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German Pages [201] Year 2005
Christoph Lütge/ Torsten L. Meyer (Hg.)
Musik – Technik – Philosophie Fragen und Positionen
ALBER PHILOSOPHIE
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Christoph Ltge/Torsten L. Meyer (Hg.) Musik – Technik – Philosophie
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ber das Buch: Traditionell wurde der Einfluss der Technik auf die Musik eher kritisch gesehen. Die sthetik hat technologische Mglichkeiten vor der zeitgenssischen Moderne weitgehend ausgeblendet oder – so noch in Thomas Manns Dr. Faustus – als Teufelswerk missverstanden. Die in diesem Band versammelten Beitrge von Philosophen, Komponisten und Musikhistorikern stellen sich demgegenber der Herausforderung, wie das Komponieren und seine technischen Mittel im Zeitalter der Technologie neu zu denken sind. Die Herausgeber: Priv.-Doz. Dr. Christoph Ltge, geb. 1969; Studium der Philosophie und Wirtschaftsinformatik in Braunschweig, Paris, Gttingen und Berlin; 1999 Promotion; Forschungsaufenthalte in Pittsburgh, San Diego und Venedig; 2005 Habilitation; wissenschaftlicher Assistent und Privatdozent am Philosophie-Department der LMU Mnchen. Dr. Torsten L. Meyer, geb. 1967 in Hannover; Studium der Philosophie und Germanistik, Psychologie und Pdagogik an der TU Braunschweig; 1999 Promotion. 2003 wissenschaftlicher Leiter der Veranstaltung »Musik – Technik – Philosophie« (Hannover).
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Christoph Ltge/ Torsten L. Meyer (Hg.)
Musik – Technik – Philosophie Fragen und Positionen
Verlag Karl Alber Freiburg / Mnchen https://doi.org/10.5771/9783495997093 .
Die Veranstaltungsreihe und die Verffentlichung wurden gefrdert von der
Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier (surefrei) Printed on acid-free paper Originalausgabe Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/Mnchen 2005 www.verlag-alber.de Einbandgestaltung und Satz: SatzWeise, Fhren Umschlagmotiv: Ausschnitt aus Ines Ltge, Kerze und llicht, Theophilius Productions Vasbhl 2001 Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2005 www.difo-druck.de ISBN 3-495-48157-5
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I)
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Musik und Philosophie
Norbert Bolz
Rausch und Rauschen: ber Musik als Sound-Design . . . . .
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Claus-Artur Scheier
Die Geburt der Musik aus dem Geist der Gebrde oder Was Nietzsche von Wagner gelernt hat . . . . . . . . . . .
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Konrad Paul Liessmann
Die kompositionstechnische Seite des Teufels: Technisierung und Fetischisierung in der Musik . . . . . . . . . . . . . . .
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Christoph Ltge
Das Nothung-Prinzip: Wagners Kompositionstechnik und Philosophie des Neuen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Torsten L. Meyer
Die Transformation der Kunst durch die Technik . . . . . . .
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II) Musik und Technik Hans-Joachim Braun
Komposition und Konstruktion: Zum Verhltnis von musikalischer und technischer Kreativitt in der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 A
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Inhaltsverzeichnis
Konrad Boehmer
Die Industrialisierung des Musikdenkens als sthetisches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Claus-Steffen Mahnkopf
Technik und moderne Musik
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III) Musik und Kompositionstechnik Charlotte Seither
Aufspalten und hineinschauen: Zur Konstruktivitt des Zerlegens im kompositorischen Prozess . . . . . . . . . . . 168 Dieter Schnebel
Techno-logische Probleme zeitgenssischen Komponierens . 184 Liste der Beitragenden Namenregister
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Einleitung der Herausgeber Torsten L. Meyer und Christoph Ltge
Jacques Derrida ist tot. Wie der charismatische Denker ist auch dieser Band nicht auf der Suche nach dem Wahren, Schnen, Guten, sondern auf der Suche nach einem Weg, um die Abwesenheit oder den Verlust des Wahren, Schnen, Guten plausibel zu machen. Derrida ist mit seiner Dekonstruktion der schrfste und folgenreichste Angriff auf die philosophische Tradition gelungen. Die gesamte Tradition fllt mit dem Begriff der Wahrheit. Dies kann auf einen herkmmlichen Kunstbegriff bertragen werden: Ihm zufolge ist es die Aufgabe der Kunst, mit immer neuen Mitteln das Wahre und Gute im (schnen) Schein interpretierbar zu machen. Aber durch den historischen Entzug der Wahrheit in die gegenwrtige Pluralitt aller nur denkbaren Perspektiven ereignet sich ein Paradigmenwechsel: Die Einheit zerfllt in die Differenz und die Wahrheit in die Vielzahl von Perspektiven. Der Kunst fehlt mit der Wahrheit der eigene Einheit stiftende Grund, um sich von anderen kreativen Prsentationsformen fundamental zu unterscheiden. Die technischen und technologischen Mittel haben sich im Zuge dieser Entwicklung die Kunst angeeignet und haben sie umgewandelt, um deren verndertes Substrat zur sthetischen Prsentation ihrer Mglichkeiten und Perspektiven zu nutzen. So wird die imaginre Welt der Kunst zur virtuellen Realitt. Kunst war nie zuvor so real und prsent wie heute. Also rckt die gesellschaftliche Funktion der Kunst ins Zentrum ihrer Selbsterhaltung, ihrer Autogenese. Sie produziert die Mglichkeit der Beobachtung einer nicht beobachtbaren Welt und schafft so im Werk die Einheit einer Differenz von Beobachtbarkeit und Unbeobachtbarkeit unseres gesellschaftlich-technologischen Daseins. Sie zeigt, was technisch mglich, aber so technologisch nicht vorgesehen ist. Die Technik beobachtet sich selbst und unterhlt sich dabei. Darum muss sich die Kunst als Medium im freiheitlichen Tun der reinen Formbildung stndig erneuern. Es werden Formen aus Formen A
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produziert, ohne dass sie als Medium verschlisse. Sie ist damit der Sprache oder den Massenmedien verwandt. Sie selbst ist ein Massenmedium, um Sinn und Information zu produzieren und zu verbreiten. Die Gesellschaft codiert mit ihrer Hilfe die Realitt binr in stimmig/unstimmig. Stellen wir noch einmal die Frage nach dem Verhltnis von Kunst und Technik und steigen wir ein in den vorliegenden Band, der versucht, eben dieses Verhltnis von Kunst und Technik in der Musik zu reflektieren. Der Titel »Musik-Technik-Philosophie« ist somit Programm. Die Impuls gebende Fragestellung hat einen literarischen Hintergrund: Besitzen die technischen Mittel noch zu Recht ihren von der Tradition berlieferten dmonischen Nimbus? Thomas Mann hatte diese Frage im Doktor Faustus thematisiert, und es gehrt zu der ›Modernitt‹ des konservativen Mann, dass die technischen Mittel zum Teufelshandwerk gehren. Die Kunst kommt nicht weiter, ohne ihre Seele – ihr Kapital – zu opfern. Das Kapital der Seele ist aber die Wahrheit der Erkenntnis, die sich am Ende mit Hilfe der Technik und von der Technik belehren lassen muss, dass es viele Wahrheiten gibt. Dieser Band besteht aus drei Teilen: Der erste Teil »Musik und Philosophie« steckt den philosophischen Rahmen ab fr eine sthetik des Komponierens im technologischen Zeitalter. Drei Spannungsverhltnisse werden hier angesprochen: Zum einen der aktuell zu beobachtende bergang von einem traditionellen Musikverstndnis hin zum »Sound-Design« (Norbert Bolz). Zum zweiten das Verhltnis von Thomas Mann und Theodor Adorno, wobei auf die dmonische Seite der Technik fokussiert wird. Zum dritten die musikalisch-philosophische Konzeption Richard Wagners, insbesondere auch das Verhltnis von Wagner zu Nietzsche, das fr die sthetik weiterhin eine grundlegende Kontroverse darstellt. Der zweite Teil ist berschrieben mit »Musik und Technik«. Hier geht es vor allem darum, das Verhltnis von musikalischen und technischen bzw. technologischen Mglichkeiten in historischer und geistesgeschichtlicher Perspektive zu analysieren. Der dritte Abschnitt »Musik und Kompositionstechnik« orientiert sich dagegen eher an der kompositorischen Anwendung. Hier geht es um Mglichkeiten, den Begriff »komponieren« in einer Weise neu zu denken, die den vernderten – insbesondere technischen – 8
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Einleitung der Herausgeber
Rahmenbedingungen des Komponisten heute Rechnung trgt. Dies wird auch am konkreten Musikstck demonstriert. Dieses Buch entstand aus der Veranstaltungsreihe »Musik – Technik – Philosophie«, die vom Mrz bis Mai 2003 im Knstlerhaus Hannover unter der Leitung von Christoph Ltge und Torsten L. Meyer stattfand. Wir bedanken uns fr die Zusammenarbeit bei allen Autoren sowie bei allen Komponisten, deren Werke den Rahmen fr die Vortrge abgaben. Fr die institutionelle Kooperation danken wir dem Literaturbro Hannover und seiner Leiterin, Frau Kathrin Dittmer, dem Theatermuseum Hannover und seinem Leiter, Herrn Dr. Carsten Niemann, dem Buddenbrookhaus Lbeck, der Staatsoper Hannover, der Ludwig-Maximilians-Universitt Mnchen sowie dem Niederschsischen Figuralchor und seinem Leiter, Herrn Prof. Jrg Straube. Ganz besonderer Dank gilt jedoch der Stiftung Niedersachsen, die mit ihrer großzgigen Untersttzung die Realisierung dieser Veranstaltungsreihe erst ermglichte.
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I) Musik und Philosophie
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Rausch und Rauschen: ber Musik als Sound-Design Norbert Bolz
There’s someone in my head but it’s not me.
Aus der Zeit seiner tiefsten Wagner-Verehrung stammt Nietzsches Satz: »Man knnte uns nicht mehr Unrecht thun, als wenn man annhme, es sei uns um die Kunst allein zu thun.« Der ursprngliche Gedanke Bayreuths meint also weder L’art pour L’art noch sthetisierung der Welt – die entscheidende Wertfrage lautet vielmehr: Ist Kunst Narkotikum oder Stimulans des Lebens? Dass der spte Nietzsche dann Wagner zu den Narkotika rechnen wird, ndert nichts an der ursprnglichen Fragestellung; es ist nur ein Stck Gtzendmmerung. Was bleibt, ist »die Thatsache von Bayreuth«, d. h. der Institution gewordene Einspruch gegen die »Theater-Einrichtungen« der Moderne; die Forderung nach »Kunst-Thaten« statt sthetischer Betubung; und statt Gelehrsamkeit, Kritik und Zerstreuungssucht ein – mit Marshall McLuhans Worten: »all-involving sensory mandate«. Wagners Gesamtkunstwerk ist die erste technische Implementierung des in Traum und Rausch medienproduzierenden Krpers. Seither gelingt die Entfesselung der sthetischen Krfte nur dem, der sich von den neuen Medien konsumieren lsst. Sie sind Extensionen des von seiner Individualitt befreiten Menschen, der sich nicht mehr fr den Regisseur des Weltspiels hlt. Noch einmal Nietzsche: »Die Musik hat uns wieder den Mythus geboren: damit ist der Geist der Wissenschaft unterlegen. In allen Knsten sind wir die Kritiker: hier in der Musik sind wir noch volle lebendige Menschen.«: Das Leben lebt also nur noch in der Musik und nicht mehr im Leben. Fr Nietzsche ist die »unsgliche Buntheit« der kaleidoskopischen Moderne ein plumper Augentrug fr den oberflchlichen Blick; im Grunde sei die ganze »Schauwelt« der Gutenberg-Galaxis unsglich arm. Ihr tritt mit Wagner das Medium einer »vollkommenen Hrwelt« gegenber. Dionysische Musik ist 12
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Rausch und Rauschen
die Kraft einer vom Augensinn unabhngigen Weltbildung. Die Musikpsychologie hat nmlich zeigen knnen, dass »die Raumeindrcke der Musik […] den energetischen Vorgngen zugehrig und autogen« sind; der »Raum der inneren Gehrswelt« (Kurth) bildet sich also ohne optische und vorstellungsmßige Vermittlung. Wagners Meisterstcke seien Stckwerk, »oft nur Einen Takt lang«: musikalische Sonden ins »Mikroskopische der Seele«; musikalische Schpfungen aus Nichts, jenseits der Kausalitt, als Augenblicke »allerkrzesten Geniessens«. Diesen feinen Beobachtungen Nietzsches fehlt allerdings eine stereoskopische Optik, die es ihm erlauben wrde, die genaue Komplementaritt von Wagners raffinierter Detailarbeit mit den mythischen Großstrukturen des Musikdramas zu erkennen. Gerade der »Mosaik-Effekt« macht die Montage der Großformen mglich. Wagners Schritt heraus aus der Optik der Gutenberg-Galaxis war fr Nietzsche noch ein Augenschmerz des Hrens. Sehr richtig bemerkt er beim Zuschauer des Gesamtkunstwerks die »Unruhe des Auges«, dem das Tableau der Musik »nicht erlaubt, auf Einem Platz zu bleiben«. Doch was Nietzsche hier als ein »Nichtfesthalten-Knnen einer bestimmten Optik« erscheint, ist nur Ausdruck der Tatsache, dass Wagners sthetische Praxis den Raum der Perspektive, Reprsentation und dialektischen Synthesis verlassen hat. An die Stelle der Perspektive tritt eine stndig andere Einstellung des Auges und Ohrs, an die Stelle der Reprsentation die Emergenz der Medien und an die Stelle der Synthese der Mosaik-Effekt. Die Intensittsdimension des Klangs heißt Farbe. Und deren technischer Perfektionierung ist das Klangvolumen direkt proportional. Damit man, statt nur ußerlich beschallt zu werden, »durchs Tor des Klanges ins Innere der Musik« eintreten kann, muss der Klang grßer als der Hrende sein. Fr Adorno schien das durch »die Hrbedingungen im privaten Zimmer« ausgeschlossen. Doch inzwischen hat uns Hi fi, die technische Implementierung der menschlichen Hrgrenzen in der musikalischen Reproduktion, eine taktile Implosion des Hrens beschert. Dass »Farbe selbst zur Aktion« werde – dieser Orakelspruch Wagners ist zur Maxime des massenmedialen Klangzaubers geworden. Jeder hat jetzt die Medientechniken zu Hause, die ihn durch full frequency range reproduction ins Herz des Sounds versetzen und die Instrumente klingen lassen, als ob sie mit Hnden zu greifen wren. Seither ist jeder Klangraum simulierbar. Und die taktile Eroberung des Klangfarbenraumes schreitet weiter fort. A
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Norbert Bolz
Lngst verfgen auch Pop-Gruppen ber Synthesizer, die es ermglichen, »beliebige Ereignisse, Tracks und Schichten innerhalb der Klangmasse in beliebige und nach allen drei Raumdimensionen variable Positionen zum Hrerohr zu bringen« (Kittler). Ich komme gleich darauf zurck. In seinem Essay ber das Ich und das Es hat Freud seine Leser mit einer eigentmlichen Zeichnung konfrontiert, die eine primitive Topologie der psychischen Instanzen bietet. Besonders rtselhaft scheint zunchst, dass dem Ich eine ›Hrkappe schief aufsitzt‹. Nun ist in der Tat das Ohr von allen Sinnen der fr die Bildung des Unbewussten wichtigste; von Geburt an konstituieren sich Menschenwesen als besprochenes und gesprochenes Sein. Jacques Lacan hat das in der schnen Formel resmiert, dass das Ohr das einzige Organ auf dem Feld des Unbewussten ist, das man nicht schließen kann. Unentwegt operiert das Ohr als frequenzbandbeschneidender Empfnger im Lrm der Welt; das ist der harte Kern des Chaos-Vernehmens. »Das Gehr«, so Michel Serres, »ist unsere heroische ffnung auf Unordnung und Konfusion.« Nicht zufllig also bonisiert Adorno das sthetische Chaos auf dem Feld der Musik. Und nicht zufllig berzeugt eben dort erstmals die Einfhrung des Geruschs in die Kunst – bei den Bruitisten. So beschreibt Hugo Ball 1916 ein dadaistisches Simultangedicht als »kontrapunktliches Rezitativ, in dem drei oder mehrere Stimmen gleichzeitig sprechen, singen, pfeifen« – d. h. als katastrophische Begegnungen zwischen vox humana und random noise. Dabei steht die dem Lrm hoffnungslos unterlegene Menschenstimme fr die moderne Seele auf ihrer mechanistischen Odyssee durchs weiße Rauschen, den »unentrinnbaren Geruschablauf«: »Die Gerusche stellen den Hintergrund dar; das Unartikulierte, Fatale, Bestimmende.« Erste und zweite Natur, das Drhnen der Maschinen, das Rauschen der Kanle und die Laute von Vgeln oder Bchen, erscheinen nur noch als ein bedeutungsferner Hintergrund von random noise und weißem Rauschen in stochastischer Streuung; vor ihm setzt dann, willkrlich, Artikulation als Selektion ein. Und natrlich lsst sich die dadaistisch inszenierte Drohung, dass die Stimme im fatalen Rauschen untergeht, auch umkehren: Wer artikulieren und darstellen will, nutzt Gerusche als Inspirationsquelle – das Volksfest inspiriert die Polyphonie (Mahler); das Es-Dur-Rauschen des Rheingold-Vorspiels trgt den ›Tod des Vergil‹ (Broch); die Gerusche von 14
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Rausch und Rauschen
Glocken und unbekannten Vogelstimmen werden zu »Mitschuldigen der Begeisterung« (Rilke). Am Anfang war nicht das Wort, sondern das Chaos des Unartikulierten. In ihm stellen Medien lose und Informationen dichtere Koppelungen her. Beide, Medien wie Informationen, funktionieren eben nur vor dem Hintergrund von random noise in stochastischer Streuung. Dem versucht die knstlerische Avantgarde gerecht zu werden, indem sie sthetische Artikulation mit Hilfe stochastischer Techniken am Rand von Kommunikation berhaupt inszeniert. So komponiert etwa Xenakis, gesttzt auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen, mit der Komplexitt statistischer Klanghufungen – random noise wird ›Gegenstand‹ der Mimesis. In dieser Perspektive erscheint dann Stil als Inbegriff statistischer Regelmßigkeiten. Umgekehrt operiert John Cage in der Unbestimmtheit zufallsgenerierter parasitrer Gerusche, und zwar so, dass nicht mehr Signale durch Selektion vor dem Hintergrund von Rauschen aufsteigen, sondern dass sich die Unterscheidung zwischen Gestalt und Grund oder zwischen Signal und Gerusch verwischt. Neue Musik verfhrt demnach als offenes System, das das akustische Chaos nicht ausgrenzt, sondern rezipiert. Sie gehorcht dem order from noise principle Heinz von Foersters, das deutlich macht, wie selbst-organisierende Systeme sich von Strungen ernhren: Einverleibung des Chaos. Vom sthetischen Chaosmos eines avantgardistischen Werks lsst sich eben wie von einem selbst-organisierenden System des Lebendigen sagen, dass ihm keine Ordnung, sondern »lediglich billige ungerichtete Energie« zugegeben wurde. Dabei wurden aber, so Foerster, »nur jene Strelemente ausgewhlt, die zur Vergrßerung der Ordnung des Systems beitrugen.« Order from noise, die Speisung des Systems durch Chaotisches, und die Umkehrung dieses Prinzips: die Entstehung von Rauschen aus kollabierenden Ordnungen – das gengt, um die sthetik der Postmoderne zu konstruieren. John Cage lernte von Robert Moogs Synthesizer, dass die Tne nicht den Menschen gehren. Die frequenzfiltergesteuerte Klangsynthese des Synthesizers entfernt sich von der Tonwelt des artikulierten Menschen und nhert sich einer pharmacology of acoustic dirt. Erst die Elektronik ermglicht die musikalische Eroberung des Geruschs, das sich vom Klang physikalisch ja nicht prinzipiell unterscheidet. Stockhausen hat gezeigt, dass Komposition heute heißt, Gerusche als Bewegungs- und Geschwindigkeitsvektoren zu kalkulieren. Ob in der Musique concrte oder A Saucerful of Secrets – man A
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Norbert Bolz
musiziert mit Tierstimmen und Motorengeruschen, Schreien und Flstern. Belcanto und dirty voice, artikulierte Stimme und noise sind seither als manipulierbare Klangmaterialien musikalisch gleich mglich. Und von nun an machen die großen musikalischen Ereignisse – E wie U – die Geburt der Melodie aus dem Rauschen und den parasitren Lrm inmitten des menschlich Artikulierten hrbar. R. F. Voss hat Werke von Bach, Beatles und Beethoven verglichen und dabei festgestellt, dass die durchs Quadrat ihrer Amplitude gemessene Strke der Tonsignale genauso wie ihre durch die Intensitt der Nulldurchgnge ausgedrckte Frequenz gleichmßig ein skaleninvariantes Rauschen darstellen. Die Skaleninvarianz wird durch Spektralzerlegung getestet. Doch nicht nur stellen die Tonsignal-Maße von Beethoven und Beatles ein selbsthnliches, skaleninvariantes Rauschen dar. Auch umgekehrt zeigt sich, dass sich zufllige Musik, musikhnliche Gerusche dadurch erzeugen lassen, dass man die Emergenz von physikalischen Rauschquellen dem skaleninvarianten Rauschen nhert. Fr Mandelbrots fraktale Geometrie liegt der Zusammenhang auf der Hand: Musikkompositionen zerfallen »in verschiedene Rhythmen, die durch unterschiedliches Tempo und/oder unterschiedliche Lautstrke charakterisiert sind. Die Rhythmen sind in der gleichen Weise zerlegbar.« Das Ergebnis dieser Analysen zeigt bis aufs Niveau einer Einzelnote herunter Skaleninvarianz. So lsst die Spektralanalyse des Rauschens heute mit Hnden greifen, was Leibniz noch metaphysisch beschwren musste: den Nachweis der Schnheit des Universums am Besonderen. Und schon Leibniz versicherte sich dieser Schnheit des skaleninvarianten Universums am akustischen Chaos, nmlich dem Spiel der Meereswellen. Heute kann man unterscheiden: Emergenz fraktaler Musik aus Strukturen der Selbsthnlichkeit und Skaleninvarianz im Chaos des Rauschens. Leibniz hatte ja seine Depotenzierung des Chaos zu perspektivischem Schein dadurch begrndet, dass komplexe Ordnungen nicht einheitlich konstruiert sein knnen, sondern Irregulres als Inzitament hherer Harmonie einarbeiten – und dafr gab er das musikalische Beispiel der in Konsonanzen harmonisch eingelassenen Dissonanz; man hrt sie dann immer schon auf ihre Auflsung hin. Hier hat Wagner dann eine entscheidende Komplizierung angebracht: Das musikalisch Chaotische bleibt unaufgelst – genauer: die Auflsung der Dissonanz wird unendlich verschoben. Adorno ist die Einsicht zu verdanken, dass die Wagnersche Emanzipation der 16
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Rausch und Rauschen
Dissonanz von ihrer Auflsung nicht nur auf absolute Klangeffekte zielt, sondern eben durch jene unendliche Verschiebung harmonisch stufenbildend wirkt. Wagners Dissonanz ist eine diffrance im Sinne Derridas, die den neuen Raum aktiver Klangfarben erffnet. In diesem Raum – von der Tristanchromatik bis zum Computersoundtrack – haben souverne Subjekte und sinnstiftende Sequenzierungen ausgespielt. Doch Wagner tut das nicht nur, sondern er stellt zugleich auch dar, was er tut. Im Ring der Nibelungen bernimmt Musik das volle Pensum des Mythos. Sie erzhlt vom Ursprung aller Dinge und vom allgemeinen Untergang noch der hchsten Wesen. Denn auch die Gtter mssen sterben. »Ihr Tod ist der Rckzug in das Chaos, heißt es schon bei Schelling; demnach wird das Chaos ebenso das Ende der Gtter, wie es bei Hesiodos ihr Anfang war.« Das wird im Ring nicht nur dramatisch sichtbar, sondern auch musikalisch palpabel. Wagner macht großformatig hrbar, was dann Alban Bergs Prludium der Orchesterstcke op.6 auf eine knappe, nmlich fnfeinhalbmintige Formel bringen wird: Emergenz und Zerfall von Musik aus und in bloßes Gerusch. Das Rheingold beginnt als ein Chaos, aus dem eine Welt entsteht: »In der Tiefe des Rheines/ Grnliche Dmmerung«, wogendes Gewsser ber nchtlichem Grund – »der ganze Boden ist in ein wildes Zackengewirr zerspalten«. Dazu wird eine akustische Halluzination von stark fließendem Wasser, die Wagner einer Indigestion von italienischem Eis verdanken will, als Es-Dur-Rauschen auskomponiert. So prozediert das Gesamtkunstwerk als Chaos, das sich selbst durchdringt. Das Vorspiel des Rheingold inszeniert die Geburt der Welt aus dem Sound des Es-Dur-Dreiklangs; die Gtterdmmerung schließt mit einer Entfilterung artikulierter Tne im Rauschen. Dabei geht es nicht mehr um musikalische Logik, sondern um Klangphysik. Diese Rckkehr ins Rauschen erschließt allererst das Klangfarbenspektrum als Medium der Selbstdurchdringung des akustischen Chaos. Der Ring der Nibelungen ist – und deshalb hat Lvi-Strauss Wagner immer wieder als Vater der strukturalen Analyse geehrt – ein Mythos des Mythos. Die mythische Rede ist ja eine Erzhlkette, die Varianten und Generationen durchluft, ohne je eine dialogische oder Meta-Kommunikation zu erffnen; ihre Melodie ist unendlich. Das ist keine Metapher. Alle strukturalistischen Analysen des Mythos bekunden nmlich dessen Affinitt zur Musik. »Als Mythos, der A
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in Tnen statt in Worten codiert ist, liefert das musikalische Werk ein Entzifferungsraster, eine Matrix von Beziehungen, welche die erlebte Erfahrung filtert und organisiert, an ihre Stelle tritt« – genauer als mit diesen Worten von Lvi-Strauss lsst sich die Funktion der Wagnerschen Leitmotivik nicht beschreiben. Das leitmotivisch organisierte Material unterliegt strukturalen Transformationen, die auch das mythische Sprechen formiert haben. Gerade deshalb aber zielt das musikalische Leitmotiv nicht auf ein strukturales, sondern ein zerstreutes, assoziatives Hren. Die bei Berlioz noch aus dem Opiumrausch geborene ide fixe bersetzt Wagner ins technisch Palpable: Das Leitmotiv ist die handhabbare Obsession, das sthetische Rauschmittel par excellence. Die sthetische Form ffnet sich dem Rauschen des Realen. Das wird sinnlich eindringlich auf der Schwelle zwischen Expressionismus und der neuen Musik der zweiten Wiener Schule – etwa im Finale der Ersten Symphonie Mahlers und im ersten Satz der Dritten, sowie im Prludium von Alban Bergs Orchesterstcken op. 6. Diese Momente interpretatorisch herausgearbeitet zu haben, gehrt zu den grßten Verdiensten der ›Musikalischen Monographien‹ Theodor Adornos. Biographisch bezeugt ist, dass Mahler selbst die scheinbare Kakophonie des Volksfests als kindheitliches Urphnomen seiner Polyphonie verstanden hat: die rhythmisch und melodisch disparaten Themen von Militrmarsch und Gesangverein, der Lrm der Buden und das random noise der sog. Naturlaute. So erklingt Mahlers polyphonische Musik als geordnetes Echo des Weltlrms. Dabei bewirkt v. a. die Integration von Banalitten chaotische Klangeffekte. Im Grenzgebiet zwischen Gerusch und Ton kommt es durch eine przise Koordination von Chaotik zu Emergenzen von Ordnung. Die Kakophonie des Volksfests als Urszene der Polyphonie – das ist das eine: Emergenz symphonischer Ordnung aus dem Weltlrm. In exakter Entsprechung dazu deutet Adorno Alban Bergs Werk als Gestaltungsreichtum im Dienste des Gestaltlosen, als Ausdruck einer Formgewalt, die als Entformung voranschreitet. Bergs Komplexittslust wird von konstruktiver Disziplin balanciert – und das heißt umgekehrt: Sein Werk organisiert sich als Artikulation von Chaos. Bergs Techniken der Kombinatorik und Superposition stehen im Dienst einer »Selbsterhaltung von Anarchie« – in dieser sich weit vorwagenden Formel visiert Adorno nicht weniger als die kritische Ret18
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Rausch und Rauschen
tung des Expressionismus. »Das organisierende, rationale Prinzip tilgt nicht das Chaos, sondern steigert es womglich kraft seiner eigenen Artikulation.« In seiner Interpretation des ersten Satzes der Dritten Symphonie Mahlers zieht Adorno dann alle Register der negativen Dialektik, um die musikalische Rezeption des Chaos zu entparadoxieren. Wie stets bedient er sich auch hier des Interpretationsformulars der Verschrnktheit von Fortschritt und Regression – etwa dass der dissonante Akkord als Zuwachs an musikalischer Differenziertheit zugleich doch vorzivilisatorisch ›falsch‹ geklungen habe und die ursprngliche Atonalitt als Emanzipation von musikalischer Konvention zugleich als barbarisch erfahren worden sei. So sei der erste Satz der Dritten »vorweltlich« proportioniert, in seiner Rhythmik oft »auftrumpfend barbarisch«, in seinen technischen Effekten einem »antizivilisatorischen berfall« gleich. Dieser Rcksturz ins Ungeheure besagt aber positiv: Musik ›berflutet‹ die Kontrollinstanzen; das musikalische Subjekt wird, seiner kompositorischen Eingriffe »berdrssig«, »ausradiert« von einer ›panischen‹ Klangflle aus Irregularitt, Banalitt, Zufall und Natur. Dass dabei keine verwirrte Darstellung des Verwirrten resultiert, verdankt sich gerade der »Komplizitt mit dem Chaos«. Mahlers Chaos-Vernehmen – man denke an die Kakophonie des Volksfests – stiftet eine Form der »Organisiertheit des Desorganisierten«. Doch all dies ist noch musikalische Komposition und noch nicht Sound-Design. Erst Moholy-Nagys Medienexperimente bahnen dann auch technisch den Weg von Wagner zu Techno. Es geht ihm nmlich vor allem um Medientranspositionen zwischen Graphismus, Ton und Film. Im Anschluss an die Bruitisten und Mondrians berlegungen zur neuen Gestaltung in der Musik befreit er die Tne aus ihrer Disjunktion zum Gerusch, indem er das Grammophon aus seiner dienenden Rolle als Reproduktionsinstrument emanzipiert. Akustische Gestaltung vollzieht sich nun als Einschreibung von »Ritzschriftreihen« – das ist das universale Instrument, mit dem alle akustischen Phnomene produziert werden knnen. Die Entbelung des Rauschens, die Verwandlung der Komposition in Klangregie; die Entzauberung der Musik zur Geruschkunst (Luigi Russolo); der im Jazz erstmals flagrant gewordene Zerfall kausaler musikalischer Großstrukturen in Rhythmus, Statistik und Zeitreihe – das sind die spezifisch modernen sthetischen GrunderfahA
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rungen jenseits des schnen Scheins. Rhythmus ordnet die Zeit, erstellt ein Schema, dessen Teile zeitlich ausgebreitet sind. Und seit Norbert Wiener nennt man das Maß der Regelmßigkeit dieses Schematyps, also der Zeitreihe, Information. Der Popmusik ist das eine Selbstverstndlichkeit. Hier fhrt eine klar erkennbare Linie vom Futurismus ber Fluxus zum Happening, in dem sich dann ›Geruschknstler‹ bei ihrem Eigennamen rufen – etwa: ›Einstrzende Neubauten‹. An die Stelle musikalischer Komposition tritt die Organisation von Sound: »Wherever we are, what we hear is mostly noise. When we ignore it, it disturbs us. When we listen to it, we find it fascinating.« (John Cage) Wenn ein ethnologisch gebildeter Vertreter des Marketing die Pop-Szene nchtern beobachtet, kann er folgendes Bild gewinnen: Der Rave ist ein kultisches, neuheidnisches Fest, bei dem sich Menschen lustvoll von der Musikmaschine konsumieren lassen. Hier nehmen Exzess und Ekstase Warencharakter an – man kann sie kaufen. Halten wir also hier schon einmal fest: Feste, Raves sind heidnisch; Exzess und Ekstase sind kuflich. Das ist ein Extremfall des Emotional Design, das den Markt der Zukunft beherrschen wird: Gestaltet wird die Ware »Erlebnis«. Vermarktet werden Gefhle, Erregungen. Ein sthetisch gebildeter Medienwissenschaftler wrde von dieser Szene etwa folgendes Bild gewinnen: Techno ist Ganzkrpermusik; man hrt weniger mit den Ohren als mit dem Zwerchfell – bis zu 180 Bass-Schlge pro Minute kommandieren den Krper. Let the beat control you – like I told you, heißt es im Lied. Das noch Musik zu nennen, ist ein Euphemismus. Sehr viel mehr als Musik ist Techno ein Spiel mit dem Hintergrundrauschen der neuen Multimediawelt. Oder um es mit den Worten des FAZ-Autors Hubert Spiegel zu sagen: Techno ist »das Rauschen der Datenautobahn«. Im Klartext heißt das: Techno ist eigentlich keine Musik, sondern CADSound, computergesttztes Sound-Design. Auch der Gegentrend dazu hat sich bereits klar formiert: »Unplugged« – die Naturromantik einer Menschenmusik ohne elektronischen Zauber. Rein technisch betrachtet – und das fordert ja schon der Name – operiert Techno als Sampling und Recycling. Das ist schnell erklrt. Man bedient sich freizgig der gespeicherten, archivierten Klnge. Jedes auf Tontrgern gespeicherte Ereignis der Musikgeschichte hat die Chance, fr Sekunden in einem Techno-Track wiederzukehren. Der Sampler ist ein Computer, der Musik in einen frei variierbaren 20
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Datenstrom verwandelt. So entsteht autorenlose No-Copyright-Musik. Jetzt gehren die Tne tatschlich – wie John Cage schon vor Jahrzehnten voraussagte – nicht mehr den Menschen. Ruhm in der Popkultur besteht darin, zitiert zu werden. Das wenige an Techno, das nicht mit Samplern produziert wird, stammt von Synthesizern, Plattenspielern und DJs – ja der Diskjockey, der den Musiker ersetzt hat, ist selbst nichts anderes als ein Techno-Instrument unter anderen. Viel wichtiger sind SamplingCDs, die alle wichtigen Techno-Effekte anbieten; hier wird der Sound als solcher vermarktet. Was zarte Ohren an Techno erschreckt, ist eigentlich nicht die Lautstrke. Man kann das Verstrende und Faszinierende an Techno vielleicht am besten durch eine Liste von Fehlanzeigen beschreiben: – nichts klingt natrlich; – der Gesang fehlt fast vllig; – es gibt kein Solo, keine Melodie, keinen Akkord; – der Rauschabstand wird ignoriert. Hinzu kommen die extrem tiefen, extrem schnellen Bsse. Techno-Musiker knnen meistens keine Noten lesen, aber eben mit dem Sampler umgehen. Um es auf eine einfache Formel zu bringen: Techno ist die Emanzipation der Musik vom Musiker. An die Stelle des Komponisten tritt der Permutationsknstler an seinem Klangcomputer. Richard James bemerkt trocken: »Ein Track ist beendet, wenn die Maschinen abgeschaltet werden.« Techno zeigt, wie unter neuen Medienbedingungen das Kunstwerk zum Stckwerk zerfllt und im Netzwerk aufgehoben wird. Nach dem Untergang der Religionen und Ideologien ist Pop der letzte Integrationsfaktor der westlichen Gesellschaften. Meine These lautet deshalb: Popmusik ist die unwiderstehliche Glaubenspropaganda der westlichen Zivilisation. Sie bndelt die Energien des Kults und des Marktes. Mit anderen Worten: Pop-Musik ist die reine Kultreligion des Konsumenten. Dafr gibt es ganz handfeste Belege. Seit Elvis gibt es Pop-Stars als religise Ikonen – Stephen King hat das in seinem Roman ›Needful Things‹ wunderschn deutlich gemacht. Und auch die kritische Subkultur wird religis bedient: von Jimi Hendrix bis Kurt Cobain erstreckt sich die Reihe der Pop-Stars als Mrtyrer des Kommerz. Die Fans pilgern zu den Weihesttten des Pop – heißen sie nun Graceland oder Neverland. Und seit Woodstock werden Open-Air-Konzerte als Kultveranstaltungen inszeniert. NieA
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mand hat das genauer durchschaut als Bono: »As religion has disappeared from our culture in any real sense, in any feeling sense, music is one of the only mystical acts. Transcendence is what everybody, in the end, is on their knees for, running at speed toward, scratching at, kicking at. That’s why music is, for me, important.« Zu Deutsch: Da die Religion vom Schauplatz unserer Kultur im Grunde verschwunden ist, ist Musik eine der letzten mystischen Handlungen. Und am Ende ist es ja nichts anderes als die Transzendenz, wonach alle wie wahnsinnig streben. Wir knnen berall in der westlichen Welt feststellen: Das religise Bedrfnis wchst – aber es lsst sich nicht mehr christlich befriedigen. Pop bernimmt also exakt die Funktionsstelle der Religion, die uns in ihrer berlieferten Gestalt unertrglich geworden ist – und sei es auch nur: unertrglich langweilig. Musik ist religise Empfindung ohne begrifflichen Inhalt – sie erspart uns den dogmatischen Unsinn. Das ist an Wagners Gesamtkunstwerk erstmals deutlich geworden: Moderne Musik als »Glaube ohne Worte«, wie Nietzsche kritisch und zutreffend bemerkte. Und auch der Pop-Fan kann heute mystisch empfinden, ohne etwas Konkretes zu glauben. Es kommt zu einem Bndnis von Mystik und Technik. Und damit sind wir wieder bei Techno: Techno, wie der Name schon sagt, ist die Musik gewordene Liebe zur Technologie. Interessant daran ist, dass sich hier eine Fusion von Technik, Sinnlichkeit und Spiritualitt ankndigt. Das hat nichts Akademisches: Techno ist die Synthese von High Tech und Kindlichkeit; man muss nur auf die großen Chiffren und planetarischen Symbole schauen, mit denen sich die Techno-Szene schmckt – das ist kindlich. Kindlichkeit und High Tech scheinen heute die Knigswege zur Transzendenz zu sein. Von Wagners Gesamtkunstwerk bis zum Techno-Rave geht es um ein Zusammenspiel von Mythos und Musik. Der Mythos ist ein begriffsloses Denken bzw. ein symbolisches Repertoire, das von der Musik interpretiert wird. Ob es sich dabei um nordische Sagen, neurotische Individualmythen oder kosmische Symbole handelt ist fast gleichgltig. Entscheidend ist die Synergie von Sound und Mythos. Und heute machen Multimedia-Maschinen aus Nietzsches philosophischer Erwartung »sprhender Bilderfunken« technische Wirklichkeit. Es geht um eine Einheit von Pop und starken Bildern; um die Lrm-Geburt dessen, was eine Fuji-Reklame »Unlimited Vision« nennt. Und so knnte die krzeste Definition des postmodernen Gesamtkunstwerks lauten: Vision aus dem Sound. 22
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Simon Reynolds hat im Melody Maker die schne Formel geprgt: »Counterculture has become over-the-counter-culture« – die Gegenkultur ist zum Verkaufsschlager geworden. Wir beginnen heute zu begreifen, dass die Innovationen auf diesem Markt schon immer aus einer Entbelung des Subversiven entstanden sind. Designer-Grunge ist dafr nur das spektakulrste Beispiel – Geschmacklosigkeit und Armseligkeit als letzter Schrei der Haute Couture. Durch die Entbelung der Ghettos entstehen neue Nischen-Mrkte – seien es nun unterdrckte Rassen oder verdrngte Triebe. Pop ist also die Kraft, mit der unsere Kultur ihr eigenes Gegenteil bergreift. Klassiker der Gegenkultur – das ist eine Paradoxie, die fr die Pop-Szene schon immer charakteristisch war. Man weiß heute, dass Punk eine grandiose Marketingidee von Malcolm McLaren war. Und die Sex Pistols standen deshalb auch ganz zurecht im CD-Tower des Jungmanagers. Das Schema ist deutlich: Der Außenseiter wird zum Pop-Idol – wie z. B. Eddie Vedder von Pearl Jam. Und fr die Alternativen der Independent Labels gilt eben dasselbe, was fr die Alternativen in der Politik gilt: Sie sind Fermente in der Evolution des Massengeschmacks. Der Mainstream wird gerade von denen bestimmt, die anders sein wollen als der Mainstream. Wir haben es seit der Studentenbewegung mit einer Art Konformismus des Andersseins zu tun. Die Subkultur wird zum Markenartikel, der Rebell zum Fernsehstar, die alternative Szene wird zum Motor der Unterhaltungsindustrie. »No more surf music«, forderte Jimi Hendrix einmal intransigent. Doch er war damals schon der klassische Videoclip, als der er heute im Archiv von MTV angeklickt werden kann. Und auch den Weg zur heutigen Computerkultur haben die Artisten des Rauschens geebnet. Als ich geboren wurde, experimentierte Karlheinz Stockhausen mit einem Sinusgenerator – damit beginnt die Urgeschichte von Techno. Doch whrend Stockhausen und dann Boulez mit ihren unmenschlichen Klangspektren noch in der Esoterik von WDR-Nachtstudios verharrten, eroberte der Computer fnfzehn Jahre spter schon die Popular Music. Und rckblickend erscheint es von großer symbolischer Kraft, dass neben dem Lrm der Demonstrationen noch ein so ganz und gar anderer Ton die Zeit ansagte – er kam aus Pink Floyds Musik-Computer. Die dritte Etappe markiert natrlich Kraftwerk: der Ingenieur als Musiker. Von hier ist dann der Schritt zu den Raves ganz klein. Der kreative Prozess beginnt heute nicht mit der Idee eines Werkes, das man dann realisiert, sondern mit einer generativen Methode, A
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deren Spielraum man erforscht. Das zeigt die fraktale Geometrie besonders eindrucksvoll: Man beginnt mit einem einfachen Schleifenprogramm und beobachtet, was geschieht, wenn man die Parameter verndert. Das steckt hinter den Abkrzungen CAD und CAM: Gestaltung und Produktion werden von Rechnern »gesttzt«. Die computergesttzte Einbildungskraft verfhrt also nach Techniken prozeduraler Variation. Abraham A. Moles definiert: »Die Maschine erforscht systematisch ein Mglichkeitsfeld, das durch einen Algorithmus definiert ist.« Der Computer schpft die Kombinationsvielfalt aus und versetzt so den Artisten erstmals in die Lage, sich der Komplexitt selbst gewachsen zu zeigen; seine sthetische »Subjektivitt« reduziert sich auf Wahlakte angesichts der permutationellen Variationen eines Algorithmus. So fhrt uns die digitale sthetik am Ariadnefaden des Mglichkeitssinns in ein Jenseits von Zeichenbedeutung, Sinn und Gegenstand. Doch dieser Ariadnefaden fhrt nicht aus dem Labyrinth des Mglichen heraus, sondern immer tiefer in die Welt des Kombinatorischen, Multiplen und der permutationellen Ereignisse hinein. Man wird vielleicht, wie schon so oft im 20. Jahrhundert, fragen: Ist das noch Kunst? Wenn es eine mit ihrer Zeit wirklich Schritt haltende Kunst des 21. Jahrhunderts geben sollte, wird sie auf Software – und das heißt: auf Algorithmen – basieren. Denn heute verwirklicht sich in aller Buntheit, was die deutsche Romantik noch als farblose Wirklichkeit verabschieden wollte: Zahlen und Figuren sind Schlssel aller Kreaturen. Bei Novalis heißt es einmal: »Eine sinnlich wahrnehmbare, zur Maschine gewordene Einbildungskraft ist die Welt.« Der Satz bekommt unter Computerbedingungen einen neuen, guten Sinn. Und von der computergesttzten Phantasie knnen wir tatschlich behaupten: »Die Einbildungskraft ist der wunderbare Sinn, der uns alle Sinne ersetzen kann.« Kurzum: Heute erfllen sich die Wnsche der Romantiker – aber nicht die Mathematik wird magisch, sondern umgekehrt die Magie mathematisch.
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Die Geburt der Musik aus dem Geist der Gebrde oder Was Nietzsche von Wagner gelernt hat. 1 Claus-Artur Scheier
Die ltere Musik, noch die des 18. Jahrhunderts, war eingebunden in das Ensemble der »schnen Knste«. Ein klassisches Beispiel ist deren Reihe in der Hegelschen sthetik: Architektur – Skulptur – Malerei – Musik – Poesie, ein System des zunehmend adquaten SichOffenbarens des (gttlichen) Geistes, der ganz erst in der Sprache, als im Medium des Wissens, »an und fr sich« geworden ist. Entsprechend ist das Prinzip der lteren Kunst die mimsis, imitatio, als Erscheinenlassen der schaffenden Natur (natura naturans) durch die Mitte der geschaffenen (natura naturata). Aber mit der industriellen Revolution geht der Begriff der ursprnglichen Produktivitt vom »Wesen der Natur« auf das »Wesen des Menschen« ber. Schopenhauer ist der erste Denker, der die natrliche Produktivitt unter dem Namen »Wille zum Leben« als bloße, in ihren Produkten ziel- und sinnlose Reproduktion faßt. sthetisch folgt daraus eine einzigartige Sonderstellung der Musik. Anders als alle brigen, je auf ihre Weise semantischen Knste ist die Musik als reine Syntax nicht mehr durch die natura naturata vermittelt, sondern scheint unmittelbar dem Weltgrund zu entsteigen. Darin liegt, dass sie zum einen nicht lnger eine modifizierte Sprache ist, sondern umgekehrt in ihr »die vox humana ursprnglich und wesentlich nichts Anderes, als ein modificirter Ton«; 2 zum andern hat sie den Status der Abbildung des Unabbildbaren erhalten als des sinnlosen Willens zum Leben, dessen Widerwrtigkeit sie verklrt: »Das unaussprechlich Innige aller Musik, vermge dessen sie als ein so ganz vertrautes und doch ewig fernes Paradies an uns vorberzieht, so ganz verstndlich und doch Eine frhere Fassung ist in der englischen bersetzung von Dr. Marcus Brainard unter dem Titel »Nietzsche and the Politics of Bayreuth« erschienen in: Scott 1999. Ausfhrlich zum Problem: Scheier 2000a, insbesondere das Kapitel: Simulierte Utopie. Die Logik der Produktion in Richard Wagners »Beethoven«. 2 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Band II, Kap. 39: Zur Metaphysik der Musik, in: Schopenhauer 1988, Bd. II, S. 521. 1
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so unerklrlich ist, beruht darauf, daß sie alle Regungen unseres innersten Wesens wiedergiebt, aber ganz ohne die Wirklichkeit und fern von ihrer Quaal«. 3 Sie ist damit zum paradis artificiel geworden, zur Simulation des Weltgrunds selbst – Schopenhauer spricht vom »Substitut[-]« 4 und erinnert daran, »daß die Musik, welche ja oft so geisterhebend auf uns wirkt, daß uns dnkt, sie rede von anderen und besseren Welten, als die unsere ist, […] doch eigentlich nur dem Willen zum Leben schmeichelt«. 5 Fr das 19. Jahrhundert sind solche Einsichten paradigmatisch geworden. Philosophie ffnet, wo sie einen geschichtlichen Unterschied macht, immer auch einen Mglichkeitsspielraum, in den sich dann die neue Wirklichkeit einschreibt. Namentlich Wagners Werk zieht nicht nur die radikale Konsequenz aus der mit der industriellen Revolution transformierten Stellung der Musik zur Welt, sondern verndert seinerseits diesen Mglichkeitsspielraum in Tat und Programm. Das macht den unvergleichlichen Rang Wagners fr jeden Versuch aus, die abgrndige Motivkonstellation des 19. Jahrhunderts angemessen nachzudenken. Der Altphilologe und Schopenhauer-Enthusiast Friedrich Nietzsche hatte das begriffen wie vor ihm nur der Kartograph der paradis artificiels, Charles Baudelaire. Er verdanke ihm, schrieb er an Richard Wagner, den grßten musikalischen Genuss, der ihm jemals zuteilgeworden sei, 6 und in seinem 1861 anlßlich der skandalumwitterten Pariser TannhuserAuffhrungen erschienenen Essay »Richard Wagner et Tannhuser Paris« heißt es, Wagner sei »kraft der leidenschaftlichen Energie seines Ausdrucks gegenwrtig der wahrste Reprsentant der modernen Natur«. 7 Ganz sicher sei, »daß seine Doktrin dazu angetan ist, alle geistreichen Kpfe zu versammeln, die seit langem die Irrtmer der
Schopenhauer 1988, Band I, § 52, S. 349. Schopenhauer 1988, Band II, Kap. 39, S. 525. 5 Ebd. S. 532. Was bei Schopenhauer fr die Musik, spricht bei Feuerbach gegen sie: »Das Wort ist in der Tat nicht rmer, nicht seelenloser als der musikalische Ton, obwohl der Ton unendlich mehr zu sagen scheint als das Wort und deswegen, weil ihn dieser Schein, diese Illusion umgibt, tiefer und reicher als das Wort erscheint.« (Feuerbach 1973, S. 160) 6 »Avant tout, je veux vous dire que je vous dois la plus grande jouissance musicale que j’aie jamais prouve«, Brief vom 17. Februar 1860. Zitiert nach Baudelaire 1962, S. 689 f., Fn. 1. 7 Ebd. S. 719: »[…] par l’nergie passione de son expression il est actuellement le reprsentant le plus vrai de la nature moderne«. 3 4
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Opra ber haben«. 8 Kurzum, »Wagners Oper ist ein ernsthaftes Werk, das bestndige Aufmerksamkeit verlangt«: 9 ein unerhrter Anspruch nicht nur fr das europische, geschweige Pariser Opernpublikum, sondern auch und gerade fr Baudelaire selber, der in Edgar Poes 1859 von ihm bersetzter »Philosophy of Composition« gelernt hatte, dass »alle intensiven Erregungen aus psychischer Notwendigkeit kurz sind« 10 – dass der gesuchte Effekt durch ein lngeres Werk nur intermittierend zu erreichen sei. Kein Wunder also, dass Baudelaire Wagners Musik mehr als einmal »despotisch« nennt, war es doch eben Poes Dichtung, die ihm exemplarisch fr die »moderne Natur« einstand. Wenn er nun aber in Wagner deren wahrsten Reprsentanten begrßt, dann hatte er auch erkannt, dass mit dieser Musik etwas Neues in die moderne Welt getreten war: Macht im Kunstwerk Poescher Prgung das Leben Ernst mit der Kunst, dann kehrt sich dies Verhltnis hier um, und die Kunst macht Ernst mit dem Leben, d. h. – und auch daran lsst Baudelaires hellhriger Essay keinen Zweifel – die Kunst wird selber Religion und duldet hinfort keine andre Religion mehr neben sich. An die Einsicht Baudelaires in den despotischen Ernst dieser Kunst kann zehn Jahre spter Nietzsche anknpfen im Vorwort an Richard Wagner, das er seiner »Geburt der Tragdie aus dem Geiste der Musik« voranschickt. »Sie werden dabei sich erinnern«, schreibt er, »dass ich zu gleicher Zeit, als Ihre herrliche Festschrift ber Beethoven entstand, das heisst in den Schrecken und Erhabenheiten des eben ausgebrochnen Krieges mich zu diesen Gedanken sammelte. Doch wrden diejenigen irren, welche etwa bei dieser Sammlung an den Gegensatz von patriotischer Erregung und aesthetischer Schwelgerei, von tapferem Ernst und heiterem Spiel denken sollten: denen mchte vielmehr, bei einem wirklichen Lesen dieser Schrift, zu ihrem Erstaunen deutlich werden, mit welchem ernsthaft deutschen Problem wir zu thun haben, das von uns recht eigentlich in die Mitte deutscher Hoffnungen, als Wirbel und Wendepunkt hingestellt wird.« 11 Ebd. S. 720: »Ce qui est bien certain, c’est que sa doctrine est faite pour rallier tous les gens d’esprit fatigus depuis longtemps des erreurs de l’Opra«. 9 Ebd. S. 722: »[…] l’opra de Wagner est un ouvrage srieux, demandant une attention soutenue« (Hervorhebung von Baudelaire). 10 »[…] all intense excitements are, through a psychal necessity, brief«. Zitiert nach Poe 1964, S. 166. 11 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragdie aus dem Geiste der Musik. Vorwort an 8
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Von jenen »Erhabenheiten« wird nicht mehr die Rede sein, sobald Nietzsche erkannt hatte, was fr ein Bewenden es eigentlich mit dem »Reich« haben sollte und dass auch Wagners Kunstwerk alles andre war als ein bloß deutsches Problem. Schon fr Baudelaire war es ein europisches Ereignis gewesen, und erst mit der Abwendung von Wagner wird Nietzsches Denken die Hhe der modernen Problemlage des Franzosen erreichen. Aber hier schon ist er mit ihm einig darin, dass die Zeit der Schiller fortzitierenden Trennung von Lebens-Ernst und Kunst-Spiel abgelaufen ist, und in der Hoffnung, dass diejenigen, die ihr noch anhngen, angesichts seines Problems erstaunen, markiert der Altphilologe deutlich genug einen neuen Anfang der Philosophie. »Wirbel und Wendepunkt« sei dies Problem, dinos (din) kai peripeteia, seine Welt-bildend tragische Kraft andeutend; denn der Wirbel war kosmogonisches Prinzip in der frhen griechischen Philosophie, deren »tragisches« Wesen die »Geburt der Tragdie« gegen den in Pessimismus oder, wie Nietzsche spter sagen wird: Nihilismus umgeschlagenen sokratischen Optimismus ins Feld fhrt. Bereits in »Sokrates und die griechische Tragdie« hatte Nietzsche behauptet, man knne sich »nicht entbrechen, in Sokrates den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte zu sehen« 12 – eine Formulierung, die sich im 15. Abschnitt der »Geburt der Tragdie« wiederfindet, 13 whrend im Entwurf des Vorworts erst nur vom »Wirbel des Seins« 14 die Rede war. Die Opposition Sokrates – Wagner ist also sehr bewusst inszeniert. Dass Nietzsche nun am Beginn seines Denkwegs die Peripetie der Moderne im Werk Wagners zu finden glaubt, setzt ihn wohl in bereinstimmung mit Baudelaire, aber darin, dass er hier ein »ernsthaft deutsche[s] Problem« sieht, verabschiedet er sich zunchst von Baudelaires sthetischem Horizont. Ihm, der sich zeitlebens, wie seinen philosophischen Lehrer Schopenhauer, als »Erzieher« verstanden hat, ist es auch bei Wagner wesentlich um den Erzieher zu tun, dessen sthetisch-politisches Credo seit 1870 in der Schrift ber Beethoven vorlag: 15 sie projektiert in Gestalt einer »Philosophie der Musik« den Weg, den »der deutsche Geist sein Volk zu fhren« hat, »wenn er Richard Wagner, KGA III.1, S. 19 f. Nietzsche wird zitiert nach der kritischen Gesamtausgabe der Werke (KGA), hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin 1967 ff. 12 KGA III.2, S. 130. 13 KGA III.1, S. 96. 14 KGA III.3, 11[1], S. 367. 15 Die nicht weiter ausgewiesenen Wagner-Zitate aus Wagner (1927).
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die Vlker beglcken soll, wie er berufen ist«. Wenn Nietzsche im spten »Versuch einer Selbstkritik« schreiben wird, er habe sich »das grandiose griechische Problem, wie mir es aufgegangen war, durch Einmischung der modernsten Dinge« verdorben, 16 dann ist nicht nur die Philosophie Schopenhauers, sondern mehr noch die Weltanschauung Wagners gemeint. Wie in einem Palimpsest scheint sie in Nietzsches philosophischem Erstling allenthalben durch, und obwohl er seine Einschtzung der geschichtlichen Bedeutung Wagners seit »Richard Wagner in Bayreuth« (1876) auch ffentlich zunehmend radikaler in Frage stellen wird, wird er doch immer an Wagners ursprnglicher Einsicht festhalten, dass eine wirklich zeitgenssische sthetik zugleich Religion und als solche notwendig Politik sein muss. Von Anfang an hatte er erkannt, dass der Beethoven, den Wagner sich erfunden hatte, der Protagonist einer neuen deutschen Politik war, deren Vatikan Bayreuth hieß: »Denn, was ihr hrt, ist Rom, – Rom’s Glaube ohne Worte!«, endet das achte Hauptstck, »Vlker und Vaterlnder«, von »Jenseits von Gut und Bse«. 17 So kam es damals sogleich darauf an, fr diese politisch-religise sthetik Schule zu machen. Deren Manifest ist die »Geburt der Tragdie«, und der Hinweis auf Wagners »herrliche Festschrift ber Beethoven« hat durchaus programmatischen Charakter. Denn in ihr artikuliert sich Wagners Weltanschauung nach der »Kehre« von Feuerbach zu Schopenhauer, mitten in der Arbeit am dritten Akt des Siegfried und den ersten Skizzen zur Gtterdmmerung. Wie kommt dies spte Zeugnis Wagnerscher Agitation Nietzsches hochgespannten Plnen entgegen? Oder tut es dies in Wahrheit gar nicht – und Nietzsche hat sich, wie er selber alsbald, nmlich schon whrend der Abfassung von »Richard Wagner in Bayreuth« zu erkennen glaubte, an Wagner versehen? 18 In den ersten Abstzen seiner Beethoven-Schrift entwickelt Wagner »die gnzliche Verschiedenheit des Dichters vom Musiker«, der nicht wie der Dichter im »bewußten Gestalten«, sondern aus »dem dunklen Boden seines Unbewußtseins« heraus schaffe. Es ist dies der nicht wie bei Marx konomisch, sondern sthetisch gedachte KGA III.1, S. 14. KGA VI.2, S. 212. 18 Dass Nietzsches Denken von Anfang an auf Kollisionskurs mit Wagners Weltanschauung war, hat Diego S nchez Meca (2001) krzlich berzeugend nachgewiesen. 16 17
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Unterschied von berbau und Basis, weshalb es Wagner sogleich auch um die – an die Knstlerindividualitt gebundene – Produktivitt als solche zu tun ist: sein »Beethoven« reiht sich ein in diejenigen knstlerischen Selbstzeugnisse, in denen, wie bei Poe und Baudelaire, das produktive Wesen des aus der Bindung der Metaphysik entlassenen Menschen des heraufgezogenen Industriezeitalters in sthetischer Brechung reflektiert wird. Dies aber, dass die eigentlichste Sache eines durch und durch zeitgenssischen – und also angesichts des herrschenden Historismus »unzeitgemssen« – Denkens die menschliche Produktivitt selbst zu sein habe, ist es, was Nietzsche wirklich von Wagner und nicht schon von seinen Griechen gelernt hat. Die Begegnung mit Wagner entband nicht nur den Denker Nietzsche aus dem Philologen, sie entband den radikal modernen Denker, der begriff, dass der verehrte Schopenhauer, unbeschadet seiner anti-idealistischen Polemik, die dem aufziehenden 19. Jahrhundert zweieinhalb Jahrtausende Metaphysik aus dem Weg rumte, sich von diesem 19. Jahrhundert doch zugleich abgekehrt hatte, indem er das neue Wesen des Menschen, die nicht lnger natrliche, sondern technische (»knstlerische«) Produktivitt unter dem nur noch scheinbar natrlichen Begriff des »Willens zum Leben« und seiner Reproduktion negierte. Verneinung des Willens und Askese oder Bejahung des Willens und endlose wie sinnlose Reproduktion von Schmerz und Langerweile: das war die Schopenhauersche Alternative. Und genau in diesem existenziellen Entweder – Oder ist es ersichtlich nichts mit dem »Schopenhauerianer« Wagner, so dass Nietzsche im 99. Aphorismus der »Frhlichen Wissenschaft« etwa bemerken kann: »Nichts geht gerade so sehr wider den Geist Schopenhauer’s, als das eigentlich Wagnerische an den Helden Wagner’s: ich meine die Unschuld der hchsten Selbstsucht, der Glaube an die grosse Leidenschaft als an das Gute an sich, mit Einem Worte, das Siegfriedhafte im Antlitze seiner Helden. ›Das Alles riecht eher noch nach Spinoza als nach mir‹ – wrde vielleicht Schopenhauer sagen.« 19 Wagner blieb ein umgekehrter Feuerbachianer. Verabschiedet er doch im Prinzip Schopenhauers Philosophie 20 und arbeitet darin der Nietzscheschen »Umkehrung« Schopenhauers vor, dass es ihm um den Rckgang nicht ins Die frhliche Wissenschaft, Nr. 99, KGA V. 2, S. 131. Die Behauptung wre zu verteidigen, Wagner htte an Schopenhauers Metaphysik der Musik nur festhalten knnen, indem er dessen Metaphysik der Musik preisgab.
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»Nichts«, sondern in eine ursprngliche, d. h. nicht durch das moderne Produkt, die von Wagner so genannte »Mode« entfremdete Produktion zu tun ist. Wo Schopenhauer den Willen zum Leben verneint hatte, bejaht Wagner den Willen zur Produktion. Da dieser Wille anderseits aber wesentlich nicht auf eine prospektive (»utopische«) Produktion gerichtet ist (wie bei Marx auf die kommunistische Produktionsform oder bei Nietzsche auf das dionysische Schaffen), sondern diese Produktion bereits selber politisch-sthetisch produziert oder simuliert als gegenwrtig, entfaltet der Wagnersche Gedanke sich zugleich regressiv und gibt sich eine ideologische Seite: »Wollen wir uns ein wahres Paradies von Produktivitt des menschlichen Geistes vorstellen, so haben wir uns in die Zeiten vor der Erfindung der Schrift und ihrer Aufzeichnung auf Pergament oder Papier zu versetzen. Wir mssen finden, daß hier das ganze Kulturleben geboren worden ist.« Der Rckgang aus der Welt der modernen Produkte und ihrer Warensthetik biegt anders als etwa bei Poe und Baudelaire von der zeitgenssischen Produktion ab in eine als geschichtlich-ursprnglich oder vorgeschichtlich behauptete menschliche Natur. In jenem wahren Paradies »war denn auch die Poesie nichts anderes als wirkliche Erfindung von Mythen, […] in welchen sich das menschliche Leben […] mit objektiver Wirklichkeit im Sinne von unmittelbaren Geistererscheinungen abspiegelte.« Diese Mythen haben nicht die frhromantische Bestimmung der Erscheinung des Grundes des menschlichen Lebens, sondern sind dessen Widerspiegelung (Verdoppelung: Reproduktion in einem andern Medium) geradeso wie die Schopenhauersche Kunst Widerspiegelung der sogenannten platonischen Ideen, des Musters im »Schleier der Maja« als des Programms der Welt war – nur dass die Kunst fr Schopenhauer damit den bloßen bergang in die (nicht lnger sthetische, sondern ethische) Welt-Entsagung bedeutete, whrend Wagner sie als ursprnglich positiv festhlt: »Die Befhigung hierzu sehen wir jedem edel gearteten Volke zu eigen, bis zu dem Zeitpunkte, wo der Gebrauch der Schrift zu ihm gelangt. Von da ab schwindet ihm die poetische Kraft.« Hier also ist eine Kultur- als Dekadenzgeschichte in nuce: Von Natur aus edel geartete Vlker sind ursprnglich (vorgeschichtlich) produktiv im Hervorbringen von Mythen als der sprachlichen Basis ihres ganzen Kulturlebens, das endlich zersetzt wird nun nicht durch die Erfindung, sondern durch die bernahme der Schrift. Dies insiA
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nuiert, dass einem »edel gearteten Volke« eine dergleichen Erfindung gar nicht zuzutrauen sei, sondern nur – von Vlkern andern Schlags – »zu ihm gelangt«. Und in diesem Augenblick beginnt die Geschichte und diese sogleich als Dekadenz. Ihr zweites Stadium erreicht sie im »bersprung der Schrift zur Buchdruckerkunst«, und entsprechend ist die wahre Reformation fr Wagner wesentlich ein Werk der Musik: »Man kann annehmen, daß nur Luthers herrlicher Choral den gesunden Geist der Reformation rettete, weil er das Gemt bestimmte und die Buchstabenkrankheit der Gehirne damit heilte.« Folgt das dritte und letzte Stadium: »[…] mit der Erfindung der Zeitungen, seit dem vollen Aufblhen des Journalwesens, mußte jedoch dieser gute Geist des Volkes sich gnzlich aus dem Leben zurckziehen. Denn jetzt herrschen nur noch Meinungen, und zwar ›ffentliche‹ ; diese sind fr Geld zu haben, wie die ffentlichen Dirnen.« Womit die nachmals von Heidegger in »Sein und Zeit« existenzialanalytisch gedachte Opposition von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit (»Man«) als die von (mythopoetischer) Sprache und Presse erffnet ist. Und Wagner denkt von Anfang an vlkisch: »So sagt denn auch das Pariser Modejournal dem ›deutschen Weibe‹, wie es sich zu kleiden hat; denn in solchen Dingen uns das Richtige sagen zu drfen, dazu hat der Franzose sich ein volles Recht erworben, da er sich zum eigentlichen farbigen Illustrator unserer Journal-PapierWelt aufgeschwungen hat.« Pikanterweise war es kein geringerer als Stphane Mallarm, der vier Jahre nach Wagners Schrift acht Nummern eines Modejournals unter dem Titel »La derni re mode« herausgab und großenteils sogar selber verfasste – aber die franzsische Mode steht bei Wagner fr mehr als bloß fr einen Index der Moderne. Sie ist ihm das geschichtliche »Man« selbst, wie die vlkische Parallele der Dekadenzgeschichte sehen lsst. Diese beginnt mit der »plastischen Welt des griechischen Altertums«, die sich – ein Satz, der in Nietzsches Ohr widerklang – »das Vorrecht erworben« hatte, »fr alle Zeiten uns darber zu belehren, wie der brige Verlauf des Weltenlebens etwa noch ertrglich zu gestalten wre«. Bezeichnenderweise verschweigt Wagner das Mittelalter, dem er die meisten seiner Stoffe verdankte, und kommt auf die Italiener der Renaissance und ihre Nachfolger zu sprechen: »Dieses mit so reicher Phantasie hochbegabte Volk sehen wir in der leidenschaftlichen Pflege jener [griechischen] Lehre sich vllig verzehren; nach einem wundervollen Jahrhunderte tritt es 32
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wie ein Traum aus der Geschichte, welche von nun an eines verwandt erscheinenden Volkes irrtmlich sich bemchtigt.« Denn nach der »Pariser Bluthochzeit« und ihren Folgen ward »mit dem Reste der Nation« »nun ›knstlerisch‹ verfahren; da ihr aber jede Phantasie abging oder ausgegangen war, wollte sich die Produktivitt nirgends zeigen, und namentlich blieb sie unfhig, eben ein Werk der Kunst zu schaffen.« Aber gerade diese radikale Unproduktivitt macht die Franzosen zum »herrschende[n] Volk der heutigen Zivilisation«, zu den modernen Menschen schlechthin, und so ist es »nicht eine zufllige Laune unseres ffentlichen Lebens, daß wir unter der Herrschaft der Mode stehen; ebenso wie es in der Geschichte der modernen Zivilisation sehr wohl begrndet ist, daß die Launen des Pariser Geschmackes uns die Gesetze der Mode diktieren.« Die Mode ist mithin das notwendige Produkt einer Verfallsgeschichte der ursprnglichen Produktivitt und als Modernitt berhaupt »die ußere Form der Gesellschaft«. Ihr »stellt sich, bei dem steten Bedrfnisse nach Neuheit, der Wechsel der Extreme als einzige Auskunft zu Gebote«, und indem dieser mitte-lose Wechsel die Bestimmung eines Geschicks hat, mssen wir »schließlich einsehen, daß wir einem wahren Fluche verfallen sind, von welchem uns nur eine unendlich tief begrndete Neugeburt erlsen knnte.« Diese Einsicht ist fr Wagner zugleich die, dass die Dekadenz der Vlker doch nicht so radikal ist, dass sie das deutsche Volk htte vllig korrumpieren knnen. Denn dessen »Genius«, der sich »seit dem vollen Aufblhen des Journalwesens […] aus dem Leben zurckziehen« musste, hat als die ins Innerste verdrngte Produktivitt die Gestalt des emprten Gefhls. Wagner kann deshalb feststellen, dass »sich doch wieder unser Gefhl gegen jene Herrschaft emprt«, denn »whrend die deutschen Waffen siegreich nach dem Zentrum der franzsischen Zivilisation vordringen, regt sich bei uns pltzlich das Schamgefhl ber unsere Abhngigkeit von dieser Zivilisation«. Darin liegt freilich, dass die Sehnsucht nach jener »unendlich tief begrndete[n] Neugeburt« auf eine ursprngliche Verwandlung des deutschen Wesens, nmlich auf dessen geschichtliches Abtreten aus der Modernitt – und so aus der Schriftlichkeit – berhaupt hinausluft: »Unser ganzes Grundwesen mßte sich nmlich derart ndern, daß der Begriff der Mode selbst fr die Gestaltung unseres ußeren Lebens gnzlich sinnlos zu werden htte«. Die Chance aber, jene Neugeburt gerade vom deutschen Volk zu erhoffen, liest Wagner zirkulr der Geschichte ab: »Aber neben dieser Welt der Mode ist A
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uns [den Deutschen] eben gleichzeitig eine andere Welt erstanden. Wie unter der rmischen Universalzivilisation das Christentum hervortrat, so bricht jetzt aus dem Chaos der modernen Zivilisation die Musik hervor. Beide sagen aus: ›Unser Reich ist nicht von dieser Welt.‹ Das heißt eben: wir kommen von innen, ihr von außen; wir entstammen dem Wesen, ihr dem Scheine der Dinge.« Daraus erhellt, dass jenes mythopoetische »Paradies von Produktivitt« vor der Erfindung der Schrift eigentlich das Paradies der Musik war. Und der Garant fr dieses »Reich«, das »nicht von dieser Welt« ist, nmlich von dieser Welt nicht berhaupt, sondern nicht von der Welt der (franzsischen) Moderne, ist nun, nach Luther, Beethoven. Dass Beethoven aber, der »der Musik selbst ihre unsterbliche Seele wiedergegeben« hat, gleichwohl nicht die erhoffte »Neugeburt« und nderung des ganzen deutschen Grundwesens zu bewirken vermochte, ist nicht nur ein von Wagner anerkanntes historisches Faktum, sondern macht Beethoven allererst zum Vorkmpfer und ersten Heiligen der neuen, vom Wagnerschen »Bhnenfestspiel« (Ring) und »Bhnenweihfestspiel« (Parsifal) zu stiftenden Religion: »Gewiß darf es uns erscheinen, daß unsere Zivilisation […] nur aus dem Geiste unserer Musik, der Musik, welche Beethoven aus den Banden der Mode befreite, neu beseelt werden knne. Und die Aufgabe, in diesem Sinne der vielleicht hierdurch sich gestaltenden neuen, seelenvolleren Zivilisation die sie durchdringende neue Religion zuzufhren, kann ersichtlich nur dem deutschen Geiste beschieden sein […].« In diesem Geist wendet Wagner sich der »Betrachtung der ußeren Welt« zu, »unter deren Drucke jenes innere Wesen zu der ihm jetzt eigenen, nach außen reagierenden Kraft sich ermchtigte«. Hier erweist sich die Ermchtigung gegen die leidenmachende Moderne als Reaktion nach außen, die ihrerseits Konsequenz einer Reaktion nach innen ist, nmlich der Selbstermchtigung des emprten Gefhls: dies doppelte Reagieren wirft sich gegen die »Erscheinung«, die wirkliche Welt, als ursprngliches Agieren, als »Wesen« auf. Treffender konnte Wagner das alsbald von Nietzsche diagnostizierte Ressentiment und seinen ideologischen Kern kaum beschreiben. Allerdings versteht sich die Selbstermchtigung bei Wagner immer politisch-sthetisch. Die »unerhrte« Tat Beethovens ist darum das Vorlaufen in »die vollendetste Kunstform«, worin die Moderne als die Mode und d. h. als »Konventionalitt vollstndig aufgehoben sein wrde«. Beim Wort genommen wre sie darum das schlechthin 34
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Neue als das, was Heidegger im Vortrag »Die Kehre« den »Blitz der Wahrheit des Seins in das wahrlose Sein« nennen wird. 21 Aber dies schlechthin Neue als Kunstform wre ebenso das vllig Unverstndliche, das auch nicht einmal mehr als Kunstwerk erkannt werden knnte, mit Baudelaire gesprochen: das Unvernderliche (l’immuable) ohne das Flchtige (le fugitif). 22 Freilich die Substanz ohne Akzidenzien ist selbst das schlechthin Flchtige, worin sich der utopische Kern des Wagnerschen Kunstwerks enthllt: Es ist das mit den Mitteln der Kunst ins Werk gesetzte Projekt des Kunstwerks, d. h. der weltanschauliche Diskurs noch einmal im Schein seines Andern, nmlich des projektierten Gegenstands dieses Diskurses. Nietzsche hat Wagner darum den »Cagliostro der Modernitt« genannt. 23 Aber nicht genug mit dieser das moderne Kunstwerk vielleicht berhaupt charakterisierenden inneren Gegenwendigkeit. Das eigentliche an den Namen Wagner zu bindende Paradoxon liegt vielmehr darin, dass dies Kunstwerk, Kunstwerk bleibend, zugleich die ins Produkt gesetzte Ideologie ist. Denn die aller Konventionalitt vollstndig entrckte Kunstform soll einerseits die »rein-menschliche«, anderseits aber die dem »deutschen Geiste […] original angehrige« sein. Damit jedoch dieser Geist sich berhaupt als der deutsche erweisen kann, muss er sich auf einen gesellschaftlich-geschichtlichen Unterschied berufen knnen, der alle einzelnen seiner Trger auszeichnet, d. h. eben auf eine Konventionalitt, sei diese auch, wie der Titel des »Volks« im 19. Jahrhundert notwendig insinuiert, eine »natrliche«. Also nicht idealistisch (etwa im Sinne Fichtes) soll, was reinmenschlich ist, auch rein-deutsch sein, sondern ideologisch ist das allein, was rein-deutsch wre, auch rein-menschlich. Und wenn der deutsche Geist »die Vlker beglcken soll, wie er berufen ist«, dann nicht mit dem Rein-Menschlichen, sondern mit sich selber. D. h. dieser deutsche Geist von 1870 reagiert auf die als imperial empfundene Herrschaft der Moderne mit dem eignen imperialen, um noch einmal auf Baudelaire zu hren: despotischen Anspruch und dessen Selbstermchtigung: Herrschaft der »Tiefe und Innigkeit« gegen Herrschaft der Mode. Indem Herrschaft aber immer auch Konventionalitt bedeutet, ist herrschende Tiefe und Innigkeit, die »reine« 21 22 23
Heidegger 1962, S. 45. Charles Baudelaire: Le peintre de la vie moderne IV, in: Baudelaire 1962, S. 467. Der Fall Wagner 5, KGA VI.3, S. 17. A
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Substanz ohne Akzidens, eine contradictio in adiecto, als sich verdeckender Widerspruch also Ideologie, genau das, was Wittgenstein als den »metaphysischen« Satz beschreiben wird: der Unsinn im Schein des Sinns. 24 Es muss wohl offenbleiben, ob es Wagner selbst je klar wurde, dass er den Gedanken Schopenhauers, wiewohl er allenthalben dessen Terminologie bemhte, doch von Grund auf negierte. Schopenhauer war gleichsam nur der Katalysator seiner Transformation des Feuerbachschen Erbes, die an die Stelle von Ich und Du das deutsche Volk und seinen »Geist« treten ließ. 25 Und damit ist der schon bei Feuerbach ursprnglich bejahte Wille 26 auch nicht mehr der alte Wille zum Leben, sondern als der Wille zu politisch-mythopoetischer Produktion ein neuer, bisher noch gar nicht bedachter Wille, nmlich der Wille zur Macht: »Diese ungeheure berflutung aller Schranken der Erscheinung muß im begeisterten Musiker notwendig eine Entzckung hervorrufen, mit welcher keine andere sich vergleichen ließe: in ihr erkennt sich der Wille als allmchtiger Wille berhaupt: nicht stumm hat er sich vor der Anschauung zurckzuhalten, sondern laut verkndet er sich selbst als bewußte Idee der Welt.« Diese Identifikation des Musikers mit dem allmchtigen Willen der Welt ist der Gedanke von Bayreuth und die Selbstlegitimation von Wagners deutscher Ideologie, indem sie unmittelbar die zweite Identifikation des »rein Menschlichen« mit dem »deutschen Geist« entspringen lsst. Denn unter den Bedingungen der gegenwrtigen Zivilisation ist dieser produktive Rausch immer nur kurzfristig und zieht einen Bewusstseinszustand nach sich, den Wagner »jammervoll« nennt und den Nietzsche dann dem Werk von Brahms abgelesen hat als »die Melancholie des Unvermgens«, die es bei Brahms allerdings nur bis zur »Sehnsucht« bringe. 27 Aber »wie man fnfzig Schritt ber Brahms hinaus Wagner findet«, 28 wird man fnfzig Schritt ber die Brahmssche Sehnsucht hinaus Wagners Ressentiment finden. Dessen Stoßkraft liegt eben darin, dass die technische ProdukVgl. Scheier 1991. Eine analoge und nicht minder fatale Rckung ereignet sich sechzig Jahre spter im Denken Martin Heideggers: vom (einzelnen) Dasein in »Sein und Zeit« zum Dasein des deutschen Volkes in der sogenannten Rektoratsrede: Heidegger 1983. 26 Vgl. Scheier 2000b. 27 Der Fall Wagner. Zweite Nachschrift, KGA VI.3, S. 41. 28 Ebd. S. 42. 24 25
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tionsform oder die Warenproduktion bei Wagner nicht mehr wie bisher ihren sthetischen Reflex in der individuellen Existenz hat. Sie wird jetzt als die existenzielle Verfassung der Welt akzeptiert, wiewohl anders als bei Marx nicht als solche durchschaut und daher quasi-metaphysisch als der »Geist« eines – des deutschen – »Volks« hypostasiert, d. h. ideologisiert. Dies wre ein fr die Geschichte der technischen Produktion in ihrer Gestalt als sthetischer Produktion zwar beraus lehrreiches Stadium, aber doch nur ein geschichtliches Zwischenspiel geblieben, wre es dem geschichtlich-realen Korrelat dieser Weltanschauung, nmlich dem deutschen Staat, gelungen, eine dem Stand der Produktionsmittel in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhundert entsprechende Gesellschaftsform zu konstituieren wie dies, unter welch unglcklichen Vorzeichen auch immer, immerhin den franzsischen und englischen Nachbarn gelungen war. Wre – so dass Nietzsches »Weisheit«, auch im Wahnsinn des heraufziehenden Jahrs 1889 noch hellsichtig, sich nicht mehr anders auszudrcken wusste als seinerseits im Fluch: »Frst Bismarck hat zu Gunsten seiner Hauspolitik alle Voraussetzungen fr große Aufgaben, fr welthistorische Zwecke, fr eine edlere und feinere Geistigkeit mit einer fluchwrdigen Sicherheit des Instinktes vernichtet. Und seht euch doch die Deutschen selber an, die [-] niedrigste, stupideste, gemeinste Rasse wohl, die jetzt auf Erden da ist, verhohenzollert bis zum Haß gegen Geist und Freiheit.« 29 Zuvor, im »Fall Wagner«, hatte Nietzsche dies Verhngnis in seinen sthetischen Ursprung verfolgt und gefordert: »Dass das Theater nicht Herr ber die Knste wird. / Dass der Schauspieler nicht zum Verfhrer der Echten wird. / Dass die Musik nicht zu einer Kunst zu lgen wird.« 30 Fr den Nietzscheschen Gedanken ist das tertium comparationis zwischen jenem Verzweiflungsschrei und dieser scheinbar nur sthetischen Forderung Zarathustras Rede von den letzten Menschen und damit ein und dasselbe zeitgenssische Problem. Im fnften Buch der »Frhlichen Wissenschaft« hatte Nietzsche geschrieben: »Die Musik als Mittel zur Verdeutlichung, Verstrkung, Verinnerlichung der dramatischen Gebrde und Schauspieler-Sinnenflligkeit; und das Wagnerische Drama nur eine Gelegenheit zu vielen dramatischen Attitden! Er hatte, neben allen anderen Instinkten, die commandirenden Instinkte eines grossen 29 30
KGA VIII.3, 25[14], S. 458. Der Fall Wagner 12, KGA VI.3, S. 33. A
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Schauspielers, in Allem und Jedem: und, wie gesagt, auch als Musiker.« 31 Keiner wusste besser als Nietzsche, dass diese »commandirenden Instinkte« sthetisch-politischer Natur waren. War nmlich bei Wagner an die Stelle des zu erlsenden Einzelnen, wie Schopenhauer ihn gedacht hatte, das produktive Kollektiv getreten, dann doch anders als etwa bei Marx nicht in Gestalt einer gesellschaftlich-real produzierenden Klasse, sondern einer weltanschaulichen Fiktion. Denn eine Fiktion ist dies deutsche Volk schon deshalb, weil die geschichtlich-konkreten Gestalten des Deutschen, der deutsche Staat bzw. die deutschen Staaten einerseits und die deutsche Sprachgemeinschaft anderseits der Musik als dem »Wesen« gegenber dem bloßen »Scheine der Dinge« anheimfallen. So bleibt nur noch zeitgemßes biologistisches Gedankengut brig, und dies ist auch eine der mehreren Wurzeln des Wagnerschen Antisemitismus, der umgekehrt Nietzsche zum Anti-Antisemiten machte. Er habe sich, notiert er im Herbst 1887, »auch durch eine gifttrgerische Gegenbewegung, die jetzt gerade obenauf ist, nicht irre machen lassen«. 32 Der »Geist« dieses Wagnerschen Volkes aber kann nur dadurch »die Vlker beglcken«, dass er sich ihm in der Gestalt eines Fhrers vorstellt, und da er als Geist des deutschen Volkes zugleich die »Seele der Musik« selbst ist, kann dieser Fhrer – und darin, das ist zu betonen, bleibt Wagners Weltanschauung ganz und gar knstlerisch – nur ein Musiker sein. Kein andrer also als der Bayreuther Meister selbst ist der wahrhafte Mittler zwischen dem allmchtigen Willen der musikalischen Weltseele und seinem Volk. Und die sthetik musikalischer Produktion, die Wagner mit seinem »Beethoven« vorlegt, ist zuletzt die Legitimation dieser eigentlich religisen Selbstermchtigung, die ja immer zugleich auch »nicht von dieser Welt« sein will, denn die Kunst des Musikers »verhlt sich in Wahrheit zum Komplex aller anderen Knste wie die Religion zur Kirche«. Die Frage, die diese sich insofern radikal von allen bisherigen Knstler-sthetiken unterscheidende Produktionssthetik bewegt, ist daher nicht lnger die klassische, kraft welcher Regeln ein Kunstwerk schn oder erhaben sei, auch nicht, wie etwa bei Poe oder Baudelaire, wie es auf den Einzelnen Die frhliche Wissenschaft. Fnftes Buch. Wir Furchtlosen, Nr. 368, KGA V. 2, S. 299. 32 KGA VIII.2, 9[109], S. 62. 31
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wirkt, sondern wie es auf ein von der Geschichte auserwhltes Volk wirkt, auf das deutsche. Diese Botschaft hatte Nietzsche vernommen, aber er hatte seit der Mitte der siebziger Jahre auch zu begreifen begonnen, dass ihr sthetisch-politischer Fhrungsanspruch keineswegs, wie die »Geburt der Tragdie« es erhofft hatte, der Erneuerung des von Wagner beschworenen wahren Paradieses von Produktivitt des menschlichen Geistes, sondern vielmehr der Inszenierung ihres Surrogats galt – daher seine Sorge, »daß der Schauspieler nicht zum Verfhrer der Echten wird«. Denn was schon Baudelaire am Wagnerschen Kunstwerk fasziniert hatte, waren die paradis artificiels, die nun aber nicht mehr natrlicherweise, durch Alkohol, Haschisch und Opium, sondern wahrhaft artifiziell, nmlich »gegen die Ordnung der Naturgesetze« produziert werden als eine allein dadurch offengelegte »Welt hellsten Erkennens und hchster Befhigung« – als die Simulation von Produktivitt, der gegenber die ußere Welt der »Dinge«, nmlich der (industriellen) Produkte, nurmehr eine Welt der »Tuschung« ist. Insofern ist Wagners Kunstwerk nicht nur auf der Hhe der technischen Produkte seiner Zeit, sondern berbietet sie, indem es sie halluzinatorisch vergessen macht (wie nun auch dafr zu sorgen ist, dass »die mechanischen Bewegungen der Musiker, der ganz sonderbar sich bewegende Hilfsapparat einer orchestralen Produktion« geradeso den Augen der Rezipienten in den Orchestergraben entzogen wird, wie die zeitgenssischen Fabriken, ›Feenpalsten‹ gleichend, hinter neugotischen Faaden verschwinden). »Bei Wagner steht im Anfang die Hallucination: nicht von Tnen, sondern von Gebrden«, 33 hatte Nietzsche erkannt, und dass die Musik der ursprngliche Interpret der Gebrde sei und nicht umgekehrt, erlutert Wagner im »Beethoven« so: Die Musik spreche »das innerste Wesen der Gebrde mit solch unmittelbarer Verstndlichkeit aus, daß sie, sobald wir ganz von der Musik erfllt sind, sogar unser Gesicht fr die intensive Wahrnehmung der Gebrde depotenziert, so daß wir sie endlich verstehen, ohne sie selbst zu sehen.« Die Gebrde aber, Nietzsches »Attitde«, ist als der momentan zum Zeichen gemachte Leib selber schon »Schrift«, Produkt, und so vielmehr das Surrogat ursprnglicher Produktion. Nietzsche hat das gesehen und einen – ebenso notwendig hyperbolischen – Schluss gezogen, 33
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den freilich Wagners »Volk« nicht wahrhaben wollte, das einem verstandenen Wagner einen wagnerianisierten Nietzsche vorzog. Wenn darum Martin Gregor-Dellin schreibt: »Wagner arbeitet an seiner Schrift ›Beethoven‹, die Nietzsches Beifall findet und in der Wagner das Supremat der Musik ber den Text verteidigt«, 34 ist hinzuzufgen, dass Wagners Musik ihrerseits unter dem Supremat der Gebrde steht. Indem diese wiederum Schriftcharakter hat, erweist sich seine »phonozentrische« Polemik gegen die geschichtliche Schriftlichkeit vielmehr als dem politisch-sthetischen Versuch entsprungen, die »Ur-Schrift« (archi-criture) als das Programm mythopoetischer Produktivitt zu reprsentieren. Jaques Derrida, fr den der Phonozentrismus die gesamte Metaphysik definiert, hat nicht gesehen, dass das Verhltnis von Schrift und Stimme keineswegs schon, wie er unterstellt, bei Platon, sondern erst unter den Bedingungen der industriellen Produktion, also im 19. Jahrhundert, problematisch werden musste. 35 Denn die Schrift als philosophisches Problem ist das technische Produkt mit dem Versprechen, dass sich in ihm die menschliche Produktivitt selbst, die sich in allen andern technischen Produkten unabsehbar entzieht, bis zu einer Lesbarkeit verdeutlicht, welche, wo Produktivitt zum Wesen des Menschen geworden ist, sich notwendig zugleich prsentieren muss als Lesbarkeit der Welt. Und Wagner ist als der Hauptvertreter des geschichtlich-realen Phonozentrismus deshalb anzusehen, weil er die Stimme, die ph n, in der Gestalt der Musik als das originr gegebene Wesen des nicht mehr metaphysischen Menschen zur Geltung brachte. Auch dies freilich war, trotz seiner Konsequenzen, nur ein geschichtlicher Augenblick. Angesichts der gedanklichen Konstellation der industriellen Moderne berhaupt wird man wohl sagen drfen, dass das Wagnersche Kunstwerk sich, seiner Botschaft nach, ansiedelt in der geschichtlichen Gegend zwischen Kierkegaard und Marx. Dieser hatte dem seit der Frhromantik, seit Chateaubriand und Lamartine durch und durch sthetisierten Christentum des 19. Jahrhunderts als der »Nebelregion der religisen Welt« 36 auch noch in der Feuerbachschen Gestalt der religis berhhten Ich-Du-BezieGregor-Dellin 1972, unter dem 20. Juli bis 7. September 1870, S. 131. Vgl. Scheier 2003. 36 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen konomie. Erster Band, 1.1.1.4: Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis, in: Marx/Engels 1969, Band 23, S. 86 f. 34 35
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hung den Rcken gekehrt, um das »Ensemble der gesellschaftlichen Verhltnisse« zu studieren. Und wenn vordem Kierkegaard angesichts des Unglaubwrdigwerdens der Metaphysik die Mglichkeit eines Christentums der Gemeinde preisgegeben und ein Christentum des Einzelnen konzipiert hatte, um dessentwillen er das »sthetische« und das »religise« Stadium strikt trennen musste, konnte Wagner seine Kunst-Religion nur auf die Weise verbindlich zu machen suchen, dass er umgekehrt sthetisches und religises Stadium identifizierte – dass Religion berhaupt nur noch da stattfinden sollte, wo sich das Kunstwerk, und zwar das »Gesamtkunstwerk«, also das Bhnenkunstwerk und zuhchst das »Bhnenweihfestspiel« ereignete: als Simulation von Religion. Nietzsches verzweifelte Forderung, dass »das Theater nicht Herr ber die Knste wird«, war alles andere als das Wunschdenken eines berfeinerten sthetikers. 37
Literatur Baudelaire, Charles (1962): Curiosits esthtiques. L’Art romantique et autres Oeuvres critiques, d. par H. Lemaitre, Paris. Feuerbach, Ludwig (1973): Das Wesen des Christentums. Das Geheimnis des Logos und gttlichen Ebenbildes, in: Gesammelte Werke, hrsg. von W. Schuffenhauer, Band 5, Berlin. Gregor-Dellin, Martin (1972): Wagner-Chronik. Daten zu Leben und Werk. Zusammengestellt von Martin Gregor-Dellin, Mnchen. Heidegger, Martin (1962): Die Technik und die Kehre, Pfullingen. – (1983): Die Selbstbehauptung der deutschen Universitt. Das Rektorat 1933/34, hrsg. von Hermann Heidegger, Frankfurt a. M. Nietzsche, Friedrich (1967 ff.): Kritische Gesamtausgabe (KGA), hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin 1967 ff. [zitiert als: KGA] Die geschichtlichen Phasen waren so im Wesentlichen: die Religion als sthetischaisthetisches Phnomen (Romantik, Schopenhauer, Feuerbach) – Trennung der sthetischen und der religisen Sphre (Kierkegaard) – Identifikation der Sphren: das Kunstwerk als Religion (Wagner) – Verlassen der Sphre der »Widerspiegelung« berhaupt als des »berbaus« um der gesellschaftlich-konomischen »Basis« willen (Marx) – die Auslotung des »Abgrunds« dieser Basis als der »moralischen« Wertschtzungen (Nietzsche). Und obwohl sich die Musik des fin de sicle mit Nietzsche eine neue Inspirationsquelle erschloss (Strauss, Mahler), war es doch eben Nietzsches Gedanke, der jenen von Schopenhauer erffneten Abgrund ans Licht stlpte – und damit schloss –, aus dem die Musik des 19. Jahrhunderts emporzusteigen schien mit dem Anspruch, die Wahrheit der Religion zu sein. Er wird abgelst vom graphischen Paradigma der »klassischen Moderne«.
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Claus-Artur Scheier Poe, Edgar (1964): Poe’s Poems and Essays. Introduction by Andrew Lang, Everyman’s Library, London 1964 (1 1927). Marx, Karl / Engels, Friedrich (1969: Werke (MEW), Berlin. S nchez Meca, Diego (2001): El adversario interior, in: Estudios Nietzsche, I (2001), S. 119–144. Scheier, Claus-Artur (1991): Wittgenstein und das Schweigen im ursprnglichen Denken, in: Probleme philosophischer Mystik (Festschrift fr Karl Albert), hrsg. von E. Jain u. R. Margreiter, Sankt Augustin, S. 159–171. – (2000a): sthetik der Simulation. Formen des Produktionsdenkens im 19. Jahrhundert, Hamburg. – (2000b): Zur Willensfreiheit bei Schopenhauer im Blick auf Feuerbachs Abhandlung »ber Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit«, in: Materialismus und Spiritualismus, hrsg. von A. Arndt u. W. Jaeschke, Hamburg, S. 91–100. – (2003): Die Nymphe Echo. Genealogische Bemerkungen zu Derridas Kritik an Husserls »Stimme«, in: Kunst und Wahrheit. Festschrift fr Walter Biemel zu seinem 85. Geburtstag, hrsg. von Madalina Diaconu (Studia Phaenomenologica. Romanian Journal for Phenomenology), Bukarest, S. 233–247. Schopenhauer, Arthur (1988): Werke, hrsg. von L. Ltkehaus, Zrich. Scott, J. (Hrsg.) (1999): Nietzsche and Politics, Spindel Conference 1998, The Southern Journal of Philosophy, Vol. XXXVII, Supplement, 1999, S. 73–86. Wagner, Richard (1927): Beethoven. Mit einem Nachwort hrsg. von Wolfgang Golther, Leipzig (Philipp Reclam jun.) o. J. (1927).
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Die kompositionstechnische Seite des Teufels: Technisierung und Fetischisierung in der Musik Konrad Paul Liessmann
Wie es aussieht, wenn der Teufel komponiert, wissen wir. In seinem Roman Doktor Faustus hat Thomas Mann das Kunststck zuwege gebracht, den Teufel zum Garanten der musikalischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts zu machen. Die Hauptfigur des Romans, der Komponist Adrian Leverkhn, geht mit dem Teufel ein »Geschft« ein, das nicht von ungefhr an den Pakt des frhneuzeitlichen Doktor Faustus erinnert: »Wahrhaft beglckende, entrckende, zweifellose und glubige Inspiration« und das Durchbrechen der »lhmenden Schwierigkeiten der Zeit« wird dem Knstler angeboten, Schaffenskraft fr 24 Jahre gegen die Seele und das Versprechen, nicht mehr zu lieben – ein Vertrag, auf den der Komponist seit seiner Jugend zugesteuert war und den er nicht durch Blut, sondern durch eine syphilitische Ansteckung schon besiegelt hatte, bevor er noch recht wusste, auf was und auf wen er sich da eingelassen hatte. Lassen wir die Begleitumstnde dieser literarischen Teufelserscheinung im italienischen Palestrina einmal beiseite: Adrian akzeptiert, wenn auch zhneknirschend, und macht sich mit diabolischer Hilfe ans Werk. Er konzipiert, skizziert Ideen, und der Teufel fhrt die Komposition aus. Das funktioniert in etwa so: »Ich will ein Werk«, fordert der Knstler, »ein Werk, (das ich mir als ein sehr deutsches Produkt, als Oratorium, mit Orchester, Chren, Soli, einem Erzhler denke) mit einiger Suggestiv-Kraft imaginiert … Mir schwebt etwas Satanisch-Religises, Dmonisch-Frommes, zugleich Streng-Gebundenes und verbrecherisch Wirkendes, oft die Kunst Verhhnendes vor, auch etwas aufs Primitiv-Elementare Zurckgehendes …, die Takt-Einteilung, ja die Tonordnung Aufgebendes (Posaunen-Glissandi); ferner etwas praktisch kaum Exekutierbares: alte Kirchentonarten, A Capella-Chre, die in untemperierter Stimmung gesungen werden mssen, sodaß kaum ein Ton oder Intervall auf dem Klavier berhaupt vorkommt etc.« Und dann fgt der Knstler hinzu: »Aber ›etc.‹ ist leicht gesagt.« A
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Wie wahr! Aber das ›etc.‹, das Weitere, die Ausfhrung im Detail, ist die Aufgabe des Teufels. Und flugs macht sich dieser ans Werk. Nach wenigen Tagen ist die Sache vollendet, und kann sich durchaus – ja was: sehen? – lesen? – hren? – lassen. Was der Teufel aus den wenigen Andeutungen, die ihm der Knstler gegeben hat, gemacht hat, knnen Sie jetzt, wenn auch nur in Auszgen, aus der Perspektive eines Hrers hren, ohne es aber wirklich, außer in Ihrer Vorstellung, hren zu knnen: »Man hat da Ensembles, die als Sprechchre beginnen und erst stufenweise, auf dem Wege sonderbarster bergnge, zur reichsten Vokal-Musik werden; Chre also, die durch alle Schattierungen des abgestuften Flstern, geteilten Redens, Halbsingen bis zum polyphonsten Gesang gehen – begleitet von Klngen, die als bloßes Gerusch, als magisch-fanatisch-negerhaftes Trommeln und Gong-Drhnen beginnen und bis zu hchster Musik reichen […] Wie entsetzlich wirken … die Posaunen-Glissandi …, dieses zerstrerische Durchfahren der sieben Zugordnungen oder Lagen des Instruments! Das Geheul als Thema – welches Entsetzen! Und welche akustische Panik geht aus von den wiederholt vorgeschriebenen Pauken-Glissandi, einer Ton- oder Schallwirkung, ermglicht durch die – hier whrend des Wirbels manipulierte – Verstellbarkeit der Maschinenpauke auf verschiedenen Tonstufen. Die Wirkung ist ußerst unheimlich. Aber das Markerschtterndste ist die Anwendung des Glissando auf die menschliche Stimme, die doch das erste Objekt der Tonordnung und der Befreiung aus dem Urzustand des durch die Stufen gezogenen Heulens war […] die seltsame Klangvertauschung, die oft zwischen dem Vokal- und dem Instrumental-Part statthat. Chor und Orchester stehen einander nicht als das Menschliche und das Dingliche klar gegenber; sie sind ineinander aufgelst: der Chor ist instrumentalisiert, das Orchester vokalisiert, – in dem Grade und zu dem Ende, daß tatschlich die Grenze zwischen Mensch und Ding verrckt erscheint […] Oder man nehme, als ein anderes Beispiel technischen Komforts im Entsetzen, die Lautsprecher-Wirkungen (in einem Oratorium!), … die eine sonst nie bewerkstelligte rumlich-akustische Abstufung erzielen: dergestalt, daß durch den Verstrker einiges in den Vordergrund gebracht wird, anderes als Fern-Chor, Fern-Orchester zurcktritt. [Oder man hre dieses] mit dem Gekicher einer Einzelstimme beginnende und rapide um sich greifende, Chor und Orchester erfassende, unter rhythmischen Umstrzen und Konterkarierungen zum TuttiFortissimo grauenhaft anschwellende, berbordende, sardonische 44
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Gaudium Gehennas, diese aus Johlen, Klffen, Kreischen, Meckern, Rhren, Heulen und Wiehern schauderhaft gemischte Salve von Hohn- und Triumphgelcher der Hlle.« 1 Sie habe es natrlich lngst erkannt: Nicht Adrian Leverkhn lsst seine Ideen vom Teufel in Musik bringen, sondern Thomas Mann schreibt an Theodor W. Adorno, um dann, nach langen Gesprchen, aus dessen Ausfhrungen und Notizen, die soeben gegebene Charakterisierung des frhen Hauptwerkes von Leverkhn niederzuschreiben, der Apocalipsis cum figuris, erst- und letztmalig aufgefhrt 1926 in Frankfurt/Main unter Otto Klemperer (so htte es der Dichter wenigstens gerne gehabt). Thomas Mann wollte »ein Werk« und hatte Adorno tatschlich die Aufgabe gestellt, zu berlegen, was er machen wrde, wre er »im Pakt mit dem Teufel«. 2 Adorno hat diese Herausforderung nicht nur angenommen, sondern sich in dieser mephistophelischen Rolle sichtlich wohl gefhlt und noch Jahre spter Briefe an den Schriftsteller mit »In treuer Verehrung, Ihr alter Teufel« unterzeichnet. 3 Das war auch persnliche Koketterie, aber nicht nur. Die Aufforderung, sich das Diabolische in der Musik zu imaginieren, bedeutete fr Adorno mehr, als nur Hilfestellung fr einen literarischen Kunstgriff zu leisten. Wie wir wissen, hat sich unter Adornos Einfluss die Konzeption des Teuflischen im Doktor Faustus einigermaßen gewandelt. Hatte Thomas Mann ursprnglich beabsichtigt, das Leben und Werk des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkhn als Symbol und Ausdruck der deutschen Katastrophe zu gestalten, den Teufelspakt des Knstlers also mit den teuflischen Vernichtungsorgien der Nazis zu synchronisieren, so wird unter dem Einfluss Adornos der Teufelspakt zur Voraussetzung, die es dem Musiker erlaubt, das knstlerische Werk als einsamen Aufschrei gegen den verhngnisvollen Lauf der Zivilisationsgeschichte zu setzen: allerdings um einen hohen Preis. ber das Verhltnis von Thomas Mann zu Adorno, ber die Rolle, die Adorno bei der Entstehung des Doktor Faustus gespielt hat, ber die Ressentiments der Mann-Familie, besonders von Katja und Erika gegen Adorno, ist viel spekuliert und geschrieben worden. Dass Manns Tochter Erika Adorno nur »pathologisch eitel« fand, voll von 1 2 3
Mann 1980, 501 ff. Adorno/Mann 2002, 21. Adorno/Mann 2002, 95. A
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»blanker Unwissenheit«, gehrt ebenso zu diesen Kuriosa einer Beziehung wie das Verdikt von Ehefrau Katja: »(Adorno) war doch zu weilen wie nrrisch vor Anspruch und Blasiertheit.« 4 Thomas Mann selbst hatte in seiner Entstehung des Doktor Faustus die Rolle Adornos wohl gewrdigt, sie vollstndig aufzudecken, war aber wohl nicht seine Absicht gewesen. So meinte Thomas Mann in einem Brief an Jonas Lesser vom 15. 10. 1951, er habe mit der Entstehungsgeschichte, die er ohnehin nur geschrieben habe, um »Adorno ›Credit‹ zu geben«, einen so starken Scheinwerfer auf Adorno gerichtet, dass dieser »in dessen Licht sich in nicht ganz angenehmer Weise blht, sodaß es bei ihm nachgerade ein wenig so herauskommt, als habe eigentlich er den ›Faustus‹ geschrieben«. 5 Immerhin: er hatte Adorno im Roman selbst ein zumindest zwiefaches Denkmal gesetzt: durch den »Gr-ner Wiesengrund« skandierenden Wendell Kretschmar 6 und durch die zweite Gestalt des Leverkhn dreifach erscheinenden Teufels: »Ein Intelligenzler, der ber Kunst, ber Musik fr die gemeinen Zeitungen schreibt, ein Theoretiker und Kritiker, der selbst komponiert, soweit eben das Denken es ihm erlaubt« 7 Dass aber auch die Physiognomie dieses Teufels an Adorno erinnert, ist eine These, die wohl nicht zuletzt Adorno selbst gerne geglaubt hat, die aber nicht unumstritten ist. Denn der, der da pltzlich in Palestrina vor Leverkhn saß, hatte »einen weißen Kragen um und einen Schleifenschlips, auf der gebogenen Nase eine Brille mit Hornrahmen, hinter dem feucht-dunkle, etwas gertete Augen schimmern, – eine Mischung von Schrfe und Weichheit das Gesicht: die Nase scharf, die Lippen scharf, aber weich das Kinn, mit einem Grbchen drin, ein Grbchen in der Wange noch obendrein, – bleich und gewlbt die Stirn, aus der das Haar wohl erhhend zurckgeschwunden, aber von ders zu den Seiten dicht, schwarz und wollig dahinstand –.« 8 Reich-Ranicki 1987, 183 und 243. Mann 1979b, 225 f. – Adorno selbst hingegen, in seinen wenigen verffentlichten Bemerkungen zu Thomas Mann ußerst zurckhaltend, lsst dennoch auf sublimste Weise die Spannung spren: Seinen Vortrag Zu einem Portrt Thomas Manns widmet er ausgerechnet »Hermann Hesse … in herzlicher Verehrung« und darin heißt es ber die Arbeit am Doktor Faustus: »Ich … hatte mir Leverkhns Kompositionen viel zu genau ausgedacht, als daß ich in der Diskussion viel Rcksicht genommen htte.« (Adorno, GS 11, 341) – Wohl ein deutlicher Hinweis auf die eigentliche Autorschaft der Kompositionen Leverkhns! 6 Mann 1980, 77. 7 Mann 1980, 321. 8 Mann 1980, 321. 4 5
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Michael Maar hat mit guten Grnden darin weniger das Portrt Adornos – da passt nur die Hornbrille – als vielmehr eine genaue Zeichnung Gustav Mahlers gesehen, in dem er dann berhaupt das geheime sthetische Zentrum des Doktor Faustus entdeckt, was dann doch ein wenig zu weit geht. 9 Denn: auch wenn der Teufel nicht aussieht wie Adorno, so redet er jedenfalls wie dieser, zumindest zitiert er seitenlang aus der Philosophie der neuen Musik. Zur Frage nach der kompositionstechnischen Seite des Teufels gehrt so vor allem auch die Frage, wie dieser selbst mit seinen Kompositionen in ein Werk einkomponiert worden ist. Wollte man die Rolle Adornos fr und im Doktor Faustus analysieren, verdichtete sich ›Adorno‹ zu einem Synonym fr einen Materialbestand, der zumindest vier Schichten aufweist: einmal das kulturphilosophische Ambiente, das in der neuen Musik der zweiten Wiener Schule nicht nur ein stellvertretendes Symbol fr die Kunst in der Phase einer gesellschaftlichen Katastrophe sieht, sondern sie als Ausdruck und Moment dieser Katastrophe selbst fasst; zum anderen die Arbeiten Adornos, die Thomas Mann bekannt gewesen sind, vor allem die Philosophie der neuen Musik, die ihm als Typoskript von Adorno zugnglich gemacht worden war; drittens schließlich die Person Adornos selbst, die Thomas Mann im Laufe der Zusammenarbeit nher kennengelernt hatte, und deren Zge und Eigenarten nicht ohne widersprchlichen Eindruck auf ihn geblieben sein mochten; und letztlich die mndlichen und schriftlichen Entwrfe fr die Kompositionen Leverkhns, die Adorno fr Thomas Mann ja tatschlich angefertigt hatte. Thomas Mann war sich der unterschiedlichen Dimensionen seines Materials durchaus bewusst. Dass Adrian Leverkhn die zeitgenssische Kunst reprsentieren sollte, war Thomas Mann von Anfang an klar gewesen. Nur dieses eine Mal, bei dem »Werk seines Alters« – und der Autor bekannte freimtig, beim Gedanken an den Doktor Faustus mit den großen Alterswerken, Parsifal vor allem und Faust II, kokettiert zu haben 10 – habe er von Anfang an gewusst, was er wolle: »nichts Geringeres als den Roman meiner Epoche, verkleidet in die Geschichte eines hoch-prekren und sndigen Knstler-
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Maar 1989. Mann 1984, 142. A
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lebens.« 11 Am 23. Mai 1943 beginnt Thomas Mann mit der Niederschrift des Doktor Faustus. Im Juli 1943 macht der Schriftsteller die Bekanntschaft des Musikphilosophen Theodor W. Adorno, eines »merkwrdigen Kopfes«, von »hnlicher, sprder, tragisch-kluger und exklusiver Geistesform« wie Walter Benjamin; in ihm findet Thomas Mann den gesuchten »Helfer, Ratgeber, geistigen Instruktor«, 12 den er gedenkt, fortan »nahe« neben sich »zu halten«, nachdem Adorno nach einer Vorlesung des Kretschmar-Kapitels einbekannt hatte: »Die ganze Nacht knnte ich zuhren.« 13 Adorno wird, wie Peter de Mendelssohn lapidar resmierte, vor allem was die Beschreibung der fiktiven Kompositionen Leverkhns betrifft, »fr das Gelingen des Doktor Faustus von berragender Wichtigkeit« werden. 14 Ein knappes Jahr spter, Ende Juni 1944, wohl kurz nachdem Thomas Mann amerikanischer Staatsbrger geworden war, verneint er die nach einer abendlichen Vorlesung vertraulich gestellte Frage Leonhard Franks, ob es fr Adrian ein Vorbild gbe und fgt hinzu, dass »Leverkhn sozusagen eine Idealgestalt sei, ein ›Held unserer Zeit‹, ein Mensch, der das Leid unserer Epoche trgt« – und dann gesteht Mann, dass er noch keine seiner Imaginationen so sehr geliebt habe wie den deutschen Tonsetzer. 15 Ein Jahr nach dem Beginn der Bekanntschaft mit Adorno hatte Thomas Mann dessen zentrale Bestimmung der neuen Musik offenbar so sehr auf die Figur des Komponisten bertragen, dass er dieser Fremdbestimmung nicht mehr inneward oder sie nicht mehr preisgeben wollte: »Alle Dunkelheit und Schuld der Welt hat sie (die neue Musik) auf sich genommen«, heißt es nmlich im letzten Abschnitt des Schnbergkapitels der Philosophie der neuen Musik. 16 Es knnte vermutet werden, dass Thomas Mann die Figur des Adrian Leverkhn auch gerade deshalb so lieben konnte, nicht nur weil sie von Anfang an bewusst als Reprsentationsfigur seiner Epoche, das Werk selbst als Alterswerk konzipiert war, sondern weil Adrian ihm letztlich vor allem in Hinsicht seiner Kompositionstechnik ein Fremder geblieben war – kein Geist von seinem Geist. In
11 12 13 14 15 16
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Mann 1984, 154. Mann 1984, 157 f. Mann 1984, 161. de Mendelssohn 1984, 698. Mann 1984, 189. Adorno, GS 12, 126.
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einem mit 30. Dezember 1945 datierten 17 langen Brief an Adorno, in dem er seine skrupellose Haltung zu der Frage der Verarbeitung und Montage unterschiedlicher Materialien – seine »Art von hherem Abschreiben« – in seltener Offenheit darlegt, schreibt Thomas Mann: »Schwieriger, um nicht zu sagen skandalser liegt der Fall, wenn es sich bei der Aneignung um Materialien handelt, die selbst schon Geist sind, also um eine wirkliche literarische Anleihe, gettigt mit der Miene, als sei das Aufgeschnappte gerade gut genug, der eigenen Ideenkomposition zu dienen.« Noch in der selbstgeflligen Entschuldigung schwingt etwas von der verdeckten Einsicht mit, dass Geist nicht schlechthin etwas wre, das sich aneignen, inkorporieren, integrieren ließe. Er hoffe, so Thomas Mann in dem Brief weiter, dass das »Ergriffene, Abgelernte sehr wohl innerhalb der Komposition … ein symbolisches Eigenleben gewinnen knne – und dabei an seinem ursprnglichen kritischen Ort unberhrt bestehen bleibe.« 18 Die oft betonte Souvernitt Thomas Manns gegenber dem Fremden bleibt also fragwrdig. Zwar schreibt Thomas Mann im Zusammenhang mit seinen Adorno-Montagen, ein »Gedanke als solcher wird nie viel Eigen- und Besitzwert haben in den Augen des Knstlers. Worauf es ihm ankommt, ist seine Funktionsfhigkeit im geistigen Getriebe des Werkes«, 19 aber man soll sich von der Besitzfrage, wie Thomas Mann sie ins Spiel bringt, nicht ablenken lassen. Es geht nicht um einen wie auch immer gearteten Vorwurf des Plagiats – Schnberg, der Angst hatte, die Erfindung der Zwlftonmusik knnte Leverkhn, nicht ihm zugeschrieben werden, hat sich durch den aufklrenden Nachsatz, den Thomas Mann daraufhin dem Doktor Faustus anfgte, ohnehin fr alle Zeiten lcherlich gemacht –, sondern um die Frage, was sich mit einem Gedanken, einer Idee, einer Wirklichkeit sui generis im poetischen Kontext eigentlich zutrgt. Thomas Mann ahnte wohl etwas von der eigentlichen Problematik: Am 29. September 1944 hatte er in sein Tagebuch notiert: »Die Montage von Adorno’s musikalischen Gedanken, obgleich Montage ein Kompositionsprinzip des Buches, ist in der Praxis peinlich, und nur geistreiche Absorption durch die Komposition kann die Wie aus den Tagebchern hervorgeht, drfte dieser Brief an Adorno Thomas Mann nicht leicht gefallen sein. Unblich fr ihn, schreibt er drei Halbtage daran: Am 30. 12. notiert Mann: »Vormittags und nachmittags Brief ber den Faustus an Adorno«, am 31. 12.: »Schrieb den Faustus-Brief an Adorno zu Ende.« (Mann 1986, 290) 18 Thomas Mann an Adorno, 30. 12. 1945. In: Mann 1979a, 470 f. 19 Mann 1984, 160. 17
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Anleihe rechtfertigen.« 20 Allein noch diese Bemerkung zeugt von jener Perspektive, unter der Thomas Mann die Angelegenheit sehen musste: Nicht um Verstndnis, um Nachvollzug ging es, schon gar nicht um eine Umsetzung der Gedanken Adornos in Epik, sondern um: geistreiche Absorption. Dem Gedanken selber gegenber eine Haltung, die man genau wegen ihrer poetischen Notwendigkeit durchaus als zynisch, ja vielleicht sogar als ein klein wenig diabolisch bezeichnen knnte. Als eine erste Analyse der Adorno-Zitate im Doktor Faustus geplant war, wirft Thomas Mann ihrem Urheber, dem Schriftsteller Jonas Lesser, »philologische Fleißarbeit«, die den Fleiß nicht lohne, vor und schreibt dann weiter: »Wozu also jetzt noch diese Nachweise und Nebeneinanderstellungen, die, so fhle ich, die Sache berbetonen und dem Werk, dem diese Gedanken organisch integriert sind, Abbruch tun?« 21 Aus diesen Stzen spricht nicht nur die verletzbare Eitelkeit des Romanciers; sie enthalten auch ein objektives Moment: dass der Aufweis, woher ein Gedanke stammt, nichts ber dessen Stellung im Werk verrt. Die Funktionsfhigkeit im Getriebe des Werkes und eine geistreiche Absorption: das ist es, worum es geht. Keine Frage: Die Verbindung der radikalen Musik der Schnberg-Schule, ihrer von Adorno theoretisierten Dialektik von freier Atonalitt und dodekaphonischem Zwang mit der Tragdie eines Zeitalters im Doktor Faustus ist ohne Adorno undenkbar. Nur als fiktiver Erfinder der Kompositionsweise mit zwlf aufeinander bezogenen Tnen konnte Leverkhn Opfer und Reprsentant jener Klte sein, die nicht nur den Teufelspakt symbolisiert, sondern Produktionsbedingung von Kunst unter den entfremdeten Verhltnissen selbst ist. Indem Thomas Mann diesen Sachverhalt allerdings als Schicksal einer Person, die letztlich als invertierte Variante des romantischen Knstlertopos gelten muss, darstellt, hat er allerdings gerade diesen Kern des Verhltnisses von subjektiver sthetischer Produktivitt und dem objektiven gesellschaftlichen Verhngnis, das sich im Zwang zur Objektivierung des musikalischen Materials hin zur Dodekaphonie manifestiert, nicht gestaltet. Die Differenz des Kontexts schlgt um zur Differenz ums Ganze. Wenn es in der Philosophie der neuen Musik heißt: »Musik, zum Augenblick geschrumpft, ist wahr als Ausschlag negativer Erfahrung. Sie gilt dem 20 21
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Mann 1986, 107. Mann, Brief an Jonas Lesser vom 15. 10. 1951, in: Mann 1979b, 225.
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realen Leiden. In solchem Geist demoliert die neue Musik die Ornamente und damit die symmetrisch-extensiven Werke«, so gilt dies als analytische Rechtfertigung der »krzesten Stze« von Schnberg und Webern ebenso wie dem kunstphilosophischen Gedanken, dass Kunst, durch ihre immanente Logik gezwungen, das reale Leiden zu thematisieren, nicht anders kann, als dafr ihre Mittel technisch so sehr zu verknappen, bis sie letztlich ins antisthetische, radikal: ins Verstummen umschlagen muss. 22 Adorno zitiert allerdings als Fußnote zu dieser Stelle kommentarlos Friedrich Hlderlins Ode Die Krze, in der es heißt: »Warum bist du so kurz? liebst du, wie vormals, denn / nun nicht mehr den Gesang? … Wie mein Glk, ist mein Lied ???…/… hinweg ists! und die Erd’ ist kalt« 23 . Dies lsst ahnen, wie sehr der Zusammenhang von ußerster formaler Konzentration und sthetischer Bewltigung von Leid fr ihn die Rechtfertigung in der Kunst selbst suchte. Was aber machen Thomas Mann und Adrian Leverkhn mit diesem Gedanken an die Krze? Thomas Manns Doktor Faustus erstreckt sich ber 680 Seiten, und Leverkhns Hauptwerke sind voluminse, alle orchestralen Grenzen sprengende Großkompositionen. Wenn, in dem alles entscheidenden Gesprch zwischen Adrian und dem Leibhaftigen, dieser, die oben zitierte Stelle aus der Philosophie der neuen Musik paraphrasierend, sagt: »Werk, Zeit und Schein, sie sind eins, zusammen verfallen sie der Kritik. Sie ertrgt Schein und Spiel nicht mehr, die Fiktion, die Selbstherrlichkeit der Form, die die Leidenschaften, das Menschenbild zensuriert, in Rollen aufteilt, in Bilder bertrgt. Zulssig ist allein noch der nicht fiktive, der nicht verspielte, der unverstellte und unverklrte Ausdruck des Leides in seinem realen Augenblick« und Leverkhn darauf »sehr ironisch« antwortet: »Rhrend, rhrend. Der leidige Teufel moralisiert. Das Menschenleid liegt ihm am Herzen. Zu seinen Ehren hofiert er in die Kunst hinein« 24 , dann hat dieser Teufel nicht nur seinen Adorno schlecht gelesen, dem die Kunst, nicht das Leiden zum Augenblick geschrumpft war, sondern die »etwelchen zeitkritischen Aperus« – wie Thomas Mann das von Adorno fr den Teufel Entborgte nannte – ndern in der Gesprchssituation ihren Sinn. Leverkhn hat recht, dem Teufel ein unangemessenes Pathos vorzuwerfen. Den Gedanken, dass Kunst dem rea22 23 24
Adorno, GS 12, 43. Hlderlin 1985, Bd. 4/Oden I, 103. Mann 1980, 325. A
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len Leiden sich stellen msse, ausgerechnet dem Teufel in den Mund zu legen und diesen doch einige Zge des ursprnglichen Autors dieser These zu geben, kann nur einen doppelten Sinn haben: im Roman der Figur des Adrian Leverkhn die Mglichkeit zu geben, diesem Pathos gerade im Pakt zu entgehen und die Kunst nicht um den Preis ihrer Einschmelzung auf das reale Leid der Menschen zu verpflichten, sondern wenn schon, dann auf ein je schon sthetisiertes – Adorno ahnte das wohl, als er Thomas Mann davon abbringen wollte, Adrians Apocalipsis cum figuris auf Albrecht Drers apokalyptische Bltter zu grnden 25 . In der Theorie bricht der Teufel also mit der Idee des Werkes, erweist sich als Avantgardist in dem Sinn, dass er an eine immanente Logizitt des kompositionstechnischen Fortschritts glaubt, der allerdings letztlich in einer sthetik des ußersten Konzentration, der knappsten Form, ja des Verstummens enden muss. Mit Recht hat Karol Sauerland einmal darauf hingewiesen, dass man sich nicht nur fragen knnte, was aus dem Doktor Faustus ohne Adorno geworden wre, sondern auch, was gewesen wre, wenn Thomas Mann Adorno wirklich verstanden htte. 26 Das Teuflische an der schriftstellerischen Arbeit Thomas Manns liegt nun darin, dass er seinen Teufel gegen sich selbst komponieren lsst. Denn die Musik Adrian Leverkhns, die, htte der Komponist sich auf die sthetische Doktrin des Leibhaftigen eingelassen, klingen msste wie Anton von Webern, liest sich ber weite Strecken ganz anders. Sie erinnert in der Tat eher an eine ins Extreme ausgedehnte Klangwelt Gustav Mahlers als an den zurckgenommen Klang des radikalsten Zwlftners. Der Akzent liegt nicht auf der kalkulierten thematischen oder motivischen Arbeit, auch nicht auf der Reihentechnik, sondern auf dem unorthodoxen Einsatz von Instrumenten (Posaunenglissando), Orchestergruppen, Spieltechniken und vor allem der menschlichen Stimme, alles um hchst unmittelbare, drastische, ja barbarische Affekte zu erzielen. Interessant fr unsere Fragestellung ist dabei die Evokation des Technischen selbst. Denn Technik erscheint auch hier in ihrer zwiefachen Gestalt, als hchste Kunstfertigkeit und als mechanisierte Verdinglichung. Wenn es von der Apocalipsis cum figuris heißt, dass sich darin der Chor und das Orchester nicht als das Menschliche und das Dingliche klar gegenberstehen, sondern ineinander aufgelst 25 26
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Mann 1984, 234. Sauerland 1977.
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sind, der Chor instrumentalisiert, das Orchester vokalisiert, so sehr, dass die Grenze zwischen Mensch und Ding verrckt erscheint, so hat dies nicht nur fr Serenus Zeitblom etwas »Bsartiges« an sich, sondern erinnert nur zu sehr an die Verkehrung des Ursprungszustandes durch die Triumphe der instrumentellen Vernunft in der Dialektik der Aufklrung: »Der Animinismus hatte die Sache beseelt, der Industrialismus versachlicht die Seelen.« 27 Und an der oben zitierten Stelle spricht der Erzhler mit einer ungemein produktiven Formulierung vom »technischen Komfort des Entsetzens«, der durch den Einsatz von Lautsprechern erzielt wird, durch die das schon von Gustav Mahler eingesetzte Fern-Orchester technisch radikalisiert und verstrkt wird. Die Inhumanitt, die diese Musik produziert, um die vermeintliche Inhumanitt der Welt anzuklagen, greift also nahezu mimetisch auf das Technische als auf das Nichtmenschliche zurck. Erzeugt werden soll aber dadurch nicht Reflexion, sondern reiner Affekt. Es geht um den »Eindruck des Entsetzens«, es geht um eine »akustische Panik«, hervorgerufen etwa durch den Einsatz einer Maschinenpauke. Und wenn gar das »Triumphgelchter der Hlle« selbst musikalisch zum Ausdruck gebracht werden soll, dann drhnt aus Chor und Orchester eine schauderhafte gemischte Salve von »Johlen, Klffen, Kreischen, Meckern, Rhren, Heulen und Wiehern« – zur kompositorischen Errungenschaft des Teufels gehrt die Wiedergewinnung des reinen Naturlauts, der Umschlag von hchster Artifizialitt in unmittelbare akustische Eruptionen des Affekts, die Emanzipation des Geruschs, des Schreis, des nichtinstrumentalen Lautes ist damit vollzogen. Dass, nebenbei, dort, wo das Teuflische selbst zum Thema dieser Komposition wird, auch das Saxophon eine groteske vox humana abgeben darf, und Jazz-Klnge zu »rein infernalischen« Zwecken benutzt werden, lsst ahnen, was dem Schriftsteller oder seinen komponierenden Teufel in der Musik wirklich teuflisch vorkam. Im modernen Denken reprsentiert das Teuflische nicht die Lust an der Zerstrung, sondern, wie es Jonathan Milton einmal formulierte, die Zerstrung jeder Lust. Es ist das Destruktive an sich, invertierte Vernunft, die alles der Maxime der Zerstrbarkeit unterordnet, eine Inversion, die Immanuel Kant, der dem Menschen wohl einen Hang zum Bsen attestierte, fr menschenunmglich hielt. Im stheti27
Horkheimer/Adorno 1971, 29. A
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schen Diskurs der Moderne, so knnte man sagen, bestand das Teuflische in der – falschen? – Verheißung, dass die bernahme dieser Zerstrung aller Lust in der Kunst die Welt von dieser Destruktivitt entshnen knnte. Die sich selbst strangulierende neue Musik schlpft in die Rolle des leidenden Erlsers. Ein teuflischer, weil zutiefst blasphemischer Gedanke. Die Hoffnung Adornos, dass die authentischen Kunstwerke gerade in ihrer Logik des Zerfalls, die sich gleichzeitig als technisch-kompositorischer Fortschritt enthllen soll, noch einmal der Welt die Augen ffnen knnten, markiert den letzten Punkt einer negativen Utopie, die im Kunstwerk Fortschritt und Selbstzerstrung zusammenfallen ließ in der Hoffnung, damit gegen die realen Teufeleien der Gesellschaft noch etwas ausrichten zu knnen, wie vergeblich auch immer. Fr diese Mglichkeit war allerdings ein Preis zu entrichten: das sthetische Lustverbot, das als strenges Korrelat zu dem Adrian Leverkhn auferlegten Liebesverbot gedacht werden kann. Das Kunstwerk, das aus dieser emotionalen Klte entsteht, darf und kann nichts anderes sein als Konstruktion, Logik, Technik. Das Werk verdankt sich nicht weiter wie noch bei Kant einem Ingenium, durch das die Natur selbst spricht, sondern dem nackten Kalkl, einer technisch gedachten Rationalitt, die, mit welchem Instrumentarium auch immer, den Aufschrei nur noch synthetisch erzeugen kann. Die Grundfigur des Diabolischen im Doktor Faustus ist allerdings gerade deshalb sptromantisch: der Kunst muss ein Opfer gebracht werden, sie muss Leben aufsaugen, um in ihrer Knstlichkeit doch leben zu knnen. In einer seiner frhen, vormarxistischen Schriften zitiert der ungarische Philosoph Georg Luk cs, dem Thomas Mann im Zauberberg in der Figur des Naphta ein Denkmal gesetzt hatte, einmal die uralte Legende von dem Tempelbau, »wo die Teufel nachts immer alles zerstren, was tagsber gebaut wurde, bis man sich entschlossen hat, daß einer von denen, die am Bau arbeiten, seine Frau opfern muss, die Frau, die an einem gewissen Tag als erste zu ihnen kommen wird. Es war die Frau des Werkmeisters … Der Kitt, der das Werk mit dem gebrenden Leben verbindet, trennt es fr alle Ewigkeit von ihm: er ist aus Menschenblut.« 28 Wer in Zeiten der verbrauchten Formen, der zur Lge geronnenen sthetischen Verheißungen noch an einem authentischen Kunstwerk schaffen will, muss dafr mit seinem Leben, mindestens mit seiner Liebesfhigkeit ein28
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Luk cs 1912, 82.
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stehen. Die Atmosphre des Diabolus ist die der Klte. Die Emotionen, die in einer alle Traditionen und Regeln konterkarierenden Musik hervorbrechen, sind dem Knstler selbst verwehrt. Authentisch ist diese Musik, weil ihr Komponist nicht mehr authentisch sein darf. Die sthetische Katastrophe, die Thomas Mann im Doktor Faustus mit der historischen Katastrophe synchronisiert, besagt, dass das Werk berhaupt nur mehr gelingen kann, wenn es auf das Leben selbst verzichtet. Der Tod des kleinen Echo – fr Michel Maar eine Reminiszenz der Kindertotenlieder Gustav Mahlers und ihrer tragischen Bewahrheitung – bringt Adrian Leverkhn dazu, die knstlerische Verheißung des brgerlich-humanen Zeitalters, Beethovens 9. Symphonie, zurckzunehmen. Die Zurcknahme dessen, was mglich schien, des »Guten und Edlen«, des Menschlichen am Menschen, 29 erweist sich als eine Aufgabe der Kunst, die im Verzicht auf das Leben nichts anderes mehr zum Ausdruck bringen kann als eben diesen Verzicht. Dieser Zurcknahme, und das ist das Teuflische daran in Thomas Manns Roman, verdanken wir Dr. Fausti Weheklag, Adrian Leverkhns Vermchtnis und nachweisbar zum grßten Teil eine wrtliche Inkorporation der Notizen Adornos zu diesem Werk. Wo der Mensch verschwindet, dort waltet die Technik. Schon der Einsatz der Lautsprecher in der Apocalipsis deutet eine Verdinglichung jenes Klanges an, der bislang immer noch als Ausdruck und Resultat lebendigen Musizierens gewertet worden war. Was bedeutet diese Technifizierung der Musik durch Apparate fr diese selbst? Entscheidend fr diese Frage drfte weniger sein, dass die Technik das Komponieren in eine Ttigkeit transformiert hat, die sich neuer, elektronisch und digital erzeugter Klnge bedienen und mittlerweile auch auf vielfltige vorprogrammierte Komponiersoftware zugreifen kann, sondern dass sich durch die Technik die Begegnung mit Musik, das Hren insgesamt radikal gewandelt hat. Wir sind, wie keine Zivilisation vor uns, in einem ungeheueren Ausmaß von Musik umgeben, frmlich permanent in Musik getaucht. In der Regel aber handelt es sich um technisch reproduzierte Musik, sie tnt aus den omniprsenten Lautsprechern, nur in Fußgngerzonen und im Konzerthaus kann man lebendigen Menschen beim Musikmachen noch zusehen. Was aber hren wir eigentlich, wenn wir Musik zu Hause hren, beim Frhstck, auf der Straße, im Supermarkt, im Auto, im Kino, in der Diskothek, im Konzerthaus? Wie bewusst hren wir 29
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Filmmusik, die eine Bilderfolge emotional akzentuiert? Ist eine Symphonie, die man nebenbei hrt, beim Autofahren oder Essen, in letzter Konsequenz nicht ein anderes Werk als die gleiche Symphonie, die konzentriert in einem Konzertsaal gehrt wird? In dem Aufsatz ber den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hrens aus dem Jahre 1938 hatte Adorno die Auswirkungen von Radio und Schallplatte auf die Rezeption von Musik analysiert und war zu einer seinerzeit vieldiskutierten These gekommen, die man unter der Perspektive unserer Fragestellung so formulieren knnte: Whrend die Selbstzerstrung der Werke durch die Negativitt ihrer immanenten kompositorischen Technik noch als letztes Aufflackern des Wahrheitsgehaltes im universalen Verblendungszusammenhang gedeutet werden knnte, besteht das eigentlich Teuflische in der Zerstrung der Werke durch ihre technische Konservierung und den damit verbundenen unbeschrnkten Verbreitungsmglichkeiten. Adorno kommt, ganz im Gegensatz zu Walter Benjamin, gegen den dieser Aufsatz gerichtet war, zu dem Schluss, dass die technische Reproduzierbarkeit, etwa von Musik in Form der Schallplatte, zu einem neuen Fetischismus fhrt. Grundlage dieses Fetischismus ist die Tatsache, dass Musik als Ware erhltlich ist und nicht mehr ihre sthetische Qualitt, sondern die sekundre Aura des Betriebs, der sich aus Stars, Technik und Propaganda zusammensetzt, zum eigentlichen Grund und Gegenstand des Kunstverlangens wird. Resultat davon ist, dass sich die Lebendigkeit der Musik den Formen ihrer technischen Vermarktung anpasst und unterwirft. Adorno schreibt: »Der neue Fetisch ist der lckenlos funktionierende, metallglnzende Apparat als solcher, in dem alle Rdchen so exakt ineinander passen, daß fr den Sinn des Ganzen nicht die kleinste Lcke mehr offen bleibt. Die im jngsten Stil perfekte, makellose Auffhrung konserviert das Werk um den Preis seiner definitiven Verdinglichung. Sie fhrt es als ein mit der ersten Note bereits Fertiges vor: die Auffhrung klingt wie ihre eigene Grammophonplatte … Die bewahrende Fixierung des Werks bewirkt dessen Zerstrung: denn seine Einheit realisiert sich bloß in eben der Spontaneitt, die der Fixierung zum Opfer fllt.« 30 Natrlich bezog sich Adorno dabei auf den von Marx sogenannten »Fetischcharakter der Ware«, die im kapitalistiAdorno, GS 14, 31 f. (ber den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hrens).
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schen Kreislauf Gebrauchswerte nur noch vorspiegelt, wo allein der Tauschwert waltet. Halbbewusst rhrt der Fetischcharakter in der Musik allerdings auch an die tiefenpsychologische Ausdeutung dieses Begriffs: der Teil wird fr das Ganze genommen, die Befriedigung des Partialtriebes ersetzt den umfassenden Lustgewinn. Wer verzckt an den Reglern seiner HiFi-Anlage dreht oder den Stardirigenten bewundert, verhlt sich wie der im Freudschen Sinn Perverse, der sich mit dem Lederstiefel anstelle der Frau begngt. Die Reduktion der Libido auf die Befriedigung von Partialtrieben aber ist infantil. Die Wunderwerke der Technik sind, ganz wie es der Volksmund vermeint, genau deshalb Teufelszeug. Schon in den 20er Jahren hatte der junge Philosoph Gnther Anders, der damals noch Stern hieß, eine erschreckende Erfahrung gemacht, die heute nur noch nachvollzogen werden kann, wenn man sich in die Situation eines Menschen versetzt, der zum ersten Mal Musik aus einem Radio hrt. Anders berichtete einmal: »Ich wohnte damals in Drewitz, in Berlin in einer Vorstadtstraße, und aus allen Fenstern sang dieselbe Tenorstimme« 31 . Natrlich – das war zu einer Zeit, als es gerade ein einziges Radioprogramm gab, das diese Tenorstimme ubiquitr erscheinen ließ, so, als spukte es aus allen Fenstern. Die aus diesem Anlass entstandene Glosse Spuk im Radio, Anders’ erste kleine medienphilosophische Arbeit, wurde dann in der damals von Theodor W. Adorno redigierten Musikzeitschrift Anbruch publiziert – von jenem Adorno, der, teuflisch genug, wenig spter Anders musikphilosophische Habilitation in Frankfurt hintertreiben sollte. In diesem frhen Text heißt es: »Es ist hchst sonderbar und einer Interpretation bedrftig, daß Technik akzidentiell Spuk mit sich bringen kann«. Anders behauptete schon damals, dass eine »programmatische Humanitt« nur dort entstehen kann, wo der Mensch die technischen Produkte ignoriert; dort aber, wo er sich »zu ihnen bekennt«, versucht, sich genau an diesen Schock des Spukhaften zu gewhnen, dem »Unmßigen innerlich sich anzumessen« trachtet, dort wird der Mensch selbst unmenschlich. 32 Hier findet sich also zum ersten Mal ein Grundgedanke von Anders ausgesprochen: dass das technische Medium das dem Menschen Gemße berschreitet und damit tendenziell zerstrt. Es sind die Reproduktionsapparate, die unter dieser Perspektive das Hren sabotieren knnen. In seiner Studie ber die 31 32
Mndliche Mitteilung vom Juni 1982. Stern 1930, 66. A
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musikalische Verwendung des Radios hatte dann Adorno spter brigens diesen Gedanken von Anders aufgegriffen und den »Schock der Ubiquitt« dafr mitverantwortlich gemacht, »daß die musikalische Erfahrung ihrem emphatischen Charakter« verloren habe 33. Zumindest fr den Umgang mit den musikalischen Werken der Tradition wirkt sich deren jederzeitige technische Verfgbarkeit nach Adorno verheerend aus. Nicht nur, dass die Auffhrungspraxis dem Fetisch der technisch makellosen Reproduktion huldigt und damit den musikalischen Kern eines Werkes zerstrt, zwingt die damit verbundene Form der Rezeption den Hrer, auf eine niedrige Stufe des sthetischen Bewusstseins zurckzufallen: »Am Gegenpunkt zum Fetischismus der Musik vollzieht sich eine Regression des Hrens … Die hrenden Subjekte bßen mit der Freiheit der Wahl und der Verantwortung nicht bloß die Fhigkeit zur bewußten Erkenntnis von Musik ein, die von je auf schmale Gruppen beschrnkt war, sondern trotzig negieren sie die Mglichkeit solcher Erkenntnis berhaupt. Sie fluktuieren zwischen breitem Vergessen und jhem, sogleich wieder untertauchenden Wiedererkennen … Mit Sport und Film tragen die Massenmusik und das neue Hren dazu bei, das Ausweichen aus der infantilen Gesamtverfassung unmglich zu machen. Die Krankheit selbst hat konservierende Bedeutung.« 34 Das ist, mit Verlaub, ziemlich bse und trifft doch noch immer den Kern einer Reproduktionstechnologie, die im Zeitalter der Digitalisierung ja noch einmal ungeahnte Fortschritte erzielte – wenn auch in der Potenzierung der Fetische. Mit diesen Reflexionen deutet sich bei Adorno eine Skepsis an, die zunehmend bezweifelt, ob die Technik der Apparate berhaupt in der Lage ist, sthetische Innovationsschbe zu bewirken, oder ob sie nicht vielmehr, gemessen an dem, was Kunst auch und gerade in der anbrechenden Moderne bedeutete, destruktiv wirken muss. Denn die eigentlichen Gegenspieler und damit die eigentlichen Orte der Widerstandskraft gegen den marktverordneten Musikgenuss sind fr Adorno die Protagonisten der musikalischen Moderne: »Der Schrecken, den Schnberg und Webern heute wie einst verbreiten, rhrt nicht von ihrer Unverstndlichkeit her, sondern davon, daß man sie nur allzu richtig versteht. Ihre Musik gestaltet jene Angst, jenes Ent33 34
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Adorno, GS 15, 371. Adorno, GS 14, 34 f.
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setzen zugleich, jene Einsicht in den katastrophalen Zustand, dem die anderen bloß ausweichen knnen, indem sie regredieren.« 35 Hier spricht, und damit schließt sich der Teufelskreis, noch einmal der sympathische Teufel, der eine Kompositionstechnik mit einer geschichtsphilosophischen Hoffnung verbinden wollte. Angesichts der mittlerweile bruchlosen Absorption der Schnberg-Schule durch den markt- und medienorientierten Musikbetrieb wird man wohl die Diagnose wagen drfen, dass wir uns lngst von solchen sinistren Engfhrungen von Musik, Philosophie und Technik gelst haben. Ob dies ein Gewinn ist, oder ob der Verzicht auf das Diabolische um den Preis der Fetischisierung und der Regression auch einer sthetischen Verlustanzeige gleichkommt, muss an dieser Stelle nicht entschieden werden. Triumphiert hat jedenfalls jene Seite des Diabolischen, die knstlerische Schaffenskraft nicht mehr aus einer heroischen Negation des Lebens und der Lust einfordert, sondern die dabei entstehende Klte einfach zu jenen glitzernden Apparaturen materialisiert hat, deren Bedienung keinerlei Dmon mehr erfordert, die selbst aber Quelle einer mannigfachen Lust geworden sind, die abgeleitet, sekundr oder unwahr zu nennen zumindest griesgrmig wre. Dieser Lust aber offensiv zu frnen – das msste zumindest dem zweiten Teufel aus dem Doktor Faustus schlicht teuflisch vorkommen.
Literatur Adorno, Theodor W. (1970 ff.) Gesammelte Schriften, Frankfurt/M: Suhrkamp: 1970 ff. [zitiert als GS] Adorno, Theodor W. / Mann, Thomas (2002): Briefwechsel 1943–1955. Hg. von Christoph Gdde und Thomas Sprecher. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Friedrich Hlderlin (1985): Smtliche Werke, Kritische Textausgabe, ed. D. E. Sattler, Darmstadt und Neuwied. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W. (1971): Dialektik der Aufklrung. Frankfurt/M: Fischer. Luk cs, Georg (1912): Von der Armut am Geiste. In: Neue Bltter 5–6/1912. Maar, Michael (1989): Der Teufel in Palestrina. Neues zum Doktor Faustus und zur Position Gustav Mahlers im Werk Thomas Manns. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 30/1989, 211–247.
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Konrad Paul Liessmann Mann, Thomas (1979a): Briefe II (1937–1947), hrsg. von Erika Mann, Frankfurt/ Main: Fischer. – (1979b): Briefe III (1948–1955) und Nachlese, hrsg. von Erika Mann, Frankfurt/ Main: Fischer. – (1980): Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkhn erzhlt von einem Freunde. Gesammelte Werke in Einzelbnden, Frankfurt/ Main: Fischer. – (1984): Die Entstehung des Doktor Faustus. In: Rede und Antwort, Gesammelte Werke in Einzelbnden, ed. Peter de Mendelssohn, Frankfurt/Main: Fischer. – (1986): Tagebcher 1944 – 1946, hrsg. von Inge Jens, Frankfurt/Main: Fischer. Mendelssohn, Peter de (1984): Nachbemerkungen des Herausgebers zu Thomas Manns Doktor Faustus, in: Mann 1984. Reich-Ranicki, Marcel (1987): Thomas Mann und die Seinen, Stuttgart: DVA. Sauerland, Karol (1977): Doktor Faustus ohne Adorno? In: Germanica Wratislaviensia 29. Acta Universitatis Wratislaviensis Nr. 361, Warszawa, 125–127. Stern, Gnther (1930): Spuk und Radio. In: Anbruch XII, 2/1930.
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Das Nothung-Prinzip: Wagners Kompositionstechnik und Philosophie des Neuen 1 Christoph Ltge
Fortschritt ist der Weg vom Primitiven ber das Komplizierte zum Einfachen. Wernher von Braun
»Excrement! That’s what I think of Mr. J. Evans Pritchard! We’re not laying pipe, we’re talking about poetry. How can you describe poetry like American Bandstand? ›I like Byron, I give him a 42, but I can’t dance to it!‹« In dem Film »Dead Poets’ Society« (1989) macht sich Robin Williams alias John Keating lustig ber den Versuch, Qualittskriterien – und damit Qualittsunterschiede – von Gedichten aufzustellen. Es mag ja sein, dass J. Evans Pritchards (fiktiver) Versuch, Gedichte anhand von zwei Kriterien, nmlich perfection und importance, zu klassifizieren, allzu simpel ist. Aber ist dieses Ziel deswegen grundstzlich falsch und/oder unerreichbar? Eine Reihe von Autoren sind nicht dieser Meinung. 2 Die erheblichen praktischen Schwierigkeiten, Kunstwerke nach ihrer Qualitt zu unterscheiden, die zugestanden werden, sagen noch nichts ber die Mglichkeit einer solchen Unterscheidung aus. G. Engel (2003, 490 f.) schreibt: »Unsere Gefhle, unsere Intuitionen, unsere Beobachtungen, ja selbst hufige Beobachtungen geben zusammen genommen kein zureichendes Kriterium ab, von einem Kunstwerk zu sprechen. Hinzu tritt noch etwas anderes: die problemlsende Kraft eines Werkes; seine integrative Kraft; sein kritischer Traditionsbezug; seine Komplexitt; seine Einfachheit und Schnheit (!) – und anderes mehr.« (Hervorhebung im Original) Engel fhrt hier mehrere Kriterien an. Fr den vorliegenden Zusammenhang sind vor allem die Problemlsungskraft und der Tra1 2
Ich danke Gerhard Engel fr Anregungen zu diesem Aufsatz. Vgl. etwa mit Bezug auf die bildende Kunst Gombrich 1978. A
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ditionsbezug eines Werkes wichtig. Zunchst zur Problemlsungskraft: Wichtig ist hier, dass ein Kunstwerk nicht nur als Ausdruck von Gefhlen gesehen werden kann, sondern als Versuch, bestimmte (kompositionstechnische) Probleme zu lsen. Engel zitiert hier Dahlhaus (1970, 21): »Die Entwicklung des Komponierens erscheint als Prozess, in dem sich, analog zum Fortgang einer Wissenschaft [!], die Werke als Lsungen von Problemen prsentieren, die ihnen von frheren Werken hinterlassen worden sind.« Damit zusammen hngt das Kriterium des kritischen Traditionsbezugs: Engel nennt als Beispiel Beethoven, der sein op. 1 (Klavier-Trios) erst verffentlichte, als er sich sicher war, die musikalische Sprache seiner Gegenwart zu beherrschen. Erst dann glaubte er sich gerstet, der kompositorischen Problemsituation seiner Zeit gegenbertreten zu knnen. Der kritische Traditionsbezug wird hier somit zum Kernkriterium fr die Qualitt eines musikalischen Werkes erhoben. Genau um diesen kritischen Traditionsbezug soll es in diesem Aufsatz gehen. Ich vertrete hier die Auffassung, dass insbesondere Richard Wagners Weise des Umgangs mit der Tradition einem theoretischen Prinzip folgt, das ich das »Nothung-Prinzip« nennen will. Dieses Prinzip ist fr die Philosophie heuristisch fruchtbar, was ich anhand von Beispielen aus sthetik, aber auch aus Ethik und Gesellschaftstheorie zeigen werde. Beginnen mchte ich jedoch mit einigen Vorbemerkungen zu Wagner.
1) Wagner und die Philosophie Das Thema ›Wagner und die Philosophie‹ ist immer noch ein schwieriges. Auf Wagner und seinen Schriften lastet der Vorwurf des Antisemitismus. 3 Insbesondere das Pamphlet »Das Judentum in der Musik« (Wagner 2000), in dem Wagner bestimmte musikalische Strmungen seiner Zeit verdammt, denen vornehmlich jdische Komponisten angehrten, hat dem Ruf seines Verfassers schwer geschadet. 4 Aber auch in anderen Schriften finden sich Ausflle WagVgl. dazu ausfhrlich die Beitrge in Borchmeyer et al. 2000. Dabei ist es nicht so sehr die frhe Verffentlichung des Pamphlets von 1850, die man noch als ›Jugendsnde‹ ansehen knnte, sondern die Wiederauflage im Jahr 1869, die im Zentrum der Kritik steht. Vgl. dazu Fischer 2000.
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ners gegen Juden (insbesondere Meyerbeer), allerdings ebenfalls gegen Kritiker, Verleger, das Publikum, die Deutschen im Allgemeinen und gegen einige mehr. Nun entstammt das Nothung-Prinzip, dem ich hier nachgehen will, eher dem kompositorischen Werk Wagners. 5 Die Frage ist, ob sich antisemitische Tendenzen auch durch das kompositorische Werk ziehen. Gelegentlich wird behauptet, dass bestimmte Personen in seinen Musikdramen antijdische Zge trgen, etwa Beckmesser in den Meistersingern oder Mime im Ring des Nibelungen. H. Danuser (2000) ist dieser Frage nachgegangen. Sein Ergebnis lautet, dass sich in Wagners Musikdramen antisemitische Tendenzen nicht festmachen lassen. Keiner der Wagner’schen Charaktere trgt Zge, die ihn zwingend als Karikatur eines Juden erscheinen lassen: Mime etwa bedient sich auch der Stabreime, was jdischen Charakteren nach Wagners ›Sprachtheorie‹ gar nicht mglich sein soll. Beckmesser ist eher als Karikatur eines in Konventionen erstarrten akademischen Komponisten (oder eines Kritikers) zu verstehen. Danuser kommt daher zu dem Schluss, dass sich Wagners Musikdramen nicht mit den antisemitischen Gedanken ihres Komponisten infiziert haben (vgl. Danuser 2000, 79 f.; vgl. ebenso auch Bermbach 2000, 59). Selbst wenn man dieses Ergebnis nicht akzeptierte, d. h. wenn man behauptete, Antisemitismus auch in den Musikdramen nachweisen zu knnen, so bliebe zu belegen, dass dies auch jene Teile der Musikdramen betrifft, die fr das Nothung-Prinzip relevant sind. Nur ein allgemeiner Hinweis auf diesen oder jenen antisemitischen Einschlag reicht nicht aus. Daher sehe ich es zumindest vorlufig als grundstzlich legitim an, philosophische Einsichten aus Wagners kompositorischem Werk zu gewinnen. Ist dies jedoch berhaupt mglich? Knnen musikalische Strukturen der Philosophie Einsichten liefern? In dem krzlich erschienenen Band »Musik in der deutschen Philosophie« (Sorgner 2003) widmen sich die Autoren dem Thema Musik in den Arbeiten von u. a. Kant, Hegel, Schopenhauer und Nietzsche. Allerdings wird der Einfluss der Musik systematisch nur anhand der Fragestellung betrachtet, wie versucht wurde, Musik als Phnomen in die jeweilige bereits Zweifellos wird der diesem Prinzip zugrundeliegende Gedanke in Wagners Schriften (etwa Wagner 1996) auch theoretisch unterlegt. Allerdings lsst er sich, wie im Folgenden deutlich wird, auch ohne Bezug zu diesen Schriften darstellen und produktiv verwenden.
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bestehende Philosophie – mehr oder weniger erfolgreich – zu integrieren. 6 Die Philosophie selbst verndert sich dabei nicht. Es ist eine weitergehende Frage, inwieweit musikalische Strukturen selbst fr die Weiterentwicklung einer Philosophie von heuristischem Wert sein knnen. Tatschlich erhlt die Philosophie heute in vielen Bereichen wesentliche Impulse aus anderen Wissensformen, insbesondere aus den Einzelwissenschaften: • Die Erkenntnistheorie erhlt heute wesentliche Anregungen aus Kognitionswissenschaften, Biologie und Psychologie. Dies hat G. Vollmer (1975/1990) mit der evolutionren Erkenntnistheorie hinreichend deutlich gemacht. • Die Wissenschaftstheorie greift heute auf Kognitionswissenschaften und Psychologie (vgl. etwa Goldman 1986), aber auch auf Sozialwissenschaften und konomik zurck (vgl. Ltge 2001). • Die Ethik kann von der konomik lernen, wie das Problem der Durchsetzung moralischer Normen, das in weiten Teilen der Ethik-Diskussion vernachlssigt worden ist, heute angegangen werden kann (vgl. Homann 2002). Die konomik ist dabei, »Fortsetzung der Ethik mit anderen Mitteln« (ebd., Kap. 11) zu werden. In allen diesen Fllen bleibt die jeweilige philosophische Disziplin nicht die gleiche. Vielmehr verndert sie sich und ihre Problemstellung in Reaktion auf die Impulse von außen. In der Ethik etwa wird die klassische kantische Frage ›Was soll ich tun?‹ – zwar nicht vllig ersetzt, aber zumindest – ergnzt durch die Frage ›Durch welche Regeln kann eine Gesellschaft zum Vorteil aller stabil bleiben?‹. Aber die Philosophie erhlt Anregungen nicht nur aus anderen Wissenschaften, sondern auch aus ganz anderen Wissensformen. Die Idee des »Denkens in Verfassungen«, das R. Homann (1999) als Prinzip moderner Lyrik nachweist, liefert wichtige Anregungen. Moderne Lyrik kann nach Homann (1999) als Experimentierfeld fr das Ausprobieren neuer und mehr Mglichkeiten in modernen Gesell-
Schopenhauer etwa spricht der Musik die Rolle zu, den ›Willen‹ selbst auszudrcken, d. h. ein philosophisches Konzept, das vor und unabhngig von musikalischer Erfahrung konzipiert worden ist (vgl. Zller 2003).
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schaften dienen. Warum soll nicht auch die Musik etwas hnliches beisteuern knnen? Damit zurck zu Wagner: M. E. lsst sich aus einer bestimmten, besonders fr Wagners ›Gesamtkunstwerk‹ charakteristischen Technik des Komponierens eine philosophische Lektion lernen. 7 Nun liegt zu Wagners Kompositionstechnik eine Flle von Literatur vor 8, die hier nicht aufgearbeitet werden kann. Mir geht es vielmehr um ein bestimmtes Prinzip: Wagners Kompositionstechnik – und auch einigen nicht-musikalischen Strukturen seiner Musikdramen – liegt ein theoretisches Prinzip zugrunde, das ich als das Nothung-Prinzip bezeichne und im Folgenden erlutern werde.
2) Das Nothung-Prinzip: Wagners Kompositionstechnik als philosophisches Prinzip Jedem Operngnger ist die Szene wohlvertraut: Im I. Aufzug des Siegfried, dem 3. Teil des Rings des Nibelungen, beauftragt Siegfried seinen ungeliebten Ziehvater Mime, ihm ein Schwert zu schmieden. Smtliche Versuche Mimes enden jedoch fruchtlos, da kein Schwert Siegfrieds Kraft gewachsen ist. Es gbe zwar eine geeignete Waffe: Nothung 9 , jenes Schwert, das Siegfrieds Vater (in der Walkre II, 3) aus einem Baumstamm herauszog und damit eine Weissagung erfllte. Aber Nothung ist in einzelne Stcke zerbrochen, und Mime gelingt es nicht, sie wieder zusammenzufgen. Schließlich nimmt Siegfried die Sache selbst in die Hand: Statt zu versuchen, die Einzelteile von Nothung ›zusammenzustckeln‹, schmilzt Siegfried sie im Feuer ein. Aus dem so gewonnenen flssigen Metall gießt er dann ein neues Schwert. Begleitet wird diese Handlung von einer lngeren Diskussion zwischen Mime und Siegfried, in deren Verlauf sich Mime entsetzt zeigt ber die (vermeintlich sinnlose) Zerstrung der Ich behaupte keineswegs, dass diese Lektion vllig neu wre, oder dass sie sich prinzipiell nicht auch aus anderen Quellen lernen ließe. Jedoch findet sie bei Wagner ihren kongenialen Ausdruck in der Musik. – Im Bereich der Literatur ließe sich evtl. verweisen auf das produktive Neu-Verarbeiten antiker Stoffe im Faust II und vor allem im Ulysses. 8 Vgl. exemplarisch Mller/Wapnewski 1986, darin vor allem den Beitrag von Breig. 9 Nothung heißt in der ursprnglichen Nibelungensage Balmung. Wagner vernderte den Namen, um einen geeigneteren Stabreim verwenden zu knnen (»Nothung – neidliches Schwert«). 7
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Bruchstcke: »[H]ier hilft dem Dummen die Dummheit allein!« (Wagner 1980, 197 f.). In Anlehnung an diese Szene bezeichne ich mit dem NothungPrinzip folgenden Gedanken: Ideen der Tradition mssen, um auf eine neue Situation anwendbar zu sein, in ihre Bestandteile zerlegt und diese daraufhin befragt werden, welches Problem sie ursprnglich lsen sollten. 10 Drei andere Wege des Umgangs mit der Tradition sollen dagegen systematisch versperrt werden: 1) Der vllige Verzicht bzw. das Ignorieren der Tradition ist keine Option. 11 2) Die Beweihrucherung der Tradition bzw. ihrer Reste ohne bertragung auf eine neue Situation ist nur Selbstzweck und bleibt unproduktiv. 12 3) Das Nothung-Prinzip wendet sich schließlich auch gegen eine schlichte Aneinanderstckelung von Bruchstcken der Tradition. 13 Traditionen lassen sich i. d. R. weder 1:1 auf vernderte Aus philosophischer Sicht knnte man einwenden, dass Wagner dieses Prinzip mglicherweise bereits der philosophischen Tradition entnommen hat. In diesem Fall wrde sich als nchstliegender Kandidat die Hegelsche Dialektik anbieten. M. E. ist jedoch der Kerngedanke der Dialektik ein anderer als der des Nothung-Prinzips: Whrend es letzterem vor allem darum geht, dass Tradition analysiert, (evtl.) in ihre Elemente zerlegt und anschließend fr aktuelle Problemstellungen neu zusammengesetzt wird, betont die Dialektik m. E. strker die Vershnung von Gegenstzen. Dies kann sich mit einer Vorgehensweise gemß dem Nothung-Prinzip treffen, es ist jedoch nicht notwendig der Fall: Man msste beispielsweise den Begriff des ›Gegensatzes‹ schon arg dehnen, um sagen zu knnen, Siegfried vereine Gegenstze, wenn er sein Schwert schmiede. Das Nothung-Prinzip geht nicht zwangslufig vom Bestehen einer Antithese im strengen Sinn aus. 11 Dies entsprche dem vor allem von F. A. v. Hayek (1979) kritisierten ›konstruktivistischen‹ Ansatz (nicht zu verwechseln mit diversen anderen Konstruktivismen, etwa dem der Erlanger Schule oder dem radikalen Konstruktivismus eines H. Maturana). 12 Dies hatte G. Mahler im Sinn mit seinem berhmten Ausspruch: Tradition ist Weitergabe des Feuers, nicht Anbetung der Asche. Der ›Anbetung der Asche‹ entsprche – als historisches Beispiel – etwa das Bestehen des franzsischen Thronprtendenten Henri auf der traditionellen weißen Fahne der Bourbonen als Nationalflagge im Jahr 1873, was fr die damalige Nationalversammlung inakzeptabel war. Htte Henri dagegen die Trikolore akzeptiert, wre Frankreich hchstwahrscheinlich wieder Monarchie geworden. 13 Oder auch von Theorien: Als Beispiel aus der Wissenschaftstheorie lassen sich sozialwissenschaftliche Theorien nennen, die das theoretische Konstrukt des fr die konomik so zentralen homo oeconomicus mit Versatzstcken aus anderen Wissenschaften ›anreichern‹ wollen. Vgl. zur Kritik Homann/Ltge 2004, Kap. 1.5. 10
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Situationen bertragen noch, indem man Bestandteile aus verschiedenen Traditionen in eklektizistischer Weise zusammenklaubt und anschließend wahllos ad hoc zusammenfgt. 14 Auf diese Weise wird man den unterschiedlichen Problemstellungen der verwendeten Traditionen nicht gerecht, und man kann diese Traditionen zwangslufig auch nicht auf die aktuelle Problemstellung hin zuschneiden. Damit zurck zum Siegfried: In der Nothung-Szene spielen Problemstellungen wie folgt eine Rolle: Nothung war ursprnglich ein Schwert mit allen Funktionen eines Schwerts. Indem Siegfried es neu schmiedet, verzichtet er nicht nur auf ein Zusammenstckeln der Teile, was kein haltbares Schwert ergbe, sondern auch auf eine weitere Aufbewahrung der Stcke als ›Reliquien‹ : »Zersponnen muss ich in Spne ihn sehn: was entzwei ist, zwing’ ich mir so.« Vorlufig habe ich das Nothung-Prinzip nur am Text eines Musikdramas expliziert; es lsst sich jedoch ebenso in Wagners Kompositionstechnik verorten. Dazu greife ich auf C. Dahlhaus’ (1996) Analysen der Meistersinger von Nrnberg zurck, die Wagners Umgang mit der Tradition noch deutlicher werden lassen als im Ring. Dahlhaus hebt stark den – wie er es nennt – »archaisierend[en]« (ebd., 107) Charakter der Meistersinger hervor. Die Formsprache dieses Werkes wirkt zugleich modern und archaisch im Sinne einer vorbarocken, ja vortonalen Musik etwa des 16. Jahrhunderts. Musikalisch lsst sich dies wie folgt nachzeichnen: Wesentliche Elemente einer modernen Formsprache der Zeit Wagners sind zum einen die Hufung charakteristischer Dissonanzen, zum anderen die Verwendung chromatischer Wendungen. Letztere findet sich besonders ausgeprgt in Tristan und Isolde. In den Meistersingern hingegen wird die Dissonanztechnik weiterhin angewandt; die Chromatik tritt demgegenber zurck (sie bleibt allerdings im Hintergrund immer prsent, etwa in Nebenstimmen). Als Beispiel fhrt Dahlhaus (ebd., 106 f.) den »Wach’ auf«-Choral an:
Mglicherweise kann eine solche Position der Methode der dconstruction (Derrida) sowie Spielarten der Postmoderne zugeschrieben werden.
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Im Einzelnen: Die D-Dur-Septakkorde in den Takten 3–5 werden nicht sofort aufgelst, wie es in der Musik vor Wagner blich war, sondern ihre Auflsung wird durch eingeschobene Akkorde verzgert. Dies bringt Dissonanzen hervor und wirkt auf diese Weise modern. Gleichzeitig fehlen jedoch die charakteristischen chromatischen Wendungen, was die moderne Wirkung entschrft. Darber hinaus lassen sich bestimmte Akkordfolgen (etwa in Takt 3) auch in der Musik vor Bach, in der vortonalen Musik finden; daher stammt die archaisierende Wirkung. Diese Wirkung ist jedoch nicht als Zurck zur Vergangenheit zu verstehen. Nach Dahlhaus (1996, 106) sind die Meistersinger von »pedantischer musikalischer Historienmalerei […] weit entfernt«. Und die diatonische (nicht-chromatische) Sprache dieses Werkes ist »weniger eine Restauration als eine Rekonstruktion« (ebd., 110). Dies zeigt sich etwa daran, wie die fr Wagner so charakteristische Leitmotivtechnik eingesetzt wird: Anders als in anderen seiner Musikdramen kommt es hier zwar zu einer »Restauration der Melodie« (ebd., 114), aber diese Restauration erfolgt mit Hilfe zusammengefgter Leitmotive. Weder im Ring noch in den anderen Musikdramen finden sich solche Zusammenfgungen. Das traditionelle Element, die Melodie, wird somit auf der Basis moderner Elemente rekonstruiert – man knnte auch sagen: simuliert. 68
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Das Nothung-Prinzip
Das Stehenbleiben bei der Tradition – im Sinne des o. a. Wegs 2 – entspricht dagegen der von der Figur des Beckmesser vertretenen Position: Beckmesser kritisiert den progressiven Walther von Stolzing unter Berufung auf traditionelle, starre, Konventionen. Musikalisch wird dies etwa durch mechanische Koloraturen oder eine monotone Begleitung mit wenigen Lautenakkorden ausgedrckt (vgl. ebd., 108), die Walthers Preislied im 3. Aufzug diametral gegenberstehen und die sich als Zitate aus der traditionellen, zur Konvention erstarrten Oper verstehen lassen. Auch die in den Meistersingern vorherrschende Tonart C-Dur ist »Inbegriff der Sphre von gravittisch schreitendem Marsch und archaisierendem Kontrapunkt« (ebd., 103). Sie weckt Erinnerungen an die franzsische Ouvertre des Barock sowie an den Bach’schen Kontrapunkt. Allerdings klingt sie bei Wagner anders als im Barock (oder etwa in Mozarts Sinfonie Nr. 41). 15 Auch hier zeigt sich somit: Wagners Kompositionstechnik ist die Rekonstruktion der Tradition mit Hilfe moderner Mittel – dies entspricht einem Vorgehen gemß dem Nothung-Prinzip.
3) Das Nothung-Prinzip und aktuelle Diskussionen a)
sthetik
Mit Hilfe des Nothung-Prinzips lassen sich zunchst einige zeitgenssische Tendenzen in der sthetik 16 auf den Begriff bringen: 17 Die sthetik der klassischen Moderne (vgl. Adorno 1991) sah in der Entfernung von der Tradition ihr Ziel. Die Tradition stand fr sie per se (zweifellos mit Ausnahmen) unter dem Generalverdacht, politischgesellschaftlich unerwnschte Haltungen zu frdern. Hier wurde somit der o. a. Weg 1 beschritten. Die Postmoderne brachte die Tradition wieder ins Spiel. Ihre Schlsseltexte (vgl. etwa Lyotard 1979) stellten sich vor allem gegen den sthetischen ›Monismus‹ der klassischen Moderne, was RckDarauf weist aktuell etwa auch Lachenmann (2004) hin. Hier nicht als Theorie, sondern eher als ›Praxis‹ verstanden. 17 Auf Beispiele aus der Lyrik kann ich hier nicht eingehen. Das Nothung-Prinzip scheint mir jedoch mit den Konzepten der »Nach- und Vorauserfindung« verwandt, mit deren Hilfe R. Homann (1999, 579 ff.) moderne Lyrik analysiert. 15 16
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griffe auf die Tradition grundstzlich erlaubte. Allerdings brachte die Postmoderne in knstlerisch-praktischer, etwa architektonischer Hinsicht, vor allem das hervor, was dem o. a. Weg 3 entspricht: ein Aneinanderstckeln von mehr oder weniger wahllos herausgegriffenen einzelnen Bestandteilen der Tradition, unter bewusstem – und (scheinbar) theoretisch legitimiertem (vgl. Feyerabend 1986) – Verzicht auf einheitsstiftende Methode. Seit den spten 90ern lassen sich jedoch Tendenzen beobachten, die Kritiker gern dem o. a. Weg 2 (unkritischer Rckschritt zur Tradition) zuordnen, die m. E. aber eher mit Hilfe des Nothung-Prinzips theoretisch fassbar werden: Die Errichtung einer neuen Kuppel auf dem Reichstag, die Plne zum Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, aber auch etwa die sogenannte »neue Berliner Architektur« eines Hans Kollhoff, die auf traditionelle Prinzipien der Bauund Fassadengliederung zurckgreift, lassen sich in dieser Weise verstehen. 18 Es handelt sich um Rckgriffe auf Traditionen, bei denen aber keine 1 : 1-Kopie 19 realisiert wird, sondern bei denen auf das ursprngliche Problem zurckgegangen wird. Das Reichstagsgebude beispielsweise ist aus sthetischer Sicht – welche problematischen Traditionen auch immer mit ihm verbunden sein mgen 20 – ohne irgendeine Art von Kuppel ein Torso. Das wiederaufgebaute Stadtschloss wrde die entscheidende Lcke in dem – frher und heute – stdtebaulich so wichtigen Ensemble Unter den Linden schließen. 21 Und die »neue Berliner Architektur« lsst sich als Rckgriff – mit moderner Formsprache – auf Bautraditionen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts verstehen, die Berlin berhaupt erst ein typisches Gesicht verleihen konnten. Ich greife bewusst hauptschlich auf Berlin zurck, weil hier die architektonische Wandlung aus historischen Grnden besonders konzentriert stattfindet und auch notwendig ist. Es ließen sich aber weitere Beispiele außerhalb Berlins nennen, etwa der Neubau der Staatskanzlei in Mnchen unter Verwendung historischer Bauteile des ehemaligen Armeemuseums oder auch bereits die Grande Arche de la Dfense, die bewusst historische Formen des Pariser Stdtebaus wiederaufgreift. 19 Auch nicht im Falles des Berliner Stadtschlosses: Hier soll ja nur ein Teil, der Schlterhof, und auch dieser nur mit modernem ›Innenleben‹ wiederaufgebaut werden. 20 Bekanntlich war das Reichstagsgebude allerdings weder Wilhelm II. noch Hitler besonders genehm. Letzterer hielt dort brigens nie eine Rede. 21 Man kme in Paris auch nicht auf den Gedanken, den Louvre, falls er zerstrt wre, durch ein anderes Gebude zu ersetzen. Selbst fr das vor ber 130 Jahren zerstrte und 1882 abgetragene Tuilerienschloss, das zudem heute die zentrale Blick-Achse behindern wrde, gibt es mittlerweile Plne zum Wiederaufbau. 18
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Das Nothung-Prinzip
Diese drei Beispiele knnen den hier vertretenen Gedanken zweifellos nur exemplarisch verdeutlichen. Sie weisen jedoch auf Wandlungen in der sthetik hin, die sich mit dem hier verwandten Nothung-Prinzip geradezu kongenial einfangen lassen. b)
Ethik und Gesellschaftstheorie
Das Nothung-Prinzip lsst sich auch weit jenseits des Bereiches der sthetik anwenden, um Strukturen theoretischer Debatten zu rekonstruieren – und mglicherweise auch heuristischen Zwecken zu dienen. In Ethik und Gesellschaftstheorie wird mittlerweile in entsprechender Weise argumentiert, wenn es um die Frage geht, ob und inwieweit unsere traditionellen ethischen Werte und Maßstbe in der heutigen Welt der Globalisierung noch tauglich sind. K. Homann hat in seiner Konzeption einer Ordnungsethik bzw. einer Ethik der »Vorteile und Anreize« (Homann 2002; vgl. auch Homann/Ltge 2004) diese Frage ins Zentrum gestellt: Viele Ethiken, christlicher und anderer Prgung, gehen davon aus, dass die traditionellen abendlndischen Werte heute ebenso wie vor 200 Jahren eingefordert werden mssen. Falls dies nicht gelingt, wird ein Verfall der Moral diagnostiziert. 22 Dies entspricht dem o. a. Weg 2, also dem Versuch, eine Tradition 1:1 auf aktuelle Situationen zu bertragen. 23 Die Ordnungsethik Homann’scher Prgung versucht dagegen, die Begriffe und Kategorien der abendlndischen Ethik – mit Hilfe moderner theoretischer Werkzeuge, insbesondere der konomik – auf die heutige Situation anzuwenden. Dazu wird auf das ursprngliche Problem zurckgegangen, das die traditionelle Moral in der Vormoderne lsen sollte: In einer Gesellschaft, in der A nur auf Kosten von B gewinnen konnte, war eine Ethik der Mßigung und der Gewinnbeschrnkung problemadquat. Diese Randbedingung eines gesellschaftlichen Nullsummenspiels blieb ber Jahrhunderte unverndert und wurde daher in der Ethik nicht explizit thematisiert. Heute jedoch leben wir in einer Wachstumsgesellschaft, in der wechselseitige Besserstellungen mglich sind: Wir spielen Positivsummenspiele. Daher mssen auch die frher implizit mitgedachten 22 23
Diese Diagnose stellen in neuerer Zeit etwa Miegel/Wahl 1994. Der Verzicht auf Tradition ist hier dagegen eine praktisch nicht genutzte Option. A
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und unproblematischen Randbedingungen explizit gemacht werden. Dies wiederum erfordert nderungen in der ethischen Theorie, die sich mit dem Nothung-Prinzip beschreiben lassen. Als Beispiel kann das klassische Ideal der Solidaritt aller Menschen dienen: In der Vormoderne, unter Nullsummenbedingungen, forderte dieses Ideal Teilen nach dem Vorbild des Hl. Martin. Und noch immer wird von Entwicklungshilfe-Organisationen, Bundesprsidenten oder dem Papst in dieser Weise argumentiert. Dagegen muss Solidaritt in der heutigen Wachstumsgesellschaft anders aufgefasst werden: Nicht Teilen ntzt allen beteiligten Parteien am meisten, sondern Wettbewerb. Wettbewerb – wohlgemerkt: innerhalb geeigneter Rahmenbedingungen (vgl. Homann/Ltge 2004, Kap. 1.2) – bringt Wohlstand und Fortschritt fr alle in einer Weise hervor, welche die Vormoderne nicht einmal erahnen konnte. Man kann deshalb pointiert formulieren: »Wettbewerb ist solidarischer als Teilen.« (Homann/Blome-Drees 1992, 16) Statt seinen Mantel zu teilen, sollte der Hl. Martin heute eher eine Mantelfabrik erffnen, innovative und gnstige Produkte anbieten und Arbeitspltze schaffen. Das Beispiel zeigt, wie traditionelle ethische Kategorien auf eine aktuelle Problemsituation zugeschnitten werden knnen. hnlich ließe sich auch mit Begriffen wie Gerechtigkeit oder Menschenwrde verfahren. 24 Hier wird deutlich, wie die Gedanken der Tradition fr aktuelle Fragen produktiv gemacht werden knnen. Die Fragen mgen andere sein; doch die Vorgehensweise erinnert frappierend an das Wagner’sche Nothung-Prinzip.
4) Schluss Dieser Beitrag mchte vor allem eines leisten: Der kritische Traditionsbezug eines Musikstckes, der als sthetisches Qualittskriterium verwendet werden kann, liefert darber hinaus ein theoretisches Prinzip, das sich in ganz anderen, aktuellen Diskussionen als heuristisch wertvoll erweist. Mit Bezug auf das Thema dieses Bandes ließe sich formulieren: Nicht nur lassen sich philosophische Analysen von Musik oder Technik aufstellen. Hier ist es umgekehrt: Aus einer der Musik entnommenen Technik lsst sich ein philosophisches Prinzip gewinnen. Dies deutet darauf hin, dass sich in musikalischen Werken 24
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Vgl. dazu nher Homann 2002, Kap. 3.
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Das Nothung-Prinzip
mehr Rationalitt verbirgt, als hufig angenommen wird. J. Evans Pritchard, obwohl Fiktion, war mglicherweise doch auf der richtigen Spur. Es muss ja keine eindeutige »42« am Ende stehen.
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Die Transformation der Kunst durch die Technik Torsten L. Meyer
Der leitende Gedanke dieser Betrachtung lsst sich in der These zusammenfassen, dass das technologische Wissen die Kunst nicht nur hinsichtlich ihrer Mittel, sondern vor allem hinsichtlich ihrer Produktionsmglichkeiten, also ihrer Seinsmglichkeit berhaupt von Grund auf revolutioniert. Die Mglichkeiten der Kunst zu produzieren sind vollstndig umgeschlagen in die Mglichkeiten der Technik, sich darzustellen. Dass der klassisch metaphysische Substanzgedanke nicht nur in den Naturwissenschaften und in der Technologie, sondern auch in den Human Studies paralysiert worden ist, ist nur die Folgeerscheinung eines weitaus umfassenderen Vorgangs der europischen Denkgeschichte. An die Stelle der Substanz haben sich mit dem Strukturalismus Saussures der Strukturbegriff, mit der Systemtheorie Luhmanns der Systembegriff und mit Flussers und Castells Analysen der System- bzw. Netzbegriff etabliert. Um unsere Welt zu deuten und zu begreifen, sind wir auf die implementierte Logik eben dieser Welt angewiesen, in der weder eine Substanz noch ein Werk existiert. Wir beobachten das, was uns immer schon irgendwie programmiert sein lsst. Dies durch Beobachtung und beschreibende Interpretation zu erkennen und an konkreten Beispielen aufzuzeigen, ist das hermeneutische Ziel der folgenden Ausfhrungen. Gehen wir zur Prfung der These ber und sehen uns die Produktionsmittel an, ber die die Kunst seit dem 20. Jahrhundert praktisch verfgt, die Materialien, Werkzeuge und Methoden, die am Werk Spuren hinterlassen: Symptome gleichsam und Indizien fr die Ursachen ihrer Erscheinung. Die Kunst hat sich dabei – so scheint es – vor allem die auf Umsetzung bedachte Logik der Technik dem eigenen, darin der Technologie verwandten Tun angeeignet und ist zu einer sthetik vorgedrungen, die eine sthetik des Verschwindens ist. 1 Erst verschwand der Gegenstand aus der knstlerischen 1
Siehe hierzu Virilio 1995. A
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Darstellung (z. B. Malerei und Lyrik), dann gewann sie ihn als simulierten zurck (PopArt, Videokunst, digitale Installationen). Heute besitzt der Schein des Seins einen kategorialen Seinscharakter, den man weitlufig mit Begriffen wie Simulation oder Virtualitt fasst. Im Vergleich zu dem klassischen Schein des Seins von Kunst verharrt dieses knstliche Sein nicht im Scheinhaften, sondern avanciert zur echten Alternative gegenber der Realitt, die ihren eigenen Tatsachen nicht mehr standhlt und nach Wegen der Expansion sucht.
Zum Verhltnis von Logik, sthetik und Ethik Der Gegenstand verschwand sptestens seit der von Kandinsky initiierten abstrakten Malerei 2 im unverbindlich Allgemeinen, whrend die Technik zur Erzeugung dieser kalkulierten sthetik immer komplizierter wurde, besonders im Informationszeitalter, mit dem die Erfahrung einen Verlust ihres Erlebnisgehaltes zu verzeichnen beginnt. Darin nmlich hat die bermittlung von Informationen ihren existenziellen Ursprung, dass die Sinnangebote der Traditionen ihre wirklichkeitsstrukturierende Kraft verlieren und an leichter kommunizierbare Informationswerte abgeben mussten, die binr auf Ja oder Nein, auf 1 oder 0 reagieren. Wir bewegen uns nicht nur unter Nichtdingen, wir bewegen uns im Stillstand: zum einen, weil die Abstnde zwischen den Raumpunkten durch Beschleunigung irrelevant werden, und zum anderen, weil die Simulation der wirklichen Realitt deren Dasein berflssig macht, um interagieren zu knnen. Der Begriff des Handelns ist unabhngig von einem wirklich vorhandenen Raum. Mit der Entwertung des Krpers verschwindet auch ein ›Sein bei den Dingen‹. Das bedeutet aber nicht, dass damit das Interesse an den Dingen verloren geht. Das Sein-bei ist ein anderes; es entspricht weniger einer achtunggebietenden Verweildauer als einer Operationalisierung der mit ihrer Materialitt und Funktionalitt zusammenhngenden Mglichkeiten. Das Abstrakte und Unverbindliche des knstlerischen Gehalts ist gewissermaßen eine innergesellschaftliche Reaktion auf die komplexe Technik. Der knstlerische Ausdruck muss Formen schaffen, Hier der 1910–1914 entstandene Werkzyklus »Kompositionen«, den Kandinsky spter ergnzt hat.
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Die Transformation der Kunst durch die Technik
die dem Einzelnen einen Sinn mitteilen, der nicht mehr an den Dingen selbst zum Ausdruck kommt, denn die technologisierten Dinge sind keiner einheitlichen Erfahrung zugnglich. Die Auseinandersetzung mit Kunstwerken schafft an dieser Stelle einen Ausgleich. Sie ermglicht in der reflektierten Auseinandersetzung die Einheit gegenstndlicher Erfahrung. Die vernderte Sachlage modernen Erfahrens beeinflusst die transzendentale Logik: Die sthetik der knstlerischen Produktion verdankt sich einer Logik und Sprache, die Logik und Sprache technologischer Standards sind. Diese Standards vermessen die Statik sozialer Strukturen. Daher ist die sthetik vor allem eines nicht mehr: Sie ist nicht mehr idealistisch. Sie ist nicht mehr dem Schein des Schnen unterworfen, als msste sie eine Idee offenbaren, die in der Bildung der Persnlichkeit beim Studium solch schner Dinge die Seele auf das Gute einstimmte, das im Licht des Schnen als geistvolle Vollendung der Erscheinung zu Tage trte, um die Welt im gestaltenden Handeln aus ihrer bloßen Scheinhaftigkeit in ein wirkliches Sein zu befreien. Weit gefehlt: sthetik im digitalen Zeitalter ist etwas anderes! Sie leitet sich ab aus der »Nutzbarmachung binrer Codes«. 3 Sie will digitalisierte Systeme zum Gegenstand von Erfahrungen machen, die auch weiterhin zu denken geben, aber weitaus pragmatischer in Anschlusssysteme eingebunden sind, als es die idealistische sthetik des schnen Scheins es aufgrund ihres Selbstverstndnisses je zugelassen htte. Denn das Dogma der idealistischen Kunsttheorie hieß ja gerade, dass Kunstwerke keinem anderen Zweck unterworfen sein drften als dem Zweck an sich selbst. Demgegenber hat sich sthetik heute als eine Art praxisorientierte »Grundlagenforschung auf dem Gebiet mediatisierter Kommunikation« durchgesetzt. Es gehrt zur Aufgabe der Kunst, dass sie die soziale, die konomische und die politische Realitt mitgestaltet. Und zwar ußerst nachhaltig. Knstler werden als Fachleute und als Kommunikationsspezialisten konsultiert und mit Projekten beauftragt, um die Verwendungsmuster und Geltungsbereiche von Programmen und Methoden, die von der Technik zur Verfgung gestellt werden, gegen den Strich zu brsten, was wiederum zur Folge hat, dass daraus neue Anwendungsmglichkeiten abgeleitet werden knnen. Weil der experimentelle Umgang mit Material und die mediale Inszenierung von Kunst den Quellcode 3
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der Realitt um wichtige Einsichten erweitern, werden die entsprechenden Kenntnisse und Fhigkeiten maßgeblich an der Entwicklung und Gestaltung von Kommunikationssystemen beteiligt sein. Man kann also zu Recht behaupten, dass die transzendentale Logik von sthetik und Ethik grundlegend der Neuinterpretation bedarf. Die Grenzen der Erfahrung im Allgemeinen und die von Erkenntnis und Wahrnehmung im Besonderen sind sehr schwer zu bestimmen. Was ich wahrnehme und verstehe, lsst sich nicht so leicht sagen, weil es kaum noch verbindliche Grundstze gibt, auf die ich mich berufen drfte. Darum ist der transzendentale Charakter der Logik und die Grenzen meiner Sprache zugleich ein Problem der Ethik. Es geht immer um das Verhltnis von Logik, sthetik und Ethik, um die Bedingungen der Mglichkeit von Erfahrungen, die beispielsweise im Schmelztiegel knstlerischen Schaffens so etwas wie eine kritische Masse bilden, um seismographische Voraussagen zu treffen. Das gilt sicherlich fr alle Erscheinungen, nur sind demgegenber Kunstwerke darin von herausragender Bedeutung, dass sie nicht aus Ntzlichkeitserwgungen entstehen, auch wenn die durch sie freigesetzten Potentiale gesellschaftlich in vielerlei Hinsicht genutzt werden knnen, zum Beispiel didaktisch, pdagogisch, therapeutisch, konomisch u. s. w. – Der Umstand, dass an Kunstwerken die Verfasstheit der zeitgeschichtlichen Situation erkennbar ist, verliert fr eine Gesellschaft an Reiz. Das moralische Gewissen unterliegt der List der historischen Vernunft, einem Wissen um Effizienz, das die Produktionsverhltnisse der Gesellschaft beherrscht. Wenn wir uns so verhalten, wie wir es moralisch fr legitim halten, dann tun wir das in Wahrheit deshalb, weil es fr das Wohl des Einzelnen und fr das Gemeinwohl von grßerem Vorteil ist. Dass ich subjektiv das Gefhl habe, moralisch richtig und ethisch gerechtfertigt zu handeln, strkt mein sozialisiertes Selbstbewusstsein in einer auf Anerkennung angewiesenen ffentlichkeit. Das erhht die Bereitschaft, das Gleiche wieder zu tun. Eine sittliche Ordnung funktioniert auf Dauer nur, wenn sie sozialen Gewinn abwirft. Das Paradigma, durch das die Verhltnisse von sthetik, Ethik und Logik zu Tage treten, ist das Bild mit all seinen Erscheinungsformen vom knstlerischen Bild bis zum Bild als Zeichen (Icon). Der Begriff des Bildes bildet die Schnittstelle der philosophischen Trias. An ihm wird die geschichtliche Vermittlung der zeitgenssischen Ge78
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genwart weniger hinsichtlich ihrer faktisch-historischen Sachlage deutlich als vielmehr hinsichtlich der Bedingungen der Mglichkeit von Erfahrungen. Was erleben wir eigentlich noch, dass wir wirklich Erfahrungen machen? Das Bild gibt die Antwort: Nichts! Denn wir leben in Auseinandersetzung mit Bildern, deren Bildgehalte die Erlebnisse ersetzen. Die Bildinformationen substituieren die rumlichen Erlebnisse. Das fhrt schließlich dazu, dass die Bilder um uns herum unser Selbstbild definieren. Wir haben kein Bild von uns selbst, weil unsere Identitt bestimmt wird durch Bilder ohne Erlebnisgehalt. Die Erfahrung, die wir machen, ist virtuell: wir erleben nicht, wie wir uns handelnd verhalten. Man verlangt von uns, dass wir so sind, wie wir es gezeigt bekommen, statt es zu erleben. Darum sollen wir ein Leben lang lernen, was in Wahrheit nichts anderes heißt, als dass wir uns diesen Bildern anpassen sollen. Erfahren, so zu sein, wie man es von uns verlangt, drfen wir schon aus Zeitgrnden nicht. Aus dem Phnomen des Bildes leitet sich die Ethik unseres Zeitalters ab. Ein solches Bild ist ethisch sinnlos: Wittgensteins Tractatus kommt zu dem Ergebnis, dass ethische Stze sinnlos sind. Sinnvoll kann man nur ber Tatsachen sprechen, weil sie tatschlich existieren. Das gilt nicht fr moralische Maximen. Fr sie lassen sich im logischen Raum keine Koordinatenpunkte angeben. Darum ist die Ethik als Wissenschaft eine Unmglichkeit. Sie wre eine Wissenschaft, deren Stze weder wahr noch falsch sein knnten, denn die Voraussetzung dafr, dass ein Satz wahr oder falsch ist, ist der Bezug auf wirklich existierende Entitten. Ethik ist also im besten Sinne Metaphysik und unterliegt auch in diesem Sinne der kantschen Kritik. Wittgensteins abschließende These: worber wir nicht sprechen knnen, darber mssen wir schweigen, ist eine Schlussfolgerung, die erst und gerade durch die weitere Entwicklung seines Denkens besttigt wird, denn worber wir schweigen mssen, ist wichtiger fr das Leben, als worber wir sinnvoll sprechen knnen. Der frhe und der spte Wittgenstein widersprechen sich keineswegs. Die eigentlichen Lebensprobleme, also Probleme der Ethik, beginnen erst dort, wo es weder wahre noch falsche Stze gibt. Tatsachen im logischen Sinne des Tractatus sind dem gegenber gerade nicht problematisch, und es gibt in diesem abbildbaren Tatsachengehalt der Welt auch keine Rtsel oder Unbestimmtheiten, allenfalls falsche Stze, wenn nmlich die Konfiguration von Elementarstzen nicht der Logik von atomaren Sachverhalten entspricht, die sie abbildet. A
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Der entscheidende Unterschied zwischen wissenschaftlichen und metaphysischen Stzen ist meines Erachtens der, dass die wissenschaftliche Ausdrucksweise wesentlich tautologisch ist. Sie stellt nur das dar, was bereits existiert. Die im weiteren Sinne metaphysische Ausdrucksweise ist hingegen produktiv, weil sie das hervorbringt, was noch nicht existiert. Demzufolge ist die Kunst zeitgemßer als die Wissenschaft. Die Kunst generiert ihre eigene Erscheinung durch eine an technischen Standards orientierte produktive Logik, whrend die Wissenschaft als methodenspezifische Theorie nicht, als Technologie aber sehr wohl sich von dieser Logik leiten und bestimmen lsst. sthetisch wird diese Vermutung durch die sinnliche Wahrnehmung besttigt. Jede Architektur spielt mit Regeln des Zweckmßigen: vom Ornamentalen Befreiten. Die sthetische Wahrheit sucht den Weg der Selbsterkenntnis im Funktionellen. Das Opulente empfindet man als Strfaktor, weil es den konomischen Prinzipien der Effizienz und Flexibilitt unseres modernen Ordnungssinns fr Systemstrukturen in aller Regel zuwiderluft.
Der objektive Geist und das Sein Der objektive Geist Hegels hat seinen Ursprung in dem Geist der Liebe, im Pneuma der Vershnlichkeit (Neues Testament), so Gadamer 4, worin die Individualitten die Chance und die Aufgabe haben, ber ihre Individualitt hinweg den Zusammenhalt der Gemeinschaft zu realisieren. Wenn alle Fremdheit, Andersheit, wenn Recht und Gesetz, wenn alles Beschrnkende, das unsere Willkr begrenzt, gewichen sein wird, dann ist der subjektive Geist im objektiven, ist der objektive im subjektiven Geist als in der ewigen Wahrheit des absoluten Geistes aufgehoben. Dieser Entwicklungsprozess dauert, wie man sich denken kann, eine Ewigkeit. Doch existieren laut Hegel bereits im Hier und Jetzt Momente des Absoluten und Ewigen. Im Gegensatz zu der das Subjekt beschrnkenden Rechts- und Sittenordnung erfhrt das Individuum diese Momente des Ewigen, also Kunst, Religion und Philosophie, eben nicht als ein sein Selbstbewusstsein begrenzendes Gegenber, sondern als die Mglichkeit, dass der Geist sich als Geist erkenne und verwirkliche. Dass er das tut, ist vernnftig. In diesem Vershnungsakt durchdringen das sub4
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Gadamer 1999, 8 f.
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jektive Bewusstsein und die objektive Wirklichkeit einander, auf dass ihm nichts Fremdes mehr begegne. Das Fremde ist das Eigene, ist erkannt und anerkannt. Von diesen hegelschen Gedanken, die Hegel selbst mit didaktischer Klarheit in seinen Vorlesungen ber die sthetik ausfhrt, 5 hat sich nicht das Paradigma der Vershnung erhalten, sondern die Erkenntnis und die Einsicht seines Gegenteils: die Unvershnlichkeit der Seinsstruktur, die negative Dialektik des Realen, die Fremdheit des Anderen und seine Unerreichbarkeit (Lvinas). An dieser Unerreichbarkeit verzweifelt das subjektive Bewusstsein. Es mag Ursache nicht nur fr Rassismus, Fremdenfeindlichkeit sein, fr den Kampf der Geschlechter und das Verschwinden der Familie, sondern auch Ursache fr das Verschwinden des Realen. Die Inflation des Seins infolge der Simulation, ber die sich unsere objektive Wirklichkeit definiert, fhrt dazu, dass das Reale uns fremder und unheimlicher wird, whrend das Surrogat der virtuellen Realitt den Stellenwert desjenigen Momentes bernimmt, mit dem sich das subjektive Bewusstsein durchdringt, um gesellschaftliche Tatsachen zu schaffen. Das ist mit dem Verschwinden des Realen gemeint. Das Verschwinden des Realen ist wie das Verschwinden der Kunst eine Transformation. Sie wird weder erkannt noch anerkannt, weil sich eine durch technologische Mglichkeiten erzeugte Simulation zwischen ihr und uns aufbaut, die noch nicht im hegelschen Sinne begriffen ist. Die medienerzeugte, -gesteuerte und -verwaltete Welt begrenzt als die uns fordernde und beanspruchende objektive Wirklichkeit unser singulres Bewusstsein, weil sich in den analogen und digitalen Medien der Geist in den absoluten, sich begreifenden Geist bersetzt, wie es bei Hegel heißt. Die virtuelle Realitt tut aber noch mehr, denn sie ist zugleich jenes Gegenber, das allein als die Staats- und Rechtsordnung unser Bewusstsein und unsere Willkr beschrnkt. So gesehen kommt es durch die Verwechslung der Sphren von objektiver Geltung und subjektiver Fahrlssigkeit zu einer nachhaltigen Gefhrdung der Gesetzeskraft. Wir knnen ihr begegnen, sobald wir uns dessen bewusst werden und die virtuelle Realitt mit all ihren technologischen Mglichkeiten in die Pflicht der sozialen und konomischen Verantwortung nehmen. Eine Korrektur ist immer dann falsch, wenn sie die Uhr zurckstellen mchte, als knne man ber die zeittypischen 5
Siehe hierzu Hegel 1992, 127–144. A
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Eigenschaften des historischen Ortes hinwegsehen. Das Sein, das in der Aneignung des objektiven Geistes durch das subjektive Bewusstsein realisiert wird, hat definitiv ein durch Simulation und Virtualitt bestimmtes Dasein. Das heißt, dass die Existenz sich im Klaren darber sein muss, dass das Virtuelle nicht dem Zugriff moralischer Verantwortung entzogen werden darf, unter dem Vorwand, es sei ja gar nicht echt. Das Problem des derzeitigen objektiven Geistes besteht nmlich darin, in einem Bereich der ›Nicht-Realitt‹ des virtuellen Seins das ihm derzeit Eigene zu erkennen und anzuerkennen, anzuerkennen als das Gegenber des Gesetzmßigen, das uns gegenbertritt und alle unsere Bedrfnisse, Wnsche und Hoffnungen strukturiert. Das ist deshalb problematisch, weil die Formen des virtuellen Seins innergesellschaftlich noch nicht die normative Geltungskraft von Sitte und Gesetz besitzen. Das wird erst der Fall sein, wenn sich das subjektive Bewusstsein mit der objektiven Wirklichkeit des virtuellen Seins nicht abstrakt, sondern konkret identifiziert, d. h. mit den Inhalten der medialen Welt verantwortungsbewusst und gesetzgemß umgeht, vor allem aber – und das ist die Grundvoraussetzung – die virtuelle Realitt als objektive Wirklichkeit akzeptiert und begreift, erkennt und anerkennt. Das ist eine politische Aufgabe, dass sie die sozialen und konomischen Rahmenbedingungen, wenn schon nicht frdert, dann wenigstens nicht blockiert. Die Kunst wird sich in der Wahrnehmung und Artikulation dieses Problems behaupten mssen, wenn sie die Unmglichkeit ihrer Produktion berwinden will. Dabei scheint es nicht einmal unbedingt ausgeschlossen, dass sie dies mit Hilfe der Tradition wird schaffen mssen und nicht, wie es Klischee geworden ist, dadurch, dass sie mit neuen Mitteln noch nie Dagewesenes schaffe. Dass in der Literatur wieder Handlungen, ausgehend von Figuren mit Persnlichkeit und Charakter, erzhlt werden, stimmt optimistisch. hnliches gilt fr die Musik, wo die Kompositionssthetik eines Hans Werner Henzes gegenber einem unhrbar gewordenen Tonmaterial der sich selbst ausgerufenen Avantgarde geradezu avantgardistisch ist und neue, gehbare Bahnen bricht. Denn die Kunst bleibt eine Form der sinnlichen und darum synthetischen Anschauung. Die Form der sinnlichen Gestaltung bringt den produktiven Sinngehalt in seiner absoluten Gestalt zu Bewusstsein. Das will heißen, dass in dieser Form des Ausdrucks die Einheit des gesetzmßigen Gegenbers des objektiven Geistes und der bil82
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denden Innerlichkeit des subjektiven Geistes auf knstlerische Weise gegenstndlich wird. Zumindest fr den hegelschen Idealismus gilt, dass der absolute Geist durch die Produktivitt der Simulation in Erscheinung tritt, die Produktivitt der Simulation also mit der Darstellung des Absoluten und Ewigen vernnftig ist, wie Hegel den dialektischen Umschlag von Subjektivem und Objektivem im Absoluten einer endlichen Wirklichkeit bezeichnet. Aber die Kunst macht den Begriff nicht als solchen in seiner Allgemeinheit erfahrbar, sondern bloß als singulre Erscheinung. Das Wesen des Schnen, wie es Hegel vorschwebt, ist die Einheit eines allgemeinen Begriffs mit der singulren Erscheinung seiner durch Kunstproduktion erzeugten Darstellung. 6 Hegel unterscheidet die sinnliche Anschauung der bildenden Knste von der geistigen Vorstellung, der Poesie, die er die geistigste Kunst nennt. Doch existiert auch auf dieser reflektierteren Ebene des vorstellenden Bewusstseins die Einheit von singulrer Erscheinung und allgemeinem Begriff. Das legt den Schluss nahe, dass, wenn der allgemeine Begriff infolge der singulren Erscheinung nur unvollstndig das Wahre veranschaulicht, auf der anderen Seite die Inhalte der Anschauung auch nicht an den konkreten Gegenstnden wie »Sonne z. B., Mond, Erde, Gestirne« in Erscheinung treten, sondern allgemein und mit Hilfe von Auslegung und Interpretation. Die Kunst ist, zusammenfassend gesagt, die ekstatische Selbstbefriedigung des absoluten Geistes in der Grenzenlosigkeit seiner selbst. Sie ist jedoch nicht die hchste Weise, in der sich die Wahrheit Existenz verschafft. Und Religionen wie das Judentum haben mit ihrem Misstrauen gegenber der sinnlichen Darstellung des Gttlichen einer reflektierteren Weise den Vorzug gegeben, um dem Gttlichen ein Sein zu verschaffen, das nicht in die heideggersche Doppeldeutigkeit des Sein-lassens alles Gttlichen verstrickt ist. 7 Die Kunst hat sich nun nicht wie die jdische Religion zu geistigeren Formen der knstlerischen Darstellung entschlossen, sondern sie hat das Gttliche, das Wahre und das Absolute aus ihrer Darstellungsintention getilgt. Und das hat seinen Grund in der VirHegel 1992, 140. Mit »reflektiertere Weise« meine ich die eigenwillige jdische Philosophie als Religion der Vernunft, die dadurch auffllt, dass sie das Unendliche im Endlichen des alltglichen Lebens konserviert, so sehr, dass man nach christlichen Maßstben gemessen gar nicht so recht wahrnimmt, dass hier eine Religionslehre gelebt wird.
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tualitt der Realitt. Man kann dies am Verschwinden des Gegenstandes aus der sinnlichen Gestaltung der Kunst belegen. Die Wiederkehr des Gegenstandes scheint mir nicht plausibel, es sei denn, er soll definitiv die Nicht-Darstellbarkeit des Gegenstandes und dessen Existenz als bloß noch virtuelle quittieren. Denn zum Verschwinden des Realen gehrt der Verlust der Objektivitt des Gegenstandes, wenn es nicht sogar mit ihm identisch ist. Die Objektivitt des Gegenstandes transformiert zur Virtualitt des Realen. Eine Zwischenstation bildet Husserls Phnomenologie: die bewusstseinslogische Simulation des Gegenstandes in seiner virtuellen Seinsweise als Erscheinung, gleichsam eidetisch reduziert und gut verklammert. Dies muss natrlich die Subjektivitt in ihren Grundfesten erschttern und zahlreiche Probleme in Bereichen von Recht, Moral und Sitte aufwerfen. Denn Subjektivitt und Objektivitt sind dialektisch einander verbunden und begrnden sich gegenseitig. Es sind also nicht die Gegenstnde an sich, die verschwinden, es ist ihre Objektivitt, die verschwindet, und das stellt die Legitimitt der Subjektivitt in Frage. Mit der Erosion von Objektivitt und Subjektivitt kippt das Ganze des Absoluten, das Wahre und das Ewige. Insofern kann die zeitgenssische Kunst wohl kaum die ekstatische Selbstbefriedigung des absoluten Geistes sein oder die sinnliche Gestaltung des sinnlich angeschauten Absoluten oder Wahren. Dass wir die Kunst nicht als Exposition des Wahren erfahren, dass wir sie berhaupt nur noch wahrnehmen, wenn sie durch ihre rumliche Definition in Museen und Ausstellungen als Kunst deklariert wird, ist folgerichtig und historisch konsequent. Denn die Kunstrume sind eben Orte der virtuellen Realitt. Nachdem die Matrix der Kunst vom Absoluten (Idealismus) ber das Unendliche (Postmoderne) das Endliche des Seins erreicht hat, muss sie die Ironie ihrer eigenen Entwicklung ertragen: Das Endliche ist als Vollendung bloß simuliert, aber darin Ausdruck einer Wahrheit, die mit der sthetik des Schnen kaum noch etwas zu tun hat, weil sie eine sthetik des Verschwindens und nicht eine der Substanz von Materie und Geist ist. Der ganze Idealismus – einschließlich seiner Vollendung mit Hegel – wird getrieben vom Impetus der Frage nach der Erkenntnis, und es ist immer das Subjekt, das sich im Erkennen das Objekt hinsichtlich seiner allgemeinen Merkmale aneignet und es mit Hilfe einer wissenschaftlichen Methode auf den Begriff bringt. Bei Kant sind es die Kategorien des Verstandes a priori, bei Fichte die Tathandlung und bei Hegel endlich die Wissenschaft der Logik, wodurch die 84
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Methode der Erkenntnis von Wahrheit ihre Legitimitt erhlt. Im Begriff bleibt die Erkenntnis vom Objekt verfgbar, – ber den Einzelfall und die zufllige Situation hinaus. Die Bestndigkeit verleiht dem Begriff die Souvernitt ber das bloß Flchtige. Es kann sich als dessen Wahrheit etablieren. Da nun aber auch der letzte metaphysische Rest wie das Ding an sich oder der sinnliche Reiz der empirischen Anschauung mit dialektischer Przision der hegelschen Logik im Totalsystem des absolut Wahren aufgehoben worden war, forderten Denker wie Feuerbach, Marx und Kierkegaard das Recht der Existenz ein, dass es etwas Unerklrbares geben msse: das Existieren selbst. Denn wenn alles erklrt werden knnte, wre nichts mehr bedeutsam, weil alle Bedeutung im System der absoluten Wahrheit auf sich selbst verweisen wrde. Die Wahrheit wre ohne Differenz tautologisch, ohne Wirklichkeit. Bedeutungen von Zeichen sind auf ußere Entitten als ihr Anderssein angewiesen, in dem sie reflektieren. Die Bedeutsamkeit einer Erscheinung entspringt nicht seiner lckenlosen Erklrung, sondern seiner Unerklrbarkeit, aus seinem Problemgehalt. Dieser Problemgehalt stellt außerdem das Interesse an der Sache sicher, indem die Ungeklrtheit Lsungsvorschlge motiviert. Aber genau dies meint Hegel ja, dass die absolute Wahrheit eben die noch nicht konkret gedachte ist. Die Zeichen sind die mediale Mitte des Seins, durch die sich die absolute Wahrheit dem Sein implementiert. Die Sprache ist demzufolge nicht das Haus des Seins, sondern das mediale Ereignis von Dasein berhaupt. Aber es bleibt das Interesse am Ungeklrten, am Problematischen, das Bewegung in die Sache des Denkens bringt. So hat im nachhegelschen Denken die Existenz ihr Recht auf Unerklrbarkeit ihrer Singularitt gegenber dem Totalsystem des Absoluten erfolgreich verteidigt. Es ist nicht das Recht des Subjekts, das hier eingefordert wird, sondern das des Ich (Kierkegaard, Nietzsche). Im System ist das Ich ein Objekt wie jedes andere auch, mit dem Unterschied, dass es den Gedanken, die Unwahrheit einer hheren Wahrheit zu sein, nicht ertrgt und deshalb dagegen revoltiert. Es muss etwas von diesem Objekt ausgehen, was Anlass zu einer neuen Konzeption gab. Brentano fand diesen Anlass im intentionalem Akt, und Husserl sollte ihn zu seiner Phnomenologie ausbauen. Die Reflexion – sein Ureigenstes – wurde dem Idealismus zum Verhngnis, weil sie nicht hinterfragt wurde. Erst Husserl gelang es mit dem Begriff der Intentionalitt und des Primordialen, dass sich A
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das in erster Ordnung bewusstseinsmßig konstituierende, gleichsam ursprngliche Seiende philosophisch erfasst und die reine Subjektivitt des Ego transzendiert. In der Intentionalitt konstituiert sich das Ego vorbewusst gemß dem Seinssinn der Horizonte, in die es sich immer schon geworfen vorfindet. 8 Der intentionale Akt ist Ausdruck dieses jenseits von Subjekt und Objekt stattfindenden Vorgangs des Sehens, Hrens, Sagens usw. – Darin erscheint die Sache wirklich so, wie sie von sich selbst her ist und wie sie uns begegnet, bevor wir darber nachdenken, dass sie uns auf bestimmte Weise begegnet. Sie erscheint einfach. Und dieses ereignishafte Erscheinen passt nicht in das Subjekt-Objekt-Schema, weil das Ego nicht als Subjekt das Objekt gemß den apriorischen Kategorien seines Verstandes erkennt oder als Subjekt im Erkennen des Objekts dialektisch anders wird, sondern durch die intentionalen Akte der Mitgegenwrtigkeit vom Phnomen her lebensweltlich programmiert ist, bevor es berhaupt auf seine Bewusstseinakte reflektieren kann. Das Ego wird so gesehen von der Außenwelt horizontal erfasst, ehe es als Subjekt die Außenwelt erkennt. Heidegger hat diese Seinssphre des Daseins ontologisch und ontisch bis zu der Einsicht fortentwickelt, dass es die Sprache ist, in dessen medialer Prsenz die Subjektivitt des Ego und die Objektivitt der Dinge hintergangen und bedeutungsmßig vorstrukturiert werden. Das die Sprache Auszeichnende ist ihre empirische Faktizitt und die Endlichkeit ihrer relativen Unabhngigkeit gegenber Raum und Zeit. Die Welt ist als Erscheinung eine der Sprache, die als Medium der Mitte von Dasein und Lebenswelt alles nur Erdenkliche simuliert, was irgendwie ist. Die Sprache reprsentiert das Seiende, und kein Ding west, wo das Wort gebricht. Die Sprache ist das mediale Ereignis des informativen Seins: eine virtuelle Realitt und eine digitale Umgebung. Sie unterscheidet sich von allen anderen symbolischen Systemen dadurch, dass man nicht auf ihre Bedeutungen reflektieren muss, damit sie sind. Die Sprache offenbart das Sein des Seienden, noch bevor wir uns ber die intentionalen Akte des Bewusstseins beim Erfassen von Welt Gedanken machen. Jede Sprache, ob nun die strenge Sprache der Logik, die kreativ-abstrakte der Kunst oder die der Liebe, jede braucht die natrliche Sprache, um verstndlich zu sein. Die Sprache ist die eigentliche Grundverfassung des Daseins.
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Husserl 1999, 88.
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Und das System von Zeichen ist die ursprngliche Virtualitt des Wirklichen, deren Technik die Kunst transformiert.
Wissenschaft und Realitt Das 17. Jahrhundert ist der Beginn des modernen wissenschaftlichen Denkens. Nicht, dass es keine Wissenschaft gegeben htte: die vernderte Grundlage wissenschaftlichen Denkens hat die radikalen Vernderungen herbeigefhrt. Die Grundlage fr die modernen Wissenschaften ist das auf Erfahrungen begrndete Denken, whrend die antike Wissenschaft ein Wissen um des Wissens willen zur Grundlage erhob, und dieses Paradigma herrschte bis ins spte Mittelalter hinein. Die vormoderne Wissenschaftsidee unterwarf Mensch und Ding dem Maß des Wissens, d. h. einer Wahrheit, die von innen kommt und nicht von außen. Die vormoderne und die idealistische Wahrheit ist eine verschlossene, mystische und sich offenbarende Wahrheit, wohingegen die ›post‹-moderne Wahrheit eine von außen kommende, geoffenbarte – oder profaner – reelle, naive Wahrheit ist. Die modernen Naturwissenschaften hingegen haben auf dem Weg dahin die Wissenschaftsidee in dreierlei Hinsicht reformiert: Erstens bildet das moderne Wissen keine geschlossene Einheit, die die Welt im Ganzen erklren wollte. Das Wissen wird zwar weiterhin systematisiert, aber man denkt in unendlich offenen Systemen, die sich gerade nicht eignen, die Totalitt irgendeines Erklrungsansatzes auszurufen. Zweitens sind die Erfahrungen aufgrund der Einheit der Methode (die Einheit des Wissens wird ersetzt durch die Einheit der Methode) fr alle und jeden einsehbar und knnen somit von jedem berprft und – wenn ntig – korrigiert werden. Freilich ist dieser Methodenaspekt Erbe der Antike, aber mit dem Eingang in das wissenschaftliche Denken unserer technischen Zivilisation erhalten Methode und Erfahrung eine herausragende Stellung, die auf Konsequenzen angelegt sind, die ber das bloße Wissenwollen hinausgehen und auf Anwendung drngen (Technologie und Wirtschaftlichkeit). Drittens – und das ist der wichtigste Unterschied zur griechischen, also europischen Antike – ist das Wissen ein technisches Wissen. Das Wissen der Griechen ist ein Wissen im Sinne des Knnens, des Beherrschens. Wenn einer das Wissen auf rechte Weise anzuwenden versteht, ist er Meister seiner Kunst, zum Beispiel der Heilkunst, der Redekunst oder der Baukunst. A
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Kunst ist demnach eine nach Regeln angewandte Technik mit dem Ziel der vollkommenen Schnheit, die in entsprechenden Lebenssituationen und Handlungszusammenhngen gewonnen, erlernt und allmhlich verbessert werden kann. Der Unterschied gegenber dem technischen Wissen der modernen Wissenschaft liegt darin, dass das Wissen nicht das Knnen im Sinne des Beherrschens einer Technik zum Ziel hat, sondern das neuartig Machbare. Das technische Wissen erffnet dem Handelnden einen konstruktiven Praxisbezug, der nicht wie das antike Wissen aus der Praxis der Lebenssituation und dem unmittelbaren Handlungszusammenhang erlernt wird, um aus dessen Erfahrungsgewinn das Knnen in der Anwendung des Wissens zur Kunst ihrer Mglichkeiten zu vollenden. Das technische Wissen ist also gerade nicht Praxis, sondern mente concipio. Es wird durch Isolierung bestimmter Kausalbeziehungen gerade von jeder Praxis abstrahiert. 9 Die Einfhrung des technischen Wissens, die prinzipiell unendlich viele spezifische Praxisbezge fr die Welt des Menschen – theoretisch – erlaubt, fhrt auf diesem Wege eine »knstliche Gegenwirklichkeit« 10 ein, weil das technische Wissen eine knstliche Umgestaltung der menschlichen Umwelt hervorruft. Das ist nur mglich, weil das technische Wissen gegenber den Erfahrungswirklichkeiten in einem synthetischen Verhltnis steht. Das auf Knnen ausgerichtete Wissen der Antike befindet sich dagegen in einem analytischen Verhltnis, weil es zumeist aus der empirischen Praxis heraus die Qualitt der Pragmatik verbessert, aber an Welt und Umwelt kaum etwas Wesentliches ndert, zumindest im Vergleich zu den rasanten Vernderungen, die den geschichtlichen Ort der Moderne kennzeichnen. Wir knnen also festhalten, dass mit der Einfhrung der modernen Wissenschaftsidee das technologische Zeitalter der Simulation und der sogenannten virtuellen Realitt einsetzt. Deren Entwicklung ist daran ablesbar, dass die Erfahrungen des technischen Wissens nicht aus den Erfahrungen natrlicher Ablufe und Vorgnge extrahiert, sondern aus (simulierten) Experimenten eruiert werden, die zu den erkenntniserweiternden Schlssen, Einsichten und Fertigkeiten einer weltumspannenden Technik verhelfen: Eine Technik, die spezifische, theoriengeleitete und experimentelle Praxisbezge des Men9 10
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Gadamer 1999, 246 f. Gadamer 1999, 247.
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schen in seinem Zugriff auf Welt und Umwelt erlaubt, ist daher »weltumspannend«. Das Experiment isoliert, extrapoliert und simuliert im Laboratorium und in der freien Feldforschung Kausalbeziehungen. Die Ergebnisse sind Manifestationen einer virtuellen Realitt, einer knstlichen Gegenwirklichkeit, die auf die weltlichen Natursysteme verndernd einwirken, im positiven wie im negativen Sinne. Beispiele dafr gibt es natrlich in großer Zahl. Die beliebtesten Beispiele stammen aus dem Umwelt- und Artenschutz oder aus der Medizin. Das Gefhrliche und zugleich Heilversprechende des technischen Wissens ist die messianische Aussicht auf Erlsung, die das Herstellen von neuartigen Praxisbezgen verspricht. Das technische Wissen erlst tatschlich von der definitorischen Notwendigkeit des Natrlichen, dem Schicksalsspruch der Materie, wodurch alles Krperliche ans Leiden gekettet ist, – in doppelter Weise: ber die Leidenschaft der Vernunft. Dass Erfahrungen simuliert werden mssen, um als Grundlage moderner Wissenschaft dienen zu knnen, hat seinen vorlufigen Hhepunkt in den Programmen, die die knstliche Gegenwirklichkeit operationalisieren. Der Stand der Dinge ist demnach der, dass der menschliche Zugriff auf seine Umwelt nur noch funktioniert und verbessert werden kann, wenn die Kommunikation, die Interaktion und das Experimentieren mit Seinsformen simuliert/digitalisiert wird. Das meiste, was wir tun und was uns widerfhrt, und das meiste, was geschieht, ist nicht im Informationssystem verfgbar. Doch wird die Bedeutung, die Dignitt des Seienden daran gemessen werden, inwiefern es aufgrund von sachlogischen Grnden an der virtuellen Realitt teilnehmen kann. Die Ausbreitung der virtuellen Realitt ist mittlerweile so umfassend, dass die Praxis von Lebenssituationen und Handlungszusammenhngen zusehends fr sich beansprucht, bloß simuliert zu sein. Damit geht der fatale Irrtum einher, genauso spurlos reversibel zu sein wie ein Programm- oder ein Tippfehler. Die Spurlosigkeit ist der Traum von Anonymitt, den die Digitalisierung prinzipiell durch ihre Entmaterialisierung, d. h. durch die bersetzung in Information als Traum in die Wirklichkeit einfhrt (virtuelle Realitt). Praktisch ist das jedoch kaum mglich, weil jede Bewegung im Netz des Datenverkehrs protokolliert wird. Dennoch bleibt die Entmaterialisierung durch Digitalisierung und das Verschwinden des Krpers das grßte gesellschaftliche Problem. Das Verschwinden des Realen in einer A
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knstlichen Gegenwirklichkeit gefhrdet die in ihren Kausalbeziehungen unberschaubaren, leibgebundene Erfahrungswelt mit ihren unvorhergesehenen Lebenssituationen und an Konsequenzen so reichen Handlungszusammenhngen, weil die virtuelle Realitt keineswegs die gesellschaftliche Lebenswelt so weit umgestalten konnte, dass sie denselben Stellenwert des Authentischen und Pflichtgemßen besitzt wie jedes andere verantwortungsbewusste und verantwortungslose Handeln auf dem Markt der gesellschaftlichen Existenz sonst auch. Wir brauchen also ein Mehr an Bewusstsein fr die virtuelle Realitt. Wir brauchen es, weil dadurch die Verantwortlichkeit und die Akzeptanz im Umgang mit den Mglichkeiten der Technik sichergestellt wird. – Die virtuelle Realitt ist nicht irreal, sondern entmaterialisiert Realitt; sie ist darin ußerst subtil und wirkungsvoll.
Kunst und Realitt Kunst definiert sich immer in Reaktion auf eine Realitt: auf alles, was der Fall ist. Gleichzeitig ist sie selbst (gestaltete) Realitt. Die von ihr hervorgehobenen Momente sind in Auseinandersetzung mit der Realitt gewonnen. Die Momente stehen in einem Sinnzusammenhang und prsentieren eine knstliche Gegenwirklichkeit. In diesem Zugriff auf Welt und Umwelt simuliert sie den Prozess und das Verhalten von Systemen auf anderer Ebene. Die Auseinandersetzung, die sich auf dieser anderen Ebene abspielt, hat seit ihren Ursprngen im prhistorischen Kult stets etwas Therapeutisches. Denn die Kunst verarbeitet Eindrcke der sinnlichen Wahrnehmung durch Anwendung von Technik und technischen Mitteln. Darum weiß man nie genau, ob etwas bewusst oder unbewusst geschaffen wird. Man weiß aber, dass Kunst in erster Linie sinnlich ist, auch wo sie abstrakt wirkt, weil die aus dem Vorbewussten gespeiste Organisation und Verarbeitung von Material den sinnlichen Zugang zum geistigen Sinn ermglichen. Die sthetik der Kunst ist so gesehen das Resultat der Verarbeitung von Eindrcken und zugleich Vorgabe fr die Verarbeitung von Eindrcken. Indem wir die von der Kunst geschaffene Gegenwirklichkeit der Werke bewundern, sehen wir uns mit den Problemen konfrontiert, die uns anderweitig beschftigen. Kunst ist wie das Licht, das pltzlich den Raum erleuchtet und Dinge als Dinge von Welt erscheinen lsst. Aber das Licht selbst 90
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sehen wir nicht. Wir sehen nur, was gezeigt wird, nicht das Zeigen. Darin hat Kunst etwas gemeinsam mit dem Sein, in dessen Anwesenheit das Seiende erscheint, whrend das Sein im Zeigen von Seiendem verschwindet. Die Bedeutung des Gezeigten erschließt sich nicht unmittelbar, wie etwa konventionelle Muster, sondern durch Deutung und Reflexion. Darum sind die Produkte der Kunst immer Bilder, ganz gleich, ob es sich um Fotografien, Gemlde oder Skulpturen, um Kompositionen, Installationen oder Filme handelt. Welchen Charakter muss aber das Bild haben, um als Kunst identifizierbar zu sein? Alltgliche Abbilder sind tautologisch, weil sie bloß zeigen, was existiert. Ihr Prinzip ist die Simulation. Darin liegt ihre Funktion. Sie verweisen auf das von ihnen Dargestellte und mehr nicht. Ihr Ideal ist die Photographie, die Ablichtung. Also mssen wir fragen, wann die Photographie ein Kunstwerk ist? Vielleicht dann, wenn die Intention des Bildes die hnlichkeit zwischen Bild und Gegenstand berbelichtet und in diesem Schein etwas zum Ausdruck bringt, was uns vorher noch nicht an diesem Gegenstand aufgefallen ist oder was zu Einsichten fhrt, die mit den abgelichteten Gegenstnden gar nichts zu tun haben: ein kreatives Zufallsprodukt, ein poietisches Aufblitzen. Bilder sind wie ein Sprungbrett unserer Allusionen ins Epistemische. Dem Bild – so Gadamer – wchst als Kunstwerk gegenber seinem bloßen Modell »Sein« zu (Urbild: Ursprung als realer Absprung in die Virtualitt der Simulation), ein Sein, das das Urbild als solches gar nicht besitzt. Insofern unterscheidet sich das Bild von einem Abbild. Denn im Abbild erschpft sich die Funktion darin, dass die Sache so dargestellt wird, wie sie tatschlich erscheint. Es hat nichts Schpferisches, nichts Originres, Exklusives und Einzigartiges. Das Wesen des Abbildes ist die schlichte Reproduzierbarkeit. Das Wesen des Bildes hingegen offenbart sich in diesem auratischen Zuwachs an Sein. Das Bild ist produktiv, das Abbild ist reproduktiv. Beides hat seinen technologischen Nutzen. Das Wesen des Bildes liegt zwischen zwei Extremen: zwischen Zeichen und Symbol. Whrend das Zeichen auf etwas verweist, das es selbst nicht ist, reprsentiert das Symbol seinsgemß dasjenige, fr das es steht. Die Waage ist ein Symbol und steht fr Gerechtigkeit (Justitia). Das Symbol vergegenwrtigt das Dargestellte oder lsst die Idee in der Darstellung erscheinen. Das Zeichen hingegen hat mit dem, worauf es verweist, nichts zu tun. Es ist, wie Saussure sagt, im Gegensatz zum Symbol vom Bezeichneten her nicht motiA
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viert. Aber weder das Symbol noch das Zeichen verfgen wie das Bild ber einen Zuwachs an Sein. Das Zeichen erschpft sich in Erfllung seiner Funktion. Genauso beim Symbol. Das Symbol vertritt etwas, sorgt fr dessen Prsenz (Reprsentation); damit ist seine Aufgabe beendet. Beim Bild ist es aber gerade dieser Zuwachs, wodurch das Seiende, das ins Bild gesetzt wird, auch gleichzeitig mit der Bildlichkeit an Sein gewinnt. Der Unterschied gegenber dem Zeichen und dem Symbol liegt in der »Seinsvalenz des Bildes«. 11 Die Kunstwerke sind frei von irgendeinem Gebrauchswert, – zumindest nach der kulturkonservativen Definition. Sie unterliegen keinem Nutzen. Der Unterschied zwischen einem Kunstwerk und einem Werkstck ist das Originre des Kunstwerks, die Unwiederholbarkeit seiner Entstehung. Das solide Handwerk und das Kunsthandwerk knnen die Produkte, die sie erzeugen, jederzeit neu auflegen. Das Kunstwerk soll als Erscheinung einzigartig sein. Das Werkstck ist wie das Abbild nicht nur Gebrauchswert und Nutzen, sondern außerdem durch das Moment der Freiheit vom Kunstwerk getrennt. In der Antike sprach man von freien Knsten, weil die, die sie betrieben, frei waren von der Fron zu arbeiten. Man berließ die Arbeit, zumal die Handarbeit, den Sklaven. Als Rom in dieser Hinsicht eine Wende vollzog, vernderte sich der Begriff der freien Kunst. Man sprach von den sogenannten schnen Knsten. Aber es ist nicht der uns gelufige Sinn klassischer Schnheit, die an einem Werk erscheint, sondern vielmehr das Schne im politischen Sinne: Alles Schne galt in der Antike als dasjenige, was sich in der ffentlichkeit sehen lassen kann und infolge seiner Erscheinung sehen lassen soll, ganz im Gegenteil zum aischron, dem Hsslichen. Das Schne hat so gesehen etwas Auszeichnendes, das sich im ffentlichen Raum auszustellen lohnt. Das Schne ist von einem gesellschaftlichen Interesse. Sein Daseinssinn ist exklusiv. Aber ist das nicht die Ntzlichkeit des Nutzlosen, dass sein Genuss von gesellschaftlichem Interesse ist? Ja! Aber dieser Umstand ist nicht Zweck des Schnen, sondern eine Begleiterscheinung. Dem Werkstck inhriert der Gebrauchswert. Sein Zweck ist Gebrauch und Nutzen. Gadamer stellt die anziehende Rtselhaftigkeit des Schnen (thauma idestai) der »modernen Informatik« entgegen, um zu zeigen, dass es etwas gibt, was nicht anziehend ist, sondern einzig und allein auf die Produktion von Verwendungszwe11
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Gadamer 1999, 149–165.
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cken ausgerichtet bleibt. Aber gerade die Informatik fhrt eine Kategorie von Schnheit ein, die es bis jetzt noch nicht gab. Sie entspricht unserer Zeit, weil aus ihr die Zeit spricht, in der wir leben. In der schlichten Strenge der Programmgrammatik und in der Notwendigkeit ihrer Funktionalitt liegt etwas Lyrisches. Insofern wre zu klren, ob das programmierte modulare Spiel der Simulation und Interaktivitt nicht von hnlicher Anziehung ist wie das antike Schne, das immer von gesellschaftlichem Interesse war. Gadamer selbst hat am Anfang seines Aufsatzes »Bildkunst und Wortkunst« darauf hingewiesen, dass die Geschichte ins Sein eingezogen sei. Insofern wird sich das Schne an anderen Phnomenen zeigen, als eine Zeit es fr mglich hlt. Gadamer hat allerdings mit seiner Feststellung Recht, dass die Informatik der schnellstmglichen Kenntnisnahme des Verwendungszwecks diene, wohingegen das Kunstwerk zum Verweilen und zum Lesen verleite. Aber verweilen wir nicht gerade dort im Netz, wo uns der sthetische und der informativ-intellektuelle Reiz zum Lesen verleitet? Obzwar dies nur auf einen Aspekt der Informatik zutrifft, ist dieser Aspekt gesellschaftlich sehr wichtig und mit dem politischen Charakter des Schnen vergleichbar. Außerdem drfte fr Gadamer die Schnheit eines Bildes oder eines Gebildes auf dessen Strukturiertheit zurckgefhrt werden, worin der Zweck organischer Sinnflligkeit vorherrscht. Nichts anderes bewundern wir auch an den Strukturen digitaler Phnomene. Aber ob das Kunst ist, mchte ich bezweifeln. Das klassische Verstndnis von Kunst greift hier zu kurz. Denn das Anziehende ist nicht das Gefllige; es ist das Provozierende, das Fordernde und Forschende, das Experimentelle. Es widerspricht dem Stimmigen, der Harmonisierung des Disparaten. Die idealistische Ideologie von der Harmonie verdankt sich der antiken Mathematik, als die Seinsverhltnisse durch Zahlen simuliert wurden und so etwas wie Grundkategorien in das abendlndische Denken eingefhrt wurden, die die Eindrcke zu sinnflligen Einsichten des Transzendentalen umwandelten. Solche Einsichten entspringen nicht mglichen Erfahrungen, sondern werden unabhngig von Erfahrungen a priori begriffen. Die Wahrheit ist erfahrungsunabhngig und zeitlos gltig. Die Stimmigkeit eines Kunstwerkes soll die zwingende Prsenz seiner Sinnflligkeit bewirken, was immer damit auch gemeint sein mag; und diese Stimmigkeit garantiert dem Werk die zeitlose Gltigkeit seiner Bedeutung wie die Mathematik ihren Axiomen. Beide Phnomene besitzen das Maß ihrer Evidenz in sich A
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selbst (metron) und werden nicht mit einem Maß von außen gemessen (metrion), wie es fr empirische Sachverhalte zutrifft. Gilt dies auch fr den Fall, dass die Kunst einen Sachverhalt verinnerlicht, der zum inneren Maß ihrer Evidenz wird? Welcher Sachverhalt knnte das sein, wenn nicht die Realitt des geschichtlichen Ortes selbst? Daran wre so gesehen gar nichts weiter verwunderlich, wenn nicht das Sein dieser Realitt bereits simuliert, also wesentlich scheinhaft wre. Wir haben es also in Wahrheit mit einem Seinsproblem zu tun. Baudrillard formuliert die These, dass die Realitt in einer mit technologischen Mitteln erzeugten Scheinwelt, d. h. in der Verdoppelung des Realen versinke. Er nennt dies in »Der symbolische Tausch und der Tod« den Hyperrealismus. 12 Die Scheinwelt ist erzeugt in Reaktion auf den Anspruch, die Realitt gestalten zu mssen (Werbung, Photo, Kunst, Internet usw.). Der Hyperrealismus ist ein Gestaltungsergebnis und ein sthetisches Faktum. Die sthetisierung des Realen bersteigt die Realitt, indem sie die Reprsentation des Objekts durch die Scheinhaftigkeit der Objektivitt ersetzt. Deshalb heißt es Hyper-Realismus. Das Besondere des Hyperrealismus im Vergleich mit verwandten Erscheinungen ist, dass in ihm der Unterschied zwischen dem Realen und dem Imaginren erloschen ist, dessen Widerspruch gerade die Bedeutsamkeit von Zeichen ausmacht. Das Reale definiert Baudrillard als etwas, was wesentlich reproduziert werden kann. Wir schaffen auf allen erdenklichen Ebenen quivalenzen zum Realen (Sprache). Der Hyperrealismus reproduziert das Reproduzierte, darin ist es das Hyper des Realen, das heißt die Simulation der Realitt. Im Grunde verfhrt die Simulation der Realitt im Stadium des Hyperrealismus nicht anders, als es die Kunst von jeher getan hat. Das Reale und die Kunst fallen in diesem Moment am Hhepunkt ihrer Mglichkeiten in eins zusammen. Fr Baudrillard leben wir in einer sthetischen Halluzination der Realitt. Die Kunst ist unmglich, weil die Realitt durch und durch knstlich ist und permanent von ihrer eigenen Simulation eingeholt wird. Die Kunst ist sthetisch identisch mit der Wirklichkeit, von der sie sich unterscheiden und abgrenzen muss, um als Kunst identifiziert werden zu knnen. Die »Simulakren« (Spiegel, Bilder und Kunstwerke), von denen Baudrillard spricht, waren immer so konzipiert, dass zwischen dem Objekt und seiner Imitation bewusst unterschieden werden konnte. 12
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Baudrillard 1998, 1300.
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Die Transformation der Kunst durch die Technik
Das ist nun nicht mehr der Fall, da mit den technologischen Reproduktionsmitteln die Welten, in denen wir leben, diejenigen sthetischen Produkte entstehen und diejenigen Maßstbe gesetzt werden, die frher ausschließlich Sache der Kunst waren und auf Kunstwerke angewendet wurden. Alles, was ist, kann Zeichen werden: Im Zeitalter der digitalen Reproduktionstechnologie werden auch die Kunstwerke zu Zeichen neben anderen, die im Chaos von Tradition und Kultur ihre exklusive Stellung einbßen. Die Realitt hat sie berboten. Der Alltag ist fiktiver, als Kunst es sein knnte, »[…] denn das Virtuelle ist eine Totalisierung des Realen, indem es smtliche imaginren Alternativen absorbiert.« 13
Die unmgliche Produktion Wer wollte schon allen Ernstes sagen, was die Kunst sei und was sie produziere? Vielleicht liegt es an diesem Unsagbaren, dass dem, der Kunst schafft, der Nimbus des Genialen anhaftet. Die Einzigartigkeit des Produkts bertrgt sich auf die Person. Insofern wissen wir, dass nicht jeder Mensch ein Knstler ist, einmal abgesehen von Joseph Beuys programmatischer Forderung nach einer sozialen Plastik. Fern von solcher romantischen Selbstdarstellung ist die Tatsache, dass Knstler im technologischen Zeitalter den Gesetzen des Marktes unterliegen. Die Produktionsverhltnisse der europischen Gesellschaft entlasten viele Menschen bei der Wahl ihrer Lebensgestaltung davon, auf irgendeine Weise am Produktionsverfahren teilnehmen zu mssen. Nun ist es zweifelhaft, ob tatschlich die Erzeugnisse der knstlerischen Genialitt Dinge sind, die sich von anderen Erzeugnissen, insonderheit solchen der wirtschaftlichen Produktion, dadurch unterscheiden, dass sie keinem Zweck dienten, sondern Zweck an sich selbst seien. Kunstwerke fungieren im kulturkonservativen Diskurs (Gadamer) als Krnung der eigentmlich menschlichen Seinsweise, die eigene Umwelt zu einer Kulturwelt umzugestalten. Um die Einzigartigkeit zu unterstreichen, darf dieses Zeichen der ausschließlichen Andersheit nicht in den Ntzlichkeitskalkl der Massenproduktion eingehen. Aber gerade dadurch wird sie zur Ware unter anderen und erhht nur das Marktinteresse und ihren Marktwert. 13
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Ein Gemlde ist eine Wertanlage. Und es obliegt der Produktanalyse der Kunstkritik zu prfen, ob diese Waren oder Wertanlagen von grßerer oder minderer Qualitt sind, um die Auktionspreise zu lancieren. Kunstwerke gehren definitiv zum Warenbestand des jeweiligen Zeitalters und sind auf geschichtlichem Niveau betrachtet Erzeugnisse einer Herstellung von technisch vllig voneinander unabhngigen Erzeugnissen (Simultanproduktion). Wenn man sie einem der drei Produktionsbereiche subsumieren msste, wre dies fraglos der tertire Bereich der Produktion, wo neben Versicherungen und Banken gesellschaftliche Dienstleistungen zur Verfgung gestellt werden, die sich je nach Qualitt der Ware bezahlt machen, vorausgesetzt die Vermarktung stimmt. Ein menschliches Verhalten, das sich dem Herstellen von Erzeugnissen verschrieben hat und die Kombination von Produktionsfaktoren ausblendet, ist im wahrsten Sinne des Wortes unmglich. Die gesellschaftliche Realitt hat sich darber auch noch nie getuscht. Ganz anders die philosophische und kunstgeschichtliche Mythenfabrikation, die noch zur Produktion des produktiven Scheins von Kunst zu zhlen wre. Es gehrt nun einmal zum Marketing von Kunst, dass sie den Schein ihrer Autonomie aufrecht erhlt. Einzigartigkeit, Originalitt und nicht nachahmbare Qualitt des Schaffens sind Verkaufsargumente. Das ist nun im Unterschied zu allen vorangehenden Epochen etwas Neues und daher Kennzeichen des technologischen Zeitalters des Kunstwerks: seine Reproduzierbarkeit, seine Prsenz im Spiegel der analogen und digitalen Medien. Diese mediengesteuerte und computergesttzte Prsenz der Kunst verleiht ihren Werken eine neue Seinsqualitt. Sie werden anders wahrgenommen. Ihre mediale Prsenz nivelliert ihren Status neben anderen innergesellschaftlichen Erzeugnissen. Diese Nivellierung hat mit der technischen Reproduktion des Kunstwerks begonnen. Und die Vernderungen der Realitt durch die Simulation als das paradigmatische Produktionsverfahren unserer Zeit hinterlassen gleichursprnglich tiefgreifende Vernderungen im Sein und in der Produktion von Kunst. Benjamin macht auf zwei entscheidende Vernderungen aufmerksam, die beide Folgen der technischen Reproduktion sind. 14 Die erste ist der Verlust der Echtheit von Kunstwerken, ihr einmaliges 14
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Benjamin I/2 1991, 474 ff.
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Die Transformation der Kunst durch die Technik
Dasein oder ihr Hier und Jetzt, kurz – die Aura. Die andere betrifft die progressiven Mglichkeiten des Kunstwerks, die erst mit Erfindung der technischen Reproduktion entstehen konnten, weil mit ihr eine Kollektivrezeption verbunden ist, die in der Zerstreuung die ihr gestellten Aufgaben lst. Die Lsung solcher Aufgaben ist von taktiler Qualitt, weil sie auf die Schockwirkung des im Film dargestellten Geschehens mit Geistesgegenwart reagiert. Das ist nicht ganz einleuchtend, weil die Rezeption des Films eigentlich optisch verluft und mit dem Tastsinn doch wohl weniger zu tun haben drfte. Aber taktil kommt von tactus und umfasst auch den Gefhlssinn, das heißt, das Vermgen, in der Spur einer vorgegebenen Struktur zu bleiben. Es ergibt sich daraus die Nhe zur ursprnglichen Bedeutung von Taktik als einem planmßigen Verhalten infolge von ußeren Reizen. Diese Vermutung kann zumindest nicht falsch sein, weil Benjamin gerade auf die Schockwirkung des Films, die eigentliche Bedeutung desselben, aufmerksam macht. Zu ihrer technischen Struktur gehre, dass die Abfolge von Bildern sich an die Stelle der eigenen Gedanken setze. Um der Filmhandlung folgen zu knnen, ist man der Vorgabe der Bildabfolge unterworfen. In dieser mimetischen Eigenschaft steckt der pdagogische Erfolg. Benjamin fhrt im Nachwort seines Kunstwerkaufsatzes zwei Beispiele an, die genau dies dokumentieren. Der Faschismus nutzt die nmliche Eigenschaft der Apparatur zur sthetisierung der Wirklichkeit im Dienste der Propaganda, whrend der Kommunismus den Film zur Politisierung der Kunst zweckgerecht zurechtstutzt: Die Filmkunst als Mittel zur politischen Bildung! Dass dies nicht auf die politische Bildung beschrnkt bleiben muss, ist klar. Jeder weiß, dass der Film ein Medium der Aufklrung ist. Sein didaktisches Potential ist enorm. Wer annimmt, dass das Werk dadurch, weil es als Mittel zur Erfllung eines Zwecks diene, den Nimbus des autonomen Kunstwerks verlre, der hat ein falsches Bewusstsein von dem, was ein Kunstwerk von jeher gewesen ist, nmlich alles andere als autonom. Gerade die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks hat das Kunstwerk aus seinem, wie Benjamin treffend sagt: parasitren Dasein vom Kult befreit. Zuletzt waren es die Formen der Schnheitsverehrung, die den Kult um das Kunstwerk ausgemacht haben, nachdem es aus magischen, mythischen und religisen Ritualformen herausgewachsen war. Wie kommt es jedoch zu dieser Befreiung vom Kult, und vor allem, was bleibt vom ›Kunstwerk‹ noch brig? Die Ausgangslage fr diese Entwicklung ist der Echtheitsbegriff, A
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die Aura des Kunstwerks, das, was man spter in der Philosophie des Anderen die Prsenz nennt. Das Kunstwerk ist die Manifestation dieser Prsenz, seines Hier und Jetzt als eines Eingebettetseins in einen Traditionszusammenhang. Dieser setzt sich aus zwei Linien zusammen: erstens aus der Geschichte der Besitzverhltnisse des Kunstwerks und zweitens aus dessen durch Materialanalyse empirisch nachweisbaren Alterungsprozess. Der vielen metaphysisch erscheinende Begriff der Aura ist somit zutiefst materialistisch, so sehr, dass er gerade dadurch die ihm typische spekulative Kraft entwickelt. Wir verbinden im Schnittpunkt der beiden Seinslinien des Kunstwerks die Prsenz einer vergangenen Zeit, die urpltzlich aufblitzt und fr uns im Gefhl des Echten fassbar wird. Wenn wir von einem Bild zum Beispiel sagen, in ihm sei die Darstellung des sthetisch Schnen gelungen, dann wollen wir, dass diese Darstellung auch echt ist. Wir verbinden damit die Aura als Siegel der Glaubwrdigkeit von Kunst. Natrlich klebt die Aura auch an Erscheinungen, die keine Kunstgegenstnde sind, man knnte sagen, an allem, was Patina besitzt. Die technische Reproduzierbarkeit lscht nun diese Aura der Kunstwerke. Wir erheben immer weniger Anspruch auf Authentizitt. Das hat einerseits mit unseren Erwartungen und unserem Rezeptionsverhalten zu tun, andererseits mit dem Kunstwerk selbst, denn es ist durch die standardisierten technischen Produktionsverfahren auf Reproduzierbarkeit angelegt. Zum Beispiel lsst sich bereits das Photo beliebig oft reproduzieren. Es wre Unsinn zu fragen, welcher Abzug denn nun das Original sei. Wenn wir ein Photo betrachten, berkommt uns nicht das Gefhl des Authentischen. Im Gegenteil. Es berkommt uns das Gefhl der Simultanitt. In ihm schießen durch Darstellung von zeitlich und rumlich auseinander liegenden Ereignissen zwei unterschiedliche Erfahrungsrume zusammen: das im Bild abgebildete und der Erfahrungsraum der Betrachtung. Außerdem ermglicht die technische Reproduktion, dass das Kunstwerk der Situation der Rezeption entgegenkommt. Es ist nicht mehr bloß die Schallplatte oder das Photo in Zeitungen, dass der Kollektivrezeption ins Haus kommt. Das simultane Ereignis kann mittlerweile von Millionen Usern im Netz gleichzeitig rezipiert werden. Benjamin konnte noch sagen, dass das Photo und der Film der Zerstreuung diene, im Unterschied etwa zum Gemlde, das wenigen und erst spter im Museum dann mehreren Betrachtern zugnglich war. Dort verlangte es die Konzentration geistiger Krfte; hier die Zerstreuung angespannter seelischer Krfte. 98
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Die Transformation der Kunst durch die Technik
Die neuen Reproduktionsmedien verlangen ber die bereits von Benjamin herausgearbeitete kollektive Reaktion des Gelchters im Kinosaal hinaus eine Reaktion von interaktiver Zielsetzung. Darin ist die Zeitgeschichte den Schritt von der Reaktion in Form der Geistesgegenwart auf Schockwirkungen des Films zu einer durch Interaktion wirklichkeitsschaffenden Kommunikationsgemeinschaft gegangen, deren Basisstrukturen nie demokratischer waren, als es die heutigen technologischen Mittel erlauben. Hatte die technische Reproduktion also von Anfang an zur Folge, dass die Kunstwerke wie Photo und Film auf Reproduzierbarkeit angelegt sind, so befindet sie sich heute auf dem Hhepunkt ihrer bisherigen Entwicklung, indem sie die Rezipienten aus der passiven Rolle des zerstreuungsbedrftigen Konsumenten herauslst und in den Stand des aktiven, interagierenden Mitspielers versetzt. Kunst auf dem Feld der Neuen Medien verlangt eine direkte, konzentrierte Antwort der Massen. Nun kann man einwenden, dass Kunst von jeher Antworten provozierte. Doch sind die Art und die Verbreitung der Antwort durch die Systemmglichkeiten bestimmt, die aus dem technischen Standard des historischen Ortes erwachsen. Heutzutage reicht es nicht, sich in kunsthistorischen und kunstkritischen Analysen zu verlieren, man muss handeln, das heißt kommunizieren und interagieren. Die Antworten, die Kunst verlangen, sind von politischer Bedeutung. Insofern hat Benjamins berchtigter prophetischer Blick das Wesentliche gesehen. Die modernen Reproduktionsverfahren der Technik fhren zu einer Politisierung der Kunst. Sie ersetzen das Eingebettetsein in einen Traditionszusammenhang durch die selbstorganisierende Spontaneitt der situativen Interaktion. Die Interaktion will keine Konservierung, sondern die Aktualitt des Updates. Die Wandlung der Kunst hat nicht erst begonnen, sondern hat mit den digitalen Mglichkeiten der Computertechnologien ihre Vollendung erreicht. Der Rest ist Ausarbeitung. Kunst produziert einen ffentlichen Raum zum Zweck der interagierenden Verstndigung und mit dem Ziel, sich auf etwas zu verstndigen. Ihr Ort der Kunst drngt aus den Rumen der Museen in den einen Raum der digitalen, unkontrollierbaren Vernetzung. Insofern sind auch die sthetischen Vorgaben einer privilegierten Klasse, die identisch ist mit der Klasse des Kapitals, wirkungslos. Der sthetische Standard wchst aus dem Bodensatz der User. Das belegten erstmals das Happening und dessen Derivate. Das Happening ist der Versuch, das einmalige A
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Dasein des Kunstwerks neu aufzulegen. Das Scheitern dieses Versuchs dokumentiert die Unmglichkeit, mit herkmmlichen Mitteln gegen die technologischen Mglichkeiten des Reproduktionszeitalters Kunstwerke alten Stils zu machen. Was ist also an dem virtuellen Sein der Realitt dran, dass es zu einer unmglichen Produktion der Kunst fhrt, wenn nicht die Reproduktion und Simulation von Seiendem? Weil Kunst wesentlich Schein ist, kommen die Verfahren der Simulation ihrem Wesen entgegen. Aber kann es nicht auch sein, dass der Schein der Wirklichkeit nicht zum Schein der Kunst passt? Je mehr Realitt durch Reproduktion und Simulation verschwindet, desto sinnloser wird der Schein, in dem die Kunst uns einst mit dem Glanz ihrer Ideen verzaubert hat. Kunst ist sinnlos, weil ihr Schein keine Position gegenber der Realitt findet. Ist die Virtualitt nicht eine reale Bezugsgrße und als solche ein Thema? Das ist zwar richtig. Aber die mglichen Produkte wrden sich in nichts von den Produktionen dieser virtuellen Realitt unterscheiden. Kunst kann nun aber nur von ihren Produkten, ihren Erscheinungen her erkannt und verstanden werden. Die Kunstwerke identifizieren Kunst als Kunst. Was also, wenn diese Mglichkeit nicht mehr besteht? Die unmgliche Produktion ist unmglich, weil Kunst nicht mehr eine Gegenwelt zu inszenieren vermag, die sich von der Inszenierung des Realen als Wirklichkeit unterscheiden wrde. Die technologische Realitt hat sie vollstndig absorbiert und verdaut. Denn die Realitt ist mit der Entwicklung des technischen Wissens auf dem Weg zu einer perfekt inszenierten knstlichen Gegenwelt, die mit dem modernen naturwissenschaftlichen Denken die Welt nicht erobert, sondern sie konstruiert. Einer ›wahren‹ Kunst fehlte jede Mglichkeit, sich sthetisch gegenber der Wirklichkeit als Schein zu aktualisieren. Das technische Denken hat auf hherer Ebene das antike Verhltnis von Kunst und Technik restituiert, nur eben in umgekehrtem Sinne. Die Technik braucht die Kunst zur sthetisierung ihrer Produkte. Darum ist die Kunst im abendlndischen Sinne unmglich. Die Simulation ist die Folge der Reproduktion und das Ende der Kunst als Mythos vom genialen Schaffen einer hheren Welt in der Welt. Im technologischen Zeitalter ist dieser Schpfungsmythos dem der Reproduktion und Simulation von Seiendem gewichen. Heute werden Dinge kopiert, gescannt, im Layout und der Funktionsweise durch Umschreiben der Programmcodes aktualisiert (u. s. w.). Die populre Kunst ist ein Phnomen der Masse und entsteht 100
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Die Transformation der Kunst durch die Technik
aus den Bedrfnissen und Erwartungen der technischen Zivilisation. Lawrence Alloway weist in »Kunst und Massenmedien« 15 zu Recht darauf hin, dass sie wie die Hochkunst, die ihre sthetischen Prinzipien von einer Elite empfngt und den Genuss mit der Geste des interesselosen Wohlgefallens zelebriert, bloß eine unter vielen anderen mglichen Kommunikationsformen innerhalb des herrschenden Kultursystems darstellt. Im Unterschied zu der Hochkunst jedoch, die immer noch an Idealen und Voraussetzungen festhlt, die eine Wahrheit zum schnen Scheinen bringen mchte, an der teilzunehmen nur Auserwhlten erlaubt sei, vermag die Massenkunst den zeitgeschichtlichen Umstnden entsprechend sich den technischen, politischen, konomischen und kulturellen Vernderungen anzupassen, die Reproduktion und Simulation zur Folge haben. Die Massenkunst ist keine Ersatzkultur fr die geistlose Masse, sondern empfnglich fr das Spiel mit experimentellen Formen. Die Flexibilitt und die Dynamik, die sich beide der Unabhngigkeit von klassischen Kunstidealen verdanken, sind vor allem offen fr die Herausforderungen, die unter dem Druck des wirtschaftlichen Erwerbs stehen (z. B. Farbdruck der Printpresse, Taschenbcher, Fernsehen, Internetangebote u. dgl.). Damit beginnt der Prozess, das System Kunst in das System der Gesellschaft und deren Teilsysteme hineinzukopieren. Einen weiteren Vorteil der Massenkunst sieht Alloway darin, dass die Popkultur durch hohe Redundanz gekennzeichnet ist, was den Reiz zum Konsum erhht. Auf der einen Seite kann jeder mhelos dem Film folgen, auch wenn er zwischendurch seine Freundin ksst; auf der anderen kann man konzentriert die Nuancen von Situation und Handlungsverlauf studieren, um seine intellektuellen Ansprche zu befriedigen. Der Impuls der doppelten Optik, der von der populren Kunst ausgeht, ist dessen wirklichkeitsschaffende Kraft. Die Massenkunst schafft ein Kontinuum zwischen Fakten und Phantasiegebilden. Das bedeutet, dass die Popkultur Trends setzt, Moden bestimmt und Verhaltensweisen zur Diskussion stellt, worin sich die Transformation der Kunst als alltgliche Simulationssthetik konsolidiert und gleichzeitig absorbieren lsst. Das Resultat der Transformation zeichnet sich durch die Gesetzmßigkeiten ab, denen Kunst gegenwrtig unterworfen ist: denen der Technologie und denen der globalen konomie. Die Gesetze ihres selbstregulierenden 15
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Systems machen sie zu einem Dienstleistungsunternehmen auf dem Gebiet des Experiments und der Provokation. Kunst geistert durch die Gegenwart wie ein Echo aus einer anderen, lngst vergangenen Zeit.
Literatur Baudrillard, Jean: Das Andere selbst. Habilitation, aus d. Franz. von Monika Buchgeister und Hans-Walter Schmidt (dt. EA), Wien 1987. – Der unmgliche Tausch, aus d. Franz. von Markus Sedlaczek, Berlin 2000. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhuser Frankfurt/M. 1991. Boehm, Gottfried (Hg.): Was ist ein Bild? Mnchen 1994. Boehmer, Konrad: Das bse Ohr. Texte zur Musik 1961–1991, hg. von Burckhardt Sll, Kln 1993. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, bers. von Bernd Schwibs u. Achim Russer, Frankfurt/M. 8 1996. Burckhardt, Jacob: Bilder des Ewigen. Ein kulturgeschichtliches Lesebuch, hg. von Hanno Helbling, Darmstadt 1997. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Darmstadt 10 1994. Castells, Manuel: Das Informationszeitalter I: Die Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001. Delacroix, Eug ne: Briefe und Tagebcher, ausgew., bers. und komm. von Elise Guignard, Mnchen 1990. Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz, bers. von Rodolphe Gasch u. Ulrich Kppen, Frankfurt/M. 1972. – Grammatologie, bers. von Hans-Jrg Rheinberger u. Hanns Zischler, Frankfurt/M. 7 1998. Duerr, Hans Peter: Obsznitt und Gewalt. Der Mythos vom Zivilisationsprozess, Bd. 3, Frankfurt/M. 1995. Fleischmann, Monika und Strauss, Wolfgang: Machbarkeitsstudie fr ein Kompetenzzentrum von Kunst, Kultur und Neuen Medien, 2 Bd., Sankt Augustin/ Bonn 1999 (www.netzspannung.org). Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke, Tbingen 1999. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke, Bd. 13: Vorlesungen ber die sthetik I, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1992. Husserl, Edmund: Gesammelte Schriften, hg. von Elisabeth Strker, Hamburg 1992. Kunsttheorie im 20. Jahrhundert: Knstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews, 2 Bd., hg. von Charles Harrison und Paul Wood, fr die dt. Ausg. erg. von Sebastian Zeidler, bers. von Jrgen Blasius. Ostfildern-Ruit 1998.
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Die Transformation der Kunst durch die Technik Virilio, Paul: Der negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung, aus. d. Fran. von Brigitte Weidemann, Frankfurt/M. 1995. – Dialektische Lektionen. Vier Gesprche mit Marianne Brausch. Interview, aus d. Franz. Bettina Aldor, Ostfildern-Ruit 1996. – Fluchtgeschwindigkeiten, aus d. Franz. von Bernd Wilczek, Mnchen/Wien 1996.
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II) Musik und Technik
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Komposition und Konstruktion. Zum Verhltnis von musikalischer und technischer Kreativitt in der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts Hans-Joachim Braun Einleitung und Aufgabenstellung Obwohl bisweilen gefordert wird, das Verhltnis von Konstruktionsprozessen in der Technik zu Kompositionsprozessen in der Musik zu untersuchen (Grabowski 1998, hierzu und zum folgenden Braun 2002 b), ist dies bisher nicht erfolgt. Sich dieses Themas anzunehmen, erscheint auch aus anderen Grnden ntig: Einerseits nimmt die Technisierung der Musik seit lngerem einen breiten Raum ein, andererseits treten, als Ergebnis wachsender Komplexitt der technischen Entwicklung, viele »schlecht strukturierte« Konstruktionsprobleme auf. Letztere lassen es angezeigt sein, das Instrumentarium einer auf den »one best way« ausgerichteten Technikwissenschaft durch Einbeziehung »weicher Faktoren« zu ffnen (Heymann & Wengenroth 2001). Hier bieten sich die knstlerischen Disziplinen an. Whrend wir ber Aspekte des Verhltnisses von bildender Kunst und Naturwissenschaften (Miller 2000) oder Musik und Naturwissenschaften (Kulturelle Dialoge 1994) schon recht gut informiert sind, ist dies bei der Frage des Verhltnisses von Technikwissenschaften und Musik nicht der Fall. Dies mag mit methodischen Problemen zusammenhngen – die aber bei den anderen genannten Fragestellungen kaum geringer sind – und hat wohl auch mit eher zuflligen Grnden zu tun. Bei diesem Thema lge es nahe, ein besonderes Augenmerk auf die Entwicklung seit den 1950er Jahren zu werfen, in der Musikelektronik und Computermusik eine große Bedeutung erlangt haben. Dies schlug sich bei vielen Komponistinnen und Komponisten der »Kunstmusik«, die hier im Vordergrund stehen soll, auch im Kompositionsprozess nieder; manche Komponisten hatten und haben eine Tonmeisterausbildung (Braun 2002 a). Die folgenden Bemerkungen sollen jedoch den Zeitraum von 106
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Komposition und Konstruktion
Ende des 19. Jahrhunderts bis zu den 1950er Jahren beleuchten, dessen Untersuchung nicht minder reizvoll erscheint und fr den einige Arbeiten vorliegen, die als Ausgangspunkt dienen knnen (Danuser u. Katzenberger 1993; Braun 1994, 2002 a, 2002 b, 2003). In dieser Zeit spielte die Elektroakustik eine immer grßere Rolle, und auch Komponisten, die diese Entwicklung ablehnten, mussten sie zumindest zur Kenntnis nehmen. Insofern wurden in diesem Zeitraum die technischen und sthetischen Grundlagen gelegt, auf denen die sptere elektronische und Computermusik aufbauen konnten. Gerade die 1920er und frhen 1930er Jahre knnen nicht nur in der Musik, sondern auch in anderen Knsten als »Laboratorium« bezeichnet werden, in denen technische und sthetische Mglichkeiten erprobt wurden. Technik und Kunst werden hufig als klar voneinander abgrenzbare Bereiche betrachtet. Nach Niklas Luhmann verfolgt Technik mit Hilfe rationaler Mittel bestimmte Zwecke, whrend Kunst »zwecklos« sei, also einen ›zwecklosen Zweck‹ verfolge (Luhmann 1995, 238–9). Nach Hans Hollnder zeichnet sich Kunst, nicht aber Technik, durch Reflexivitt aus: Technik kann sich nicht selbst kritisieren, ironisieren oder parodieren (Hollnder 2002, 15). Wird man diesen Distinktionen durchaus zustimmen knnen, so sind die Unterscheidungen zwischen Technik und Kunst in vielen Fllen nicht einfach zu treffen. Bei manchem Bauwerk ist es unklar, ob der Technik- oder der Kunstcharakter im Vordergrund steht. Zudem mag die Rede vom »zwecklosen Zweck« beim Kunstschaffen bisweilen Probleme bereiten. Auch Knstlerinnen und Knstler mssen sich ihren Lebensunterhalt verdienen und mancher in Eile fertiggestellten Auftragsarbeit ist sicherlich ihr »Zweck« deutlich anzumerken. Dies wird auch in verschiedenen Untersuchungen zum Thema Komposition und Konstruktion deutlich. Sowohl zum Kompositionsals auch zum Konstruktionsprozess existieren Werke, die Licht auf die entsprechenden Schaffensvorgnge werfen (zur Komposition s. u. a. Duchesneau 1986; Danuser u. Katzenberger 1993; Dobberstein 1994). Fr den Konstruktionsprozess weist Eugene S. Ferguson auf das »innere Auge« und das »nonverbale Denken« des Ingenieurs beim konstruktiven Schaffen (Ferguson 1992) oder Henry Petroski auf »tacit knowledge« und Intuition hin (Petroski 1996). Allenthalben wird deutlich, dass fr das Erfinden und Konstruieren mehr erforderlich ist als die bloße Anwendung von Ingenieurwissen. Analoges trifft auf das Komponieren zu: Die meisten Komponisten haben A
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keine Zweifel daran, dass Komponieren nur bis zu einem gewissen Grade gelernt werden kann (Duchesneau 1986, passim). Whrend also fr den Kompositions- und Konstruktionsprozess durchaus Literatur zur Verfgung steht – obwohl manche Fragen des kreativen Prozesses im Dunkeln bleiben – steht eine Untersuchung des Verhltnisses zwischen beiden, vor allem in historischer Perspektive, noch aus. Im Folgenden sollen erste Vorarbeiten hierzu geleistet werden. Wie, so wird zu fragen sein, ußerten sich Komponisten und Konstrukteure in der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts ber ihre Ttigkeit? Betrachteten sie diese als Kunst, als Wissenschaft oder als Mischung von beiden? Welche Rolle spielten Faktoren wie Intuition, formalisiertes Wissen und Routinewissen? Ist, nach Ansicht dieser Komponisten und Konstrukteure, das Komponieren bzw. Konstruieren lehr- und lernbar? Existieren allgemeine Regeln des Komponierens und Konstruierens, etwa im Sinne von Algorithmen? Dabei ist es beim gegenwrtigen Stand der Forschung unvermeidbar, dass zunchst noch mehr Fragen offen bleiben, als Antworten gegeben werden. Die Forschungshypothese lautet, dass die Gemeinsamkeiten zwischen Kompositions- und Konstruktionsprozessen in der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts grßer sind, als gemeinhin angenommen.
Erfindung und Konstruktion Konstruieren und Konstruktion standen und stehen im Zentrum des Entstehungsprozesses von Technik. Dabei wird die Bedeutung von Faktoren wie Kreativitt, Intuition und knstlerischem Schaffen durchaus unterschiedlich beurteilt. Betonten verschiedene Konstrukteure und Konstruktionswissenschaftler des 19. Jahrhunderts durchaus den Aspekt von knstlerischer Kreativitt und Intuition, so wurde doch rasch deutlich, dass bei technischen Artefakten den Funktionsanforderungen eine entscheidende Bedeutung zukam. Insofern war es offensichtlich, dass sich das Konstruieren nicht nur im Kopf des Ingenieurs, sondern auch in einem gesellschaftlichen Raum abspielte, bei dem unter anderem soziale Vorstellungen und Zwecke, wirtschaftliche Vorgaben und der Stand von technischer Bildung und Ausbildung eine Rolle spielten (Knig 1999, 9). Analog wird auch bei der Komposition als kreativem Prozess von Produktionshandlungen 108
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das Bedingungssystem gesellschaftlich vermittelter Faktoren betont (Rsing und Bruhn 1993, 515). Bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts stellte Ferdinand Redtenbacher, hufig als »Vater der Maschinenwissenschaft« bezeichnet, fest, dass ein Konstrukteur, ber die Kenntnisse der Prinzipien der Mechanik hinaus, ber besondere Fhigkeiten verfgen msse: Zusammensetzungssinn, Anordnungssinn und Formensinn. Zudem seien praktische Kenntnisse der zu verarbeitenden Materialien, Fertigkeiten in der Handhabung von Werkzeugen und Hilfsmaschinen sowie wirtschaftliche Kenntnisse unverzichtbar. Die erforderliche konstruktive Begabung msse durch langjhriges ben, Anschauung und Erfahrung ausgebildet werden (Redtenbacher 1848; Redtenbacher 1852; Knig 1999, 20–21; Braun 1977). Nach Franz Reuleaux, einem bedeutenden deutschen Maschinenbauprofessor am Ende des 19. Jahrhunderts, ist das Konstruieren von Maschinen eine wissenschaftlich begrndete, technische Kunst, die auf der Grundlage der Kinematik, der Lehre von den Bewegungsgesetzen der Maschine, zu entwickeln sei. Reuleaux, der auch die Elemente der Intuition im Erfindungsprozess betont, unterscheidet zwischen Erfindung und Konstruktion. Whrend in der Erfindung die geometrische Zusammensetzung der Maschine festgelegt wird, obliegt dem Konstruktionsprozess die Dimensionierung und Materialbestimmung. Erfinden bedeutet demnach noch nicht, eine gebrauchsfertige Maschine herzustellen (Reuleaux 1875; Knig 1999; Braun 1977). Reuleaux war es ein besonderes Anliegen, das Erfinden lehr- und lernbar zu machen. An der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert beschftigte sich Peter Klimentitsch von Engelmeyer, ein Maschinenbauingenieur aus St. Petersburg, besonders intensiv mit der Analyse von Erfindungsund Konstruktionsprozessen. Schon frh setzte er sich explizit mit Fragen der Kreativitt auseinander (Engelmeyer 1910). Einigen Philosophen und Sozialtheoretikern seiner Zeit folgend, entwickelte er ein Dreistufenschema erfinderischer Ttigkeit, den »Dreiakt«. Ihm zufolge wird die Erfindung als »Lsung eines technischen Problems, bestehend in einem neuen Gegenstande oder in einem neuen Arbeitsverfahren und wird durch einen vollen Dreiakt hervorgebracht« (Engelmeyer 1895, 297). Den Prozess des Entwerfens von Maschinen, der bei Engelmeyer im Wesentlichen mit dem Erfinden gleichzusetzen ist, unterteilt er in drei »Akte«: Beim ersten, dem schpferischen Akt, der zugleich A
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der wichtigste ist, entsteht der allgemeine Plan; dieser enthlt eine auf intuitivem Wege entstandene Idee, wie auf bestimmte Art und Weise ein gewnschter technischer Effekt erzielt werden knne. Der Erfinder, der vor allem ein gutes Gedchtnis und konstruktive Entscheidungskraft bentigt, muss diese Idee »geistig lesen«. »Die Idee der Maschine ist sozusagen eine Sphinx, deren Bild enthllt werden muß.« (Engelmeyer 1893, 536) Dieser Akt spielt sich vor allem im Kopf des Erfinders ab, der eventuell Risszeichnungen, Skizzen oder Notizen zu Papier bringt (Braun 1975, 319; Knig 1999, 48). Ist klar, wie die Maschine knftig arbeiten wird und sind die Hauptbestandteile der knftigen Maschine einigermaßen deutlich zu erkennen, so ist der erste Akt des Entwerfens beendet. Der zweite Akt ist vornehmlich ein wissenschaftlicher; es erfolgt die kinematische Ausarbeitung, bei der weniger Formen als die Bewegung und Bewegungsgesetze im Vordergrund stehen. Hier ist eine gute kinematische Schulung und ein reicher Vorrat an technischen Kenntnissen vonnten. Der dritte Akt ist von technischem Zeichnen geprgt; in ihm werden, mit konstruktivem Geschick, die Details ausgearbeitet (Engelmeyer 1893, 540; Braun 1975, 311). Jede Erfindung durchluft den Dreiakt, wobei die einzelnen Akte allerdings ineinander verschmelzen und so Verkrzungen in der Ausarbeitung entstehen knnen. ber den Erfindungsprozess hinausschauend, identifiziert Engelmeyer die Elemente, welche das technische (zielgerichtete) Schaffen bilden: das Wollen, das Wissen und das Knnen. Dies gilt allerdings nicht nur fr die Technik, sondern auch fr andere Schaffensprozesse, etwa in den bildenden Knsten (Engelmeyer 1893, 540; Braun 1975, 311). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellten Psychologen, die Kreativittsprozesse untersuchten, hnliche Modelle auf. So traf Graham Wallas 1926 eine Unterscheidung in fnf Stufen: Vorbereitung, Inkubation, Illumination, Evaluation und Elaboration. Die Vorgnge whrend der Inkubationsphase vollziehen sich unbewusst und knnen langwierig sein, die Einsicht oder Illumination (»Aha-Erlebnis«) geschieht oft schlagartig in einer Phase der krperlichen und geistigen Entspannung (Wallas 1926). Komponistenbefragungen aus den 1930er Jahren gelangten zu hnlichen Erkenntnissen. So unterscheidet der deutsche Musikpsychologe Julius Bahle die Stufen Konzeption, abstrakte Ideen oder Vorstellungen, konkrete Ideen, z. B. musikalische Motive, Realisierung und Auffhrung (Bahle 1936). 110
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Komposition und Konstruktion
Kompositionsprozesse Der Kompositionsprozess steckt voller Mythen, die vom romantischen Geniekult noch gefrdert wurden. Demzufolge ist musikalische Kreativitt ein Geschenk oder Talent, das außergewhnlichen Menschen verliehen wurde, die als Medium fr die Erscheinung des bernatrlichen in der Welt wirken. Solche musikalische Kreativitt ist folglich auch nicht oder nur zu einem geringen Grade lernbar (Leman 1999, 287). Fr Bach und Haydn stellten musikalische Eingebungen Geschenke des Himmels dar (Jourdain 1997, 185). Eine besondere Gabe lag darin, ein Werk vollstndig, einschließlich der gesamten Instrumentation, ohne Zuhilfenahme ußerer Speicherung fertigzustellen (Dobberstein 1994, 105). Mozart soll diese Gabe besessen haben. Die Niederschrift des Erdachten, so ußerte er sich, erfolgte rasch, »denn es ist, wie gesagt, eigentlich schon fertig und wird auch selten viel anders, als es vorher im Kopf gewesen ist« (Mozart zit. n. Kerst 1904/1905, 170; Dobberstein 1994, 105). Neuere Arbeiten haben indes nachgewiesen, dass auch Mozart seine Werke immer wieder berarbeitete und selten ein Werk nach dem anderen fertigstellte (Kster 1991, 26 ff.). Beethoven hingegen verwirklichte seine Ideen in minutiser Arbeit, wovon seine vielen Skizzenbcher Zeugnis ablegen. Brahms bekannte: »Ich muß mich im Zustand der Halbtrance befinden, … ein Zustand, in welchem das bewußte Denken vorbergehend herrenlos ist und das Unterbewußtsein herrscht« (Rsing und Bruhn 1994, 516) und auch Arthur Honegger, ein eher »nchterner« Komponist, sah das Komponieren als ein Wunder an, als Offenbarung des Unterbewusstseins, das sich einer rationalen Erklrung entzieht (Honegger 1987, 79). Paul Hindemiths spricht in seiner idealistischen Sicht des Komponierens von kompositorischen Visionen; er sieht, zumindest in seinem spteren Schaffen, am Beginn des Kompositionsprozesses das gesamte Werk im »Aufleuchten des schpferischen Moments« klar und deutlich vor sich (Hindemith 1959) und zielt von diesem visionr erschauten ganzheitlichen Vorbild auf eine mglichst große Annherung an die Welt konkreter Klangerscheinungen. Bei ihm ist von einem »inneren Singen und Klingen« und von einer musikalischen Vision die Rede, die er mit dem Bild einer nachts von einem Blitzstrahl erhellten Landschaft veranschaulicht; Umrisse, aber auch Einzelheiten, tauchen fr einen Moment auf und prgen sich dem Gedchtnis ein. Solche Visionen werden aber, Hindemith zufolge, nur A
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großen, wirklich kreativen Komponisten zuteil und weisen solche Komponisten als wahre Schpfer aus (Mauser 1985, 105–107). Ansonsten erscheinen ihm Einflle und Inspirationen als kompositorisch unbedeutend. »Wenn wir von Einfllen sprechen, meinen wir gewhnlich kurze, aus wenigen Tnen bestehende Motive …, die eigentliche schpferische Ttigkeit beginnt erst mit der Fhigkeit der Umsetzung in ein fertiges Musikstck« (Hindemith 1959, 81). Fgt man diese beiden Gedankengnge zusammen, so bedeutet Komponieren fr Hindemith, aus dem Reservoir allgemein vorhandener Einflle dem Original einer geschauten Komposition mit einer entwickelten Satztechnik nahezukommen und, im Idealfall, eine Kongruenz zwischen Vision und Materialisation zu erreichen (Mauser 1985, 106). Doch wird man bei Hindemith durchaus von einer Aporie sprechen knnen: Einerseits unterwirft er den Kompositionsvorgang, das »musikalische Gestalten«, einer strengen rationalen Kontrolle, auf der anderen Seite sieht er die vorausgegangene musikalische Vision und Inspiration als unverzichtbar an (Schubert 1993, 219). Im Gegensatz zur Vision ist der Vorgang der Materialisation weitgehend erkennbar. Da das Vermgen zum Einfall und zur Inspiration aber darber entscheidet, ob ein Musiker ein Komponist ist oder nicht, gelangt Hindemith, der lange Zeit selbst als Kompositionslehrer arbeitete, zu der berzeugung, dass Komposition letztlich nicht lehrbar sei. Insofern kritisiert er auch Musikwissenschaftler wie den Amerikaner John Redfield, der eine gegenteilige Auffassung vertrat: »Dies ist sehr amerikanisch: es gibt nichts unerklrbares und alles kann gelernt werden. Die Entscheidung, ob einer Beethoven werden will, hngt lediglich vom eifrigen Aufdiehosensetzen ab.« (zit. nach Schubert 1993, 219).
Komponieren und Konstruieren lehren Sind also Erfinden, Konstruieren und Komponieren lehr- und lernbar? Dem romantischen Genieverstndnis des technischen, aber auch des knstlerischen Schaffensprozesses zufolge sicherlich nicht; betrachtet man hingegen Konstruieren und Komponieren als rational rekonstruierbare Produktionsvorgnge, dann wahrscheinlich doch. Fr die Verfechter eines Konstruktionsalgorithmus haben Erfinden und Konstruieren den Charakter einer »black box« verloren, und 112
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auch der Gedanke an automatisch erstellte Musik hat viele Generationen von Komponisten fasziniert. Bereits Haydn und Mozart erstellten Notenhefte mit musikalischen Versatzstcken, aus denen Kompositionen nach aleatorischen Prinzipien zusammengestellt werden konnten. Seit den spten 1950er Jahren entstanden dann computeruntersttzte Kompositionen auf der Basis der Arbeiten von Bach bis Schnberg, die in Computer-Algorithmen umgeschrieben worden waren (Rsing und Bruhn, 1994, 518). Bei der heutigen elektronischen Musik geht es weniger darum, den Komponisten durch den Computer zu ersetzen, als vielmehr dem Komponisten ein Hilfsmittel beim Kompositionsprozess an die Hand zu geben (Braun 2002 a, 15–16). Wenn schon das Komponieren bzw. Konstruieren nicht vollstndig erlernbar war oder ist, so haben Komponisten und Konstrukteure doch immer wieder versucht, geeignete Hilfsmittel dafr zu entwickeln. Bleibt zwar der Prozess der Generierung kreativer Ideen immer noch weitgehend im Dunkeln, so hat es nicht an Versuchen gefehlt, Vorstellungskraft und kreative Fhigkeiten auszubilden. Vor allem am Ende des 19. Jahrhunderts machten Professoren des Maschinenbaus entsprechende Vorschlge. So schlug der amerikanische Maschinenbauprofessor John T. Hawkins vor, das technische Vorstellungsvermgen, die Einbildungskraft, mit Hilfe der darstellenden Geometrie zu ben. Weitere Mittel waren Kritik und Analogiebildung, indem der Erfinder versuchte, den Gang frherer Erfindungen, soweit er sich rekonstruieren lsst, zu analysieren und zu versuchen, daraus Lehren fr hnliche Erfindungen zu ziehen. Besonderen Wert legte er auf praktisches Arbeiten in Werksttten sowie den Besuch von Fabriken und Httenwerken (Braun 1975, 317). Um die Erfindungskraft auszubilden, erhielten Schler die Aufgabe, ein Teil, das aus einer Maschine entfernt wurde, zu skizzieren; danach sollten sie die Skizzen mit dem entfernten Maschinenteil vergleichen. Eine andere Aufgabe bestand darin, ein Maschinenteil zu konstruieren, das die gleiche Aufgabe erfllte wie ein vorgegebenes, diesem aber nicht hnlich sei. Weiterhin entfernte man aus einem Satz von Werkstattzeichnungen einige und stellte dem Schler die Aufgabe, die fehlenden Zeichnungen zu ergnzen (Knig 1999, 50). Der schon genannte Peter Klimentitsch von Engelmeyer ging darber hinaus, indem er forderte, die technische Kritikfhigkeit durch dialogischen Unterricht auszubilden. »Es wre doch an der Zeit anzunehmen, daß Kritik keinen Tadel bedeutet und daß Selbsthtigkeit A
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kein Eigensinn und Initiative noch keine Revolution bedeutet.« (Engelmeyer 1899, 82) Hier wird ein entscheidender Gesichtspunkt angesprochen. Ein Hauptvorwurf gegenber vielen Versuchen, das Erfinden, Konstruieren, aber auch Komponieren lehr- und lernbar zu machen, lag nmlich darin, dass durch solche Lehrmethoden, die etwa auf Variation abzielten, kaum wirklich neue Erfindungen gemacht werden konnten. Beim »Lernen von den Meistern« verblieb man im traditionellen Kompositions- bzw. Konstruktionsparadigma. Gleiches lsst sich auch ber den Kompositionsunterricht dieser Zeit sagen. Brahms, der, wenn auch ohne große Begeisterung, Kompositionsunterricht erteilte, verlangte von seinen Schlern, die Partituren von Bach und Beethoven ausgiebig zu studieren. Danach deckte er einige Takte dieser Kompositionen ab und forderte seine Schler auf, diese zu ergnzen. Variationen zu komponieren war ein weiteres beliebtes Mittel des Kompositionsunterrichts (Sachs, Cahn, Kelterborn, Rsing 1996). Doch sollte man die Bedeutung solcher hnlichkeiten zwischen dem Unterricht im Konstruieren und im Komponieren nicht berschtzen: Diese Vorgehensweisen waren – und sind – auch in anderen Fchern, etwa im Kunstunterricht, durchaus gebruchlich. Die Ausprgung, Entwicklung und Bedeutung solcher Methoden wre, vor allem hinsichtlich eines Vergleichs zwischen Komposition und Konstruktion, nher zu untersuchen.
Fritz Kesselrings »Technische Kompositionslehre« Konstrukteure und Komponisten haben sich zwar des fteren zum Selbstverstndnis ihres Tuns geußert, die Aktivitten des Konstruierens und Komponierens aber nicht miteinander verglichen. Eine Ausnahme stellt hier Fritz Kesselring dar. Kesselring (1897–1977), Autor eines Buches mit dem programmatischen Titel »Technische Kompositionslehre«, stammte aus der Schweiz, arbeitete als Konstrukteur in der deutschen Elektroindustrie, unter anderem bei der Firma Siemens, und lehrte Ingenieurwissenschaft an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg. Einige seiner Verffentlichungen zum Konstruieren stammen bereits aus den 1930er Jahren. Obwohl er in seinem Buch »Technische Kompositionslehre« (1954) Vergleiche zwischen dem Konstruieren und dem Kunstschaffen anstellte, galt sein Hauptinteresse der Entwicklung fester Konstruk114
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tionsregeln, Konstruktionsalgorithmen. Von der Rationalisierungsbewegung der deutschen Industrie in den 1920er Jahren beeinflusst und mit dem Ziel, der Rohstoffknappheit in Deutschland, die vor allem die Aufrstung nach 1933 behinderte, Rechnung zu tragen, sprach er sich fr ein »wirtschaftliches«, ressourcensparendes Konstruieren aus. Kesselring verglich die Arbeit des Konstrukteurs mit der eines Biologen bzw. Genetikers. Wie Biologen die Entstehung biologischer Mutationen untersuchen und nach den Bedingungen des berlebens in der Natur fragen, so sei es, Kesselring zufolge, Aufgabe des Konstrukteurs, die »technischen Mutationen« zu erforschen, die Kriterien der berlegenheit bestimmter technischer Produkte herauszuarbeiten und gezielt anzuwenden (Kesselring 1954; Hellige, 22–23). Obwohl Kesselring seine berlegungen streng rational aufbaut, ist in seiner »Technischen Kompositionslehre«, in Erinnerung an eigene Erfindungsttigkeit, durchaus von Erleuchtungen und fixen Ideen, von traumhaften berlegungen und von »Augenblicken der Inspiration« die Rede (Kesselring 1954, 212 ff.). Zwar macht er deutlich, dass seine Erfindungen auf naturwissenschaftlich-technischem Wissen basieren, doch ist ihm das Flair romantischen Knstlertums nicht fremd (Ropohl 1991, 136). Beim Konstruktionsprozess unterscheidet Kesselring zwischen Erfindung, Gestaltung und Formung. Erfinderische Ideen steigen, ihm zufolge, »ohne unser Zutun aus dem Unterbewußtsein auf und nehmen in irgendeiner Weise Gestalt an« (Kesselring 1954, 2). Gestaltung und Formung zielen auf die Konkretisierung der erfinderischen Ideen ab, die »krperliche Verwirklichung im einzelnen und die sinnvolle Verknpfung der Teile untereinander« (Kesselring 1954, 3). Dabei werden durchaus Analogien zum Komponieren deutlich, wenn er etwa die Formungslehre mit der »Lehre von den Akkorden und ihrer gegenseitigen Verbindung«, also der Harmonielehre, vergleicht (Kesselring 1954, 2–3). Allerdings sieht er gegenber der musikalischen Gestaltungs- und Formenlehre bei der Konstruktionslehre noch gravierende Defizite, zu deren Aufarbeitung er einen Beitrag leisten will. Kann man also, nach Kesselring, bei Konstruktionen und Kompositionen einige Analogien feststellen, so sind die Unterschiede zwischen beiden weit gravierender: Zwischen dem Schpfungsakt in der Kunst und in der Natur besteht ein gewaltiger Unterschied. In der Technik geschieht nichts ohne Absicht und Zweck; zudem sind Schpfungen der Technik, im Gegensatz zwischen solchen der Kunst, A
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kurzlebig. »Kein Menschenwerk (ist) so vergnglich wie die Maschine« (Kesselring 1954, 14). Nimmt Kesselring also den »klassischen«, spter auch von Luhmann zitierten Gegensatz zwischen Technik und Kunst auf, so erstaunt seine Zurckhaltung gegenber der Bedeutung technischen Schaffens. Wichtige technische Entwicklungen wie etwa der Buchdruck Gutenbergs, Watts Dampfmaschine oder Nikolaus August Ottos Verbrennungsmotor sind nmlich keineswegs so kurzlebig, wie Kesselring dies suggeriert. Die Schpfungen Leonardo da Vincis, manche sowohl der Kunst als auch der Technik zugehrig, sind auch heute noch von Bedeutung. Kommen also die Schpfungen der Technik, was ihre Dauerhaftigkeit angeht, bei Kesselring nicht gut weg, so ist dies in der Musik anders. Große Kompositionen berdauern die Jahrhunderte. Den Prozess ihres Entstehens kleidet er in diese Worte: »Und die Musik: sie ist wohl in Stunden bergroßer Freude, der Trauer oder des stillen Glcks entstanden, als Jubel, als Klage, oder auch als Lied einer jungen Mutter, als etwas, das nicht mehr zurckzuhalten war, das jedes Stillsein sprengte. Es mag zutreffen, daß letzten Endes jedes Kunstwerk sein Entstehen solcher berflle verdankt.« (Kesselring 1954, 17). Natrlich gibt es dabei auch Unterschiede zwischen dem musikalischen Genie und dem eher mittelmßig begabten Komponisten: »Was aber zu jeder Zeit den genialen Knstler von bloß Begabten unterscheidet und ihn befhigt, Unvergngliches zu schaffen, ist die Gabe der Vision, das blitzartige Erfassen und berschauen des Ganzen nebst allen Einzelheiten, das zhe Festhalten an seiner Vision trotz aller Hemmnisse der Verwirklichung, das Wegwerfen selbst herrlicher Einzelheiten und Einflle um der formalen Geschlossenheit willen.« (Kesselring 1954, 18). Hier wie auch im vorigen greift Kesselring also die Vorstellung romantischen Komponierens auf, die aber im musikalischen Diskurs seiner Zeit keineswegs unumstritten war.
Die Metapher des Magnetfeldes: Wgerbauer und Strawinsky Hatte Fritz Kesselring die Fertigkeiten des Konstrukteurs und Komponisten miteinander verglichen, so soll nun die Rede von zwei Zeitgenossen, dem Ingenieur Hugo Wgerbauer und dem Komponisten Igor Strawinsky sein, die sich beide explizit zum Konstruktions- bzw. Kompositionsprozess geußert haben. Dabei wurden ihre entspre116
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chenden Hauptwerke beide im selben Jahr, 1942, verffentlicht. Die hnlichkeiten sind nicht nur in der Wahl gemeinsamer Metaphern auffllig, wobei natrlich Strawinsky mit seiner Sicht des Kompositionsprozesses nicht unbedingt reprsentativ fr die Komponisten seiner Zeit war. Hugo Wgerbauer (1904–1976) hatte Ingenieurwissenschaften an der TH Wien studiert und arbeitete danach bei der Firma Siemens in Wien, bevor er in das zentrale Konstruktionsbro des Wernerwerkes fr Fernmeldegerte in Berlin berwechselte. Ende 1940 wurde er Professor fr Feingertebau und Betriebskonstruktion an der TH Mnchen. In seinem Hauptwerk »Die Technik des Konstruierens«, Mnchen 1942, 2. Aufl. 1943, begreift er Konstruieren als eine Geistesttigkeit eigenen Geprges, die nur nach eigenen Gesetzen gelehrt werden kann (Hellige 1991, 27–28). Konstruieren ist, ihm zufolge, ein vorstellungsmßiges Entwickeln eines neuen, bis dahin nicht vorhandenen technischen Erzeugnisses und der entsprechenden Konstruktionselemente. Im Gegensatz zum Erfinden, bei dem eine neuartige Lsung fr eine technische Aufgabe zu finden ist, befasst sich die Technik des Konstruierens ausschließlich mit der rationalen Seite des Konstruktionsvorgangs. Hierbei geht es zunchst um das Planen, das Skizzieren – freihndiges zeichnerisches Festhalten flchtiger konstruktiver Gedanken mit einfachen Mitteln – und das Entwerfen, das Entwurfszeichnen mit Angabe der maßstabgerechten Hauptabmessungen (Wgerbauer 1943, 5–13). Weitere konstruktive Schritte folgen. Nach Wgerbauer besteht die Technik des Konstruierens aus einem lernbaren Teil, den man sich durch ben und praktische Ttigkeit aneignen kann und der heute in der Wissenschaft als »tacit knowledge« bezeichnet wird (Heymann u. Wengenroth 2001), sowie aus einem nichtlernbaren Teil, der sich ausschließlich auf Begabung grndet (Wgerbauer 1943, 19). Zur Erhellung der nichtlernbaren Vorgnge bezieht er psychologische Anstze wie den Wilhelm Ostwalds in dessen »Lehre vom Erfinden« (1932) ein. Zur konstruktiven Begabung gehren nach Wgerbauer ein gut ausgeprgtes rumliches Vorstellungsvermgen, Kombinationsgabe, geistige Beweglichkeit, Ausgeglichenheit und Beharrlichkeit. Zwischen knstlerischem und konstruktivem Schaffen sieht er einen entscheidenden Unterschied: »Den Termin fr die Beendigung der Konstruktion. Den industriellen Konstruktionsingenieur treibt nicht nur der innere Dmon des Schpfers. Ihm sitzt ein ußerer Dmon im Nacken; das A
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Lebenstempo der Nation. Dieser Dmon verlangt den Ablauf schpferischer Vorgnge innerhalb vorbestimmter Zeiten. Hier gibt es kein auf »Einflle« oder auf »Inspiration« Warten, wie es dem Einzelgnger-Ingenieur und dem freischaffenden Knstler gewhrt ist.« (Wgerbauer 1943, 181). Wgerbauer vertritt also, hnlich wie Kesselring, zum Verhltnis Knstler – Konstrukteur eine Meinung, die einigermaßen problematisch ist. Auch Knstler standen und stehen nmlich bisweilen unter Zeitdruck, der ihnen ein hufiges berarbeiten oder langes Warten auf Inspiration unmglich macht. Eine stark idealisierte Vorstellung vom Kunstschaffen und Komponieren wird also einem realittsnahen Bild des Konstruierens gegenbergestellt. Was den Konstruktionsprozess angeht, so betrachtet Wgerbauer die dabei zu lsenden Teilaufgaben als Variationsproblem. Wegen der Vielfalt und Komplexitt der konstruktiven Aufgaben ist die Aufstellung von Algorithmen nicht mglich. An die Stelle der eher linearen Vorstellung des Konstruktionsprozesses bei Kesselring tritt bei ihm daher die Metapher eines Magnetfeldes: Die wichtigsten Teilaufgaben beim Konstruieren, vor allem das Finden der Wirkprinzipien, der konstruktiven Gestalt und der herstellungsgerechten Materialien und Verfahren, begreift er als Pole eines komplexen Systems von Feldlinien, deren Bahnen der Konstrukteur nacheinander abzuarbeiten hat (Hellige 1991, 32; Wgerbauer 1943, 5). Es ist, zumindest auf den ersten Blick, erstaunlich, dass sich eine hnliche Metapher auch bei Igor Strawinsky im Zusammenhang mit dem Kompositionsprozess findet. Strawinsky hatte 1942, im gleichen Jahr, in dem Wgerbauers Buch publiziert wurde, seine »Musikalische Poetik« verffentlicht. Dieses Buch basierte auf einer Vorlesungsreihe, den Charles Eliot Norton Lectures, die Strawinsky 1939/40 an der Harvard Universitt gehalten hatte. In der »Musikalischen Poetik« geht es um das musikalische Selbstverstndnis des Komponisten und um eine Selbstverstndigung ber den Kompositionsprozess. Obwohl das Buch selbst von einem »Ghostwriter« verfasst wurde, gibt es die Gedanken Strawinskys wohl doch im Wesentlichen korrekt wieder (vgl. Danuser 1993, 15–16). Die Ordnung der Tne, eines Grundelements der Musik, reduziert sich fr Strawinsky auf das Prinzip der Folge von Spannungen um gewisse Anziehungspole. Die Tonqualitt ist ein Mittel, um die Musik nach diesen Polen zu orientieren. Der tonale Pol bildet gleichsam die Hauptachse der Musik. Komponieren bedeutet fr Strawinsky, »eine gewisse Anzahl 118
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von Tnen nach gewissen Intervallbeziehungen zu ordnen« (Strawinsky 1942, 26–28; Dmling 1982, 102). Ist zwar die Wahl der gleichen Metapher fr den Kompositionsprozess und den Konstruktionsprozess frappierend, so sollte man diese Koinzidenz nicht berbewerten. Mit großer Wahrscheinlichkeit wussten beide, Wgerbauer und Strawinsky, nichts von den Schriften des anderen, doch war die Metapher der elektrischen Feldlinien im »Zeitalter der Elektrizitt« nichts Ungewhnliches. Gleichwohl wird deutlich, dass Wgerbauer und Strawinsky, der Konstruktionswissenschaftler und der Komponist, zumindest konzeptionell in hnlichen Bahnen dachten. Dieser anfngliche Eindruck wird erhrtet, wenn man sich die weiteren Ausfhrungen der beiden Autoren ansieht. Dabei ußert sich Strawinsky recht detailliert zum Prozess der Inspiration, den Wgerbauer nur pauschal anspricht. Strawinsky betrachtet Inspiration und Einfall als Reaktion auf gezieltes Suchen. Die Fhigkeit zum knstlerischen Einfall kommt nur dem mit der Gabe der Beobachtung Ausgestatteten zu. Der durch Geschmack und Kultur zielgerichtete Appetit des Komponisten stßt, nach Strawinsky, auf der Suche nach Nahrung auf Hindernisse und Widerstnde, die es zu berwinden gilt. Diese Widerstnde befruchten seine schpferische Kraft (Mauser 1985, 102–106). In bereinstimmung mit Valrys Poetik schreibt Strawinsky in seiner antiromantischen Haltung der Rolle der »inspiration« nur einen geringen Stellenwert zu; wichtiger sei die »fabrication.« Gleichwohl seien »die ersten Gedanken sehr wichtig; sie kommen von Gott. Und wenn ich nach Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit zu diesen Gedanken zurckkehre, dann weiß ich, sie sind gut«. Gleichwohl: Strawinskys Skizzen und Entwrfe zeigen berdeutlich, dass sein erster Gedanke selten der letzte war und in der Regel stndiger Vernderung unterzogen wurde. Spontane Ideen notierte er in Skizzenbchern, die er stndig mit sich fhrte. Skizzen zum »Sacre du printemps« finden sich auch auf einem Telegrammformular und einer Restaurantrechnung (Scherliess 1993, 167). Im Gegensatz zu Schnberg und Webern, die sich gern auf Goethes Idee der Urpflanze beriefen, ist nicht die Pflanze, sondern der Baukasten das Urbild Strawinskyscher Komposition; der Knstler wird als Monteur, nicht als Grtner verstanden. »Montage« ist denn auch ein wesentliches Prinzip Strawinskyschen Schaffens (Scherliess 1983, 130–142). A
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Komponieren nach System: Joseph Mossejewitsch Schillinger Bezeichnete bereits Strawinsky das Komponieren als Montieren, so soll abschließend von einem Komponisten die Rede sein, der das Komponieren weitgehend mit dem Konstruieren gleichsetzte und es sogar, ohne Zuhilfenahme eines Computers, dem Automatisierungsprozess unterwerfen wollte. Eine ußerliche Koinzidenz liegt darin, dass dieser Komponist, Joseph M. Schillinger, gemeinsam mit Wgerbauer und Strawinsky, sein Hauptwerk zum Kompositionsprozess im Jahre 1942 verffentlichte. Joseph Mossejewitsch Schillinger (1895–1943), ein russischer Komponist, der aus einer jdischen Familie hollndischer Herkunft stammte, versuchte, eine Verbindung zwischen technischem Konstruieren und musikalischem Komponieren herzustellen. Schillinger wurde in Char’kov geboren und studierte ab 1914 Komposition am St. Petersburger Konservatorium. Neben Musik beschftigte er sich intensiv mit Philosophie, stlichen Religionen, der Slavischen Mythologie und lernte zahlreiche Sprachen. Bereits 1920 wurde er in Char’kov Professor und 1921 Leiter der Kompositionsabteilung, 1920–21 leitete er das Ukrainische Symphonieorchester. Von 1922 bis 1928 war er Beauftragter fr die Kompositionsklasse am Staatlichen Institut fr Musikerziehung in Leningrad und von 1926 bis 1928 Vizeprsident der Internationalen Gesellschaft fr neue Musik (Gojowy KdG). Als Komponist war er einigermaßen erfolgreich; seine »Symphonische Rhapsodie«, die er 1927 aus Anlaß des zehnten Jahrestages der Oktoberrevolution komponierte, wurde, trotz Konkurrenz durch Werke von Schostakowitsch und Gli re, als bestes Werk, das bisher unter der Sowjetherrschaft entstanden war, ausgezeichnet. Trotz solcher Erfolge hatte Schillinger in der Sowjetunion mit verschiedenen Schwierigkeiten zu kmpfen. Eine resultierte aus seinem Versuch, den Kompositionsvorgang mglichst vollstndig zu automatisieren, ein Unterfangen, das als »klassenfeindlich« eingestuft wurde. Ein anderer Grund hatte mit Automatisierung nichts zu tun, nmlich seine aktive Untersttzung des frhen Jazz in der Sowjetunion. Auch dies wurde als klassenfeindliche Aktivitt angesehen. Schillinger verstrkte diesen Eindruck noch, als er in seinem Vortrag »Die Jazzband und die Musik der Zukunft«, den er anlsslich des von Leopold Teplitzky 1927 organisierten Jazzkonzertes in der Sowjetunion hielt, die wichtige Rolle der Improvisation als eines 120
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Schlsselelements im Jazz betonte und dem Jazz eine bedeutende Rolle bei der Neuordnung von Arbeit und Freizeit in der Sowjetunion zusprach. Sowohl von Seiten der Parteiideologen als auch von Komponisten wie Rimski-Korsakow hagelte es Kritik (Starr 1990, 70), die noch dadurch verstrkt wurde, dass er fr die sowjetischen Kunstschaffenden vllige Freiheit von staatlichen Vorgaben forderte. Dass er in diesem Zusammenhang auf nachahmenswerte Zustnde in den Vereinigten Staaten verwies, machte ihn bei Parteibrokratie und Kunstestablishment nicht beliebter, obwohl er, mit Blick auf die USA, durchaus die dortige »Allianz zwischen Herz und Dollar« kritisierte. Trotz solcher Vorbehalte gegenber den USA ergriff er bald die Gelegenheit, dorthin zu emigrieren. Als Delegierter des Staatlichen Instituts fr Kunstgeschichte nahm er 1927 an einer Reise in den Kaukasus teil, um dort Phonogrammaufnahmen georgischer Volksmusik zu machen. Hier kam er auch mit amerikanischen Teilnehmern in Kontakt, die ihn, als Vizeprsidenten der Leningrader Abteilung der IGNM, im Auftrag der Amerikanischen Gesellschaft fr kulturelle Beziehungen mit der Sowjetunion 1928 einluden, in den USA Vortrge ber zeitgenssische Musik zu halten. Von dieser Reise kehrte er nicht mehr in die Sowjetunion zurck. Whrend seiner Zeit in den Vereinigten Staaten lehrte Schillinger an der David Berend School of Music in New York, an der dortigen New School of Social Research und an der Columbia University. Vor allem aber bettigte er sich als Autor, als Mitarbeiter in Lev Termens Studio – Termen wurde vor allem durch sein elektroakustisches ›Termenvox‹, ein berhrungsfrei zu spielendes Musikinstrument, bekannt – und spter als Privatlehrer. Termens Studio und Labor bten auf Schillinger eine besondere Faszination aus. 1929 komponierte er die »First Airphonic Suite for the R.C.A. Theremin Electronic Instrument and Large Orchestra« und konstruierte mit Termen auch das »Rhythmicon«, einen Vorgnger des Drumcomputers. Daneben arbeitete er an der Entwicklung einer Komponiermaschine (Glinsky 2000, 134), die einerseits als Komponierhilfe dienen und es andererseits ermglichen sollte, anspruchsvollere »perfektere« Kompositionen zu schreiben, als dies lebende Komponisten vermochten. Dabei sollten, hnlich heutiger Computermusik, der Maschine nur einige grundlegende Daten zu Melodie, Harmonie und Rhythmus eingegeben und alles weitere von der Maschine erledigt werden. A
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Schillingers Anliegen war es, den Mythos knstlerischen Schaffens zu zerstren. Er wollte den schaffenden Knstler von geographischen und historischen Grenzen befreien und ihn in allen bekannten Stilen und Techniken unterweisen. Dabei sollte der »Mechanismus des Schpfertums«, wie er sich in der Natur und den Knsten zeigt, enthllt werden. Kunst ist, nach Schillinger, kein Ergebnis spontanen Schaffens, sondern von »Engineering«, planmßiger Konstruktion (Stuckenschmidt 1976, 158–9). Im Zeitalter der Technik wre das Kunstschaffen nach den gleichen Methoden zu betreiben wie etwa der Bau von Brcken oder Wolkenkratzern. Sein Hauptwerk zur Komposition, »The Schillinger System of Musical Composition«, stellt eine Synthese zwischen den Lehren der Musiktheorie und denen der modernen Psychologie und Mathematik dar; das musikalische Material und seine Funktion wurden dabei einer strengen mathematischen Logik unterworfen. Bei entsprechender Anstrengung und Ausdauer wrde es den Studierenden gelingen, die wesentlichen kompositionischen Prinzipien zu entdecken und zu verstehen (Cowell 1943, IX). In seinem Bemhen, den musikalischen Schaffensprozess zu demystifizieren, untersuchte Schillinger Hunderte bekannter musikalischer Werke, analysierte ihren Aufbau und versuchte deutlich zu machen, worin ihre Strken und Schwchen lgen (Glinsky 2000, 132). Ausgangspunkt war eine wissenschaftliche Sichtung der unterschiedlichen Mglichkeiten beim Komponieren, z. B. Symmetrien, Abweichungen, Reihenmethoden oder Spiegelung sowie von Verfahren wie Verdopplung oder Verdreifachung von Intervallen, die zu Stilwandlungen fhren (Stuckenschmidt 1976, 159). Dabei ging er mit manchen Komponisten hart ins Gericht: An Verdis und Bellinis Melodien kritisierte er die »geringe mechanische Effizienz« (Glinsky 2000, 132). Auch Johann Sebastian Bach blieb nicht verschont, da er sein Potential keineswegs ausgeschpft htte. Der Vorfhrung der drei Spiegelformen von Bachs F-Dur-Invention stellt er folgenden Kommentar voran: »Vergleicht man zum Beispiel die Musik von J. S. Bach mit den folgenden Illustrationen, so wird das ganze Ausmaß dessen klar, was er bei Verwendung der Methode geometrischer Inversionen htte leisten knnen« (nach Stuckenschmidt 1976, 159). Es kann nicht verwundern, dass sich an der Bewertung der Methoden Schillingers die Geister schieden. Auf der einen Seite hatte er durchaus Bewunderer, und auch ein ansonsten so kritischer Musikologe wie Nicolas Slominsky verglich ihn mit Mendeleyev: was Men122
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deleyev fr die Chemie getan hatte, habe Schillinger fr die Musik getan, nmlich eine erschpfende Klassifizierung all ihrer Elemente, die es ermglicht, solche Elemente zu entdecken, die noch unbekannt sind (Schillinger 1946, 20). Hier wird allerdings deutlich, dass ein solcher Vergleich unangebracht ist. Im Gegensatz zu der allgemeinen Akzeptanz des Mendeleyevschen Systems in der Chemie konnte sich Schillingers Gegenstck in der Kunstmusik nicht durchsetzen. Es zu beherrschen erforderte einen gewaltigen Aufwand, der sich nur in wenigen Fllen auszahlte. Zudem konnte er zwar bei der Ausarbeitung, kaum aber in der Entstehungsphase von Kompositionen Hilfe anbieten. Zeitgenssische Kollegen sparten deshalb auch nicht mit Kritik. Ein anonymer Kritiker ußerte sich 1948 so: »In all the vastness of Schillinger’s work, one cannot find a line devoted to the idea and emotional content of music, the social science role auf musical art. A perception of the music of mankind, its living response in this or that musical creation – completely disinterest Schillinger. Incidentally, how could it be otherwise, when Schillinger himself treats music as ›the stimulation of biochemical centers of the brain existing in the form of sound waves. ‹…› Attract more clients‹ – such was the secret slogan of this ›businessman of music‹, ready to trade in any produce in order to achieve attention and dollars. The existence and prosperity of the Schillinger System is ideally suited for the whole spirit of American artistic life, with the general trend of ideas of the majority of American composers.« (›Soviet Music‹ H. 2, 1948. New York Public Library, Performing Arts, Music Archives, Schillinger Box, Folder 2, 11–14.) Bei allem berechtigtem Vorbehalt ist jedoch Schillingers Bedeutung fr die Musikentwicklung nicht zu unterschtzen. Sein Rotationsverfahren, das, auf aleatorischem Wege, Melodien und musikalischen Satz produziert, ist inzwischen in Computerprogrammen fest etabliert (Gojowy KdG); Parameteranalyse und -synthese sind genauso Bestandteil serieller Komposition geworden, wie Schillingers Mikro- und Makroformen an der Strukturierung neuer Musik großen Anteil hatten. In Vorwegnahme der Notation von konkreter und elektronischer Musik notierte er Melodien, Harmonien und dynamische Angaben mit Hilfe geometrischer Figuren und Diagramme; auch verwandte er algebraische Formeln, um Akkorde und Intervalle zu bezeichnen (Slonimsky 1963, 1722). Am ertragreichsten wurde sein System allerdings bei KomA
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ponisten von Popularmusik, bei »kommerziellen Komponisten, die keine Zeit haben, auf Inspiration zu warten und es sich nicht leisten konnten, Genies zu sein« (F. Schillinger 1976, 176). Schillinger wurde fr viele Komponisten von Broadwaystcken und Hollywoodfilmmusik zu einer Art Kultfigur; die Liste seiner Schler liest sich wie ein »Who’s Who« der zeitgenssischen Bigbandszene: Tommy Dorsey und Benny Goodman gehrten ebenso zu seinen Schlern wie Glenn Miller, der die »Moonlight Serenade« als Stck fr eine Unterrichtsstunde bei Schillinger schrieb. Auch Vertreter des »Modern Jazz« wie Gerry Mulligan, Quincy Jones und John Lewis wiesen auf den Einfluss Schillingers hin (Starr 1990, 71). Doch der bekannteste Schillinger-Schler war sicherlich George Gershwin. Als letzterer mit einem Thema fr »Porgy and Bess« unzufrieden war, versuchte er es auf Anraten Schillingers mit Spiegelformen und fand in der rcklufigen Inversion (»Krebsumkehrung«) die Gestalt, die ihm vorgeschwebt hatte (Stuckenschmidt 1976, 158).
Zusammenfassung und Ausblick Es drfte deutlich geworden sein, dass die hnlichkeiten zwischen Konzeptionen des Konstruierens und des Komponierens in der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts betrchtlich waren. Dabei wurden – zunchst – konstruktivistische und futuristische Komponisten ebensowenig untersucht, wie Halb- oder Vierteltonkomponisten oder Arnold Schnberg. Hier drften die hnlichkeiten eher noch grßer gewesen sein. Doch welche Tragweite hat die Feststellung von hnlichkeiten, die sich unter anderem im Gebrauch gleicher Metaphern widerspiegeln? Hier wird zu fragen und zu untersuchen sein, in welcher Weise sich die Aussagen in »Poetiken« und Vorworten in der eigentlichen Arbeit der Komponisten bzw. Konstruktionswissenschaftler und Konstrukteure niedergeschlagen haben. Dies erfordert eine mglichst genaue Untersuchung der Kompositions- und Konstruktionsprozesse. Es wre zu fragen, wie reprsentativ die behandelten Komponisten und Konstruktionswissenschaftler (Strawinsky, Wgerbauer, Kesselring – Schillinger war sicherlich nicht sehr reprsentativ –) gewesen sind. Insofern mssten die theoretischen ußerungen und Arbeiten anderer Komponisten und Konstrukteure untersucht werden. Auch msste gefragt werden, inwieweit das Komponieren bzw. Konstruie124
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Komposition und Konstruktion
ren als lehr- und lernbar angesehen wurde. Hier wren u. a. die zeitgenssischen Kompositions- bzw. Konstruktionslehren zu untersuchen, die an den Technischen Hochschulen, Universitten und Musikhochschulen Verwendung fanden. Es wre zu fragen, welche Vernderungen sich aus welchen Grnden ergeben haben. Von besonderer Bedeutung ist dabei das »Umfeld« der Komponisten bzw. Konstrukteure. Was lsst sich zu den Erwartungen an ihre Arbeit sagen, wie groß waren die »kreativen Spielrume«? Die vorangegangenen Ausfhrungen knnen nicht mehr als einen Anstoß zur Beschftigung mit einem gewiss wichtigen Thema bieten.
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Wir werden uns nicht auf die Errterung dessen einlassen, was Heidegger fr das Entbergende an der Technik ansah, auch erspare ich mir Ausfhrungen darber, wie er das Sein selber zum »Wesen der Technik« verklrt hat, um daraus zu folgern, dass sie sich durch den Menschen nicht berwinden lasse, da der ja dann Meister des Seins wre. Gefahr drohe nicht von der Technik selber, sondern vom Gestell, in welchem sie unerklrlich gefangen sitzt wie die Fliege im Spinnennetz 1 . So hat schon mancher Philosoph die abenteuerlichsten Konstrukte ersonnen, um sich um den heißen Brei herumzureden, gewiss, wenn – wie bei Heidegger – das Denken ber Technik sich festmacht am Hammer, am Tpfer und am Silberschmied. Vom ontologischen Wesen der Technik werde ich nicht reden; der Nachweis wre jedoch zu erbringen, dass sie ganz und gar nicht »Entbergung« ist, sondern genau im Gegenteil: Verbergen. Vor dem Gegenstand scheiterte auch Heideggers Antipode Adorno, der in einem Aufsatz ber Musik und Technik 2 nicht weiter drang als bis zur Errterung von Kompositionstechniken. Dass es im 20. Jahrhundert parallel zur Wiener Schule einen breiten Strom von Komponisten gegeben hat, die sich moderner Technik explizit verschrieben haben – der Strom reicht von Var se bis zu Xenakis – ist Adorno nicht aufgefallen. Ein historisches Faktum zu verschweigen, nur weil einem die betreffende Musik nicht passt, ist auch nicht gerade der richtige Weg, sich Problemen zu widmen, denen die Musik insgesamt sich nicht mehr entziehen kann. Nach Heidegger und Adorno haben Philosophen sich am Gegenstand die Finger nicht mehr verbrannt, und wo sie es doch taten, kamen sie nicht viel weiter als bis zu jener Frage, die die Problemstellung so manchen Schulaufsatzes in den fnfziger Jahren war: »Technik, Fluch oder Segen?«, und die wir braven Pennler damals brillant lsten: Manchmal halt Fluch und manchmal Segen … 1 2
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Heidegger 1962, S. 38, passim. Adorno 1958b, S. 36 ff.
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Die Industrialisierung des Musikdenkens als sthetisches Problem
Wenn wir ber Musik und ihr Verhltnis zur Technik reden, so dnkt mir, dass wir das Problem historisch angehen mssen. Gewiss in einer Zeit, in welcher die Technik selber metaphysische Afterphilosophie zum Zwecke ihrer eigenen Vermarktung betreibt. In ihrem Bezug auf Musik trug Technik schon seit der Romantik zu einer Dichotomie bei, die musikgeschichtliche Bedeutung erlangt hat. Seit der Erfindung der Lithographie und ihrem Einsatz zum Zwecke massalen Notendrucks sowie der Erfindung mechanischer Musikautomaten zu Unterhaltungszwecken entstand jener Urtypus kommerzieller Musik, die heute den gesamten Erdball umgarnt, mit einer Profitrate von etwa 1,1 Billionen Dollar 3, von denen 80 % in den Kassen von nur fnf Mega-Konzernen landen. Der Einsatz von Technik zu Zwecken musikalischer Reproduktion bedeutete schon im 19. Jahrhundert den Eintritt der Musik in den Orbit industriellen Wirtschaftens; er bedeutete auch ganz konkret eine Entlastung vor allem stdtischer Musikkonsumenten, die sich fr musikalische Unterhaltung nicht selbst mehr qualifizieren mussten: ein Druck auf den Knopf gengte. Von dieser Perspektive her ließe sich so mancher Winkelzug der romantischen Kunstmusik besser verstehen: von der auftauchenden Nostalgie und Naturromantik etwa bei Mendelssohn bis hin zum Glauben an industriellen Fortschritt allum, wie er bei den Saint-Simonisten sich durchsetzte und von dort her auch etwa einen Berlioz affizierte. Doch mangelte es der Kunstmusik am breiten Markt der kommerziellen Musik, und vielleicht mag dies der Grund dafr gewesen sein, warum sie technische Innovationen in strkerem Maße verinnerlichte und in sthetisches Potential umsetzte. Schon im 18. Jahrhundert, zu Beginn der musikalischen »Klassik« hatte sich in der Musik eine brgerliche Wende angekndigt, die der Musiktheoretiker Peter Rummenhller kennzeichnete als eine Wende, in der »die Erscheinungsweise der Musik (Klang) Vorrang gewinnt vor ihrer Struktur, ihrem Wesen (Komposition)«, eine Epoche, in der die »›Erscheinung‹ einen neuen Vorrang vor dem ›Wesen‹, dem ›Dahinterstehenden‹ hatte: den Vorrang des Klanglichen (des Piano und Forte, des Crescendo und Diminuendo usw.) vor dem Strukturellen (dem Kompositorischen, der motivischen Verknpfung, der Durchfhrung usw.)« 4 . Die Musik kndigte damals ihre Bindung mit jeglicher Metaphysik auf, und das fhrte zu einem ra3 4
PriceWaterhouseCoopers 2002. Rummenhller 1983, S. 96. A
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dikalen paradigmatischen Umschwung. Wo vordem – vom spten Mittelalter bis zu Joh. Seb. Bach – die musikalische Struktur an das Wahrnehmungsvermgen ihrer Zuhrer appellierte, trat nun der unmittelbar sinnlich erfahrbare Klang in den Vordergrund, den man nur noch zu hren braucht. Seit Beethoven hat die Romantik den Akzent stets mehr auf dies Moment der primr-sinnlichen Erfahrung gelegt. Gewiss hat sie da – wie Schumann oder Wagner, Mahler oder Debussy – eine Menge Struktur hinein investiert: den fundamentalen Bruch zwischen der feudalen und der brgerlichen Musik hat sie allerdings nicht mehr rckgngig machen knnen. Schon die romantischen Klangtechniken erforderten eine neue Art musikalischer Technik, wie sie sich vor allem in der damals aufblhenden Instrumenten-Industrie manifestierte, die ja in dem einen 19. Jahrhundert mehr Innovationen gezeitigt hat als die gesamte Musikgeschichte vordem. Nur Komponisten – wie etwa Berlioz, Wagner oder Mahler –, die als Dirigenten unmittelbar sinnlich-technische Erfahrung aus dem Orchester schpften, waren in der Lage, diese kongenuin in ihren Partituren umzusetzen. Bruckners Instrumentation bleibt da weit hinter zurck, in den Originalentwrfen seiner Symphonien ist sie so tollpatschig, dass selbst seine eigenen Schler da korrigierend eingegriffen haben. Andere Komponisten, wie etwa Chopin oder Hugo Wolf, haben sich ans Orchester erst gar nicht richtig herangewagt. Chopins Klavierkonzerte wurden von einem Freund instrumentiert, Hugo Wolfs »Serenade« oder »Corregidor« kommen bers Instrumentationsniveau Mozarts kaum hinaus. Gegen Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts brach in das neue musikalische Paradigma ein noch neueres, allgemein gesellschaftliches, herein. Es war das der praktischen Anwendung der Elektrizitt, das sich jedem brgerlichen Haushalt in der Form der Glhlampe darstellte. Die Ahnung, dass diese neue Produktivkraft – die in der Industrie die Dampfmaschine ablste – auch der Musik neue Mglichkeiten werde erschließen knnen, wurde schon ante rem im Jahre 1853 vom Komponisten und Musiktheoretiker Richard Pohl formuliert, der in seinen »Akustischen Briefen« lapidar konstatierte: »Die Entdeckung der elektrischen Musik ist nicht mehr so neu, als die Zeitungen glauben.« 5 Am Summen der Telegraphendrhte (die Telegraphie wurde schon seit 1837 eingesetzt) ergtzte Pohl sich genau so, wie vor ihm der kauzige amerikanische Philosoph Henry Da5
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Pohl 1853, S. 112 (in: Siebenter Brief. Physikalische und chemische Musik.)
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vid Thoreau, 6 der von der »Telegrafenharfe« schwrmte. Was Pohl prognostiziert hatte, sollte 1907 von Ferruccio Busoni auf den theoretischen Nenner gebracht werden. In seinem »Entwurf einer neuen sthetik der Tonkunst« 7 beschrieb er den zunehmenden Widerspruch zwischen den (mechanischen) Musikinstrumenten mit ihren »›reinen‹ Obertonreihen« und den immer komplexer werdenden Akkorden, die die Komponisten ob ihrer klanglichen Reize entwickelten. Eine nicht mehr »tonale« Musik msse diesen Widerspruch lsen, indem sie Klnge nach eigener Einsicht aus reinen Tonschwingungen zusammenstellt. Diese reinen Schwingungen lassen sich nur auf elektrischem Wege erzeugen. Schon zu Busonis Zeiten wurden elektrische Klangerzeuger konstruiert. Sie waren im Vergleich zu unseren heutigen Mglichkeiten unbeholfen, doch war ihr Erscheinen auf der Musikbhne recht spektakulr. So etwa in den Konzerten, die Luigi Russolo, ein Marinettis Futurismus alliierter Komponist, in ganz Europa mit seinen »Intonorumori« gab, einer elektrischen Maschine, die knurrende, heulende, kreischende Gerusche hervorbringen konnte. Der Futurismus war die erste sthetische Bewegung, die eine technologische Ideologie hervorgebracht hat. Sie kulminierte in einer Glorifizierung der Maschine und letztendlich derjenigen Maschinen, deren Kraft spektakulre Effekte generierte, der modernen Kriegsmaschinen des ersten industriell gefhrten Krieges (1914–1918). Tommaso Marinettis Adoration des Krieges als des grßten Kunstwerks aller Zeiten brachte die gesamte Bewegung letztendlich in Verruf. In dieser Ideologie steckte schon etwas von jener Kraftmeierei, die sich wenig spter in Mussolinis Herrschaftssthetik manifestierte. Wo whrend der Romantik noch die hedonistische Komponente des Klanges vorherrschte, zeichnete sich schon in den ersten Dezennia des vorigen Jahrhunderts ein Umschwung dahingehend ab, dass nun das Gerusch – industrielles, soziales oder synthetisch erzeugtes – gewissermaßen Objekt des Verlangens wurde. In erster Instanz des Verlangens von Komponisten. Gewiss, der Reizwert eines – vor allem scharfen – Geruschs ist hher als der eines traditionell musikalischen Klangs. Das wussten schon manche romantische Komponisten, in deren Partituren der Geruschanteil (durch Hinzufgung von Schlagzeuginstrumenten) betrchtlich zunahm. 6 7
Thoreau 1996, S. 99, passim. Busoni o. J., S. 34 ff. A
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Mit der Entwicklung und dem Bau vielfltiger elektrischer Instrumente in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts traten nicht nur neue musikalische Reizwerte ins Spiel, sondern Schritt fr Schritt auch ein gnzlich neuer Typus Musiker. Die Techniker, die nun zu Klanginstallateuren emanzipierten, kamen aus der Industrie oder aus der Forschung. Obwohl sie sich recht schnell als Gleichberechtigte der Komponisten fhlten – immerhin besaßen sie den Schlssel zu den neuartigen Klangobjekten und den Maschinen – blieben die Bindungen zur Industrie intakt. Kein Wunder, dass da schnell neben experimentellen Klangerzeugern all jene elektrischen Instrumente wie Pilze aus dem Boden schossen, die schon in jenen Jahrzehnten den fr die damalige Film- und Unterhaltungsindustrie bentigten Klang- und Geruschkulissen Vorschub leisteten. Die Wurlitzer- und Hammond-Orgeln drften unter jenen industriellen Produkten die prominentesten sein. Mit ihren aufdringlichen Vibrati haben sie der kommerziellen Musik Jahrzehnte lang ihren Stempel aufgedrckt, die elektrische Gitarre kam seit 1940 dazu. Wo zu Beginn des vorigen Jahrhunderts Musiker noch von der Vision ganz neuer und abenteuerlicher Klnge erfllt waren, stellte sich recht schnell eine Situation ein, die der Komponist Richard Barrett eine der »industriellen Besetzung des Klanges« genannt hat. 8 Der sollten, wie wir bald sehen werden, noch ganz andere »Besetzungen« folgen. Wo die elektrischen Instrumente und Apparaturen in der Lage gewesen wren, noch die phantastischsten Klnge hervorzubringen, geschah genau das Gegenteil: unter industrieller Obhut wurden die elektrischen Klnge in einem Maße standardisiert, wie es vorher noch niemals der Fall gewesen war. Diese Entwicklung setzte sich auch nach 1945 fort, vorerst allerdings unter gnzlich anderen Vorzeichen. Whrend die Klangfabriken Hollywoods die Produktion erneut erhhten, die Produkte selber jedoch stagnierten, entstand schon in den Vereinigten Staaten Widerstand gegen den kommerzialisierten Klang. Dieser Widerstand artikulierte sich unter anderem bei John Cage, der schon frh – unter dem ideologischen Einfluss von Thoreau und spter dem ZenBuddhismus – eine wahre Ontologie des Klanges entwickelte, in welcher er jedem Klang ein eigenes Sein zuerkannte, das vor allem von Menschen unberhrt bleiben sollte. Konsequenterweise hat er seit Beginn der fnfziger Jahre seine Zufallstechniken auf diesem ideo8
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Barrett 1997.
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logischen Axiom aufgebaut. In Europa wurden in Paris und Kln die ersten experimentellen Studios gegrndet, in denen Versuche einer synthetischen Klangkomposition unternommen wurden. In Frankreich fhrte dies zur »musique concr te«, in Deutschland zur sogenannten »elektronischen Musik«. In beiden Genres entstand zum ersten Mal eine vollwertige – und brigens in sthetischer Hinsicht faszinierende – Kunstmusik, die sich ausschließlich elektrischen Produktionsmitteln und Verfahren verdankte. Nach der mittelalterlichen Vokalpolyphonie und der instrumentalen Reprsentationsmusik des brgerlichen Zeitalters schien eine dritte Epoche der europischen Kunstmusik angebrochen, die ganz auf der Elektrizitt als neuer Produktionskraft beruhte. Anfnglich wurden diese Bemhungen von einem naiven, ganz positivistischen Optimismus getragen, dessen historische Hintergrnde ich kurz erlutern mchte. Gleichzeitig mit den ersten Schritten zur »Elektrifizierung« der Musik, also zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, setzte sich der gnzliche Verfall der sogenannten »Tonalitt« durch, die seit etwa 1660 – also whrend eines Zeitraums von etwa 250 Jahren – die tragende syntaktische Struktur der barocken, klassischen und romantischen Musik war. hnlich der Sprache beruhte diese Musik auf drei Ebenen, die ein hohes Maß an Kohrenz besaßen: der Ebene der Klnge, vergleichbar mit den Phonemen, der Ebene der Tonskalen, vergleichbar der lexikalischen Ebene, sowie der Ebene der spezifischen Ausformulierungen der einzelnen Komponisten, die man – mit allen Vorbehalten – mit der semantischen Ebene vergleichen knnte. Mit dem Verfall der Tonalitt war keine vergleichbare innerlich kohrente Struktur in Sicht. Schon gar nicht da, wo auch mit neuem Klangmaterial gearbeitet wurde, dessen innerliche akustische oder psychoakustische Zusammensetzung man noch gar nicht kannte. Blicke ich zurck ins 20. Jahrhundert, so sehe ich da vor allem Myriaden von Kompositions-Systemen, die zum allergrßten Teil reine Privatsache der Komponisten geblieben sind und von denen kein einziges die syntaktische Kohrenz der Tonalitt erreicht htte. Das braucht uns nicht weiter zu beunruhigen, Musik geht ihre eigenen Wege, und sie kann einen ganz anderen Charme haben als den einer Syntax. Von all jenen neuen Kompositionssystemen hat sich einzig dasjenige Arnold Schnbergs durchgesetzt – man kennt es unter dem Namen Zwlftontechnik oder Dodekaphonie –, von dem jedoch selbst der Apologet der schnbergschen Wiener Schule, Adorno, argwhnte, dass sich in ihm Materialorganisation und Komposition voneinander getrennt A
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htten und dass obendrein die Materialorganisation zunehmend zu rein brokratischer Organisation tendiere. Adorno: Vom expressionistischen Subjekt bleibt die neusachliche Unterwrfigkeit unter die Technik. Es verleugnet die eigene Spontaneitt, indem es die rationalen Erfahrungen, die es an der Auseinandersetzung mit dem historischen Stoff machte, auf diesen projiziert. Aus den Operationen, welche die blinde Herrschaft des Stoffs der Tne brachen, wird durchs Regelsystem zweite, blinde Natur. 9
Krasser formuliert: Die Instrumente der Naturbeherrschung kehren sich gegen den Beherrscher selber. In allgemein technologischer Hinsicht geschieht hier im Ansatz genau das, was Karl Marx einst als jenen fundamentalen Wendepunkt beschrieben hat, bei welchem nicht mehr das Werkzeug Verlngerung des Arbeiters ist, sondern dieser selbst zur Verlngerung der Maschine wird. 10 Als nach 1945 eine junge Komponistengeneration antrat, deren Kontakt zur »Wiener Schule« nihil war und deren Kenntnis der schnbergschen sthetik nicht viel weiter reichte, setzte sich der Hang zu einer weiteren »Instrumentalisierung« (im Sinne Horkheimers) kompositorischer Verfahren zunehmend durch. In der sogenannten »seriellen« Musik der jungen Goeyvaerts, Boulez oder Stockhausen sollten alle Dimensionen des Einzelklangs oder der musikalischen Struktur in Reihen geordnet werden, und diese Reihen sollten, gewissermaßen wie eine Super-Matrix, das musikalisch-sthetische Endgefge determinieren, das Werk also. Auf dem Gebiet der »elektrischen« Musik, die genau zu jener selben Zeit wie ein Phnix aus Schutt und Asche sich erhob, lag es auf der Hand, auch die – anfnglich recht mhsamen – Produktionsprozesse im Studio zu automatisieren. Dieser Gedanke war eingebettet in jenen – auch heute noch herumgeisternden – Zeitgeist, der sich eine vollstndige Automatisierung aller Lebens- und Produktions-Bereiche als Erlsung vom Fluch der Arbeit herbeisehnte, ohne deren aktuelle geschichtliche Form – die kapitalistische Produktion und Reproduktion – berhaupt ins Visier zu nehmen. Dass die Maschinen, die seit den fnfziger Jahren zum Zwecke rationellerer Studio-Produktion erfunden wurden – etwa Pierre Schaeffers berhmtes »Phonog ne« –, an den intrinsischen Eigenschaften des neuen Klangmaterials vollkomAdorno 1958a, S. 68. Cf. Marx 1962, S. 674, »… wo nicht der Arbeiter die Arbeitsmittel, sondern die Arbeitsmittel den Arbeiter anwenden …«
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men vorbeischossen, ließ die Komponisten an ihrem neuen Paradigma nicht verzweifeln. Die »Synthesizer«, die seit Beginn der sechziger Jahre in die Studios eindrangen, schienen den Beweis fr die Richtigkeit der Automatisierungs-Ideologie zu liefern, und von ihnen war es nur noch ein relativ kleiner Schritt bis zur Anwendung von Computern, die in der Lage sein sollten, noch die kleinsten Atome in jedem einzelnen Klang – die »grains«, wie das auf gut Deutsch heißt – mit rasender Geschwindigkeit zu neuen, noch ungehrten Konfigurationen zu ordnen. Bis dato war Komponieren Handarbeit, hchstens kleine Manufakturproduktion gewesen. Nun tat sie den Schritt, sich auf das Niveau industrieller Produktionsformen zu erheben. Fr die avancierte »elektrische« Kunstmusik zeitigte dieser Schritt jedoch einen Widerspruch, den sie bis heute nicht hat lsen knnen und der ihr verhngnisvoll werden sollte: Die Anwendung industrieller Normen auf die Produktionsformen ist nur dann sinnvoll, wenn auch die Produkte selber, also die musikalischen Werke, sich industriellen Normen unterwerfen: in diesem Falle sind das Distributionsnormen. Das knnen sie jedoch nur, wenn ihre sthetik sich nach jenen Marktbedrfnissen ausrichtet, die von den großen Konsum-Industrien diktiert werden. Antikapitalistische Produkte nach kapitalistischen Normen zu produzieren ist unmglich. An diesem Widerspruch krankt die »elektrische« Musik noch heute, und das Allerschlimmste daran ist, dass sie sich dessen noch lngst nicht bewusst ist. Nun geschah es zu jener Zeit auch, dass gegen Ende der fnfziger Jahre der Musik ein neues Kindlein geboren werden sollte, von dem niemand ahnen konnte, dass es sich von einem »klein Zaches« zu einem Golem entwickeln wrde, der die gesamte Musikkultur von innen her aushhlen sollte. Was da mit Bill Haley und Otis Redding begann, war die letztlich weltweite Entfaltung der Rock- (spter: der Pop-)Musik, die vom ersten Augenblick an nicht nur von avanciertesten Mitteln zum Zweck ihrer industriellen Distribution Gebrauch machte, sondern die Zug um Zug avancierteste Technologien unmittelbar zu Produktionszwecken anwendete. Vom ersten Augenblick an drckte sich die – im brgerlichen Sinne – soziale und musikalische Anomie jener Musik in der hedonistischen Betonung verzerrter Gitarrenklnge oder vokaler Intonationen aus, die mit Mozart oder Tschaikowsky – und somit mit brgerlicher Musik berhaupt – ihren Spott zu treiben schienen. Hinzu kamen noch die erotischen, sexuell aufputschenden Reize der PrsenA
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tation, die ja damals ganze Sle pubertierender Kinder in Extase versetzten. Von Anbeginn an litt jedoch auch diese Musik an einer Dichotomie, die sie bis zum heutigen Tage nicht hat auflsen knnen. Dem oftmals so erfrischenden, aufreizenden Klang stand – und steht bis heute – eine musikalische Struktur gegenber, die noch primitiver ist als die des simpelsten Kchenliedchens aus der frhbrgerlichen Welt. Die Melodien sind so schablonenhaft, dass man sie in der Tat zu Tausenden auf ein Mal direkt am Computer generieren knnte (was auch geschieht), und selbst mit den drei Basis-Akkorden der tonalen Musik wissen die meisten Musiker jenes Genres kaum Rat. Oftmals geraten ihnen die primitivsten Akkordverbindungen so kmmerlich, dass man den Eindruck hat, die htten sie mit der Laubsge einander angepasst. Das Phnomen ist nicht neu. Es begegnete uns schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts, da frhbrgerliche Musik sich der Oberflche, der Erscheinungswelt des sinnlichen Klangs, zuzuwenden begann. Nur kannte jene Welt noch dramatische Dimensionen und einen historischen Optimismus, ohne den die differenzierte Musik der spteren Klassiker nicht mglich geworden wre. Es sollte nicht lange dauern, bis unser schnell ber den ganzen Erdball rockender ›klein Zaches‹ sich zum Meister der avanciertesten Technologien zur Klangerzeugung machte. Heute grndet jedes Popkonzert auf einer Technologie, die der eines modernen Flugzeugs in nichts nachsteht. Anfnglich erregte dies Erstaunen bei den Komponisten von Kunstmusik, die ihr jngstes Brderlein fr eine Musik von Proleten fr Arbeiterkinder hielten. Nichts war jedoch falscher als dies. Was in dieser Musik heranwuchs, waren die musikalischen Protagonisten eines neuen gesellschaftlichen Mittelstands, der in seiner sozialen Zusammensetzung allerdings grundverschieden von den brgerlichen Mittelschichten des 19. Jahrhunderts ist. Die gesamte Popmusik ist nichts anderes als der knstlerische Ausdruck jenes Emanzipationsprozesses, der etwa seit Ende des 19. Jahrhunderts nahezu die gesamte Arbeiteraristokratie in den Mittelstand erhoben hat. Dies erklrt auch, warum die Popmusik sich in ihrer historischen Form der Rockmusik anfnglich traditionell-brgerlichen Normen heftig widersetzte, um sie seit etwa den 70er Jahren zu internalisieren. Das Musical ist Nachfahre der Operette, und die riesigen Freiluft-Konzerte hatten ja schon Berlioz oder Johann Strauss vorgemacht. Der heutigen populren Musik stehen allerdings durch und durch kapitalisierte Verbreitungsmittel zur Verfgung, von denen etwa ein Lanner oder Strauss im 19. Jahrhundert nur htten 136
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trumen knnen. Die Zutrger dieser neuen Musik – ob sie nun die Software fr die musikalische Produktion entwickeln oder die Logistik fr die Distribution austfteln – sind durchweg junge, intelligente Akademiker, und viele Protagonisten »on stage« sind das auch: sie kommen aus Kunstakademien oder gar aus den Universitten. So ist denn den Komponisten von Kunstmusik unverstndlich, warum diese jungen Menschen sich mit einer Musik begngen, die ber eine rudimentrste lingua franca nicht hinauskommt. Nun verstehen meine Kollegen von der E-Musik eh nicht viel von der Welt, sonst htten sie schon lngst verstanden, dass in der technisch ußerst avancierten kommerziellen Musik das Prinzip der »Warensthetik« sich durchgesetzt hat, demzufolge – Wolfgang Fritz Haug hat das bndig formuliert – eine »Ersetzung von Gebrauchswertkonkurrenz durch Eindruckskonkurrenz« stattfindet und bei dem in sthetischer Hinsicht »gerade Lust, die unbefriedigbar ist, zur Unterwerfung zu fhren« scheint 11 . Wo avancierte elektrische Kunstmusik zumindest noch den Versuch unternimmt, die neuen Klnge kompositorisch miteinander zu vermitteln, setzt die elektrische kommerzielle Musik ausschließlich auf deren hedonistische Qualitten, die unmittelbar wirken und keiner besonderen sthetischen Vermittlung bedrfen, weil sie ja in musikalischen Mini-Formen gefangen gehalten werden. Dies hatte allerdings Konsequenzen fr die Klangwelt dieser Musik, die auf einer Technologie beruhte, die zur Unterwerfung des Klanges unter Verwertungsinteressen ausgerichtet wurde. Die ursprnglichen Synthesizer erhielten eine Klavier-Tastatur, die wie ein Klanggefngnis funktionierte. Denn in zunehmendem Maße wurden in diese hybriden Maschinen-Instrumente industriell vorgefertigte Klnge implementiert, die industrielle Standards direkt in die Musik einschleusten. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die sterilen Streicher- oder Blserklnge aus der »Synthesizermusik« der 70er und 80er Jahre, die jeglicher akustischer Empfindlichkeit Hohn lachten. Nachdem die Computertechnologie soweit entwickelt war, dass diese Maschinen massenweise zum Hausgebrauch produziert werden konnten, zeichnete sich ein zweiter qualitativer Schritt zur Industrialisierung der kommerziellen Musik ab. Sobald diese Maschinen, im Rotwelsch der Feudalherren des digitalen Zeitalters »PC« genannt, stark genug waren, um auch akustische Signale schnell verarbeiten zu knnen, wurden sogenannte »sequencer«-Programme auf den 11
Haug 1971, S. 41 u. 113. A
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Markt geschleudert, von denen Cubase wohl das bekannteste ist. Diese Programme funktionieren grosso modo wie jene Bilderbchlein, in die Kinder ihre Buntstifte hineinstochern drfen: Die Konturen, das Bild, sind vorgegeben. Gleichzeitig mit dem Auftauchen solcher Programme fand in der Tanzmusik eine Wende statt, die die neue Technologie im Vorab schon internalisierte. Die erste Tanzmode, in der sich das abzeichnete hieß »mecano« und ließ die Jugendlichen eckige, abrupte Bewegungen vollfhren, als trumten sie davon, ein Roboter zu sein. Der Rhythmus war damals schon so vollkommen repetitiv-mechanisch, wie er es in der elektrischen Tanzmusik bis heute geblieben ist. Im Augenblick, da dieser mechanisch hmmernde Rhythmus sich von sequencer-Programmen generieren ließ, fand die »zweite industrielle Besetzung« (Barrett) der Musik statt. Es war dies die Besetzung der musikalischen Struktur. Um lange technologische Ausfhrungen zu ersparen, will ich unverzglich vom dritten Schritt sprechen. Es ist der der industriellen Besetzung der Komposition selber. Diese Besetzung konnte mit rein musikalischer Technologie nicht vollzogen werden, sie bedurfte eines viel breiteren technologischen Umfeldes. Ich meine das Umfeld, welches heute nicht nur die gesamte Kultur-Industrie umspannt, sondern die Ideologie der »new economy« berhaupt. Die Tatsache, dass die Leute heute an der medialen »Information« hngen wie Intensive-care-Patienten am Tropf und dass selbst Kleinkinder kaum noch wegzuschlagen sind von Computer und Monitor, hat nichts mit der magischen (Anziehungs-)Kraft jener neuen Medien zu tun, sondern mit dem Ausschluss der Menschen aus dem, was diese Medien oder Technologien gerade verhllen. Bis auf ihr Endprodukt – den Klang, das Bild – verhllen sie nahezu alles. Als kleiner Junge sah ich einmal, wie sowjetische Besatzungssoldaten einen Radioapparat, aus dem irgend etwas ihnen nicht Genehmes klang, mit den Fusten zertrmmerten, um den kleinen, unsichtbaren Mann in der Dose zum Schweigen zu bringen. Das ist Animismus, hat aber etwas erfrischend Realistisches, denn mit dem kleinen Mann war auch das ganze Geheimnis kaputt. Was der Laie an seinem Computer produziert, ist nur ein lcherliches Abfallprodukt dessen, was Computer – in der Industrie oder in den militrischen Zentren – leisten knnen. Und in jeder Minute, in welcher unsere Kleinen am Computer hngen und im Internet herumsurfen, leisten sie eigentlich Kinderarbeit, deren Mehrwert den Konten von Bill Gates, AOL Warner oder dem jeweiligen Kabel138
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exploitanten gutgeschrieben wird. Es geht hier um Produkte, deren Tauschwert alles, deren Gebrauchswert nichts darstellt. Wo immer Kinder, Jugendliche am Computer ihre »sound«-Programme bedienen, kommt nicht dabei heraus, was entwickelte Programme zu leisten imstande wren, sondern nur das, was in jenen musikalischen Konsumentenprogrammen schon vordiktiert ist. Erfolg kann dies nur im Sinne jenes schon erwhnten Diktums der Warensthetik haben, die »unbefriedigte Lust« zum Instrument – scheinbar – freiwilliger Unterwerfung macht. Das mit der Lust ist einfach zu erklren. Wer mchte nicht die erotische Ausstrahlung, den Ruhm und das Geld eines Eminem besitzen? Kinder sehen nur das Positive, und merken nicht, wie kaputt solche Typen sind. Mit den Klngen selber verhlt es sich nicht anders: auch sie sind rein industrielle Produkte, fr MTV sind sie jedoch so modisch-perfekt am Computer arrangiert, dass ihre hedonistische Anziehungskraft dem Videoclip erst seinen rechten Glamour verleiht. Die Lust, diese ewig unbefriedigte, hat ihre eigene Kulturgeschichte, die zum industriellen Zeitalter gehrt wie der Dotter zum Ei. Gnter Anders hat ihren Ursprung bezeichnet: »Das Erlebnis und seine Rolle ist ein skularisierter Rest des Christentums: es ist Gnade ohne Gott … Die gesamte skularisierte Welt gab als ›Besonders‹ nicht mehr eine Transzendenz, sondern etwa (so in der Musik) Erhebungen des Lebens aus seinem Alltagsniveau« 12 an. Als E. T. A. Hoffmann in Bezug auf Beethovens Fnfte Symphonie noch von »unendlichem Verlangen« sprach, war der Abstand zwischen Kunstproduzent und -konsument noch groß. Die Unterhaltungstechnologie hat ihn scheinhaft bis auf ein Minimum verringert: zumindest bildet sich nun jeder Piepmatz ein, er sei Bach, Gershwin und Andrew Lloyd-Webber in einer Person. Samples im Internet gibt’s ja genug, Genie ist also gratis. Diese Form von Produktion ist ohne Gebrauchswert und ohne Arbeit, so trumte sich schon zu lang vergangenen Zeiten die kleine Nherin ins chambre spare des Grafen. Der neue Kulturkonsument trumt sich – technologisch vermittelt – ins Elysium. Die avancierte Unterhaltungstechnologie hat dieses Elysium jedoch schon bis in den letzten Winkel besetzt: Auch die Traumbilder hat es produziert: das ist das Wesen der »virtual reality«. Und die vollstndige sthetische Nivellierung, die die Folge jenes »Erlebt, Erlebt! Es ist doch nichts mehr erkennbar« (G. Anders) ist, 12
Anders 2001, S. 23 u. 24. A
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ist gewissermaßen das Siegel der Postmoderne. Der werden wir gleich wiederbegegnen. Ihrer Unverbindlichkeit entspricht die Arbeitsteiligkeit kommerzieller Kunst- und Musikproduktion, die heute von Stben der Industriezentren selber hervorgebracht wird. Was die »Stars« da singen, ist zumeist Broarbeit. In der avancierten elektrischen Kunstmusik hat die Musiktechnologie Resultate gezeitigt, die mit denen der musikalischen Unterhaltungsindustrie auf erschreckende Weise konvergieren. Nachdem diese Musik sich ursprnglich als legitime Fortsetzung der Konzertmusik des brgerlichen Zeitalters betrachtet hatte und auch einige Werke mit hohem Reprsentationsniveau hervorgebracht hatte, wurde auch sie vom Technologierausch ergriffen. Der historisch misslungene Versuch, sich in ein brgerliches Musikleben zu integrieren, das selber schon deutliche Zerfallserscheinungen zeigte, hat eine Rckzugsbewegung zur Folge gehabt, die historisch insofern verstndlich ist, da kein anderes soziales Feld sich schon etabliert hatte, in welchem diese Musik eine Bleibe htte finden knnen. Da sie sich die Komposition des Klanges selber – also der bislang kleinsten musikalischen Einheit – vorgenommen hatte, lag es vor der Hand, die physischen Eigenschaften dieses konkretesten aller musikalischen Phnomene mit den modernsten wissenschaftlichen Techniken zu erforschen, um in der Folge mit den selben Techniken neue Klnge zu generieren. Da Komponisten keine Akustiker, Ingenieure oder gar Psychoakustiker sind, suchten sie krampfhaft Halt am Rande eines Feldes, das ihnen geschmeichelt Zuflucht bot: dem der Naturwissenschaften. Und die schlugen krftig zu. Den Widerhall kann man in Komponisten-Schriften seit den fnfziger Jahren lesen, die sich mit mathematischer Gruppentheorie, Informationstheorie, Genetik, Probabilistik, Fraktal-, Chaostheorie und manch anderen Dingen beschftigen, von denen Komponisten nicht viel verstehen, an die sie sich nun jedoch wie an den rettenden Strohhalm klammerten, um ahnungslos in falschen Analogien zu denken. Und da Naturwissenschaftler keine Ahnung von Musik haben, standen sie den Komponisten mit Rat und Tat zur Seite. Ihr Stein der Weisen war noch immer die Suche nach dem kontrollierbaren Atom des Klanges. Ab den siebziger Jahren schaltet sich auch hier der Computer ein, und schnell entwickelte sich auch innerhalb der Komponisten-Gilde das, was Jedediah Purdy den »Stamm der Digerati« genannt hat 13 , also 13
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Purdy 2002, S. 46 ff.
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jener Menschentypus, der vom Computer nicht mehr wegzuprgeln ist. Sobald die musikalischen Digerati sich innerhalb ihres kleinen Feldes konsolidiert und sich den fr ihre Arbeit bentigten technologischen Unterbau verschafft hatten, begannen sie recht schnell, einem positivistischen Machbarkeitsglauben zu verfallen, der seinen Ausdruck im Versprechen totaler Determinierbarkeit der musikalischen Komposition, des Werkes fand. Da steckte ein Quntchen jener Determinismus-Trume drin, die vor 50 Jahren schon an der Wiege der seriellen Musik gesuselt hatten. Nun jedoch versprachen immer krftigere Computerprogramme, den alten Traum bis ins kleinste Klangatom hinein zu tragen. Nun ist ein jedes Computerprogramm, wie geschickt es auch Simulationen vortuscht, eine Formalisierung und somit eine Reduktion von Wirklichkeit. So ist ein Computerprogramm ganz sicher in der Lage, Klnge innerhalb eines – vielleicht sogar recht vertrackten – Formplans zu disponieren. Es ist jedoch nicht in der Lage, die sthetischen Implikationen einer musikalischen Form zu beurteilen, denn solch eine Form ist anderes und mehr als die Summe oder die Distribution ihrer Teile. Whrend die Einsicht in diesen Sachverhalt auch bis in den Stamm der Digerati durchdrang – nichts ist ja der und langweiliger als »Computermusik« – wurden musikalische Hard- und Software zu außergewhnlicher Leistungsfhigkeit entwickelt. Obwohl die differenziertesten Programme keine Industrieprodukte waren, hatten sie, was in der Art der Sache selber begrndet ist, letztendlich dasselbe Manko wie ihre industriellen Geschwister: Sie drcken dem Klang ihren eigenen Stempel auf, und zwar oftmals so sehr, dass man beim Anhren einer elektrischen Komposition recht schnell erraten kann, mit welchem Programm oder Programmtypus deren Klnge produziert wurden. Wo die Leistungsfhigkeit der Programme nicht in Zweifel zu ziehen ist, ist deren Verhltnis zum kompositorisch-sthetischen Bewusstsein in zunehmendem Maße brchig. Wo mangels formaler Perspektiven Komponisten sich auf die Klangproduktion am Computer zurckzogen, stellte sich ein Phnomen ein, das dem schon beschriebenen in der kommerziell-digitalen Musik verblffend hnlich ist: Die Sucht nach noch eleganteren, noch spektakulreren Klngen ließ die Perspektive ihrer formalen Vermittlung zunehmend in den Hintergrund treten. So entstand denn letztendlich auch eine regelrechte »avantgardistische« Sucht nach dem Klang als Erlebnismoment an sich. Wer einen der »Lord-of-the-Rings«-Filme gesehen hat, wird gemerkt haben, dass es hier die Industrie ist, die sich schnell A
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auf das strzte, was sie selber nicht hat erfinden knnen, nmlich auf den nervenaufreibenden, scharfen Klang, wie er gestern noch ausschließliches Privileg der Avantgarde war. Wie heftig oder gruselig er auch immer sein mag, man gewhnt sich schnell an den Klang; das haben die Schauderklnge romantischer Gruselopern hinreichend bewiesen. Sie klingen nur noch putzig. Das erklrt auch die rasendschnelle Mutation des »Avantgarde«-Klangs zum Kino- oder Rap-Effekt. Wo jedoch die elektrische Kunstmusik sich auf den Klang als solchen strzte, ohne dessen kompositorische Vermittlung ins Visier zu nehmen, wurde sie Kinomusik ohne Kino. Da legte denn der eine seine Klnge so lange unters digitale Bgeleisen, bis sie zu den ellenlangen Klangwrmern der »ambient music« wurden; in Kanada wurden die »electro-clips« erfunden, die sich in ihrer Krze den Normen der kommerziellen Video-clips anpassten, und wem die Welt ganz besonders am Herzen lag, der propfte auf seine Klangsppchen einige Samples mit »realistischen« oder erkennbaren Klngen aus schon etablierter Musik. Nachdem all diese Fluchtbewegungen vor kompositorischen Entscheidungen ihre sthetischen Ziele verfehlt hatten und alles beim »Was« hngen blieb ohne jemals ans »Wie« auch nur zu tippen, setzte vor etwa 20 Jahren eine zweite Phase der Verinnerlichung von Technologie ein. Sie manifestierte sich in deren Verußerlichung. Was als Konzert – nmlich der Prsentation ausformulierter musikalischer Zusammenhnge – nicht mehr funktionierte, wurde flugs in »performance« umgetauft, die gewissermaßen die Auffhrung an und fr sich ist, Virtuosenkunst ohne Werk. Die Computer, Sensoren oder selbstgebauten Klanggeneratoren wurden als »Instrumente« missverstanden, und das Konzertpodium sah aus wie ein Bro oder eine Reparaturwerkstatt. Das alles sah anfnglich so geheimnisvoll aus wie ein Operationssaal oder eine Pilotenkabine, doch verflog auch der Charme solcher Zirkusattraktionen recht schnell. Denn die in »live performances« aneinandergelteten Klnge haben sich in den letzten Dezennia keinen Deut weiter entwickelt. Im Gegenteil: Was da unter Zeitdruck und in »real time« generiert wird, ist durchweg grobschlchtiger als sorgfltig im Studio geplante Klnge. Nachdem sich hier kompositorisches Versagen in sein trotziges Gegenteil verkehrt hatte (wir wollen ja gar nicht komponieren, wir wollen nur akustische Schaufensterdekoration betreiben …), wurde die konstruktive Energie vollends in die neuen Pseudo-Instrumente umgeleitet, bis denn in den gegenwrtig so modischen »Klangkunst«-Manifestationen die »Installationen« als solche Hauptziel 142
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der sthetischen Aufmerksamkeit wurden. Die Installationen erhalten nun ihre eigene Verpackung – auch in den Nachwehen der Kunstmusik schlgt die Warensthetik zu – und diese ist gemnzt auf jenes kleine Segment des Publikums, das Hollywood abhold ist, aber vom Erlebnis nicht so ganz lassen mchte. Der Infantilismus der Erlebniswelten der Kulturindustrie wird nun – intellektuell verbrmt – in eine Art musikalisches Kinderzimmer projiziert. Das Kantische »Begehrungsvermgen« wird befriedigt, indem das Publikum irgend einen Knopf drcken oder entlang einem Sensor laufen darf, und dann piepst oder knackt es ein bissel. Was Erik Satie vor ca. 80 Jahren – in einem seiner schwachsinnigsten Texte – »musique d’ameublement« (Mblierungsmusik) genannt hat 14 , heißt heute »Installation« und mutet an, als ob Monet oder Kandinsky ihre Pinsel statt ihrer Werke ausgestellt htten, weil die Pinsel doch auch so schn bunt sind. Statt des Kunstwerks selber werden die Maschinen, die seiner Hervorbringung dienen, Gegenstand des Reprsentationsaktes. Krzlich in London entdeckte ich im Aufzug des »Queen Elisabeth II Conference Center« pilzartige Knpfe. Wenn sie berhrt wurden, was in engen Aufzgen nur zu leicht geschieht, dann piepste, knurrte und rasselte es. Das war das Werk einiger englischer Avantgardisten der elektrischen Muse, die uns ein ganz neues »elevator feeling« verschaffen wollten. Folgt man Jacques Attalis Analyse, so findet in solchen Kinderzimmer-Erlebnissen ein »Schauspiel von Technikern fr Technokraten« statt 15 , was allerdings die Antwort auf die Frage offen lsst, warum die neue Schicht der Technokraten in ihrer Freizeit musikalische Befriedigung eher bei Phil Glass, Arvo Prt oder, noch schlimmer, bei Michel Jarre oder gar Andr Rieu sucht, und nicht in der unmittelbaren Reproduktion der Konfigurationen ihrer eigenen Arbeitswelt. Es mag dies alles »Geist der Postmoderne« heißen, jene uns von einigen franzsischen Modephilosophen aufgedrungene Ideologie, derzufolge es nur noch permanent mutierende Strukturen im Ungewissen gibt, Lyotards Reduzierung von Wirklichkeit auf bloße Sprachspiele. 16 Alex Callinicos hat diese Reduzierung auf die Unverbindlichkeit einer berquellenden Warenwelt nicht zu Unrecht mit dem Eklektizismus der Wende vom 19. aufs 20. Jahrhundert vergli14 15 16
Satie 1991, passim. Attali 1977, S. 238. Lyotard 1979, passim. A
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chen. 17 Bei solcherlei aufs »frbeln« und auf »Warenfetischismus« gleichzeitig grndender technologischer Musik bleibt allerdings die Frage unvermindert aktuell, inwieweit welche sthetik auch immer sich dem Zeitgeist zu beugen habe. Mir scheint der Kern aller modernen sthetik seit Novalis oder Schelling, dass sie sich ihm widersetzen muss, will sie nicht ihren eigenen Anspruch ber Bord werfen. Ich deutete eine geheime Konvergenz von kommerzieller und sogenannt »avantgardistischer« Musik schon an. Hanns Eisler fiel schon 1958 die Verquickung von avancierter Technologie und Hollywood-Kitsch auf, als er zu Stockhausens »Gesang der Jnglinge« bemerkte: Es ist, als ob die Musikriege des Vereins ›Knigin Luise‹ mit Raketenflugzeugen in die nchste Dorfkirche gebracht wrde. Die Dummheit dieser Komposition – auch der Schwulst der Charaktere, gewisse ›unheimliche Wirkungen‹, die durch Hollywood-B-Pictures kaum bertroffen werden knnten – ist erstaunlich, sie enthlt ein zurckgebliebenes gesellschaftliches Bewußtsein. 18
Wie unterschiedlich Kunst- und kommerzielle Musik auch ihrer Herkunft und ihren Prtentionen nach sein mgen, so konvergieren sie doch in Klangverdinglichung, Erlebniswahn und letztlich im Warenfetischismus. Der letztere scheint sich auf beiden Seiten schon zum Substitut aller sthetischen Entscheidungsfreiheit gemausert zu haben: Kein »sound designer« (denn auf diese Namensbezeichnung ist heruntergekommen, was sich einstmals »Komponist« nannte), der nicht stndig in Warenkatalogen oder im Internet herumsucht, ob es nicht noch einen besseren »update«, bessere Hard- oder Software gbe, mittels derer endlich seine Klangschte zum Orgasmus gebracht werden knnten. Die christliche Erlsungstheorie, die ja noch transzendent war, ist vollends in Konsumeifer eingegangen. Ihr industrielles Pendant ist jene bekannte Strategie der (Musik-)Technologie, bei der die Software nicht mehr in die neue Hardware passt und die Kette unablssiger Einkufe so gradlinig ist wie der Weg zur Hlle. Es ist durchaus mglich, dass in jener Sptphase des Industriekapitalismus, die uns ohnehin nur noch Dienstleistungsfiktionen oder Erlebnisse an Stelle der berbordenden Warenwelt anzuschmieren versucht, und somit reine Tauschwerte an Stelle von Gebrauchs17 18
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Callinicos 1994, S. 15, passim. Eisler 1973, S. 276.
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werten, Konsum als unmittelbare Vernichtung des Konsumierten, der Begriff einer sinnstiftenden Kunstmusik nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Zumindest sieht es gegenwrtig so aus, als ob alle musikalische sthetik sich unters Joch ihrer totalen Verdinglichung und Instrumentalisierung gebeugt habe. Wenn dies das Ende der Geschichte wre, dann wre freilich auch ich am Ende meines Lateins. Nur glimmt da tief in mir immer noch ein Fnkchen jenes »Prinzip Hoffnung«, das da eindringlich flstert: »Der Mensch [kann] nicht nur begehren, sondern wnschen. Letzteres ist weiter, setzt mehr Farbe an als das Begehren […]. Indem das Begehren zum Wnschen bergeht, legt es sich die mehr oder minder bestimmte Vorstellung seines Etwas zu, und zwar als eines besseren Etwas« (Bloch). 19 Dieses Wnschen ist transzendent wie die sthetik selber, es ist deren Kern. Wehe einer Gesellschaft, einer Kultur, die dieses Wnschen in reinem Begehren ersaufen lsst, die nur noch in Technologie zu denken in der Lage ist und nicht mehr ber sie. Dann htte technologische Ideologie gnzlich ber die Kunst gesiegt, – der Abgrund der Barbarei stnde vor Augen.
Literatur Adorno, Theodor W. (1958a): Philosophie der neuen Musik, Frankfurt/M. – (1958b): Zum Verhltnis von Musik und Technik heute, in: Gravesaner Bltter, Nr. XI/XII, IV. Jahrgang. Anders, Gnter (2001): ber Heidegger, Mnchen. Attali, Jacques (1977): Bruits – essai sur l’conomie politique de la musique, Paris. Barrett, Richard (1997): New technology, composer and composition, Vortrag vor der Versammlung des « Conseil International des Auteurs de Musique », Lissabon, 17. 10. 1997 (Manuskript). Bloch, Ernst (1953): Das Prinzip Hoffnung Band I, Berlin (DDR). Busoni, Ferruccio (o. J.): Entwurf einer neuen sthetik der Tonkunst, zweite erweiterte Ausgabe, Leipzig. Callinicos, Alex (1994): Against Postmodernism, London 4 1994. Eisler, Hanns (1973): ber die Dummheit in der Musik, in: H. E. Materialien zu einer Dialektik der Musik, Leipzig. Haug, Wolfgang Fritz (1971): Kritik der Warensthetik, Frankfurt/M. Heidegger, Martin (1962): Die Technik und die Kehre, Stuttgart. Lyotard, Jean-Franois (1979): La condition postmoderne – rapport sur le savoir, Paris. 19
Bloch 1953, S. 58. A
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Konrad Boehmer Marx, Karl (1962): Das Kapital I, MEW Band 25, Berlin (DDR). Pohl, Richard (1853): Akustische Briefe, Leipzig. PriceWaterhouseCoopers (2002): Global Entertainment and Media Outlook 2002– 2006, Executive Summary, Mai 2002. Purdy, Jedediah (2002): Das Elend der Ironie, Hamburg. Rummenhller, Peter (1983): Die musikalische Vorklassik, Mnchen. Satie, Erik (1991): Schriften Band I, Hofheim. Thoreau, David Henry (1996): Aus den Tagebchern 1837–1861, Oelde.
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Technik und moderne Musik Claus-Steffen Mahnkopf
Fr Joachim Haas
»Wertneutralitt« von Technik Technik ist der Inbegriff des Vermgens der Verwirklichung praktischer Zwecke. Wann immer wir etwas tun oder erreichen wollen, nehmen wir Technik in Anspruch. Wir sprechen von Kulturtechniken, wenn es sich um das Zubinden von Schuhen handelt, vom Lesen und Schreiben, von der Krperpflege und Empfngnisverhtung, aber auch Elementareres wie die Art und Weise zu sprechen oder die Krpersprache kann als Technik betrachtet werden. In einem engeren Sinne ist Technik mit der Poiesis verknpft, mit der Herstellung von Materiellem, von Gegenstnden, nicht nur von Zustnden oder Wirkungen. Das Kind, das eine Sandburg baut oder ein Rinnsal staut, wendet Techniken an, um etwas herzustellen, was vorher nicht war; Handwerksberufe, so Wagner und Krschner, sind davon professionelle Varianten. Die Poiesis – seit es Menschen mit Werkzeugen gibt – wird in der Neuzeit mechanisiert, zuletzt elektrifiziert. Was heute in der unreflektierten Umgangsprache Technik genannt wird, ist die Welt der Apparate und Maschinen, und letztere immer mehr vermittelt durch Vorgnge der elektronischen Datenverarbeitung, der hchsten Stufe der Technifizierung unserer Welt, die, so scheint es, nicht nur Materielles, sondern auch Geistiges, nmlich in Form von Informationen, herzustellen in der Lage ist. Die Maschinen und Apparate – das gilt fr immer mehr Menschen auf dem sich materiell globalisierenden Planeten – sind alltglich, nicht nur allgegenwrtig, weil es fast nichts mehr gibt, was nicht wenigstens einmal durch Apparate und Maschinen hindurchgegangen ist, wie etwa frisch gepflckte Blumen oder Frchte. Alltglich sind das Telephon, die Transportmittel, der Khlschrank und nicht zuletzt die Unterhaltungsmedien, die sich akustisch – von Musik ist meist schwer zu sprechen – allerorten bemerkbar machen. A
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Technik als universale Instanz des Lebens ist wertneutral – das ist der Grund fr ein Unbehagen an ihr. Sie kann Leben retten, heilen und Gebrechen mildern, sie kann aber auch tten und ins Verderben fhren. Technik ist ein Moment in der Zweck-Mittel-Relation. Effizienz ist nicht-moralisch. Die Einfhrung von Gas in Auschwitz war gewiss effizient und technisch geschickt. Das spricht nicht gegen Technik per se, wohl aber gegen die Verdinglichung jener Relation. Technik ist immer zu befragen nach ihrem Worumwillen. Die technische Potenz der US-Streitkrfte in Kuwait und dann im Irak ist politisch zu bewerten, nicht ingenieurwissenschaftlich. Knstlerische Technik hinwiederum reicht nicht hin, um Werke mittleren und oberen Rangs auch nur beschreiben zu knnen, deren mimetischer Anteil mit dem kompositionstechnischen Niveau steigt. Musikalisches Metier Das musikalische Metier ist immer mehr als die techn, als Handwerkskunst verstanden, die, nach antiker Vorstellung, das Schne mit dem Vollkommenen identifiziert. Eine vollkommene Geige ist nicht nur eine wohlgeformte, makellose und mit individueller Holzmaserung, sondern vor allem eine, welche, wie man so sagt, klingt. Die barocken Meistergeigen, die heute Spitzenpreise erzielen, sind gewiss technisch gesehen von wahren Virtuosen ihrer Handwerkskunst gemacht, aber das Wissen, das zu ihrem Klang beitrgt, ist mehr als bloßes Herstellungswissen. Es tritt etwas hinzu, was offenbar nur wenigen und wenigen Schulen vergnnt war, ein privilegierter Zugang zum Gouˆt sozusagen. Dieses musikalisch-knstlerische Surplus ist es, das stets in Fragen der Technik mitgedacht werden muss. Wer Musiker werden will, und nicht professioneller allein, muss sich einem langen und harten ben berlassen knnen. Vergleichbar nur noch mit dem Tanz, verlangt die Beherrschung eines Instruments eine außergewhnliche muskulre Kontrolle und dies auf einem extrem virtuosen Niveau. All das, was der Klavierschler lernt, von den Tonleitern und Dreiklngen bis zu Terzentrillern und Oktavglissandi, ist Technik, der Erwerb eines allgemeinen Standards, aber nicht nur. Denn die Gleichmßigkeit der Impulsfolge bei einer Tonleiter oder die Ebenmßigkeit ihrer Dynamik ist nur durch ein aktives Ohr zu erreichen, weswegen auch gesagt wird, man be nicht 148
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Technik und moderne Musik
mit den Fingern, sondern mit dem Ohr. Nicht nur das muskulre Gedchtnis macht also das musikalische Metier aus, sondern auch ein gutes Gehr, rhythmische Sicherheit, Tempogefhl, Sinn fr Klangfarben, fr die Klangbalance der Gesamtwirkung. Das musikalische Metier umfasst des weiteren auch die hermeneutische Dimension insgesamt, die Fhigkeit, Musik – in ihrer zwar technisch terminologischen, aber semantisch unbegrifflichen Eigenlogik – zu verstehen. Obwohl kein Musiker dies zugbe oder von sich sagen hren wollte, verhlt sich eine Vielzahl doch dezidiert antiintellektualistisch und reflexionsfeindlich. Gerechtfertigt wird dies, neben blankem Narzissmus, mit den angeblichen Vorzgen emotionaler oder intuitiver Unmittelbarkeit, die das Wesen der Musik ausmache. Diese irrationalistische Sicht der Dinge scheint unausrottbar und entwirft einen Musiker, der ber den guten oder schlechten Geschmack eben jener Unmittelbarkeit nicht nachzudenken habe. Freilich, das trefflichste Gegenbeispiel ist Glenn Gould, bei dem Ekstase, die hchste Form musikalischer Unmittelbarkeit, und Intellektualitt sich ergnzen. Der Widerpart zur Technisierung und Verwissenschaftlichung des eigenen Komponierens – so bei den Unterschiedlichen Xenakis, Stockhausen und Ligeti – ist die Technikfeindlichkeit, hufig gepaart mit Genialismus, der dafr herhalten muss, zu erklren, was nicht erklrt wird: die Logizitt der eigenen Arbeit. Solche Flucht vor der Technik ist meist nicht mehr als eine Ausflucht vor der Reflexion auf das eigene Tun und einer Reflexion, die wirklich in die Tiefe fhrt und sich nicht bei dem aufhlt, was als Minimalkonsens unter den Kollegen ohnehin luft. Erwidert wird nicht selten, dass Gemtsmenschen auch ihr Recht htten. Wer wollte das abstreiten – allein, Schumann, Mahler, Berg und Nono waren alles andere als khl-distanzierte Intellektuelle und doch nicht nur auf avanciertestem technologischem Stand, sondern streckenweise dessen Pioniere. Daraus sind die Konsequenzen zu ziehen. Nicht nur ist Technik nicht dem abtrglich, was in unterschiedlichen Jargons Bauch, Herz oder Gefhl genannt wird, sondern umgekehrt wre darber nachzudenken, ob nicht die Konfrontation mit den Ermglichungsbedingungen subjektiver Intentionen – das ist Technik zu einem großen Teil – exakt den dialektischen Widerpart, die Intuition, strke. Der moderne Komponist kann nur der technisch aufgeklrte sein.
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Kompositorisches Handwerk Kompositionstechnik ist der Inbegriff der Verfgung ber diejenigen Mittel, welche die Konstitution musikalischen Sinns gewhrleisten. Kompositionstechnik war in der vor-posttraditionellen Situation, sagen wir bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, von einigen Außenseitern wie Ives oder Querdenkern wie Var se abgesehen, selbstverstndlich, verfgter Sinnhorizont, oder anders formuliert: Ein Unverfgen war praktisch unverfgbar; das Wissen existierte im kollektiven Gedchtnis der Komponisten und konnte nur von dort aus absentiert werden, sofern das gewollt war. Heute ist es gerade umgekehrt: die fortschreitende Posttraditionalisierung zerstrte schneller jenes Hintergrundwissen, als dass sie neues Wissen ausreichend sedimentieren konnte. Die berwiegende Mehrzahl der heutigen Komponisten sind, gemessen an historischen Standards, technische Dilettanten, die von der Hand in den Mund leben und, freilich trgerisch, darauf hoffen, dass dies niemand bemerkt. Fast knnte man sagen, dass die Hhe des Komponierens von der Hhe der Technik abhngt. Josquin, Bach, Beethoven und Berg sind Beispiele dafr, dass musikalischer Rang unmittelbar mit dem technischen Vermgen korreliert. Freilich gibt es Ausnahmen; die prominenteste in der Nachkriegsmusik drfte Nono sein, der kompositorische Technik, an deren Systematisierung vllig desinteressiert, nur soweit anstrengte, wie es absolut notwendig war, und nicht selten noch nicht einmal das. Er war kein Brahms, der unzhlige Varianten durchspielte und nur deren beste der Nachwelt berlieferte. Er war so sehr mit den knstlerisch-weltanschaulichen Aspekten seiner Arbeit beschftigt, dass er die musikalische Technik gleichsam als notwendiges bel ansehen musste. Dieses Nonoische ist typisch fr unsere Zeit: Zu den interessantesten Komponisten zhlen solche, die technisch gerade nicht perfekt oder virtuos sind – Scelsi wre ein weiteres Beispiel –, whrend Naturbegabungen, schnell lernenden Allesknnern meist der Mut zum Betreten von Neuland fehlt und sie deswegen langweilig oder konventionell sind. Freilich ist Technik nicht die einzige Instanz, die den Komponisten macht, so wie der zwar technisch brillante, aber gefhllose und geistig bornierte Pianist niemals das Zeug zum großen hat. Wir kennen von der Filmindustrie technisch grandiose Produktionen, die trotzdem ihre Existenz nicht zu rechtfertigen vermgen. Zum Technischen in der Musik muss ein Surplus hinzutreten, das Geistige, die 150
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sthetische Konzeption, der Ausdruck, die Narration, das Bekenntnis, die Haltung, wie immer man den Gehalt der Musik fassen mchte. Bleibt dies außen vor, so bleibt nur die Technizitt des Verfahrens, die nur ertrglich ist, wenn sie als solche Programm wird. Wird sie aber zum Alibi fr solche, die wiederum keinen Standpunkt beziehen, weil ihnen das inopportun erscheint, dann wird Musik zu Design, zum Schein im schlechten Sinne. Kompositorische Technik ist somit eine – allerdings hchst wichtige – Voraussetzung (eine, die selten wirklich gegeben ist), keineswegs die hinlngliche Bedingung. Deswegen ist das Kompositionsstudium auch ein knstlerisches; rein handwerklich betrachtet, fhrte es zur Gebrauchsmusik, der Wiederholung bekannter Muster. Reflexivwerden von Technik in der Moderne Reflexiv wird Technik in der neuen Musik schlicht durch den Wegfall der Allgemeinheit der grammatischen Grundlagen, sprich der Tonalitt als eines Gesamtsystems. Mit der Aufgabe der formbildenden Krfte der Harmonik und spter all dessen, was traditionell dnkte – eine Entwicklung, die bis zum absoluten Nichts bei Cage fhrte –, bricht auch die Kompositionstechnik weg, die, als zu rettende, natrlich durch kompensatorische Maßnahmen restituiert werden muss. Das, nichts anderes, zwingt zur Reflexion, einem objektiven Vorgang, ob es den Komponisten passt oder nicht. Neue Musik, in ihren verschiedenen historischen Ausprgungen und ihren verschiedenen Neuheitsgraden, kann geradezu durch die Bewusstheit der technisch in Anspruch genommenen Mittel definiert werden. Allein, nicht jeder will diese Bewusstheit auch in Erscheinung treten lassen. Nicht jeder Komponist hat diesbezglich das gleiche Naturell. So seien ganz unterschiedliche Tendenzen zur Verschleierung der technischen Dimension in der kompositorischen Arbeit angefhrt. Wagner – ganz anders als Beethoven, dessen Musik man den Arbeitscharakter unzweifelhaft anhrt, und ganz anders als Lachenmann, dessen Musik den Prozess der Erzeugung des Klangs selber zum Klang erhebt – zielt darauf ab, die Produktion im Produzierten verschwinden zu lassen, sei es durch amalgamierende Orchestration, sei es durch die Illusion eines omniprsenten Leitmotiv- und damit Sinnsystems, sei es durch die Unmittelbarkeit harmonischer Phnomene. Brahms hinterließ keine Skizzen, weil er sie vernichtete. Fr A
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die Nachwelt, und wohl auch fr ihn, sollte nur das fertige, sozusagen perfektionierte Produkt berleben, als ob es keine Genese kennte. Rihm hinwiederum wird auch keine Skizzen hinterlassen, weil er keine anfertigt. Was er schreibt, sind Manifestationen einer unmittelbaren Erschaffung – natrlich mit dem Schein, dass dies berhaupt mglich sei. Freilich, die Erneuerung, die Verjngung der neuen Musik – und da blieb ein Nono bis zum Tode jung – steht und fllt mit der Arbeit an der kompositorischen Technik und nicht nur an den Werken selber. So lsst sich beispielsweise an den Skizzen, die die Paul Sacher Stiftung versammelt, beobachten, dass Henze bis in die 1960er Jahre fleißig skizzierte, sich also whrend des Komponierens seiner Technik versicherte, indem er sie reflexiv machte. Spter, als er darauf verzichten zu knnen glaubte, weil er jenen Reflexionsprozess verinnerlichte, schrieb er – wie nach ihm Rihm von Anfang an – frei, direkt, ohne Selbstbeobachtung. Das bedeutet aber, dass der einmal erreichte technische Stand nicht nur nicht erweitert und aktualisiert wird, sondern sogar Gefahr luft, unbeobachtet zu regredieren. Man wird zum Reprodukteur seiner selbst, hnlich wie der spte Richard Strauss, dessen Oboenkonzert ein halbes Jahrhundert zu spt kam. Auch wenn jedem Pionier der modernen Technik eine gewisse Gelassenheit in spteren Jahren nicht verwehrt werden kann – ich denke hierbei an Brian Ferneyhough –, so bleibt davon das systematische Argument unberhrt, dass der Modernisierungsprozess, bereits kraft der schieren gesellschaftlichen Dynamik, das musikalische Material und die musikalischen Techniken nicht nur affiziert, sondern sie evolutionsartig vorantreibt. Klaus Huber etwa hat dies bis heute, bis zum 80. Jahr, beherzigt und im Lebensabend eine neue harmonische Sprache entwickelt – offenbar als dringende Notwendigkeit angesichts der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung seit den 1980er Jahren. Wir wissen nicht, wie lange noch und wie weit dieser moderne Reflexionsprozess durchgehalten werden kann. Doch einen Grund, ihn zu sistieren, kann ich nicht erkennen; und alle Versuche, sich aus seiner Dynamik zu stehlen, sind stets im Kitsch oder im Manierismus, mithin nicht eben authentischen Ausdrucksformen, geendet. Das Reflexivwerden von Technik bedeutet auch, dass heutzutage in einem gewissen Sinne alle Komponisten technikbewusst sind; Tumbe sind sehr selten anzutreffen. Informiertheit gehrt zum guten Ton, zumindest unter den mnnlichen Vertretern der Zunft. 152
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Wenn mithin heute Komponisten ber Technik sprechen, so sagt das noch nichts ber ihren tatschlichen Reflexionsgrad. Das Gesagte kann auch das Selbstverstndliche sein, das gleichwohl das Publikum blendet. Hufig ist es kaum mehr als Design, Pseudorationalitt, vermischt mit sthetik-Geschwtz. Bei Stockhausen dient die technische Erklrung der Einschchterung und will das ›industrielle‹ Gtesiegel beweisen. Allein, dass Technik reflexiv werde, besagt, dass sie problematisch ist. Somit wre die eigene Verwendung von Technik als problematische darzustellen. Das aber widersprche Stockhausens Selbstaffirmation ebenso, wie es die Naiven berforderte. Und doch fhrt kein Weg daran vorbei. Weder gibt es die allgemein gltigen und allgemein wirksamen Techniken, noch sind diejenigen, die existieren, ohne Fehl und Tadel. Es wre also adquater, wenn der Komponist seinen Arbeitsvorgang als Suche nach Lsungen fr gegebene Problemstellungen rekonstruierte und, gemß den gemachten Erfahrungen, ber Vorzge und Nachteile seiner Methoden sprche. Fr eine Demokratizitt der Mediengesellschaft Dass Technik das Signum der Neuzeit ist, war Heidegger nicht nur ein Befund, es war ihm ein Dorn im Auge. Er sah das Sein durch sie, hnlich wie durch die abendlndische Metaphysik, deren Spitze sie ist, ver-stellt. Die berechnende Herrschaft des Menschen ber das, was ihm nicht verfgbar ist – oder ihr Versuch –, verberge das Sein, mache es vergessen, in dessen Horizont das Dasein immer schon verortet ist und ber das es sich nun erhebt. Technik ist somit nicht einfach Poiesis, sondern ein Seinsgeschick, oder besser: ein Seins-Unglck. Was Heidegger aber nicht erkannte und nicht erkennen wollte, ist die demokratische Dimension von Technik, dass nmlich erst sie, wird sie wohl verstanden, Freiheit, Wohlergehen und Sicherheit auch jenen Massen gewhrt, denen sich eine angemaßte Geistesaristokratie berlegen dnkt, der Praxis weniger zhlt als die Methexis an ewigen Wahrheiten und die es sich leisten kann, andere fr sich arbeiten zu lassen. Allein, Technik, demokratisch verstanden, ist nicht nur der Inbegriff der Entlastung von krperlich mhevoller Arbeit, sondern auch der Garant von Freizgigkeit, Gesundheit und Partizipation am Weltwissen. Sofern Staat und Gesellschaft entsprechend struktuA
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riert sind, wenn das Gesundheitssystem, nicht wie in Großbritannien, universal ist, wenn ffentlich zugngliche Verkehrsmittel zu fairen Preisen angeboten werden, wenn die Massenmedien permissiv und die Archive – Bibliotheken, Museen, das Internet – frei sind. Das Fehlen oder mangelnde Grade solcher Demokratizitt bilden auch die Kriterien zur Beurteilung des Sinns technischer Mittel. hnlich der Wertneutralitt von Waffen, die bald der Verteidigung, bald dem Angriff dienen, sind auch die technischen Errungenschaften zunchst wertneutral und bedrfen einer Verortung in Bezug auf gesellschaftliche Ntzlichkeit. Dann aber wird der Unterschied zwischen einem ARTE-Fernsehkanal, der frei distribuiert, was sonst nur Kulturmetropolen vergnnt ist, und einem Berlusconi-Kanal deutlich, der schne Italienerinnen prsentiert, damit man vergisst, dass es Metropolen gibt. Solche Unterschiede zu benennen, ist heute wichtiger als der antimoderne Affekt gegen die Technifizierung der Lebenswelt. Technologie und Kommerzialisierung Technologie ist aber nicht nur ein Segen. Von dem unsglichen Destruktionspotential abgesehen – man kann zum Mars fliegen, aber auch den Planeten mit einem atomaren Fallout abtten –, sehe ich vor allem zwei Gefahren. Die erste ist die totale Kommerzialisierung der Kultur, die ohne technischen Fortschritt nicht mglich wre. Seit einiger Zeit und bis heute ungebremst wirkt die Monetarisierung von Unterhaltung, Bildung, ja auch von schierer Information – und das macht selbst vor den sogenannten freien Knsten nicht halt – wie eine zweite Natur – Schicksal. Ob die Technifizierung an sich zur Kommerzialisierung fhre, ist eine strittige These, die ich an dieser Stelle nicht klren kann. Ich tendiere aber dazu, dass die technischen Mittel – eben in ihrer Wertneutralitt – nicht automatisch zu einer Art Auto-Prsenz-Spirale drngen, sondern dass es die konomischen Mechanismen eines global entfesselten und deregulierten Kapitalismus sind, die die Kultur, den Inbegriff des Nicht-Kommerzes, zur Ware machen. Sollte sich die Menschheit, nach mhevollen Reifungsprozessen, des Kapitalismus entledigt haben, drften auch die verstellenden und manipulativen Effekte der Technik, wie wir sie heute kennen, verschwinden. Die Mnche im Katharinenkloster auf dem Sinai sind, nicht nur um der Konservierung der alten Bcher willen, alles andere 154
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als technologische Wste, ohne dass ihr geistorientierter Lebensstil darunter litte. Mit dieser Sicht der Dinge verbinde ich die Hoffnung, dass eines Tages der akustische Mll, der den gesamten Planeten berzieht, sich verflchtigte. Es ist peinlich genug, dass Intelligenzen im Weltraum, sollten sie unsere Radioprogramme eines Tages empfangen, einen schiefen Eindruck vom menschlichen Musikgeschmack erhalten mssen. Die zweite Gefahr ist schwieriger einzuschtzen: das Heraufkommen knstlicher Intelligenz, sofern sie intelligent ist. Dass nicht mehr gesichert ist, dass Menschen gegen Schachcomputer gewinnen, zeigt den Horizont dieser Frage an (und ist meinem Komponistenfreund Mark Andr ein ganzes Musiktheater wert). Auch wenn erst am Ende des 21. Jahrhunderts, gottlob nach meinem Tode, die Frage nach der Berechtigung von kindlichen Wunschphantasien wie der von Ray Kurzweil 1 ernsthaft zu stellen sein wird, wonach die knstliche Intelligenz eine nchst hhere Emergenzstufe der kosmologischen Evolution darstellen werde – verwandt mit den sptpubertren Rachephantasien von Leuten wie Michel Houellebecq, der in seinem Roman Elementarteilchen 2 auf eine asexuelle Menschheit hofft, die ihre Fortpflanzung der Genetik berlassen wird –, so produziert jetzt schon die elektronische Informationsverarbeitung eine Steigerung der Gesellschaftskomplexitt, die negative Effekte – fraktale Wirkungen, stochastische Anomalien, chaotische Einbrche – strker vermehren als den prognostizierten Nutzen. Auf eben diese Komplexittssteigerung – in den Parametern Masse, Diversitt und Geschwindigkeit – hat sich das Komponieren, und das heißt: technisch, einzustellen, nicht diese zu fliehen. Live-Elektronik – fr eine in-humane sthetik Nachdem das Unmenschliche eine der Grunderfahrungen des 20. Jahrhunderts wurde – nmlich, dass das Bse in der Gestalt einer technisch perfektionierten Maschinerie auftritt –, stellt sich die Frage, wie es musikalisch ausgedrckt werden knne. Die beiden primren Klangkrper der Musik – Gesang, die menschliche Stimme, und die Instrumente – sind jedoch per se ›humanistisch‹, auch wo sie sich 1 2
Kurzweil 1999. Houellebecq 1999. A
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um die Darstellung des dem Menschen Feindlichen bemhen. Das Unmenschliche, das In-Humane, bedarf freilich eines anderen Klangmaterials, eines, das die Fremdheit, die von außen kommende Feindseligkeit, die Bedrohlichkeit seitens einer unbekannten Macht, auszudrcken vermchte. Eine Mglichkeit sehe ich in Geruschen, und zwar in harten und schmerzhaften, und darin, sie mit den Mitteln der fortgeschrittenen Musikelektronik zu entstellen. Ich bin mir bewusst, dass ich damit gegen Nono, meinen wahlverwandten Kollegen, stehe. Nono, einer der Pioniere der Live-Elektronik, war an der technischen Dimension der Technik nicht interessiert, sondern an ihrem Potential zur Erweiterung der poetischen Mglichkeiten einer Ausdruckssprache, die das Hren der Menschen – in all ihren mglichen und utopisch-unmglichen Dimensionen – erweitern: ffnen und bereichern mge. Auch wenn er selbstbewusst und gegen Technikfetischisten wie Stockhausen gerichtet davon sprach, dass er sich der modernsten Mittel bediene – freilich in kritischer Absicht, gegen deren System gerichtet –, so war ihm an einer Auseinandersetzung mit Technik selber nicht gelegen. Darin bleibt er ein Romantiker. Die Live-Elektronik im Sptwerk wirkt, tritt aber selber nicht in Erscheinung. Vielleicht befrchtete er eine Nhe zu jenem amerikanischen High-Tech, welchen er, wie sein Landsmann Pasolini, zutiefst verachtete. Freilich, ich gehre einer Generation an, die nicht nur mit den großartigen Leistungen der Technik groß wurde – die Mondlandung war eines meiner nachhaltigen Kindheitserlebnisse –, sondern ebenso von ihrem Teuflischen geprgt wurde – ich denke an die nukleare Schaukelbewegung zwischen den Supermchten, die in der Diskussion um den Nato-Doppelbeschluss Anfang der 1980er Jahre ihren ffentlichen Ausdruck fand. Sptestens mit der totalitren Herrschaft einer Medien-›Kultur‹, die anspruchsvolle Musik und intelligente Schriftstellerei zum Subventionsfall verdammt, sofern sie nicht Events sind (was aber fast einer contradictio in adjecto gleichkommt), kann der wachsame Knstler nicht umhin, Technik als Technik zu thematisieren. Das Projekt lautet also: mit der Gesamtheit der modernsten technischen Mittel, der computeruntersttzten und musikelektronischen, eben diesen Apparat zu enttarnen und ihn seines unmenschlichen Potentials zu berfhren, indem dieses knstlerisch dargestellt wird. Genau das ist der Gegenstand meines PynchonZyklus. 156
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Erfahrungen mit dem Experimentalstudio Obwohl ich einer ausgesprochen technikfreundlichen, ja kompositionstechnisch der Avantgarde zuzurechnenden Schule entstamme, habe ich mich der elektronischen Musik lange verweigert. Aus zwei Grnden. Zum einen ahnte ich, dass es viel, sehr viel, vielleicht zuviel zu lernen gbe, zum anderen war ich von den allermeisten Ergebnissen musikalisch nicht berzeugt. Dies meine ich nicht in dem Sinne, dass ich mich, mangels eines eigenen persnlichen Zugangs, mit ihnen nicht identifizieren konnte, sondern vor allem in dem, dass sie klanglich klischeehaft, plakativ, pseudokommerziell und billig effekthascherisch waren. Die Nhe zu Pop und Sound im schlechten Sinne war zu groß. Es bedurfte eines besonderen Projekts – des Zyklus zu dem amerikanischen Schriftsteller Thomas Pynchon, zu dem ich mich whrend meines Romaufenthalts 1998 entschloss –, um einen Einstieg zu finden. Dieser Zyklus, den ich spter beschreiben werde, muss als geradezu grßenwahnsinnig betrachtet werden, bedenkt man, dass ich bis dato auf diesem Gebiet nicht gearbeitet hatte. Aber eben deswegen nahm ich mir Jahre fr seine Verwirklichung vor und wollte mit bungen beginnen. Ich habe das Glck, in einer Stadt, ja in einer Straße zu wohnen, in der sich nicht nur eines der weltweit besten elektronischen Studios befindet – das Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWR, das neben dem IRCAM prominenteste und effektivste in Europa –, sondern es ist eines, das auch durch und durch knstlerisch und eben nicht technologisch ausgerichtet, eben deswegen aber technisch avanciert und, hinsichtlich der LiveElektronik, fhrend ist. Der jetzige Leiter, dem diese Arbeitsatmosphre zu verdanken ist, Andr Richard, war einer der vertrautesten Mitarbeiter Nonos, der eben in diesem Studio sein Sptwerk realisierte, das bis heute dort nicht nur die Plakatierung der Wnde bestimmt. Man gewhrte mir dort Studiozeit ohne jeden konkreten Auftrag. So konnte ich – in einem ursprnglichen Lernen – die verschiedenen Gerte und ihre klanglichen Optionen erkunden, freilich ohne Assistenten, so dass ich gezwungen war, mir die Techniken – und das geht bis in die Computerprogrammierung hinein – selber beizubringen. Dies ist nur mglich, wenn man starke knstlerische Absichten und einen gefestigten eigenen Stil besitzt; andernfalls verlre man sich in der Unendlichkeit der Mglichkeiten. So erA
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wuchs, gleichsam in einer Koevolution, ein Stck – W.A.S.T.E. –, das Live-Elektronik mit der Prproduktion eines Zuspielbands verbinden sollte. Die vielleicht berraschendste, ja verblffendste Erfahrung war die, dass bei der Arbeit das Ohr, d. h. die absolut subjektive Kontrolle durch mich persnlich am Mischpult, viel unmittelbarer vonnten und beteiligt war als beim abstrakten Vorgang des Notenschreibens. Hier herrscht offenbar eine Dialektik. Gerade weil, zumindest theoretisch, die Gerte machen, was man ihnen befiehlt, ist es das Ohr und nur das Ohr, das genaue Hinhren und das persnliche Entscheiden, was die Feinjustierungen der Parameter – etwa die Grße des Hallraums in Abhngigkeit von der Nachklangzeit – bestimmt. Paradoxerweise fhlte ich mich im Studio bei der experimentierend erlernenden und erprobenden Arbeit an einem neuen Stck viel strker als ausbender Musiker, ja geradezu als Interpret, denn bei der Komposition am Schreibtisch, die dann an Interpreten delegiert werden wird. Auch wenn sich, gerade mit der Routine und der vom Ehrgeiz angestachelten Erfahrung, gewisse technische Prozesse automatisieren und systematisieren lassen, ist es immer das Ohr – und das heißt nicht zuletzt der eigene Geschmack (als guter Geschmack) –, das ber die Ergebnisse entscheidet. D.E.A.T.H. – Beschreibung des Kompositionsprozesses W.A.S.T.E. ist ein Stck fr Oboe und Live-Elektronik, das ich komponierte (bzw. technisch einrichtete), um einen ersten Zugang zur Arbeit in einem elektronischen Studio und zur Einbeziehung der Live-Elektronik zu finden, also der Echtzeit-Klangbearbeitungen whrend der Auffhrung (was ja qualitativ etwas ganz anderes ist als Tonbandkompositionen, die, einmal fertiggestellt, unvernderbar sind). W.A.S.T.E. – das in zwei Fassungen vorliegt – wird innerhalb meiner Hommage Thomas Pynchon, die die verschiedenen Werke des Pynchon-Zyklus verbindet, gerade nicht aufgefhrt. Ich bedurfte daher eines Extrakts, den ich aus W.A.S.T.E. ziehe und innerhalb der Hommage dann verwenden werde, so dass W.A.S.T.E. immerhin indirekt anwesend sein wrde. Das sollte das Bandstck D.E.A.T.H. sein. Gemß den generellen Charakteristika des Pynchon-Zyklus – Hsslichkeit, das Un-Menschliche, Paranoia, die Apokalyptik von 158
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Megametropolen – entschied ich mich fr die ausschließliche Verwendung von Oboen-Mehrklngen (das hatte auch pragmatische Grnde, die ich nicht nher ausfhren mchte). Diese Mehrklnge haben den Vorzug, dass sie, zumal wenn die Attacke (die fr die Erkennung eines Instrumentalklangs von großer Wichtigkeit ist) abgeschnitten ist, sehr hnlich wie elektronisch erzeugte Klnge klingen, aber doch einen Rest von instrumentalem Ursprung briglassen, so dass der Hrer mit einer Knstlichkeit, sagen wir Elektronizitt, konfrontiert ist, die aber auf wunderbare Weise so berzeugend klingt wie real, also musizierenderweise erzeugte Klnge. Ich entschied mich fr eine große Palette von mglichst harten, dissonant hsslichen, eklig klingenden Mehrklngen, ber die ich mittels Samples verfgte, um sie mit einem computergesttzten Schneideprogramm – »ProTools« – zusammenzusetzen, zu komponieren, und dabei alle Klangverarbeitungsmglichkeiten des Experimentalstudios zu nutzen, vor allem Hall, Filterung, Spatialisation und die diversen Optionen von MAX-MSP. Auch der Oboenpart von W.A.S.T.E. besteht seinerseits – sieht man von einem Formabschnitt ab, der eine Ausnahme bildet (in meiner Musik gibt es in der Regel immer mindestens an einer Stelle eine Ausnahme) – nur aus Mehrklngen, nach bestimmten Klassen gegliedert, so ›normale‹, Doppelflageolette, Rolltne und die – besonders widerlichen – Zahn-Mehrklnge. All das haben Peter Veale, fr den das Werk geschrieben wurde, und ich grundlegend erforscht und 1994 ein Buch darber verffentlicht. 3 W.A.S.T.E. besteht aus drei Schichten: a) dem Part der Oboe, geschrieben als normale Partitur; b) den realzeitlichen live-elektronischen Effekten, die rhythmisch mit diesem Part verbunden sind, also von Oboe Gespieltes aufgreifen, weiterverarbeiten und rumlich auf die 9 Lautsprecher verteilen (zu diesen zahlreichen, durchkomponierten Effekten werde ich mich an dieser Stelle nicht ußern); c) einem Zuspielband fr die Lautsprecher, einer Klangschicht, die permanent anwesend und dynamisch auf einem mittleren Niveau angesiedelt ist. Auf dieses Band sei nher eingegangen. Komponiert habe ich eine Art von Mehrklang-Symphonie, die aus folgenden Abschnitten besteht. 3
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Abschnitt 0: unvollstndige Vorwegnahme von Abschnitt 4; Abschnitt 1: scharfe Mehrklnge, stets deren drei einander berlappend, dabei manuell balanciert und durch drei verschiedene MSP-Programme (comb-Filter, Harmonizer und Ringmodulation) bearbeitet; – Abschnitt 2: ebenfalls scharfe Mehrklnge, analog zu Abschnitt 1, aber mit zwei unterschiedlichen Granulationen bereichert; – Abschnitt 3: mittels des comb-Filters ›verschmierte‹ Rolltne, die langgezogen abwrts glissandiert werden (von 2 Oktaven hher zu 6 Oktaven tiefer); – Abschnitt 4: tiefes Rumpeln, erzeugt durch das gleiche Rolltonmaterial von Abschnitt 3, das aber in ein siebenstimmiges Gebilde transponiert, dann um 6 Oktaven nach unten transponiert und dort von Frequenzmodulation und comb-Filter gefestigt wird, bevor es in einem weiteren Schritt mit seiner um 100 Cent nach oben transponierten und durch comb-Filter nochmals gefestigten Fassung verdoppelt wird. Integriert – im Sinne von hinzugemischt – werden zwei Schichten: a) in den Abschnitten 1–3 16 grßer (und am Ende mehrstimmig) werdende Glissandi, die, hinzugemischt, ausgeblendet werden; b) in den Abschnitten 1 und 2 Aufnahmen von sehr weichen Schlgen auf ein Tam-Tam (großer Schwammschlgel) bzw. mit einem Triangelstab, der nach der Attacke an die vibrierende Oberflche des Tam-Tam gehalten wird, so dass ein klirrendes Suseln entsteht; da diese Effekte decrescendieren, wurden sie invertiert, also rckwrts laufen gelassen, so dass ein unregelmßiges Crescendo entsteht, das in der ursprnglichen Attacke endet und dort abrupt abbricht; diese Klangverlufe, geschickt ab- und untergemischt, erzeugen also eine gewisse unerklrbare Unruhe, im ersten Abschnitt als ein Gesamtcrescendo, im zweiten als ein Glissando um einen Tritonus nach oben gestaltet. Dieses Zuspielband ist auf dem Computer gespeichert und wird whrend der Auffhrung von W.A.S.T.E. eingespielt, und zwar mittels eines zweifachen Spatialisationsprogramms, das es auf die neun Lautsprecher verteilt. Das geschieht auf eine Art und Weise, so dass Klangfetzen entstehen, die zu laut sind, als dass man sie berhren knnte, und aber doch zu leise, als dass die musikalische Aufmerksamkeit auf sie gelenkt wrde. Sie sind zu einem sekundren Material verdammt, zu einem strenden. Es ist wie bei der Kuh auf der Wiese im Sommer, die nicht weiß, wie sie sich der zahlreichen und 160
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von allen Seiten immer wieder anstrmenden Mcken und Fliegen erwehren soll. Genauso wird auch das Ohr permanent auf einem Schwellenwert genervt (und das zustzlich zu der brigens alles andere als ruhigen Musik). Das Band hlt sich also in einer Balance aus An- und Abwesenheit. Und zwar doppelt. Die Spatialisationsprogramme erzeugen eine statistische Streuung, die zuweilen fr kurze Augenblicke die Einblendung vllig sistiert oder aber umgekehrt auf vollen Pegel bringt; zum anderen ist die Verteilung im Raum, also die Vorne-hinten- und die Rechts-links-Dimension, letztlich chaotisch. Die Klnge kommen und gehen von allen Seiten und mit unregelmßigen Rhythmen und Amplituden (deswegen sind auch zwei sich berlagernde, nicht-kongruente Spatialisationsprogramme vonnten). Um dieses ›Nerven‹ zu intensivieren, werden 24 sogenannte Einzelmehrklang-Effekte in voller Lautstrke und auf alle Lautsprecher gleichmßig verteilt, gleichsam solistisch, eingespielt. Ausgangspunkt ist der zentrale Mehrklang des Stcks, Nr. 94 in der Zhlung des Buchs von Veale und mir, der peu peu durch Transpositionen dreistimmig gemacht wird; die oberste Stimme wchst in schwachen Wellen um fast 2 Oktaven in die Hhe, die mittlere bewegt sich in sehr kleinen Schritten nach oben, whrend die unterste in einer grßeren Welle gut eine Oktave nach unten absinkt. Beim letzten, dem 24. Auftreten bricht alles zusammen, und die drei Stimmen, heftig granuliert, strzen in die Tiefe von 2 Oktaven unter dem Ausgangspunkt. (Bei solchen Computer-Transpositionen ist immer zu bercksichtigen, dass sich die klangliche Identitt eines Mehrklangs um so strker verndert, je weiter er transponiert wird; es handelt sich also keineswegs um die Verschiebung von Identitten wie bei in anderen Tonarten begleiteten Klavierliedern.) Es gibt noch eine letzte Schicht, die sich auf die Ausnahme bezieht, von der bereits die Rede war. Eine 2 -mintige Nicht-Mehrklangs-Passage, eine melodische, muss natrlich im Kontext einer solchen horrible-multiphonics-Musik nicht nur als Kadenz analog zum Solokonzert, sondern vor allem als nostalgisch-›romantische‹ Reminiszenz an die Fhigkeit des Subjekts zu singen wirken. Um diese Allusion zu untersttzen (und die Abwesenheit von Mehrklngen in der Oboe auszugleichen), wird zustzlich der sogenannte Tereza-Abschnitt eingespielt, der die technische Verfgung ber das Material zur Spitze und damit zur Absurditt treibt. Die Abschnitte 1 bis 4 werden auf die Dauer dieses Abschnitts (2,725 Minuten) geA
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staucht; jeder Abschnitt wird mit einer Stauchung der jeweils anderen Abschnitte auf 15 Sekunden einer Konvolution unterzogen, so dass pro Abschnitt drei Konvolutionen entstehen, die additiv nach Gehr abgemischt werden; diese vier Abmischungen werden dann ebenfalls additiv abgemischt. Der Tereza-Abschnitt stellt somit so etwas wie eine hybride, ußerst differenzeinebnende Summe des gesamten Zuspielbands dar. Alle seine Informationen sind zugleich vorhanden und doch unkenntlich gemacht, vergleichbar der Produktion von Wurst mit edlen und sehr unterschiedlichen Fleischsorten. Diese Tereza-Schicht wird schließlich mit dem Computerprogramm »tereza« spatialisiert. Das Zuspielband von W.A.S.T.E. erscheint also weder komplett noch als eigenstndige Entitt. Daher entschloss ich mich, aus dieser Not eine Tugend zu machen. Ich ging an ein eigenstndiges, achtspuriges Tonbandstck – mit dem wie bei W.A.S.T.E. verheißungsvollen Titel D.E.A.T.H. –, in dem ich das nicht-spatialisierte Zuspielband, verkrzt um Abschnitt 0 und einem großen Teil von Abschnitt 4, sowie die Einzelmehrklnge (aber ohne den Tereza-Abschnitt) weiterverarbeitete. Die vier verbliebenen Abschnitte wurden mit jenem obigen Tereza-Abschnitt – geschrumpft auf 15 Sekunden – einer Konvolution unterzogen. Diese Konvolutionen wurden dann mit dem Original vermischt, um dessen Spezifizitten wieder in den Vordergrund zu rcken. Dies ergibt ein Band, das dann mit seiner eignen Inversion kombiniert wird. Dem Stck wird also seine rckwrtslaufende Fassung unterlegt, die zuweilen eingeblendet wird, so dass zu Beginn des Stckes dessen Ende antizipiert und am Ende an den Anfang erinnert wird (eine relativ einfache Methode der formalen Verklammerung). Da die Spatialisationseffekte wie bei W.A.S.T.E. entfallen, mithin ein kohrentes, eher rundes Stck entstehen soll, bedurfte es fr die Verrumlichung eines besonderen Tricks. Die Frage ist, wie man eine Spur verrumlichen kann, ohne dass Bewegungen entstehen. Strengen Sinnes ist eine Raumstatik nicht mglich. Allein, zum Glck gibt es auf dem Gebiet der Computermusik findige und kreative Kpfe, die im Zuge der Ausweitung der Rechnerleistungen neuartige Programme entwickeln, so Kent Clelland mit dem Programm »tereza« in den spten 1990er Jahren. Das Verfahren, eine stochastisch operierende Spektralanalyse mit nachgeschalteter Redisponierung, ist aufwendig. Die Musik wird in engen zeitlichen Fenstern auf ber 500 Frequenzbnder aufgeteilt, die dann, nach einem bestimm162
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ten Algorithmus, auf die entsprechende Anzahl von Spuren, also Lautsprechern, chaotisch redisponiert werden. So kommt es, dass der Klang, den man hrt, nicht aus einem bestimmten Lautsprecher kommt, sondern aus allen, allerdings niemals komplett, da die Frequenzbereiche rumlich verteilt werden, und dies in so schnellem Wechsel, dass sich nicht eine Art von Raum-Harmonik einstellt. Der Klang – der jetzt etwas wabert – ist komplett prsent, aber nicht mehr lokalisierbar als von einer bestimmten Schallquelle, dem Lautsprecher, kommend. Genau das frdert den runden Eindruck dieses Stck wie den jenes Tereza-Abschnitts, den ich auf die nmliche Weise verrumlichte, um eine holistische Wirkung zu erzeugen. Pynchon-Projekt Thomas Pynchon ist nicht nur einer der bedeutendsten (amerikanischen) Schriftsteller und ein Meister der »Paranoia«, sondern einer der fr mich wichtigsten Autoren. In seinen Bchern summieren sich die Authentizitt hinsichtlich der Beschreibung der Gegenwart in den fortgeschrittenen Gesellschaften, der Witz eines enzyklopdisch gebildeten Intellektuellen und die sprachlich-darstellerische Kraft eines Giganten zu einer seltenen Grße. Nicht zuletzt deswegen ist die Ausgangsbasis der berschaubarste seiner Romane, The Crying of Lot 49. Der Zyklus umfasst folgende Werke: – Hommage Thomas Pynchon fr Ensemble, Solocello und Live-Elektronik, Dauer unendlich; – The Tristero System fr Ensemble, Dauer 18 Minuten; – The Courier’s Tragedy fr Violoncello, Dauer 19 Minuten; – W.A.S.T.E. fr Oboe und Live-Elektronik, Dauer 18 Minuten; – W.A.S.T.E. 2 fr Oboe und Acht-Spur-Zuspielband, Dauer 18 Minuten; – D.E.A.T.H. fr Acht-Spur-Tonband, Dauer 12 Minuten. Dieser Zyklus ist ein Poly-Werk und besteht aus folgender Idee: Das bergeordnete Werk Hommage Thomas Pynchon fr Ensemble, Solocello und Live-Elektronik ist zugleich Ensemblemusik, musikalisches Theater und Musik-Installation. Der Ablauf der Hommage Thomas Pynchon erklrt die konzeptuelle Idee. Zu Beginn wird im eigentlichen Konzertbereich (dem ›Konzertsaal‹) das Ensemblestck The Tristero-System (je zwei Klaviere, Schlagzeuger, Bassklarinetten, drei Posaunen und 4 Piccolos) von 18 Minuten Lnge gespielt. WhA
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renddessen nimmt die Elektronik Material auf, speichert es und entwickelt peu peu ein Eigenleben, das ausreichend reichhaltig ist, wenn das Ensemblestck fertig ist. Das letztere hat somit kein eigentliches Ende; Publikumsbeifall wird nicht mglich sein. Was folgt, ist das Eigenleben der Elektronik, das hinreichend komplex prpariert ist, und zwar mit vorab aufgenommenen Materialien des Ensembles, von Oboenmehrklngen und des Cellos sowie mit einer Computerprogrammierung im Sinne einer »criture automatique« (also eines nicht-redundanten Weiterkomponierens), die die Klangverarbeitungsmechanismen in Realzeit steuert. Nach einer Weile – die Spieler des Ensembles sind abgetreten – tritt der Solocellist auf und versucht mit seinem Stck The Courier’s Tragedy gegen die Elektronik zu arbeiten, sie zu konterkarieren, ja zu besiegen. Daran scheitert er; er vermag zwar das Klanggeschehen zu manipulieren, wird aber von diesem letzten Endes ›gettet‹. Erschpft tritt auch er ab. Inzwischen hat die elektronische Musik das Maximum an prsentistischer Unertrglichkeit erreicht, und die Celloklnge treten im weiteren Verlauf immer weiter in den Hintergrund, bis sie ganz verschwunden sind. Ab jetzt handelt es sich bei der Hommage Thomas Pynchon, bislang eine Konzertsituation mit Live-Elektronik, um eine (allerdings nicht eben environmentale) Klang/Musik-Installation, die theoretisch kein Ende hat. Pragmatisch wird das Stck zu Ende sein, wenn der letzte Hrer aus Erschpfung und Mdigkeit das Haus verlassen hat. Der Hrer wird nach einer gewissen Zeit den Konzertsaal, dessen Tren geffnet werden, verlassen, um nach Hause zu gehen. Im Foyer stellt er allerdings fest, dass das gesamte Haus durch diese Musik-Installation beschallt wird, und zwar berall anders. Er ist somit angehalten, nach eigenem Belieben das Haus und die Musik in diesem zu erkunden oder den Ort zu verlassen. Dabei ist entscheidend, dass die Zuhrer den Hauptteil des Hauses nicht wieder betreten knnen. Damit wird ein stndiges Kommen und Gehen verhindert. Betritt der Zuhrer/Zuschauer den allerletzten Vorraum, so hrt er die Tonbandkomposition D.E.A.T.H., die in Endlosschleife permanent erklingt, von der er aber zuvor nichts wissen konnte. Er wird nach einer gewissen Zeit entscheiden, wie lange er auch dieser Musik zuhren mchte. Fr diejenigen, die spter noch einmal kommen mchten, gibt es einen Hintereingang. Der Parcours knnte wieder von vorne beginnen.4 4
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Die Urauffhrung in Berlin am 6. Mrz 2005 war geringfgig anders disponiert.
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Humanismus und Technik – Rettung des Menschen Ich gestehe, dass ich nordamerikanischen Action-Filmen nicht abgeneigt bin. Aber nicht primr um der technischen Effekte willen und auch nicht, weil es Geschichten von mit bermenschlichen Krften ausgestatteten Helden sind. Sondern vor allem, weil in dem technisch berdrehten, den grellen Inszenierungen von Feuer und Vernichtung etwas von dem thematisiert wird, was der Technik, in ihren negativen Aspekten, wesentlich anhaftet. Es ist kein Zufall, dass solche Filme aus den Vereinigten Staaten kommen, einem Land, das Drohung und Bedrohung nicht zu differenzieren versteht. Indessen, wie in den anderen Genres auch, berzeugen nur die allerkonsequentesten Produktionen. Dazu zhlen James Camerons Terminator-Filme, vor allem Terminator II, eben weil berhaupt nicht der Versuch unternommen wird, dem Roboter aus der Zukunft, der Killermaschine in Menschengestalt, ein menschliches Antlitz zu verleihen, sondern weil umgekehrt sein Verhalten – vor allem an der Krpermotorik ablesbar – einzig und allein der Zweck-Mittel-Rationalitt gehorcht und diese Bedrohung bis zum letzten Augenblick durchgehalten, ihr also jenes Happy-End verweigert wird, das im blichen Hollywood-Optimismus la Independence Day zum Verkaufsprinzip gehrt. In solchen Filmen wird sichtbares Ereignis – und nicht nur imaginierbar wie in den unzhlbaren Science-fiction-Romanen –, wie eine uns absolut fremd gegenberstehende Nicht-Menschlichkeit sein knnte. Doch wie wre das musikalische quivalent dazu? Die Filmmusik zu Terminator II, die diesbezglich ziemlich berzeugend ist, hilft uns kaum weiter, weil sie ohne den Film, den sie kontrapunktiert, nicht funktionierte. Mchte man ein Pendant erfinden, msste man sich auf die Autonomie der Kunstmusik in ihrer progressivsten, und das heißt auch: technisch progressivsten, Fassung konsequent besinnen. Das bedeutet, bezogen auf den Pynchon-Zyklus, den Einsatz der neuesten computergesttzten Klangverarbeitungsprogramme, die soweit beherrscht werden, dass ihre Schwachstellen an den Rndern ihrer Funktionstchtigkeit offenbar werden, gegen die dann zu arbeiten ist; die Subversion der Auffhrungssituation zugunsten einer paranoischen Performance, die den Zuhrer gleichsam mit Musik erschlgt; eine Musiksprache, die den musikalischen Sinn, zuhauf angeboten, einer radikalen Dekonstruktion unterwirft; schließlich eine Klanglichkeit, die den modernen GroßstadtA
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menschen vom Typus New York, Hongkong oder Tokyo fasziniert, um ihm dann um so schlagkrftiger die Apokalyptik seiner Lebenssituation vor die Sinne fhren zu knnen. Um das zu vermgen, muss der Komponist Herr der Technik sein, und zwar bis in jene ihrer Regionen hinein, an der sie zu versagen droht. Hier, an den Lchern der Matrix, setzt die Kritik an der Technik an, um sie, bei aller konzeptuellen sthetik des In-Humanen, fr eine Rettung des Menschen und des Menschlichen nutzbar zu machen. Humanismus heute ist nur im Angesichte der absoluten Katastrophe mglich.
Literatur Houellebecq, Michel (1999): Elementarteilchen, Kln 1999 (Orig. Les particules lmentaires). Kurzweil, Ray (1999): Homo S@piens. Leben im 21. Jahrhundert – Was bleibt vom Menschen?, Kln 1999 (Orig. The Age of Spiritual Machines). Veale, Peter/Mahnkopf, Claus-Steffen (1997): Die Spieltechnik der Oboe, Kassel 3 1997.
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III) Musik und Kompositionstechnik
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Aufspalten und hineinschauen: Zur Konstruktivitt des Zerlegens im kompositorischen Prozess Charlotte Seither
Betrachtet man den Begriff componere (zusammensetzen), so fllt auf, dass in diesem Begriff nichts, aber auch gar nichts auf einen Umgang mit Musik schließen lsst. Nicht das Klingen oder Hren bildet hier die Wurzel, wohingegen sich das fertige Produkt, das Stck, doch genau dadurch definiert, dass es zum Klingen gebracht und als ein Akustisches dargestellt werden will. Anders formuliert: Nichts anderes scheint im musikalischen Gebrauch gerade zwingend, als dass componere einen Klang, im Extremfall auch den NichtKlang, die bewusst gemachte Stille, zu initiieren sucht. Gleichwohl zeigt sich, dass sich der Begriff der Eingrenzung seines Substrats, der Festlegung also auf eine bestimmte Kategorialitt des Materials, hartnckig widersetzt. Es ist also keine musikspezifische Ttigkeit, die im Komponierbegriff zum Ausdruck gebracht wird, nein, es ist eine allgemeine Ttigkeit. Sie verrt nichts ber das Material, mit dem gearbeitet wird; es bleibt also offen, ob dies Klnge, Sprache, Formen, Rume, Objekte oder jedwede andere Elemente sind. Auch ber das Produkt, das aus dem Komponieren hervorgeht, die Komposition, verrt der Begriff schließlich wenig: Wir wissen nicht, ob dies ein Bild, ein Musikstck, eine Landschaftsarchitektur, die Zusammenstellung von Kleidungsstcken oder eine Suppenkomposition ist. Es bleibt also offen – und dies macht den Begriff so leistungsstark – womit eigentlich gearbeitet wird, wie auch, was als Produkt letztlich daraus hervorgeht. Ich knnte sagen: Komponieren ist eine Ttigkeit, die sich in bestimmter Weise mit einem unbestimmten Material in Beziehung setzt. Es ist ein durch den Vorgang des Definierens und Auswhlens bestimmtes Verhalten zu den Objekten der Welt. Es ist eine Ttigkeit, in der Selektion und Konjunktion miteinander verknpft sind.
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Aufspalten und hineinschauen
Betrachten wir den Begriff des componere im Folgenden genauer. Aus der Vielzahl seiner Bedeutungen lassen sich im Wesentlichen drei Grundbedeutungen herausgreifen 1 : 1. zusammensetzen 2. ordnen 3. abfassen Wenn einige dieser Bedeutungen sich bisweilen aneinander reiben (oder sich gar gegenseitig ausschließen), so konstituieren sie in ihrer Gesamtheit dennoch einen bergreifenden Bedeutungszusammenhang, in den die verschiedenen Teilbedeutungen gleichermaßen eingehen. Betrachten wir die drei Hauptkomponenten zunchst im Einzelnen:
1. Zusammensetzen Wo zusammengesetzt wird, lsst sich die Prmisse aufzeigen, dass a) ein Material/Objekt vorhanden ist, dass dieses b) in irgendeiner Weise aus Partikeln besteht und dass c) diese Partikel grundstzlich miteinander verknpfbar sind. Der Begriff impliziert also die Vorstellung, dass bestimmte Objekte oder ein Material vorhanden ist und dass dieses ergriffen und bearbeitet wird – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Der Komponist wird so zum handwerklichen Mittler, eine Vorstellung, wie sie insbesondere in der Barock- und Vorbarockzeit zu finden ist, in der die bestehenden Objekte vorhanden sind und nur noch miteinander verknpft werden. Nicht selten erscheinen dabei auch die Regeln fr das Zusammensetzen mehr oder weniger »prexistent« (etwa die Regeln des vierstimmigen Choralsatzes bei Johann Sebastian Bach oder des Kontrapunkts bei Johann Joseph Fux.) Nur bedingt freilich haben die Komponisten der Zeit ihre Ttigkeit als subjektiv-individuelle Leistung erachtet. Whrend in der klassisch-romantischen Geniesthetik die qua Begabung und Inspiration erbrachte Ttigkeit, das »Schaffen Daneben existiert eine Unzahl von meist spezifischeren Bedeutungen wie etwa Vorrte sammeln/aufbewahren, Asche/Gebeine bestatten, jemanden vor Gericht konfrontieren, Truppen zusammenziehen, verabreden, erdichten/erheucheln/anstiften, jemanden zur Ruhe bringen/beschwichtigen, vgl. componere (Stichwort), in: Werner 1989, S. 364.
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aus sich selbst«, in den Vordergrund rckt, scheint sich der hiesige Begriff an einer eher handwerklichen, von Betriebsamkeit und Fleiß geprgten Auslegung des componere zu orientieren.
2. Ordnen Im Ordnen zeigt sich, dass ein Nachheriges einen hheren (oder auf andere Weise intentionalisierten) Grad an Gefgtheit aufweist als ein Vorheriges. Im Ordnen wird ein Zustand durch eine absichtsvolle Zurichtung in einen anderen Zustand berfhrt. Aus dem Ordnen lassen sich die Prmissen aufzeigen, dass a) ein Substrat oder Objekte vorhanden sind (das Ordnen wie auch das Zusammensetzen bedrfen bereits im Sprachlichen eines Akkusativobjekts) und dass b) diese geordnet werden knnen (d. h. in eine wie auch immer geartete Form oder Struktur gebracht werden knnen, die von dieser angenommen wird.) Whrend der Begriff des Zusammensetzens noch relativ offen erscheint (es ist in ihm keine Hierarchie enthalten, nach der ein Besser, Schlechter oder eine andere, wie auch immer geartete, zumeist mit einer Bewertung verbundenen Bewegungsrichtung von – nach auszumachen ist), ist der Begriff des Ordnens weitaus kritischer zu betrachten. Es ist die richtige Reihenfolge oder Ordnung, die hier verfolgt und von einer unrichtigen bzw. unvollstndigen Reihung oder Ordnung unterschieden wird, und bereits im biblischen Schpfungsbericht wird die Ordnung als berwindung des Chaos, als diesem berlegene Daseinsform beschrieben – eine Wertung, die das abendlndische Verstndnis von Besser und Schlechter auf nachhaltige Weise geprgt hat. Wo geordnet wird, ist dies also stets mit einem – wie auch immer gearteten – Herrschaftsverhltnis verknpft: die Anerkennung einer bergeordneten Setzung, nach der im Folgenden verfahren wird. So konstitutiv der Begriff des Ordnens also fr Komponisten wie Bach, aber auch fr Pierre Boulez, den frhen Messiaen oder Anton Webern sein mag, so kritisch wird dieser von anderen, insbesondere von John Cage, aber auch von Earl Brown, Wolfgang Rihm oder anderen beleuchtet. Es ist die objektivierbare Ordnung (das Aufstellen von Zahlenreihen oder anderen Konstruktionsprinzipien), 170
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die Wolfgang Rihm ablehnt, um sich schließlich nur noch der subjektiv zwingenden Ordnung einer – seiner – emotionalen Logik zu unterstellen. Es ist die Kontrolle ausbende Ordnung (das Ausnotieren prziser Beziehungsverlufe), von der sich Earl Brown in seinen aleatorischen Stcken der 60er Jahre lst, um zur begrenzt aleatorischen Ordnung der Spieler im aleatorischen Feld vorzustoßen. Es ist die auctoriale Ordnung, das absichtsvolle Wollen, von dem John Cage sich befreit, um zu einem gnzlich dem Zufall anheim gestellten, von subjektiven Prferenzen losgelsten Wertesystem zu gelangen. Betrachten wir diesen so aufschlussreich vielschichtigen Ordnungsbegriff bei Cage noch ein wenig genauer: Whrend Ordnen im Allgemeinen als eine Ttigkeit verstanden wird, bei der sich ein »besserer« (spterer) von einem »schlechteren« (frheren) Fgungsgrad unterscheiden lsst, lehnt Cage eine solche, auctorial gesetzte Prmisse – dass Ordnung grundstzlich ein Mehr oder Hher gegenber dem Chaos sei – grundstzlich ab. Ordnen vollzieht sich bei ihm also nicht, indem sich ein Unstrukturiertes gegenber einem Strukturierten beugt. Gleichwohl lsst sich auch bei ihm erkennen, dass das Geordnete (ich knnte auch sagen: das intentional Betrachtete) als ein aus der allgemeinen Unordnung Herausgehobenes erachtet wird. Ordnen, das heißt fr Cage, etwas aus dem riesigen pool des Existierenden herausgreifen, damit es von einem Allgemeinen, Nicht-Beachteten, Bloß-als-Objekt-in-der-Welt-Seienden zu einem Besonderen, knstlerisch Wahrgenommenen wird. Es gibt also keine hhere »Moralitt«, die ein Objekt bei Cage bereits per se ber ein anderes stellt (begrndet dadurch, dass das eine konsonant, das andere dissonant wre; das eine ein Ton, das andere ein Gerusch; jenes ein Raum, dieses ein Klang o. .) außer der Tatsache, dass es ein (in der sthetischen Wahrnehmung) aus dem Allgemeinen Herausgehobenes ist. Hierdurch allein unterscheidet es sich nach Cage bereits von dem bloß objekthaft Umgebenden. Wre also ein anderes herausgehoben, so wre es, unabhngig davon, was es ist oder wie auch immer es beschaffen ist, ein gleichermaßen Besonderes und als solches grundstzlich gleichwertig. Cage lehnt also jede Form von Bewertung ab, die auf vorab installierte Wertvorstellungen zurckreicht. Die einzige von ihm anerkannte Wertvorstellung liegt schließlich darin, ohne Wertvorstellung zu sein (auch dies ist natrlich eine vorab installierte Wertvorstellung!), so dass sich das einzelne Objekt einzig ber die Tatsache von anderen abhebt, dass es – und nicht ein Benachbartes – A
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ausgewhlt worden ist. Dieses Auswhlen gestaltet sich dann vollkommen prferenzlos und erfolgt nach verschiedenen Zufallsverfahren. Das einzelne Objekt wird dabei nur im Akt der Entscheidung bedeutsam: Indem ich frage, ob ich nehme oder nicht nehme, kommt ihm eine besondere Bedeutung zu (nmlich die, alternatives Objekt der Wahl zu sein). Ist es schließlich gewhlt, so fllt es weitgehend in die Bedeutungslosigkeit zurck (es htte ja auch jedes beliebige andere sein knnen, das damit ebenso »gut« oder »schlecht« oder einfach »belanglos« gewesen wre). Cage unterscheidet also nicht zwischen dem Wie einer Ordnung (ob sie »richtig« oder »falsch« ist), sondern einzig darin, ob ein X-Beliebiges gewhlt oder nicht gewhlt worden ist. Indem ich greife, ordne ich, auf diese Kurzformel ließe sich der kompositorische Ordnungsbegriff bei Cage vielleicht bringen – ein Verstndnis, das wohl in radikaler Weise auf die Umwertung des konventionellen Ordnungsdenkens im 20. Jahrhundert verweist.
3. Abfassen Im Begriff des Abfassens zeigt sich, dass ein Prozess des Wegnehmens oder Herauslsens vollzogen wird (ab = weg von), der mit einem greifenden, besitznehmenden, willentlich gettigten wie auch formgebenden Akt verbunden ist. Auf einen allgemeinen Nenner gebracht, ließe sich das Abfassen als eine Ttigkeit beschreiben, in der ein Spezielles aus einem Allgemeinen herausgelst wird (vgl. Cage), ich knnte auch sagen: in dem eine Form herausgebildet wird. Auch der Begriff des Abfassens bedarf rein sprachlich eines Akkusativobjekts. Whrend sich dies beim Zusammensetzen bzw. Ordnen noch auf das jeweilige Material bezieht (es werden Tne, Wrter oder beliebig andere Partikel zusammengesetzt und geordnet), zielt das Abfassen (wen oder was – eine Komposition, ein Text) auf das zu erstellende Produkt. Es ergibt sich also die Implikation, dass a) ein wie auch immer gearteter Akt der Trennung des Spezifischen vom Allgemeinen vollzogen wird und dass b) die Kriterien einer solchen Trennung nicht zwingend per Ordnungsfolge o. . objektivierbar sein mssen, sondern durchaus subjektiven Kriterien unterworfen werden knnen. 172
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Auch im Abfassen stellt sich also in besonderer Weise die Frage, welche Kriterien einem solchen Akt der Trennung des Spezifischen vom Allgemeinen zu Grunde liegen. Whrend das Zusammensetzen und Ordnen im Extremfall also auf eine mehr oder weniger mathematisch-logische Grundlage gestellt werden kann (die Verknpfung der Bachschen Satzlehre mit der Leibnizschen Theorie der Zahl Null und Eins ist bekannt), gestaltet sich die Suche nach einem grßtmglichen Modus der Objektivierbarkeit beim Abfassen deutlich schwerer. Hier, so bleibt zu vermuten, bieten sich Freirume, in denen sich zunehmend andere Wertvorstellungen (z. B. das »nur aus sich selbst heraus« wirksame, schpferische Tun eo ipso) etablieren. Ich fasse diese erste Betrachtung zum Begriff des componere noch einmal in drei Thesen zusammen: 1. Componere ist kein musikspezifischer Begriff, er bezeichnet eine allgemeine Ttigkeit, die weder Auskunft gibt ber die Kategorialitt des Materials noch ber die des fertigen Produkts. So gesehen ist componere also auch mglich ganz ohne Hren (eine These, die nicht zuletzt Ludwig van Beethoven in seinem Sptwerk eindrcklich unter Beweis gestellt hat) wie auch ohne ein konkret lautliches Produkt (ein Grenzgang, den etwa John Cage oder Dieter Schnebel mit ihrer stillen Musik bestritten haben). Auch fr die experimentelleren Formen lsst sich dabei (als kleinstes gemeinsames, definitionsgebendes Vielfaches) festhalten, dass sie mit einem in Klang (oder eben: der Aufhebung von Klang) zu fassenden Imperativ verbunden sind (Aufruf an den Interpreten, tue dies oder jenes), der auf die Einrichtung einer wie auch immer gearteten klangzeitlichen Erwartung beim Zuhrer gerichtet ist. Nicht selten fallen, insbesondere im experimentelleren Kontext, Interpret und Zuhrer gar zusammen. 2. Indem ich zusammensetze, ereignet sich ein Prozess, der das Teil zum Ausgangspunkt und das Ganze zum Ziel nimmt. Es vollzieht sich also eine Bewegung vom pars zum totum. Gleichzeitig ist im componere-Begriff – und dies macht ihn so funktionsfhig – jedoch auch die gegenteilige Bewegungsrichtung enthalten: Im Abfassen, dem Abgrenzen eines Speziellen vom Allgemeinen, ist es das Teil, das aus dem Ganzen herausgelst wird (es vollzieht sich also die gegenteilige Bewegungsrichtung, an deren Beginn das Ganze steht, aus dem dann das Teil herausgelst wird). Indem der componere-Begriff A
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potentiell also beide Bewegungsformen in sich birgt, wird er offen fr die verschiedensten Formen des Sich-Verhaltens-in-der-Welt. 3. Der Begriff componere ist aus einem ganzen Geflecht von Bedeutungsanteilen zusammengesetzt, die sich mitunter berschneiden, erweitern oder aber gegenseitig ergnzen. Es ergibt sich ein ganzer Horizont von Bedeutungsfacetten, die sich – entsprechend den jeweiligen Vernderungen in der Kunst – stets neu vermessen lassen. Die Vorstellung eines Gustav Mahler etwa, »es komponiert mich« oder »ich werde komponiert«, scheint von der eines eher handwerklich orientierten Zusammensetzens bestehender Objekte ebenso weit entfernt wie die bei Wolfgang Rihm zu findende Vorstellung, dass das Komponieren sich als ein monolytisch zu denkender Akt des Erfindens, Zeugens und Gebrens darlegt (Letzteres ist, wenn Sie so wollen, eine Nach-Freudianische, stark individualisierte Spielform des romantischen Komponierbegriffs). Gleichwohl lassen alle diese Umdeutungen einen gemeinsamen Ausgangspunkt im traditionellen componere-Begriff erkennen. (Ich habe bislang noch keinen Komponisten getroffen, dessen Ttigkeit sich nicht auf eine im componere-Begriff enthaltene Grundkonstante zurckfhren ließe, wenn diese mitunter auch radikal pervertiert wird). Es sind also sehr verschiedene Dinge, die Komponisten tun, wenn sie komponieren, die sich gleichwohl aber alle unter dem Begriff des componere subsummieren lassen. Gemeinsam ist ihnen dabei nur, dass sie die Aufmerksamkeit des Zuhrers auf eine – wie auch immer geartete – Zeit und einen – wie auch immer gearteten – Ort focussieren, dass sie darauf aufmerksam machen, dass sich der Rezipient in einem besonderen Aufmerksamkeitsraum befindet. (Ich kenne auch bei Cage kein Stck, in dem man nicht weiß, dass man sich in einem Stck befindet, und selbst in 4’33, jenem berhmt stillen Stck, ist das Beginnen und Enden, der Rahmen der Hraufmerksamkeit, przise definiert und wird durch die einleitende bzw. ausleitende Geste des Klavierdeckel-Schließens und -ffnens zustzlich vor Augen gestellt.) »Wenn Komponieren«, so Helmut Lachenmann, »ber das tautologische Benutzen bereits verfgbarer Expressivitt hinausgehen und als schpferischer Akt an jenes humane Potential erinnern soll, welches dem Menschen seine Wrde als zur Erkenntnis fhigem und aus Erkenntnis heraus handlungsfhigem Wesen gibt, dann heißt 174
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Komponieren nicht nur nicht ›zusammensetzen‹, sondern schon eher ›auseinandernehmen‹, auf jeden Fall aber: ›sich auseinandersetzen‹ mit den Zusammenhngen und Bedingungen des musikalischen Materials (und des Hrens).« 2 Wenn Helmut Lachenmann hier eine eher kritische Position gegenber dem traditionellen Kompositionsbegriff bezieht, so grndet dies in der Tatsache, dass dieser den Bedingungen, wie sie sich im kritisch-emanzipierten Bewusstsein eines Komponisten heute darlegen, nicht mehr zu entsprechen scheint. Sofern componere also verstanden wird als eine Ttigkeit, in der das Material schlechterdings als gegeben akzeptiert wird, sofern auch das Material nicht erst selbst einer kritischen Hinterfragung unterzogen wird, insofern lehnt Lachenmann diesen Bedeutungszusammenhang fr eine aufgeklrt-kritische Haltung beim Komponieren ab: »Komponieren heißt nicht ›zusammensetzen‹, sondern heißt ›in Zusammenhang bringen‹, heißt: die musikalischen Mittel zu Trgern solchen zu stiftenden Zusammenhangs heranziehen, ausformen, zuordnen und auf diese Weise expressiv bestimmen. Es gibt keinen musikalischen Ausdruck außer durch Zusammenhang.« 3 Es kann also nicht darum gehen, dass das Bestehende, die in der Welt vorhandenen Objekte, einfach bernommen werden und dass sie – wie auch immer – neu zusammengesetzt werden. Sie mssen auch (und zuallererst) einem kritischen Prozess der berprfung unterzogen werden, bevor sie in den Akt des Zusammensetzens eingehen. »Das Material«, so Lachenmann weiter, »ist nicht einfach gefgiger Werkstoff, der nur darauf wartet, vom Komponisten, in welchem Zusammenhang auch immer, zu expressivem Leben erweckt zu werden, sondern es steht bereits in Zusammenhngen und ist expressiv geprgt, bevor sich der Komponist ihm berhaupt nur nhert. Diese vorweg herrschenden Bedingungen des Materials entstammen derselben Wirklichkeit, welche uns selbst, Komponisten und Hrer, unser Dasein und unser Bewußtsein geprgt hat.« 4 Lachenmann schaltet dem eigentlichen Komponiervorgang (dem Zusammensetzen des Werkes) hier also nochmals einen vorab stattfindenden Subprozess vor, in dem er sein Material von den ihm bereits innewohnenden, expressiven Ausdrucksverhrtungen befreit,
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Lachenmann 1996, S. 55. Ebd., S. 54. Ebd., S. 55. A
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um es erst dann als ein »Gelutertes«, Bereinigtes in den Kompositionsprozess einzubringen. Whrend in den traditionellen Formen des componere also noch – wie auch immer geartete – ganze Objekte miteinander verknpft werden (ich knnte auch sagen, dass sich eine Addition von 1 plus 1 ereignet), wird nun, in der kritischen Position Lachenmanns, die Schwelle der kleinsten, vormals noch selbstverstndlich gegebenen Einheit erreicht und unterschritten (um im Bild zu bleiben, entsprche dies einer Addition von 1,3 mit 0,7, was in der Summe ebenfalls 2 ergibt). Wo vorher also noch ganze Einheiten und Objekte miteinander verknpft wurden, steht nun die Verkeilung, Ineinanderstauchung und Fgung von Bruchstcken – ein Paradigmenwechsel, der nicht zuletzt auch auf die Erweiterung des Denkens im 20. Jahrhunderts verweist, wie sie mit der ersten Kernspaltung durch Otto Hahn im Jahr 1938 einen symbolischen Hhepunkt erfahren hat. Nicht mehr die Zahl 1 (ein in sich geschlossenes Objekt, die Gltigkeit einer sich als Ungebrochenes darlegenden Autoritt) ist jetzt also Ausgangspunkt des experimentellen Denkens, sondern ein nach innen Zerlegtes, das die Erinnerung an seine ursprngliche Ganzheit mitunter vllig preisgibt. Es ist also, so ließe sich als These formulieren, ein stets fortschreitender Prozess der De-Komposition, der sich innerhalb der Neuen Musik ereignet und der die wohl maßgeblichen Entwicklungen in der Musik des 20. Jahrhunderts bestimmt hat. Arnold Schnberg und Anton Webern sind es gewesen, die ihren musikalischen Kosmos als einen vollkommen geordneten verstanden haben, die sich ihre Ordnung gleichwohl jedoch selbst erschaffen (und nicht von außen bernommen) haben. Indem sie alles mit der von ihnen selbst gesetzten Struktur durchdrungen haben, haben sie ihren Kosmos vollstndig zerlegt, berflssiges bereinigt und ihn wieder neu ber der sicheren Gewissheit zusammengesetzt, dass nur solches darin zur Verwendung kommt, was sich auch als Strukturgebendes, unmittelbar Konstitutives erweist. Karlheinz Stockhausens Versuche der 50er und 60er Jahre wren zu nennen, in denen der Klang elektronisch zerlegt und anschließend wieder neu synthetisiert wird; die mikrotonalen Experimente von Alois H ba in den 20ern, die Aufspaltung von Rhythmik und Metrik bis an die Grenze der menschlichen Wahrnehmungsfhigkeit in der new complexity eines Brian Ferneyhough oder die Anstze um die Aufhebung eines linear-sukzessiven Form-Zeitverlaufs bei John 176
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Cage. Es sind also stets neue Kategorien und Zusammenhnge, die nach innen hinterfragt, aufgebrochen und auf neuer Ebene rekomponiert werden, um erst dann (wie etwa bei Lachenmann) in den eigentlichen Kompositionsprozess einzugehen. Weiter noch: Die Aufspaltung nach innen, das Sich-Verlieren im Akt der Dekomposition (der sich zunchst ja nur auf den Akt der Materialvorbereitung erstreckt) greift immer tiefer, blht sich auf und verdrngt schließlich den (ihm eigentlich nachgeschalteten) Kompositionsprozess. Mehr noch: Die Dekomposition des musikalischen Materials wird zum Werk und das Werk zum Dokument, das die Dekomposition seiner selbst zum Inhalt hat. Ich denke hier an jene Werke der Bildenden Kunst, in denen das Zeigen der Schrauben und Einzelteile das eigentliche Kunstwerk ist, wohingegen das Auto, das »Kunstwerk« im ursprnglichen Sinne, gar nicht mehr vorhanden ist. In der Musik hat John Cage mit dem Stck As slow as possible vielleicht hnliches geleistet: Zwar ist das Stck in seiner musikalischen Textur vollstndig ausnotiert (und mutet weitgehend konventionell an), die Mglichkeit, das Erklingende in einen zeitlichen Zusammenhang zu setzen, wird jedoch dadurch gebrochen, dass das Spieltempo as slow as possible (im Extremfall also weit ber die Grenzen der menschlichen Rezeptionsfhigkeit hinaus) verluft. Cage zielt hier also auf die Aufhebung (sprich: Dekomposition) der Mglichkeit, Zusammenhang herzustellen, die Zerdehnung der Zeit also bis zu einem solchen Extrem voranzutreiben, dass das Zusammenhren der Einzelereignisse schlechterdings unmglich wird. Es ist also das Fragment (hier: der Zerfall in einzelne, gerade noch wahrnehmbare Tne), ber das sich der Prozess der Dekomposition im Ganzen dokumentiert (das Zeigen der Schrauben, was auf die Zerlegung des Autos schließen lsst). Die Sache fhrt aber noch einen Schritt weiter: So die Blechteile des Autos so weit zerlegt sind, dass auch der Ausgangspunkt Auto nicht mehr zu erkennen ist (so die Schrauben also nur noch als Schrauben fungieren, ohne dass sich an ihnen die Idee vermittelt, dass sie jemals ein Auto gewesen sind), hebt die Dekomposition auch die Referenz (auf das Auto) in sich auf; die Schraube wird wieder frei von ihrem Bezug auf das Auto und erhlt ihre Dasein zurck als »Schraube an sich«. Sie ist entbunden von der Vorstellung, mehr oder ein anderes sein gewesen zu sein als nur sich selbst. Auch diese Idee, ein Material zu sich selbst (und nur zu sich selbst) kommen zu lassen, es also von jeder berfremdenden KonA
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textualitt zu befreien, hat Cage im Prinzip verfolgt, wenn sich dieses Modell in der Praxis natrlich als tautologisch erweist: Indem er seine Objekte mit dem Ende der 30er Jahre zunehmend per Zufallsverfahren auswhlt und ordnet, zeigt sich zwar, dass er sie (nach beliebigen Kriterien) aus ihrem ursprnglichen Kontext herauslst und anordnet, trotzdem stellt sich im Ergebnis, dem konkret klingenden Ereignis, auch wenn es vllig zufllig generiert ist, allein schon dadurch eine kontextualer Verlauf ein, dass alles in einem mehr oder weniger gerichteten, zeitlich-linearen Ablauf steht. Es gibt in der Musik eben nur die Mglichkeit, dass etwas gleichzeitig (simultan), nacheinander (sukzessiv) oder versetzt (gebrochen simultan bzw. sukzessiv) erklingt, andere Mglichkeiten gibt es nicht. Drei grundstzliche Kategorien lassen sich somit fr den dekompositiven Akt aufzeigen: 1.
Die Dekomposition des Materials
Nicht zuletzt an Helmut Lachenmann lsst sich aufzeigen, wie die Prfung und kritische Entkleidung des musikalischen Materials von den darin angestammten Konventionen einen immer grßeren Raum vor dem eigentlichen Prozess der Konstitution des Werkes (als einem Werkganzen) einnimmt. Der Gewinnung der Form geht hier also ein immer weiter nach innen verzweigter Prozess des Aufspaltens und Hineinschauens voran. Hier erst wird das Ausgangsmaterial geschaffen und definiert, indem es einem immer tiefergreifenden Prozess der Spaltung nach innen unterworfen wird. Ziel ist, dass, bis in den letzten Winkel der Prmissen, alles einer kritischen berprfung unterworfen wird, dass sich also nichts mehr ereignet, was auf die blinde bernahme bereits bestehender Struktur- und Herrschaftsmuster zurckgeht. Es ist also der jeweilige Grad des emanzipativen Bewusstseins, der sich in der jeweiligen Form von Materialkritik dokumentiert und der gleichwohl ausstrahlt auf ein ganzes Gefge weiterer Entscheidungen innerhalb des kompositorischen Prozesses. Die Dekomposition des Materials richtet sich also, zumindest bei Lachenmann, nicht gegen die Konstruktivitt des Materials an sich (sie ist kein zerstrerischer Akt in der Absicht, die Beziehungsfhigkeit des Materials berhaupt zu demontieren). Sie ergibt sich vielmehr als Folge einer politisch-sthetischen correctness, die gerade vom Anspruch bestimmt ist, sich als besonders verantwor178
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Aufspalten und hineinschauen
tungsbewusst und beziehungsfhig zu erweisen. (Auch in der lteren Musik finden sich brigens Beispiele dafr, wie Komponisten ihr Material zunchst dekomponiert haben, um es auf einer neuen Ebene wieder neu zusammenzusetzen, so etwa Josquin Desprez, der die Proportionen seiner musikalischen Formen aus der Division von Intervallen und ihrer Rckbeziehung auf die Fibonacci-Reihe gewonnen hat u. a.) 2.
Die Dekomposition des Werkes
Wenn John Cage in seinem Stck As slow as possible durch die Zerdehnung des Tempos die Mglichkeit außer Kraft setzt, dass ein umfassend musikalischer Zusammenhang hergestellt werden kann, wenn das einzelne Ereignis also bereits durch die Tatsache, dass wir essen und schlafen mssen, aus der physischen Memorierbarkeit des Hrers herausgenommen ist, so lassen Partitur und aufgefhrtes Werk auf eine durchaus unterschiedliche Haltung zum Werkbegriff schließen. (Es ist dies deshalb spannend, da sich Partitur und Auffhrung eines Werkes im konventionellen Bereich ja kaum darin unterscheiden, auf was fr einen Werkbegriff sie rekurrieren). Whrend in der Partitur von As slow as possible das »Werk« also vollstndig vorhanden ist (die Partitur ist weitgehend ausnotiert, sie legt also genau fest, was in welcher Abfolge zu tun ist, offen bleibt jedoch, wie schnell, d. h. in welcher absolut gemessenen Zeit die Proportionen aufeinander abfolgen), legt sich dies in der Auffhrung nur »abstrakt« dar (wir wissen, dass das gerade Gehrte ein Ausschnitt aus einem theoretisch ber mehrere Jahrhunderte ablaufenden Stck ist, knnen uns aber nicht mit dem real erklingenden Ganzen in Verbindung setzen). Cages Stck stellt sich in der Partitur somit als ein geschlossenes Werk dar, wohingegen es in der Auffhrungssituation, so scheint es zumindest ußerlich, weitgehend demontiert bleibt. Was wir hren (ein Abgerissenes, sich in der Zeit Verlierendes, das mit der Erwartung verknpft ist, dass es fortgefhrt wird), stellt sich dabei gerade nicht als ein geschlossenes Ganzes dar, sondern scheint viel eher im Fragmentarischen zu verbleiben. Umgekehrt wissen wir, dass es sich bei dem Gehrten nur um einen Ausschnitt handelt, dass dieser sich also nur als Teil aus einer abstrakt zu denkenden, weiterfhrenden Form darlegt. Auch hier bleibt der Hrwahrnehmung nur, das Erlebte in seiner A
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zeitlichen Dekomposition zu registrieren (das Stck fllt im Hren auseinander), wenngleich das Werk in seiner Idee dennoch darin aufgehoben scheint. Es ist also eine Frage des Materials bzw. der geistigen Mittel (hier: des Tempos), aus dem sich – im Akt der Auffhrung – die Zerdehnung der Kontextualitt bis hin zu ihrer vermeintlichen Aufhebung ereignet, wohingegen der Zusammenhang faktisch vorhanden ist (das Stck endet ja theoretisch, wenn auch in bisweilen nicht mehr erlebbarer Ferne). Auch hier zielt die Relativierung des Werkbegriffs – von einer Auflsung kann nicht wirklich gesprochen werden – nicht darauf ab, stumpfe Destruktion zu ben, sondern vielmehr darauf, einen neuen, geistig mehrschichtigen Raum zu erffnen, in dem ein Werk gedacht werden kann (hier: eine fr uns zeitlich nicht mehr erfassbare Form, die gleichwohl aber als eine mgliche gedacht werden kann). Es ist also ein geschlossenes Werk, das sich – unserer Wahrnehmung nach – in der Auffhrungssituation als ein scheinbar Dekomponiertes darlegt, um sich nach berwindung jener bis ans Astronomische grenzenden Auffhrungszeit wieder als ein geschlossenes Ganzes zu erweisen. 3.
Die Dekomposition des Komponierens
Wiederum ist es John Cage, der, vielleicht mehr noch mit seinem musikalischen Denken als mit seinen Kompositionen, neue Formen des musikalischen Bewusstseins geprgt hat. Wo das kompositorische Material vollstndig in der Welt vorhanden ist (dies entspricht einer These von Cage) und grundstzlich alles dazu angetan ist, zum kompositorischen Material zu werden, wo genau diese Tatsache zum eigentlichen Inhalt des Stckes gemacht wird (nmlich: zu zeigen, dass es vllig egal ist, was ich nehme, weil ich auch jedes andere htte nehmen knnen), da genau wird das kompositorische Wie, die Frage, auf welche Art die Dinge eigentlich komponiert sind, bedeutungslos: Es gibt keinen anderen Sinn, als dass die Dinge eben irgendwie zusammengesetzt sind, und wren sie anders, dann wre auch dies nicht schlechter oder besser, da solche, unserem abendlndischen Denken entsprechenden Wertekategorien fr Cage schlechterdings bedeutungslos geworden sind. So sehr Cage (in einem ganz traditionellen Sinn) also tatschlich Komposition betreibt (er setzt verschiedene, bereits in der Welt vorhandene Objekte zusammen), so nachhaltig ist seine kompositorische Haltung noch einmal zu befragen. Seine Ob180
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Aufspalten und hineinschauen
jekte sind nicht selten schon fertig, werden also nicht erst noch gemacht und werden im Extremfall nur noch fr das Werk gefunden. Weiter noch: Auch die Komposition entsteht schließlich dadurch, dass dieses eine Objekt, das Stck, in seinem So-und-nichtAnders gefunden wird. (Denken Sie an die Toilettenschssel von Marcel Duchamps, die bereits vorab in der Welt vorhanden war, die im kompositorischen Akt jedoch einer neuen Bestimmung bergeben und als ein Besonderes sthetisiert worden ist). Wir knnen den Begriff des Komponierens hier also weiter spezifizieren: Nicht das Zusammensetzen mehrerer Teile oder Objekte steht im Vordergrund (vgl. die Bedeutungen von componere), sondern das Vorfinden eines in der Objektwelt bereits vorhandenen Gegenstands, der nur noch aus seiner Gebruchlichkeit herausgelst und zum Gegenstand der sthetischen Betrachtung erhoben wird. Cages Komponierverstndnis lsst sich hier, bezogen auf einige, eher spezielle Schaffenszusammenhnge, mitunter fast als Komponieren gleich Finden beschreiben, das mit der besonderen Absicht verknpft ist, das Gefundene als ein Besonderes, aus dem Alltglichen Herausgehobenes wahrzunehmen. Weiter noch: Cage dekomponiert hier quasi den Akt des Komponierens selbst. Nicht der homo creans, der die Krfte aktiv gebrauchende Mensch steht hier im Vordergrund, stattdessen »stßt« dem Komponisten sein Werk – in mitunter minimalistischem Aufwand traditioneller Betriebsamkeit – buchstblich »zu«: ein Ereignis, das im Denken Cages grundstzlich allen Menschen mglich ist, so dass die fr ihn abzulehende Trennung von »Begabten« und »Unbegabten« (sprich: von gesellschaftlich mehr und weniger Privilegierten, die diese Privilegien wiederum massiv zu verteidigen suchen) fr ihn obsolet geworden ist. Wenn Cage hier den (traditionellen) Komponierbegriff also umwertet, so geschieht dies nicht zuletzt auch auf der Grundlage eines radikal parittischen Menschen- und Gesellschaftsbilds, in dem die Unterschiede zwischen den Individuen zwar nicht geleugnet, ihre Relevanz jedoch fr schlechthin nichtig erklrt wird. Dass Theorie und Praxis hier, wie so oft bei Cage, mitunter weit auseinander klaffen, dass sein Denken im Hinblick auf seine eigenen gesellschaftlichen Privilegien noch erheblich weitreichendere Konsequenzen htte ziehen knnen, gehrt zur jenen Widersprchen, die sich in seiner Biographie nicht wirklich auflsen lassen. ***** A
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Komposition und Dekomposition, so lsst sich festhalten, schließen sich in der musikalischen Praxis keineswegs aus. Vielmehr gehen sie ein mitunter vielschichtiges Wechselverhltnis miteinander ein, in dem sich selbst die von Komponisten verwendeten Terminologien kaum miteinander vergleichen lassen. Wenn Lachenmann sagt, sein Komponieren sei gerade kein Zusammensetzen, so bezeichnet das, was er mit Komponieren meint, etwas ganz anderes (den eigentlich vorgelagerten Prkompositionsprozess) als dasjenige, was etwa John Cage als sein Komponieren bezeichnet. Es ist das ganz spezifische Wechselverhltnis von Komposition und Dekomposition, aus dem jeder Kompositionsprozess die ihm eigene Physiognomie erhlt. Ich fasse zusammen: 1. Die Vorstellungen dessen, was im Komponieren eigentlich zu leisten ist, gehen weit auseinander und unterliegen einem ganzen Gefge historischer Prmissen. Nicht nur das musikalische Material ist dabei einem umfassenden Wandlungsprozess unterworfen, auch die Operation des componere selbst stellt sich zu unterschiedlichen Zeiten (und von Person zu Person) durchaus unterschiedlich dar (htte Bach etwa die Arbeit von John Cage kennen gelernt, so wre es ihm vermutlich schwergefallen, dessen Ttigkeit als »Komponieren« zu bezeichnen, wohingegen ihm das musikalische Operieren eines Paul Hindemith – auch ber die deutlich vernderten Material- und Verknpfungsbedingungen hinaus – vermutlich eher vertraut gewesen wre). Es sind also die geistigen Mittel, so meine These, die die Hhe und Avantizitt einer Komposition ausmachen, nicht die Mittel eines als mglichst fortschrittlich geltenden, in alle Richtungen erweiterten Materials. (Auch bei Cage gibt es Stcke, die in ihrem Material vllig konventionell sind, die das kompositorische Denken aber dennoch deutlich erweitert haben, wie sich umgekehrt auch ein noch so avanciertes Material nur selten bereits an sich als Garant dafr erweist, dass auch der geistige Inhalt einer angemessenen Hhe entspricht.) 2. Auch innerhalb der vernderten geistigen Mittel erscheinen die Bedeutungskomponenten des Zusammensetzens, Ordnens und Abfassens im Kompositionsbegriff nicht wirklich obsolet. Gleichwohl haben sie durch einzelne Komponisten eine geradezu kontradiktische Umwertung erfahren, die sich auf zustzlich vor- oder nachgeschal182
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Aufspalten und hineinschauen
tete Prliminarien des Kompositionsprozesses beziehen. Es gibt also keine fr alle Komponisten verbindliche Vorstellung mehr darber, was sich im Komponiervorgang letztlich auf welche Weise zu ereignen hat (ob die Frage des Materials also zu berprfen ist oder ob ganz einfach mit bereits vorhandenen Tnen komponiert wird u. a.). Stattdessen ist es vielmehr ein Stck »kreativer Akt«, aus dem sich die Dekomposition des Materials, des Werkes oder aber des Komponierbegriffs selbst ereignet. Nicht nur das entstehende Werk, auch der dazugehrige Kompositionsprozess wird im 20. Jahrhundert stets neu »erfunden« und in seiner individuellen Physiognomie weiterentwickelt. Wenn Helmut Lachenmann mit seinem Komponieren an »jenes humane Potential erinner(t), welches dem Menschen seine Wrde als zur Erkenntnis fhigem und aus Erkenntnis heraus handlungsfhigem Wesen gibt« 5 , dann verweist er damit auf einen kompositorischen Anspruch, der ber die rein libidonse Befriedigung einer kompositorischen Ich-AG hinausreicht. Die Komposition wird hier zum Stoff, an dem sich jene Form von (allgemeiner) Erkenntnis entzndet, die dem Begriff des componere dort neu begegnet, wo er die Frage nach seiner materialen Kategorialitt hinter sich gelassen hat.
Literatur Lachenmann, Helmut (1996): Vier Grundbestimmungen des Musikhrens, in: Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966–1995, hg. v. Josef Husler, Wiesbaden. Werner, Helmut (Hg.) (1989): Lexikon der Lateinischen Sprache, Eltville.
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Lachenmann 1996, S. 55. A
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Fr Hans Peter Haller und Andr Richard
Die Musik des 20. Jahrhunderts ist von Technologie geprgt. Das lag an der Situation: um 1900 konnte man bereits auf ungeheure technische Fortschritte zurckblicken – man denke an die neuen Verkehrsmittel, Eisenbahn, Autos, bald auch Flugzeuge; an Elektrizitt, Gas etc. Adorno (* 1903) erzhlte einmal – Musikunterricht im großbrgerlichen Frankfurt – wie er da, als Strauss’ Elektra erschien, fasziniert war: dem Jugendlichen kam bei diesem Namen die Assoziation »Elektrizitt«, »Moderne«. Tatschlich hatte die Naturwissenschaft großes Gewicht erlangt. Technische Hochschulen machten den altehrwrdigen Universitten Konkurrenz. Eine neue medizinische Disziplin, die von Freud kreierte »Psychoanalyse« – siehe schon der technologische Name (als ob es sich um Chemie handelte) – strebte quasi naturwissenschaftliche Gltigkeit an; daher auch die Terminologie: »psychischer Apparat«, »analysieren«, »Regression«, »psychische Instanzen«, usf. In der Musik fand eine hnliche Entwicklung statt. Im Namen des »Fortschritts« wurde das »musikalische Material« erweitert, Harmonik, Rhythmik, Klangfarben komplizierten sich bis zur Dissoziation. Es kam zur »Emanzipation des Dissonanz« hin zur »Atonalitt« – analog der Entwicklung der Malerei von Gegenstndlichkeit zur Abstraktion. Um 1910 schufen die Reprsentanten der musikalischen Moderne ihre progressiven Skandalwerke, Schnberg z. B. mit den Fnf Orchesterstcken, Strawinsky mit seinem Sacre du Printemps. In den zwanziger Jahren wurde die Zwlftontechnik und eine ebenso emanzipierte Rhythmik mit vielen Taktwechseln zum Symbol des musikalischen Fortschritts. Um 1950 kam ein zweiter Schub. In der Tabula-rasa-Situation nach dem zweiten Weltkrieg wagte eine Gruppe, die sich »Avantgarde« nannte, einen Neuanfang quasi bei Null. Musik wurde radikal – 184
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Beispiel 1: »Monotonien I«
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und gleichsam physikalisch – definiert als Folge von Ereignissen, deren jedes in vier »Parametern« zu bestimmen war: in Tonhhe, Tondauer, Lautstrke und Klangfarbe. Die Ereignissequenzen sowie die »Organisation« der Parameter wurde durch »Reihen« geregelt – also eine »serielle Musik«. Die Komponisten (Vorgnger), auf die man sich bezog, waren Schnberg und vor allem sein Schler Anton Webern – aber auch Edgard Var se, der in die Region der Gerusche vorgestoßen war. Die wichtigsten Komponisten dieser neuen Richtung – allesamt jung – waren Luigi Nono, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Jannis Xenakis (ich selbst schloss mich dieser Gruppe an). Die Stcke, die geschrieben wurden, bekamen abstrakte Titel: Varianti, Polifonica–Monodia–Ritmica, Structures, Polyfonie X, Punkte, Gruppen, Metastasis. Bei der Konzeption solcher Neuen Musik bereitete ein Parameter Schwierigkeiten: die Klangfarbe. Sie lag ja fest, je nachdem welches Instrument man whlte. In die Instrumentalfarben ließ sich nur bedingt eingreifen, durch sogenannte »Prparationen«, welche den genuinen Klang verfremdeten. In orchestralen Ensembles konnte man freilich Klangfarben komponieren – siehe Mahler, Strauss und Debussy. Was Schnberg vorschwebte: »Klangfarbenmelodien« aber gelang nur bedingt. Freilich waren inzwischen Klangfarben knstlich zu erzeugen: mithilfe elektrischer Klanggeneratoren. Es kam zupass, dass solche in den 50er Jahren erfunden wurden und ebenso, dass das Tonband praktikabel ward. Die physikalische Erkenntnis, dass der Klang ein komplexes Phnomen ist, nmlich zusammengesetzt aus Teiltnen – Sinustnen = reine Schwingungen – und charakterisiert durch den Einschwingvorgang, wirkte sich nun auch kompositorisch aus: Klangfarben ließen sich synthetisch herstellen durch Kombination elektrisch produzierter Teiltne, die sich auch dynamisch regeln ließen. In »elektronischen Studios« – das berhmteste befand sich beim WDR in Kln – wurden Klnge aus Sinustnen komponiert, und also entstand »Elektronische Musik« als eigenes Genre. Karlheinz Stockhausen und Gottfried Michael Koenig leisteten in dem von Herbert Eimert geleiteten Klner Studio Pionierarbeit. Bald entstanden andere Studios – z. B. in Mailand – und zuvor gab es in Paris bereits das Studio fr »Musique Concr te« (Pierre Henry, Pierre Schaeffer). Freilich waren die neuartigen Werke auf Tonband fixiert und konnten nur ber Lautsprecher wiedergegeben werden – oder durchs Radio. Konzerte ohne Musiker auf dem Podium, statt dessen Laut186
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Techno-logische Probleme zeitgenssischen Komponierens
sprechertrme, aber irritierten – lsten melancholische Verlassenheitsgefhle aus. Das hatte Folgen: in den spten 50er und in den 60er Jahren wurde die Elektronische Musik bunter, inkorporierte Stimmen und Sprache (Stockhausens Gesang der Jnglinge, Berios Thema) und allerlei konkrete Klnge (Riedl), verlor freilich die anfngliche Reinheit und Strenge. Cage kam mit Williams Mix und Fontana Mix sowie mit Radio Music: harte und dichte Mixturen von knstlichen, natrlichen, instrumentalen und konkreten Klngen, verarbeitet in Tonbandkompositionen nach komplexen Schnittmustern. Auch verband man live-instrumentale mit elektronischen Klngen (Stockhausens Kontakte). Nun soll hier nach ihrem heroischen ersten Jahrzehnt nicht die Geschichte der Elektronischen Musik berblickhaft – und persnlich – weitererzhlt werden. Jedenfalls aber machte die Technik ungeheure Fortschritte: nicht nur wurden die Apparate handlicher und effektiver, sondern es wurden – sicher auch angestoßen von neuen Kompositionstechniken und den Bedrfnissen der Komponisten – neue Gerte entwickelt und Zentren geschaffen. In der neuartigen Minimal Music der 70er Jahre gab es eine besondere Kanonik: »Melodien« zeitverzgert mit sich selbst zu vervielfachen (Rileys In C – schon 1964 – oder Keyboard Studies und Reichs und Glass’ Frhwerke). Bald gab es Apparate, die »time delay« u. a. perfekt zu realisieren vermochten. In Freiburg wurde 1971 durch Hans Peter Haller das Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWF in Freiburg gegrndet, das sich der damals neuen »Live-Elektronik« verschrieb: Klangumformung bzw. Raumklanggestaltung instrumentaler Vorgnge in »Echtzeit«. 1987 wurde ich in der Nachfolge Nonos zum »knstlerischen Berater« des Studios berufen, und ich konnte da auch selbst arbeiten. Hans Peter Haller, der technische Leiter, fhrte mir die Apparate vor. Da gab es z. B. das von ihm mit entwickelte Halafon, an das vier bis acht (oder mehr) rings ums Publikum verteilte Lautsprecher angeschlossen waren. Mittels dieser Maschine konnte man den Klang im Raum wandern lassen, sei es kreisend, kreuz und quer, sei es in Schleifen usf. Weiter gab es eine »Infernal Machine«, mit der sich Klnge beliebig transponieren ließen – eine Oktave hher oder tiefer, was letzteres sie voluminser machte. Auch konnte man ganze Phasen in kleinen bis grßeren Zeitabstnden zeitverzgert wiederkehren lassen, so dass Kanons »live« entstanden. Und all das in erA
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Beispiel 2: »Languido«
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Techno-logische Probleme zeitgenssischen Komponierens
staunlicher Klangqualitt. (Heute, 15, 20 Jahre spter, macht man das alles per Computer.) Die Technik hat ihre eigene Logik. Ihre Voraussetzung sind »Programme«, die freilich je erhebliche Variationsbreite beinhalten. Das aber erlaubt Freiheit innerhalb eines bestimmten Terrains. Fr Nono wirkte der Umgang mit den Gerten des Freiburger Experimentalstudios tatschlich befreiend, gestattete ihm quasi Improvisation, also ein Hinaus aus den seriellen Rastern. Fast jedes seiner spten Werke arbeitet mit dem Equipment des Studios. Auch Boulez, Stockhausen und andere bedienten sich der neuen Apparate. Wirklich war die »Live Elektronik« nicht nur dies – Elektronik live, sondern erlaubte einen lebendigen Umgang mit den Klngen. Allerdings hatte solches Komponieren mit Programmen seine Vorgeschichte in diesem (dem Komponieren) selbst. Um 1960 entstanden in Konsequenz der seriellen Technik – und in der Emanzipation von ihr – variable Kompositionen, Prozesskompositionen und eine musikalische Konzeptkunst. Das bedeutete, dass man Stcke entwarf, deren Elemente variabel waren, oder deren Ablauf nicht mehr detailliert ausgearbeitet, sondern in Umrissen bzw. durch ein Prinzip definiert wurde, also auch wiederum variabel war, d. h. fr die Realisation eine Vielzahl von Mglichkeiten bot – und die Form wurde offen. Erst recht galt das fr die Konzeptkomposition, wo man Musik nicht mehr als »Werk«, sondern eben als Konzept entwarf, das dann in der Realisation – bzw. in der Reinschrift – mal so, mal so oder auch ganz anders ausgefhrt werden konnte, als Stck, als Werk oder gar als Stck-Werk. Letzten Endes aber lagen all diesen Kompositionen Programme zugrunde. John Cage war hier Anreger bzw. Vorgnger, in erster Linie durch die Einfhrung der Chance operations – der Zufallsoperationen – ins Komponieren. Das bedeutete: Tonhhen, Dauern, Lautstrken wurden nicht durch Reihen oder schlicht kompositorisch ermittelt, sondern etwa mithilfe von Mnzenwrfen oder eben durch die Zufallsoperationen des I-Ging – so etwa in dem Schlsselwerk der Music of Changes fr Klavier von 1951, die brigens kaum anders klang als die gleichzeitig entstandenen seriellen Klavierstcke; oder dann in der elektronischen Musik Williams Mix, in Water Music, Radio Music, Winter Music, Klavierkonzert, am radikalsten in Variations I for any instruments. Allerdings war in all diesen Musikstcken mittels Zufallsoperationen doch zunchst festzulegen, was dem Zufall berlassen werden sollte, also Material oder/und Form – A
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in der Music of Changes z. B. alle Tne des Klaviers, alle Lautstrken, kurze – mittlere Dauern, in 4’33‚ drei »Stze« tacet, in Winter Music »ictus«-artige Klnge in weiten Zeitabstnden. Das hieß letzten Endes: Cage komponierte Programme. Spter – nmlich als es ihn praktikabel gab – bentzt er den Computer als Zufallsgenerator, dessen Mglichkeiten die 64 des I-Ging weit berstiegen. Die NummernStcke seines Sptwerks beruhten alle auf einem Computerprogramm, das flexibel genug war, um die jeweils resultierende Musik den jeweiligen Auffhrungssituationen anzupassen: Art und Anzahl der Instrumente – woraus sich auch der Titel ergab – sowie die Dauer. Aus dem bisher Dargelegten ergibt sich – was schon bei der Entstehung der Elektronischen Musik der Fall war – dass kompositorisches Denken und Technik eng zusammenhngen, ja dass das eine (erstere) Voraussetzung des anderen ist: Technik – auch Kunst – entspringt dem Denken. Die Technik ist in der Tat je schon erdacht. Bereits das Handwerk kommt aus dem Denken, ist gleichsam dessen Verlngerung. Indessen hat heute die Technik utopische Dimensionen angenommen – und vielleicht das Denken transzendiert: was die Apparate knnen, ist phantastisch! Hier liegt freilich eine Gefahr. Nochmals ein kleiner anekdotischer – und historischer – Exkurs. Schon die Musikinstrumente sind im Grunde Apparate. Und ihre Entwicklung – wo auch immer – ist wunderbar. Ein großer Sprung: die Orchestermusik vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, die sich zunehmend erweiterte, ist ein ungeheurer Fortschritt. Zunchst bis 1750 f. der Ton-Instrumente. Dann aber kamen – außer den traditionellen Pauken und Trompeten – exotische Instrumente dazu: Mozart benutzte in der Entfhrung die der – an sich feindlichen! – Janitscharenmusik. Das geschah aus einem kompositorischen (und auch illustrativen) Bedrfnis: man brauchte Gerusche – und Klangbilder. Das ging dann im 19. Jahrhundert weiter – Berlioz bis hin zu Strauss und Mahler. In heutiger Orchestermusik nimmt das Schlagzeug hinten auf dem Podium oft ein Viertel, gar mehr der Bhne ein. Auch in meinen Orchesterpartituren sind meist acht Schlagzeuger vorgesehen. Bei der Einstudierung eines Stcks – Zoltan Pesk hatte die Leitung – gab es zunchst natrlich geteilte Proben – Holzblser, Blechblser, Streicher und am Ende das Schlagzeug. Als ich zu dieser Probe kam, sagte Pesk: »jetzt machen wir die Effekte!« – ein Ausdruck aus der Dirigentensprache. Fr mich ein gelinder Schock: ich hatte keine Effekte komponiert, sondern eine eigenstndige Geruschschicht. 190
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Beispiel 3a: »Monotonien IV«
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Beispiel 3b: »Monotonien V«
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Techno-logische Probleme zeitgenssischen Komponierens
Nun zurck zum Thema Elektronik (Technik). Als ich zur Arbeit im Freiburger Experimentalstudio kam, zeigte mir wie gesagt der Leiter, Hans Peter Haller, sicher nicht ohne Stolz, seine Apparate und was sie alles konnten. Ich war total fasziniert: das klingt toll, das auch, und das, das, das – Effekte ber Effekte. Und mir kamen Ideen: das kann man machen, und das, und das … Am Ende wusste ich vor lauter … nicht mehr, wo mir der Kopf stand. Und ich sprte: so kann ich kein Stck machen – Effekt an Effekt aneinandergereiht; es wre sicher attraktiv, auch erfolgreich. Aber ich sprte: Die Technologie der Apparate bedarf eines Regulans und also braucht die Techno-Logik der Programme ein Prinzip. Ein solches aber ist etwas Zugrunde-Liegendes, was dem Gedanken Halt und Richtung verschafft, den kompositorischen Denkprozess bestimmt – ihm auch im Wortsinn Stimmung gibt. Das fhrt allerdings hinber in Philosophie. In den Studien hieß Teil I Raum und Teil II Zeit – und das klang schon ziemlich »prinzipiell«. Im darauf (daraus!) folgenden Hauptwerk MONOTONIEN lauten die Titel der sieben (!) Teile: 1. Das Eine 2. Entzweiung 3. Entgegensetzung – Begegnung 4. Annherung – Entfernung 5. Kon-zentration 6. Auseinander 7. Verwicklungen 8. Zusammenfassung Damit wren wir schon fast bei einer Philosophie des Komponierens. Das Prinzip ist der Grundgedanke einer Komposition, der das Ganze leitet, in der Zeit entfaltet, sei es streng – in »motivischer Arbeit« (mittels »Programmen«!) oder aber frei fantasierend. Und wenn schon Philosophie, warum dann nicht auch noch – verzeihen Sie das einem Theologen – eben Theologie? Das sei freilich nur angedeutet. Die Schlussformel der Psalmodien lautet: »sicut erat in principio, et nunc et semper idem, et in saecula saeculorum«. Und das ist schon fast das Konzept allen Komponierens – mit einer unglaublichen Utopie als Ende und Ziel: »wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit!« Das Amen erspare ich mir und Ihnen. A
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Liste der Beitragenden
Prof. Dr. Konrad Boehmer Instituut voor Sonologie Koninklijk Conservatorium Den Haag Prof. Dr. Norbert Bolz Institut fr Sprache und Kommunikation – Fachgebiet Medienwissenschaft TU Berlin Prof. Dr. Hans-Joachim Braun Professur fr Neuere Sozial-, Wirtschafts- und Technikgeschichte Helmut-Schmidt-Universitt Hamburg Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann Fakultt fr Philosophie und Bildungswissenschaft Universitt Wien PD Dr. Christoph Ltge Department fr Philosophie LMU Mnchen Dr. Claus-Steffen Mahnkopf Komponist Freiburg Dr. Torsten L. Meyer Freier Autor Dortmund Prof. Dr. Dr. Claus-Artur Scheier Seminar fr Philosophie TU Braunschweig
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Prof. em. Dr. Dr. h. c. Dieter Schnebel Fakultt Musik Universitt der Knste Berlin Dr. Charlotte Seither Freischaffende Komponistin und Lehrbeauftragte am Institut fr Musik der Otto-von-Guericke-Universitt Magdeburg sowie an der Hochschule fr Knste Bremen
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Namenregister
Adorno, Th. 8, 13, 14, 16, 18, 19, 43– 60, 69, 128, 133, 134, 184 Alloway, L. 101 Anders, G. 57, 58, 139 Andr, M. 155 Attali, J. 143
Broch, H. 14 Brown, E. 170, 171 Bruckner, A. 130 Bruhn, H. 109, 111, 113 Busoni, F. 131 Byron, Lord 61
Bach, J. S. 16, 68, 69, 111, 114, 122, 130, 139, 150, 169, 173, 182 Bahle, J. 110 Ball, H. 14 Barrett, R. 132, 138 Baudelaire, Ch. 26, 27, 28, 30, 31, 35, 38, 39 Baudrillard, J. 94, 95 Beatles, The 16 Beethoven, L. van 16, 28, 29, 30, 34, 55, 62, 111, 112, 114, 130, 139, 150, 151, 173 Bellini, V. 122 Benjamin, W. 48, 56, 96, 97, 99 Berg, A. 17, 18, 149, 150 Berio, L. 187 Berlioz, H. 18, 130, 136, 190 Bermbach, U. 63 Beuys, J. 95 Bismarck, O. v. 37 Bloch, E. 145 Blome-Drees, F. 72 Boehmer, K. 128ff. Bolz, N. 8, 12ff. Bono 22 Borchmeyer, D. 62 Boulez, P. 23, 134, 170, 186, 189 Bourbon, H. de 66 Brahms, J. 36, 111, 114, 150, 151 Braun, H.-J. 106ff. Braun, W. v. 61 Breig, W. 65 Brentano, F. 85
Cage, J. 15, 20, 21, 132, 151, 170, 171, 173, 174, 177–182, 187, 189, 190 Cahn, P. 114 Callinicos, A. 143, 144 Cameron, J. 165 Chateaubriand, F. de 40 Chopin, F. 130 Clelland, K. 162 Cobain, K. 21 Colli, G. 28 Cowell, H. 122 Dahlhaus, C. 62, 67, 68 Danuser, H. 63, 107, 118 Debussy, C. 130, 186 Derrida, J. 7, 40, 67 Desprez, J. 150, 179 Dobberstein, M. 107, 111 Dmling, W. 119 Dorsey, T. 124 Duchamps, M. 181 Duchesneau, L. 107, 108 Drer, A. 52 Einert, H. 186 Einstrzende Neubauten 20 Eisler, H. 144 Engel, G. 61, 62 Engelmeyer, P. K. v. 109, 110, 113, 114 Ferguson, E. S. 107 Ferneyhough, B. 152, 176 A
Musik – Technik – Philosophie https://doi.org/10.5771/9783495997093 .
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Namenregister Feuerbach, L. 36, 41, 85 Feyerabend, P. 70 Fichte, J. G. 35, 84 Fischer, J. M. 62 Fleischmann, M. 77 Foerster, H. v. 15 Frank, L. 48 Freud, S. 14, 174, 184 Fux, J. J. 169
Hoffmann, E. T. A. 139 Hollnder, H. 107 Homann, K. 64, 66, 71, 72 Homann, R. 64, 69 Honegger, A. 111 Horkheimer, M. 53, 134 Houellebecq, M. 155 Huber, K. 152 Husserl, E. 84, 85, 86
Gadamer, H.-G. 80, 88, 91, 92, 93, 95 Gates, B. 138 Gershwin, G. 124, 139 Glass, Ph. 143, 187 Gli re, R. 120 Glinsky, A. 121, 122 Goethe, J. W. v. 119 Goeyvaerts, K. 134 Goldman, A. 64 Gombrich, E. 61 Goodman, B. 124 Gould, G. 149 Grabowski, H. 106 Gregor-Dellin, M. 40 Gutenberg, J. 116
Ives, Ch. 150
H ba, A. 176 Hahn, O. 176 Haley, B. 135 Haller, H. P. 187, 193 Haug, W. F. 137 Hawkins, J. T. 113 Haydn, J. 111, 113 Hayek, F. A. v. 66 Hegel, G. W. F. 25, 63, 80, 81, 83, 84, 85 Heidegger, M. 32, 35, 36, 86, 128, 153 Hellige, H.-D. 115, 117, 118 Hendrix, J. 21, 23 Henry, P. 186 Henze, H. W. 82, 152 Hesiod 17 Hesse, H. 46 Heymann, M. 106, 117 Hindemith, P. 111, 112, 182 Hitler, A. 70 Hl. Martin 72 Hlderlin, F. 51
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ALBER PHILOSOPHIE
James, R. 21 Jarre, J.-M. 143 Jones, Q. 124 Jourdain, R. 111 Kandinsky, W. 76, 143 Kant, I. 53, 54, 63, 84, 143 Katzenberger, G. 107 Kelterborn, R. 114 Kerst, F. 111 Kesselring, F. 114, 115, 116, 118, 124 Kierkegaard, S. 40, 41, 85 King, S. 21 Kittler, F. 14 Klemperer, O. 45 Koenig, G. M. 186 Knig, W. 108, 109, 110, 113 Kollhoff, H. 70 Kster, K. 111 Kurzweil, R. 155 Lacan, J. 14 Lachenmann, H. 69, 151, 174, 175, 176, 177, 178, 182, 183 Lamartine, A. de 40 Lanner, J. 136 Leibniz, G. W. 16, 173 Leman, M. 111 Lesser, J. 46, 50 Leverkhn, A. 43ff. Lvinas, E. 81 Lvi-Strauss, C. 17, 18 Lewis, J. 124 Liessmann, K. P. 43ff. Ligeti, G. 149 Lloyd-Webber, A. 139
Christoph Ltge / Torsten L. Meyer (Hg.) https://doi.org/10.5771/9783495997093 .
Namenregister Ltge, Ch. 9, 61ff. Luhmann, N. 107 Luk cs, G. 54 Luther, M. 32, 34 Lyotard, J.-F. 69, 143
Ostwald, W. 117 Otto, N. A. 116
Maar, M. 47, 55 Mahler, G. 14, 18, 19, 41, 47, 52, 53, 55, 66, 130, 149, 174, 186, 190 Mahnkopf, C.-S. 147ff. Mallarm, S. 32 Mandelbrot, B. 16 Mann, E. 45 Mann, K. 45, 46 Mann, Th. 8, 43–60 Marinetti, T. 131 Marx, K. 29, 31, 37, 38, 40, 41, 56, 85, 134 Maturana, H. 66 Mauser, S. 112, 119 McLaren, M. 23 McLuhan, M. 12 Mendeleyev, D. I. 122, 123 Mendelssohn, P. de 48 Messiaen, O. 170 Meyer, T. L. 9, 75ff. Meyerbeer, G. 63 Miegel, M. 71 Miller, A. I. 106 Miller, G. 124 Milton, J. 53 Moholy-Nagy, L. 19 Moles, A. 24 Mondrian, P. 19 Monet, C. 143 Montinari, M. 28 Moog, R. 15 Mozart, W. A. 69, 111, 113, 130, 135, 190 Mller, U. 65 Mulligan, G. 124 Mussolini, B. 131 Nietzsche, F. 8, 12, 13, 22, 25–42, 63, 85 Nono, L. 149, 150, 152, 156, 157, 186, 187, 189 Novalis 24, 144
Prt, A. 143 Pasolini, P. P. 156 Pearl Jam 23 Pesk, Z. 190 Petroski, H. 107 Pink Floyd 23 Platon 40 Poe, E. 27, 30, 31, 38 Pohl, R. 130, 131 Presley, E. 21 Purdy, J. 140 Pynchon, Th. 157, 158, 163 Redding, O. 135 Redfield, J. 112 Redtenbacher, F. 109 Reich, S. 187 Reich-Ranicki, M. 46 Reuleaux, F. 109 Reynolds, S. 23 Richard, A. 157 Riedl, J. A. 187 Rieu, A. 143 Rihm, W. 152, 170, 171, 174 Riley, T. 187 Rilke, R. M. 15 Rimski-Korsakow, N. 121 Rsing, H. 109, 111, 113, 114 Ropohl, G. 115 Rummenhller, P. 129 Russolo, L. 19, 131 Sachs, K.-J. 114 S nchez Meca, D. 29 Satie, E. 143 Sauerland, K. 52 Scelsi, G. 150 Schaeffer, P. 134, 186 Scheier, C.-A. 25ff. Schelling, F. W. 17, 144 Scherliess, V. 119 Schiller, F. 28 Schillinger, F. 124 Schillinger, J. M. 120, 121, 122, 123, 124
A
Musik – Technik – Philosophie https://doi.org/10.5771/9783495997093 .
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Namenregister Schnebel, D. 173, 184ff. Schnberg, A. 49, 51, 58, 119, 124, 133, 176, 184, 186 Schopenhauer, A. 25, 26, 28, 29, 30, 31, 36, 38, 41, 63, 64 Schostakowitsch, D. 120 Schubert, G. 112 Schumann, R. 130, 149 Seither, Ch. 168ff. Serres, M. 14 Sex Pistols 23 Slonimsky, N. 122, 123 Sokrates 28 Sorgner, S. 63 Spiegel, H. 20 Spinoza, B. de 30 Starr, S. F. 121 Stockhausen, K. 15, 23, 134, 144, 149, 153, 156, 176, 186, 187, 189 Strauss, J. 136 Strauss, R. 41, 152, 184, 186, 190 Strauss, W. 77 Strawinsky, I. 116, 117, 118, 119, 120, 124, 184 Stuckenschmidt, H. H. 122, 124 Teplitzky, L. 120 Termen, L. 121 Thoreau, H. D. 131, 132 Tschaikowsky, P. I. 135
200
ALBER PHILOSOPHIE
Valry, P. 119 Var se, E. 128, 150, 186 Veale, P. 159, 161 Vedder, E. 23 Verdi, G. 122 Vinci, L. da 116 Virilio, P. 75 Vollmer, G. 64 Voss, R. F. 16 Wagner, R. 8, 12, 13, 16, 17, 18, 19, 22, 25–42, 61–74, 130, 151 Wahl, S. 71 Wallas, G. 110 Wapnewski, P. 65 Watt, J. 116 Webern, A. 51, 58, 119, 170, 176, 186 Wengenroth, U. 106, 117 Werner, H. 169 Wiener, N. 20 Wilhelm II. 70 Williams, R. 61 Wittgenstein, L. 36, 79 Wgerbauer, H. 116, 117, 118, 119, 120, 124 Wolf, H. 130 Xenakis, Y. 15, 128, 149, 186 Zller, G. 64
Christoph Ltge / Torsten L. Meyer (Hg.) https://doi.org/10.5771/9783495997093 .