dass man nunmehr quasi ungestört, nämlich in der Stille des Hausinneren, die Entscheidungen über das Schicksal des Kindes mithören kann. Die Musik in dieser Szene deterritorialisiert die Gegenwart der Handlung, motiviert den Übergang in eine Vergangenheit, die ihre eigene, selbständige Zeit- und Handlungsstruktur hat. Die allein präsente M ­ usik bzw. das Fehlen jeglichen diegetischen Tones weist auf den audiovisuellen Konflikt zwischen einer visuell gezeigten Gegenwart und einer musikalisch angedeuteten Erinnerungssituation hin, wobei das anschließende Ausblenden der Musik und die Wiedereinführung von diegetischen Stimmen anzeigt, dass wir uns nunmehr in einer anderen Gegenwart befinden, die zwar zurückliegt, aber doch ein selbständiges Zeitkontinuum bildet. Entscheidend dabei ist die Funktion des musikalisierten Geräusches beim Schneeballwurf. In seiner Zwischenposition 406

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Rudolf Bernet: Einleitung zu: Edmund Husserl: Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893–1917), Hamburg 1985, S. XLIII.

3. Deterritorialisierende Motivation zwischen der nicht mehr leibhaftig gegenwärtigen Wahrnehmung (nicht-diegetische Musik) und der zwar vergangenen, aber doch einmal als solche bewusst gewordenen Gegenwart (diegetisches Geräusch) fungiert dieser Klangeffekt als Bindeglied zwischen den beiden Zeitebenen. Nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft gerichtet ist die Musik im von Zofia Lissa erwähnten Beispiel aus dem polnischen Film „Verbotene Lieder“. Eine kontrapunktisch einsetzende, dramatisch anschwellende Musik, die zum bewegungslosen und ruhigen Bild eines leeren Zimmers erklingt, greift den in der nächsten Szene gezeigten Kampfvorbereitungen vor. Im Unterschied zu anderen von ihr erwähnten Beispielen, die sie unter der Kategorie „handlungsantizipierender Musik“ subsumiert, wird hier die antizipierende Funktion nicht im Sinne einer Vorbereitung kommender Szenen im Einklang mit dem visuellen Bild verstanden. Deterritoralisierend wirkt die Musik des Beispiels, weil sie zukünftige Ereignisse vorwegnimmt, allerdings nicht, indem sie den Zuschauer zu ihnen, auch visuell, fortlaufend hinführt bzw. einen Spannungsbogen zu ihnen aufbaut, sondern indem sie quasi unvermittelt inmitten einer Szene den Rhythmus oder die Stimmung einer zukünftigen Szene als selbständige Einheit vorwegnimmt. Der antithetische Charakter der Musik im Verhältnis zum Bild lässt die Wahl der akustischen Inhalte als einen freien, aktiven Bewusstseinsakt fungieren, der diskrete, nicht passiv in einem Zeitkontinuum zusammenhängende Ereignisse mit­einander verknüpft. Bei jeder Antizipation dieser Art haben wir es mit einer „Mehrstimmigkeit“ der Schichten in der betreffenden Szene, mit einer Erscheinung des Asynchronismus oder auch des audio-visuellen Kontrapunktes zu tun; außerdem mit der Aufeinanderschichtung von zwei dargestellten Zeiten, weil das Bild seine eigene Zeit mit sich bringt, während die auditive Schicht dem Bild gewissermaßen bereits voraus ist und auf die Zukunft der Handlung hinweist. Diese Zukunft existiert nur in der Vorstellung des Zuschauers, vorausgesetzt natürlich, dass er den Sinn der begleitenden Musik versteht; aber zugleich färbt diese durch die Musik angekündigte Zeit die vom Bild aktuell repräsentierte Gegenwart; dadurch wird der zeitliche Charakter der Szenen plastischer, sozusagen zweidimensional.407

407

Zofia Lissa: Ästhetik der Filmmusik, a. a. O., S. 211.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt Grundlage der zeitlichen Deterritorialisierung ist also eine bereits im aktuellen Gefüge vorhandene Heterogenität, die den Ausbruch aus ihm auslöst. Die Musik fungiert als „Übergangskomponente“408, sie öffnet das zeitliche Territorium und begünstigt dadurch das Eindringen neuer visueller Komponenten, die neue Gefüge entstehen lassen.

3.4 Motivation von Gemütsbewegung Dass die Akte der Erinnerung oder der Projektion in die Zukunft im Film auch eine emotionale Komponente enthalten können, so dass beispielsweise ein vergegenwärtigtes Ereignis oder eine Person mit einem bestimmten Gefühl versehen wird, ist eine gängige Praxis, die nicht weiter ausgeführt zu werden braucht. Darin zeigt sich, dass Mischformen von akustischer Deterritorialisierung vorhanden sind, die die unterschiedlichen Filmkomponenten (Zeit, Raum, Emotion, Atmosphäre, Handlung usw.) miteinander verflechten und komplexe ­Gefüge im filmischen Ablauf entstehen lassen. Die Deterritorialisierung von emotionalen Eigenschaften des filmischen Bildes ist dabei diejenige Funktion der akustischen Ebene, die wahrscheinlich am häufigsten anderen Deterritorialisierungsformen anzuhaften scheint. Musik und Geräusch können sowohl den Zuschauer in einen veränderten emotionalen Zustand versetzen, in der Form „interner diegetischer Klänge“409 sich aber auch auf die Ebene der Filmfiguren beziehen, dort ihre Gefühlsumstellung explizieren. Wenngleich nicht in Zusammenhang mit der Musik, bringt Eisenstein in seiner Filmtheorie den Begriff der „Ekstase“ zur Sprache, einen Begriff, der in geeigneter Weise die deterritorialisierende Wirkung des Tons und der Musik im Bereich der filmischen Emotionsebene beschreiben kann. Ekstase bezeichnet wörtlich als „ek stasis“ ein – wie Eisenstein selbst bemerkt – „Außer-sich-Geraten“, das erst dann, wenn man es wörtlich nimmt, seine volle, dynamische Bedeutung entfaltet. Die Wirkung des Pathos versetzt den Zuschauer in Ekstase, lässt ihn aus dem gewöhnlichen Zustand heraustreten und ihn „am Moment des Werdens“ teilnehmen. Die Ekstase lässt den Zuschauer eine „Erleuchtung“

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Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 446. Vgl. Kap. II.2.3 dieser Arbeit.

3. Deterritorialisierende Motivation als Wiederempfindung des allerersten traumatischen Erlebnisses, des Heraustretens ans Licht in der Geburt erfahren. Der Sitzende – ist aufgestanden. Der Stehende – ist hochgesprungen. Der Unbewegliche – ist in Bewegung geraten. Das Schweigende hat aufgeschrien. Das Trübe – hat angefangen zu glänzen. Das Trockene – ist feucht geworden. Es gab also in jedem Falle das ,Verlassen eines Zustandes‘, ein ,Aus-sichHerausgehen‘.410

Die „Wirkung des Pathos“, die Ekstase, ist für Eisenstein also kein rein subjektives Empfinden, sondern setzt die Relation zu einem anderen Subjekt oder auch Objekt voraus. „Ein Pathos habe ich nicht, wie ich Gefühle ,habe‘, einem Pathos bin ich ausgesetzt“.411 Pathos kann man nicht subjektiv steuern, ihm liegt ein Überraschungsmoment zugrunde, das zunächst durch eine unbestimmte Quelle ausgelöst wird und eine Auseinandersetzung mit der neuen Situation erzwingt. „Mit einem Wort, Pathos ist alles das, was den Zuschauer zwingt, ‚aus sich heraus zu gehen‘“.412 Dass nun gerade die Musik jemanden in das Eisenstein’sche „Pathos“ versetzen und deterritorialisierend wirken kann, liegt zunächst daran, dass sie die Fähigkeit hat, sich mit dem Subjekt territorial bzw. reterritorialisierend innigst zu verbinden. […] der Klang dringt in uns ein, gibt uns einen Stoß, reißt uns mit, durchdringt uns. […] Da er die höchste Kraft zur Deterritorialisierung hat, bewirkt er auch die heftigsten, stumpfsinnigsten und redundantesten Reterritorialisierungen. Ekstase und Hypnose. Mit Farben kann man ein Volk nicht auf die Beine bringen. Fahnen sind ohne Trompeten wirkungslos, die Laser richten sich nach dem Klang.413

Ist eine solche Herrschaft des Klangs über das Subjekt vorhanden, so gelingt es, dieses zu überraschen, eine Zwischensphäre in der „vorprädikativen Erfah410 411

412 413

Sergej M. Eisenstein: Yo Ich selbst. Memoiren Bd. 2., a. a. O., S. 654. Bernhard Waldenfels: Das Fremde im Eigenen. Der Ursprung der Gefühle, in: ejournal. Philosophie der Psychologie (http://www.jp.philo.at/texte/WaldenfelsB1. pdf, S. 3). Sergej M. Eisenstein: Yo Ich selbst. Memoiren Bd. 2., a. a. O., S. 654. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 475.

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.

II. Funktionen des Tons in der Filmwelt rung“414 zu stiften, in der das Subjekt zu einem passiven Mitfühlen, zu „Akt­ regungen“415 bewegt wird. Dies liegt darin begründet, dass „[…] das Hören respondierend ist, dass es auf etwas hört, noch bevor es etwas als etwas hört.“416 Genau auf dieser Eigenschaft beruht die deterritorialisierende Kraft des Klangs. Der Zuschauer fühlt sich in das Seelenleben der Filmfiguren ein, fasst dieses als ein Echo seines eigenen seelischen Befindens auf, ohne aber sich der Tatsache bewusst zu sein, dass die dargestellten Emotionen jederzeit neue unvermutete Wege gehen und ihn dadurch verwirren können. Entsprechend wird auch im Film ein durch die Musik gesteuertes Echo produziert, das jemandem zu gehören scheint, ihm aber jederzeit unerwartet widersprechen kann. Wird ein ­psychologisches Territorium im Wechselverhältnis zwischen den bezeichneten Gefühlen der Filmfiguren und den vom Zuschauer selbst erlebten Emotionen entworfen, so ist gerade das der Boden für seine Deterritorialisierung. Sie tritt auf, wenn die vom Zuschauer mitgefühlten Emotionen der Filmfiguren sich überraschend als falsch erweisen, etwa dann, wenn die Musik psychische Vorgänge der Filmfiguren offenbart, die sich hinter der visuellen Erscheinung oder der Handlung verbergen oder ihnen widersprechen. Musik ermöglicht es, das Unausgesprochene auszudrücken. Personen können zum Beispiel auf der Leinwand eine Sache sagen und etwas anderes denken. Ihr Verhalten passt zu ihren Worten, aber nicht zu Ihren Gedanken. Vielleicht sprechen sie höfflich und ruhig, aber es könnte ein Sturm folgen. Man kann nicht die Stimmung einer solchen Situation durch das Wort oder das Bild wiedergeben. Aber ich glaube, dass man mit der richtigen Vertonung an die dahinter liegenden Emotionen herankommt.417

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Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst, a. a. O., S. 292. Waldenfels erläutert den Husserl’schen Begriff der Aktregungen folgendermaßen: „Dies sind keine Akte, die ich vollführe, sondern Akte, die angeregt werden und die in Gang kommen, bei denen sich ,etwas regt‘“. Vgl. Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst, a. a. O., S. 374 f. Ebd., S. 384. Alfred Hitchcock im Interview mit Stephen Watts in: Cinema Quarterly 1933, S. 80. Vgl. dazu auch: Eva Rieger: Alfred Hitchcock und die Musik, München 1996, S. 240.

3. Deterritorialisierende Motivation Eine psychologische Deterritorialisierung entsteht dann, wenn ein kontrapunktischer Einsatz der visuellen und der klanglichen Schicht eine Diskrepanz zwischen der diegetischen und der nicht-diegetischen Sphäre erzeugt. Einen besonders eindrucksvollen Fall von Deterritorialisierung, der, ausgelöst von der Diegese, einen deterritorialen Prozess in der psychischen Filmschicht motiviert, zeigt Berry Levinsons Film „Good Morning Vietnam“. Der ins Kriegsgebiet Vietnams geschickte Radiomoderator der amerikanischen Truppen ­Adrian Cronauer legt die Ballade „What a Wonderful World“ von Louis Armstrong auf. Eingetaucht in die glücklich-nostalgische Stimmung des Stücks zeigt der Regisseur die Realität des Krieges: schreckliche Kriegshandlungen, Ermordungen, Vergewaltigungen und Bombenexplosionen. Das zunächst als diegetische Musik aus dem Soldatensender erklingende Lied verselbständigt sich und übernimmt  – hauptsächlich dadurch, dass man beim Anblick der dramatischen Bilder die Quelle der Musik vergisst –, allmählich die Funktion einer nicht-diegetischen „Mood“-Musik, die das visuelle Geschehen kontrapunktiert. Es entsteht eine Reibung zwischen den intensiven (in diesem Fall nur visuellen) Ausdrucksbewegungen der dokumentarisch dargestellten Filmfiguren und den Emotionen, die sich durch die Musik an das Gemüt der Zuschauer richten. Verlangt der scharfe Kontrast zwischen Bild und Musik auf diese Weise eine „geistige Aktivität“418 vom Zuschauer, insofern als er in die Lage versetzt wird, über eine „dritte“, weder allein von der Musik noch vom Bild ausgehende „höhere Qualität“ nachzudenken bzw. die künstlerische Idee hinter dieser Verbindung zu suchen, so animiert die Deterritorialisierung der Diegese durch die Musik das Territorium, sich hin zu einem ambivalenten, „verschwommenen Ganzen“419 zu öffnen. Die Musik führt etwas vor, das die Vorstellungskraft übersteigt, präsentiert einen Gemütszustand, der sich mit einer höheren (offenbar pazifistischen) Idee verknüpft. Mehrdeutige Urteile über das ästhetische und das inhaltliche Resultat der Kontradiktion der Botschaften durch Musik und Bild – die von Propaganda bis zum Zynismus und Zorn reichen können – und die Unmöglichkeit, eine das Leben verherrlichende Musik mit den Zerstörungsbildern in Einklang zu bringen, verweisen auf

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Zofia Lissa: Ästhetik der Filmmusik, a. a. O., S. 197. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 470.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt einen Erhabenheitsbegriff420, der sowohl aus diegetischer als auch aus nichtdiegetischer Perspektive (des Soldaten, der die Musik im Radio hört, oder des Zuschauers) „die Erhabenheit des Ausblicks vom erhöhten, Sicherheit bietenden Ort ästhetisch anspielungsreich inszeniert“421. Zuschauer und Soldat distanzieren sich durch die deterritorialisierende Wirkung der Musik von ihrer eigenen, in die Opfer des Krieges sich einfühlenden Innenwelt, um sich reterritorialisierend auf einer anderen Ebene wieder auf sich selbst zu beziehen. Ort der pathischen Gefühle sind weder die Dinge noch die Seele oder der Geist; ihr Ort ist der Leib, der sich spürt, indem er etwas spürt, und in seiner Weltzugehörigkeit verletzlich ist. Dieser Leib ist der eines leiblichen Selbst, das sich auf sich bezieht, indem es sich zugleich sich entzieht – wie der eigene Blick in den Spiegel oder das Echo der eigenen Stimme. Um ein Spiegelbild als Bild seiner selbst oder ein Echo als Widerhall der eigenen Stimme zu erkennen, muss ein Selbst aus seiner Selbstbezüglichkeit heraustreten, einen Teil von sich an die Welt verlieren.422

Das Besondere der gewählten Filmmusik in dieser Szene ist gerade ihr den ­gängigen Mitteln der Begleitung von Katastrophenszenen widersprechender Charakter. Für die Bilder der Gefährdung und Bedrohung, des Schreckens und Erschreckens bedient sich Filmmusik einer Reihe von z. T. bereits ehrwürdigen Requisiten: motivischer (Ostinati; chromatisch sich weiterschiebende Figuren), harmonischer (dissonante Intervalle wie die übermäßige Quart oder die kleine Sekund; Chromatik; komplexe Dissonanzen bis hin zum Cluster), diastematischer (extreme, meist tiefe Lagen), rhythmischer (unerbitt-

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Deleuze verwendet den Begriff des Erhabenen in Bezug auf „die Herrschaft der universellen Variation, […] welche die menschlichen Grenzen des sensomotorischen Schemas auf eine nicht-menschliche Welt hin übersteigt.“ (Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 60). Carsten Zelle bezieht sich hier auf die Texte von Ernst Jünger. Vgl. Carsten Zelle: Erhabene Weltuntergänge, Rom 1977, S. 77. Vgl. dazu auch: Torsten Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen. Zur Produktivität einer ästhetischen Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 270. Bernhard Waldenfels: Das Fremde im Eigenen, a. a. O., S. 3.

3. Deterritorialisierende Motivation lich gleich­mäßiger „beat“ oder im Rhythmus des fatalen Herzfehlers schlagende Synkopen, dynamischer (Sforzati, Crescendi) und koloristischer („Alarm“-Instrumente; fahle oder grelle Klangfarben; Schlagzeugeffekte vor allem der Pauken; spieltechnische Besonderheiten wie Tremolo, Triller oder Flatterzunge.423

Weder Dissonanzen noch extreme Klangcharakteristika sind in der Musik von Louis Armstrong vorhanden. Ihre leicht fassliche lyrische Melodie negiert jede Form musikalischer Verdopplung des abstoßenden visuellen Geschehens. Im Gegenteil. Voraussetzung dafür, dass sie eine Dissoziation zwischen Diegese und Nicht-Diegese in Gang setzt und die emotionale Identifikation des Zuschauers mit der Filmsituation durchbricht, ist ihre anziehende Wirkung auf ihn, der Umstand, dass sie dem Zuschauer wohlgefällig erklingt, so dass er unvorbereitet und quasi mit „unschuldigen“ Augen vor die umso schrecklicher exponierten Todesbilder tritt. Erst durch diese Maßnahme kann die Musik ihre volle deterritorialisierende Kraft entfalten und zu einer über die reinen Kriegsbilder hinausgehenden Reflexion animieren.

3.5 Akustische Deterritorialisierung – Geräusch und musikalischer Klang Die Idee einer quasi organischen Verwandlung zwischen der Diegese und der Nicht-Diegese bzw. zwischen Geräusch und Musik bildet eine weitere filmische Deterritorialisierungskategorie. Sind die Geräusche vielfach der Impuls für eine Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die akustische Schicht des Films, so können sie eine musikalische Verselbständigung des Akustischen anregen, gewissermaßen die Hervorbringung des nicht-diegetischen Elements der Musik rechtfertigen. ­Dieser Prozess kann auch umgekehrt vor sich gehen.424 Balázs berichtet von einer besonderen Form des Übergangs von der quasi-diegetischen, weil technisch reproduzierten, Musik zur konkreten Stimme einer Filmfigur.

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Helga de la Motte-Haber, Hans Emons: Filmmusik, a. a. O., S. 140 f. Vgl. auch das deterritorialisierende Verhältnis zwischen den On-Off-Räumen in Kap. II.3.2 dieser Arbeit.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt Jemand hört einem Lied im Grammophon zu. Wir sehen die Wirkung. Die Grammophonstimme überblendet in die Originalstimme. Akustische Montage hat den Schauplatzwechsel angezeigt. Wir hören, dass wir anderswo sind. Und wissen noch nicht wo. Wir hören, dass die Person, auf die es ankommt, nun zugegen ist. Wir sehen noch nicht, wie sie aussieht. Aber wir wissen bereits mit ahnender Erwartung von ihrer Bedeutung.425

Der gesamte Deterritorialisierungsprozess läuft zwischen drei Grenzbereichen ab, die die akustischen Übergänge strukturieren. Die Grenzen zwischen inner-, außerbildlichem Geräusch und nicht-diegetischer Musik oder zwischen nicht- und diegetischem Klang markieren die territorialen Schwellen, zwischen denen der Ton eine Änderung des filmischen Erfahrungsraumes herbeiführt. Vergegenwärtigt man sich den Begriff der tonalen Montage bei Eisenstein426, indem man ihn auf die Tonebene überträgt, so erhält man das Prinzip, das sich hinter der akustischen Deterritorialisierung verbirgt: Ein spezifisches akustisches Element (Stimme, Geräusch, Melodie usw.) bildet, indem es trotz seiner Variation in seiner klanglichen oder musikalischen Substanz identisch bleibt, die Grundlage für eine graduelle Verschiebung des audiovisuellen Sinnzusammenhangs. Die strukturelle Identität liefert im ­ Rahmen der äußerlichen Modifikation dieses Elements den Grund für eine visuelle Variation, legitimiert jegliche räumliche, zeitliche oder narrative Veränderung, indem sie für die Kontinuität des filmischen Verlaufs geradesteht. De la Motte-Haber zeigt, wie das Geräusch einer Pendeluhr im Film „You Only Live Once“ auf diese Weise eine musikalische Qualität mit dramaturgischer Funktion erlangt. Das wichtigste optische und akustische Requisit ist zunächst die Pendeluhr, deren unrealistisch schnelles Ticken zum musikalischen Partner der Szene wird. Denn die Tempi des tritonushaltigen „Gefahrenmotivs“ h3-fis3-c3 in den hohen Violinen, die den E-Dur-Refrain des Liebesthemas unterbrechen, und des Refrains selbst sind auf das exakt im doppelten Tempo gehende Pendel ausgerichtet. Das Requisit wandelt sich zum musikalischen

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Béla Balázs: Schriften zum Film. Zweiter Band. Der Geist des Films, a. a. O., S. 170. Vgl. die Einleitung dieser Arbeit.

3. Deterritorialisierende Motivation ­ edeutungsträger, die Uhr zum Metronom, dessen Schlag die leere Zeit, die B zwischen den Fragmenten des Leitthemas nistet, auszukomponieren hilft.427

Hinsichtlich der Deterritorialisierung des Geräusches durch die Musik ist zu bemerken, dass nicht jeder Musikstil dazu geeignet ist, eine dialektische Beziehung zum Geräusch einzugehen. Was Adorno bezüglich der Interaktion von Bild und Musik erkannt hat, scheint seine Gültigkeit auch hier zu beanspruchen. Die Adornsche Filmmusikästhetik des „besonderen Gebildes“, aus dessen immanenter „Stimmigkeit“ einzig und allein der musikalische Verlauf  – nämlich durch Abweisung jeglichen übergeordneten, vorkompositorischen Schemas – abgeleitet werden soll428, ist offenbar auch hier die Bedingung für eine stimmige Beziehung zwischen Geräusch und Musik und damit zusammenhängend auch zwischen Bild und Ton. Insbesondere die Vorliebe für geräuschhaltige Klänge, etwa in der japanischen Musik, die mit der besonderen Vorstellung von Natur in dieser Kultur eng verbunden ist, entspricht dieser Maxime. Der Charakter der freien, oft vereinzelten, geräuschhaften Klänge dieser Musik hat seine Grundlage in der Struktur des Naturgeräusches, wobei diese gleichzeitig das Fundament für den durchbrochenen Stil der filmischen Darbietung bildet. It would appear that this is [the integration of music as organic and integral part of the overall formal texture of film] due to the extremely flexible, supple, “open” quality of this music (which is not subject to the “tyranny of the bar-line” as Western music is and above all is not restricted to tonal structures) that makes it infinitely more adaptable to the eminently nonmeasurable rhythms of film “action” and film editing. Japanese music, however hieratic, seems to have a freer flow, an empirical quality closer to that of the film image. Moreover […] a large number of the timbres found in Japanese music are similar to everyday sounds, thus making the organic interaction of sound effects and music suggested here easier to achieve.429

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Helga de la Motte-Haber, Hans Emons: Filmmusik, a. a. O., S. 143. Vgl. Theodor W. Adorno, Komposition für den Film, a. a. O., S. 39. Noël Burch: On the Structural Use of Sound, in: Film Sound. Theory and Practice, a. a. O., S. 207.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt Die Musik Toru Takemitsus zum Film „Kwaidan“ von Masaki Kobayashi bestätigt die These Noël Burchs.430 Wie der Komponist erklärt: I wanted to create an atmosphere of terror. But if the music is constantly saying “Watch out! Be scared!” then all the tension is lost. It’s like sneaking up behind someone to scare them. First, you have to be silent. Even a single sound can be film music. Here, I wanted all sounds to have the quality of wood. We used real wood for effects. I’d ask for a “cra-a-a-ck” sound, and they’d split a plank of wood, or rip it apart, or rend it with a knife. Using all these wood sounds, I assembled the track.431

Ein Blick auf den Film verdeutlicht die Aussage Takemitsus. In der ersten von vier Erzählungen mit dem Titel „Kurokami“ („Das Schwarze Haar“) bezieht sich die aus vereinzelten Holz- und Metallgeräuschen sowie isolierten Klängen komponierte Musik eindeutig auf die Erinnerungen und Wunschvorstellungen eines verarmten Samurai seine Frau betreffend, von der er sich scheiden ließ, um die Tochter eines reichen Unternehmers zu heiraten. Elektronisch bearbeitete und nach musikalischen Kriterien montierte Geräusche, die der natürlichen Geräuschumgebung der jeweiligen Szene entnommen zu sein scheinen, ersetzen diese und schaffen eine Atmosphäre, die sich zwischen Realität und Vision, zwischen Diegese und Nicht-Diegese befindet. So wird in der Szene, die die Vision des Samurai, wieder im Haus seiner ersten Frau zu sein, zeigt, ausgehend von einem mechanischen Geräusch, das mit dem Bild der Frau am Webstuhl synchronisiert wird, eine Geräuschschicht etabliert, die nicht zuletzt aufgrund ihrer starken akustischen Resonanz über die Diegese hinaus führt. Der irreale, geheimnisvolle und intime „Ton“ der Szene bleibt selbst dann bestehen, wenn die Frau die Web­maschine nicht mehr bedient. Auch die tatsächliche Rückkehr des Samurai zu seiner ersten Frau wird nach

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Das gilt auch für einen Film, der bei Deleuze Erwähnung findet, nämlich „Uwasa No Onna“ von Kenji Mizoguchi, „in dem die japanischen Phoneme, die Geräuschkulisse und die Rhythmik der Perkussionsinstrumente ein derart engmaschiges Kontinuum weben, dass es unmöglich scheint, darin den Faden zu finden“. Michel Fano: Cinéma, zit. nach: Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 301. Toru Takemitsu, zit. nach der Dokumentation von Charlotte Zwerin: Music for Movies: Toru Takemitsu, 1994.

3. Deterritorialisierende Motivation einem ähnlichen Prinzip vertont. Die von Takemitsu erwähnten überdeutlich markierten Holzbruchgeräusche, die mit der Narration, nämlich mit dem Hineinstolpern des Samurai in faules Holz, korrespondieren, bilden durch ihre rhythmische Wiederkehr ein Geräuschkontinuum, das über den vom einzelnen Geräusch ausgelösten „Schrecken“ hinaus der Szene eine autonome ästhetische Qualität verleiht. Die Deterritorialisierung der „realen“ Geräusche erzeugt wie im gesamten Film so auch in der zweiten Erzählung, „Yukionna“ („Die Schneefrau“), eine instabile akustische Zwischenschicht zwischen ­Diegese und Nicht-Diegese, die eine nicht-sichtbare Situation „illustriert“, den Zugang zu einem anderen Territorium, dem der Erinnerung oder der Vision, ermöglicht. Takemitsu composed an intricate wash of high woodwinds, principally various flutes, then electronically bent the music up a few pitches. The effect is extraordinary: something seems wrong with the sound, which wavers disturbingly between “music” and “noise”. Although one might call the music illustrative, its strong distortion and categorical uncertainty suggest something quite other: what is “illustrated” is unseen, in that this storm takes on an alien, threatening quality not clearly expressed visually until the Snow Woman herself manifests in the hut – at which point there is ­almost total silence.432

Findet in der Musik Takemitsus eine Deterritorialisierung des Geräusches dadurch statt, dass es auch durch seine elektronische Manipulation von der Sphäre der Realität in eine Welt der Vision oder des Traumes transzendiert wird, so erhält sie im Filmwerk von Jacques Tati gerade dadurch, dass sie auf der Alltagserfahrung beruht, eine komische Note. Akustische Deterritorialisierung vollzieht sich in seinen Filmen primär durch die ästhetisch fruchtbar gemachte Umkehrung der gewöhnlichen Wahrnehmungssituation, so dass das akustische Ereignis als das dominierende Element der filmischen Alltagserfahrung fungiert. Am Anfang seines „Playtime“ ergibt die Komposition von Gesprächsfetzen, Babygeschrei, vielfältigen, von der jeweiligen Handlung und Person 432

Christopher  I. Lehrich: Hearing Transcendence. Distorted Iconism in Toru Takemitsu’s Film Music in: The University of Chicago Press Journals (Volume 2, S1) 2014, S. 229 (http://www.journals.uchicago.edu/doi/abs/10.1086/674697).

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt abhängigen Rhythmen von Schrittgeräuschen unterschiedlicher Klangqualität, Lautsprecherdurchsagen und Flugzeuggeräuschen ein beinah musikalisches akustisches Kontinuum, das die Aufmerksamkeit des Zuschauers über­ raschend weg von der Narration hin zu einem organisierten audiovisuellen formalen Zusammenhang lenkt. Verselbständigt von ihrer bedeutungstragenden Rolle im Handlungsverlauf, bilden die von ihrer gewöhnlichen, lediglich dem jeweiligen Gegenstand oder einer Person anhaftenden Existenz abstrahierten Geräusche und Stimmen rhythmisierte Klangcollagen, die sich neuen, nicht-narrativen, primär humorvollen Sinnzusammenhängen öffnen. Die Geräuschkomposition von „Playtime“ wird zum Schluss des Filmes durch eine Filmmusik ersetzt, wodurch der Film eine noch höhere Deterritorialisierungsstufe erreicht. Ein von einem Akkordeon, Geigen und Karussellorgel gespielter Musettewalzer verführt dazu, das gesamte filmische Geschehen, so eben den karussellartigen Verlauf des Stadtverkehrs, als ein inszeniertes Kinderspiel zu halten, wo Autos und Menschen wie Automaten nach dem Rhythmus der Musik mechanische Vorgänge vollführen. Tatis Strategie bei der akustischen Montage basiert nicht auf einer nach abstrakten „musikalischen“ Prinzipien vollzogenen Verfremdung natürlicher Geräusche. Indem er gerade die materielle Beschaffenheit und die Situation der Tonquelle in den Vordergrund stellt, bezieht er sich nicht nur auf die ­formalen akustischen Eigenschaften des jeweiligen Gegenstandes, sondern respektiert seinen lebensweltlichen Bezug. Indem er die von der spezifischen ­Materialität des jeweiligen Geräusches extrahierte „musikalische“ Qualität in Verbindung mit der objektiv realistischen Alltäglichkeit des Visuellen im Film setzt, gelingt es ihm, einen Ausgleich zwischen der – von Pierre Schaeffer in der musique concrète verfolgten  – „Reinheit des Klangobjekts“433 und dem ursprünglichen situativen Kontext der Geräusche zu finden, der die Grundlage für neue Möglichkeiten eines gleichsam bildlich-assoziativen Hörens, aber auch für seine humorvolle Filmsprache ist. Für Tatis Filme gilt es nicht, dass die neuartigen Einsatzmöglichkeiten des Tons primär narrativen Zwecken zu dienen haben. Deterritorialisierung bedeutet für ihn aber auch nicht nur eine

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Vgl. die Bestimmung des Begriffs „Objet Sonore“ in: Pierre Schaeffer: Traité des objets musicaux. Essais interdisciplinaires. Paris, 1966, S. 268 ff.

3. Deterritorialisierende Motivation handlungsabhängige Sinnverfremdung von Geräuschen durch ihre Integration in neue narrative Zusammenhänge. Die Deterritorialisierung von Geräuschen in seinem filmischen Werk öffnet neue, unerwartete Wege ästhetischer Erfahrung von neuen territorialen Gefügen, die sich über die klassische Ästhetik des narrativen Kinos hinwegsetzen. Eine ästhetische Idee, die sich hinter der Gestaltung der Tonsphäre im Film sowohl bei Takemitsu als auch bei Tati verbirgt, ist das von Michel Chion als „Übersetzung“ („rendering“)434 bezeichnete Verfahren. Dieses kann als Grund­ element der akustischen Deterritorialisierung geltend gemacht werden. Es gehört nämlich zu den eigentümlichen Merkmalen des Tons im Film, dass er offenbar dann, wenn er in enger Beziehung zum Bild erklingt, einem „Scheinrealismus“ Gestalt verleiht, der sich zumeist lediglich aufgrund der simplen Synchronisation von Bild und Ton ergibt. Töne, die einen visuellen Vorgang oder eine Atmosphäre – selbst ohne der akustischen Realität zu entsprechen – beschreiben oder symbolisieren, werden vom Zuschauer akzeptiert, sind dazu tauglich, Vorgang oder Atmosphäre glaubhaft tonlich zu repräsentieren. „Synchresis can thus override the perception of realism. Cinema has created codes of ‘truth’ – in fact what feels true – that have nothing to do with what is true. Cinema prefers the symbol, the emblematic sound, over the sound of reality.“435 Der Chion’sche Begriff der „Synchresis“ könnte als ein allgemeiner filmtonlicher Terminus gedeutet werden, der sich wohl nicht auf den Einsatz der in den Slapstickfilmen entwickelten sog. „Ton-Gimmicks“436, diese etliche Vor-

434 435 436

Vgl. Michel Chion: Film. A Sound Art, a. a. O., S. 239 ff. Ebd., S. 241. „Man versteht darunter Geräusche ohne konkrete Quelle, die von den Filmemachern eingesetzt werden, um lächerlicher- oder putzigerweise bestimmte Vorgänge zu beschreiben, sie zu akzentuieren oder sie zu konterkarieren. Gimmick-Töne und -Musiken über- oder untertreiben, sie lassen Vorgänge größer (wenn etwa ein martialischer Marsch im Zeichentrickfilm eine Maus ankündigt) oder kleiner erscheinen (wenn im gleichen Kontext ein Elefant mit einer nervösen kleinen Flötenmelodie begleitet wird). Insbesondere Einwirkungen auf den Körper des Farceurs werden so auch akustisch ausgedrückt, stehen dabei aber in einem Verhältnis der Unangemessenheit zum Ereignis, ergänzen das Ereignis um eine real nicht mögliche TonKomponente. Fällt jemandem etwas auf den Kopf, ertönt ein Gong; der darauffolgende Schmerz kann mittels musikalischer Formeln beschrieben werden (dumpfer

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt gänge meist auf lustige, hervorhebende Art beschreibenden Geräusche, beschränkt, sondern jede Form von akustischer Repräsentation umfasst. Die ästhetische Idee hinter den Ton-Gimmicks, die darin besteht, den realen Geräuschen eine zusätzliche, tendenziell nicht-diegetische, musikalische Dimension zu verleihen, ist jedem Akt der Musikalisierung von Geräuschen im Film eigen und bildet die Voraussetzung für den akustischen Deterritorialisierungsprozess. Dem Synchresis- und konsequenterweise auch dem Deterritorialisierungsbegriff immanent ist eine Denkweise, die offenbar nicht auf der Mimesis, sondern auf dem „Werden“ im Sinne der Philosophie Deleuzes beruht. Nicht die nachahmende Darstellung eines Gegenstands oder einer Handlung, sondern der Versuch, dieser Gegenstand oder diese Handlung „zu werden“, nämlich eine Symbiose mit diesem Gegenstand einzugehen, bildet die Grundlage des synchretischen Aktes. Synchresis im Bereich des Filmtones wäre so aufzufassen, dass das Geräusch zum „musikalischen“, also nach künstlerischen Krite­ rien flexibel einsetzbaren akustischen Element „wird“, dass es, ohne seinen ­Gegenstandsbezug zu verlieren, komponierbar wird, folglich sich in die Lage versetzen kann, wie auch die Musik, nicht-­diegetische, etwa psychologische, Funktionen zu übernehmen. Das gelingt nur dann, wenn das Geräusch nicht mehr als ein im „Endzustand“437 begriffenes, eindeutig identifizierbares akustisches Element aufgenommen wird, sondern als ein im Werden sich befindender, modifizierbarer, mit der Musik und dem Bild koexistierender und durch sie in seinen Ausdruckqualitäten mitgestalteter Bestandteil des filmischen Ganzen erachtet wird. Werden ist nie imitieren. Wenn Hitchcock einen Vogel darstellt, gibt er keinen Vogelschrei wieder, sondern erzeugt elektronische Geräusche, ein Feld von Intensitäten oder eine Woge von Vibrationen, eine kontinuierliche Variation, wie eine schreckliche Drohung, die wir selbst empfinden.438



437 438

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Schmerz – schneidender Schmerz – nachlassender Schmerz etc.). Übertreibung und Kontrast zum wahrscheinlichen Realgeräusch haben einen komischen Effekt.“ (http://filmlexikon.unikiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=6728). Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 325. Ebd., S. 416.

4. Molekularisierung (Absolutes hors-champ) Die Deterritorialisierung des Geräusches ist dazu fähig, eine „Dissoziation“ von akustischer und visueller Repräsentation dadurch fruchtbar zu machen, dass sie das ästhetische Interesse von der visuell dargestellten äußerlichen Welt hin zu Zwischenmilieus in der Diegese verschiebt, die den Zuschauer dazu bewegen, eine aktive Rolle beim Verstehen der hinter dieser Dissoziation verborgenen künstlerischen Intention zu übernehmen. Unterscheiden sich die optische und akustische Repräsentation signifikant voneinander, entsteht ein logischer Konflikt, der durch kognitive Strategien abgebaut werden muss. Zwischen Bild und Ton entsteht eine Diskrepanz, die einen energetischen Fluss auslöst und den Zuschauer aktiviert. Die Dissoziation fordert eine Entscheidung.439

4. Molekularisierung (Absolutes hors-champ) Konnten im Rahmen des Synchresisbegriffs die Konsequenzen der Deterritorialisierung im Bereich des filmischen Geräusches erkannt werden, so wird daraus eine allgemeine Tendenz der Deterritorialisierung im Film ersichtlich, die auch die Musik sowie alle weiteren filmischen Elemente betrifft. Die Entindividualisierung der einzelnen filmischen Parameter, so auch des Tons und der ­Musik, die Ausklammerung derer etablierten Bedeutung und Funktion im filmischen Ganzen bringt sie in ein isomorphes, gegenseitiges Gleichberechtigungsverhältnis, in dem sie ihre Rolle jedes Mal neu definieren müssen. So gilt in Analogie zur Verselbständigung des Geräusches von seiner objektiven Quelle auch für die Musik, dass sie sich von ihrer Seinsweise befreit, einen Bewusstseinsbezug auf das filmische Bild hervorzurufen, respektive den visuellen Raum als einen Horizont intentionaler, territorialisierender oder deterritorialisierender Handlungen erfahrbar zu machen, in dem jede filmische Situation nach unterschiedlichen – räumlich, zeitlich oder psychologisch bestimmten – Richtungen gelenkt wird. Unter diesen Voraussetzungen wird Musik nicht mehr als diejenige Schicht des Films aufgefasst, durch welche das Bild als ein Betäti-

439

Barbara Flückiger: Sound Design: Die virtuelle Klangwelt des Films, a. a. O., S. 395.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt gungsfeld bzw. als ein Orientierungsraum von einem handelnden filmischen Ich oder vom Ich des Zuschauers aufgebaut wird. Die Funktion der Musik wird nun nicht mehr auf diesen privilegierten Subjektcharakter begrenzt, sondern auf alle Haupt- und Nebenaspekte des Films, die in einem dynamischen System interagieren, erweitert. Durch ihr nunmehr auf sich selbst gerichtetes, ihren Subjektcharakter deterritorialisierendes Vermögen schafft sie nicht nur Übergänge zu den Bildern, die sich im Sinne des „hors-champ“ zu Einheiten ergänzen, sondern erlangt auch eine Autonomie gegenüber diesen Bildern, indem sie sich selbst ihr eigenes Milieu schafft. Nicht mehr liefert die Musik die „Rechtfertigung“440 der visuellen Bewegung, indem sie ihren Motivationshintergrund offenlegt. Könnte man die strukturelle Funktion der Filmmusik, Übergänge zwischen den Bildern zu motivieren, analog zur Rolle des immanent „negativen“, dialektischen Moments der Dissonanz in der tonalen Musik auffassen, so wäre ihre neue Funktion so zu bestimmen, dass sie – ähnlich dem Stadium der emanzipierten Dissonanz in der absoluten Musik – als eine autonome, denselben Kriterien wie die visuellen Komponenten des Films unterworfene Schicht des Films fungiert. Kann man demnach von einem Zustand ­ erden die Motivationsfunkder absoluten Deterritorialisierung sprechen, so w tionen nicht mehr von medienspezifischen, sondern von intermedialen Kategorien, wie etwa der – weiter unten zu erörternden – „Konsistenz“ (Deleuze), geleistet, wodurch sich die Perspektive eines neuen Begriffs des „Informellen“441 auftut. Als charakteristisches Merkmal der Deterritorialisierungstendenz im Filmton gilt die Negation der fundamentalen Differenz zwischen der O ­ bjektivität des Visuellen und der subjektiven Qualität des musikalischen Hörerlebnisses. Resultat ist die integrale Organisation des Filmwerkes, die die Funktionen der filmischen Elemente entfremdet, sie in dem Maße deterritorialisiert, dass sie zu autonomen Bestandteilen einer übergreifenden Konstruktion werden. Die konsequente Folge ist eine „Molekularisierung“ des Films, dadurch auch die Auflösung der vom Diktat der Narration auferlegten Hierarchie der filmischen Mittel. 440 441

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Vgl. Theodor W. Adorno: Komposition für den Film, a. a. O., S. 77. Im Unterschied zum hier verwendeten Begriff der „informellen Filmmusik“ würde der neue Begriff ein nur ansatzweise systematisch zu beschreibendes Verhältnis von Ton und Film definieren. Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag dazu.

4. Molekularisierung (Absolutes hors-champ) Die enge Beziehung des Deterritorialisierungsvorgangs zur filmischen Kategorie des Off als des durch den Ton suggerierten, im aktuellen Bild nicht sichtbaren und dennoch innerhalb der Diegese potenziell Visualisierbaren, oder aber als des nicht-diegetischen, verallgemeinernden Off, äußert sich im Rahmen der absoluten Deterritorialisierung, die nach Deleuze im modernen Kino festgestellt wird, in einer dritten Form: „Beim modernen Kino greift eine Kategorie des Off-Off ein“442. In der neuen Situation wird weder ein relatives hors-champ, das jedes Bild in einem „aktualisierbaren Verhältnis“443 mittels des Akustischen mit dem nächsten verknüpft, noch ein absolutes hors-champ, das etwa durch die nicht-diegetische Musik einen „virtuellen“ Bezug zu einem Ganzen herstellt, aktuell. Es tritt eine Verselbständigung des akustischen Bildes ein, so dass es nicht mehr Teil des Visuellen ist, sondern seinen eigenen Kader bildet. Das Audiovisuelle ergibt sich von jetzt an aus einem disjunktiven Verhältnis „heautonomer“444 visueller und akustischer Bilder. Fungiert das Kontinuum zwischen akustischen und visuellen Gebilden  – wie in der beschriebenen Szene im Film von Kobayashi – als Grundlage für die Abschaffung der Hierarchie zwischen sichtbarem Bild und „nicht-sichtbarer“ Musik, folglich als Ausgangspunkt für die Herstellung eines Raumes, der im neuen Koordinatensystem des modernen Tonfilms wieder die „Valeurunterschiede“445 zwischen Ton und Bild aufhebt, so ist eben dieses Kontinuum die Bedingung für das durchbrochene Verhältnis zwischen Ton und Bild. War es im klassischen Tonfilm so, dass durch die Abhängigkeit des Tones vom Bild „die Musik etwas sichtbar machte, indem sie dem Auge eine unumkehrbare Blickrichtung aufzwang“446, so dient der Ton nicht mehr der „Lesbarkeit“447 des Bildes. Wie in Resnais’ „L’Amour à mort“, in dem die Musik von Hans Werner Henze die „Intervalle“ zwischen den Szenen füllt, also lediglich zu den intermittierenden

Deleuze verweist bezüglich des Terminus Off-Off auf Pascal Bonitzer und Michel Chion. Vgl. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 423 (Fußnote). 443 Vgl. ebd., S. 303. 444 Ebd., S. 289 ff. 445 Vgl. Kap. II.2.1 dieser Arbeit. 446 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 314. 447 Ebd., S. 315. 442

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt Bildern einer schwarzen Leinwand erklingt448, so ist ihre Funktion nunmehr, ein autonomes „akustisches Bild“449 zu schaffen, das das „visuelle Bild“ nicht mehr zu einer Einheit „ergänzt“450, sondern es konterkariert. Deleuzes Beschreibung des Audiovisuellen im modernen Film, etwa der „Nouvelle Vague“, aber auch eine Bemerkung über das enge Verhältnis zwischen der Musik von Boulez und Godards Kino lassen – durch den Zusammenschluss der beiden in diesem Zusammenhang wichtigen Schriften Deleuzes, seines Kino-Buches und von „Tausend Plateaus“ – neue Erkenntnisse über die Korrelation von Ton und Bild im Sinne der absoluten Deterritorialisierung gewinnen. „Was man in aller Einfachheit hinsichtlich der Musik von Boulez sagte, könnte man auch auf das Kino von Godard übertragen: nämlich, dass es alles serialisiert und die Technik der seriellen Musik verallgemeinert habe.“451 Grundlage des filmischen Raumes im modernen Kino ist für Deleuze also ein „serialisierter“, „glatter Raum“452, der aber keinen homogenen Raum bedeutet453, sondern eine „amorphe Ansammlung von nebeneinandergelegten Stücken, die auf unendlich viele Arten zusammengesetzt werden können“454. Im glatten Raum gibt es „keinen Mittelpunkt“455, aus dem organisch weitere Strukturelemente herauswachsen können. Wie in der seriellen Musik oder auch in der Musik von Edgard Varèse, in der Deleuze die Tendenz zur absolu-

448

449 450 451 452 453 454 455

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Für Adorno lässt sich der intermittierende Charakter der Filmmusik bereits auf den Zusammenhang des Films zum Drama zurückführen. „Echte Urbilder der Musik im Film sind die intermittierenden Bühnenmusiken im Drama oder die Einlagen und Gesangsnummern in Lustspielen. Diese haben niemals der positiven Illusion einer Einheit der Medien und damit dem illusionären Charakter des Ganzen gedient, sondern sind entweder gerade als Fremdes stimulierend eingetreten, indem sie den geschlossenen dramatischen Zusammenhang unterbrachen, oder haben diesen selbst der Tendenz nach aus der Sphäre der Unmittelbarkeit in die des Bedeutens versetzt.“ Theodor W. Adorno: Komposition für den Film, a. a. O., S. 74. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 321. Zum Begriff der „Ergänzung“ siehe Kap. I. dieser Arbeit. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 353. Zum Begriffspaar des „glatten“ und „gekerbten“ Raumes vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend ­Plateaus, a. a. O., S. 658 ff. Ebd., S. 660 f. Ebd. Ebd.

4. Molekularisierung (Absolutes hors-champ) ten Deterritorialisierung auf der Grundlage schlichter „molekularer“ Beziehungen feststellt456, handelt es sich um einen filmischen Verlauf, der sich permanent neu aus unzähligen variierten Darstellungen einer strukturellen „Idee“, die selbst in der Filmkomposition nicht direkt auftaucht, konstruiert. Es ist ein Verlauf, der sich in Filmen wie „The Birdman“ als ein gegenseitiges Aufeinanderbezogensein disparater, autonomer Elemente formt, die ihre Funktionen in Bezug zu einem variablen offenen Filmganzen austauschen. Der Film „The Birdman (or the Unexpected Virtue of Ignorance)“ von ­Alejandro G. Inharitu weist Merkmale auf, die ihn in die Nähe des „seriellen“ Kinos457 und darüber hinaus rücken. Bereits in der Anfangsszene werden diese manifest. Die Hauptfilmfigur – ein ehemals gefeierter Schauspielstar, der wieder als Regisseur und auch als Schauspieler eines Theaterstücks seine Karriere aufnehmen will – präsentiert sich als ein Fakir mit verschränkten Beinen in der Luft schwebend, um sich dann nach einer Videokommunikation mit seiner Tochter mit der inneren spöttischen Stimme seiner ehemaligen Existenz, eines mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestatteten Superhelden (Birdman), zu konfrontieren. Die akustische Sphäre der Szene wird durch den Ruf zur Probe aus einer Lautsprecheranlage sowie durch ein improvisiertes Jazz-Schlagzeugsolo ergänzt, das während des gesamten Films an herausgehobenen Stellen erklingt. Das aktuelle Bild der Szene verschränkt unterschiedliche Seinssphären, lässt die Filmfigur immer wieder und unmerklich die Grenze zwischen ihnen passieren: die Realität des Schauspielers in seiner Künstlergarderobe, das übernatürliche Bild des Schwebens, die virtuelle Welt der Telekommunikation ­(Internet, Sprechanlage), die Stimme des ehemaligen, aber aktuelle Zwiegespräche mit der Hauptfigur führenden Selbst, die nicht-diegetische Musik. Es 456

457

„Varèse zufolge braucht man eine einfache, sich bewegende Figur und eine ihrerseits bewegliche Ebene, damit die Projektion eine in hohem Maße komplexe Form annimmt, das heißt, eine kosmische Verteilung, sonst gibt es nur eine Geräusch­ kulisse.“ Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 470. Deleuze spielt auf eine quasiprogrammatische Beschreibung Varèses zu seinem Stück „Intégrales“ an, wonach das Werk als die „wechselnde Projektion einer geometrischen Figur auf eine Fläche, wobei Figur und Fläche sich beide im Raum bewegen“ zu erfassen ist. Vgl. E. Varèse: Erinnerungen und Gedanken, in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik III, Mainz 1960, S. 67. Vgl. die Merkmale des modernen Kinos in Kap. I.2 dieser Arbeit.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt entsteht ein komplexes Gefüge, in dem die unterschiedlichen Seinsschichten sich in der Weise kristallisieren, dass weder eine aktuelle noch eine virtuelle Ebene klar unterscheidbar wird. Das Reale wird zugunsten e­ iner mehrschichtigen Wahrnehmung wortwörtlich zum „Schauspiel“458, das Virtuelle erhält dagegen einen konkreten Realitätsbezug. Es entsteht eine Verdichtung von unterschiedlichen logischen Sinngefügen, die sich durch den gesamten Film hindurchzieht. Konnte Deleuze eine Eigenschaft des modernen Kinos darin aufspüren, dass „die Montage bereits im Bild stattfindet“459, so erhält dieses Merkmal in „Birdman“ eine drastische Explikation: Gedreht wird eine einzige, scheinbar endlose Einstellung, die dadurch ermöglicht wird, dass die Schnitte durch digitale Techniken quasi wegretuschiert wurden. Die Kamera gleitet durch Tag und Nacht, durch die labyrinthischen Korridore, Treppen, Probe- und Bühnenräume des Theaters, um auf die Straße oder die Dachterrasse und wieder zurück zu gelangen. Die Kamera, respektive der Zuschauer, wird neben der Birdman-Stimme und dem Schlagzeug in diesem unaufhörlichen Fluss zu einem weiteren, ständigen Begleiter des dadurch vielfältig deterritorialisierten Protagonisten. Im Einklang dazu stehen die vorwiegend nahen Einstellungen. Tendenziell sich der haptischen Dimension460 annähernd, betonen sie, im Unterschied zu den fernen Einstellungen, die allgemein den Umriss, die feste Struktur und den Ort der Gegenstände und Personen bestimmen, die Prozesshaftigkeit des Werdens, den Fluss des inneren und äußeren Erlebens des Protagonisten, welcher selbst weite narrative Zeitsprünge in seinen Strom integriert. Die Auflösung der Montageschnitte, die sonst zur Ausbildung eines „gekerbten“, durch festgelegte Einschnitte geteilten Filmraumes führen würde, ergibt im „The Birdman“ einen „glatten“ Raum. Eine Linie […], die nichts eingrenzt, die keinen Umriß mehr zieht, die nicht mehr von einem Punkt zum anderen geht, sondern zwischen den Punkten verläuft, die unaufhörlich von der Horizontalen und der Vertikalen 458 459 460 461

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Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 114. Ebd., S. 62. Für Deleuze gilt das als Merkmal des glatten Raumes. Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 684 ff. Ebd., S. 689.

4. Molekularisierung (Absolutes hors-champ) abweicht und sich ständig von der Diagonalen löst, indem sie unaufhörlich die Richtung wechselt  – diese mutierende Linie ohne Außen und Innen, ohne Form und Hintergrund, ohne Anfang und Ende, eine solche Linie, die ebenso lebendig ist wie eine kontinuierliche Variation, ist wahrhaft eine abstrakte Linie und beschreibt einen glatten Raum.461

Der deterritorialisierte Fluss, nämlich die dominierende Bedeutung von absolut deterritorialisierten Gefügen wie primär der Hauptfigur, wird gerade gegenüber einseitig festgelegten individuellen Gebilden – etwa dem des Mitprotagonisten, der ein erfolgreicher Broadway-Schauspieler ist  – sichtbar: Keine bewusst handelnden Subjekte, sondern Kräfte und Intensitäten bestimmen ihre variable filmische Textur. Es sind Personen, die im Sinne einer „automatischen Subjektivität“462 sich „ihren visuellen und akustischen (oder auch taktilen, kutanen, kinästhetischen) Empfindungen“ ausgeliefert fühlen, Empfindungen, die aber – anders, als von Deleuze erkannt – gerade nicht ihre „Fortsetzung im Bereich der Motorik verloren haben“, sondern sich in einer übersinnlichen Bewegungsenergie (Telekinese) entladen. Ihr Tun manifestiert sich in einer „Zwischenleiblichkeit“463, in Handlungen nämlich, von denen unklar ist, ob sie vom eigenen oder einem fremden Ich ausgehen. In der Person des Protagonisten/Birdman vollzieht sich ein „Bruch des sensomotorischen Schemas“464 dadurch, dass bei ihm eine aktuelle, „reale“ Präsenz mit ihren virtuellen Seinsweisen koexistiert. Dreifach wird er durch diese Dissoziation heimgesucht. Erstens durch die Birdman-Stimme, die das Geschehen und die Personen, einschließlich der eigenen Person, kommentierend und verspottend begleitet. Zweitens durch die telekinetischen Kräfte, die seine Leibbewegung von ihrer Antriebskraft, nämlich von der körperlichen Anstrengung, die Körpererfahrung erst möglich macht, befreit. Drittens durch die Schlagzeugmusik, die die innere Anspannung des Protagonisten wahrnehmbar macht. Durch diese Elemente zieht sich die Figur des Protagonisten auf sich selbst zurück, drückt nur 462

463 464

Vgl. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 79. Deleuze bezeichnet so ein Charakteristikum des europäischen Kinos, das sein Wurzeln im deutschen Expressionismus hat und sich durch die Auseinandersetzung mit Phänomenen wie Halluzinationen, Delirien, Träumen und Albträumen hervortut. Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst, a. a. O., S. 284 ff. Vgl. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, a. a. O., S. 311 f. Ebenso Kap. I.2 dieser Arbeit.

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II. Funktionen des Tons in der Filmwelt bedingt eine Abhängigkeit von visuellem Bild und Narration aus. Die Figur „wird selbst gewissermaßen zum Zuschauer“, dadurch, dass sie zum Betrachter und Kommentator ihres Denkens und Handelns wird. Der direkt in das aktuelle Handeln eingreifenden Vision ausgeliefert, agiert sie in autonomen, – im Sinne der Narration – unverständlichen Akten. Gerade diese Abhebung vom natürlichen Verlauf des Films macht aber die besondere „Subjektivität“ dieser Figur aus. Dadurch nämlich, dass die „Birdman“-Figur die subjektiven Eigenschaften der Person, die sie in molekularisierte Elemente und Affekte auflöste (reale Person, Birdman-Stimme und -Telekinese, Schlagzeugmusik), in neue Gefüge zusammenknüpft, wird sie wieder zum einem – wenngleich variablen – Individuum. Erst die Gesamtheit der abstrahierten Elemente unter „bestimmten Verhältnissen von Bewegung und Ruhe, von Schnelligkeit und Langsamkeit“ sowie von „intensiven Effekten“465 lässt die Person in ihren Eigenschaften wieder entstehen. Dasselbe gilt auch für die Schlagzeugmusik, die mit dieser Person ein bewegliches, territorialisierend-deterritorialisierendes Verhältnis eingeht. Wiewohl sie auch das psychologische Territorium des Protagonisten markiert, so verselbstständigt sie sich, auch absolut, indem sie sogar im Bild (Schlagzeuger auf der Straße und in der Garderobe) erscheint. Zusammen mit den weiteren Deterritorialisierungselementen und in Augenblicken der „Konsistenz“ dieser Elemente bringt sie das gesamte Gefüge, das die Hauptfigur prägt, hervor. Der Zeitpunkt dieser „Konsistenz“ aller Deterritorialisierungselemente ist verantwortlich für eine weitere Schlüsselszene des Films „The Birdman“, die einen Knoten auch im narrativen Verlauf bildet. Eine handgreifliche Auseinandersetzung mit seinem Widerpart, dem kommerziell erfolgreichen Schauspieler, den er für sein aufzuführendes Theaterstück engagiert hat, ist für „Birdman“ der Impuls für die sich daran anschließende persönliche Szene der Wutexplosion, aber auch der Reflexion über die ästhetische Qualität und den kommerziellen Erfolg im Künstlerdasein. Eine schnelle Schlagzeugpassage begleitet die Hauptfigur bei ihrem hektischen Gang durch die Flure des Theaters zu ihrer Garderobe. Darin beginnt ein Streit mit der Birdman-Stimme, die,

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Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 354.

4. Molekularisierung (Absolutes hors-champ) eingebettet in eine durch die Schlagzeugmusik äußerst erregte Atmosphäre, den Protagonisten zum Verwüsten des Mobiliars durch die Stimulation seiner übernatürlichen Kräfte bewegt. Zeichen der Reflexion über die schizophrene Natur der Stimme seiner früheren Birdman-Existenz, ein Argumentenaustausch mit seinem virtuellen Dasein und Resignation fügen die Szene zu einem Ganzen zusammen, das einen Höhepunkt im d ­ eterritorialisierten Dasein der Hauptfigur des Films erlangt. Die Koexistenz disparater Elemente zwischen Realität und Vision, zwischen Aktuellem und Virtuellen erreicht ein Höchstmaß an Ausdruckskraft, bildet ein Gegenstück zur bewussten Identität der Hauptfigur, nämlich einen „organ­losen Körper“466, der die Hierarchie der Bewusstseinsstrukturen negiert und ein funktionsloses Gefüge herstellt. Die disparaten Elemente synchronisieren sich zu einem offenen Ganzen, das mannigfaltige abstrakte Deterritorialisierungslinien motiviert.

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Ebd., S. 205 ff. Um eine Auslegung des Begriffs des „organlosen Körpers“ in der Musik bemüht sich Christian Asplund in: ders.: A Body without Organs: Three Approaches – Cage, Bach, and Messiaen, in: Perspectives of New Music, Vol. 35,2 (1997), S. 171–187.

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III. Filmmusik und Subjekt

1. Die „Transzendenz“ des Filmtons Sind im Territorialisierungs- bzw. Deterritorialisierungstopos zwei übergreifende Modi der Korrelation von Ton und Film zu erkennen, so ist beiden gemein, dass sie eine wesentliche Aufgabe im Film erfüllen, nämlich den wahrgenommenen Filmgegenstand in eine Sphäre zu versetzen, in der er nicht mehr als unmittelbar und unhinterfragt gegeben aufgefasst wird, sondern er erst über die Reflexion durch ein anderes Medium, nämlich durch den Ton, rezipiert wird. Der Ton erweist sich als ein konstitutives Zwischengefüge des filmischen Erlebens. Zusätzlich zur visuellen Doppelempfindung, die dadurch begründet wird, dass der Zuschauer Dinge und Personen nicht unmittelbar perzipiert, sondern, im Sinne der „viewed view“467, sie durch die Kameraperspektive gleichzeitig als Objekt (die durch die Kamera ermöglichte Sicht auf die Filmgegenstände weist mittelbar auf die Position der Kamera im Raum der filmischen Darstellung hin) und als Subjekt der filmischen Wahrnehmung begreift, liefert der Ton eine zusätzliche, gegenüber dem Visuellen „fremde“468 Sphäre der filmischen Wahrnehmung. Diese knüpft eine enge Beziehung mit der visuellen Wahrnehmung, geht mit ihr eine „Kooperation“ ein. Als Resultat der Verkopplung beider Ebenen bildet sich eine ästhetische Zwischenschicht, in der das eine Medium „im“ anderen ist, seine Eigenheit zugunsten einer einheitlichen ­gemeinsamen Gegebenheitsweise weitgehend verliert. Gerade dann, wenn der 467 468

Vgl. Kap.I.3.3 dieser Arbeit. Zum Begriff des „Fremden“ siehe weiter unten. Zur Gegenüberstellung von Deleuze und Waldenfels in einer filmpädagogischen Perspektive siehe: Hanne Walberg: Film-Bildung im Zeichen des Fremden: Ein bildungstheoretischer Beitrag zur Filmpädagogik, Bielefeld 2011.

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III. Filmmusik und Subjekt Ton empfänglich für einen „Dialog“469 mit dem Film ist, oder umgekehrt, wenn der visuelle Teil des Films sich dem Ton annähert, entsteht eine „passive Synthesis“470 der beiden Medien, eine Kooperation zwischen Klang- und Filmbild, die keine Unterscheidbarkeit der beiden Medien im Hinblick auf die darzustellende Idee zulässt. Die Frage, welchem Medium man die jeweiligen Aussagen zuschreiben kann, muss dann unbeantwortet bleiben, weil sie gerade während des „Gesprächsprozesses“ zwischen Ton und Film Gestalt annehmen, dadurch, dass das eine Medium derart am Ausdrucksvorgang des anderen partizipiert, dass es die Äußerungen des anderen erahnt und vorwegnimmt471. In einer phänomenologischen Betrachtung wäre die im Leib sich konstituierende Innen-Außen-Erfahrung472 als Vorbild des Korrelationszusammenhangs zwischen Ton und Bild zu betrachten. Die sich in dieser gleichzeitigen Selbstund Fremderfahrung manifestierende Vorstellung von „Transzendenz“ erweist sich als eine adäquate Form, das der Filmkunst immanente Verhältnis zwischen Ton und Bild zu erklären. Nicht nur die Bedeutung des Tons zwischen Diegese und Nicht-Diegese, sondern vor allem die Möglichkeit einer aus der inneren Struktur des Films hervorgehenden Partizipation des Geräusches und der Musik am filmischen Bild würde dadurch sichtbar werden. Eine filmmusikalische Explikation der Deterritorialisierungsthese im Sinne der noch subjektzentrierten, aber die Deleuze’sche Idee gewissermaßen vorbereitenden Phänomenologie des Leibes würde davon ausgehen, dass der Ton bereits in einer filmischen „primordialen Sphäre“, nämlich in einer als nicht hinterfragte Basis alltäglichen Handelns vorausgesetzten Lebenssphäre im Film, die Erfahrung von Transzendenz insofern ermöglicht, als Ton und Musik nicht nur objektivierend, als Teil der äußeren Realität, sondern auch als „mein“ Ton und „meine“ Musik, als ein dem Leib und dem Seelenleben des Zuschauers zuge­ höriges Vorkommnis, aufgefasst werden. 469 470 471

472

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Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst, a. a. O., S. 300. Ebd. „Man errät oder erahnt die Äußerungen des Anderen, wie man in der Musik den Fortgang auf gewisse Weise schon vorwegnimmt: es wird nicht nur der augenblickliche Laut oder Lautkomplex gehört, sondern zu Beginn des Satzes kündigt sich eine Fortsetzung an, die im Satzschema ungefähr vorgezeichnet ist.“ Vgl. Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst, a. a. O., S. 300. Ebd., S. 89 ff.

1. Die „Transzendenz“ des Filmtons In dieser Innen-Außen-Erfahrung konstituiert sich nach Husserl der ursprüngliche Sinn von Transzendenz. Noch ist sie nicht die volle Transzendenz der objektiven Welt. Immerhin aber wird bereits in meiner Primordialsphäre eine transzendente Welt konstituierbar. Mit meinem Leib apperzipiere ich mich jetzt als etwas in der Welt, als Teil ihrer mit einem Außer-mir, mit ihm fasse ich mich auf als Mensch.473

Manifestiert sich diese Innen-Außen-Erfahrung durch den Filmton in umgekehrter Weise, nämlich indem ich die fremde, auch diegetische akustische Erfahrung (Geräusch, Stimme, Musik) als eine In-mir-Apperzeption auffasse, so ist diese mögliche Verschmelzung des Tons mit meinem eigenen Leib, die Tatsache nämlich, dass das äußere Tonerlebnis vom eigenen Ich einverleibt werden kann, die Voraussetzung dafür, davon auszugehen, dass dieser Vorgang auch bei einem „anderen Ego“474 möglich ist, so auch beim Ego der filmischen Figuren. Grundlage der Erfassung jeglicher akustischen Fremdheit im Film ist also bereits die Fremdheit, die der Ton, und speziell dabei die Musik, für mich als Teil meiner inneren Welt besitzt. Der Ton fördert dann die Apperzeption des ­filmisch Anderen der Filmfiguren in Assoziation zu meiner eigenen Erfahrung. Es kommt zur Mitwahrnehmung von akustischen und zur Einfühlung von psychischen Gehalten des filmisch Fremden. Die Einfühlung dagegen ist eine Funktion des Zuschauers gegenüber dem Filmbild, und die Musik kann ihm bei der richtigen Interpretation des Inhalts der jeweiligen Szene helfen. Sofern sie selbst Ausdruck von Emotionen ist, reagiert der Zuschauer nicht nur auf die vorgestellten Emotionen der Filmhelden, sondern er reagiert zugleich mit seinem eigenen Gefühl auf den Ausdruck der gehörten Musik. Im Erlebnis des Filmzuschauers schichten sich die vorgestellten Emotionen, die er den Filmhelden zuschreibt, auf ­seinen eigenen, die von der Musik hervorgerufen werden.475

473 474 475

Elisabeth Ströker: Das Problem der επoχή in der Philosophie Edmund Husserls, in: Analecta Husserliana Vol. 1, Dordrecht 1970, S. 181. Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen, (Hg. E. Ströker), Hamburg 2012, S. 125. Zofia Lissa: Ästhetik der Filmmusik, a. a. O., S. 193.

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III. Filmmusik und Subjekt Erfolgt diese Apperzeption des Zuschauers zunächst aufgrund der „Bewährung“ der vom Ich ausgehenden „assoziativen Forderungen“ nach Ähnlichkeit gegenüber dem fremden Leib, so schließen sich daran auch Erwartungen nach ähnlichen intentionalen und psychischen Gehalten an. In weiterer Folge kommt es begreiflicherweise zur ,Einfühlung‘ von bestimmten Gehalten der ,höheren psychischen Sphäre‘. Auch sie indizieren sich leiblich und im außenweltlichen Gehaben der Leiblichkeit, z. B. als äußeres Gehaben des Zornigen, des Fröhlichen etc. – wohl verständlich von meinem Gehaben her unter ähnlichen Umständen.476

Diese Erwartungen können allerdings nicht nur erfüllt, sondern auch enttäuscht werden. Dass die Welt des filmischen Anderen nicht mit meiner akustischen Wahrnehmungssphäre übereinstimmen muss, sondern dass sich diese vielmehr beständig neu bestimmen und realisieren kann, gehört zum Vorgang der filmischen Apperzeption dazu. Der Gehalt des Tons kann sich im Filmverlauf, anders als von mir erwartet, entwickeln, Töne, die ich höre, können von den Filmfiguren ignoriert werden, für mich fröhliche Musik kann von den Filmfiguren melancholisch aufgefasst werden usw. Die ambivalente Position gegenüber der Leiblichkeit im Film ist folglich ein fundamentaler Aspekt des Tonlichen. Das Spektrum der akustischen Filmsphäre reicht vom konkret am visuellen Gegenstand oder an der Handlung anhaftenden Geräusch bis zur weit von der Realität des Films entfernten, im Zuschauersubjekt lokalisierbaren Musik. Im Ton sind beide filmisch vertreten, das Geräusch als das jederzeit auch visuell Konkretisierbare, die Musik als Statthalterin des Imaginären, als das, was zwar anwesend ist, aber sich dem Blick entzieht. Damit wäre endlich ihr Ort ausfindig gemacht: Sie befindet sich einfach hier und nirgendwo zugleich!477

Gerade die Musik kann vom visuellen Geschehen in der Art Abstand nehmen, dass sie die Realität des konkreten filmischen Bildes als nur „mögliche“ Erschei-

476 477

198

Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen, a. a. O., S. 122 f. Fred van der Kooj: Wo unter den Bildern sind die Klänge daheim?, a. a. O., S. 23.

1. Die „Transzendenz“ des Filmtons nung innerhalb einer weit umfassenderen Gesamtheit intentional motivierter weiterer Erscheinungen darbietet. Es ergibt sich also ein Doppelcharakter in der Raumstruktur der Filmmusik. Die Musik ist zum einen Teil des Films, zum anderen aber betrachtet sie den Film von außen, aus dem Möglichkeitsraum her, der den Film umgibt, aus dem er entstanden ist und in den er wieder aufgeht, mit dem der Film als wirkliches Bildgeschehen vor unseren Augen und Ohren aber keineswegs zusammenfällt.478

Auf der Basis dieser ontologischen Differenz zwischen den beiden Räumen, dem Raum der Musik und dem Raum des Sichtbaren, und aufgrund der Fähigkeit der Musik, in beiden Räumen präsent zu sein, erlangt der Film die Möglichkeit, über sich zu reflektieren, ein „Bewusstein seiner Ganzheit“479 zu aktualisieren. Beispiele einer intradiegetischen Musik, die sich verselbständigt und eine eigene filmische Qualität gewinnt, gehören zu den charakteristischen Fällen, in denen ein gradueller Übergang zwischen den beiden Seinssphären manifest wird.480 Es etabliert sich eine Ebene, die sich zwischen der Objektivität des intradiegetischen Klanges und der Subjektivität der Musik befindet, in der die Musik eine Bewusstmachung ihrer selbst vollzieht und kritisch den filmischen Vorgang reflektiert. Deleuze spricht in einem analogen Zusammenhang, der sich nicht auf die Musik, sondern auf die Relation zwischen Kamera und Bildgegenstand bezieht, von „freier indirekter Rede“. „Das Abwechseln verschiedener Objekte vor einem Bild“ und „der exzessive Gebrauch des Zoom“, die die Wahrnehmung in einem unabhängigen ästhetischen Bewusstsein verdoppeln… Kurz, das Wahrnehmungsbild findet ­seinen Status als freies, indirektes und subjektives Bild, sobald es seinen Inhalt in einem autonom gewordenen Kamerabewusstsein reflektiert.481 478 479 480 481

Lorenz Engell: Bild und Ort des Klangs. Musik als Reflexion auf die Medialität des Films, a. a. O., S. 16. Ebd., S. 23. So die Musik Bernard Herrmanns in John Brahms „Hangover Square“. Vgl. Claudia Gorbman: Unheard Melodies, Indianapolis 1987, S. 154. Gilles Deleuze: Das Bewegungsbild, a. a. O., S. 107.

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III. Filmmusik und Subjekt Entsprechende Strategien, die die Selbstreferentialität der Musik ermöglichen und die Musik als ein autonomes Element des Films, das Einfluss auf die Wahrnehmungsbilder ausübt, bewusst machen, sind spätestens seit den Filmen Godards präsent. Die beinah protagonistische Funktion der Musik aus dem Autoradio des Kleinkriminellen Michel in der zweiten Szene von „À bout de souffle“, die sich nicht auf eine intradiegetisch untermalende Rolle beschränkt, sondern aktiv wird und dialogisierend sich in das Zwiegespräch der Hauptfigur des Films mit dem Zuschauer einmischt, ist ein Beispiel einer unkonventionellen Verfahrensweise, die die von der filmischen Realität abgehobene Anwesenheit der Musik kenntlich macht. Im Sinne eines Verfremdungseffektes entsteht dadurch bereits im Inneren der Narration das Bewusstsein einer kritischen wie auch selbstbewussten Haltung des Zuschauers gegenüber dem filmischen Ereignis. „Godard hält wie Brecht daran fest, dass der Zuschauer im Kino nicht vergessen soll, dass er im Kino sitzt, dass ihm der Film also auch Distanz ermöglichen muss.“482 Auch andere Möglichkeiten, die die Selbstreflexivität der Musik im Film deutlich machen, lenken die Aufmerksamkeit auf die filmfremde Eigenstruktur der Musik483. Ein etablierter, aber auf unerwartete Weise sich fortsetzender Verlauf der Musik etwa lässt die ursprüngliche Struktur bewusst werden, erst durch den Gegensatz wird der als selbstverständlich hingenommene Charakter des Anfangs reflektiert. Die Musik reißt inmitten einer Phrase ab, obwohl ihre Periodizität klar eine Fortführung erwarten ließe, und erst aus dem musikalischen „Nichts“, nach dem Abriss, wird die vormalige musikalische Eigengesetzlichkeit und Eigendynamik erkennbar.484

Diese und auch analoge Techniken lassen die autonome Existenz einer zwischen Zuschauer und Filmgegenstand sich konstituierenden filmmusikalischen Schicht erblicken.

482 483

484

200

Volker Roloff, Scarlett Winter (Hg.): Godard intermedial, Tübingen 1997, S. 131. Vgl. dazu: Victoria Piel: Narrative Querstände. Momente von Selbstreflexivität der Musik im Film, in: V. Piel, K. Holtsträter, O. Huck: Filmmusik. Beiträge zu Ihrer Theorie und Vermittlung, a. a. O., S. 43–73. Ebd., S. 59.

1. Die „Transzendenz“ des Filmtons

1.1 Phänomenologie – Epoché in der Musik Angesichts der doppelten Seinsweise des Tons und der Musik in der filmischen Erfahrung, einerseits als nicht-diegetische Eigenerfahrung, andererseits als fremd- bzw. intradiegetische Wahrnehmung, stellt sich die Frage nach der Art, wie die beiden Perzeptionsarten faktisch zusammenhängen. Wie bestimmt sich das Verhältnis zwischen den Polen tonlicher Wahrnehmung, nämlich zwischen Geräusch und Musik im Filmwerk, und welche ästhetischen Zwecke verfolgt die durch den Ton und die Musik realisierte Deterritorialisierung filmischer Inhalte? Die Deterritorialisierung löst einen Prozess der Distanzierung von der „natürlichen“ Darstellung im Film, der Abstraktion von der filmisch suggerierten Lebenswelt aus, die aber wiederum real empfunden wird. Im Sinne von Foucault werden auf diese Weise durch den Ton „Heterotopien“ geschaffen. Der Spiegel funktioniert als seine Heterotopie in dem Sinn, dass er den Platz, den ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit dem ganzen Umraum verbindet, und dass er ihn zugleich ganz unwirklich macht, da er nur über den virtuellen Punkt dort wahrzunehmen ist.485

Können analoge Situationen auch im Bereich des Tons entstehen, so bilden sich Heterotopien einerseits durch eine Entfremdung von Klängen selbst, dann etwa, wenn natürliche Klänge der Ausgangspunkt für eine Musik sind, die sie von ihrer Semantik befreit und die Geräusche in musikalische Gebilde umwandelt oder akusmatisch fern von ihrer gegenständlichen Provenienz behandelt. Heterotopie als Deterritorialisierung kann aber auch die Beziehung zwischen Klang und filmischem Bild betreffen. Wiewohl bereits das Geräusch selbst eine Deterritorialisierung der visuell gegenständlichen Existenz seiner Quelle ist, so bewirkt die Musik eine extreme Form der Abhebung von der filmisch realen Sphäre des Films. Die Frage, die sich in all diesen Vorgängen stellt, ist folgende: Welches ist der übergreifende ästhetische Sinn dieser durch den Ton motivier-

485

Michel Foucault: Andere Räume, in: K. Barck u. a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 39. Vgl. dazu auch: Volker Roloff, Scarlett Winter (Hg): Godard intermedial, a. a. O., S. 6.

201

III. Filmmusik und Subjekt ten, aber auch realisierten Verabschiedung von der selbstverständlichen filmischen Wirklichkeit? Durchdringung von Subjekt und Objekt, Ausbildung und Öffnung von territorialen Grenzen, Konsistenz, Durchdringung von aktueller und virtueller Zeit im Zeitkristall, Symbiose von Individuen im Affekt, Depersonalisierung, Verallgemeinerung, gestischer Bezug zwischen Visuellem und Akustischem, akustische Ergänzung als Erweiterung der natürlichen Wirkung des gegenständlichen Bildes durch vorstellungsmäßige oder assoziative Tonmomente sind einige der konstitutiven Qualitäten, die in Bezug auf die akustische Deterritorialisierung im Film bereits herausgearbeitet werden konnten.486 Die Implikation des Anders-Werdens durch die akustische Deterritorialisierung scheint letztlich die Schaffung neuer offener Möglichkeiten der Interaktion zwischen akustischen und visuellen Bildern und die Partizipation des Tons und der ­Musik an der filmischen Lebenswelt zu sein. „In der Musik geht es um ein Deterritorialisierungsvermögen, das die Natur, die Tiere, die Elemente und Wüsten ebenso durchdringt wie den Menschen.“487 Der Ton bringt Filmgeschehen und Zuschauer auf dieselbe „Konsistenzebene“488, setzt „Diesheiten“489 in Bewegung, nämlich individuierte Gefüge, die sich aber von Subjekten und Gegenständen dadurch unterscheiden, dass sie sich nicht durch ihre Gestalthaftigkeit, sondern ausschließlich in offenen Verhältnissen von „Bewegungsrhythmen“ und „Affekten“ ausbilden. Darin macht sich eine Grundeigenschaft des Deterritorialisierungstopos im Filmton bemerkbar. Es ist gerade der offene Ausgang, die Unbestimmtheit des akustischen Zwischengefüges, die eine Ungewissheit darüber walten lässt, welche Form das filmische Geschehen annehmen wird. Der Ton lässt gerade im Falle des hors-champ Erwartungen oder gar Zweifel darüber aufkommen, ob das filmische Bild seinen Verlauf stimmig fortsetzt oder neue Wege beschreitet. Generell verweist das Akustische auf einen Spielraum möglicher, noch nicht anschaulich gegebener Aspekte des filmischen ­Bildes, impliziert, indem es ihm mitgegenwärtig zum Visuellen neue Inhalte verleiht, mögliche Horizonte zukünftiger Fortgänge. Der Ton motiviert Antizi486 487 488 489

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Vgl. Kap. II.3.5 dieser Arbeit. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 421. Ebd., S. 351. Ebd., S. 354 ff.

1. Die „Transzendenz“ des Filmtons pationen, die sich während des filmischen Verlaufs als wahr oder falsch erweisen können. Mit zunehmendem Abstand des Tons von der Diegese entsteht ein stets abstrakteres Verhältnis zwischen Ton und Bild, das selbst auf intellektuellem Wege gewonnene Erkenntnisse hervorruft. In allen Formen der audiovisuellen Korrelation findet eine veränderte Einstellung zum filmischen Bild insofern statt, als scheinbare Gewissheiten über die aktuellen filmischen Inhalte allein durch ihre Projektion auf ihre zukünftig-mögliche Fortsetzung an Kraft verlieren und zum Gegenstand von Reflexion werden. Dies veranlasst Bewusstseinsprozesse, die über die aktuelle Empirie hinaus allgemeine Vorstellungen über die Kausalität der Ton-Bild-Zusammenhänge auslösen. Von Siegfried Kracauer stammt die Bemerkung, dass die Kinosituation eine besondere Wirkung auf den Zuschauer hat, so dass er aufgrund seiner eingeschränkten Motilität und der Dunkelheit e­ inen veränderten Bezug zur Wirklichkeit erlangt. Das Ich des Kinobesuchers, das die Quelle seiner Gedanken und Entscheidungen ist, zieht sich von der Szene zurück […]. Filme tendieren dazu, das Bewusstsein zu schwächen. Sein Rückzug vom Schauplatz mag durch die Dunkelheit im Kino gefördert werden. Dunkelheit verringert automatisch unsern Kontakt mit der Wirklichkeit, indem sie uns viele umweltliche Gegebenheiten vorenthält, die für angemessene Urteile und andere mehr geistige Tätigkeiten unentbehrlich sind.490

Lässt sich der Gedanke Kracauers insofern nachvollziehen, als die Kinosituation die Fokussierung auf die vom Regisseur getroffene Auswahl an filmischen Wahrnehmungen und Gedanken begünstigt, so scheint die Funktion des Tons und der Musik auch in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Der Ton nutzt gerade die Dunkelheit des Kinosaals aus, um eine Haltung beim Zuschauer zu provozieren, die auf Unerwartetes gerichtet ist, eine Haltung, in der der Zuschauer die Ohren spitzt, um auf Unvorhergesehenes zu reagieren.

490

Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, in: ders.: Schriften Bd. 3 (Hg. Karsten Witte), Frankfurt/M. 1973, S. 217 f. Vgl. auch: Gretel Freitag: Metaphern von Musik und Stille als Erkenntnismittel in den Filmen Pasolinis, Frankfurt/M. u. a. 1999, S. 85.

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III. Filmmusik und Subjekt Musik hat etwas Störendes an sich, nicht bloß im akustischen Sinne, sondern im Sinne eines Außerordentlichen, das […] den Hörer aus gewohnten Hörund Lebensbahnen herausreißt. Man könnte auch im Falle der Musik von einer Art Epoché sprechen, die wie in der Phänomenologie methodisch eingesetzt werden kann, um vertraute Annahmen außer Kraft zu setzen, die aber stets auf spontan einsetzende Verfremdungen wie das platonische Staunen angewiesen sind.491

Führt man den Gedanken Waldenfels’ fort, indem man von einer durch die Musik im Film bewirkten phänomenologischen „Epoché“ ausgeht, so bestätigt sich die Auffassung, dass durch die Musik eine besondere Einstellung auf die Welt der filmisch dargestellten Gegenstände aktualisiert wird, die sich nicht mehr an der Darstellung als eines prinzipiell näher zur „natürlichen Wirklichkeit“ stehenden ästhetischen Modus orientiert. Die Musik macht die Weise hörbar, wie sich das Bewusstsein auf die dargestellte Welt über ihre aktuelle Erscheinung hinaus bezieht, wie das Dargestellte als Korrelat intentionaler Akte des Phantasierens, des Fühlens, des Begehrens oder des Urteilens zu Tage tritt. Die Musik richtet sich in der Weise einer intentionalen Zuwendung nicht nur auf die aktuelle Erscheinung des Gegenstands, sondern auf einen Fundus von Hintergrundanschauungen. Die von Pudowkin als „Verallgemeinerung“ bezeichnete Zielsetzung des musikalischen Einsatzes beim Film hat ihre Grundlage darin, dass die Musik das Wesen erlebter „Gefühle und Gedanken“ als Prozess anschaulich macht: Die Musik lebt und entwickelt sich in einem Bereich bewussten Abgehens von den realen Beobachtungen zum Versuch ihrer Verallgemeinerung. Die Musik liefert die Geschichte der menschlichen Gefühle und Gedanken ohne reale Gegenstände, die diese Gefühle und Gedanken hervorzurufen.492

Die Verwendung von Ton und Musik lässt eine spezifische ästhetische Haltung spürbar werden, in der die Selbstverständlichkeit der Welt, wie sie durch das Bild vermittelt wird, suspendiert und dem habituellen Umgang mit einer Welt,

491 492

204

Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen, a. a. O., S. 197. Wsewolod I. Pudowkin: Über die Montage, in: Texte zur Theorie des Films, a. a. O., S. 89.

1. Die „Transzendenz“ des Filmtons wie sie sich im filmischen Bild präsentiert, eine andere, nicht unmittelbar zu überblickende Welt entgegensetzt wird. Diese Haltung motiviert dazu, Evidenz darüber zu erlangen, wie diese unbekannte Welt erschaffen wird, sie setzt einen Prozess in Gang, der vom Streben nach Erkenntnis gesteuert wird. Allein der Einsatz von Ton und Musik im Film versetzt den Zuschauer in eine staunende Einstellung, die vom Telos einer Einstimmigkeit der fortlaufenden Erfahrung in Bezug auf eine gleichbleibende allgemeine Struktur (Handlung, Situation, Stimmung, Emotion usw.) ausgeglichen werden kann, aber nicht muss. Inwiefern dieses vom Ton ausgelöste Verfahren mit einer „Epoché“ der vertrauten Auffassungsweise auch der akustischen Inhalte selbst korreliert, ist eine Frage, die vielfach zum Gegenstand filmischer Arbeit im Bereich des Tons gemacht wird.

1.2 Eidetische Reduktion durch den Ton Außerhalb der Filmtonproblematik, jedoch explizit auf das Verhältnis des Geräusches zum Begriff der phänomenologischen Epoché hat der Gründer der „Musique concrète“ Pierre Schaeffer verwiesen493. Seine schöpferische Idee einer Musik mit aufgenommenen Klängen, die als „akusmatische“ Klänge ihren Gegenstandsbezug verlieren, sich von ihrer realen Quelle verselbständigen, nämlich ihre vermeintlich „reale“ Seinsweise ausklammern, damit sie zum Bereich des reinen Bewusstseins gelangen können, knüpft direkt an die phänomenologische Methode der Epoché an. Grundlage sowohl der Phänomenologie als auch der „Musique concrète“ ist eine Methode, die zur reinen Selbstgegebenheit der Gegenstände führen soll. Nicht mehr das Seiende als real vermeintes Erlebnis, sondern der intentionale Gegenstand ist das ästhetische Ziel, das eine radikale Einstellungsänderung notwendig macht. I must free myself from the conditioning created by my previous habits by passing through the test of the epoché. It is never a question of a return to nature. Nothing is more natural than obeying the dictates of habit. [Rather,]

493

Vgl. Pierre Schaeffer: Traité des Objets Musicaux (Kap. 15,3. La thèse naïve du monde. L’époché), a. a. O., S. 165 f.

205

III. Filmmusik und Subjekt It is a question of an anti-natural effort to perceive what previously determined my consciousness without my knowing it.494

Durch die Epoché, durch das Einklammern eines unreflektierten Glaubens an die Existenz der Welt, wird im Versuch Schaeffers, auf jegliches Vorurteil zu verzichten, das Augenmerk ausschließlich auf den Klang als Phänomen in Korrelation zum Bewusstseinsakt des Hörens gerichtet. „No longer is it a question of knowing how a subjective hearing interprets or deforms ‘reality’, to study reactions to stimuli; hearing itself becomes the origin of the phenomenon to study.“495 In seinem „Traité des objets musicaux“496 spricht Schaeffer von einer intentionalen Beziehung zu den Hörerlebnissen und den damit in Zusammenhang stehenden unterschiedlichen Perzeptionsweisen sowie von der – im phänomenologischen Sinne verstandenen  – Konstitution von „musikalischen Objekten“. Durch eine „Epoché“497 soll die natürliche Einstellung „eingeklammert“ werden, die dazu geneigt ist, sich auf den hinter dem akustischen Empfindungsdatum verborgenen materiellen Gegenstand zu richten. Wichtig ist nur das akustische Phänomen selbst und die Art, wie etwas gehört wird. Das Interesse an der vollzogenen Epoché liegt in der bestimmten Weise, in der ein hörbares Objekt anschaulich wird, es korreliert stets mit der spezifischen Methode, wie diese Gegebenheit zum akustischen Bewusstsein kommt. En réalité, il s’agit d’un „retour aux sources“  – à „l’expérience originaire“, comme dirait Husserl – qui est rendue nécessaire par un changement d’objet. Avant qu’un nouvel entraînement me soit possible et que puisse s’élaborer un autre système de références, approprié à l’objet sonore cette fois, je devrai me libérer du conditionnement crée par mes habitudes antérieures, passer par l’épreuve de l’époché.498

494 495

496 497 498

206

Ebd., S. 270. Pierre Schaeffer: Traité des Objets Musicaux, a. a. O., S. 92. Vgl. dazu auch: Brian Kane: L’Objet Sonore Maintenant: Pierre Schaeffer, Sound Objects and the Phenomenological Reduction, in: Organised Sound, Volume 12, Issue 1, April 2007, S. 20. Pierre Schaeffer: Traité des objets musicaux, a. a. O., S. 112 ff. und 140 ff. Ebd., S. 265 f. Ebd., S. 270.

1. Die „Transzendenz“ des Filmtons Schaeffer unterscheidet drei Hörweisen in der intentionalen Korrelation von Subjekt und akustischem Objekt. Beschreibt die „situation de l’audition normale“ eine Hörweise, in der neben dem eigent­lichen Hörerlebnis auch andere Faktoren wie die Umstände der Klangerzeugung (beispielsweise der Akt des Instrumentalspiels selbst) sowie das „Signifikat“ des Klangobjekts (nämlich etwa der Spieler oder die Geräuschquelle als Ursprung und gewissermaßen als eigentlicher Sinn dieses Klangs) mitberücksichtigt werden, so beschränkt sich die „situation d’instrumentiste“ auf die Art und Weise der Klanghervorbringung, auf das „Machen“ des Klangs. Der phänomenologischen Einstellung eines auf das „reine“ Hörerlebnis gerichteten Bewusstseins entspricht schließlich die „situation acousmatique“. Unter Ausklammerung der audiovisuellen Ebene der Klangsituation  – Vorstellung des Gegenstands oder Subjekts, das den Klang produziert – und auch der mechanischen oder der auf die intentionalen Akte anderer Personen (z. B. der Instrumentalisten) zurückführbaren Umstände, konzentriert man sich nur auf die jeweilige Intention des Hörers selbst sowie auf die rein akustische Qualität des Hörereignisses. Die von Schaeffer angewandte Methode der Ermittlung der akustisch „objektiven“ Wesensstruktur von Klängen entspricht weitgehend dem phänomenologischen Verfahren der „Variation“. Die philosophische Methode der Epoché wird als Enthaltung von allen Seinsgeltungen hinsichtlich der Weltexistenz beim späten Husserl mithilfe der „eidetischen Reduktion“, der geistigen Umstellung vom Phänomen zum Wesen eines Sachverhaltes vollzogen. Ein mögliches erkennendes Verfahren innerhalb dieser Haltung ist die „eidetische ­Variation“: Anhand eines Beispiels lässt sich durchspielen, was sich durch verschiedene Variationen hindurch als gleichbleibend bzw. als allgemeine Struktur hält. Durch die eidetische Variation gelangt man zur „Wesensschau“, z. B. von einem individuellen Rot auf das „Wesen Rot“. Diese Wesensallgemeinheiten werden dadurch erschaut, dass der phänomenologisch Wahrnehmende von den individuellen Besonderheiten der faktisch ablaufenden Denkakte ­abstrahiert. Die wahrgenommenen individuellen Gegenstände sind mit Zufälligkeiten behaftet; dem Wesen dagegen ist die Notwendigkeit immanent. In analoger Weise verfährt auch Schaeffer. Durch die elektronische M ­ odifikation eines und desselben Klangs gelingt es ihm, seine „objektive“ Struktur aufzuspüren, die invarianten Qualitäten des Klangs herauszuhören. 207

III. Filmmusik und Subjekt In a section of the Solfège de l’objet sonore entitled “The objectivity of the object”, Schaeffer relies upon variation and eidetic reduction to clarify the objective character of the sound object. In each of his examples, Schaeffer takes the same recording and gives it a variety of electronic variations. By taking a sound and using electronic means to alter its qualities, Schaeffer pedagogically produces a set of variations with the aim of disclosing the sound object’s invariant and essential features. The sound of a gong gently rolled with soft mallets is played twice, followed by variants: by adjusting the potentiometers, the envelope of the object is varied; by using low and high pass filters, the mass and grain of the object are varied; subtle shifts in volume create an object with more allure, or internal beating; and finally, a combination of techniques produces another variant. As a listener, not only do we recognize the different variations as variations, we also hear them as one and the same sound object. The objectivity of the sound object is intended to emerge across its various instances.499

Wenngleich die Idee eines „objektivierten“ Tons im Anschluss an die phänomenologische Methode erst nach dem Zweiten Weltkrieg von Pierre Schaeffer ­explizit zum Ausdruck kam, so hat sich die künstlerische Absicht, den Ton von seiner Relation zur gegenständlichen Welt abzulösen, bereits seit den 30er Jahren bemerkbar gemacht. Walter Ruttmanns Toncollage in seinem rein akustischen Film „Weekend“ verbindet innerhalb eines abstrakten narrativen Zeitabschnitts Geräusche nach metrischen, rhythmischen und räumlichen Prinzipien. Die Deterritorialisierung des Geräusches von seiner visuellen Seinsweise ermöglicht dabei nicht nur einen viel freieren Umgang mit der semantischen Ebene des Tons, die konsequenterweise nur imaginativ und assoziativ narrative Zusammenhänge entstehen lässt, sondern eine musikalische Erkundung der formalen Prinzipien, denen die Geräusche unterliegen. In Verbindung mit der Vorstellung des „Laboratoriums des Hörens“ von Dziga Vertov, das nach dem Vorbild eines analogen Konzepts in der visuellen Filmkunst der unzulänglichen Erkenntniskraft des menschlichen Hörorgans entgegenzusteuern trachtete und unbekannte Bereiche der Hörwelt500, auch durch die Molekularisierung alter 499 500

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Brian Kane: Sound Unseen: Acousmatic Sound in Theory and Practice, Oxford 2014, S. 32. Vgl. Lucy Fischer: Enthusiasm: From Kino-Eye to Radio-Eye, in: Film Quarterly, Vol 31, Nr. 2 (1977–78), S. 26.

1. Die „Transzendenz“ des Filmtons Strukturen501, erschließen wollte, sollte „Weekend“ die in den Geräuschen innewohnenden Vereinheitlichungsgesetze explorieren. WEEKEND ist eine Tonmontagestudie. Auf dem Filmstreifen habe ich lediglich den Ton festgehalten, dies ist also ein blinder Film. In meinen Untersuchungen wollte ich übergeordnete Regeln der Verbindung von Tonelementen und ihrer Zusammenfügung zu einer Einheit aufdecken, so wie wir dieses bisher im Stummfilm mit den visuellen Elementen getan hatten.502

Entstehen durch die musikalische Strukturierung der einzelnen Tonsegmente in diesem Film auch unerwartete narrative Zusammenhänge und Konnota­ tionen, so sind diese assoziativen Inhalte nicht das primäre Resultat der künstlerischen Intention Ruttmanns. Das eigentliche Ziel der Methode einer „visuellen“ Organisation der Geräusche auf dem Filmstreifen besteht – wie später auch bei Schaeffer – vordringlich darin, ihre eigentliche akustische Substanz herauszuarbeiten. Dem Abstrahierungsgedanken im Bereich des Tons sowohl bei Ruttmann als auch bei Schaeffer ist eine in der Filmästhetik Adornos formulierte, von ihm bereits in der absoluten Musik konstatierte Loslösung von tradierten Methoden der Herstellung eines motivisch-thematischen Zusammenhangs immanent. Die Filmmusik soll nach Adorno gerade dadurch, dass sie sich dem individualisierten Material anschließt, den „Forderungen, die vom Material ans Subjekt ergehen“, folgt und den objektiven, gesellschaftlich präformierten, „sedimentierten“ Geist und seine „eigenen Bewegungsgesetze“503 respektiert, traditionelle gestalterische Methoden und Formen ablegen und „sachlich“504 Filmfunktionen ausüben. Im Zentrum der filmmusikalischen Arbeit steht nicht mehr das Prinzip der formalen Kohärenz. Nicht der formale Zusammenhang filmmusikalischer Werke, sondern die präzise Korrelation zwischen musikalischen und bildlichen Faktoren ergibt den Sinn des Komponierens. Dies ist gerade durch 501

502 503 504

Vgl. dazu die Dekonstruktion des Kirchenraumes, folglich auch des religiösen Gedankenguts im ersten Satz der „Donbass-Sinfonie“ von Vertov. Vgl. Oksana Bulgakowa: The Ear against the Eye: Vertov’s “Symphony”, in: Monatshefte, Vol. 98, nr.2, S. 229. Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation. Berlin 1989, S. 90. Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, a. a. O., S. 39. Theodor W. Adorno: Komposition für den Film, a. a. O., S. 40.

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III. Filmmusik und Subjekt den Einsatz des analytischen, in seine Einzelelemente zerlegten, dadurch genauestens kontrollier- und organisierbaren Materials der Neuen Musik möglich. „Je beherrschbarer aber Musik in sich, durch ihre eigenen Konstruktionsprinzipien wird, umso beherrschbarer wird sie auch für Zwecke der Anwendung auf ein anderes Medium.“505 Die „Konventionsfremdheit“506 der Neuen Musik ebenso wie ihre Fähigkeit, im Unterschied zur  – den Gesetzen des tonalen Übergangs sich verpflichtenden  – traditionellen Musik, jähe Kontraste zwischen unterschiedlichen Klangcharakteren zu veranschaulichen, qualifiziert sie dazu, dem Montagecharakter des Films genau zu entsprechen. Diese Molekularisierung des Musikalischen – die sich aber im „informellen“ Verhältnis zum Visuellen in ihr Gegenteil umschlägt – sei die immanente Bedingung ihrer angemessenen Anwendung im Film, ruft gleichzeitig eine veränderte Einstellung auf die Musik hervor. Spielen nämlich beim Hören und Verstehen eines Werkes absoluter Musik die systematisch-abstrakten, allein in der Welt der musikalischen Töne gültigen Verfahren der Melodie- und Harmoniegestaltung eine konstruktive Rolle, so werden diese durch die Wiederherstellung des Zusammenhangs zur „Lebenswelt“ im filmischen Medium gelockert und auf eine veränderte Grundlage gestellt. Die strukturellen Beziehungen zwischen den Klängen verselbständigen sich von den Anschauungsmustern der absoluten Musik, ermöglichen dadurch Erkenntnisse auf quasi „vorsystematischer“, audiovisueller Basis. Die Musik im Film eröffnet die Möglichkeit eines Rückbezugs des Musikalischen auf die Sphäre der Wesensstrukturen der selbstverständlichen und alltäglichen Wahrnehmungswelt, so dass ihre Evidenz nunmehr nicht autonom, sondern in Relation zu ihr beurteilt wird. Die Musik wird situations­ abhängig, jeweils in Korrelation zum Wesen des jeweiligen Bildes, verständlich, keine abstrakten, sondern vielmehr alltägliche „Situationswahrheiten“507 lassen auf ihren Seinssinn schließen. Das Augenmerk im Film ist nicht direkt auf die musikalischen Gebilde selbst gerichtet. Diese werden aufgrund einer „auditive Epoché“508, die das „normale“ 505 506 507 508

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Ebd. Ebd., S. 49. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, a. a. O., S. 135. Bernhard Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, a. a. O., S. 206.

1. Die „Transzendenz“ des Filmtons musikalische Hören unterbricht und auf die diegetischen oder strukturellen Bedingungen des Hörbarwerdens im Film hinweist, ausgeklammert. Die meistens nicht-diegetische Musik im Film manifestiert sich als „Unhörbares im Hörbaren“. Die Musik im Film wird nur mittelbar, nämlich durch ihre Beziehung zum Visuellen evident. Nur aus den Weisen, wie sie sich in Relation zu den visuellen Bildern setzt, können die Regeln erschlossen werden, die Erkenntnisse über den musikalischen Sinngehalt ermöglichen. Durch diese – als Abstraktion von der Idee eines innermusikalischen Zusammenhangs verstan­ dene – auch „musikalische Epoché“ im Film „merken wir […] ,von‘ den Dingen nichts, aber in der Reflexion erkennen wir mit Staunen, dass hier Wesenskorrelationen bestehen […]“509. Die Musik im Film wird in Relation zur Welt, in der wir anschaulich leben, erfahren. Nicht das So-Sein musikalischer Gebilde, nämlich die Eigenschaften, die Verhältnisse und Strukturen der Musik im Kontext eines jeweiligen (tonalen, atonalen usw.) Systems werden perzipiert, sondern der Verlauf der klang­ lichen Erscheinungen in Bezug auf das Visuelle. Jedes musikalische Gebilde erklingt in völlig unterschiedlichen noematischen Korrelaten je nach der Art des aktuellen visuellen Erlebnisses. Je nach dem visuellen Kontext der Musik verändert sich auch ihr Bezug zu den noch nicht aktuellen Bildern. Der audiovisuelle Zusammenhang wird als ein Horizont aufgefasst, der Gesetzmäßigkeiten hinsichtlich eines einstimmig zu erfüllenden Verlaufes zwischen dem Erklingen der Musik und der visuellen Erscheinung sichtbar macht. Bestätigungen oder Abweichungen zwischen diegetischen und nicht-diegetischen, respektive zwischen aktuellen und virtuellen Erscheinungen in Ton und Bild lassen im Sinne einer „eidetischen Variation“ Seinsgewissheiten über die situative Funk­ tion und Bedeutung der Musik im jeweiligen Filmbild entstehen. Dass der von Ruttmann und Schaeffer am Geräuschphänomen thematisierte Begriff des „Eidos“ also auch im Verhältnis zwischen Ton und Bild eine Bedeutung erlangt, dann nämlich, wenn der Film als Erfüllungsprozess zwischen Tonund Bildintentionen aufgefasst wird, ließ sich bereits an der audiovisuellen Struktur des „filmischen“ Ritornells erkennen. Damit kongruiert auch der von Waldenfels bestimmte akustische „Eidos“-Begriff. Als „Eidos“ im Bereich des 509

Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, a. a. O., S. 162.

211

III. Filmmusik und Subjekt Hörbaren erfasst Waldenfels einen allgemeinen Begriff des Rhythmus. Dieser entspricht dem idealen Ziel der allgemeinen Anschauung und Wesenserkenntnis des Akustischen. Der Rhythmus hat in der Hörwelt ein ähnliches Heimatrecht gefunden wie das Eidos in der Sehwelt, und dies nicht ohne Grund. Wie Erwin Straus in seiner Auffächerung der Sinnesbereiche feststellt, ist das Sehen ein analytischer Sinn. Er bietet ein Ganzes dar, dessen Teile sich nach und nach entschlüsseln lassen, während das Hören eine synthetische Form annimmt, da Gehörtes nur bruchstückhaft präsent ist und seine Einzelheiten sich in zeitlichen Schritten entfalten.510

Die eidetische Struktur des Rhythmus lässt sich auch auf das Verhältnis von Ton und Bild im Film übertragen. Eine fundamentale Eigenschaft des Rhythmus im audiovisuellen filmischen Kontinuum wäre die Fähigkeit, Klang und Bild aufeinanderzubeziehen, den Fortgang zwischen vorgezeichneten, noch nicht aktuellen, abwesenden visuellen oder klanglichen Erscheinungen und solchen, die diese Erwartung aktuell bestätigen oder auch enttäuschen, zu gestalten. „Der Rhythmus als Bewegung der Wiederkehr verweist schließlich auf ein Kommen und Gehen, auf ein Spiel von An- und Abwesenheit, von Anreiz/ Anspruch und Antwort.“511 In dieser wiederkehrenden Struktur, im „Ritornell“ ­zwischen der An- und Abwesenheit visueller und musikalischer Elemente, formen sich die Wesenszusammenhänge zwischen Bild und Ton aus, worin sich das filmische Territorium definiert. Das bewusste Ausklammern und radikale Ausschalten vorgeprägter formaler oder struktureller Regeln innerhalb einer solchen Epoché bedeutet hierbei keinen Verlust, sondern vielmehr eine fundamentale Bewusstseinsänderung und eine „Erweiterung unserer Erfahrungssphäre“512 im Hinblick auf eine filmische Lebenswelt. Beruht die eidetische Struktur des Rhythmus auf der „Bewegung der Wiederkehr“, so liegt einer zweiten Art des eidetischen Verhaltens gegenüber dem Filmphänomen nicht der zeitliche Prozess, sondern das „An sich“ der filmi510 511 512

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Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen, a. a. O, S. 73. Ebd., S. 82. Edmund Husserl (1962): Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, a. a. O., S. 154.

1. Die „Transzendenz“ des Filmtons schen Bewegung zugrunde. Im Begriff der „kinetischen Epoché“, der von Waldenfels anhand einer Kunst exemplifiziert wird, die, wie die Musik im Bereich des rein Hörbaren, die „Beweglichkeit als solche“513 in Szene setzt, geht es um ein „Anhalten der gewohnten Bewegung, eine Suspendierung von Bewegungszielen und Bewegungsumständen, eine Erfindung von Gegenbewegungen, auch eine Überschreitung der Bewegungsgrenzen.“514 Die Überbetonung der Schauspielergesten im Stummfilm gilt dem Phänomenologen als Beispiel für eine Zurückführung der natürlichen Wahrnehmungswelt auf ein vorbegriffliches Stadium, in dem die Reflexion auf die kinetischen Wesensstrukturen des menschlichen Ausdrucksvermögens möglich wird. Ein Stummfilm ist ja nicht bloß ein Film, in dem nicht gesprochen wird, sondern ein Film, in dem die körperliche Bewegung überdeterminiert ist wie bei einem Blinden, dessen Tastsinn das fehlende Augenlicht wettzumachen hat […] Bewegungen, die nicht von Anfang an mit einem „Ideenkleid“ bedeckt sind, sehen anders aus, verraten mehr von sich; sie haben auch etwas Unheimliches, da wir nicht gleich wissen, woran wir sind.515

Knüpft der Bezug der Filmmusik zur „Geste“516 an den Gedanken der „kinetischen Epoché“ Waldenfels’ an, scheint die Musik eine analoge Funktion in ihrer Relation zum filmischen Bild, und zwar nicht nur im Stummfilm, übernehmen zu können. Könnte man in einem solchen Fall von einer „musikkinetischen Epoché“ sprechen, so wäre damit nicht nur die „illustrative“517 Funktion der Musik gemeint. Wäre mit dem Terminus der musikkinetischen Epoché sicherlich auch das musikalische Nachbilden und auch Überzeichnen der visuellen Eisensteins zum Ausdruck Bewegungen im Sinne der vertikalen Montage ­ ­gebracht, so verknüpfen sich mit der musikalischen Geste meistens auch expressive Züge, die mit psychischen Erlebnissen koinzidieren. Entsprechend wäre auch die Deutung der Epoché zu erweitern. Das Beispiel Zofia Lissas aus dem Film „Blackmail“ von Hitchcock, in dem ein stark dissonierender Akkord 513 514 515 516 517

Bernhard Waldenfels: Sinne und Künste, a. a. O., S. 238. Ebd., S. 234. Ebd., S. 235. Vgl. Kap. I.3.1.1 dieser Arbeit. Vgl. das Kapitel „Musik als Unterstreichung von Bewegungen“, in: Zofia Lissa: ­Ästhetik der Filmmusik, a. a. O., S. 120 ff.

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III. Filmmusik und Subjekt nicht nur die plötzliche Bewegung des Helden hin zu seiner Waffe illustriert, sondern auch Ausdruck der „gespannten Aufmerksamkeit, des Gefühls der Gefahr usw.“518 ist, wäre als ein repräsentativer Beleg einer Musik zwischen Darstellung und Emotion zu bewerten. Die Erweiterung des filmischen Bildes durch die Musik, seine musikalische Deterritorialisierung, die in Entsprechung zur schauspielerischen Geste im Stummfilm gerade dann relevant und wirksam wird, wenn keine Dialoge den filmischen Ausdruck mit konkreten Inhalten ­determinieren, lässt in Analogie zur visuellen Stummfilmgeste weitgehend mehr Reflexions- und Spekulationsspielraum in Bezug auf den Gesamtfundus der narrativen, psychologischen und auch formalen Inhalte im Film als die rein visuelle Darstellung zu. Die „Verfremdung der vertrauten Beweglichkeit“519 der visuellen Filmgestalten durch eine Übertragung der kinetischen Verläufe in die Musik sowie die überprägnante, über die „normale“ Ausdruckskraft des Visuellen hinausragende Ausführung von Bewegungsvorgängen lassen einen eidetischen Einblick in die Grundstrukturen der filmischen Inszenierung zu, der sich in einem Vorstadium des Vollzugs und der Deutung der narrativen Inhalte abspielt.

2. Epoché in der Filmmusik 2.1 Formen Das durch den Ton bewirkte Einklammern der durch den Film suggerierten vertrauten Wirklichkeit nimmt auch weitere Formen an. Waldenfels unterscheidet in der Literaturkunst zwei Arten der Epoché, die quasi die Abstufung der Distanznahme des Betrachters zur Welt nachbildet. In Entsprechung dazu kann auch die Epoché durch den Ton und die Musik je nach Entfernung vom filmischen Lebenshorizont in zwei Formen unterteilt werden. Die „ästhetische Epoché“ befähigt eine „Reflexion“, die „den Boden der natürlichen Einstellung nicht verlässt“.520 Wie in der „kinetischen Epoché“ wird eine „vorläufige Distanznahme von der ­Lebenspraxis“ durch „Verlangsamung des Lebenstempos“ oder durch die Einführung von „Ausnahme­erfahrungen“ 518 519 520

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Vgl. Zofia Lissa: Ästhetik der Filmmusik, a. a. O., S. 122. Bernhard Waldenfels: Sinne und Künste, a. a. O., S. 234. Ebd., S. 382.

2. Epoché in der Filmmusik und „Grenzsituationen“ bewirkt. Dieser Form von Epoché steht die „narrative Epoché“ gegenüber, in der die erzählte und die erzählende Person auf die gleiche Ebene gesetzt werden, in der „der fiktive Erzähler als Held der Erzählung […] sich allmählich jener Perspektive annähert, die dem Autor der Erzählung vorbehalten schien.“521 Fasst man diese beiden Formen der Epoché im filmischen Kontext auf, so erhält man zwei grundlegende Formen audiovisuellen Zusammenhangs: Die erste Form deutet auf die Formulierung ausgeprägter nicht-diegetischer Qualitäten hin, die sich von der Diegese so drastisch abheben, dass den (musikalischen) Übergängen zwischen den beiden Sphären eine erhebliche Bedeutung zugewiesen wird. Die zweite Form der audiovisuellen Reduktion im Film integriert das nicht-diegetische in das diegetisch-narrative Gefüge bzw. schmiegt die Diegese an die nicht-diegetische Erfahrung an, sodass die Schwelle zwischen beiden Darstellungsformen sich tendenziell auflöst. Zwischen dem diegetischen und nicht-diegetischen Pol bilden sich variable Gefüge, die beide Grundformen in unterschiedlicher Gewichtung beinhalten. Beide Arten der filmmusikalischen Epoché bilden zwei grundsätzliche Wege des Tons und der Musik, sich auf das filmische Bild zu beziehen, die sich im Raum zwischen einer lebensnahen und fiktiven bzw. virtuellen Darstellung bewegen. Diese Eigenschaft lässt sie in Analogie mit der von Deleuze unternommenen Klassifizierung filmischer Bildtypen in Verbindung bringen. Die Distanz zur Aktualität und Realität der filmischen Darbietung bildet hierbei ebenso das Hauptkriterium. Ließe sich daraus folgend eine Herangehensweise an den Begriff der Epoché entwickeln, der die Philosophie Deleuzes über den Film berücksichtigt, so kann eine umfassende Beschreibung der ästhetischen Bedeutung des Tons und der Musik im filmischen Werk eingeleitet werden. Diese Kategorisierung wird anders als bei Deleuze nicht als Anlass für eine Einteilung der filmischen Stile fruchtbar gemacht, sondern als Instrument der systematischen Analyse der Einsatzformen des Tons im Film betrachtet.

2.1.1 Ton als akustisches „Wahrnehmungsbild“ Ausgehend von seiner Immanenzthese, nämlich der Idee einer „absoluten Identität von Bild und Bewegung“522, in der das Bild nicht auf etwas anderes hinter 521 522

Ebd., S. 383. Gilles Deleuze: Das Bewegungsbild, a. a. O., S. 87.

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III. Filmmusik und Subjekt ihm verweist, sondern selbst das An-sich ist, gelangt Deleuze zum Begriff des „Wahrnehmungsbildes“. Das Wahrnehmungsbild, eine Kategorie, die sich unter dem Hauptbegriff des „Bewegungsbildes“ subsumiert, bestimmt sich in Bezug auf ein „Indeterminationszentrum“523, das gewissermaßen das Ding in Beziehung zu einem oder mehreren Knotenpunkten von Wahrnehmungsansichten setzt. Mithilfe der Auffassung eines unbestimmten Wahrnehmungszentrums erweitert Deleuze dabei den Sinn des subjektiven Wahrnehmungsaktes dadurch, dass er ihn durch das quasi objektive Moment ergänzt. Subjektiv ist eine Wahrnehmung, in der sich die Bilder in Bezug auf ein zentrales privilegiertes Bild verändern; objektiv ist eine Wahrnehmung – wie sie in den Dingen auftritt –, in der sich alle Bilder im Verhältnis zu allen anderen auf allen Seiten und in allen Teilen ändern.524

Das subjektive Wahrnehmungsbild umfasst alle filmischen Inhalte (Erzählung, Montage usw.), die von einer subjektiv-monozentrischen Perspektive aus, sei es einer Filmfigur, eines Erzählers oder des Regisseurs, koordiniert werden.525 Eine personifizierte Kamera, die die Wahrnehmungsbewegung einer Person im Film nachbildet, ist genauso wie der Einsatz von Subjektivierungsstrategien im Bereich des Tons ein Mittel, subjektive Wahrnehmungsbilder erzeugen zu können. Für das objektive Wahrnehmungsbild dagegen ist eine kaleidoskopartige, von 523 524

525

216

Ebd., S. 94. Ebd., S. 110. Die Definition verweist auf die Unterscheidung zwischen tonaler und zwölftöniger Musik. Der subjektiven Wahrnehmung entspräche die von einem Gravitationszentrum geprägte Skala. Der Dreiklang des Grundtones wäre das Zentrum eines gerade in der Dominante eklatant werdenden Spannungszustandes, wäre Ausgangspunkt und Ziel der tonalen Bewegung. Der Gedanke eines einheitlichen musikalischen Raumes von zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen zeichnet eine quasi objektive Wahrnehmung, in der kein vorherrschendes Zentrum empfunden wird, sondern in der sich alle Momente gleichwertig auf alle anderen beziehen. Mit den Worten Schönbergs: „Die Einheit des musikalischen Raumes erfordert eine absolute und einheitliche Wahrnehmung. In diesem Raum gibt es […] kein absolutes Unten, kein Rechts oder Links, Vor- oder Rückwärts.“ Vgl. Arnold Schönberg: Komposition mit zwölf Tönen, a. a. O, S. 115. Zur Theorie des subjektiven Wahrnehmungsbildes („Point of View“) im Kino vgl. Edward Branigan: Point of View in the Cinema. A Theory of Narration and Subjectivity in Classical Film. Berlin, New York, Amsterdam 1984.

2. Epoché in der Filmmusik den Gegenständen und ihrer Einwirkung auf das Subjekt gesteuerte Darstellung charakteristisch. Filme wie Ruttmanns „Berlin. Symphonie einer Großstadt“ oder Vertovs „Der Mann mit der Kamera“, die einen dokumentarischen Charakter an den Tag legen, gehören hierzu. Die bereits seit den Anfängen des Kinos manifest werdende Überschreitung der Kategorien der leibzentrierten Wahrnehmung liefert hier die Grundlage einer quasi objektiven Sicht auf die Dinge. Nach Vertov wird die Wahrnehmung durch die Montage so in die Dinge hineingetragen – in die Materie gebracht –, dass jeder beliebige Punkt im Raum selbst alle Punkte, auf die er einwirkt oder die auf ihn einwirken, wahrnimmt, wie weit sich seine Aktionen und Reaktionen auch erstrecken mögen. „Sehen ohne Grenzen und Entfernungen“ wird zur Definition der Objektivität.526

Wäre die Rolle der Musik im Film gewöhnlich mit der Produktion subjektiver Wahrnehmungsbilder in Verbindung zu bringen, so gelingt es ihr, auch objektive Vorstellungen zu motivieren. Die Musik Edmund Meisels zu Ruttmanns Film „Berlin. Symphonie einer Großstadt“ diente dazu, „das Unerbittliche ­seiner Ehrlichkeit: seine unbestechliche Objektivität“527 zu unterstreichen. Ihr illustrativer Charakter, ihre enge Bindung an die dargestellten Gegenstände entspricht der sachlich-neutralen Haltung der filmischen Inszenierung. Über eine extreme musikalische Rhythmisierung maschineller filmischer Passagen, die Geräuschnachahmung mittels erweiterter Instrumentierung (Amboss, Autohupe, Zinnblech), das Forcieren einer bis dato unerreichten Synchronität (während der Orchesterproben setzt Meisel das Blum’sche Musikchronometer ein) und das Erzielen eines Totalitätseindrucks beim Rezipienten (bei der Premiere waren Trompeter, Jazzband und Vierteltoninstrumente im Zuschauerraum positioniert), entstand ein realitätsnaher Eindruck, der bereits den Tonfilm erahnen ließ. Diese Aspekte charakterisieren eine 526 527

Gilles Deleuze: Das Bewegungsbild, a. a. O., S. 116. Walter Ruttmann, zit. nach: Björn Rückert, Claudia Bullerjahn: Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (D 1927, Walter Ruttmann). Zur Originalstummfilmmusik von Edmund Meisel und einem heutigen Rekonstruktionsversuch, in: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 4, 2010, S. 30 (https://www.filmmusik.uni-kiel.de/kielerbeitraege4/KB4-RückertBullerjahn.pdf ).

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III. Filmmusik und Subjekt Musik mit ausgeprägt funktionalem Erscheinungsbild, die das Gesamtkunstwerk BERLIN in symbiotischem Verhältnis komplettiert.528

2.1.2 Affektbild – Triebbild – Aktionsbild Gilt das Wahrnehmungsbild als der allgemeine Bildtypus einer kontinuier­ lichen, logisch fundierten, filmischen Erzählweise, so koordiniert es das Wechselverhältnis zwischen drei weiteren Bildformen. Die Polarität zwischen dem ­statischen, durch seine „Potentialqualität“529 sich auszeichnenden, emotionalen „Affektbild“ und dem aktuellen, zwischen Wahrnehmung und Reaktion im konkreten Ort sichtbar werdenden „Aktionsbild“ wird durch das „Triebbild“ ergänzt, das ein tieferes, ursprüngliches affektives Verlangen hervortreten lässt. Das ist nicht mehr das Affektbild, aber noch nicht das Aktionsbild. Das erstere entwickelt sich […] in dem Paar beliebige Räume/Affekte. Das zweite entwickelt sich in dem Paar bestimmte Milieus/Verhaltensformen. Aber zwischen den beiden stoßen wir auf ein seltsames Paar: Ursprungswelten/elementare Triebe.530

Dass auch die Musik an der Entstehung dieser Bilder partizipieren kann, in einem Vorgang, der beide genannten Arten des Zusammenhangs der Musik und des Tons zur Diegese erkennbar macht, ist an einem Film zu veranschaulichen, in dem die Musik vielfältige Qualitäten innerhalb der filmischen Bildorganisation aufweist. Im Film „Clockwork Orange“ von Stanley Kubrick mischt sich die Musik – wie bereits gezeigt531 – nicht nur aktiv in die Erzählung ein, sondern konstruiert ein weites Feld von Korrelationszusammenhängen zwischen visueller und klanglicher Ebene, das entscheidend zur Organisation der mehrschichtigen Filmstruktur beiträgt.532 528 529 530 531 532

218

Ebd., S. 37. Gilles Deleuze: Das Bewegungsbild, a. a. O., S. 153. Ebd., S. 171. Vgl. Kap. II.2 dieser Arbeit. Eine andere Form der Kategorisierung der Filmebenen aufgrund der Musik vollzieht sich auf der Erzähl­ebene von „Clockwork Orange“. Knut Holtsträter unterscheidet anhand dieses Films von Stanley Kubrick vier Erzählebenen, die durch die Musik unterscheidbar werden: Eine erste Ebene (Figurebene) gestaltet sich als „innerer Monolog“ des Protagonisten Alex, der, bereits am Anfang des Films als beken-

2. Epoché in der Filmmusik Weitgehend reine Aktionsbilder werden in zwei Szenen gezeigt, in denen die Hauptfigur „Alex“ in Zusammenhang mit diegetischer Musik als Akteur gewaltsamer Handlungen fungiert. Das Singen der „Ode an die Freude“ einer Besucherin der Bar, in der Alex und seine Gruppe ihr Milchgetränk genießen, motiviert eine Situation, die den kultivierten Alex in Konfrontation mit seinem die Musik Beethovens verachtenden Kumpel bringt. Die Musik liefert den Impuls für einen Stockschlag auf die Beine des ordinären Kameraden und löst seinen vorübergehenden Unmut aus. Ebenfalls eine von Alex dominierte Gewaltszene spielt sich im Haus des Schriftstellers ab, in das die Gruppe gewaltsam eingedrungen ist und wo sie ihn sowie seine Lebensgefährtin terrorisiert. Der Rhythmus des von Alex gesungenen Liedes „Singing in the Rain“ koordiniert den Angriff auf das Paar. Die bei der Handlung aktiv werdende Musik des Lieds choreographiert die Bewegungen des Gewalttäters Alex beim Einschlagen auf den Schriftsteller. In beiden Szenen werden innerhalb der überwiegend ­perspektivisch auf die Gruppe gerichteten, subjektiven Wahrnehmungsbilder durch die diegetische Musik Aktionen angeregt oder begleitet. Diesen betont musikalischen Situationen folgen unmittelbar Handlungen, die, entsprechend dem Deleuze’schen Schema Situation – Handlung – veränderte Situation533 das Filmkontinuum kausal organisieren. In konkreten Räumen entstehen Aktionsbilder, die realistische Bewegungsabläufe und logisch aufgebaute Handlungszusammenhänge suggerieren. Dass der Schlusschor der Neunten Symphonie Beethovens nun auch dabei Einsatz findet, Affektbilder entstehen zu lassen, zeigt sich in zwei zentralen, miteinander zusammenhängenden Szenen des Films. In der Diegese dadurch legiti

533

nender Beethoven-Liebhaber gezeigt, den vierten Satz aus Beethovens Neunter Symphonie in einer elektronischen Bearbeitung des Filmkomponisten Walter Carlos bei einem Schallplattenladenbesuch hört. Die zweite Ebene (Handlungsebene) entsteht aus der Sicht eines „Präsentators“, der „uns einen Zugang zur Wahrnehmung der Bilder und Klänge der Handlung gibt“, und wird schließlich durch Musik (Wilhelm Tell) fundiert. Die Musik gestaltet eine zusammenfassende, im Schnelldurchlauf gezeigte Sexszene aus dem Leben Alex’. Die weiteren zwei Ebenen sind die „Erzählebene“ („Musik kommentiert die Handlung aus der Sicht von Alex“) und die „Ebene der Präsentation“ („Musik kommentiert die Handlung aus der Sicht eines Präsentators“). Vgl. Knut Holtsträter: Musik als Mittel der Perspektivierung, a. a. O., S. 115f. Gilles Deleuze: Das Bewegungsbild, a. a. O., S. 194 ff.

219

III. Filmmusik und Subjekt miert, dass Alex eine Tonkassette mit Beethovens Musik in der heimischen Stereo-Anlage spielen lässt, deterritorialisiert die Musik den Raum, gibt der Montage einen Rhythmus vor, der durch schnelle Bilderwechsel eine sich im Zimmer befindende Christusfigurenserie gewissermaßen zum Tanzen bringt. Abwechselnd mit Großaufnahmen des an der Wand hängenden Beethovenporträts und den zwei Gesichtern von Alex (einmal reale Person, dann blutverschmierte Draculafigur) treten unzusammenhängende Phantasievorstellungen einer Frauenexekution, von Bombenexplosionen und urtümlichen Naturkata­ strophen ins Bild. Durch die Musik angeregt, mobilisieren konkrete Elemente des Interieurs den Übergang zu irrealen Bildern, die auch mithilfe einer verselbständigten, fortan nicht-diegetischen Musik zum reinen Affektausdruck werden. Der Raum ist nicht mehr determiniert, er ist zu einem beliebigen Raum ­geworden, der mit der Macht des Geistes, mit einer stets zu erneuernden geistigen Entscheidung identisch ist, und diese Entscheidung ist es, die den Affekt oder die „Selbstaffektion“ begründet und die für das Zusammen­ passen der Teile sorgt.534

Eine elektronische Version des gleichen Musikwerkes, dessen Bezug zur Diegese allerdings umgekehrt wird, nämlich nicht-diegetisch beginnt, um dann im diegetischen Kontext integriert zu werden, erklingt während der bei Alex angewandten sog. „Ludovico“-Therapiesitzung. Bilder Nazi-Deutschlands unter der verfremdeten Musik Beethovens leiten zur Großaufnahme eines am ganzen Körper einschließlich Kopf festgeschnallten und mit fixierten Augenlidern im Rollstuhl sitzenden, verängstigten Alex über. Man sieht nur die Nahaufnahme seines Gesichts, sogar die Detailaufnahme seines verschüchterten Auges, und hört die nunmehr für den Zuschauer diegetische, aus der Perspektive von Alex dagegen nicht-diegetische Musik zu den ihm gezeigten Bildern im hors-champ des Zuschauers. Es sind Bilder, die, wie die Erzählerstimme von Alex ausdrücklich sagt, „keine Geräusche“ haben. Alex’ Gesichtszüge erhalten eine Ausdrucksqualität, die sich nicht durch die Ursache seiner Mimik, nämlich durch die auf ihn körperlich und auch visuell (durch die Schreckensbilder des Films im Film) ausgeübte Gewalt adäquat erklären ließe. Der „reine Affekt“ und der

534

220

Ebd., S. 163.

2. Epoché in der Filmmusik „reine Ausdruck“ der Großaufnahme des Gesichts hebt sich – wie Deleuze, Balázs zitierend, in seiner Theorie des Affektbildes feststellt – abstrahierend von den konkreten Umständen, die ihn hervorbringen ab, verselbständigt sich in einer umfassenderen Form. Der Abgrund, über den er sich beugt, erklärt wohl den Ausdruck des Schreckens, aber er macht ihn nicht. Denn der Ausdruck ist auch ohne die Begründung da. Er wird nicht erst durch die hinzugedachte Situation überhaupt zu einem Ausdruck.535

Charakteristisch für den Typus des Affektbildes, ist die Großaufnahme auch hier zwar auf eine individuelle Person bezogen, doch sie erschöpft sich nicht darin, sondern „macht aus dem individuellen Gesicht ein reines Rohmaterial des Affekts“536. Der offene, aufgrund des nicht vorhandenen räum­lichen Umfeldes freie, potenziell auf viele mögliche virtuelle Verknüpfungen hinweisende Charakter des Gesichts in der Nahaufnahme treibt eine Quasi-Objektivierung an, die einen breiten Deutungsspielraum freilegt. Spiegelt die Komplexität des Gesichtsausdrucks von Alex in der beschriebenen Aufnahme gewissermaßen die Grundidee des Films wider, nämlich die unterschiedlichen Facetten des gewalttätigen Verhaltens (inklusive der Dialektik zwischen der institutionalisierten und individuellen Gewaltanwendung), so wird darin der persönlich-subjektive Ausdruck transzendiert. Der reine Affekt, der reine Ausdruck der konkreten Umstände, verweist dann wirklich auf ein Gesicht, das ihn ausdrückt […]. Das Gesicht – oder ein Äquivalent – nimmt den Affekt auf, bringt ihn als komplexe Einheit zum Ausdruck und besorgt die virtuellen Verbindungen zwischen einzelnen Orten dieser Einheit […].537

Das Affektbild des gefesselten Alex ist ein Zustand, der sich – in Entsprechung zu Deleuzes Definition538 – zwischen dem Wahrnehmungsbild der Nazidoku535 536 537 538

Béla Balázs: Schriften zum Film, a. a. O., S. 58. Vgl. auch: Gilles Deleuze: Das Bewegungsbild, a. a. O., S. 143. Gilles Deleuze: Das Bewegungsbild, a. a. O., S. 145. Ebd., S. 144. Vgl. ebd., S. 96.

221

III. Filmmusik und Subjekt mentation und der möglichen, aber zunächst verhinderten Reaktion darauf abspielt. Das nur als Protestschrei veräußerlichte Bild, das noch kein Aktionsbild schafft, noch keine Bewegung realisiert, sondern eine „einfache Strebung ist, die ein unbewegliches Element erregt“539, artikuliert einen Zustand des Sichselbst-Empfindens des Subjekts. Der Schrei löst eine Situation aus, in der die Reaktion auf das Wahrgenommene sich nicht als äußere, sondern als innere Bewegung artikuliert, in der sich ein Zusammentreffen von Subjekt und Objekt (im Sinne einer Objektivierung des Selbst) manifestiert. Als „ästhetische Epoché“ wird durch den Einsatz einer durch die Musik bewirkten Grenzsituation, die allerdings in der Logik der Narration beheimatet ist, eine Distanzierung von der Realität im Film erreicht, die eine komplexe, allgemeine Idee innerhalb der Vielfalt aktueller und aktualisierbarer Zusammenhänge aufzeigt. Zwischen den genannten Bildformen, zwischen dem „Realismus des Aktionsbildes“ und dem „Idealismus des Affektbildes“540 liegt ein dritter Bildtypus: das „Triebbild“541, das die in diskrete Handlungen, Gegenstände und Personen zerlegte Wirklichkeit in ihre einheitliche „Ursprungswelt“ zurückführt. Die Ursprungswelt existiert und wirkt nur in der Tiefenschicht eines wirklichen Milieus, nur im I­ nneren eines solchen Milieus, dessen Gewalttätigkeit und Grausamkeit sie enthüllt; andererseits stellt sich das Milieu auch nur im Inneren einer Ursprungswelt als das Wirkliche dar; es hat den Status eines „abgeleiteten“ Milieus, das von der Ursprungswelt eine Zeitlichkeit als sein Schicksal erhält.542

Die zweite Szene des Films, in der die nicht-diegetische Musik der „Diebischen Elster“ von Gioachino Rossini, quasi als „Kommentar“, die zwischen Alex und der konkurrierenden Bande geführte Schlägerei innerhalb des verlassenen Theatergebäudes zu einem Ballett deterritorialisiert543, fungiert in diesem Sinne als 539 540 541

542 543

222

Ebd. Ebd., S. 171. Vgl. dabei die von Deleuze zitierte Kritik Debussys an den Leitmotiven Wagners, die er als „Wegweiser“ der „geheimen Triebe“ von Personen bezeichnete, Kap. II.1.1 dieser Arbeit. Gilles Deleuze: Das Bewegungsbild, a. a. O., S. 173. In der Auffassung Holtsträters lässt die Musik die Gewalthandlung aus der Perspektive des nunmehr älteren Alex als dessen Erzählung erscheinen. Vgl. dazu auch die Analyse dieser Filmszene in Kap. II.2.2 dieser Arbeit.

2. Epoché in der Filmmusik Triebbild. Es ist nicht nur die „Künstlichkeit des Dekors“544 des alten Theatergebäudes, seine quasi romantisch-überzeitliche Ruinenästhetik, die aus der brutalen Handlung eine reine, von der konkreten narrativen Situation der rivalisierenden Banden verselbständigte, quasi spielerische Ursprungsgewalt macht. Gerade die Musik ist dafür verantwortlich, dass die montierten Einzelbilder der gewalttätigen Handlung sich derart von dem unaufhaltsamen Klangfluss treiben lassen, dass sie als direkte, „schöne“545 Darstellung des gewaltsamen „Triebschicksals“ fungieren. Anders als in etlichen Beispielen des Einsatzes von sog. „Actionmusic“ wird nicht die Spannung der Szene durch die Betonung ihres bewegten und dynamischen Charakters unterstützt, sondern gewissermaßen die Körperlichkeit im Sinne von Gleichgewicht und Schwerkraft außer Kraft gesetzt. Die Körper verlieren ihren lebensweltlichen Bezug, werden zu unpersönlichen Figuren des Schauspiels einer Triebhandlung. Es ist erkannt worden, dass die Musik oft dadurch Einsatz im Film findet, dass sie einem mehrdeutigen Filmbild eine Prägnanz beim Ausdruck der angeblich gemeinten Aussage verleiht. Filmmusik kann bei offenen, ambivalenten oder mehrdeutigen bzw. in ihrer Aussage unklaren Filmszenen als Hinweisreiz für ein bestimmtes kognitives Schema dienen (sie kann z. B. die Mutmaßung, wie eine Handlung zu deuten ist oder wie sie weitergehen könnte, beeinflussen).546

Anders im Triebbild. In Szenen wie in der erwähnten Schlägereiszene von „Clockwork Orange“547 wird die erwartete Aktion zu ihrem Urmoment, einer spielerisch anmutenden Gewalt zurückgeleitet. Getreu der Bedeutung der „musikalisch-kinetischen Epoché“ wird durch den Einsatz der Musik die ele544 545

546 547

Gilles Deleuze: Das Bewegungsbild, a. a. O., S. 171. Deleuze schreibt in Bezug auf einen Film, dessen Handlung vom gleichen Ausgangspunkt, nämlich der Gewalttätigkeit eines rebellischen Jungen ausgeht, nämlich „Rebel Without a Cause“ von Nicholas Ray, von einer „Art Schönheit“, die die innerliche, nicht mehr situativ gebundene Gewalt des Films prägt. Vgl. Gilles Deleuze: Das Bewegungsbild, a. a. O., S. 187. Claudia Bullerjahn: Die Grundlagen der Wirkung von Filmmusik, Augsburg 2001, S. 242. Ein ähnliches Triebbild entsteht im Film „À bout de souffle“ von Godard, wo die Hauptfigur gegen Ende des Films durch einen Pistolenschuss getroffen, statt tot umzufallen, durch die Musik quasi tanzend weiter ihren Weg beschreitet.

223

III. Filmmusik und Subjekt mentare, nicht fest an das narrative Aktionsbild gebundene Wesensstruktur der Gewalt als Urtrieb hervorgehoben.

2.1.3 Musik als mentales Bild Ein letztes, von Deleuze am Werk Hitchcocks exemplifiziertes „Bild“, das für den Philosophen die „Krise“ des Bewegungsbildes markiert und den Übergang zum Kino des „Zeitbildes“ vorbereitet, ist das sog. „mentale“ oder „Relationsbild“. Das mentale Bild führt Denkprozesse in den Film ein, lässt logische Verknüpfungen zwischen Wahrnehmungen oder Gefühlen entstehen. […] es ist ein Bild, das Gegenstände, die eine Eigenexistenz außerhalb des Denkens haben, als Gedankenobjekte behandelt, so wie ja auch die Wahrnehmungsgegenstände durchaus eine Eigenexistenz außerhalb der Wahrnehmung haben. Es ist ein Bild, das sich Relationen zum Gegenstand nimmt, symbolische Akte, intellektuelle Gefühle.548

Charakteristisch für diesen Typus ist eine „essentielle Instabilität“549 zwischen den Personen und den Handlungen, die wesentlich mit der Existenz einer ­„dritten Person“ zusammenhängt. Diese kann eine filmische Nebenfigur sein, die sich  – etwa in der Funktion eines Auftragsmörders  – zwischen die ­Täter-Opfer-Beziehung schiebt, oder der Zuschauer, dessen Reaktionen und Denkprozesse dadurch in das Filmganze integriert werden, dass er beispiels­ weise mehr als die handelnden Figuren weiß. Dass auch der musikalische Klang in die Rolle dieser dritten Person schlüpfen kann, dass auch er mentale Beziehungen zwischen Wahrnehmungs- und Affektbildern auslösen kann, lässt sich bereits den erörterten Szenen des Films von Kubrick entnehmen. Die Musik – wie auch das vielfach im Film gezeigte Porträt – Beethovens motiviert Denkvorgänge, die die beschriebenen Aktionsund Affektbilder dadurch erweitern, dass sie sie in intellektuelle Zusammenhänge einbinden. Beethovens Musik fungiert als ein „konstitutives Drittes“550, das aus der Beziehung zwischen Alex und seinen Opfern entsteht und einerseits als Repräsentant der intellektuellen Überlegenheit Alex’, andererseits als allge548 549 550

224

Gilles Deleuze: Das Bewegungsbild, a. a. O., S. 266. Ebd., S. 271. Ebd., S. 269.

2. Epoché in der Filmmusik meines Symbol für Gewalt auftritt. Wird durch das Beethoven-Symbol auch der Zuschauer als möglicher Kenner und Deuter in den Film integriert, so werden alle Bilderformen intellektualisiert bzw. in ein neues Verhältnis zum Denken gebracht. Neben Kubrick berufen sich auch andere Filmemacher auf die intellektuelle Gewalt des mentalen Bildes. Das bereits diskutierte551 Beispiel aus „Good Morning Vietnam“ zeigt, dass auch hier der Zuschauer zum integralen Parameter des Films wird, der entscheiden soll, wie der Zusammenhang zwischen den gegensätzlichen Aussagen zu verstehen ist. Die Nähe zum Begriff der „intellektuellen Montage“552 Eisensteins ist dabei offensichtlich. Beim mentalen Bild handelt es sich um ein kontrapunktisches Verhältnis zwischen Ton und Bild, das vom Zuschauer beurteilt wird, ein Urteil, das sich selbst in den Film integriert oder auch nicht. Der Zuschauer wird dazu aktiviert, dem gedanklichen Zusammenhang einen Sinn zu entreißen, dadurch wird er zum eigentlichen Sinnstifter des Films. Wiewohl der Rahmen des mentalen Bildes stets eine sog. „Aufforderungsproblematik“553 auslöst, wonach bestimmte filmische Handlungen oder Situationen einen mehr oder weniger begrenzten Spielraum von musikalischen Reflexionen nahelegen, so obliegt ihre Bewertung der Entscheidung des Zuschauers. Selbst dann, wenn die Musik sich durch ihre Unauffälligkeit präsent macht, so ist die Frage, ob sie gerade dadurch die Aufmerksamkeit auf den filmischen Inhalt lenken kann, ob sie gerade durch ihre am dramatischen Geschehen unbeteiligte, „anempathische“ Art ein intellektuelles oder affektives Interesse seitens des Zuschauers motivieren soll, vom erkennenden Zuschauer zu beantworten. On the other hand, music can also exhibit conspicuous indifference to the situation, by progressing in a steady, undaunted, and ineluctable manner: the scene takes place against this very backdrop of “indifference”. This juxtaposition of scene with indifferent music has the effect not of freezing emotion but rather of intensifying, by inscribing it on a cosmic background. I call the second kind of music anempathetic […] The anempathetic impulse in the 551 552 553

Vgl. Kap. II.3.4 dieser Arbeit. Sergej Eisenstein: Jenseits der Einstellung, in: ders.: Das dynamische Quadrat. Schriften zum Film. Köln: Röderberg 1988, S. 72–89. Vgl. Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst, a. a. O., S. 374 ff.

225

III. Filmmusik und Subjekt cinema produces those countless musical bits from player pianos, celestas, music boxes, and dance bands, whose studied frivolity and naivete reinforce the individual emotion of the character and of the spectator, even as the music pretends not to notice them.554

Knüpft der Chion’sche Begriff des „Anempathischen“ an einen Gedanken zur Verwendung von Filmmusik an, der bereits von Brecht formuliert wurde und der von einer als Gegensatz zur visuellen Dramatik unscheinbar und gewohnheitsmäßig erklingenden Musik ausging, so ist auch hier der Einsatz eines aktiven Filmzuschauers gefragt, der diesen Kontrast erkennt und dementsprechend bewertet.

2.2 Das „Unwahrnehmbare“ bei Hitchcock Erstreckt sich der Typus des „mentalen Bildes“ auf Filme unterschiedlicher Epochen und Genres, so wird er, wie bereits erwähnt, bei Deleuze ausdrücklich mit einem bestimmten Regisseur in Verbindung gebracht. Alfred Hitchcock lässt das Filmbild durch das Einbeziehen sämtlicher Filmelemente der Handlung, der Wahrnehmung und des Affektes in komplexe relationale Gefüge intellektuell transformieren. Die Konsequenzen daraus sind vielfältig. Die durch das mentale Bild vollzogene Integration einer „unsichtbaren“ dritten Person, so auch des Zuschauers, in den Filmzusammenhang deterritorialisiert das Bewegungsbild zu einer neuen, verallgemeinerten und auch geheimnisvollen Sphäre des Unbekannten und Realitätsfremden. Verantwortlich für diese Besonderheit in der Filmsprache Hitchcocks ist auch die Filmmusik. Als „Unwahrnehmbares“, nämlich als visuell nur mittelbar oder gar nicht identifizierbarer Bestandteil des Filmes, agiert auch sie als Träger einer Instabilität, die die einfachen Relationen des Bewegungsbildes, also Aktion – Reaktion und Situation – Aktion stören. Eine durch die Musik herbeigeführte Epoché der filmischen Realität ist dafür mitverantwortlich, dass in den Filmen Hitchcocks die von Deleuze festgestellte „Krise“ des Aktionsbildes ihren Höhepunkt erreicht und der Film den Übergang zum „Zeitbild“ vollziehen kann.

554

226

Michel Chion: Audio-Vision, a. a. O., S. 8.

2. Epoché in der Filmmusik

2.2.1 Die musikalische Epoché in „Psycho“ Die Besonderheit, dass Hitchcocks „Psycho“555 in einer Zeit in Schwarzweiß gedreht wurde, in der Farbfilme längst möglich waren, lässt sich auf die Intention des Regisseurs zurückführen, Abstand von der farbigen Realität zu nehmen, dadurch den Fokus auf die inneren, psychologischen Prozesse der Charaktere und ihrer Handlungen zu richten. Dabei bezeichnend ist aber auch, dass die Musik Bernard Herrmanns zu diesem Film entgegen der zu dieser Zeit üblichen Filmmusikpraxis nicht das volle Orchester, sondern lediglich Streicher zum Einsatz bringt. Herrmann’s selection of a string orchestra deprived him of many tried and true musical formulas […]: cymbal rolls, timpani throbs, muted horn stings, shrieking clarinets, ominous trombones, and dozens of other staples in Hollywood’s bag of chilly, scary musical tricks.556

Es liegt nahe, anzunehmen, dass die in der Musik vollzogene Reduktion des Spektrums möglicher Ausdruckselemente aus dem gleichen Grund wie im Visuellen erfolgte. Steiner zitiert den Filmkomponisten von „Psycho“ folgendermaßen: „I felt that I was able to complement the black and white photography of the film with a black and white sound.“557 Die Entscheidung, die Klang­ farbenpalette auf das Minimum zu reduzieren, sollte offenbar dazu dienen, die subjektivierende Rolle der Musik im Film möglichst auf die Spitze zu treiben. Die Musik sollte die Zuschauerwahrnehmung nicht als selbständiges Klang­ ereignis auf sich lenken, sondern möglichst als ein besonderer Hintergrund fungieren, der das visuelle Geschehen nicht mehr als Darstellung einer objektiven „Realität“, sondern als Evokation psychischer Zustände erfahren lässt. Der Vollzug einer „Epoché“ von der farbigen objektiven Welt durch eine „schwarz-­weiße“ Musik wird aber noch durch eine andere Strategie bei der Filmmusikkonzeption unterstützt. Die totale Abwesenheit diegetischer Musik

555 556 557

Zur dramaturgischen Funktion der Musik in „Psycho“ vgl. Kap. I.3.1.1 dieser Arbeit. Fred Steiner: Herrmann’s “Black-and-White” Music for Hitchcock’s “Psycho”. In: Filmmusic Notebook. (1974), Heft 1, S. 8 und S. 31 f. Zit. nach: Royal S. Brown: Herrmann, Hitchcock and the Music of Irrational, in: Cinema Journal 21 (1982), S. 35.

227

III. Filmmusik und Subjekt steht ebenfalls im Einklang mit der Absicht, eine Distanz zur Realität zu schaffen, dabei das Außerordentliche des Filmgeschehens hervorzuheben. Another way in which Psycho cuts its audience off from normal reality is by its total avoidance of “source” music. The absence of any music coming over a radio, phonograph, or what have you, has the function of heightening the effect of the film-music convention whereby the appearance of soundtrack (as opposed to source) music generally “means” that something out of the ordinary is happening or is about to happen. Since Psycho has no source music, the appearance of any music tends to heighten expectations.558

Durch den Einsatz einer rein nicht-diegetischen Musik wird der weite Abstand zur filmischen Realität unterstützt, der den Zugang zur Immanenz unbewusster, irrationaler Prozesse gewährt. Im Sinne der Deleuze’schen Immanenzthese wird durch die Musik in „Psycho“ das Unbewusste nicht mehr dem Bewusstsein gegenübergestellt, Musik wird nicht mehr als Fortsetzung bewusst wahrgenommener diegetischer Prozesse verstanden. Sie wird kein einziges Mal visuell gerechtfertigt, dadurch „reterritorialisiert“, sondern bildet eine „immanente Konsistenzebene“. Diese versteht sich nicht mehr als Gegenwelt zur Welt des Bewusstseins, sondern konstruiert ihre eigenen kausalen Zusammenhänge, die dem „Unbewussten“ seine Form geben. Die Musik trägt zur Genese eines dynamisierenden Trieb­ bildes bei, das eine nicht mehr nur personifizierte und individuelle Struktur aufweist, sondern den reinen Trieb selbst zum Thema macht. Das Unbewusste, das molekular geworden ist und nicht figurativ oder symbolisch, geht als solches in die Mikro-Perzeptionen ein; das Begehren besetzt direkt den Bereich der Wahrnehmung, in dem das Unwahrnehmbare als wahrgenommenes Objekt der Begierde selbst erscheint, „die Gestaltlosigkeit des Begehrens“.559

Im Unterschied zu anderen Filmen Hitchcocks, wie etwa „North by Northwest“, wo die Wechsel­wirkung diegetischer und nicht-diegetischer Musik

558 559

228

Zit. nach: ebd. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 387.

2. Epoché in der Filmmusik vergleichsweise stabilere Erwartungshaltungen beim Zuschauer generiert560, erlaubt „Psycho“ keine Rückbezüge und Erinnerungen an musikalische Anhaltspunkte, die in der filmischen Realität fest verankert sind. Da sich trotz der triebhaft gesteuerten Immanenz der formalen Organisation des Films die Handlung von „Psycho“ doch auf einer vordergründig logisch aufgebauten filmischen Realität abspielt, wird eine zweischichtige Struktur etabliert, die sich auch in der Musik Herrmanns widerspiegelt. Das zentrale ästhetische Merkmal der meisten Filme Hitchcocks, so auch von „Psycho“, ausgehend von einer ­natürlichen, tagtäglichen Situation, geheimnisvolle, irrationale Vorgänge entstehen zu lassen, wird von Herrmann auch hier dadurch übernommen, dass er auf der Basis des tonalen Systems zweideutige harmonische Wendungen entwickelt, die, obwohl sie sich auf den ersten Blick dem harmonischen Ganzen fügen, doch überraschend fortgesetzt werden. Die „irrationale“, nicht auf eine Auflösung hinzielende Strategie der Verknüpfung von instabilen, mehrdeutigen Akkorden, ebenso ihre mehrmalige Repetition, lassen diese Akkorde nicht mehr als Übergangsmomente im harmonischen Verlauf funktionieren, sondern bringen ihre eigenwillige Präsenz zum Vorschein.561 Durch diese Klänge wird die tonale (in Analogie zur bildlichen) Realität durch tonale Mittel, also von innen, durch einen immanent dialektischen Akt, überwunden. For a director primarily concerned with showing the eruptions of the irrational, potential and otherwise, within the context of a solidly established ethos, perhaps the only thing to do was to take the triadally oriented harmonic system familiar to listeners within that ethos and, while using it as an ever-present base, turn it against itself.562

Eine Technik, die Bernard Herrmann dabei unterstützt, flexibel zwischen den Realitätsebenen des Films agieren zu können, ist die Verwendung kurzer motivischer Einheiten. Wenngleich er sich  – gewissermaßen entgegen der Forderung Adornos563 – nicht des fortschrittlichen, tendenziell von jeglicher Gestalt560 561 562 563

Vgl. Royal S. Brown: Herrmann, Hitchcock and the Music of Irrational, a. a. O., 35 f. Ebd., S. 19. Ebd., S. 46. Vgl. dazu Kap. III.1.2 dieser Arbeit.

229

III. Filmmusik und Subjekt haftigkeit autonomisierten Materials der Neuen Musik bedient, besteht das Material seiner Kompositionen aus einzelnen, abstrahierten motivischen Zellen, die die Idee des Thematischen negieren. „I think a short phrase has certain advantages. Because I don’t like the leitmotif system.“564 Herrmann vermeidet feste thematische oder leitmotivische Gestalten, verwendet dafür kurze musikalische Ideen, die er beliebig und differenziert in Bezug auf das jeweilige Bild variieren kann. „The ‘short phrase’ also serves as a more manipulable building block better suited than a developed ‘theme’ to the rapidly changing nature of the cinema and its edited flow of images.565 Wie der Filmkomponist und Kenner der Musik Herrmanns Fred Steiner betont, gehört diese Technik zu den grundlegenden Charakteristika des Hitchcock-Komponisten. One of the hallmarks of his compositional style is a predilection for the use of short motives which are often of an individual rhythmic character. These motives are used as cells for the construction of blocks, or musical modules, generally in two, four, or six measure lengths. These modules of musical material usually contrast from each other in design and contour, often in dynamics, and are continually juxtaposed in varying tonalities and orchestral ­ escribed above is a definite colors. In my opinion the module technique d characteristic of his musical style.566

In Herrmanns Komposition wird die musikalische Bewegung nicht räumlich als Bewegung von einer Tonstufe zu einer anderen in einem stabilen harmonischen Rahmen vollzogen. Quasi in einem Prozess der Reflexion über ihren tonalen Status bildet sie sich vielmehr in einem fortwährenden, gleichsam abstrakten, nicht-thematischen Ausgleichsprozess zwischen stabilen und von ihrer tonalen Provenienz deterritorialisierten Intervallverhältnissen. Defined as the most characteristic interval of the Western harmonic system, the third normally acts as a pillar of stability, often signaling not only the key involved but also the mode (major or minor) as well. One might think, then, that the stability of the third would, in Herrmann, counterbalance the insta564 565 566

230

Zit. nach: ebd., S. 22. Zit. nach: ebd. Fred Steiner: Herrmann’s “Black-and-White” Music for Hitchcock’s “Psycho”, a. a. O., S. 34.

2. Epoché in der Filmmusik bility of the often-used seventh. In fact, however, the third, when isolated from the major or minor triad, can be manipulated so that its identity becomes quite ambiguous. The classic example of this, perhaps, is the opening of the first movement of Beethoven‘s Fifth Symphony. Even though that initial, G-G-G-E-flat motive signals the beginning of one of the most solidly minormode movements ever penned, the interval itself is a major third! Our hearing of it as C minor rather than as E-flat major depends on our acquaintance with the movement as a whole and also, perhaps, on the motive‘s downward direction.567

Herrmanns instabile Intervallgefüge entsprechen Deleuzes Vorstellung einer reinen Immanenz, einer reinen Bewegung, die nicht der Idee eines (zwischen tonalen Stufen) sich bewegenden Körpers bedarf, um erfasst zu werden, sondern eine „abstrakte Linie spezifischer oder kreativer Kausalität, eine Fluchtoder Deterritorialisierungslinie entwirft, die sich nur im Zusammenhang mit allgemeinen oder andersartigen Kausalitäten verwirklichen kann“.568 Wie bei Herrmann, so fungiert Beethoven auch für Deleuze als Vorbild für das Prinzip einer solchen reinen Deterritorialisierungsbewegung, die ein Gegenmodell zum klassischen, auf einem festen Koordinatensystem beruhenden „transzendenten Organisationsplan“569 bildet. Eine „Materialvermehrung“570, die mit einer „Auflösung der Form“ einhergeht, lässt bei beiden Komponisten die Idee einer reinen Bewegung anschaulich werden. Wie Beethoven mit seinem Urbild der reinen Bewegung, so gehört im Genre der Filmmusik folglich auch Herrmann zu den Vertretern einer „diagonalen“ Dimension in der Musik, einer Perspektive des musikalischen Raumes, die durch die Reduktion des Kompositionsmaterials tendenziell auf den einzelnen Ton respektive auf minimale Intervallverbindungen eine Einheit zwischen den beiden polaren Dimensionen der Vertikale und Horizontale erreicht. Wiewohl der von Deleuze als Symptom der Deterritorialisierungstendenz in der Musik eingeführte Begriff in Zusammenhang mit Pierre Boulez Erwähnung findet571, 567 568 569 570 571

Royal S. Brown: Herrmann, Hitchcock and the Music of Irrational, a. a. O., S. 152. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 382. Ebd., S. 368. Ebd. Ebd., S. 404. Vgl. dazu auch Anm. 82 dieser Arbeit.

231

III. Filmmusik und Subjekt so kann er im Kern seiner Bedeutung auch für die Filmmusik Herrmanns geltend gemacht werden. Dadurch, dass seine Musik „nicht mehr im Verhältnis zwischen einem Subjekt und einem Objekt liegt“, weder dem Thematischen allein noch dem rohen Material sich verpflichtet, „sondern in der Bewegung, die diesem Verhältnis als Grenze dient“, sich abspielt, wird sie „als Präsenz einer Diesheit in einer anderen, als Ineinandergreifen der beiden oder Übergang von einer zur anderen“572 erst fassbar. Ohne auf übergeordnete, thematische Strukturen angewiesen zu sein, wird der Zusammenhang von elementaren Relationen aus produziert. Wenngleich aufgrund des tonalen ­Hintergrunds das – von Adorno propagierte – Ideal einer atonalen Filmmusik bei Herrmann nicht erreicht wird, der „Rückstand organischer Idiomatik“ nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, so deutet sein Verfahren, Spannungen allein aufgrund rationalisierter, „zueinander und gegeneinander“ sich bewegender „monadischer Zellen“573 aufzubauen, die akribisch in Relation zu den Bildern gesetzt werden, auf den durch eine „informelle Filmmusik“574 offengelegten Horizont des Komponierens hin. Dass sein Entsagen eines subjektiv-thematischen Ausdrucks in der Musik Herrmann auch dazu dient, dem eigentlichen Protagonisten, der Schauspielerfigur, den Vordergrund der filmischen Wahrnehmung einzuräumen, ist eine weitere mögliche Interpretation für seine kompositorische Technik. Die Musik identifiziert sich nicht vollständig mit dem Geschehen oder dessen Stimmung, sie kann sich ihm aber vorübergehend anschmiegen, um sich dann wieder von ihm zu entfernen. Sie gestaltet sich flexibel, unparteiisch, sie nähert sich wie eine Kamera den Filmfiguren und ihrer Psyche an, ohne dabei mit ihnen eins zu werden. Im Gegenteil: Sie behält den nötigen Abstand bei, um sich weiteren Situationen oder Vorgängen anpassen zu können. Der Zuschauer identifiziert sich in diesem Verfahren nicht mit der Filmhandlung und deren Personen, sondern nähert sich der Lebenswelt des Films auf eine Weise, die sich im Raum zwischen Einfühlung und Distanz abspielt. Die Auswahl und der Einsatz der klanglichen Mittel sind hierfür entscheidend.

572 573 574

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Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 384. Theodor W. Adorno: Vers une musique informelle, a. a. O., S. 530. Zum Begriff der „informellen Filmmusik“ vgl. Kap. II.1.5 dieser Arbeit.

2. Epoché in der Filmmusik Auch der übermäßige Dreiklang fungiert also keineswegs zwangsläufig als Träger traditionell verbürgter negativer Inhalte wie psychische Anstrengung, Gefahr oder das Böse. Und Vergleichbares lässt sich von halbverminderten Septakkorden, bitonalen Wendungen, chromatischen und modalen Melodieverläufen, Ostinati etc. sagen.575

Dass Herrmann diese charakteristischen Strukturen trotz ihrer starken inhaltlichen Vorbelastung ­zunächst als semantisch neutrale, ausschließlich dynamisierende, auf ihre gestalterische Triebkraft konzentrierte Wendungen betrachtet, hängt u. a. mit ihrer Einbettung in eine mäßig avancierte tonsprachliche Idiomatik zusammen. Eine Reihe von kompositorischen Entscheidungen verbürgt einen vorurteilsfreien Bezug der Musik zu den filmischen Inhalten, der nicht auf einen semantisch eindeutigen musikalischen Ausdruck abzielt. Die schwache inhaltliche Bestimmtheit seiner Themen, die willkürlich anmutende Auswahl der musikalisch umschriebenen Sachverhalte, die Instabilität der außermusikalischen Bezugnahmen durch Einzelmotive, das Oszillieren zwischen denotativem und exemplifizierendem Modus, die minimalistische Kontextanbindung über das Kontrastprinzip, die ausbleibende semantische Vorbesetzung der elementaren Strukturen  – kurz: das weitgehende Fehlen beständiger und verlässlicher Kodierungen – all dies qualifiziert seine Musik nicht eben dazu, die Vorstellungswelten des Komponisten in präziser und unmissverständlicher Weise an den Rezipienten zu kommunizieren.576

Verläuft der Kontakt der Musik zum Filmzuschauer also gerade nicht auf der Ebene einer simplen Entschlüsselung der musikalischen Inhalte mithilfe der damit eng zusammenhängenden filmischen Aussagen, so ist es gerade der fehlende direkte Bezug der Musik zum filmischen Inhalt, der bei Herrmann zur Bedingung eines offenbar angestrebten engen Verhältnisses zwischen Zuschauer und Film wird. Durch die Musik schaffen es die Filmcharaktere, einen „Körper“ mit dem Zuschauer, mit anderen Charakteren oder mit den filmischen Zuständen zu bilden. Auf der Basis einer – im Sinne Deleuzes – „immanenten

575 576

Bernhard Hess: „The crazy dance“. Bernard Herrmanns Filmmusik zu „North by Northwest“, Diss. München 2009, S. 118 f. Ebd., S. 125.

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III. Filmmusik und Subjekt Kausalität“ des „Unbewussten“577 gelingt es, zwischen den Personen innerhalb und außerhalb der filmischen Welt einen „organlosen Körper“ zu schaffen, der durch Unbestimmtheit geprägt ist und erst dadurch imstande ist, weiter aktiv zu bleiben und ständig neue Beziehungen zu knüpfen. Es ist gerade das ambivalente Verhältnis zwischen dem filmisch Wahrnehmbaren und dem (visuell) Unwahrnehmbaren der Musik sowie die vielfältige mögliche Deterritorialisierung des Filmischen durch den Klang, die die Filmfiguren, die Handlungen, die filmischen Gegenstände, aber auch den Zuschauer in einen quasi-musikalischen Zusammenhang integriert. Durch Musik kann sich die filmische Figur entmaterialisieren, sich verwandeln, in die Vergangenheit oder den Traum reisen. Ihr gelingt es, eine Welt zu schaffen, in der das „Unwahrnehmbare“578, die Gedanken, die Wünsche, das Begehren in ein Wechselverhältnis mit dem Wahrnehmbaren eingehen, auf derselben Immanenz­ebene in Kontakt mit ihm treten. Wie Bernard Herrmann selbst feststellt: Music on the screen can seek out and intensify the inner thoughts of the characters. It can invest a scene with terror, grandeur, gaiety, or misery. It can propel narrative swiftly upward, or slow it down. It often lifts mere dialogue into the realm of poetry. Finally, it is the communicating link between the screen and the audience, reaching out and enveloping all into a single experience.579

Das Verhältnis zwischen Wahrnehmbarem und Unwahrnehmbarem in der Musik Herrmanns bekundet sich auch in einem weiteren Deleuze’schen Begriff. Es trifft auf die Musik Herrmanns zu, wenn Deleuze über die „geheime Wahrnehmung“ des Geheimnisses spricht, wenn er „Spione, Voyeure, Erpresser und Schreiber anonymer Briefe“580 anspricht, um die Doppelstruktur des „Geheimnisses“ darzulegen, nämlich die Wahrnehmung eines Geheimnisses, die selbst geheim zu bleiben versucht. Auch die Herrmann’sche Musik fungiert

577 578 579

580

234

Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 386 f. Ebd., S. 382 ff. Bernard Herrmann: Music in the films – A rebuttal, in: New York Times, June 24, 1945, S. 47, zit. nach: J. Wierzbicki, N. Platte, C. Roust (Hg.): The Routledge Film Music Sourcebook, New York 2012, S. 120. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 390.

2. Epoché in der Filmmusik als der Versuch, das Geheimnis hinter den Personen wahrnehmbar zu machen, ihre Gefühle, ihr Denken und Vorhaben. Sie bleibt dabei unsichtbar. Auch im Film gehört es zum Geheimnis selbst, „dass es weitergesagt wird und dass dieses Weitersagen seinerseits zum Geheimnis gehört.“581 Die Musik schafft eine „Immanenzebene, die zwangläufig als solche wahrgenommen wird, während sie konstruiert wird.“582 Das Geheimnis bekommt dabei durch die Musik seine eigene Form. Das Geheimnis erhebt sich über den endlichen Inhalt zur unendlichen Form des Geheimnisses. Dabei erreicht das Geheimnis die absolute Unwahrnehmbarkeit, anstatt auf ein komplexes Zusammenspiel von relativen Wahrnehmungen und Reaktionen zu verweisen.583

2.2.2 Die „eidetische Variation“ des Geräusches in „The Birds“ Dass Deleuze sich nicht nur in seiner Kinoschrift, sondern auch in „Tausend Plateaus“ auf den Namen Hitchcock beruft, ist bereits erwähnt worden584. Wurden Hitchcocks Filme im Rahmen der Schrift zum filmischen Bewegungsbild als konstitutiv für den Begriff des „mentalen Bildes“ erachtet, so fungiert der Film „The Birds“ als Exempel einer deterritorialisierenden Kraft der Musik und des (musikalisierten) Geräusches, die sich im Oberbegriff des sog. „MusikWerdens“ zusammenfasst. Unternimmt man den Versuch, den Deterritorialisierungsgedanken Deleuzes im audiovisuellen Zusammenhang dieses Films analytisch nachzuvollziehen, so kann man sich im Sinne einer „eidetischen Reduktion“ der Struktur der klangfilmischen Gesamterscheinung der Idee „die Vögel“ in ihren partiellen Auffassungen bzw. Deterritorialisierungen methodisch annähern. Die Analyse des Vorspanns und der Anfangsszene des Films soll hierbei die Grundlage bilden. Bei ihr geht es darum, auf der Basis einer durch den Ton intentional bestimmten Perzeption Grundstrukturen des audiovisuellen Zusammenhangs im Film zu beschreiben. Es wird davon ausge­gangen, dass der Ton dazu beiträgt, dass die Filmwahrnehmung sich in einem ­unendlichen 581 582 583 584

Ebd. Ebd., S. 387. Ebd., S. 392. Vgl. das Zitat von Gilles Deleuze, Félix Guattari aus Tausend Plateaus im Kap. II.3.5 dieser Arbeit.

235

III. Filmmusik und Subjekt Erfüllungsprozess vollzieht. Der Film organisiert sich als ein Spielraum von Intention und Erfüllung, der durch einen quasi-subjektiven Vollzug der akustischen Veränderung in Relation zur filmischen Erscheinungsweise von Figuren, Gegenständen und Handlungen aktualisiert wird. Dieser Erfüllungsprozess geht aus dem intentionalen Zusammenhang von klang­lichen Motivationen und filmischen Inhalten hervor. Bestimmt werden sollen nicht nur die Typen audiovisueller filmischer Gefüge. Ein wichtiges Ziel der Analyse ist es auch, die Frage nach dem Subjekt im Verlauf von sich bestätigenden oder sich nicht erfüllenden Intentionen zu stellen: Welchen Subjektbegriff muss man anwenden, um von der Konstitution eines einheitlichen klangfilmischen Gegenstands im Prozess stetiger Modifikation des audiovisuellen Beziehungsgeflechtes sprechen zu können? Im Unterschied zur Musik ohne Bild kann man im Falle des Tons und der Musik im Film nicht von einem Kontinuitätscharakter der klanglichen Schicht ausgehen. Die Form der Musik im Film ist nicht kontinuierlich in der Zeit, nicht einheitlich im thematischen Material, in den Aufführungsmitteln, auch nicht im Stil und in der Art des Funktionierens ihrer einzelnen Momente. Es ist keine rein musikalische Form, sondern eine filmisch-musikalische, zweischichtige Form, und ihr wesentliches Element ist die funktionale Wechselbeziehung der zwei Schichten des Films.585

Eine Vielfalt aneinandergereihter, meistens nicht kontinuierlich erklingender akustischer Einheiten verbietet also die Vorstellung eines audiovisuellen Kontinuums in Analogie zum musikalischen Werk. Der Begriff eines einheitlichen filmischen Gegenstands kann demnach nicht von der Vorstellung eines musikalischen Subjekts als Konstituens identischer Entitäten abhängig gemacht werden. Soll dennoch am Subjektbegriff festgehalten werden, so muss dessen Bestimmung dadurch erweitert werden, dass er unterschiedliche Formen im Film umfassen kann. „Die Vögel“ von Alfred Hitchcock bringen bereits während des Vorspanns den klangfilmischen Gegenstand „Vögel“ in mehreren Abschattungen zum Vorschein. Grafische Schwarzweißbilder von Vögeln in Nahperspektive gehen

585

236

Zofia Lissa: Ästhetik der Filmmusik, a. a. O., S. 265.

2. Epoché in der Filmmusik mit mannigfaltigem, teils natürlichem, teils elektronischem Gezwitscher und Flattergeräuschen einher. Die Mannigfaltigkeit und rasche Abfolge sowohl der ­visuellen als auch der klanglichen Eindrücke lässt keine direkte Zuordnung ­zwischen den beiden Medien zu. Es setzt eine allgemeine Übereinstimmung zwischen Bild und Klang sowohl inhaltlich als auch morphologisch (Dichte, Bewegungstextur und Räumlichkeit) ein. Kurz vor der Einblendung von Hitchcocks Namen ändert sich das Klangbild. Eine Zurücknahme des Flattergeräusches lässt das Zwitschern einer räumlichen weiter entfernten, größeren Vogelschar in den Vordergrund rücken. Dieses Klangbild übernimmt den Übergang zur Anfangsszene des Filmes, in der die Klangsituation sich äußerlich ­modifiziert, aber doch im Wesen die gleiche bleibt: Während das Hintergrundrauschen der Vögel im Allgemeinen erhalten bleibt, wird der Vordergrund klanglich durch nahe Straßengeräusche  – die gewissermaßen das maschinelle Flattergeräusch aufnehmen –, visuell durch Bilder einer Trambahn, von Autos und der graziös schreitenden Protagonistin illustriert. Nach der Einblendung eines San-Francisco-Plakats, die quasi wie ein intradiegetischer Cut die zwei Szenen der Kameraverfolgung der Protagonistin trennt, motiviert das vogelimitierende Pfeifen eines Kindes das Umdrehen der Frau sowie ihren neugierigen, suchenden Blick. Der Pfeifende wird erkannt, ein Vorgang, der mit einem Lächeln der Protagonistin beantwortet wird, sodann wird im Zuge ihres Zurückdrehens ihr Blick nunmehr von den „echten“ Vögeln, die in ungewöhnlich großen Scharen den Himmel der Stadt bevölkern, gelenkt. Der Gang ins Tiergeschäft liefert schließlich eine weitere Abwandlung der Vogelpräsenz. Deutlich erkennbar in einem geschlossenen Raum aufgenommene, merklich weniger gewordene Vogelgeräusche werden in Käfigen sichtbar gemacht, ein Vorgang, der die establishing shots und establishing sounds des Handlungsraumes der Anfangsszene des Films abschließt und Erwartungen hinsichtlich des künftigen Geschehens weckt. Klar ersichtlich an diesen einleitenden Szenen des Films sind die Abschattungen des Vogelmotivs in der Korrelation zwischen Klang und Bild. Zu unterscheiden sind zunächst vier Auffassungen dieses spezifischen klangfilmischen Gegenstands: 1. die durch laute Flattergeräusche räumlich nah wirkende, hektische und unkontrollierte, mehr künstlich-geräuschhafte Vogelerscheinung. Sie entspricht der nahen Kameraeinstellung. 237

III. Filmmusik und Subjekt 2. die raumakustisch Entfernung simulierende, eine stärkere Klanglichkeit aufweisende, im Außenraum lokalisierbare Erscheinung. Sie entspricht der totalen Kameraeinstellung. 3. eine musikalisch stilisierte Vogelimitation durch das Pfeifen des Kindes. Entspricht der halb­nahen Einstellung. 4. eine domestizierte, zurückhaltende Erscheinung des natürlichen Vogelgeräusches im geschlossenen Raum. Entspricht der halbnahen Einstellung. Die kontinuierlichen Erscheinungen der Vögel in all diesen Arten bilden die Grundlage für eine einheitliche Perzeption des Vogelmotivs. Unterschiedliche Wahrnehmungen werden aufgrund eines variablen Identitätsbewusstseins miteinander verknüpft. Obgleich wir nicht davon sprechen können, dass der Gegenstand, auf den sich alle doch sehr unterschiedlichen Erscheinungen beziehen, reell derselbe ist, haben wir doch die Evidenz, dass alle Wahrnehmungen a priori durch dieselbe Idee geleitet werden. Sowohl das nicht-diegetische Vogelgeräusch des Vorspanns als auch seine diegetische Variante sind mögliche akustische Erscheinungsweisen eines Geräuschtypus, der jeweils nur als Abschattung gegeben ist und niemals als Ganzes. Die Geräusche gehören weder allein zur Nicht- bzw. zur Diegese, sondern transzendieren diesen Status, indem sie in verschiedenen deterritorialisierten Formen erklingen. Jede einzelne dieser akustischen Abschattungen realisiert den im Horizont „uneigentlicher Erscheinungen“ implizierten Wahrnehmungsverlauf. Rekurriert man wieder auf die Raum­ phänomenologie Husserls, so kann man auch hier unterscheiden zwischen den „eigentlichen“, darstellenden Intentionen, also Intentionen, die sich auf tatsächlich erscheinende gegenständliche Ansichten beziehen, und „leeren“ Intentionen, die zwar „ihre Richtung auf die betreffenden gegenständlichen Momente“586 haben, aber keine Perzeption von gegenständlichen Inhalten sind. Die leeren Intentionen geben dem klangfilmischen Objekt eine Gestalt, die wenngleich undeutlich bestimmt, doch einige Aspekte von der Gesamtauffassung des Objekts aufweist. Ihre Prädikation ist, dass auch die jeweils nächste Szene eine Abschattung des filmischen Gegenstands, der Handlung oder der Atmosphäre zeigt. Wir erwarten eine geregelte, gleichartige Erscheinung, die den

586

238

Edmund Husserl: Ding und Raum, a. a. O., S. 57. Zum Begriff der „leeren Intention“ vgl. auch Kap. II.3.

2. Epoché in der Filmmusik filmischen Gegenstand näher bestimmt. Untersucht man den genannten Abschnitt im Sinne der intentionalen Gegenstandsanalyse Husserls, erörtert man also das Verhältnis der darstellenden zu den leeren Intentionen im Wechsel zwischen Klang und filmischem Bild, so lassen sich folgende Beobachtungen machen. Ausgehend von der unmittelbaren Verknüpfung von Klang und Bild im Vorspann des Films, eine Verknüpfung, die ja zunächst auf einer sehr nah am Kameraobjektiv und somit auch am Zuschauer sich abspielenden Erscheinung der Vögel basiert, so dass sich eine perspektivlose zweidimensionale Darstellung ergibt, wird durch eine veränderte Raumsituation des Vogelgeräusches die Motivationsgrundlage bzw. der Horizont für die weitere Bestimmung des audiovisuellen filmischen Gegenstands entworfen. Die Einblendung einer raumakustisch abweichenden, nämlich viel weiter entfernten, dabei näher an der Realität stehenden Vogelgeräuschsituation, die kurz vor dem eigentlichen Filmbeginn zusätzlich durch eine Frequenzzunahme eine Spannungssteigerung erfährt, motiviert eine Öffnung des grafischen zweidimensionalen Raumes in ein anderes, nunmehr reales Bild. Diese akustische Veränderung entspricht, noch bevor das eigentliche Filmbild eintritt, der sich während des grafischen Vorspanns einstellenden allgemeinen Wahrnehmungserwartung einer realen filmischen Situa­ tion. Diese leere, zunächst ohne visuelles Pendant erklingende Intention wird dadurch visuell bestätigt, dass in der ersten Filmszene ein Stadtbild präsentiert wird, das die entfernte Vogelgeräuschkulisse durchaus rechtfertigen kann. Eine Gegenbewegung, nämlich die Intention einer räumlichen Annäherung der Vogelwahrnehmung an den Leib, einen Leib, der nicht mehr wie im Vorspann der des Zuschauers, sondern der Protagonistin „Melanie“ ist, wird durch das Hinterherpfeifen des jungen Mannes ausgelöst. Diese Intention wird allerdings zunächst nicht weiter verfolgt. Dagegen liefert sie die Motivation für die Herstellung einer Korrelation zwischen der Protagonistin und den das Stadtbild beherrschenden Vögeln. Wird durch das Hinterherpfeifen eine stilisierte Vogelerscheinung in die narrative Alltagssituation aktiv hereingeholt, so werden durch den sich daran anschließenden Blick der Protagonistin in den Himmel auch die realen Vögel in die Diegese eingebunden. Die Bewegung des klang­ lichen Vogelmotivs vom Himmel auf die Erde wird visuell in den Himmel zurückprojiziert. Der neugierige Blick der filmischen Hauptfigur, die fragende Intention angesichts der ungewöhnlichen Situation am Himmel, wird durch 239

III. Filmmusik und Subjekt eine synchrone audiovisuelle Präsenz der Vögel beantwortet. Eine weitere Gegenbewegung, die durch die Narration, nämlich durch den Gang der Protagonistin ins Tiergeschäft, motiviert ist, bringt das Vogelmotiv in die Sphäre des städtischen Alltags zurück. Einer veränderten, domestizierten Vogelgeräuschkulisse entspricht in der darauffolgenden Szene der Blick auf Vogelkäfige. Die reale räumliche Nähe schließlich zwischen Melanie und den nun nicht mehr freien Vögeln im geschlossenen Raum des Vogelgeschäfts signalisiert den Beginn der filmischen Dialoge. Wird die anfängliche quasi unmittelbare Präsenz der Vögel des Vorspanns im realen Raum der Narration hier noch nicht ganz erreicht, so schließt die im Vogelgeschäft vollzogene reale Annäherung zwischen der Person und den Tieren die in den Ort der Handlung einleitende Einheit des Prologs ab. Aus der Analyse des Vorspanns und der ersten Szene von „The Birds“ hat sich der allgemeine Begriff der „Distanz“587 als ein zentraler Parameter erwiesen, der das Verhältnis der unterschiedlichen visuellen und akustischen Abschattungen des Vogelgegenstands regelt. Die Distanz zwischen aktueller „Realität“ und Virtualität zeigte sich als eine Oberkategorie, die die Verhältnisse zwischen visuellen Räumen und akustischen Perspektiven organisiert. Handelt es sich dabei um eine wichtige Zusammenhang stiftende Komponente des Films, so lassen sich von ihr noch zwei weitere Formen der Bild-Ton-Relation ableiten, die das Kontinuum des Wahrnehmungsverlaufs strukturieren. Die Veränderung von einer virtuellen, sich zwischen den schattenhaft auftretenden Vögeln des Vorspanns und dem Zuschauer erstreckenden geringen Distanz zu der weiten realen Distanz zwischen den Vögeln und Melanie zu Beginn des Films lässt ein intentionales Verhältnis zwischen Bild und Ton erkennen, das den Eintritt einer neuen filmischen Situation motiviert. Mit der Zunahme der Distanz geht eine vollständige Veränderung des filmischen Raumes einher, die den zweidimensionalen Raum des Vorspanns in einen dreidimensionalen realen Raum umwandelt. Das Geräuschbild des Vorspanns schlägt eine virtuelle Richtung ein, die im Widerstreit zum aktuellen Bild steht und einen realen, weiten Filmraum erwarten lässt. Es wird ein Hinausgreifen über die eigentliche visuelle Erscheinung der Vögel des Vorspanns aktualisiert, das zwar auf eine

587

240

Vgl. dazu Kap. I.3.4.

2. Epoché in der Filmmusik bestimmt geartete, eher ländliche Atmosphäre gerichtet ist, jedoch einen starken Unbestimmtheitszug aufweist. Ohne Erwartungen über den konkreten Ort der Vogelerscheinungen zu erwecken, wird der enge zweidimensionale Raum in einen unbestimmten realen Raum geöffnet. Widerspricht das neue, reale Filmbild teilweise den Erwartungen, insofern als es sowohl akustisch als auch visuell eine zwar reale, allerdings der Stadt zugehörige Situation etabliert, wobei die verbliebene Vogelgeräuschkulisse sich nicht ganz in das Bild einfügt, so wird eine erneute Nahsituation realisiert, diesmal zwischen der Protagonistin und dem deterritorialisierten Vogelgeräusch des pfeifenden jungen Mannes. Eindeutig provozierend zielt das nun menschlich gewordene Vogelgeräusch auf eine eher vorhersehbare Reaktion hin, was zwar durch ein Lächeln bestätigt wird, allerdings gleichzeitig den eher zufälligen Blick Melanies in den Himmel auslöst. Die erneute Distanzzunahme enträtselt das akustische Geheimnis des ungewöhnlichen Rauschens über der Stadt. Keine neue Situation, sondern eine Näherbestimmung des filmischen Vogelmotivs liefert die Motivationsgrundlage der audiovisuellen Beziehung in diesem Bild. Das Verhältnis zwischen Ton und Bild in Bezug auf das Vogelmotiv prägt einen neuen Korrelationstypus, der nicht auf die Erscheinung neuer, lediglich allgemein vorgedeuteter Darstellungsinhalte gerichtet ist. Als Ziel dieses zweiten, auf die kontinuierliche Bestätigung stets konkreter Komponenten des Wahrnehmungsgegenstands gerichteten Typus fungiert eine möglichst optimale Wahrnehmung des filmischen Motivs, eine synchrone Anwesenheit von akustischem und visuellem Bild, die im Rahmen eines auf bestimmte Weise verfolgten Interesses seine scheinbar vollkommene Selbstgegebenheit zur Folge hat. Wird dieser Typus von Re- bzw. Territorialisierungsmomenten insofern geprägt, als er die Darstellung des filmischen Gegenstands im Rahmen eines audiovisuell abgesteckten bestimmten Territoriums verfolgt, so ist dem ersten Typus primär eine Deterritorialisierungstendenz eigen, die auf die Bildung neuer Darstellungsgefüge hinstrebt. Wenngleich auf unterschiedlichen Wegen, resultiert durch beide Typen eine Kontinuität der mannigfaltigen Wahrnehmungsbilder, zusammenfügt von der Idee des Vogelmotivs. In den Anfangsbildern des Films wird also eine zweischichtige Bestimmung des Vogelmotivs etabliert, die durch die Übergangsgebilde der im Vorspann eingeblendeten realen Vogelgeräusche und des in die Aktualität der Stadtszene integrierten entfremdeten Vogelgesangs des kleinen Jungen vermittelt wird. 241

III. Filmmusik und Subjekt Manifestiert sich diese Doppelexistenz der Wahrnehmungsbilder auch im Vogelgeräusch selbst, das zwar das reale Vogelgezwitscher nachahmt, allerdings unüberhörbar von einem (virtuellen) elektronischen Instrument produziert wird, so ist dieser Ton dafür verantwortlich, dass die unterschiedlichen Realitätssphären als eng miteinander verwobene wahrgenommen werden. Es wird ein fließender, im Sinne der „informellen Filmmusik“ spannungsgeladener Übergang zwischen ihnen geformt, der eine einheitliche, aufgrund der unheimlichen Vogelerscheinungen des Vorspanns subtil angespannte „Atmosphäre“ entstehen lässt. Selbst große Kontraste wie zwischen dem grafischen Vorspann und dem realen Filmbild werden durch das Vogelgeräusch dergestalt überbrückt, dass eine einheitliche ästhetische Wirkung erzeugt wird. Die Frage, ob die Vogelgeräusche der filmischen Lebenswelt angehören, sich auf die Gegenstände oder Personen im Film beziehen, also jemand „Fremdes“ betreffen, oder vielmehr sich auf das Zuschauersubjekt richten, kann nicht mehr eindeutig beantwortet werden. Das Gehörte beziehen wir auch auf uns, die Vogelgeräusche werden derart verinnerlicht, dass jedes filmische Objekt als ihr Korrelat erfahren wird. Wie auch in „Psycho“, allerdings nicht durch die Musik, sondern durch das von seiner Realität deterritorialisierte Geräusch, wird eine Epoché vom aktuellen Wahrnehmungsbild motiviert. Durch den unmittelbaren Übergang des nicht-diegetischen Geräusches in die Diegese beziehungsweise durch die Objektivation des zunächst nur mit dem Zuschauer-Ich in Einheit stehenden Geräusches überträgt sich die innere Empfindung des Zuschauers auch auf die Darstellung. Wird durch den Einsatz der akustischen Ebene das Verhältnis zwischen dem aktuell-realen und dem virtuell-meta-diegetischen Milieu des Films koordiniert588, so spiegelt sich diese zweischichtige Struktur des Filmbildes auch im Ton wider. Der musikalischen Deterritorialisierung von der tonal-thematisch strukturierten Klangwelt in „Psycho“ entspricht in „The Birds“ die Entfremdung vom realen Geräusch. Es ist gerade diese Entsprechung zwischen der inneren Struktur des Tons und seiner äußeren Funktion, nämlich das als Veräußerlichung der ambivalenten Binnenstruktur des Tons in der Bild-Ton-Beziehung aufzufassende Verhältnis, das seinen Einsatz aus seiner Immanenz heraus

588

242

Vgl. den Begriff des Ritornells in Kap II.1.2 dieser Arbeit.

2. Epoché in der Filmmusik rechtfertigt. Ein von innen heraus motivierter Bezug sowohl auf die aktuellen als auch auf die virtuellen Aspekte des Films lässt den Einsatz des Geräusches und der Musik in beiden Filmen als einen zwingend in der Tonstruktur begründeten, organisch hergeleiteten Akt verstehen. Der „informelle“ Charakter des Tons in seinem Verhältnis zum filmischen Bild ist in den beiden genannten Filmen allerdings unterschiedlich ausgeprägt. Das Immanenzwesen der BildTon-Beziehung in „The Birds“ betrifft das im Vogelgeräusch sich manifestierende Verhältnis von Aktualität und Virtualität. Anders in „Psycho“. Nicht das Geräusch und sein inhärenter Bezug zur gegenständlichen, primär visuell dargestellten Welt, sondern eine Musik, deren Struktur im Einklang mit der aus einzelnen montierten Bildern bestehenden, diskontinuierlichen filmischen Artikulation dieser Realität steht, ist hier die Grundlage des Audiovisuellen. Es überträgt sich in der Filmmusik von „Psycho“ also nicht nur das der Filmkunst immanente, für Adorno auch in der absoluten Musik hervorbrechende Zeichen der Objektivation des Subjektiven in den musikalischen ­Formen. Es ist die im Wesen der Musik Herrmanns vorhandene Fragmentierung des thematischen Materials, die bereits vor der Bezugnahme auf das filmische Bild eine doppelte, subjektiv-objektive Struktur aufbaut, die sich dann in Relation zum Bild setzt. Erst dadurch kann sie im Einklang mit ihrem „informellen“ Charakter ihre triebähnliche Kraft in der Montage entfalten.

2.3 Das musikalisierte Geräusch Aus den Analysen wurde deutlich, dass die Musik, aber auch das verfremdete Geräusch im Film einen anderen Ort als die visuellen Inhalte besetzen, einen Ort, der nicht außerhalb des eigenen Ichs lokalisiert wird, sondern mit ihm in einer dialektischen Weise verbunden ist. Bei der Filmtonwahrnehmung distanziert man sich nicht von den akustischen Ereignissen, indem man ihnen eine Örtlichkeit außerhalb der subjektiven Sphäre inmitten des Filmgeschehens zuweist. Im Gegenteil, man nimmt sie wahr, als wären sie Teil der eigenen Existenz, der des Zuschauers. Wenngleich sich die akustischen Inhalte vorübergehend dadurch vom eigenen Bewusstseinsfeld abheben können, dass sie zum Teil der gegenständlichen Welt des Films oder der Gefühlswelt der Filmfiguren werden, so bleibt ihre eigentümliche Einheit mit unserem Bewusstsein bestehen. Je mehr sie sich von der Diegese und dem filmisch dargestellten Raum entfernen, 243

III. Filmmusik und Subjekt desto unmittelbarer werden sie, anders als die visuellen Inhalte, an ein Ich, das Ich des Zuschauers gebunden. Die Vermittlung durch dieses „akustische Ich“ regelt sogar die Weise, in der auch alle übrigen Inhalte in die ästhetische Wahrnehmung des Films gelangen. Die Eigenschaft des Akustischen im Film, einerseits zu der filmischen Lebenswelt zu gehören, dabei jedoch so nah an der Bewusstseinswelt des Zuschauers zu sein, dass es ihn in bestimmte Gefühlszustände oder Erwartungshaltungen versetzt, lässt eine fruchtbare Dialektik zwischen den unterschiedlichen Realitätsebenen entstehen. Gerade dann, wenn die Verschmelzung dieser Ebenen derartige Züge annimmt, dass etwa das Zuschauererlebnis in die Filmdarstellung integriert wird, wenn die Konsequenzen aus der beabsichtigten Wirkung auf den Zuschauer im Film selbst gezogen werden, so dass beispielsweise filmische Elemente als Reaktionen bzw. Erfüllungen der von der Musik ausgehenden Intentionen wahrzunehmen sind, wird die Bedeutung der akustischen Sphäre im Film umso gravierender. Beispiele einer durch die nicht-diegetische Musik hergestellten Anspannung, die einen Montageschnitt „notwendig“ macht, um diese innere Situation aufzulösen – so mehrfach in Horrorfilmen, etwa in „The Shining“ von Kubrick auftretend – verdeutlichen den weitreichenden Einfluss des Tones auf das Filmbild. Auch Filmpassagen, in denen der musikalische Rhythmus die Bildmontage bestimmt, gehören dazu. Immer dann, wenn narrative oder strukturelle Übergänge zwischen den filmischen Bildern vom Ton abhängig gemacht werden, wenn folglich die Herstellung eines sinnvollen Bilderkontinuums von der akustischen Filmebene mit­konstituiert wird, wird aufgrund der Zwiespältigkeit dieses Mediums ein filmimmanenter Impuls generiert, der den fragmentarischen Charakter des filmischen Bildmediums auf der Meta-Ebene dynamisierend überwindet. Dass dem Filmbild wie auch dem photographischen Bild, aus dem es ursprünglich stammt, ein solcher fragmentarischer Charakter immanent ist, zeigt etwa der Vergleich mit dem malerischen Bild. Während das malerische Bild sich als Komposition einzelner bildnerischer Details zu einem möglichst vollkommenen Gesamtbild präsentiert, so treten die einzelnen Bildelemente des photographischen wie auch des filmischen Bildes umgekehrt stets als Ausschnitte des Gesamtbildes eines auch auf einer zweiten Seinsebene existierenden Objekts, die unabhängig von der des Kunstwerks ist, auf. In letzteren ist stets ein Kontingenzmoment mitbedacht. Im Foto ist immer die Möglichkeit mitaufgefasst, dass das unter den konkreten Bedingungen (Licht, Fokus, Aufnahmewinkel 244

2. Epoché in der Filmmusik usw.) aufgenommene Foto nur ein mögliches ist, das unter anderen Voraussetzungen das gleiche Motiv auch anders ins Bild setzen kann. The world of a painting is not continuous with the world of its frame; at its frame, a world finds its limits. We might say: A painting is a world; a photograph is of the world. What happens in a photograph is that it comes to an end. […] The implied presence of the rest of the world, and its explicit rejection, are as essential in the experience of a photograph as what it explicitly presents. A camera is an opening in a box: that is the best emblem of the fact that a camera holding on an object is holding the rest of the world away.589

Wäre im Anschluss an diese Beobachtung die These aufzustellen, dass die Rolle des Tons im Film gerade darin besteht, das unvollkommene filmische Bild aus seiner Immanenz heraus zu ergänzen, so lässt sich dabei auf Deleuzes Begriff des „organlosen Körpers“ rekurrieren. Der Film wird durch den Ton auf eine Weise reterritorialisiert, die weder auf der dem Fragmentarischen innewohnenden bloßen Prozesshaftigkeit beruht noch umgekehrt das Filmische von einem „transzendenten Kompositionsprinzip“590 aus begreift, sondern es im Rahmen einer entsubjektivierten „unbeabsichtigten Transmutation“591 erfasst. Deleuzes grundsätzliche philosophische Unterscheidung zwischen einem „Organisationsplan“592, der Formen, Subjekte, Funktionen und Schichten lokalisierbar macht, und einem „Konsistenzplan“, der gegen diese Auffassung kämpft, Deterritorialisierungsprozesse in Gang setzt und jegliche Formbildungen durch „Beschleunigung und Verlangsamung verschwimmen läßt“, trifft die Weise, wie die beiden Schichten des Films, die musikalisch-akustische und die filmisch-visuelle sich zueinander verhalten. Dienen Deleuze primär Beispiele aus der Musik, so etwa Cage oder Boulez, dazu, die Idee des Konsistenzplans anschaulich zu machen, woraus die Nähe dieser Philosophie zur Musik klar hervorgeht, so wäre ihre Funktion innerhalb der visuellen Organisation des Films von ihrem allgemeinen Entwurf abzuleiten. 589 590 591 592

Stanley Cavell: The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film, Cambridge, London 1979, S. 24. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 362. Ebd., S. 366. Ebd., S. 362 ff.

245

III. Filmmusik und Subjekt Die reinen Schnelligkeits- und Langsamkeits-Verhältnisse zwischen Partikeln, wie sie auf der Konsistenzebene erscheinen, schließen Deterritorialisierungsbewegungen ein, so wie die reinen Affekte ein Unternehmen zur Entsubjektivierung einschließen.593

Deleuzes Beschreibung trifft gerade auf die Art zu, wie durch die Musik die filmischen Inhalte entsubjektiviert werden, sich von der Handlungsebene des Films verselbständigen, auf den Zuschauer direkt bezogen und zum „reinen Affekt“ werden. Erst durch diese „Destratifizierung“ können sie dem Zuschauer entgegenkommen, „zum Zuschauer werden“, mit ihm kommunizieren und neue filmische Figuren, so etwa den mitfühlenden oder auch mitagierenden Zuschauer herausbilden lassen. Die „Molekularisierung“ der formalen und narrativen Beziehungen, die Auflösung vorgeprägter filmischer Ordnungen und Formen in Analogie (um das Paradigma Deleuzes aufzugreifen) zur Musik eines Beethoven, der durch die Reduktion des Motivisch-Thematischen auf wenige Noten das Werden der Form, ihre Dynamik hervortreten lässt, ermöglicht nicht nur ein fruchtbares Wechselverhältnis zwischen der Musik und dem Ton, folglich ein „Musikwerden“ des Films, sondern auch die generelle Überschreitung der Grenzen zwischen objektiven Bestimmtheiten und subjektiven Auffassungen, zwischen Filmobjekt und Zuschauer.594 Die Offenlegung eines Territoriums, das auf dem permanenten Ineinandergreifen der filmischen und der meta-filmischen, der narrativen sowie der meta- und nicht-narrativen Elemente beruht, das zwischen Handlung und Erzählung, aber auch zwischen G ­ eräusch und Musik oszilliert, erlaubt die Verschränkung sonst disparater Elemente des Films, verhilft dazu, etwaige Darstellungskonventionen und Grenzen der Diegese zu unterlaufen. Wiewohl die Idee der „Molekularisierung“ der musikalischen Gestalt von Deleuze nicht ausdrücklich auf die Musik im Film übertragen wurde, so ist sie von ihm eindeutig als Tendenz der westeuropäischen Musik erkannt worden. Die Entwicklung der Musik über Ravel und Debussy zu Boulez, die „von einer Wucherung kleiner Motive, von Anhäufungen kleiner Noten, die kinematisch und affektiv vorgehen, die eine einfache Form mitreißen, indem sie Geschwin593 594

246

Ebd., S. 367. Ebd., S. 368.

2. Epoché in der Filmmusik digkeitshinweise hinzufügen und es erlauben, von innerlich einfachen formalen Beziehungen ausgehend außerordentlich komplexe dynamische Beziehungen zu schaffen“595, geprägt ist, deutet bei Deleuze auf die deutliche Tendenz der Segmentierung und Elementarisierung des Materials der Musik hin. Aber auch Musikbeispiele älterer Musik, so etwa das Chopin’sche Rubato, die Beethoven’sche Motivik oder die Musik Schumanns dienen dem Philosophen dazu, die auflösende Kraft der „Konsistenzebene“ zu demonstrieren.596 Dass man den Deleuze’schen Ansatz der musikalischen Deterritorialisierungstendenz nun auch auf die Musik im Film übertragen kann, liegt nicht nur aufgrund ihres Einklangs mit seiner Filmtheorie nahe. Dabei ist es bezeichnend, dass eine solche Auffassung mit den konkreten Forderungen Adornos gegenüber der Filmmusik in Übereinstimmung steht. Der Anspruch Adornos einer möglichst beherrschbaren, präzise einsetzbaren und flexiblen, das heißt nicht auf Entwicklung, sondern auf die Möglichkeit abrupter Wechsel sich stützenden Musik im Film entspricht weitgehend der Deleuze’schen Vorstellung eines molekularisierten Materials. Adornos Filmmusikansatz und die Deleuze’sche Auffassung der Entwicklung der abendländischen Musik korrespondieren vor dem Hintergrund eines auf dem Werden sowie auf der Deterritorialisierung und der Entsubjektivierung beruhenden Immanenzbegriffes. […] alle Arten des Werdens sind schon molekular. Weil Werden nicht bedeutet, etwas oder jemanden zu imitieren oder sich mit ihm zu identifizieren. Es bedeutet auch nicht, formale Beziehungen einander anzugleichen. Keine der beiden Analogieformen entspricht dem Werden, weder die Imitation eines Subjekts noch die Proportionalität einer Form. Werden heißt, ausgehend von Formen, die man hat, vom Subjekt, das man ist, Partikel herauszulösen, zwischen denen man Beziehungen von Bewegung und Ruhe, Schnelligkeit und Langsamkeit herstellt, die dem, was man wird und wodurch man wird, am nächsten sind.597

595 596 597

Ebd., S. 369. Vgl. ebd., S. 368 f. Ebd., S. 371.

247

III. Filmmusik und Subjekt Wie bei Deleuze, so ist diese „Molekularisierung“ auch bei Adorno eine Grundeigenschaft zunächst der absoluten Musik und leitet sich dort von der immanenten Entwicklung des Materials ab. Erst dadurch kann sie zum Prinzip auch der Filmmusik werden. Um die Bemerkung Adornos zu wiederholen: „Je beherrschbarer aber Musik in sich, durch ihre eigenen Konstruktionsprinzipien wird, um so beherrschbarer wird sie auch für Zwecke der Anwendung auf ein anderes Medium.“598 Weder die „Abbildung begrifflich vermittelter Vorstellungen wie etwa in der Programm-Musik, die Wasserfälle, rauschen und Schafe blöken lässt“599, noch die Ausbreitung thematischer Ideen auf zeitlich ausgedehnten Formen können der bruchhaften Ästhetik des Films gerecht werden. Die Musik im Film „trifft den Ton einer Szene, die besondere Gefühlslage, dem Grad von Ernst oder Unernst, Bedeutung oder Gleichgültigkeit, Echtheit oder Schein“.600 Erst die Anwendung „konsistenter, präziser kleiner Formen, in denen nichts Überflüssiges vorkommt, die sofort zur Sache kommen und keiner Verlängerung aus architektonischen Gründen bedürfen“601, kann nach Adorno die Bedürfnisse des filmischen Mediums erfüllen. Wird die rationale Kontrolle des Klangmaterials von Adorno quasi zur Bedingung für die Anwendung der Musik im Film gemacht, so muss sie sich folgerichtig einem Dilemma stellen, das bereits die serielle Musik bei ihrer Forderung nach Beherrschung aller Parameter des Musikalischen beschäftigt hatte. Dass in letzter Konsequenz auch das Problem der Integration der Klangfarbe in das serielle kompositorische Konzept gelöst werden sollte, war ein kritischer Punkt dieser Entwicklung, mit dem sich die Neue Musik in dieser Phase auseinanderzusetzen hatte. Das Einbeziehen elektronischer Möglichkeiten zur Tonerzeugung und -bearbeitung in den Kompositionsprozess, in einem Akt, der endgültig auch die qualitative Differenz zwischen Geräusch und musikalischem Klang nivellierte, bot sich bekanntlich als Lösung an. Die rationale Beherrschung des musikalischen Naturmaterials und die Rationalität der elektronischen Tonerzeugung gehorchen schließlich dem identi598 599 600 601

248

Theodor W. Adorno: Komposition für den Film, a. a. O., S.  40. Vgl. dazu auch Fußnote 505. Ebd., S. 41. Ebd. Ebd.

2. Epoché in der Filmmusik schen Grundprinzip. Der Komponist verfügt, jedenfalls tendenziell, über ein Kontinuum der Höhen, Stärkegrade, Längen, nicht aber bis heute über eines der Klangfarben. […] Diesem Mangel, den jeder Musiker kennt, verspricht die Elektronik abzuhelfen. Sie ist ein Aspekt des Zuges der neuen Musik zur integralen Kontinuität aller musikalischen Dimensionen.602

Dass im Falle der Filmmusik das Hauptinteresse nun nicht mehr einem ausgeglichenen Verhältnis zwischen Klangfarbe und den anderen musikalischen Parametern galt, sondern vor allem ein Weg gesucht wurde, das näher an der Filmrealität stehende Geräusch in einen konsequenten Zusammenhang mit der Abstraktheit des musikalischen Ausdrucks zu bringen, war der wesentliche Grund, auch in diesem Bereich den Einsatz des elektronischen Tons zu begrüßen. Die elektronische Musik fungiert als die letzte Station im Versuch, eine Musik für den Film zu entwerfen, die – gemäß auch dem Adorn’schen Ideal – zu der visuellen Ebene präzise hinzukomponiert werden kann, auf einer so elementaren Ebene arbeitet, dass sie nicht nur zwischen Bild und Musik vermitteln kann, sondern auch zwischen den zwei Ebenen des Akustischen, nämlich zwischen natürlichem Geräusch und musikalischem Klang. Verfolgte der Einsatz von elektronischen Geräuschen im erörterten Film „The Birds“ von Hitchcock bereits dieses ästhetische Ziel, so gehörte ein stilistisch konträr zu ihm stehender Regisseur, nämlich Andrej Tarkowski, ebenfalls zu seinen – auch auf theoretischer Ebene – wichtigen Vertretern. Thematisiert Tarkowski das Problem des Einsatzes von Instrumentalmusik im Film, da sie als eine „eigenständige Kunst […] sich erheblich schwerer in einen Film als dessen organischer Bestandteil integrieren lässt“, so ist die Tat­ sache, dass die elektronische Musik sich „in der Schwebe“ zwischen den Realitätsebenen des Films bewegt, für ihn ein wichtiger Grund für ihre filmische Verwendung. Zudem kann sich elektronische Musik im Film verlieren, sich hinter anderen Geräuschen verstecken, irgendwie unbestimmt wirken: Sie vermag sich wie die Stimme der Natur auszunehmen, als Artikulation unbestimmter Empfindungen, kann aber auch dem Atmen eines Menschen ähnlich wer602

Theodor W. Adorno: Musik und neue Musik, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 16, a. a. O. S. 491.

249

III. Filmmusik und Subjekt den. Mir aber liegt nun gerade eben an diesem Unbestimmten. Der Ton soll in der Schwebe bleiben – gleich, ob er nun Musik ist, eine Stimme oder nur der Wind.603

Die „Schwebe“ bei Tarkowski ist im Sinne seiner Ästhetik nichts anderes als die Zeit, nämlich ein Zeitkristall, der in Analogie zu Deleuze das Aktuelle und das Virtuelle, das gegenwärtige Erlebnis und die Erinnerung koexistieren lässt. Die Musik, so etwa in einem Film wie „Der Spiegel“, soll im Prozess der Zusammenfügung von „Realem“ und Erinnertem operieren, schiebt sich unbemerkt unter die natürliche Geräuschebene, verbindet dadurch die Bruchstücke einer diskontinuierlichen Erzählung. Vorwiegend Gefühls- und Bildererinnerungen des Protagonisten an seine (von derselben Schauspielerin gespielten, dadurch in der Diegese verwechselbaren) Mutter und geschiedene Ehefrau sind das Material einer andauernden Verschränkung der Zeitebenen des Films, die durch eine Reihe von natürlichen Geräuschen und elektronischen Klängen vertreten, sich bereits in den ersten Szenen des Films als Grundprinzip der Narration etablieren. Dort blendet sich in eine Orchestrierung von Hundegebell, tickender Uhr samt Kuckuck und fallendem Glas, die in ein Feuerregengeräusch mündet, ein elektronisch produzierter Cluster ein. Dieses soll den natürlichen Klängen vor allem eine subjektive, psychologische Note verleihen. Die an den Komponisten Eduard Artemjew gegebene Anweisung, natürliche Klänge elektronisch so zu bearbeiten, dass sie eine „ausgeprägte Individualität, Spezifik und emotionale Expressivität“604 erhalten, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass auf die Doppelnatur des elektronischen Geräusches abgezielt wird, nicht nur als eine aktuelle objektive Empfindung, sondern auch als subjektives Erinnerungserlebnis. Das gilt auch für die darauffolgende Szene des Films. Der elektronische Klang leitet hier den Übergang in eine durch das Schwarzweiß-Bild markierte Vergangenheitssphäre über, in der die Stimme des aufwachenden Kindes durch ein neues, musikalisiertes Klangbild, das lange Orgeltöne, Vogelpiepen und durch Echoeffekte stark verfremdete natürliche Klänge (Wind, tropfendes Wasser) 603 604

250

Andrej Tarkowski: Die versiegelte Zeit, a. a. O., S. 186 f. Vgl. Eduard Artemjev, zit. nach: Hans-Joachim Schlegel: Klangwelten des Inneren. Zu Andrej Tarkwoskijs Ton- und Musikkonzept, in: Hartmut Krones (Hg.): Bühne, Film, Raum und Zeit in der Musik des 20.  Jahrhunderts, Wien, Köln, Weimar 2003, S. 222.

2. Epoché in der Filmmusik b­ einhaltet. Andrej Tarkowski ist auch mittels der modifizierten Naturgeräusche auf der Suche nach dem Geheimnis der Zeit in ihrer unvermittelten Seinsweise, einer Zeit, die der Bergson’schen „temps durée“ oder der „fließenden Zeit“ eines „nicht pulsierenden Tempos“605 bei Deleuze nahekommt. Wenngleich in einer gegensätzlichen Konzeption, erstrebt er wie auch Hitchcock in „The Birds“ eine hinter dem Bild liegende filmische Wahrheit, die er in entsprechender Weise im Kontrast zwischen Schwarzweiß- und Farbfilm aufsucht. „So seltsam dies anmutet: Obwohl die uns umgebende Welt farbig ist, gibt der Schwarzweißfilm ihr Bild näher zur […] psychologischen Wahrheit hin wieder.“606 Eine Reihe von Filmtechniken, die langsame Bewegung und die Unterordnung der Montage, aber in erster Linie auch der Ton fungieren als wichtige Elemente bei der Schaffung einer „Ersatzwirklichkeit“607, die mit der Gegenwart koexistiert. Tarkowski spricht sich immer wieder für den Film ohne Musik aus. „Eine auf wirklich adäquate Weise organisiert tönende Welt ist schon ihrem Wesen nach eine zutiefst kinematografische Musik.“608 Es ist gerade das Geräusch, das sich nicht nur mit bestimmten Gegenständen, Situationen und Personen aktuell verknüpft, sondern auch intensive Erinnerungsaugenblicke aus alltäglichen Situationen vergegenwärtigt, dadurch eine Synthese von Virtuellem und Aktuellem tätigt, die als die Voraussetzung für neue Deterritorialisierungen gilt. Ein „Ritornell“ – oder in der Terminologie Tarkowskis ein „Refrain“ –, das sowohl visueller oder klanglicher Natur sein kann, vermittelt zwischen einer quasi objektiven und einer persönlichen, empirischen Realität, die zu einem Fenster in die innere Welt der äußeren Welt wird, das sich allerdings nur meditativ intensivem Blicken und Hören öffnet, nur so den Zusammenhang von Authentischem und Transzendentem, von Realem und Imaginiertem, von Diesseitigem und Jenseitigem zugänglich macht.609

605 606 607 608 609

Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 363. Andrej Tarkowski: Die versiegelte Zeit, a. a. O., S. 161. Ebd., S. 186. Ebd., S. 185. Hans-Joachim Schlegel: Klangwelten des Inneren. Zu Andrej Tarkowskis Ton- und Musikkonzept, a. a. O., S. 220.

251

III. Filmmusik und Subjekt Ähnlich dem territorialisierenden und gleichzeitig auch deterritorialisierenden Potenzial des Deleuze’schen „Ritornells“ erweist sich auch der Refrain Tarkowskis als eine Methode der dialektischen Synthese von virtuellem bzw. erinnertem Erlebnis und gegenwärtiger Wahrnehmung. Mir schwebt noch am ehesten eine Methode vor, bei der die Musik gleichsam als poetischer Refrain aufkommt […] Der Refrain lässt in uns jenen ursprünglichen Zustand wiedererstehen, mit dem wir in diese für uns poetische Welt eintraten. Gleichzeitig lässt er sie uns nunmehr unmittelbar von neuem erfahren.610

Tarkowskis Refrain prägt eine weitere Form der „akustischen Epoché“, die sich nun nicht mehr auf den Raum bezieht, sondern zu einer Angelegenheit des Zeitbewusstseins wird. In seinem Begriff des „Zeitdrucks“ drückt sich das Erleben einer inneren, verlangsamt verrinnenden Zeit aus, die sich dem alltäglichen Zeitrhythmus entzieht und die innere Beschaffenheit von Dingen, Verläufen und Zuständen freilegt. Die eine Einstellung durchlaufende zeitliche Konsistenz, die wachsende oder „sichverflüchtigende“ Spannung der Zeit […] Demnach ist die Montage eine Form der Vereinigung von Filmteilen unter Berücksichtigung des in ihnen herrschenden Zeitdrucks.611

Die Komprimierung von Entwicklungsprozessen zu dauerhaften, fruchtbaren Momenten, die Möglichkeit aus einzelnen, die Zeit verräumlichenden Gegenständen, Geräuschen oder Körpern, ihr ­„Wesen“, das auch zeitlich ist, zu extrahieren, setzt die Auffassung der Zeit als Maß der Bewegung in Klammern, legt die Erfahrung von „Zeit als eine an die Existenz unseres ,Ich‘ gebundene Bedingung“612 frei. Das in der japanischen Kultur sich manifestierende Gespür für

610 611

612

252

Andrej Tarkowski: Die versiegelte Zeit, a. a. O., S. 181. Andrej Tarkowski: Über Zeit, Rhythmus und Montage, in: ders.: Die versiegelte Zeit. a. a. O., S.  125. Vgl. dazu auch: Wolfgang Gratzer: Mikroskopische Kunst. Über Tarkowskij und Nono, in: Reinhard Kopiez (Hg): Musikwissenschaft zwischen Kunst, Ästhetik und Experiment. Festschrift Helga de la Motte-Haber zum 60. Geburtstag, Würzburg 1998, S. 211. Andrej Tarkowski: Die versiegelte Zeit, a. a. O., S. 63 f.

2. Epoché in der Filmmusik alte, die Spuren ihrer Geschichte mit sich tragende Dinge entspricht für Tarkowski ebendieser Auffassung. Man meint hier, dass die Zeit an sich das Wesen der Dinge zutage fördere. Aus diesem Grunde sehen die Japaner in den Spuren des Wachstums einen besonderen Reiz. Deshalb fasziniert sie die dunkle Farbe eines alten Baumes, ein verwitterter Stein, ja sogar das Ausgefranste, das von vielen Händen zeugt, die ein Bild an seinem Rande berührten. Diese Spuren des Alterns nennen sie s a b a , was wörtlich übersetzt „Rost“ heißt. Saba – das ist der nicht nachahmbare Rost, der Zauber des Alten, das Siegel, die „Patina“ der Zeit.613

Eine solche Epoché von der alltäglichen Zeit liegt dem Gestaltungsprinzip der akustischen Sphäre der Tarkowski’schen Filme zugrunde. Die Musikalisierung von Geräuschen durch die Elektronik verdichtet das aktuelle, realitätsgebundene Geräuscherlebnis mit der Aura der Erinnerung, befreit den Zeitverlauf dadurch von seiner bloßen Materialität, von seiner festgelegten, lediglich formalen oder narrativen filmischen Existenz, deterritorialisiert ihn zum „reinen Material“ und zum reinen Ausdruck der wahren Wirklichkeit der Zeit als Bergson’sche „temps durée“. In einem Verfahren, das in der absoluten Musik, etwa in der molekularisierten, nicht auf festen Strukturen beruhenden, sondern reine Verdichtungs- und Auflösungsprozesse freilegenden „Klangmaschine“ von Varèse614, ihr Analogon findet, setzt Tarkowski durch die Elektronik eines „Synthesizers“ die den Geräuschen innewohnenden „unsichtbare[n] Kräfte“ und ihr reines ­Material“ frei, das nunmehr empfänglich für Interaktionen aller Art mit allen weiteren diegetischen und nicht-diegetischen filmischen Elementen wird. Er [der Synthesizer] vereint die disparaten Elemente im Material und überträgt die Parameter einer Formel auf eine andere. Der Synthesizer hat mit seiner Konsistenz-Operation die Position der Begründung im synthetischen Urteil a priori eingenommen: hier handelt es sich um eine Synthese von

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Ebd., S. 65. Deleuze bezeichnet das Kompositionsverfahren Varèses als eine „musikalische Konsistenz-Maschine, eine Klangmaschine […], die die Klangmaterie molekularisiert, atomisiert und ionisiert und die eine kosmische Energie einfängt.“ Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, a. a. O., S. 468.

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III. Filmmusik und Subjekt Molekularem und Kosmischem, von Material und Kraft, und nicht mehr von Form und Materie, von Grund und Territorium.615

Die elektronische Deterritorialisierung des Geräusches bei Tarkowski löst die Grenzen zwischen den filmischen Realitätsebenen sowie zwischen filmischem Objekt und Zuschauer auf. Im Sinne einer „Sensation“616 verlässt das Geräusch seine illustrative und narrative Funktion, wird zu einer nicht-abstrakten eidetischen Form617, die sich zwischen die Pole der diegetisch-visuellen und der nichtdiegetisch-musikalischen Darstellung fügt. Dadurch, dass die elektronische Bearbeitung Zeit in das Geräusch und dann in das visuelle Filmgeschehen einführt, distanziert es sich von seiner repräsentationalen intradiegetischen Funktion, wird somit zu einem flexiblen Instrument der Vermittlung zwischen den filmischen Schichten. Es bringt eine filmische „Sensationsebene“ hervor, einen audiovisuellen Raum, der zwar strukturiert und also kein Chaos ist, dessen akustische oder visuelle Elemente aber nicht bestimmten, eindeutig festgelegten Funktionen im Filmzusammenhang zugeordnet sind. Jedes filmische Element kann unterschiedliche Rollen übernehmen, so auch das Geräusch, dessen filmische Bedeutung sich nicht mehr auf seine Hinweisfunktion in Bezug auf eine aktuelle Realität des Films erschöpft, sondern darüber hinaus Erinnerung, Emotionen, Raum wahrnehmbar machen kann. Die Sensationsebenen wären tatsächlich Empfindungsbereiche, die auf die verschiedenen Sinnes­organe verweisen; aber jede Ebene, jedes Gebiet würde eben auf seine Art auf die anderen verweisen, unabhängig vom dargestellten gemeinsamen Objekt. Zwischen einer Farbe, einem Geschmack, einer Berührung, einem Geruch, einem Geräusch, einem Gewicht bestünde eine

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Ebd., S. 468 f. Vgl. Gilles Deleuze: Francis Bacon – Logik der Sensation, München 1995, S. 27. Deleuze bringt den „phänomenologischen“ Sinn des Sensationsbegriffs dadurch zum Ausdruck, dass er den doppelten Charakter der intentionalen Korrelation, wonach die Gegenstände sich einerseits durch das Bewusstsein konstituieren, andererseits in ihm erscheinen, zur Sprache bringt. „[…] wie die Phänomenologen sagen: Ich werde in der Sensation, und zugleich geschieht etwas durch die Sensation, das eine durch das ­andere, das eine im anderen.“ Vgl. Gilles Deleuze: Francis Bacon – Logik der Sensation, a. a. O., S. 27.

2. Epoché in der Filmmusik existenzielle Kommunikation, die das „pathische“ (nicht-repräsentative) Moment der Sensation ausmachen würde.618

Das musikalisch verfremdete Geräusch stellt also eine „ursprüngliche Einheit“ her, die vor der Unterscheidung zwischen akustischer und visueller Wahrnehmung steht. Es fungiert als ein Mittel, das sowohl die Bilder- als auch die Klangwelt des Films durchdringt, dabei eine ähnliche Funktion wie der Rhythmus ausübt, ein Parameter, der nach Deleuze das eigentliche konstruktive Element der Sensation, etwa im Verhältnis zwischen einem malerischen Bild und der Musik, ist. Es käme also dem Maler zu, eine Art ursprünglicher Einheit der Sinne sichtbar zu machen und eine multisensible Figur visuell erscheinen zu lassen. Diese Operation aber wird nur möglich, wenn die Sensation dieses oder jenes Gebietes (hier die Sehempfindung) in unmittelbarem Kontakt mit einem vitalen Vermögen steht, das alle Gebiete sprengt und sie durchquert. Dieses Vermögen ist der Rhythmus, der tiefer reicht als der Blick, das Gehör etc. Und der Rhythmus erscheint als Musik, wenn er die auditive Ebene besitzt, als Malerei, wenn er die visuelle Ebene besetzt.619

Eben weil die Sensation des Rhythmus bei Tarkowski primär auf Geräuschen beruht, so hat sie im Unterschied zur freien, allein auf dem abstrakten Rhythmus der Klangbewegung beruhenden nicht-diegetischen Musik einen „Körper“620 im Film. Hat auch die Musik einen „Körper“, etwa als Form oder Thema aber einen rein musikalischen, so kann sie ihre Deformationskraft zwar direkt auf den Zuschauer, aber nur durch ihn vermittelt auf den filmischen Leib ausüben. Anders das musikalisierte Geräusch. Es kann immanent das filmische Bild deterritorialisieren, kann die „unspürbare Kraft“ der akustischen Kunst als „Gegebenheit“ des Films aufnehmen lassen.621 Im Gegensatz zur Musik, die

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Ebd., S. 31. Ebd. In Analogie zur Beobachtung Deleuzes, dass Cézannes Farbe im Gegensatz zu derjenigen der Impressionisten einen Körper hat. Vgl. ebd., S. 27. Als zentrale Eigenschaft der „Sensation“ gilt für Deleuze der Austausch der Wirkungsbereiche zwischen den Künsten. „Manchmal dagegen scheint die unspürbare

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III. Filmmusik und Subjekt „unseren Körper bis ins Innerste [durchströmt]“622 und die Körper „entkörpert“, sie dadurch auf einer von der Körperlichkeit völlig losgelösten, abstrakten Ebene transformierbar macht, ist das musikalisierte Geräusch stets an einen Körper gebunden, dessen „Deformation“ es vollzieht. Die Transformation der Form kann abstrakt oder dynamisch sein. Die Deformation aber betrifft stets den Körper und ist statisch, sie entsteht an Ort und Stelle, sie ordnet die Bewegung der Kraft unter, aber auch das Abstrakte der Figur.623

Lediglich das musikalisierte Geräusch kann die Idee des „organlosen Körpers“ umsetzen, eines (filmischen) Körpers also, der zwar „Organe“, nämlich eine auf die innere Welt bezogene, quasi-musikalische und eine auf die gegenständliche Welt gerichtete visuelle Funktionseinheit aufweist, diese aber nicht hierarchisch organisiert, sondern „vorübergehend und provisorisch“ den Austausch oder die Vermengung von Organen bzw. von Funktionen innerhalb des Ganzen zulässt. Dem musikalisierten Geräusch als prinzipiell fluidem Ereignis, das nur temporär kinetische und dynamische Energien in stabile Gebilde akkumuliert, ist die Funktion immanent, sich zwischen der visuellen, repräsentativen und der akustisch-musikalischen, subjektiven Welt zu bewegen. Als eine innerhalb des Filmischen keimende Deformationskraft, die sich sowohl der Narration und der objektiven visuellen Struktur, aber auch der inneren musikalischen Welt des Films anschmiegt, kann es im Dienste einer quasi-philosophischen Annäherung an die Wahrheit des jeweiligen Films zu einem tieferen, die hierarchisch in feste Formen und Funktionen organisierte filmische Realität weitgehend auf­ lösenden, elementaren Grundprinzip der Filmkunst werden.



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Kraft einer Kunst eher zu den ,Gegebenheiten‘ einer anderen Kunst zu gehören: wie etwa lassen sich der Klang oder gar der Schrei malen? (Und umgekehrt Farben hörbar machen?).“ Ebd., S. 39. Ebd., S. 37. Ebd., S. 40.

Resümee

Um das komplexe Verhältnis zwischen Bild und Ton in einer Kunstform zu untersuchen und vor einem nicht nur auf der empirischen Beobachtung basierten ästhetisch-philosophischen Hintergrund zu deuten, in einer Kunstform, die, wie der Film, von Anfang an diese intermediale Beziehung zum grundlegenden Faktor seiner ästhetischen Wirkung und Entwicklung erhob, hat sich eine Methode als zweckmäßig erwiesen, die im jeweiligen Medium nach immanent vorhandenen Spuren des anderen Mediums sucht und ihre produktive Leistung in dieser Beziehung herausarbeitet. Ausgehend von der bereits seit den Anfängen des Films erkennbaren Tendenz, ästhetische Merkmale der Musik in das Filmisch-Visuelle zu übernehmen und dadurch eine – in der Kinosituation des Stummfilms genuin vorhandene – lebhaft-spontane, individuell-subjektive Bewusstseinskomponente beim Erleben der objektiven, „fremden“ Schattenwelt des Films einzuführen, wurde auf zwei sog. „Umschlagstellen“ fokussiert, die durch ihre Zwischenstellung im multimedialen Kunstwerk des Tonfilms zwischen dem Visuellen und dem Klanglichen vermitteln. Die Doppelexistenz des Geräusches, sowohl diegetisch als auch nicht-diegetisch zu fungieren, nämlich nicht nur der subjektiven Selbstbestimmung (als subjektiviertes Geräusch), sondern ebenso der visuellen Welt angehörig (durch das diegetische Geräusch) zu sein, zählt wie auch die ästhetische Funktion der visuell-schauspielerischen bzw. musikalischen Geste zu den untersuchten Elementen, die eine aus dem jeweiligen Medium heraus motivierte Verschränkung von Bild und Ton herbeiführen können. Die Doppelstruktur von Geräusch und Geste gab den Anstoß, eine Analogie zwischen der Seinsweise des Tons im Film und dem Leib in seiner konstitutiven Bedeutung für die Wahrnehmungswelt zu ziehen. Ähnlich dem Leib wurde auch dem Ton im Film eine aktive und eine passive Wahrnehmungseigenschaft, eine hörbar machende und hörbare, eine empfindende und empfundene Wirkung zuerkannt, welche den Horizont der Ergänzung und 257

Resümee Näherbestimmung sowohl der eigenen, inneren als auch der visuellen, äußeren Inhalte öffnet. Wird der materialbedingt diskontinuierliche und „verräumlichte“ Charakter des Films mittels des auf diese Weise gedeuteten „leiblichen“ Tons durch ein organisches Moment tendenziell aufgehoben, so wird – das ist die Hauptthese dieser Untersuchung – bei seinem Einsatz das „Lebendige“ der visuellen Bewegung wieder erlebbar, eine als grundlegend erkannte Funktion der akustischen Schicht des filmischen Kunstwerks, die zum Grundprinzip ­einer – frei nach Adorno – „informellen Filmmusik“ erhoben wird. Eng mit der Leibanalogie des Tonlichen im Film verknüpft ist die grundsätzliche, die gesamte Argumentation der vorliegenden Studie prägende Feststellung, wonach eine zentrale Aufgabe des Tons im Film diejenige ist, den sich im Visuellen meistens nur nachzeitig, nämlich als realisierte Handlung, manifestierenden intentionalen Vollzug lebhaft erfahrbar zu machen. Der Ton bringt die intentionalen Akte nicht nur des Zuschauers, sondern auch der an der Filmhandlung direkt oder  – im Sinne eines erzählenden und kommentierenden Subjekts – indirekt beteiligten Personen in ästhetischer Form zur Anschauung. Wird durch den Ton die Motivation bzw. der durch das Handlungsbewusstsein gerechtfertigte intentionale Akt wahrnehmbar, so wird selbst dann, wenn die musikalisch-körperliche Geste in einem flüchtigen, ephemeren Charakter hervortritt, die das aktuelle Ereignis ergänzende Potenzialität von filmischen Vorgängen und Handlungen zum Ausdruck gebracht. Die durch diese Leibstruktur des Tonlichen im Film bedingte „Unfasslichkeit“ des filmischen Tonleibes, seine Eigenschaft, nicht selbständig, sondern erst durch die Auswirkung auf das andere Medium bzw. nur als Prozess seiner Mitkonstituierung mit dem Visuellen erfahrbar zu werden, hat zur eingehenden Erörterung des ästhetischen Konzepts eines Philosophen geführt, der sämtliche scheinbar beständige Existenzformen in Zusammenhang mit Werdeprozessen und gegenseitigen Berührungsmechanismen begreift. Gilles Deleuzes (musikalischer) Hauptbegriff des „Ritornells“ lässt sich durch seine Übertragung auf den ästhetischen Bereich des Filmtons als ein geeignetes Modell für die Analyse der Grundmodi der Existenz des Tons im Film betrachten. Die Theorie des Ritornells definiert konkret zwei Verhaltensweisen des Tons gegenüber dem Visuellen: 1. Ein „territorialisierendes“ Verhalten des filmischen Tons gegenüber dem Bild hat sich darin zu erkennen gegeben, dass er einheitliche „Filmatmosphä258

Resümee ren“, die selbst narrativ oder visuell unabhängige filmische Fragmente in einer konkreten Stimmung verknüpfen, anregt. Die Etablierung logischer Zeitordnungen und linearer Zeithorizonte, etwa durch die Gestaltung dramatischer Spannungsbögen, aber auch durch die Formierung „psychologischer Territorien“, die spezifische Aspekte der Innerlichkeit der Filmsubjekte (einzelner Personen oder eines Kollektivs) hörbar machen, gehören ebenso zur territorialisierenden Wirkung des Tons im Film. 2. Auf der Eigenart des filmischen Bildes beruhend, die aktuelle Erscheinung durch einen Horizont potenzieller Präsenz bzw. durch die Erwartung neuer konkreter oder imaginierter Inhalte zu erweitern, wird das „deterritorialisierende“ Verhalten des Filmtons dadurch bestimmt, dass dieser sich unstimmig zu den aktuellen visuellen Inhalten verhält, somit ausgleichende Modifikationen auf der visuellen Filmebene oder entsprechende Deutungen seitens des Zuschauers motiviert. Hierzu gehören der diegetische Hinweis auf in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegende Ereignisse oder Handlungen, ebenso wie die Kontrapunktierung des Bildes mit gegensätzlichen tonlichen Inhalten oder die Psychologisierung gefühlsneutraler Bilder. Die Einführung theoretischer Grundthesen aus Deleuzes Philosophie und Filmtheorie in den Diskurs über den Ton im Film ermöglicht konkrete Erkenntnisse über den Bild-Ton-Zusammenhang und auch die Perspektive für eine Vertiefung der ästhetischen Grundsatzdiskussion in diesem Bereich. So lassen sich die Auswirkungen der von Deleuze diagnostizierten Tendenz einer Verabsolutierung des Deterritorialisierungsvorgangs im Film auch im Akustischen beobachten. Gehört es nach Deleuze zu den Eigenschaften des modernen Kinos, „serialisierte“ Räume auszubilden, in denen „molekulare“, permanent variierende Beziehungen zwischen gleichberechtigten, abstrahierenden Einheiten den filmischen Verlauf bestimmen, so hat sich dieses Prinzip  – mit konkreten Konsequenzen für das audiovisuelle Verhältnis – auch im verselbständigten, ebenfalls aus elementaren Tonstrukturen bestehenden akustischen „Bild“ bestätigt. Diese mit einer Homogenisierung der Filmkomponenten einhergehende Tendenz zur Molekularisierung auch des Tonaspekts im „modernen“ Film hat dazu geführt, die anfangs vertretene grundsätzliche Unterscheidung zwischen subjektiviertem Ton und objektiver visueller Filmebene erneut auf den Prüfstand zu stellen. Um den Gedanken eines das Bild quasi „subjektivierenden“ Tons stilübergreifend bewerten zu können, wurde vom Gedanken einer durch den Ton rea259

Resümee lisierbaren – phänomenologischen – „Epoché“ bzw. Ausklammerung der vermeintlichen, durch den Film suggerierten „natürlichen“ Einstellung gegenüber der alltäglichen Welt ausgegangen. Untersucht wurde die prinzipielle Aufgabe des Tons, den wahrgenommenen Filmgegenstand in eine Sphäre zu versetzen, in der er nicht unabhängig von den jeweils wirksamen, nachdrücklich durch den Ton sich manifestierenden Bewusstseinsakten der Handlungspersonen oder auch des Zuschauers aufgefasst werden kann. Im Rahmen dieser Betrachtung fand dabei die Auseinandersetzung mit den Hauptkategorien der Deleuze’schen Theorie des Filmbildes (Wahrnehmungsbild  – Aktionsbild  – A­ffektbild – Triebbild – mentales Bild – Zeitbild) statt. Sie verfolgte das Ziel, den Vorgängen der Modifikation bzw. der vermeintlichen Abwertung des subjektiven Moments im Umfeld des „modernen“ Filmtons nachzugehen und Filmtonmerkmale zu skizzieren, die die anfangs dargelegte Vorstellung der „informellen Musik“ auch hier fortführen können. Eingegangen wurde dabei auf die Techniken des Filmtons, die das Potenzial haben, den Formen der sich ankündigenden oder der bereits fortgeschrittenen Entsubjektivierung während der Krise der traditionellen Logik des Filmbildes neue Impulse zu verleihen und den dynamischen Spannungscharakter des filmischen Zeitverlaufs gerade im Hinblick auf die ästhetischen Momente des Übergangs, der Vermittlung und der Ergänzung aufrechtzuerhalten. Die Integration einer „unsichtbaren“ dritten Person, so auch des Zuschauers, in den Filmzusammenhang, die Erweiterung also des filmischen Bildes in einen verallgemeinerten und „geheimnis­vollen“ Bereich des Unbekannten und Realitätsfremden, beispielsweise durch die Filmmusik bei Alfred Hitchcock, die trotz ihrer molekularisierten Struktur und ihrer relativen Unabhängigkeit von der Diegese eine tiefere Schicht der dynamischen Entwicklung der Filmbilder, namentlich das „Begehren“ selbst, in die Wahrnehmungsebene befördert, gehört zu den wichtigen Eigenschaften, die im Rahmen eines von einer Entsubjektivierung seiner Ausdruckselemente „bedrohten“ filmischen Bildes vom Ton ausgehen. Das gilt auch für das zwar näher an der Filmrealität stehende, punktuellstatische und objektive, aber durch den Einsatz der elektronischen Manipulation immanent an der Unbegrifflichkeit des musikalischen Ausdrucks, ebenso am relationell-subjektiven Moment teilhaftig werdende Geräusch. Dadurch, dass das durch die Elektronik musikalisierte Geräusch gerade durch seine elementare, sich präzise dem visuellen Filmbild anpassende Struktur nicht nur zwischen Bild 260

Resümee und Musik vermitteln kann, sondern auch zwischen den zwei Ebenen des Akustischen, nämlich zwischen natürlichem Geräusch und musikalischem Klang, gelingt es ihm, die Forderung nach einer immanent motivierten, dynamischen Ergänzung, die ihm vom notwendig fragmentarischen Charakter des filmischen Gefüges gestellt wird, zu erfüllen. Durch seinen direkten Bezug zum gegenständlichen Bild, das es akustisch ergänzt, bildet es das geeignete Mittel, die filmischen Inhalte nicht nur zu deterritorialisieren, diese nämlich ihrer filmisch suggerierten Realitätserscheinung zu entfremden, sondern ihnen gleichzeitig den lebendig-dynamischen Charakter, den sie durch ihre Distanz zur „echten“ Realität eingebüßt haben, zurückzugeben. Gerade im Falle des musikalisierten, aber eindeutig aus der Diegese entsprungenen Geräusches, wird es für den filmischen Ton möglich, zwischen subjektivem musikalischen Erlebnis und filmischer Objektwelt zu vermitteln, das Subjektive als Objektives rezipierbar zu machen. Wird das objektive, diegetische Geräusch durch seine musikalische Deterritorialisierung quasi „beseelt“, so verkörpert sich dabei die subjektive Erfahrung in den filmischen Gegenständen. Nicht von oben her, nämlich allein von der abstrakten musikalischen Welt determiniert, sondern als unmittelbares Resultat der Erfahrung visueller Filmkörper erhält die akustische Schicht den Anschein von Immanenz, wirkt, als wüchse ihre Synthese mit dem Visuellen aus einem inneren Formprinzip heraus. Unmittelbarer am Filmgeschehen beteiligt, agiert der musikalisierte diegetische Ton als verkörperte Empfindung eines Subjekts, das sich zwar in der Diegese befindet, aber sich auch von ihr entfernen und sich mit dem Zuschauer identifizieren kann. Gerade beim musikalisierten diegetischen Ton verknüpfen sich das fremde und das eigene Empfinden zu einer einzelnen offenen, q­ uasi „polyphonen“ subjektiven Erfahrung, territorialisieren sich zu einem einheitlichen leiblichen Gefüge mit einer synchronen Zeitlichkeit. Durch ein nicht auf ein Ich zentriertes und doch intentional ausgerichtetes Hör-Bewusstsein, dessen Ort in der Objektivität des Bildes liegt und das quasi aus eigener Triebkraft einen Übergang zum Zuschauersubjekt entstehen lässt, realisiert sich durch den Ton ein immanenter, dynamischer Übergang zwischen den verschiedenen Schichten des Films. Es entsteht ein komplexes intermediales filmisches Gefüge, in dem das Visuelle und das Akustische dergestalt kristallisieren, dass Aktuelles und Virtuelles, Subjekt und Objekt, Film und Zuschauer organisch miteinander verwoben werden. 261

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