Mit Absicht rhetorisch: Seelsorge in der Gemeinschaft der Kirche 9783666623899, 3525623895, 9783525623893


126 38 19MB

German Pages [320] Year 2006

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Mit Absicht rhetorisch: Seelsorge in der Gemeinschaft der Kirche
 9783666623899, 3525623895, 9783525623893

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

V&R

Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie

Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne Steinmeier in Zusammenarbeit mit den Zeitschriften PASTORALTHEOLOGIE u n d W E G E ZUM M E N S C H E N

und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft fur Hymnologie

Band 47

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit Absicht rhetorisch Seelsorge in der Gemeinschaft der Kirche

Von Eike Kohler

Mit 5 Abbildungen und 2 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information Der Deutschen

Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar ISBN 3-525-62389-5

© 2006, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung fur Lehr- und Unterrichtszwecke. - Printed in Germany. Druck und Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier

Vorwort Wir stehen als Zwerge auf den Schultern von Riesen - dieses wohlbekannte Bild der Wissenschaftspraxis gilt auch für mich, und ich bin deshalb vielen Menschen zu Dank verpflichtet, ohne die diese Arbeit nicht geworden wäre, was sie jetzt ist. Das gilt nicht nur für die vielen Autoren, deren Namen und Werke im Literaturverzeichnis aufgeführt sind, sondern auch für diejenigen, von deren Gedanken und Ratschlägen ich im persönlichen Gespräch lernen durfte. Vor allen anderen möchte ich hier meinen Doktorvater Eberhard Hauschildt nennen. Er hat auf dem langen Weg, den diese Arbeit von ihrer ersten Idee bis zur gegenwärtigen Gestalt nahm, viele kritische und weiterführende Hinweise gegeben, die Neuausrichtungen der Fragestellung mitgetragen und mir dabei als seinem Assistenten einen großen Freiraum gewährt, die Fragen zu verfolgen, die mir wichtig schienen. Den Teilnehmenden der Doktorandenkolloquien und Sozietäten der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Bonn, denen ich mein Projekt in verschiedenen EntwicklungsStadien vorstellen konnte, bin ich für ihre konstruktive Kritik und weiterführenden Anregungen sehr dankbar, ebenso den Professoren und den Kolleginnen und Kollegen aus dem akademischen Mittelbau der Fakultät für den vielfältigen theologischen Austausch und die freundschaftliche Atmosphäre bei der Zusammenarbeit. Dem Prüfungsausschuß der Fakultät danke ich für die Annahme dieser Arbeit als Dissertation, Prof. Reinhard Schmidt-Rost außerdem für sein Zweitgutachten. Die Erfahrungen, die ich in der kirchlichen Praxis als Ehrenamtlicher in der Gethsemanekirche München, als Vikar in der Trinitatiskirchengemeinde Bonn und als ehrenamtlicher Pfarrer z.A. in der Evangelischen Kirchengemeinde Bornheim sammeln konnte, haben entscheidend zu diesem Buch beigetragen. Danken möchte ich allen, denen ich während meiner Tätigkeit dort begegnet bin, besonders aber meinem VikariatsMentor Uwe Grieser, dem Predigerseminar Bad Kreuznach und meinem dortigen Seelsorge-Lehrer Michael Fuhr, und schließlich den Mitgliedern meiner Regionalgruppe, von deren theologischem Urteil und von deren Freundschaft ich bis heute profitieren darf. Meine Heimatkirche, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, hat mich nicht nur ausbilden lassen und ordiniert, sondern auch für dieses Projekt über mehrere Jahre beurlaubt und einen Teil der Druckkosten übernommen. Für diese großzügige Förderung bin ich den Verantwortlichen sehr dankbar. 5

Dem Verlag Vandenhoeck&Ruprecht und seinem Lektor Jörg Persch sowie Prof. Jürgen Ziemer als Mitherausgeber danke ich für die Aufnahme in die Reihe Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie; Eva Jain, Tina Bruns und Rudolf Stöbener für die Unterstützung bei der Druckvorbereitung und Ursula Hofmeister, Amrei Kohler und Mareike Carlitscheck fürs Korrekturlesen in einem früheren Stadium der Arbeit. Danken möchte ich schließlich auch den Verlagen Augsburg Fortress, Frommann-Holzboog, Hanser, Olims und Waveland für die Erlaubnis zum Abdruck von Grafiken. Ein Buch wie dieses kostet viel Energie — nicht nur denjenigen, der es schreibt. Ich danke deshalb ganz besonders meiner Frau Inge und meinen beiden Söhnen Sören und David für die Entbehrungen, die sie in den letzten Jahren auf sich genommen haben. Ohne ihre liebevolle Zuwendung und Unterstützung wäre dieses Buch nie geschrieben worden. Das gleiche gilt für meine Eltern. Die Prägungen, die sie mir vermittelt haben, sind ebenso wie ihre Förderung meines Studiums ein Teil der Schultern geworden, auf denen ich heute stehe. Ihnen sei dieses Buch gewidmet. Bonn, im Oktober 2005

6

Eike Kohler

Inhalt Einführung

11

1. Professionalisierung (in) der Seelsorge 2. Individualisierung und Seelsorge 3. Forschungskontext

13 15 17

Kapitel 1: Die Gemeinschaft der Kirche als Kontext von Seelsorge

23

1. Kirche als seelsorgerliche Gemeinschaft — die Verschränkung von Seelsorge und Ekklesiologie bei D. Bonhoeffer 2. Das Verhältnis von Seelsorge und Kirche Gemeinde inpoimenischen Konzeptionen des späten 20. Jahrhunderts 2.1 Seelsorge als Eingliederung in die Gemeinschaft unter Gottes Wort (E. Thurneysen) 2.2 Seelsorge als Stärkung des in einer Krise stehenden Menschen durch den Glauben der Kirche (D. Stollberg) 2.3 Seelsorge als Wesensäußerung der ganzen Gemeinde (R. Bohren) 2.4 Seelsorge als Ausdruck und Bewahrung christlicher Gemeinschaft (H. van der Geest) 3. Kirchentheoretische Vertiefung: Seelsorge als Funktion von Kirche — Kirche als System der Kommunikation des christlichen Wirklichkeitsverständnisses (K Preul) 3.1 Kirche als gottesdienstliche Verkündigung 3.2 Kirche als Kommunikationssystem 3.3 Funktionen der Kirche für die Gesellschaft: Lebensbegleitung und Sprachspiel-Pflege 4. Dogmatische Vertiefung: Kirche als communio sanctorum 5. Soziologische Vertiefung: Gemeinschaft und Gesellschaft 6. Gemeinschaftstheoretische Vertiefung: Gemeinschaft als partikulare Wir-Gruppe 6.1 Die Rationalität von partikularen Gemeinschaften 6.2 Kommunikation über Werte als Basis von Gemeinschaft 6.3 Werte als intersubjektive Regeln für Präferenzaussagen 6.4 Das Verhältnis von Individuum und Wir2-Gemeinschaft 6.5 Das Gespräch als Medium zur Aufrechterhaltung von Gemeinschaft 7. Exkurs: Seelsorge und Kirche in systemtheoretischer Sicht ßsolde Karle) 8. Zusammenfassung: Seelsorge als Sorgefür den Fortbestand der communio sanctorum

25 28 28 33 37 40 42 44 46 51 54 60 64 66 67 68 70 72 73 75

7

Kapitel 2: Rhetorik als gemeinschaftsorientierte Kommunikationstheorie 1. Rhetorik im Kontext von Seelsorge 1.1 Rhetorik als Reflexionsperspektive (Gert Otto) 1.2 Die Verbindung von Rhetorik und Theologie in der Arbeit an und mit sprachlichen Symbolen (Manfred Josuttis) 1.3 Exkurs: Der Status der Metapher in der Dogmatik 1.4 Das >Rhetorische< als Gegenstand von Seelsorge (Thomas Erne) 2. Anthropologische Grundlegung 2.1 Die Angewiesenheit des Menschen auf Rhetorik 2.2 Das Problem der Gewalt in der Rhetorik 2.3 Die Wechselseitigkeit rhetorischer Akte 2.4 Rhetorik als Technik zur Herstellung gemeinschaftlicher Gewissheit 5. Semiotische Grundlegung 3.1 Semiotische Grundkonzepte: Dreistelligkeit und unendliche Semiose 3.2 Rhetorik als Zweig der Semiotik 3.3 Zeichen und ihre Wirkung 4. Rhetorik und Ästhetik 5. Rhetorik und Symboltheorie 5.1 Die rhetorische Funktion von Symbolen 5.2 Symbol-Zeichen und Selbstobjekt-Erfahrung 6. Rhetorik und Therapie 6.1 Psychoanalyse als Sonderfall rhetorischen Sprachgebrauchs 6.2 Die therapeutische Grundhaltung in der Klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie und das rhetorische Ideal des vir bonus 6.3 Die Kurzzeittherapie als rhetorisches Therapieverfahren

81 84 84 88 89 92 102 102 104 107 107 108 109 112 112 116 118 118 120 127 127 129 132

Kapitel 3: Rhetorische Theorie für die Seelsorge

136

1. Vorüberlegungen 1.1 Die Ubiquität von Rhetorik 1.2 Rhetorik in der Seelsorgelehre 1.3 Rhetorik im Seelsorgegespräch 2. Rhetorik als Gestaltung wirksamer Rede 2.1 Die rhetorischen Arbeitsschritte als Reflexionsperspektiven 2.2 Angemessenheit (aptum) als rhetorisches Fundamentalprinzip 2.3 Logos, Ethos und Pathos die Grundkategorien rhetorischer Wirkung 3. Inventio Teil I: Gegenstand und Aufgabe wahrnehmen 3.1 Kriterien zum Erfassen der Aufgabe (intellectio) in der antiken Rhetorik 3.2 Die aristotelischen Redegattungen und ihre semiotische Deutung

136 136 138 140 142 142 143

8

145 147 148 150

4.

5.

6.

7.

8.

9.

3.3 Gebräuchliche Interaktionsmuster als Gesprächsgattungen 3.4 Intellectio und Seelsorgegespräch Inventio Teil II: Akzeptable Argumente finden 4.1 Topik zwischen Methode und Klischee-Sammlung 4.2 Klassische Kategorien der Topik bei Quintilian 4.3 Theoretische Grundlegung: Topik als >Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft* 4.4 Topische Strukturelemente: Habitualität, Potenzialität, Intentionalität und Symbolizität 4.5 Die typologische bzw. klassifikatorische Funktion der Topik 4.6 Topik und Lebenswelt/ Milieuspezifische Topik 4.7 Topisch wirksame Einzelelemente im Gespräch 4.8 Topik und Seelsorge Dispositio: Den Weg^ur Gemeinschaft gestalten 5.1 Natürliche und künstliche Anordnung 5.2 Ordnungsschemata 5.3 Ein topisches System von Schlußregeln für die Argumentation 5.4 Ein topisches System der Alltagslogik 5.5 Argumentation als Rechtfertigung und Kasuistik 5.6 Die >klassische< Einteilung der Rede 5.7 Kommunikative Grundtypen und Strategien 5.8 Gesprächsfiguren 5.9 Moves and Structures: Textherstellung als Dramaturgie 5.10 Dispositio und Seelsorge Elocutio: Der Sache Gestalt verleihen 6.1 Redestile — Situation und Rahmenbedingungen berücksichtigen 6.2 Tropen und Figuren als Zeichen im Sinne der Semiotik von Charles S. Peirce 6.3 Die Tropen und Figuren in der antiken Rhetorik 6.4 Sprachliche Gestaltung in der Seelsorge: Bilder und Formen als Wegzeichen Memoria: Nachhaltigkeit unterstützen 7.1 Memoria in der antiken Rhetorik 7.2 Memoria und kollektives/kulturelles Gedächtnis 7.3 Memoria und Seelsorge: Die Frage nach Einfachheit und Einprägsamkeit Actio: Beziehung ausdrücken 8.1 Actio in der antiken Rhetorik 8.2 Actio als Gestaltung von Ausdruck — moderne Ansätze 8.3 Actio und Seelsorge: Durch Ausdruck Beziehung gestalten 8.4 Exkurs: Beziehung gestalten im Wechsel von Rede und Gegenrede Fa%it: Die Bedeutung der Rhetorik für die Seelsorge

153 153 156 156 158 159 162 165 166 169 171 173 173 174 174 180 189 194 199 203 206 211 211 212 214 218 220 222 222 223 225 226 226 228 229 230 237

9

Kapitel 4: Rhetorische Gesprächsanalyse

239

1. Seelsorge als alltägliches Gespräch: ein Geburtstagsbesuch 1.1 Der Geburtstagsbesuch als Gesprächsgattung 1.2 Auswahl des analysierten Gesprächs und Interpretationsansatz 1.3 Detailanalyse: Gespräch über Beerdigung und Tod 1.4 Small Talk: Seelsorge im Alltagsgespräch 2. Seelsorge als Kasualgespräch: Ein Traugespräch 2.1 Das Kasualgespräch als Gesprächsgattung im Kontext der Kasualhandlung 2.2 Detailanalyse 2.3 Gemeinschaft im Interesse am Segen fur dieses konkrete Leben 3. Seelsorge als Beratung im Konfliktfall: Ein Eheberatungsgespräch 3.1 Das Beratungsgespräch als Gesprächsgattung 3.2 Auswahl und Analysemethoden 3.3 Detailanalyse

241 241 243 244 257 258

3.4 Der Nutzen der Kasuistik für die Seelsorge

259 263 276 278 279 282 282 293

Fazit und Ausblick

297

Literatur

303

Personenregister

318

10

Einführung Jegliche Kommunikation ist rhetorisch — mit diesem Satz könnte man die Überlegungen des Kommunikationswissenschafders H. Walter Schmitz zusammenfassen. Schmitz legt dar, dass die Rhetorik nicht einen besonderen Bereich menschlicher Kommunikation zu ihrem Gegenstand hat, sondern vielmehr rhetorische Kategorien »als elementare Grundprozesse sprachlicher Kommunikation selbst aufzufassen«1 sind, weil Verstehen in der Kommunikation nur dadurch zustande kommt, dass ein Hörer/ eine Hörerin sich in Bezug auf seine/ihre Verstehenshandlungen den sprachlichen Anweisungen eines Sprechers/ einer Sprecherin (zumindest teilweise) unterwirft.2 Die vorliegende Arbeit nimmt dieses Verständnis von Rhetorik und Kommunikation ernst und wendet es auch auf die Kommunikation in der Seelsorge an. Sie plädiert dabei für eine Seelsorge, in der nicht nur de facto, sondern mit Absicht rhetorisch kommuniziert wird, d.h. mit bewusstem und reflektiertem Einsatz rhetorischer Mittel. Die vorliegende Arbeit sieht es aber auch als in höchstem Maße relevant an, mit welcher Absicht in der Seelsorge rhetorisch kommuniziert wird. Sie stellt diese Frage allerdings nicht analytisch mit Hilfe empirischer Studien, sondern konstruktiv, indem sie — aus noch zu benennenden Gründen — bei der Gemeinschaft ansetzt, die Seelsorger/Seelsorgerin und seelsorgesuchende Personen verbindet, sofern sie Seelsorge in Anspruch nehmen: bei der Gemeinschaft der Kirche. Diese fundamentalpoimenische Bestimmung und ekklesiologische Fundierung über den Begriff der Gemeinschaft wird in Kapitel 1 dieser Arbeit entwickelt. Die formale und materiale Konkretion erfolgt dann primär mit Hilfe von Rhetorik als Bezugswissenschaft, nicht nur, weil Seelsorge ein grundlegend kommunikatives Geschehen ist und ihre Praxis deshalb auch rhetorisch zu entwickeln ist, sondern auch weil Rhetorik zumindest in einem Teil ihrer vielfaltigen Traditionsstränge gerade die Frage nach dem Entstehen von Gemeinsamkeit in der Wahrnehmung der Welt und von Gemeinschaft in dem darauf gründenden Handeln zu ihrem Gegenstand hat und sich aufgrund ihrer geschichtlichen Gestalt als produktionsorientierte Universaldisziplin die Anschlussfähigkeit an eine Vielzahl von Fragestellungen ganz unterschiedlicher Disziplinen bewahrt hat. Dabei wird in Kapitel 2 zunächst der in dieser Arbeit verwendete Rhetorikbegriff hinsichtlich seiner anthropologischen und semiotischen Grundlagen in den Blick genommen und dessen Verbindungen zu Ästhetik, 1 Schmitz 1996,153. 2 Vgl. Schmitz 1996,152. 11

Symboltheorie und Psychotherapie erläutert, die für eine notwendig mit Sprache arbeitende Seelsorge ebenfalls bedeutsam bleiben. In Kapitel 3 richtet sich der Blick dann auf den materialen Bestand der rhetorischen Theorie. Da die Rhetorik heute nicht mehr als in sich geschlossene Disziplin besteht, sondern gegenwärtige rhetorische Theoriebildung meistens in Form von locker mit der antiken Tradition verbundenen rhetorischen Fragestellungen in vielen Einzeldisziplinen erfolgt, kann diese Arbeit nur einen grundlegenden Überblick über wichtige Theorieelemente geben, wobei in der Auswahl wie in der Darstellung der Ertrag für das Verständnis und das Führen von Seelsorgegesprächen im Vordergrund stand. Den Ertrag einer gemeinschaftsorientiert angelegten und rhetorisch konkretisierten Konstruktion von Seelsorge für das Verständnis von Seelsorgegesprächen soll Kapitel 4 der Arbeit an konkreten Beispielen aufweisen. Hier wird an drei bereits publizierten Fällen aus der Seelsorgepraxis verdeutlicht, welche Einsichten in seelsorgerliche Praxis die hier vorgestellte rhetorische Theorie ermöglicht, und dabei auch der Versuch unternommen, Konsequenzen einer fundamentalpoimenischen Orientierung am Begriff der Gemeinschaft aufzuzeigen. Dass die drei untersuchten Beispiele drei Publikationen entstammen, denen jeweils ein völlig anderes Verständnis von Seelsorge zugrunde liegt, soll die Anschlussfahigkeit und zugleich die bestehenden Differenzen im Blick auf die damit präsenten Konzeptionen (verkündigende Seelsorge, therapeutische Seelsorge, Alltagsseelsorge) zur Darstellung bringen. Zur Einführung wird jedoch zunächst das derzeit die kirchliche Seelsorgeausbildung dominierende Konstrukt einer professionellen, am therapeutischen Paradigma orientierten Seelsorge zu betrachten sein. Bei allen unbestrittenen Verdiensten wurde doch in jüngerer Zeit von verschiedenen Seiten auch Unzufriedenheit mit diesem Konstrukt geäußert. Diese Unzufriedenheit lässt sich m.E. auf ein zu individualistisches Verständnis von Seelsorge zurückführen; die vorliegende Arbeit stellt in ihrer Orientierung an Gemeinschaft einen Versuch dar, die Kritikpunkte am therapeutischen Konstrukt aufzunehmen, ohne hinter die mit ihm erreichte Professionaüsierung von Seelsorge zurückzufallen. Den Schluss der Einführung bildet ein kurzer Rundgang durch praktisch-theologische Untersuchungen, die auf verschiedene Weise zur Klärung der Beziehungen im Dreieck von Seelsorge, Rhetorik und Gemeinschaft beigetragen haben. Auf diesem Weg möchte die vorliegende Arbeit in pragmatischer Weise einen Begriff von Seelsorge konstruieren,3 der weder normativ 3 »Das Phänomen Seelsorge selbst ist nur als bereits gedeutete, interpretierte Wirklichkeit da. In diesem Sinne gilt: »[...] >Seelsorge< selbst ist (deutlicher noch als >Predigt< und >ReligionsunterrichtMenschenkenntnis< verhandelt und weitgehend der individuellen Erfahrung anheim gestellt wurde, findet sich heute in einer Vielzahl psychologischer Theorien breit ausdifferenziert und qualifiziert beschrieben — einschließlich der Umsetzung in komplexe Therapieverfahren. Die Seelsorgelehre hat seit ihrer >empirischen Wende< viele dieser Forschungsergebnisse rezipiert und für ihr eigenes Praxisfeld umgesetzt. Wichtige psychologische Konzepte und Theorien werden zukünftigen hauptberuflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern (nicht nur im Pfarramt) bereits in der ersten Ausbildungsphase vorgestellt sowie in den anschließenden Vikariaten und Anerkennungsjahren auch praktisch eingeübt und vertieft. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit zur weiteren Qualifizierung durch eine Fülle von Zusatzausbildungen. Insbesondere in kirchlichen Beratungs- und Funktionsstellen z.B. im Bereich der Krankenhausseelsorge gehören solche Zusatzausbildungen heute weitgehend zu den Anstellungsvoraus Setzungen; auch ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden in zunehmendem Umfang für den Dienst in seelsorgerlichen Arbeitsfeldern (Telefonseelsorge, gemeindliche Besuchsdienste, Krankenhausbesuchsdienste) geschult. Daneben werden gerade in Beratungsstellen häufig auch Teams gebildet, in denen neben theologisch ausgebildeten Beraterinnen und Beratern auch Fachleute aus nicht-theologischen Disziplinen tätig sind. All dies hat dazu geführt, dass kirchliche Beratungsarbeit in ihrer professionellen Gestalt heute aufgrund ihrer qualitativ hochwertigen Hilfe weitgehende gesellschaftliche Anerkennung genießt und häufig in Anspruch genommen wird. Die enge Anlehnung an die Psychologie und Psychotherapie, die diesen Professionalisierungsschub ermöglicht hat, führte jedoch auch zu 13

teils heftiger Kritik. Dass kirchliche Beratungsarbeit häufig nur geringe Beziehungen zu anderen kirchlichen Angeboten aufweist und selbst von Außenstehenden nicht notwendigerweise als kirchliches Angebot wahrgenommen wird, bietet einen ersten Anlass; wichtiger wurden aber grundlegende theoretische Anfragen. 4 Mit dem Aufkommen einer neuen, therapeutischen Ausrichtung von Seelsorge wurde von anderen Seelsorgekonzeptionen her die Vereinbarkeit von psychotherapeutischen und theologischen Grundsätzen in Frage gestellt; in den daraus entstandenen heftigen Disputen wurden allerdings Wege entwickelt, sowohl die Rezeption psychotherapeutischer Forschungen theologisch zu rechtfertigen wie auch diesen Rezeptions- und Adaptionsprozess an theologische Kriterien zu binden. Noch ungeklärt sind hingegen weitere Vorwürfe, die der psychotherapeutisch orientierten Seelsorge gemacht werden. Der derzeit wichtigste Kritikpunkt bezieht sich auf die Therapeutisierung der Seelsorge: Weil Seelsorge in Anlehnung an die Psychotherapie von einem Rollenmodell ausgehe, in dem sich Helfer/Helferin und hilfsbedürftige Person gegenüberstehen, werde das faktisch meist bestehende Machtgefälle durch die im Rollenmodell vorausgesetzte Annahme eines bestehenden und zu behebenden Defizits auf Seiten des/der Hilfesuchenden institutionell abgesichert und auf Dauer gestellt. Dieses >Defizitmodell< mache ein partnerschaftliches oder geschwisterliches Verhältnis, wie es dem christlichen Menschenbild entspreche, weitgehend unmöglich. Mit dem Vorwurf der Therapeutisierung verbindet sich die Kritik an der Privatisierung von Problemen. Weil das Defizit bei dem/der Hilfesuchenden angesiedelt wird, wird auch in einer Veränderung von deren/ dessen Person die Lösung des Problems gesucht. Demgegenüber wird heute von verschiedenen Seiten auf eine erweiterte Wahrnehmung der sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gedrängt, die ein zunächst am Individuum sichtbares Problem verursachen, verstärken und dessen Lösung verhindern können. Ein dritter Kritikpunkt liegt schließlich in der Professionalisierung selbst begründet: die hohen Standards einer professionellen, am therapeutischen Paradigma orientierten Seelsorge seien nur durch Zusatzausbildungen zu erreichen und damit entstehe innerhalb der kirchlichen Mitarbeiterschaft eine Frontbildung zwischen den entsprechend qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und denen, die ohne besondere Zusatzqualifikation in diesem Bereich tätig seien. Die Basis für diese Kritik liegt in der kirchlichen Praxis begründet, theologisch ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, vor allem im Pfarrberuf, in der Regel als Generalisten mit der Verantwortung für einen bestimmten Personen-

4 Zur Zusammenstellung der im folgenden genannten Kritikpunkte vgl. Ziemer

2000,101-106. 14

kreis zu betrauen und nicht für einen bestimmten Tätigkeitsbereich, in dem sie besonders qualifiziert sind. Diese Praxis ist freilich nicht unbegründet, weil angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Ausdifferenzierung und Spezialisierung gerade im Zusammenhang mit den existentiellen Fragen, die das Religionssystem zu bearbeiten hat, das Bedürfnis nach einem Ansprechpartner/ einer Ansprechpartnerin besteht, der/ die noch den Zusammenhang zwischen dieser Fragmentiertheit des eigenen Lebens und dessen Einheit im Welt- und Gottesverhältnis aufzeigen kann. Solange jedoch Seelsorge in Anlehnung an das therapeutische Paradigma als »zwischenmenschliche Hilfe mit seelischen Mitteln«5 bestimmt wird, können alle Formen von Seelsorge nur an den im Dialog mit der Psychotherapie entwickelten professionellen Standards gemessen werden, was zu dem Dilemma führt, dass die Tätigkeit von fertig ausgebildeten Pfarrerinnen und Pfarrern (und anderen kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern) in der Seelsorge, die ja ein zentrales Tätigkeitsfeld ihres Berufs darstellt, nur als defizitär beschrieben werden kann.

2. Individualisierung und Seelsorge Reinhard Schmidt-Rost hat in seiner 1988 erschienenen Tübinger Habilitationsschrift die Gründe und Auswirkungen einer seit dem 19. Jahrhundert mit der Professionalisierung einhergehenden zunehmenden Individualisierung im Bereich der Seelsorge beschrieben. Nach seiner Beobachtung hat die Seelsorge auf die sozialen Umbrüche im Zusammenhang der Industrialisierung, mit der auch die traditionelle Verbindung von Christentum und Gesellschaft wegfiel, mit einem Umbau der bisher am Verhältnis des einzelnen Menschen zu einem als christlicher Gesellschaft verstandenen Ganzen reagiert. Das Ergebnis dieses notwendigen Umbaus war eine Seelsorge, die sich nicht mehr auf allgemein anerkannte Lebensformen stützen konnte und deshalb ganz auf den einzelnen Menschen ausgerichtet wurde: Die evangelische Seelsorgelehre der Gegenwart scheint sich [...] dem Individualismus mit einer Intensität verschrieben zu haben, die jegliche soziale Orientierung ihres Handelns entbehren zu können scheint. Der einzelne Mensch in seinen Bedrängnissen und Bedürfnissen, aber auch in seinen Entwicklungsmöglichkeiten wird als Maßstab der Seelsorge gesetzt, d.h. die individuellen Maßstäbe christlicher Orientierung müssen am und vom einzelnen immer erst gefunden werden.6

5 Stollberg 1978, 23. 6 Schmidt-Rost 1988, 12f.

15

Ein wesentlicher Grund für die dargestellte Individualisierung war das Interesse der Poimenik des 19. Jahrhunderts, einen im wissenschaftlichen Diskurs der Zeit anerkannten Ersatz für die bisherige pastoraltheologische Orienderung an der Tradition zu finden. Dabei bot sich die Aufnahme anthropologischer Erkenntnisse an, die dann zur Konzentration der Aufmerksamkeit auf das Individuum führten. Das Interesse der Seelsorger, ihre Arbeit auf wissenschaftliche Grundlage zu stellen, führte zur Orientierung am Paradigma eines theoriegestützten Handelns, mit dem ein gegebener Zustand auf wissenschaftlich abgesicherte methodische Weise in einen wissenschaftlich als besser erwiesenen anderen Zustand überführt werden sollte. »In dieser Situation lag die Orientierung der Pfarrer bei der Gestaltung ihres Seelsorgeauftrags am Vorbild des zu hohem Ansehen aufsteigenden naturwissenschaftlich gebildeten Facharztes nahe.«7 Diese Ausführungen von Schmidt-Rost bestätigen meines Erachtens, dass die oben dargestellten Probleme einer professionellen Seelsorgepraxis mit der perspektivischen Verengung zusammenhängen, die in der Seelsorge lediglich die Interaktion zweier Individuen sieht, ohne deren Gemeinsames weiter zu bedenken. Schmidt-Rost selbst verweist gegenüber dem Ziel der modernen Seelsorge, »den einzelnen durch eine intensive Beachtung seiner Probleme in seiner individuellen Verantwortungsfahigkeit so weit zu fördern, daß er zu einer vernünftigen christlichen Lebensgestaltung fähig wird«,8 mit Luther auf einen anderen Sinn evangelischer Seelsorge: Luther rechne nicht mit der Möglichkeit realer Unabhängigkeit und »zielt deshalb auf eine wechselseitige Verantwortung im Sinne einer gegenseitigen Einweisung in die gemeinsame Verbindlichkeit und Geborgenheit im Alltag durch Orientierung am Sinn der Sprache und damit an der im Wort immer schon vorliegenden und vorauszusetzenden, aber auch nur dort gegebenen und zu gewinnenden Ordnung.«9 Aus diesem Grund fordert Schmidt-Rost eine Poimenik, mit deren Hilfe »die Selbständigkeit des einzelnen durch eine intensive Orientierung an einem gemeinsamen, Bedeutung vermittelnden Sinn«10 ermöglicht werde, und die den Anspruch beinhaltet, »daß der christliche Glaube eine besondere Perspektive von menschlichem Leben eröffne, nicht in eine besondere Gemeinschaft führt oder nur für den Sonderfall, eine Krise, ein Problem, wirksam werde«.11 Schmidt-Rost versteht besondere Gemeinschaft in diesem Zusammenhang als »ein Subsystem der Gesellschaft«12 und wendet sich gegen evangelikal-sektiererische, in sich geschlossene Gruppen. Insofern die 7 Schmidt-Rost 1988, 75. 8 Schmidt-Rost 1988, 119. 9 Schmidt-Rost 1988,120. 10 Schmidt-Rost 1988, 119. 11 Schmidt-Rost 1988,125. 12 Schmidt-Rost 1988,123.

16

vorliegende Arbeit den Begriff der Gemeinschaft anders füllt und Gemeinschaft nicht als Subsystem der Gesellschaft, sondern als quer zu der in Institutionen und Systeme gegliederten Gesellschaft gedacht wird, kann sie den von Schmidt-Rost verfolgten Intentionen gerecht werden, indem sie gerade den Gemeinschaftscharakter von Kirche und Seelsorge betont. Das hier vorzustellende Konzept einer gemeinschaftsorientierten Seelsorge nimmt daher in Aufnahme der Intentionen Schmidt-Rosts den Ausgangspunkt nicht bei den am Gespräch beteiligten Individuen, sondern gerade bei dem, was diese Individuen verbindet. Deshalb wird Seelsorge im folgenden weder vom Auftrag der Kirche zur Verkündigung des Evangeliums noch von der anthropologischen Konstante zwischenmenschlicher Hilfe her bestimmt, sondern von dem Kontext her, in dem Seelsorge üblicherweise stattfindet: als Kommunikation zwischen zwei (oder mehr) Mitgliedern einer als Gemeinschaft verstandenen Kirche. Wie diese im Begriff der Kirche als Gemeinschaft gegebene Basis für Seelsorge formal und inhaltlich näher zu bestimmen ist, wird im nächsten Kapitel weiter geklärt werden. Die Grundthese der im folgenden zu entwickelnden Konstruktion von Seelsorge sei jedoch hier bereits genannt: Seelsorge ist Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von christlicher Gemeinschaft mit den Mitteln rhetorischer Kommunikation. 3. Forschungskontext Die Zahl der Monographien und Aufsätze, die sich mit ganz unterschiedlichen Fragestellungen ebenso unterschiedlichen Aspekten der Poimenik widmen, ist gegenwärtig selbst für Fachkundige nur noch schwer überschaubar. Soweit ich sehe, ist die oben vorgestellte These in der poimenischen Diskussion zumindest im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert so nicht vertreten worden, aber sie entstand selbstverständlich nicht im luftleeren Raum. Beschränkt man den Blick auf die zentralen Fragestellungen der vorliegenden Arbeit, so findet sich immer noch eine Vielzahl von Autoren, die das Verhältnis von Kirche und Seelsorge bedacht haben. Einige aus diesem Spektrum ausgewählte Positionen werden in Kapitel 1 in die Diskussion um einen für die Seelsorge relevanten Gemeinschaftsbegriff einbezogen. Bereits an dieser Stelle zu nennen ist dagegen die Arbeit »Im Anfang ist Gemeinschaft. Personzentrierte Gruppenarbeit in Seelsorge und Praktischer Theologie« des Wiener katholischen Theologen und Psychotherapeuten Peter F. Schmid. Seelsorge ist dabei vom katholischen Sprachgebrauch her umfassend als pastorale Tätigkeit zu verstehen; Schmid begründet in seiner Arbeit unter Berufung auf die von Linien gentium ausgehende Communio-Ekklesiologie ausführlich, warum kirchliche Praxis im 17

Kern personzentrierte Begegnungsarbeit in kirchlichen Gruppen sein sollte: Denn die (vernetzte) Gruppe ist nicht nur in soziologischer Perspektive und pragmatisch die heute angemessene und praktikable Sozialform der Kirche als Gemeinde (etwa in der Überwindung von Anonymität und Entfremdung), sondern ihr Stellenwert ist darüber hinaus theologisch zu begründen: Sie ist Ort gemeindlicher Glaubenserfahrung, Ort der Erfahrung von Koinonia und letztlich Zeichen der Koinonia Gottes, also gleichsam >Sakrament der TrinitätBegegnungsgruppeguten< Gruppen erfahren werden.13 Dass Gruppenprozesse als Seelsorge verstanden werden können, ist auch in evangelischen Konzepten beschrieben worden.14 In der vorliegenden Konstruktion wird der Begriff >Seelsorge< jedoch um der Konzentration auf die wesentlichen Grundzüge willen enger gefasst: als Gespräch, das im wesentlichen als Interaktion zwischen einem Seelsorger/ einer Seelsorgerin und einem oder mehreren Gemeindeglied(ern) stattfindet; kommunikative Prozesse der Gemeindeglieder untereinander bleiben dabei außer Betracht, ohne dass deren seelsorgerliches Potential damit geleugnet wird.15 Da die vorliegende Arbeit zudem auf die ekklesiologischen Grundlagen von Seelsorge nur soweit eingeht, wie dies zur Entwicklung der darauf basierenden Seelsorgekonzeption notwendig ist, bleibt nur der Hinweis, dass Schmids Arbeit von ihrer ekklesiologischen Basis und ihren Intentionen im Blick auf Grundlinien kirchlicher Praxis dieser Arbeit nahe steht, ohne dass Übereinstimmungen und Differenzen hier im Einzelnen ausgeführt werden können. Die Verbindung von Seelsorge und Rhetorik scheint weniger gebräuchlich. Zwar hat Gert Otto mit seiner Einbindung der Rhetorik als eine von mehreren Reflexionsperspektiven quer zu allen Handlungsfeldern in den »Grundlagen der Praktischen Theologie« einen Begriff 13 Schmid 1998,149. 14 Vgl. z.B. Stollberg 1971; Hoch 1979. 15 Insofern Seelsorge hier so verstanden wird, daß ihre Ausübung lediglich von der Akzeptanz als Repräsentant/Repräsentantin der Gemeinschaft abhängt, handelt es sich nur um eine Frage zunehmender Komplexität, wenn im gleichen Gespräch alle Mitglieder einer Gruppe seelsorgerliche Aufgaben aneinander wahrnehmen.

18

von Rhetorik entwickelt, der diese für die Praktische Theologie insgesamt anschlussfahig machen sollte, und hat in jüngerer Zeit darauf verwiesen, dass sich eine solche allgemeine Begründung auch bei Manfred Josuttis finde;16 bei beiden Autoren beschränken sich die Ausführungen zur Rhetorik jedoch auf eine allgemeine, nicht handlungsfeldspezifische Darstellung, die lediglich im Blick auf die Homiletik weitere Konkretionen erfahrt. Die damit geleistete grundlegende Verhältnisbestimmung von Rhetorik und Praktischer Theologie wird in Kapitel 2 für die genauere Bestimmung eines poimenisch relevanten Rhetorik-Begriffs herangezogen. Meines Wissens stellt die 2002 erschienene Tübinger Habilitationsschrift »Rhetorik und Religion. Studien zur Praktischen Theologie des Alltags« von Thomas Erne den bisher einzigen Versuch dar, Rhetorik gezielt mit dem Handlungsfeld Seelsorge in Beziehung zu setzen. Dabei ist Erne allerdings primär an einer phänomenologischen Klärung des Verhältnisses von Religion und Lebenswelt interessiert, die er im Anschluss an Blumenberg über den Begriff des >Rhetorischen< als einer vorkommunikativen Qualität der Lebenswelt vornimmt: das >Rhetorische< dämmt Kontingenz ein und ermöglicht Vertrautheit mit der Lebenswelt, indem sie alternative Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten ausblendet und in ihrer Ausblendung doch zugleich präsent hält. Rhetorik als aus der antiken Tradition abgeleitete Kunstlehre versteht Erne dagegen als auf kommunikative Verständigung beschränkt, weshalb er sie zugunsten einer grundlegenderen phänomenologischen Bestimmung des Rhetorischen nicht weiter behandelt. Nicht zuletzt aus diesem Grund bleiben seine Konkretionen für die Seelsorge dann sehr allgemein gehalten im Sinne einer Zielangabe ohne ausführliche methodische Erwägungen; auch die als Beispiel integrierte Analyse eines Interviews (nicht Seelsorgegesprächs!) mit einem Ehepaar, das ein Kind verloren hatte, vermag zwar die Präsenz und Wirksamkeit des Rhetorischen im Gespräch aufzuweisen, enthält aber keine differenzierten Hinweise auf den seelsorgerlichen Umgang mit diesem Phänomen. Im Bereich der Grundlegung einer für die Seelsorge relevanten Rhetorik leistet Erne jedoch Entscheidendes; seine Arbeit wird deshalb in Kapitel 2 breiter dargestellt. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang noch zwei Arbeiten, die zwar weder Rhetorik noch Gemeinschaft explizit zum Gegenstand haben, aber ihr Thema jeweils unter Anwendung linguistischer Theorien behandeln und damit ein Theoriegebäude heranziehen, das selbst in der Rhetorik verwurzelt ist17 und daher ähnliche und teilweise gleiche Frage16 Vgl. Otto 1998, 188; die Formulierung, auf die Otto hier verweist, findet sich allerdings bei Josuttis eher beiläufig an wenig prominentem Ort, nämlich zu Beginn eines vorher unveröffentlichten Aufsatzes »Uber Idealbilder in der Predigt« im Sammelband »Rhetorik und Theologie in der Predigtarbeit«, vgl. Josuttis 1985,142f. 17 Vgl. Kalverkämper 2000.

19

Stellungen und Theorieelemente bereitstellt, wie sie die vorliegende Konstruktion von Seelsorge einbezieht. Auch wenn Ursula Roths Analyse von Beerdigungsansprachen 18 auf den ersten Blick keinen direkten Bezug zur Seelsorge aufweist, ist die Münchner Dissertation der Steck-Schülerin für die vorliegende Konstruktion von Seelsorge relevant, weil sie eine weit verbreitete Meinung widerlegt, die eine Kernaufgabe von Seelsorge betrifft: dass sich Trösten und Argumentieren gegenseitig ausschließen würden. Auf der Basis wissenssoziologischer und linguistischer Analysen zeigt Roth, dass Beerdigungsansprachen gerade darin tröstend wirken, dass »sie argumentativ eine Deutung des Todes vorbringen, durch die dessen anomischer Charakter relativiert und somit - trotz der Erfahrung des Todes - die Neukonstruktion der Lebenswelt ermöglicht wird. Die Beerdigungsansprachen vermitteln also Trost, indem sie Argumente gegen die Anomie des Todes — und damit gewissermaßen gegen den Tod selbst — sinnstiftend in Geltung setzen.«19 Roth beschreibt damit von einer anderen theoretischen Perspektive her, was Erne im Rahmen seiner phänomenologischen Konzeption als Aufgabe von Seelsorge dargestellt hat: durch sprachliches Handeln die Brüchigkeit des lebensweltlichen Horizonts zu bearbeiten. Indem Roth die dabei empirisch vorkommenden Sprachformen mit Hilfe der Sprechakttheorie als »persuasive Sprechhandlungen«20 qualifiziert, unterstützt sie - auch wenn sie nicht explizit auf die Rhetorik Bezug nimmt - die These der vorliegenden Konstruktion von Seelsorge, dass die von Erne als >rhetorisch< bezeichnete Arbeit am lebensweltlichen Horizont eben auch mit Hilfe persuasiver Verfahren, d.h. mit Hilfe der sprachlichen Mittel, die den Gegenstand der Rhetorik als Produktionstheorie persuasiver Rede bilden, zur Wirkung gebracht werden müssen. Die Arbeit von Ralf Günther 21 analysiert mit den Methoden linguistischer Gesprächsforschung Gespräche, die Gefängnisseelsorger und -seelsorgerinnen mit Gefangenen geführt haben. Die Leitfragen seiner Analyse sind Fragen nach der Struktur des Gesprächs, nach den darin vollzogenen Sprechhandlungen mit den darin zum Ausdruck kommenden Handlungsmustern, Zielen und Aushandlungsprozessen, nach der Einbeziehung des Kontexts im Gespräch, nach den darin enthaltenen Begegnungen zwischen unterschiedlichen sozialen Welten, in denen die Beteiligten verwurzelt sind, sowie nach dem Verhältnis von im Gespräch hergestellter Nähe und vom Kontext vorgegebener unüberbrückbarer Distanz. Auch die eigene Methode wird kritisch hinterfragt im Hinblick auf das Verhältnis von deskriptiv-induktiven und präskripti18 Roth 2002. 19 Roth 2002, 384. 20 Roth 2002, 381. 21 Günther 2005; vgl. ders. 2002.

20

ven Anteilen. Für die Auswertung spielt zusätzlich die Frage nach den Konsequenzen für die Poimenik eine Rolle; Günther fragt hier nach den Bedingungen, die eine linguistische Gesprächsanalyse an Seelsorgetheorien stellt, nach dem Beitrag der Seelsorge zu einem gesellschaftlichen Diskurs, sowie nach den Schlussfolgerungen für die Seelsorgeausbildung und die praktische Tätigkeit in der Seelsorge.22 In Anlehnung an Henning Luther versteht Günther Seelsorge als »Zwischen-Raum«,23 als »Schwellenkommunikation zwischen Angehörigen unterschiedlicher Diskurswelten«.24 Die Möglichkeit der Begegnung entsteht nach Günthers Analysen durch bestimmte sprachliche Mittel, die angesichts unterschiedlicher Erfahrungen und Weltdeutungen »dazu benutzt [...] werden, die Distanz zu überbrücken und eine gemeinsame Interaktionsbasis und Beziehung zu kreieren«.25 Im Zusammenhang seiner linguistischen Theorie verwendet Günther auch den Begriff der Gesprächsrhetorik, den er allerdings explizit sehr strikt begrenzt auf »nur >aggressivereaggressiveren< Verfahren des Forcierens und des Argumentierens nicht mehr als rhetorische Verfahren betrachtet, die aber sehr wohl als solche verstanden werden können. Die Ausführungen Günthers hierzu werden deshalb an den jeweils passenden Orten in Kapitel 3 mit in die Darstellung einbezogen.

28 Günther 2005, 133. Für eine grundlegende Typologie der Argumente verweist Günther auf die unten dargestellte Untersuchung von Manfred Kienpointner zur Alltagsargumentation; s.u. Kapitel 3, Abschnitt 1.4.4. 29 Günther 2005,123.

22

Kapitel 1: Die Gemeinschaft der Kirche als Kontext von Seelsorge »Seelsorge findet sich in der Kirche vor als Ausrichtung des Wortes Gottes an den Einzelnen.«1 - »Seelsorge ist also Psychotherapie im kirchlichen Kontext.«2 Dass Seelsorge in einem gewissen Zusammenhang mit Kirche steht, wird weder von verkündigend noch von therapeutisch ausgerichteten Seelsorgekonzepten verneint. Strittig ist jedoch, wie dieser Zusammenhang von Seelsorge und Kirche zu beschreiben ist und vor allem wie er sich jeweils auf die konkrete Seelsorgepraxis auswirkt. Der Bohren-Schüler Heinz Rüegger stellt jedenfalls fest, dass »[d]ie Seelsorge der Gegenwart [...] zwar im Rahmen der Kirche geschieht, ihre ekklesiologische Fundierung aber weitgehend verloren hat«,3 und stellt diesem Defizit in seiner historisch ausgerichteten Heidelberger Dissertation »Kirche als seelsorgerliche Gemeinschaft« 4 die seelsorgerlich konzipierte Ekklesiologie Dietrich Bonhoeffers gegenüber. Seiner Kritik wird im Blick auf unsere Fragestellung zunächst nachzugehen sein. Welche Verbindungen von Seelsorge und kirchlicher Gemeinschaft im 20. Jahrhundert angenommen wurden, soll dann an einigen Seelsorgekonzepten verdeutlicht werden, 5 die jeweils exemplarisch für das verkündigende bzw. das therapeutische Paradigma stehen können oder auf der Basis eines dieser Paradigmen in besonderer Weise die Gemeinschaft in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen gestellt haben: Arbeiten von Eduard Thurneysen und Rudolf Bohren sowie Dietrich Stollberg und Hans van der Geest. Dabei wird sich zeigen, dass sich unter ihnen diejenigen leichter tun, Seelsorge auf Gemeinschaft zu beziehen, die 1 Thurneysen 1994, 9. 2 Stollberg 1978, 29. 3 Rüegger 1992, 275. 4 Rüegger 1992, Titel. 5 Für eine ausführlichere Beschreibung der Aufnahme des menschlichen Bedürfnisses nach Gemeinschaft in den Seelsorgekonzepten bis Ende der 70er Jahre des 20. Jh. vgl. Hoch 1979, der in diesem Zusammenhang vier Typen unterscheidet: Gemeinschaft in der Gemeinde (Gemeinde als Gemeinschaft mit Gott); Gemeinschaft im Worte Gottes (Gemeinschaft mit Gott als Alternative zu menschlicher Gemeinschaft); Gemeinschaft in der Beziehung (menschliche Gemeinschaft als Aktualisierung der Gemeinschaft mit Gott); Gemeinschaft in der Gruppe (der nach Hochs Darstellung noch eine umfassende Konzeption fehlt und die in der Praxis nur in Fortbildungen für kirchliche Mitarbeiter zum Einsatz kam). Im folgenden sollen (neben den >Klassikern< Thurneysen und Stollberg, die Hoch dem zweiten und dritten Typ zuordnet) vor allem neuere Entwicklungen aufgegriffen werden.

23

stärker von der reformierten Tradition geprägt sind (Thurneysen, Bohren und van der Geest), während Stollberg nicht zuletzt aufgrund seiner lutherischen Tradition die direkte Gottesbeziehung des Individuums einseitig in den Vordergrund stellt. Ein Grund für diese Unterschiede in der Verhältnisbestimmung von Kirche und Seelsorge dürfte darin liegen, dass der Begriff Kirche zwei unterschiedliche Schwerpunktsetzungen ermöglicht, die in ihm wie zwei Brennpunkte einer Ellipse verbunden sind und in lutherischer und reformierter Tradition unterschiedlich gewichtet wurden: Kirche als Institution innerhalb einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, und Kirche als >communio sanctorumcommunio sanctorum< im Gespräch mit lutherischer Dogmatik, Soziologie und philosophischer Gemeinschaftstheorie so bestimmt werden kann, dass er für die Reflexion über Seelsorge in der Gegenwart zu einer brauchbaren Größe wird. Durch diese Neubetonung des zweiten Brennpunkts im Kirchenbegriff kann, so möchte ich zeigen, Seelsorge aus dem einseitigen Verständnis eines Handelns der Kirche am oder für den einzelnen Menschen — das auch Bonhoeffer trotz seiner bruderschaftlichen Konzeption letztlich noch vertritt — herausgeholt und als ein dialogisches Geschehen auf gleicher Augenhöhe zwischen gleichberechtigten Mitgliedern der einen Gemeinde Jesu Christi verstanden werden.

6 Besonders deutlich wurde dies in der gegen neulutherische Ekklesiologie gerichteten These III der Barmer Theologischen Erklärung von 1934, die Kirche als eine »Gemeinde von Brüdern« bestimmt (vgl. Burgsmüller/Weth [Hg.] 193, 36); Hans Asmussen spricht in seiner Einbringungsrede mehrfach von einer »Gemeinschaft von Brüdern« (vgl. ebd., 51). Zur weiteren Bestimmung einer unierten Ekklesiologie im Rückgriff auf Barmen III vgl. Burgsmüller (Hg.) 1980 u. 1981. 7 Dies zeigt auch das Beispiel Bonhoeffers sowie die Beteiligung lutherischer Kirchen und Theologen in Barmen.

24

1. Kirche als seelsorgerliche Gemeinschaft - die Verschränkung von Seelsorge und Ekklesiologie bei D. Bonhoeffer Die Basis der Bonhoefferschen Verschränkung von Ekklesiologie und Seelsorge findet sich im Personbegriff, den er in seiner Dissertation >Sanctorum Communio< entwickelt. Rüegger weist auf das darin bestehende »spannungsreiche Nebeneinander von personalisdschen und idealistischen Kategorien«8 hin, mit denen Bonhoeffer die Person einerseits in Anlehnung an Griesebach als Individuum im Gegenüber zu einem Du, also relational, bestimmt, zum anderen mit Hegel und Scheler als »Kollektivperson«, die als »Geist der Sozialität« (26) ein soziales Sein beinhaltet, wodurch ein untrennbares Ineinander von Individualität als Bezogenheit des Einzelnen auf ein Gegenüber und Sozialität als Verwobensein des Einzelnen in eine als objektive ontologische Größe verstandene Kollektivperson entsteht. Die Sünde des Menschen beschreibt Bonhoeffer in diesem Zusammenhang als dessen selbstherrliche »Entscheidung für das Alleinsein« (27); auch im Sündersein bleibt die Menschheit für ihn trotz der Isolation der einzelnen Personen zugleich Kollektivperson, nämlich die Person des »Adam« (27). Die Kirche als communio sanctorum bildet dagegen in Christus eine neue Kollektivperson, in der die einzelnen Gläubigen trotz bleibender Sündhaftigkeit neue Gemeinschaft erfahren können: sie ist »Christus als Gemeinde existierend« (27), aktualisiert durch den Heiligen Geist, der Glaube und Liebe schafft »als Ausrichtung auf Gott und Hinwendung zum Mitmenschen« (28), und der die Kirche damit zur Liebesgemeinschaft macht. Von dieser idealen Kirche unterscheidet Bonhoeffer die empirische Kirche: »In der empirischen Kirche ist zwar der Heilige Geist am Werk, indem er die sanctorum communio aktualisiert, aber er tut dies nicht in reiner Form, weil er sich dazu des immer noch mit Sünde und Unvollkommenheit behafteten objektiven Geistes menschlich-religiöser Gemeinschaft bedient.« (29) Aus dieser Differenz zwischen idealer und empirischer Kirche ergibt sich bei Bonhoeffer auch ein doppeltes Verständnis von Seelsorge als aus der Gemeinschaft abgeleiteter Beziehung der in ihr existierenden Menschen in Anlehnung an die augustinisch-lutherische Unterscheidung zwischen Christus als donum und als exemplum: Wenn Seelsorge eine Funktion des Verhältnisses der Gemeindeglieder untereinander ist, so ist sie nicht als eine spezielle Tätigkeit von wenigen Begabten oder Beauftragten in der Gemeinde zu verstehen; vielmehr geht es bei ihr um das Tun jedes Gemeindegliedes, um eine Funktion des Bruderseins. Seelsorge bezeichnet ein soziales Verhältnis, das sich aus gemeinsamer Teilhabe am Leib Christi ergibt. Indem sich Christus in der Gemeinde jedem einzelnen schenkt, 8 Rüegger 1992, 24f. Alle weiteren Verweise auf dieses Werk erfolgen als Seitenzahlen in Klammern im Text.

25

schenkt er ihm zugleich »Rechte und Pflichten priesterlichen Handelns am anderen«. So ist Seelsorge grundsätzlich einmal priesterliche Seelsorge. Andererseits hebt bruderschaftliche Verbundenheit nicht auf, dass Glieder der Gemeinde einander auch einfach als Menschen begegnen, in aller Begrenztheit und geschichtlichen Vorläufigkeit menschlichen Denkens und Handelns. Auf dieser rein mitmenschlichen Ebene sozialer Verbundenheit ist der Bruder nur »ein >anderer Gläubigen, der im Grunde über mich nichts Entscheidendes zu sagen vermag.« Daraus ergibt sich der Typ der beratenden Seelsorge. (30) Entsprechend Bonhoeffers Konzeption der Gemeinde als Kollektivperson liegt deren seelsorgerlich-priesterliche Funktion zunächst darin, dass sie die Vereinzelung des Individuums aufhebt; auch wenn dieses faktisch allein sein sollte, ist Christus als Kollektivperson und mit ihm die Gemeinde dem Individuum immer präsent. Zugleich aber ist die priesterliche Seelsorge ein personales Geschehen zwischen einzelnen Christen, die einander wechselseitig in Akten der Liebe wie entsagungsvoller Arbeit, Fürbitte und Beichte beistehen. Ziel der priesterlichen Seelsorge ist es, »sich gegenseitig — in priesterlicher Stellvertretung — immer wieder aus dem Machtbereich der Sünde in die volle Gemeinschaft mit Gott und den Brüdern [zu] stellen« (37f). Weil der Mensch nach Gottes Willen verantwortlich leben soll, aber als unvollkommener Mensch stets in der Gefahr steht, dieser Verantwortung nicht gerecht zu werden, ist neben dieser priesterlichen Seelsorge auch die unter den Bedingungen der empirischen Kirche geschehende mitmenschliche Hilfe zu einem solchen Leben als Seelsorge zu verstehen; sie erfolgt durch Beispiel und Rat von anderen Gläubigen in der hier als menschliche religiöse Gemeinschaft verstandenen Kirche (vgl. 40f). In seiner kritischen Würdigung weist Rüegger darauf hin, dass Bonhoeffers Ekklesiologie zwar »[i]n ihrer stringenten theologischen Entfaltung [...] beeindruckft]« (42), aber dennoch einseitig christologisch ausgerichtet und pneumatologisch unterbestimmt ist, was Folgen für die Bewertung der ratgebenden Seelsorge hat: Wenn [...] Bonhoeffer festhält, der heilige Geist schaffe Glauben und Liebe, wobei Kirche nicht schon als Glaubensgemeinschaft, sondern erst als Liebesgemeinschaft, also durch die im Glauben tätige Liebe »christliche Gemeinschaft im prägnanten Sinne« sei, so kommt man nicht umhin festzustellen, dass Bonhoeffer diese Seite der gemeindlichen Wirklichkeit theologisch noch ungenügend zur Sprache gebracht hat. Neben dem rechtfertigenden, auf Glauben zielenden Wort als »Aufbauprinzip der gesamten Kirche« kommt die Liebe als »Lebensprinzip der Gemeinschaft« in ihrer theologischen und praktischen Relevanz zu kurz. Das hat für die Seelsorge Konsequenzen, weil es Bonhoeffer so nicht gelingt, die beratende Seelsorge ebenso wie die priesterliche im christologischen und pneumatologischen Zentrum des Kirchengedankens zu verwurzeln. Sie wird darum neben der priesterlichen Seelsorge trotz aller gegenteiligen Argumentation Bonhoeffers, der der beratenden Seelsorge ihr volles Recht neben der priesterlichen zugestehen will, relativ belanglos. (42f) 26

Mit einer stärkeren pneumatologischen Berücksichtigung der Charismen könnte dagegen, so Rüegger, auch das ratgebende Handeln der Gemeinde als ein geistgewirktes und in der Liebe geschehendes Handeln theologisch stärker qualifiziert werden. Im Anschluß an die Darstellung der Dissertation stellt Rüegger fest, dass Bonhoeffer in seinem weiteren Wirken an der Universität Seelsorge primär als Ruf an den Einzelnen versteht, sich in der Gemeinschaft der Kirche gehorsam dem Wort Gottes zu unterstellen, wozu die einzelnen jeweils wechselseitig aneinander als an Brüder gewiesen sind.9 In der Bruderschaft, die Bonhoeffer im Predigerseminar Finkenwalde ins Leben gerufen hat, gehörten für ihn neben gemeinsamer Schriftmeditation, Fürbitte, wechselseitiger materieller Hilfe und Zeit füreinander als besondere seelsorgerliche Elemente die beratende brüderliche Aussprache im direkten Gespräch oder in Briefen, die auch zum Zuspruch Gottes an den Einzelnen durch den Bruder werden konnte, sowie die zwar freiwillige, aber von Bonhoeffer allen eindringlich ans Herz gelegte brüderliche Beichte.10 In einem weiteren Kapitel analysiert und interpretiert Rüegger dann ausführlich einen Rundbrief Bonhoeffers an junge Theologen in Pommern, die er zum Festhalten an der getroffenen Entscheidung für die Bekennende Kirche ermahne und ermutige, die Schwierigkeiten als Gelegenheit zur Buße für eigenen Ungehorsam wahrzunehmen. In seinem rhetorisch sorgfaltig formulierten Brief bringe er immer wieder zum Ausdruck, wie sehr die Adressaten in eine solidarische Gemeinschaft eingebunden sind, der auch er sich zugehörig weiß, und stelle sich selbst in die Rolle des mahnenden Bruders — »neben den Brüdern« und »im Gegenüber zu den Brüdern« (193; vgl. 117—195). Besonders deutlich wird der autoritativ-verkündigende Charakter, der sich trotz einer prinzipiellen Gleichrangigkeit unter Brüdern im konkreten Akt der Seelsorge bei Bonhoeffer durchhält, nach Rüeggers Beschreibung an Bonhoeffers in Finkenwalde gehaltene Seelsorge-Vorlesung, in der er die Seelsorge ganz der Verkündigung als Sonderfall unterordnet und dabei das Bild vom Hirten als Leitmotiv verwendet, wobei er dem Hirten hohe Autorität und Verantwortung zuschreibt: Da Bonhoeffer davon ausgeht, dass die Konkretion des Gebots nur durch den Verkündigenden — also nicht durch das gemeinsame Suchen der Seelsorgepartner im freien Gespräch — erfolgen kann, muss der Seelsorger autoritativ und verbindlich für den andern entscheiden, was diesem als geboten zu gelten hat; »dies muss der Seelsorger auf sich nehmen. Er nimmt dem anderen die Verantwortung für die Richtigkeit seines Handelns ab. Dem anderen bleibt nur übrig zu gehorchen. (...) Ohne solch tiefen Eingriff in fremdes Leben geht es nun einmal nicht in der Seelsorge.« (252f, mit einem Zitat von Bonhoeffer) 9 Vgl. Rüegger 1992, 5 5 - 8 1 . 10 Vgl. dazu insgesamt Rüegger 1992, 8 3 - 1 1 5 .

27

Rüegger kritisiert diese Aussagen Bonhoeffers entschieden als dessen eigener Ekklesiologie nicht angemessen und hält fest, »dass Bonhoeffer als Seelsorger auf dem Hintergrund seiner bruderschaftlichen Seelsorgepraxis dem Bonhoeffer als Sechotgclehrer deutlich überlegen ist, dass von Bonhoeffer dort die stärksten und zukunftsträchtigsten Impulse ausgehen, wo seine Theologie am unmittelbarsten eigene Lebenspraxis reflektiert« (256). Vier dieser zukunftsträchtigen Impulse benennt Rüegger dann in einem abschließenden Kapitel noch einmal explizit: (1) die Verschränkung von Seelsorge und Ekklesiologie, in der Seelsorge zur Wesensäußerung von Kirche wird; (2) die Konzeption der menschlichen Identität als »Miteinander und Ineinander von Personalität (resp. Individualität) und Sozialität« (277), die den Einzelnen als Individuum im Kontext der Gemeinschaft der Kirche sieht; (3) die Bestimmung von Seelsorge als »Hilfe zu ethisch verantworteter Lebensführung« (278), sowie (4) die aus Bonhoeffers Ekklesiologie abzuleitende Bestimmung von Seelsorge als »Aufgabe der ganzen Gemeinde« (281). Mit diesen vier Elementen hat Rüegger meines Erachtens die wichtigsten ekklesiologischen Forderungen an eine gegenwärtig zu formulierende Seelsorgetheorie klar benannt. Im folgenden Durchgang durch einige Seelsorgekonzeptionen der jüngeren Vergangenheit wird sich zeigen, inwiefern sich bereits Ansätze zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Gemeinschaft und Seelsorge ausmachen lassen, an die hier angeknüpft werden kann. Im Blick auf die ekklesiologische Fundierung von Seelsorge bedürfte Bonhoeffers eigene Konzeption angesichts der inzwischen veränderten Forschungslage allerdings einer ausführlichen Revision bezüglich ihrer philosophischen und soziologischen Grundlagen, die im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann; im Anschluss an die folgende Darstellung weiterer Seelsorgekonzeptionen werde ich deshalb unabhängig davon Elemente vorstellen, aus denen sich m. E. eine für die Seelsorge nutzbringende und sowohl theologisch wie soziologisch und philosophisch plausible ekklesiologische Basis entwickeln lässt.

2. Das Verhältnis von Seelsorge und Kirche b%i>. Gemeinde in poimenischen Konzeptionen des späten 20. Jahrhunderts

2.1 Seelsorge als Eingliederung in die Gemeinschaft unter Gottes Wort (E. Thurneysen) Eduard Thurneysen setzt Kirche als handelndes Subjekt primär in Beziehung zu Predigt, Sakramenten und Gebet. Daran lagern sich andere, un28

terstützende Tätigkeiten an:" Die Vorbereitung auf die Verkündigung in der Katechetik, die 2eichenhaft auf die Verkündigung hinweisende Gestaltung des Lebens in der Gemeinde durch Menschen, die vom verkündigten Wort Gottes erfaßt sind und ihr ganzes Leben als von Gott in Beschlag genommen verstehen (d.h. innere und äußere Mission), und schließlich der Aufbau und Ausbau der Gemeinde selbst entsprechend ihrer Funktion. »Und in diesen Zusammenhang endlich gehört auch das hinein, was wir Seelsorge nennen.« (12) Seelsorge wird bestimmt als Unterstützung der Predigt; sie richtet sich aber an den Einzelnen, dem sie im Gespräch durch den Prediger oder ein Gemeindeglied die Botschaft noch einmal besonders verkündet. Ihr Ziel ist es, »den Einzelnen, da ihn ja Gott nicht preisgeben will, zu Predigt und Sakrament und damit zum Worte Gottes zu fähren, ihn in die Gemeinde einzugliedern und dabei zu erhalten« (26). Seelsorge rettet den Einzelnen vor dem Abfall von Gott und dient zugleich der Gemeinde, die dadurch erbaut und lebendig erhalten wird. Das Bild von Gemeinde bzw. Kirche, das Thurneysen dabei vor Augen steht, beschreibt er mit militärischen Begriffen: »Eben noch war es ein wildes und ungeordnetes Volk, nun aber wird es wie auf einen Befehl hin ein wohlgeordnetes Heer, das sich in Marsch setzt.« (28; vgl. 39) Der >Befehl< wird von Thurneysen mit dem Wort Gottes identifiziert; aber die wirksame Vermittlung dieses Befehls an die einzelnen Menschen, die aus den vielen Einzelnen erst Gemeinde entstehen lässt, bedarf für ihn der konkreten Anrede und Ermahnung jedes Einzelnen, und eben dies leistet die von ihm in Anlehnung an Calvin als Teil der Kirchenzucht (vgl. 41) verstandene Seelsorge. »Wo keine Kirchenzucht wäre, wäre gar keine wirkliche Gemeinde. Unter Kirchenzucht ist geradezu die Gestalt zu verstehen, die äußere Form, die die Gemeinde sich gibt, wenn sie vom Wort und von den Sakramenten her sich konstituiert als das seinem König Christus gehorsame Volk.« (39) Kirchenzucht als äußere Form von Gemeinde besteht darin, sich wechselseitig anzusprechen und ansprechen zu lassen auf die Gestalt, die der Glaube als Antwort auf die Botschaft von der Vergebung der Sünden im eigenen Leben und Handeln gewinnt. Sie wird von Thurneysen mit dem Begriff »Zeichen« (39) beschrieben; damit will er darauf hinweisen, dass sie als Form dem Sinn von Gemeinde äußerlich bleibt, aber eben doch als äußere Form erst die Verwirklichung dieses Sinns ermöglicht. Den Begriffsteil >-zucht< in >Kirchenzucht< möchte Thurneysen verstehen als »disciplina«, d.h. als ein Verhältnis von Lernen und Lehren, immer bezogen auf die Heilige Schrift als Lehrmeister (42). Was dies für das Seelsorgegespräch bedeutet, beschreibt er folgendermaßen:

11 Vgl. Thurneysen 1994, 1 0 - 1 2 . Im folgenden beziehen sich alle Seitenverweise im Text ohne weitere Angaben auf dieses Buch.

29

Das seelsorgerliche Tun ereignet sich in Form eines Gespräches, das sich seinem Gehalt nach darstellt als ein Hören auf das Wort Gottes und ein Antworten auf das Wort Gottes. Wobei die Gesprächspartner einander gegenseitig zu Dienern dieses Wortes werden. Auch im seelsorgerlichen Gespräch will also Gott selber durch Menschenwort reden, und darf es geschehen, daß er die ihm gebührende Antwort erhält, indem beide Gesprächspartner vor ihn zu stehen kommen und somit nicht nur bei sich selber bleiben. Das seelsorgerliche Gespräch ist darum keinesfalls jenes als >romantisch< charakterisierte Gespräch, in welchem es nur dazu kommt, daß Einer sich dem Anderen seelisch erschließt, sondern es soll jenes ganz grundsätzlich >kirchliche< Gespräch sein, in dem es geschieht, daß in alle menschliche, seelische Bewegtheit hinein Gottes Wort fällt und sie erfüllt und bestimmt. (95) Das entscheidende Kriterium für die >Kirchlichkeit< eines Gesprächs ist also für Thurneysen das Bezogensein der Gesprächspartner auf das W o r t Gottes. Dieses Bezogensein versteht er nicht ausschließlich inhaltlich — noch das alltäglichste Gespräch über die profansten Dinge kann ein kirchliches Gespräch sein (vgl. 96f) 12 —, sondern es hängt davon ab, dass »es von zwei Menschen geführt wird, die beide v o n der Predigt und v o m Sakrament der Kirche herkommen« (96), also ihre eigene Identität und die Gemeinschaft, die sie verbindet, als durch das Gegenüber zum W o r t Gottes bestimmt sehen. Diese Bestimmtheit durch das W o r t 12 Thurneysen unterscheidet diesen weiten Begriff vom Gespräch im kirchlichen Raum allerdings noch einmal von den »eigentlichen« (97) Seelsorgegesprächen, auf die er dann seine weiteren Ausführungen bezieht. Das Kriterium, mit dem er beide von einander abgrenzt, scheint primär in der Intention der Gesprächspartner zu bestehen: »... es soll mit dem allem keineswegs die Grenze verwischt werden, die das eigentliche seelsorgerliche Gespräch scheidet vom gewöhnlichen Alltagsgespräch. Es steht nicht so, daß wir jedes Gespräch in der Absicht zu führen hätten, Seelsorge an einem Andern üben zu wollen. Das wäre eine schreckliche Verengung unseres Redens und würde zu geradezu grotesken Unmöglichkeiten und Unerträglichkeiten führen. Es wird gewiß seinen Sinn haben, daß es ein besonderes Seelsorgegespräch gibt, das als ein Zeichen eigener Art mitten im Felde unseres gewöhnlichen Redens und abseits davon errichtet werden soll. Aber das schließt nicht aus, daß von diesem im eigentlichen Sinne seelsorgerlich zu nennenden Reden der Sinn alles Redens in der Tat aufgedeckt wird. Und jedenfalls gilt, daß Einer noch nicht erkannt und erfahren hat, was eigentlich Miteinanderreden heißt und ist, sofern er etwa nicht weiß um dieses ausdrückliche und bestimmte seelsorgerliche Reden, sofern er selber noch nie in diesem eigentlichen und ausdrücklichen Sinne im Raum der Gemeinde ins Gespräch gekommen sein sollte mit einem Nächsten vom Worte Gottes her.« (98) Jedes Gespräch, so verstehe ich Thurneysens Bemerkungen, ist von seiner Funktion her darauf angelegt, im sprachlichen Ausdruck die eigene Person mit ihren Erlebnissen und Gedanken in Beziehung zu setzen zu einer überindividuellen Größe, die durch die Sprache vorgegeben ist (vgl. Thurneysens Ausführungen zur romantischen Sprachphilosophie 87ff). Aber im Seelsorgegespräch wird dieses Bezogensein explizit gemacht, und zwar in der bestimmten Form des Bezogenseins auf das Wort Gottes. Für Christen ist dieses Bezogensein auf das Wort Gottes das Fundament der eigenen Identität, weshalb es in jedem Gespräch implizit präsent ist; aber im >eigentüchen< Seelsorgegespräch soll diese implizite Vorgabe auch explizit zum Ausdruck kommen.

30

Gottes als Gemeinschaft stiftendes Gegenüber muss nicht bereits zu Beginn des Gesprächs gegeben sein, jedenfalls nicht bei beiden Gesprächspartnern, aber sie muss sich zumindest im Verlauf des Gesprächs bei beiden einstellen, damit von einem Gespräch im Raum der Kirche die Rede sein kann (vgl. 94). Sie lässt sich aber nicht einfach herstellen, sondern ist etwas, das dem Menschen von außerhalb seiner selbst zukommt, auch wenn sie durch menschliches Reden vermittelt wird; es bleibt das Wirken des Heiligen Geistes, durch das ein Seelsorgegespräch als >kirchliches< Gespräch sich unterscheidet von einem profanen Gespräch (99). Seinen Ausdruck findet das kirchliche Gespräch darin, dass alles menschliche Urteilen, das darin ausgesprochen wird, als vorläufig verstanden und relativiert wird durch das Anerkennen eines »über allem Menschlichen im buchstäblichen Sinne als Kor-Urteil waltenden göttlichen Urteils« (115). Der Inhalt dieses Urteils ist, wie in aller kirchlichen Verkündigung, bestimmt als die Vergebung der Sünden durch Jesus Christus (vgl. 129). Dieser inhaltlichen und formalen Bestimmung des Seelsorgegesprächs im Gegenüber zum Wort Gottes als Identität und Gemeinschaft konstituierender Macht entspricht es, dass der Seelsorger bzw. die Seelsorgerin »nicht in eigener Kraft und Vernunft [handelt], sondern aus Berufung« (298). Mit ihnen begegnen dem Seelsorge in Anspruch nehmenden Menschen Träger/Trägerinnen des Wortes Gottes, die deshalb auch »selber im Wort und in der Gemeinde wurzeln und aus dem Glauben an die Vergebung leben [müssen]« (298). Weil das Ziel der Seelsorge im gemeinsamen Bezogensein auf das Wort Gottes, also in der Teilhabe an der Gemeinde Christi besteht, müssen Seelsorgerinnen und Seelsorger auch lebendige Glieder dieser Gemeinde sein: »Man kann nicht Seelsorger sein außerhalb der Gemeinde. Denn was hat Seelsorge für einen andern Sinn und Gehalt als das Sammeln Verlorener zum Volke Gottes? Und wie will man sammeln, wenn man selber in der Zerstreuung lebt?« (301) Die Berufung zur Seelsorge ist für Thurneysen eine Berufung durch den Heiligen Geist und deshalb für Menschen unverfügbar (vgl. 299). Aber sie geht einher mit bestimmten Zeichen: Zunächst mit dem Amt, der öffentlich anerkannten Übernahme von Verantwortung für einen bestimmten Personenkreis; Thurneysen nennt hier den Pfarrer neben den Ämtern von Vater und Mutter, Mann und Frau, Lehrer, Vorgesetzten, aber auch Nachbarn: »was immer es für Lebensordnungen seien, in denen wir zueinander hingeführt werden« (299). Ein weiteres Zeichen sieht Thurneysen darin, dass sie sich nicht nach der Berufung drängen, sondern eher ein Ungenügen dafür empfinden. Dennoch gehört auch eine bestimmte Begabung zur Berufung: die Fähigkeit, »mit den Menschen zu reden, sie zu verstehen und ein Gespräch in Ordnung zu führen« (300). »Das entscheidende Zeichen der Berufung aber ist der eigene Glaube des Seelsorgers.« (300) Dieser Glaube darf schwach und ange31

fochten sein, aber nicht lau oder selbstsicher. Er kommt in der Berufung besonders darin zum Ausdruck, dass der Seelsorger/ die Seelsorgerin, weil er/sie andere zum Wort Gottes führen soll, »selber ein durch das Wort Geführter, ein im Worte Gegründeter und Geübter sein [muss]« (301). Dieser Glaube ist keine eigene Leistung, und er ist auch durch eigene Leistung nicht zu erhalten. Daher bedürfen nach Thurneysen auch die Seelsorgerinnen und Seelsorger selbst immer wieder der Seelsorge durch andere - nicht zuletzt deshalb, weil sie in der Praxis der Seelsorge oft die eigene Ohnmacht erleben. Auch deshalb ist die feste Verwurzelung in der Gemeinde unabdingbar. Die Beziehung, die durch die Seelsorge zwischen Seelsorger/Seelsorgerin und denen, an denen er/sie Seelsorge übt, entstehen soll, beschreibt Thurneysen als gemeinsames Leben aus der Vergebung, das eine Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens schafft. Dieses Vertrauen unterscheidet Thurneysen scharf von der Gefahr einer Bindung an die Person: Wo nicht mehr Gott als Ziel des Vertrauens im Mittelpunkt steht, sondern der Seelsorger/ die Seelsorgerin, da kommt es laut Thurneysen zum Phänomen der Übertragung und der Gegenübertragung und damit zu einer Abhängigkeit von einander. Diese Abhängigkeit zumindest des Seelsorge in Anspruch nehmenden Menschen vom Seelsorger/ von der Seelsorgerin kann für einen gewissen Zeitraum unabdingbar sein, aber der Seelsorger/ die Seelsorgerin muss um die darin liegenden Gefahren wissen und darf sie nicht zu eigenen Zwecken ausnützen, sondern muss danach streben, sie in eine direkte Gottesbeziehung aufzulösen (vgl. 304f). Die im Seelsorgegespräch entstehende Gemeinschaft ist stets eine Gemeinschaft, die durch Gottes Wort begründet und darauf ausgerichtet ist, nicht eine Gemeinschaft, die auf die zwei Gesprächspartner beschränkt bleibt. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Für Eduard Thurneysen ist Seelsorge ein Teil des kirchlichen Handelns, mit dem Kirche ihrem Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums von der Vergebung der Sünden durch Jesus Christus nachkommt. Sie geschieht durch dazu berufene Mitglieder der Kirche, die in der Gemeinde und im Glauben verwurzelt sind, und sie hat das Ziel, den Seelsorge in Anspruch nehmenden Menschen in die Gemeinschaft der Kirche zu führen. Die Kirche und die zu ihr gehörenden Menschen sind bestimmt durch die Anerkenntnis des eigenen Sünder-Seins und die Annahme der Vergebung Gottes, also durch den Gehorsam gegen das von Gott ergangene Wort. Die Gemeinschaft der Menschen untereinander ist gegründet in der gemeinsamen Ausrichtung auf das Wort Gottes; die eventuell bestehenden Abhängigkeiten von Gemeindegliedern untereinander (v.a. vom Seelsorger/ von der Seelsorgerin) haben für eine begrenzte Zeit ihren Sinn, sollen aber tendenziell aufgelöst werden.

32

2.2 Seelsorge als Stärkung des in einer Krise stehenden Menschen durch den Glauben der Kirche (D. Stollberg} Nach einem kurzen einleitenden Abschnitt zu seiner persönlichen Motivation, dieses Buch zu schreiben, nimmt Stollberg seinen Ausgangspunkt bei dem bereits zitierten Satz Thurneysens: »Seelsorge findet sich in der Kirche vor ...«" — allerdings nur, um sogleich Kritik an dieser Formulierung zu üben: »Vielleicht findet sie sich gar nicht vor oder wenn, dann in einem desolaten Zustand; vielleicht ist sie auch absolut kein Spezifikum der Kirche oder der Christenheit« (20). Letzteres unterstreicht Stollberg, indem er ebenso apodiktisch wie Thurneysen eine andere Definition von Seelsorge vorstellt: »Seelsorge ist eine allgemeinmenschliche Erscheinung.« (18) Als allgemein menschliche Erscheinung, die auch im Raum der Kirche vorkommt, lässt sich Seelsorge nach zwei Richtungen hin näher bestimmen: von anderen allgemein menschlichen Erscheinungen unterscheidet sie sich für Stollberg durch ihr generelles Proprium, d.h. darin, dass sie eine bestimmte Form zwischenmenschlicher Kommunikation ist, nämlich therapeutische Kommunikation: Als allgemeinmenschliche Erscheinung läßt sich Seelsorge auch definieren als zwischenmenschliche Hilfe mit seelischen Mitteln (Wort, Gebärden, Kontakt etc., aber keine Medikamente, Nahrungsmittel, Kleider, Geld usw.). Dafür verwendet man heute, wo solche Hilfe methodisch reflektiert und wissenschaftlich fundiert erfolgt, den Ausdruck >Psychotherapiegerechte< Folge des individuellen Verhaltens wahrgenommen wird, sinkt die Bereitschaft zur Hilfeleistung. Weil aber der Zusammenhang von Tat und Folge nicht immer gegeben erscheint, wird auch die Aufrichtung dieses Zusammenhanges durch Ordnungen, Gesetze und Institutionen, die diese durchsetzen, als Hilfe gesehen, die dem einzelnen Menschen zu >seinem Recht< verhelfen (vgl. 27f). Seelsorge wird über das generelle Proprium hinaus durch ein spezifisches Proprium bestimmt. Diese weitergehende Bestimmung begründet Stollberg damit, dass der inhaltliche Aspekt von Kommunikation, die Verknüpfung von Symbol und Erfahrung, gruppen- bzw. kultur- oder milieuspezifisch ist (vgl. 21). Seelsorge wird durch die Mitglieder einer bestimmten Gruppe geleistet und erfährt dadurch auch inhaltlich eine bestimmte Ausprägung; »erstes Kennzeichen« des spezifischen Propriums von Seelsorge ist daher deren »kirchliche [r] Kontext« (30): [D]ie Kirche als eine reale Gemeinschaft findet als ein Bedürfnis und eine Fähigkeit ihrer Glieder die der zwischenmenschlichen seelischen Hilfe vor und nimmt diese menschliche >Eigenschaft< in Anspruch und Dienst: Wenn schon alle Menschen einander trösten und ermahnen, wieviel mehr sollte das unter Menschen vorkommen, die als verbindende gemeinsame Geschichte, Erfahrung und Hoffnung einen Gott der Großzügigkeit, Annahme, Vergebung und Liebe bekennen? (30) Das Bild eines helfenden, zugewandten Gottes lässt Seelsorge für die Gemeinschaft, die an diesen Gott glaubt, zu einer »Fundamentalkategorie des Lebens« (30) werden. Und in dem Wissen darum, dass diese Zuwendung Gottes ohne besondere Vorleistung des Menschen erfolgt, überwindet Seelsorge durch ihr spezifisches Proprium auch die im generellen Proprium gegebene Verbindung von Hilfe mit dem TatFolge-Denken zugunsten einer bedingungslosen Hilfe (vgl. 33). Grundlage dieses Verständnisses von Seelsorge ist Stollbergs Interpretation der »von den Reformatoren ... so prägnant formulierte[n] Theologie von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden«, die für ihn im Gegensatz 34

steht zu einem »Pharisäismus«, wie er ihn v.a. bei den »Frommen« heute beobachtet (18). Für das Verständnis von Kirche bedeutet dies: Kirche als Gemeinschaft von Menschen ist begründet durch den gemeinsamen Glauben an einen seelsorgerlichen Gott, der seinen Ausdruck findet in gemeinsamen Geschichten und Hoffnungen, und Seelsorge stellt damit ein Basiselement des Handelns in dieser Gemeinschaft dar. Diese Seelsorge ist zugleich Ausdruck des Glaubens an den seelsorgerlichen Gott (verstanden als fides quae und fides qua) und zielt auf Glauben hin, d.h. Seelsorge geschieht, »um dem Parmer durch die Mittel und Funktionen der Seelsorge zu mehr Lebensmut, mehr Konfliktfähigkeit usw. zu verhelfen, um also Glauben zu wecken« (31 f). Dabei wird der Glaube an den seelsorgerlichen Gott auch inhaltlich in der Seelsorge eine Rolle spielen; verbal, indem bestimmte Glaubensinhalte besprochen werden, und nonverbal, indem gegenüber dem anderen Menschen eine seelsorgerliche Haltung eingenommen wird. Für Stollberg kommt es dabei entscheidend auf die Kongruenz verbaler und nonverbaler Elemente an: »Wer die Gnade Gottes sprachlich bezeugt, kann nicht gleichzeitig durch sein Verhalten in der seelsorgerlichen Begehung vermitteln, daß er den Klienten entweder nicht ernst nimmt (allzu gütiges Gehabe, Vermeiden jeder Auseinandersetzung) oder verurteilt.« (32) Dass für ihn dabei die Haltung wichtiger ist als die verbal kommunizierten Inhalte, bringt Stollberg in der Art und Weise zum Ausdruck, wie er die Aussagen zum spezifischen Proprium von Seelsorge zusammenfasst: Seelsorge wird durch das spezifische Proprium kirchlich. Sie geschieht aus Glauben auf Glauben hin, aus Mut auf Mut hin — das ist etwas anders als aus Wissen auf Wissen hin oder aus logisch-diskursiven Argumenten auf Rationalität hin — und sie geschieht aus Gnade auf Gnade hin, das heißt aus Freiheit auf Freiheit, aus Bedingungslosigkeit auf Bedingungslosigkeit, von jenseits der Moral auf jenseits der Moral und insofern auf Uberwindung des generellen Propriums hin. (33) Um das Verhältnis von generellem und spezifischem Proprium, von Seelsorge als menschlichem und göttlichem Handeln näher zu bestimmen, verweist Stollberg auf verschiedene dialektische Beschreibungen, die für die Theologie fundamental sind: die Beziehung von alter und neuer Schöpfung, Gesetz und Evangelium, menschlicher und göttlicher Natur in Christus, weltlicher und geistlicher Herrschaft in Luthers Zweireichelehre. Daraus ergibt sich einerseits, dass es keine Trennung von >eigentlichem< und >uneigentlichem< Menschen geben kann, d.h. Seelsorge nicht von Leibsorge zu trennen ist, andererseits, dass Seelsorge auch den Gegensatz von Charisma und Methode dialektisch vermitteln muss: »Als Vermittlung des Evangeliums in der leibhaften Konkretion irdischer Beziehungen von Mensch zu Mensch ist Seelsorge ein lehr- und lernbarer Aspekt des einen >Amtes< (der Verkündigung) der Christenheit und darin Predigt und Unterricht vergleichbar.« (37f) 35

Fragt man nach der Rolle, die Kirche als Kontext der Seelsorge in Stollbergs Konzept einnimmt, dann lässt sich zusammenfassend festhalten: Kirche kommt vor allem als Ort in den Blick, an dem der christliche Glauben beheimatet ist. Dieser Glaube wird verstanden als eine Verbindung von gedeuteten (eigenen oder tradierten) Erfahrungen als Glaubensvorstellungen (fides quae) sowie einer darin begründeten Haltung des Vertrauens (fides qua), und ist seinerseits für die Seelsorge in zwei Punkten von Bedeutung: Zum einen als Motivation, durch die Analogie von geglaubter helfender Zuwendung Gottes zum Menschen und eigenem helfenden Handeln (das in seiner Unvollkommenheit zugleich leichter erträglich wird durch das Vertrauen darauf, dass es Gottes vollkommenes Handeln nicht ersetzt, sondern ein Teil desselben wird), zum anderen als Ziel seelsorgerlichen Handelns: Indem Seelsorge sowohl verbal wie nonverbal den Glauben an die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade kommuniziert, bietet sie neue Möglichkeiten zum Umgehen mit den eigenen Kommunikationsstörungen, durch die diese Störungen verändert oder zumindest in veränderter Weise erlebt werden können. Über diese formale Bestimmung als Ort des Glaubens hinaus wird Kirche allerdings — trotz Stollbergs Bemerkung über die grundlegende Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen — nicht weiter konkretisiert. Auch die bei Thurneysen immerhin als Ziel von Seelsorge angegebene Eingliederung des Einzelnen in die Gemeinschaft der Kirche fehlt hier — aus den Ausführungen Stollbergs zur Seelsorge als Behebung von Beziehungsstörungen kann man lediglich folgern, dass ein Ziel von Seelsorge darin liegt, bestehende Beziehungen zu Dritten zu verbessern. Die Gemeinschaft, um die es Stollberg primär geht, ist jedoch die Bezogenheit des Individuums auf Gott, die im Glauben zum Ausdruck kommt. Dass sie positive Konsequenzen für dessen Weltbezug hat, wird vorausgesetzt, aber nicht weiter konkretisiert. Dementsprechend kommt auch der Seelsorger/ die Seelsorgerin als Individuum ins Blickfeld, das aufgrund der eigenen Gottesbeziehung über die Ressource »Glauben« verfügt und aufgrund einer bestimmten Ausbildung in der Lage ist, diese Ressource in Krisensituationen14 an sein/ihr Gegenüber zu vermitteln.

14 Stollberg hält seine Orientierung von Seelsorge an Krisensituationen strikt durch. Auch beim Besprechen der seelsorgerlichen Tätigkeit des Gemeindepfarrers/ der Gemeindepfarrerin kommt ein Hausbesuch, der nicht anläßlich einer Krisensituation erfolgt, lediglich als »Kontaktbesuch« in den Blick, dessen Ziel lediglich ist, den Kontakt zu den Gemeindegliedern zu vertiefen, »damit im Falle einer Krise keine allzu großen Hemmungen bestehen, den Pfarrer als Seelsorger in Anspruch zu nehmen« (111). Dementsprechend soll der Pfarrer/ die Pfarrerin nach Stollberg auch darauf achten, bloß keine zu freundschaftlichen Beziehungen aufzubauen: »Werden Pfarrer und Klienten gar Freunde, so besteht die Gefahr einer allzu starken Minderung der therapeutischen Distanz, welche nötig ist, um der Gegenübertragung Herr zu werden und in Krisensituationen neutral zu bleiben.« (111)

36

In jüngster Zeit hat Stollberg im Dialog mit Rudolf Bohren (s.u.) in locker-assoziativer Weise auch das Thema der »Seelsorge für das Wir und durch das Wir«15 bearbeitet; dabei hält er nach einigen Ausführungen über seine persönlichen Erfahrungen mit Kirche und Gemeinde fest, dass »das Wir« Seelsorge benötigt und zugleich Seelsorge ist: »Gemeinsame Feiern, Singen und Beten sind zweifellos auch ein Therapeutikum. Gegenseitige Fürbitte und wechselseitiger Segen gehören ebenso hinzu wie gemeinsame Mahlfeiern.« (439) Nicht wichtig ist für ihn dagegen »dogmatische Gesinnungsgenossenschaft« (439) — die oft als notwendig betrachtete Übereinstimmung in Glaubensfragen hält er für einen »rationalistischen Irrweg« (439) und verweist darauf, dass Verständigung zumeist im Medium der Poesie, »die Sprache der Kreativität und Liebe« (439) gelingt. Bei Großgruppen gehöre aber auch Organisation zur Aufgabe der Seelsorge; Bohrens Identifikation von Gemeinde und Seelsorge beziehe sich dagegen eher auf überschaubare Gemeindebezirke. Hier schaffe in der Tat die Teilhabe an der Gemeinschaft funktional Seelsorge für den Einzelnen und die Einzelne. Aus sozialpsychologischer Sicht weist Stollberg allerdings auch auf die Gefahren massenpsychologischer Manipulierbarkeit hin. In Anknüpfung an ein Beispiel der Krankenseelsorge durch die ganze Gemeinde in den Gründerzeiten des Methodismus beschreibt er einen Katalog von Elementen einer Seelsorge am Wir und des Wir (441 f), der vor allem mit den Kriterien Freiheit, Balance zwischen Geben und Nehmen, sowie Offenheit und Ganzheitlichkeit zusammengefasst werden kann. Eine solche Seelsorge durch die Gruppe findet für Stollberg ihren Ausdruck in der gemeinsamen gottesdienstlichen Feier - und führe letztendlich zur Entstehung von Personalgemeinden nach amerikanischem Vorbild. 2.3 Seelsorge als Wesensäußerung der ganzen Gemeinde (R. Bohren) Sowohl bei Eduard Thurneysen wie bei Dietrich Stollberg ist der Primat der Gottesbeziehung für das in der Seelsorge zum Ausdruck kommende Verständnis von Kirche offensichtlich. Während bei Stollberg der Gemeinschaftsaspekt der Gottesbeziehung fast gar nicht mehr in den Blick gerät und Kirche nur die Voraussetzung für die Existenz der in Krisenfällen hilfreichen Ressource >Glauben< darstellt, die wiederum in der individuellen Gottesbeziehung ihren Ausdruck findet, bezieht Thurneysen diesen Aspekt explizit mit ein — allerdings zu Lasten der Individualität: Wo Seelsorge den Einzelnen in die Gemeinschaft der Kirche eingegliedert hat, da wird dieser zum gesichtslosen Teil der Bewegung des Evangeliums, die Thurneysen im Bild einer im Gleichschritt marschierenden 15 Stollberg 2001, 438. Verweise auf diesen Aufsatz erfolgen im folgenden in Klammern im Text.

37

Armee beschreibt (s.o.). Während also Stollberg das Individuum als Person durch die Vermittlung einer Gottesbeziehung in seiner Entwicklung fördern will, möchte Thurneysen das Individuum dadurch eingliedern in die Bewegung Gottes zur Welt hin, gegenüber der das Individuum in seiner Eigenart zurücktritt. Beide vernachlässigen damit die Frage nach der Wirkung von Seelsorge auf den Aspekt der zwischenmenschlichen Gemeinschaft, die neben der Gottesbeziehung ebenfalls einen zentralen Aspekt von Kirche darstellt. Anders dagegen Rudolf Bohren in seinem programmatischen Aufsatz »Gemeinde und Seelsorge«: Die Gemeinde ist Seelsorge. Seelsorge wird damit nicht mehr verstanden als ein der Gemeinde Zugeordnetes, sondern als ein Prädikat der Gemeinde. Seelsorge macht eine Aussage darüber, was Gemeinde ist. Zum Sein der Gemeinde gehört Seelsorge. Gemeinde ist, indem sie wird, Seelsorge.16 Mit dieser These grenzt Bohren sich gegen jedes Verständnis von Seelsorge ab, das einseitig den Pfarrer/ die Pfarrerin als Akteur/Akteurin von Seelsorge sieht, und nennt in diesem Zusammenhang auch die Positionen von Thurneysen und Stollberg. In der gegenwärtigen Seelsorgepraxis, gleich ob sie sich an Thurneysen oder an Stollberg orientiere, »wird der Seelsorgebedürftige zum Objekt gemacht« (137). Bohren versteht dagegen in Anlehnung an das paulinische Bild von der Gemeinde als Leib Christi mit vielen Gliedern und vielen Gaben sowie an das johanneische Bild vom Weinstock und den Reben Seelsorge als »Existenzweise« (137) einer Gemeinde, in deren auf die Gemeinschaft bezogenen Gaben sich die Gnade Gottes wahrnehmen lässt, die damit zum Ort wird, »an dem Gott schön wird« (135). Seelsorge ist zuvorderst ein Handeln Gottes an der Gemeinde, das diese konstituiert und zu einer Gemeinschaft von Menschen macht, die aneinander Seelsorge üben: »Seelsorge bekommt die Aufgabe, die der Gemeinde geschenkten Gaben am einzelnen wahrzunehmen, sie dem einzelnen zu entdecken, ihm zu helfen, seiner Berufung zu leben.« (135f) Exemplarisch nennt Bohren drei Aspekte einer solchen Seelsorge:17 (1) Seelsorge realisiert sich schon im bloßen Zusammenkommen der Gemeinde, weil Christen in der Person des/der Anderen die Gnade Gottes wahrnehmen können. (2) Seelsorge ist die Gemeinde aber auch dadurch, dass »ihre Glieder miteinander und füreinander beten« (141) und damit auf eine Weise teilhaben an Freud und Leid aller in der Gemeinschaft, dass sie beides zugleich auf Gottes Gnadengabe beziehen. (3) Seelsorge ist die Gemeinde schließlich auch im gemeinsamen Mahl - nicht nur in der Feier des Abendmahls, durch die ihr Bezogensein auf Christus besonders deutlich wird, sondern auch in der ganz profanen Gastfreundschaft

16 Bohren 1979b, 129. Alle Seitenzahlen in Klammern beziehen sich im folgenden auf diesen Aufsatz. 17 Vgl. Bohren 1979b, 140-142.

38

untereinander, die im gemeinsamen Essen und Trinken verwirklicht wird. Grundlegend bleibt für Bohren in diesem Zusammenhang die Möglichkeit neuer Wahrnehmung, die durch die Seelsorge eröffnet wird: Sie befähigt Menschen, die Augen vor der Bedrohtheit ihrer Existenz in dieser Welt nicht zu verschließen, sondern die Spannung zwischen gegenwärtigem Unheil und dem von Gott verheißenen Heil auszuhalten: »Mit den Geängsteten die Angst teilen, heißt, bei Tröste sein, heißt, in der Stunde von Gethsemane mit Jesus wachen.« (139). Die Möglichkeit neuer Wahrnehmung ist es auch, welche an den genannten Aspekten von Seelsorge erst ihre wahre Bedeutung sichtbar werden lässt. Diese Wahrnehmung bedarf des Heiligen Geistes, der »den Blick klärt« und mit dessen Hilfe wir durch die Schrift erkennen, »was unsere Gemeinde im Unverborgenen durch Gott ist« (135). Diese neue Wahrnehmung legt Bohren insbesondere den Pfarrerinnen und Pfarrern ans Herz, die dadurch die Gaben entdecken, die Gott der Gemeinde schenkt, in der sie Dienst tun, und ihre Arbeit darauf ausrichten können, diese Gaben zu fördern, damit die Gemeinde werden kann, was sie im Verborgenen immer schon ist: Ausdruck der Gnade Gottes und damit Seelsorge (138). Zwei Aussagen sind es somit, die Bohrens Aufsatz wie ein roter Faden durchziehen: grundlegend die Wahrnehmung, dass Seelsorge nicht ein ganz besonderes, von besonderen Menschen ausgeübtes Handeln ist, sondern ein Aspekt der Gemeinschaft, die bereits dann besteht, wenn Christen zusammenkommen und sich gegenseitig wahrnehmen, und davon ausgehend die mit Entschiedenheit von Bohren vertretene Konsequenz, dass die Beschränkung der Seelsorge auf die Pfarrerschaft eine grundlegend falsche Praxis darstellt, die auf einem dringend zu korrigierenden Machtgefalle zwischen Pfarrern und Gemeindegliedern beruht. Anders als bei Thurneysen und Stollberg erscheint bei Bohren die Kirche als Bezugspunkt der Seelsorge somit nicht als abstrakte Größe, sondern in ihrer konkreten Gestalt als Ortsgemeinde, die dort real wird, wo Mitglieder dieser Gemeinschaft tatsächlich zusammenkommen und einander wahrnehmen. Dabei ergibt sich freilich eine von Bohren anerkannte Spannung zwischen dem, was sich an dieser Gemeinschaft nach den Maßstäben innerweltlicher Rationalität wahrnehmen läßt und dem, was Bohren als geistgeleitete Wahrnehmung beschreibt. Nur indem der Aspekt der Zukunft, der Verheißung einbezogen wird, kann solche zwischenmenschliche Gemeinschaft als der Ort wahrgenommen werden, »an dem Gott schön wird« (135, Hervorh. EK).

39

2.4 Seelsorge als Ausdruck und Bewahrung christlicher Gemeinschaft (H. van der Geest) Weniger theologisch, sondern eher empirisch-pragmatisch fundiert findet sich diese Hervorhebung der zwischenmenschlichen Gemeinschaft in ihrer Bedeutung für die Seelsorge auch in den leider nicht breiter ausgeführten Gedanken zur Seelsorgetheorie, die Hans van der Geest in seinem Band »Unter vier Augen. Beispiele gelungener Seelsorge«18 im Anschluss an die Präsentation und Diskussion einer Reihe von Verbatims entwickelt. Darin beschreibt er zunächst einige Vor- und Nachteile, die sich aus dem Verständnis von Seelsorge als diakonischem bzw. kerygmatischem Geschehen ergeben, um dann eine andere Zuordnung vorzuschlagen: Man kann die Seelsorge auch der Koinonia zuordnen: Die Seelsorgebegegnung ist ein Ausdruck christlicher Gemeinschaft. Die Zusammengehörigkeit ist das Wesentliche. Die Frage, ob die Begegnung einen kerygmatdschen oder einen diakonischen Charakter bekommen soll, ist zweitrangig. Der Seelsorger ist nicht unbedingt Prediger oder Helfer. Aber er ist unbedingt freund-lich. Freundschaft ist ein besseres Orientierungsbild für den Seelsorger als Verkündigung oder Dienst. Wenn die Koinonia das Seelsorgeverständnis bestimmt, muß die Frage, ob eine Wortverkündigung nötig ist, nicht ausdrücklich erwogen werden. Sie erfolgt, wo der Kontakt das als angemessen erscheinen läßt. Ebensowenig muß der Seelsorger die seelischen Probleme seines Gegenübers entdecken. Er ist nicht frustriert, wenn er keine therapeutischen Ziele verfolgen kann. In einem Zusammensein freundschaftlicher Art hat sowohl das Interesse am Mitmenschen als auch die Lust und die Bereitschaft zur Verkündigung Raum. Die kerygmatischen und diakonischen Konzepte haben die Tendenz, methodisch einengend zu wirken.19 Diese Zuordnung van der Geests entspricht der Tatsache, dass im Seelsorgegespräch wie in jedem anderen Gespräch auch bestimmte Gemeinsamkeiten in Anspruch genommen werden (müssen), um überhaupt zu einer Verständigung zu kommen, und dass diese in Anspruch genommenen Gemeinsamkeiten gerade durch ihre Inanspruchnahme bestätigt und verstärkt werden. Die Darstellung und Bestätigung von Gemeinsamkeiten ist also immer eine Funktion jeden Gesprächs (sofern es wirklich zum Gespräch kommt und nicht nur zum Aneinander-vorbei-Reden), unabhängig von der Intention der Beteiligten. Auch die Darstellung von Differenzen ist darauf angewiesen, dass hinter ihnen noch ein gemeinsamer Horizont verfügbar ist, vor dem die Differenz wahrgenommen werden kann. Für das Seelsorgegespräch ist dieser gemeinsame 18 van der Geest 1995. 19 van der Geest 1995, 235. Mit diesem Absatz erschöpfen sich bereits die Ausführungen, mit denen van der Geest explizit auf den Leitbegriff der Koinonia eingeht.

40

Horizont auf jeden Fall gegeben durch das geschichtlich bedingte Eingehen christlicher Vorstellungen in die abendländische Kultur, aus der durch Ausdifferenzierung die verschiedenen in unserer Gesellschaft wirksamen lebensweltlichen Horizonte entstanden sind. Weil auch verkündigendes und therapeutisches Handeln im Seelsorgegespräch letztlich diese Gemeinschaft in Anspruch nehmen und zugleich zumindest implizit darauf zielen, ihr Gegenüber durch das Seelsorgegespräch zu einer besseren Teilnahme an der Gemeinschaft, zu der sich der Seelsorger/ die Seelsorgerin zugehörig weiß, zu befähigen (sei sie nun in einem engen Sinne als Gemeinschaft unter dem Wort Gottes verstanden oder in einem sehr weiten Sinn als eine aus freien Subjekten bestehende Gesellschaft), bietet sich van der Geests Bestimmung als umfassendere Definition von Seelsorge an. Wie die >Freund-lichkeit< aussehen kann, die van der Geest hier vorschlägt, zeigt sich natürlich in den zuvor auf mehr als 200 Seiten ausgeführten Gesprächsanalysen. Es wird aber auch deutlich durch den Kontext, in dem der zitierte Absatz steht: Nachdem van der Geest zunächst das Profil von Seelsorge aus der Sicht der Adressaten (kirchlicher Kontext des Gesprächspartners/ der Gesprächspartnerin oder religiöser Inhalt des Gesprächs) und die endastenden und belastenden Aspekte des kirchlichen Amts in der Seelsorge beschrieben hat, führt er in Anlehnung an Carl Rogers drei Aspekte seelsorgerlichen Verhaltens aus, in denen die für ein Seelsorgegespräch notwendige Aufmerksamkeit des Seelsorgers/ der Seelsorgerin für sein/ihr Gegenüber zum Ausdruck kommt. Unter der Überschrift »Die freimütige Initiative« wird zunächst Rogers Kategorie der Akzeptanz in spezifischer Weise zugespitzt, und dabei auch nach dem Ziel dieser Initiative gefragt. Am Schluss dieses Abschnitts findet sich der oben zitierte Absatz, auf den dann der nächste Abschnitt folgt, mit dem van der Geest Rogers Kategorie der Empathie aufnimmt, unter der Überschrift »Der Weg in die fremde Welt«. Abschließend wird Rogers Kategorie der Echtheit unter der Überschrift »Authentizität« nach zwei Richtungen hin entfaltet: als persönliche Echtheit und als rollenbezogene Echtheit, d.h. in der Frage nach der Thematisierung des Glaubens. Kritik an dieser auf menschliche Gemeinschaft ausgerichteten Seelsorgekonzeption könnte dahingehend geäußert werden, dass hier die Gottesbeziehung zu kurz kommt, die ja den entscheidenden Grund für die in der Kirche gelebte menschliche Gemeinschaft bildet. Allerdings wird bei dieser Kritik leicht vergessen, dass die Gottesbeziehung nicht einfach einen vorgegebenen Grund bildet, sondern in ihren Inhalten letztlich immer durch menschliche Beziehungen vermittelt ist.20 Zugleich

20 Ich beziehe mich hier auf die notwendige Verschränktheit von religiöser Entwicklung und religiöser Sozialisation noch unabhängig von spezifischen entwick-

41

muss berücksichtigt werden, dass die Gestalt, die der persönliche Glaube findet, die genaue Formulierung von Glaubensaussagen oder die exakte Form von Gesten und Handlungen, weder bereits durch das Wort Gottes unverrückbar vorgegeben ist (verkündigendes Paradigma), noch ganz der individuellen Konstruktion eines persönlichkeitsspezifischen Credo überlassen bleibt (therapeutisches Paradigma), sondern letztlich ein Ergebnis von Interpretationsleistungen21 ist, die Einzelne in eine Gruppe einbringen und die sie dort in einem Prozess der gemeinsamen Verständigung, der ggf. auch Anpassungen mit sich bringt, etablieren müssen. Insofern ist die Gottesbeziehung immer auch angewiesen auf menschliche Beziehungen, in denen Glaube vermittelt und bewahrt wird. Dies gilt auch, wenn zu bestimmten Zeiten durch Spaltungen der Interpretationsgemeinschaft in entscheidenden Punkten der Wert der menschlichen Gemeinschaft gegenüber dem Wert der Bibel als der unveränderbaren Grundlage der Gemeinschaft mit Gott für die Entscheidungsfindung stark relativiert wird, oder wenn die Gemeinschaft als Ort der Tradierung und Neuinterpretation von Glaubenswahrheiten in ihrer Bedeutung für den persönlichen Glauben durch den Prozess von Pluraüsierung und Privatisierung von Religion nicht mehr so augenfällig ist. Entscheidet man sich dafür, diesen Prozess des Aushandelns der Geltung von bestimmten Interpretationen des Wortes Gottes angesichts der Lebenssituation der einzelnen Mitglieder einer christlichen Gemeinschaft in die auf den ersten Blick so wenig tiefgehend erscheinende Beschreibung van der Geests von Seelsorge als Koinonia aufzunehmen, dann ist Seelsorge nicht nur Ausdruck von christlicher Gemeinschaft, sondern zugleich der Prozess der immer wieder neuen Bestätigung und Herstellung dieser Gemeinschaft angesichts ihrer Gefährdung durch Horizontverschiebungen, die neue Variantenbildungen und Interpretationen der christlichen Tradition erfordern, damit diese für das Verständnis der individuellen Lebenssituation Bedeutung und Orientierungskraft behalten können. 3. Kirchentheoretische Vertiefung: Seelsorge als Funktion von Kirche — Kirche als System der Kommunikation des christlichen Wirklichkeitsverständnisses (K Preul) Eine auf diesem Verständnis von Gemeinschaft basierende Seelsorgelehre muss sich auch kirchentheoretisch verorten und so die Frage nach lungspsychologischen oder Sozialisationstheorien. Vgl. dazu die Darstellungen bei Grom 2000, bes. 3 2 - 8 6 . 21 Die im Begriff der Interpretation gegebene Verknüpfung von extern vorgegebenen Objekten des Bewußtseins und deren individueller (Re-)Konstruktion verstehe ich als semiotischen Prozeß; vgl. unten den Abschnitt zur Semiotik U. Ecos, Kapitel 2, Abschnitt 3.3.

42

der Rolle der Institution Kirche für die Seelsorge beantworten. Dazu liegt mit der Kirchentheorie des Kieler Praktischen Theologen Reiner Preul22 eine spezifisch lutherische Konzeption vor, die für die eben dargelegten Grundgedanken anschlussfahig ist, weil sie Seelsorge (im weiten Sinn) als Grundfunktion von Kirche versteht.23 Die vielleicht etwas kompliziert klingende Formulierung »Kirche als System der Kommunikation des christlichen Wirklichkeitsverständnisses« ist der prägnanteste Ausdruck des in unserer Kirchentheorie vertretenen Kirchenverständnisses. Sie will die Wesensaussagen über die Kirche auf der Linie der Reformation mit den institutionstheoretischen Überlegungen zur Kirche als Bildungsinstitution verbinden. (153) In diesem Zitat ist der Kern der Kirchentheorie Preuls bereits dargestellt. Preul versteht Kirchentheorie als (konfessionsspezifisches) »Verbindungsstück zwischen Systematischer und Praktischer Theologie« (4, im Orig. hervorgeh.), wobei die systematische Theologie in Form der Dogmatik die Wesensaussagen über die Kirche beisteuert, die auf der reformatorischen Interpretation biblischer Aussagen und altkirchlicher Bekenntnisse beruhen, und die Praktische Theologie Reflexionen über die derzeitige tatsächliche Gestalt von Kirche und ihre Existenz- und Handlungsbedingungen beiträgt, die sie durch Einbeziehung verschiedener human- und sozialwissenschaftlicher Theoriebestände gewinnt. Die Kirchentheorie verbindet die Beiträge beider Seiten zu einer »>kritischen Theorie< im Sinne Schleiermachers« (9), indem sie die dogmatischen Aussagen über Kirche als kritischen Maßstab an deren von der Praktischen Theologie erhobene gegenwärtige Gestalt anlegt.24 22 Alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich in diesem Abschnitt auf Preul 1997. 23 Preul vertritt selbst ein stark auf das Individuum bezogenes Verständnis von Seelsorge, obgleich er in seiner Kirchentheorie in Anlehnung an Herms die Funktion der Kirche insgesamt unter einem weiten Begriff von Seelsorge zusammenfassen kann: »Seelsorge ist nicht eine der Funktionen der Kirche neben anderen, sondern was immer die Kirche tut im Unterricht, im Gottesdienst, in der speziellen seelsorgerlichen Beratung, in der Diakonie, in der Gemeindearbeit, in äußerer und innerer Mission und in öffentlichen Stellungnahmen, das will dem Heil der Seele nach christlichem Verständnis dienen.« (12) Seine Kirchentheorie ist aber dennoch offen für eine gemeinschaftsbezogene Interpretation, weil Preul die als Seelsorge bezeichnete Funktion der Kirche zugleich als Kommunikation des christlichen Wirklichkeitsverständnisses versteht und damit über den Begriff der Kommunikation die Möglichkeit eröffnet, den Gemeinschaftsaspekt gegenüber einem Versorgungsmodell in den Vordergrund zu rücken, indem man Kommunikation als >Verständigung üben versteht, und nicht nur als unidirektionale >Mitteilungvere credentes< beschreibe, die sich von den in der empirisch vorfindlichen Kirche ebenfalls vorhandenen >mali< bzw. >hypocritae< dadurch unterschieden, dass erstere zwar ebenfalls Sünder seien, aber »zugleich glauben und sich auf die göttliche Barmherzigkeit verlassen« (75), während letztere »in Wahrheit (in ihrem Herzen) nicht glauben«, und damit in ihnen »der dynamische Zusammenhang von Glauben und guten Werken, wie er in Art. 6 [=CA 6] beschrieben wird, nicht wirksam ist« (75). Der zweite Teil der Formel aus CA 7 gebe Kennzeichen an, »ohne welche eine bestimmte Kirche nicht wahre Kirche sein kann« (76): (1) Das >evangelium pure docetur< bezieht sich laut Preul auf den Gottesdienst und verweist über das Verständnis des Evangeliums von der Rechtfertigungslehre her (CA 5) auf deren Formulierung in CA 4. Die Übernahme der damit verbundenen christologischen und soteriologischen Aussagen (u.a. zur Satisfaktionslehre) umgeht Preul, indem er »sich an der eigentlichen Stoßrichtung der Rechtfertigungslehre in der CA orientiert« (79), die für ihn darin liegt, »daß immer wieder auf die Grundalternative im Verhältnis von Gott und Mensch hingewiesen wird: ob wir aufgrund irgendwelcher Verdienste vor Gott als gerecht dastehen wollen oder aufgrund des Glaubens an Gottes in Christus offenbar gewordene Barmherzigkeit« (79). Die rechte Verkündigung des Evan2 4 Vgl. Preul 1997, 3. Dass Preul trotz dieses methodischen Primats dogmatischer Aussagen nicht zu den von der Praktischen Theologie seit deren >empirischer Wende< entschieden kritisierten restaurativen und apodiktischen Festlegungen der gegenwärtigen Kirche auf eine dogmatisch gefundene und einer vergangenen geschichtlichen Situation entsprungene Gestalt gelangt, hat im wesentlichen zwei Gründe: zum einen gelingt es Preul, den großen Freiraum für pragmatische Entscheidungen (bei denen auch historische Faktizität eine Rolle spielt) herauszuarbeiten, den reformatorische Aussagen über das Wesen der Kirche durch die Beschränkung auf einige wenige zentrale Bestimmungen einräumen, und zum anderen wählt er sich in der Dogmatik Gesprächspartner (zentral: E. Herms), die ihrerseits humanund sozialwissenschaftliche Theorien mit den traditionellen christlichen Aussagen ins Gespräch bringen und so bei ihrer Interpretation auch Fragestellungen berücksichtigen, die sich erst aus der modernen Gestalt von Gesellschaft ergeben.

44

geliums ist folglich gegeben, »wenn antimeritorisch gepredigt wird, also die Gerechtigung [sie!] aus Werken des Gesetzes gänzlich ausgeschlossen wird, und wenn menschliche Existenz und Hoffnung allein auf die Güte Gottes gegründet werden« (79f). (2) Das »recte administrantur sacramenta« versteht Preul unter Verweis auf CA 13 als »verbum visibile« (81), d.h. sie sind gegeben, »um den Glauben in den Empfangenden zu erwecken und zu befestigen« (80, mit L. Granes Übersetzung von CA 13). Während ihre Gültigkeit als Zeichen des Willens Gottes unbedingt ist, wirken sie, weil der Empfang als Zeichen des Glaubens verstanden wird, nicht ohne den Glauben (vgl. 80f). Auf diese Weise beschreibt die CA die Einheit der Kirche aliein im Blick auf ihre spezifische Grundfunktion: »Kirche ist wesenhaft nichts anderes als das Geschehen der Verkündigung in der gottesdienstlichen congregatio sanctorum.« (82) Die Kriterien für die Ausgestaltung dieses Grundvollzugs ergeben sich für Preul aus CA 15 (>Von Kirchenordnungenvere credentes< und >hypocritae< (s.o.) in den Bekenntnisschriften nicht dahingehend aufzulösen, dass nach einer Scheidung und einem Ausschluss der >hypocritae< getrachtet wird. Vielmehr herrsche die Einsicht vor, dass allein Gott ein rechtes Urteil über den Glauben des Einzelnen fällen kann und die sichtbare Kirche daher in Liebe ertragen muss, dass sie ein >corpus permixtum< darstellt, in dem die Trennlinie zur unsichtbaren, wahren Kirche eben auch unsichtbar bleibt (vgl. 84ff; 102). Zur flexiblen Ausgestaltung nach Maßgabe menschlicher Erwägungen gehört für Preul auch die Ausweitung des einen notwendigen, auf die öffentliche Verkündigung im Gottesdienst ausgerichteten Amtes der Kirche, auf das Bischofsamt. Interpretiere man den entsprechenden Artikel CA 28 im Lichte weiterer Äußerungen Melanchthons, so beschränke er das Bischofsamt in seinem Kern auf ein Äquivalent zum verkündigenden Amt (Predigt und Sakramentsverwaltung sowie das durch Predigt und Sakramentsverwaltung auszuübende Amt der Schlüssel) und beschreibe die Ordination als einen kirchenrechtlichen Akt, der nur nach menschlichem Recht durch den Bischof vollzogen werde (vgl. 92ff). Das Predigtamt selbst dagegen leite sich - zumindest in der Sicht Luthers von dem allgemeinen Lehramt ab, das jeder Christ und jede Christin ge45

genüber denen ausübt, die ihm/ihr anvertraut sind (Eltern in der Familie, Lehrer etc.). Weil »er das verbum externum der christlich-biblischen Verkündigung dank des Wirkens des Heiligen Geistes verstanden und als wahr angenommen hat« (104), ist jeder noch so einfältige Christ in der Lage »das, was das Evangelium besagt und bedeutet, klar zu verstehen« (104) und deshalb teilzuhaben an der Lehrgewalt der Kirche. Weil jeder und jede dieses Amt in seinem/ihrem Bereich ausübe, bedürfe es allerdings einer besonderen Delegation, um das gleiche Amt im Gegenüber zur gesamten Gemeinschaft auszuüben. Das Predigtamt wird somit rein funktional begründet. Für das Verhältnis von Kirche und Staat verweist Preul auf Luthers Lehre von den zwei Regimenten, die er mit W. Härle so versteht, dass Gott durch die weltliche Obrigkeit seine Schöpfung erhält, während er sie durch das geistliche Regiment erlöst. Beide dienen also Gottes Handeln zur Eindämmung der Wirksamkeit des Bösen in der Welt, sind aber nach Aufgabe, Mittel und Objekt streng geschieden: Während die weltliche Obrigkeit durch Gesetze und Zwang auf Leib, Leben und Gut der Menschen einwirkt, um Recht, Frieden, Sicherheit und letztlich das Wohl der Untertanen zu schaffen, wirkt die Kirche allein durch das Wort auf die Seele bzw. das Gewissen des Menschen, um Glauben zu ermöglichen und ihm damit »zur Ergreifung seiner ewigen Bestimmung zu verhelfen« (116f). 3.2 Kirche als

Kommunikationssystem

Die Leistung der Humanwissenschaften für die Kirchentheorie sieht Preul darin, dass sie Auskunft geben über individuelle bzw. gesellschaftliche Bedürfnisse und die zu ihrer Befriedigung geschaffenen Strukturen. Will Kirche ihrem Auftrag gerecht werden, Menschen mit ihrer Botschaft zu erreichen, dann muss sie sich zumindest kritisch auf diese Bedürfnisse beziehen, um nicht völlig wirkungslos zu bleiben (vgl. 128f). Deshalb zieht Preul zunächst die Institutionentheorie heran, die das Bedürfnis gemeinsamen menschlichen Handelns und dessen Ausgestaltung als die Handlungen Einzelner durch ein Rollensystem fixierende Institutionen reflektiert. Mit dem Begriff des Handelns ist zugleich der Bezug auf bewusst gewählte Ziele und Mittel gegeben, durch die eine bestimmte Ausgangs situation verändert werden soll. Das Bedürfnis nach gemeinsamem Handeln (und damit nach allen Formen von >Kultur< im weiteren Sinn) lässt sich anthropologisch entweder positiv unter Verweis auf den Menschen als %oon politikon (Aristoteles u.a.) begründen oder negativ aus der notwendigen Kompensation fehlender Instinktgeleitetheit beim Menschen, die planvolles Handeln als Ersatz zwischen Wahrnehmung und Befriedigung von Bedürfnissen zwischenschaltet (A. Gehlen u.a.). In beiden Fällen erfolgt, so Preul in Anlehnung an Schelsky, eine Diffe46

renzierung und Höherentwicklung von Institutionen dadurch, »daß die Institutionen selbst neue Bedürfnisse erzeugen« (137), die wieder von anderen Institutionen befriedigt werden. Neben einer spezifischen Organisationsstruktur gehört für Schelsky zu jeder Institution auch ein Leitbild, eine ndee directrices die das Ziel der jeweiligen Institution wiedergibt. Dabei sieht er in der Moderne eine spezifische Veränderung: »[Α] η stelle der alten Leitbilder zieht die moderne Reflexionskultur in die Institutionen ein und etabliert sich dort als >Dauerreflexion< über deren Zweckdienlichkeit, ethische Legitimität und Subjektverträglichkeit« (139). Für Preul legt sich in diesem Zusammenhang die Frage nahe, »ob die Kirche nicht das überall aufgetretene Reflexionsbedürfnis, sofern es dabei um den Sinnbezug des jeweiligen Handelns geht, als Gesprächsaufforderung auffassen und den geregelten Völlig solcher Reflexion in der Gesellschaft zu ihrer eigenen idee directrice machen sollte« (140). Mit dieser Anfrage bietet Preul eine Interpretation des theologischen Leitbildes von Kirche, das im Gottesdienst als Ort der Kommunikation des Evangeliums besteht und bezieht so das Wesen der Kirche und gesellschaftliche Bedürfnisse aufeinander. Kirche lässt sich dann als Bildungsinstitution einordnen in die Gruppe der individuell symbolisierenden Institutionen bzw. in das Religionssystem. Sie ist Teil einer Gruppe von Institutionen, »die es mit Erfahrung, Wahrnehmung und Bewußtsein (Weltbewußtsein, Selbstbewußtsein, Gottesbewußtsein) in ihrem Bezug aufeinander zu tun haben, die dieses dreidimensionale Bewußtsein entwickeln, schulen, in bestimmte Richtung lenken, mit Mitteln der Kunst abbilden, darstellen, zur Aufführung bringen« (147). Sie lässt sich aber auch noch genauer bestimmen als »System der Kommunikation des christlichen Wirklichkeitsverständnisses« (153). Damit ist einerseits durch den Begriff des Kommunikationssystems ein breites Feld von Differenzierungen und Analysemöglichkeiten eröffnet (hinsichtlich Kommunikationssituationen, -positionen und -medien) und zugleich inhaltlich die Anschlussfahigkeit sowohl an menschliche Grundbedürfnisse wie an die theologische Wesensbestimmung von Kirche gegeben. Die Anschlussfahigkeit an menschliche Grundbedürfnisse wird v.a. von religionssoziologischen Entwürfen herausgearbeitet, die darin übereinstimmen, dass Religion einen »Beitrag zur Integration und Stabilisierung der Gesellschaft« (161) leistet. Sie tut dies, indem sie die für das Handeln der Individuen notwendigen gemeinsamen Wirklichkeitskonstruktionen bereithält: Handeln orientiert sich — außer an situativen Gegebenheiten — an bestimmten Normen; diese sind von ethischen Prinzipien aus zu beurteilen (und ggf. zu korrigieren); diese Prinzipien sind auf Wertvorstellungen bezogen, um deren Realisierung es geht; und diese Wertvorstellungen sind ihrerseits in kommunikativ zu etablierenden Wirklichkeitskonstruktionen begründet. (162)

47

Die Normen des Handelns, die letztlich aus Wirklichkeitskonstruktionen gewonnen werden, bilden laut Preul eine »Erwartungsstruktur« (163) hinsichtlich dessen, was in einer bestimmten Situation als eigenes Handeln von anderen erwartet und akzeptiert werde und welches Handeln von anderen in einer bestimmten Situation zu erwarten sei. Die beschriebene Fundierung des Handelns bezieht dabei nicht nur den Intellekt und damit sprachlich-bewusste Vorstellungen ein, sondern auch Gefühle; das Lebensgefühl eines Individuums und dessen Vorstellungen über Natur und Bestimmung des Menschen im Kontext der gesamten Welt beeinflussen sich wechselseitig (vgl. 162). Allerdings sei angesichts des gesellschaftlichen Pluralismus ein solch umfassender Konsens nicht zu erreichen; selbst der als erster Schritt in diese Richtung zu verstehende Diskurs über einen gemeinsamen Begriff von Gerechtigkeit sei heute kaum zu erreichen, u.a. weil sinnvermittelte Integration in der Moderne weitgehend durch technische Integration ersetzt worden sei. Kirche könne dagegen diesem gesellschaftlichen Bedürfnis Rechnung tragen als »kompetente Sachwalterin« (170), wenn sie zwei Kriterien erfülle: Weil die beschriebenen Sinnhorizonte individuell zu verantworten sind, müssen sie dem/der Einzelnen einleuchten, und weil sie zugleich überindividuellen Geltungsanspruch erheben, müssen sie öffentlich kommuniziert werden (vgL170)· Aber auch die Anschlussfahigkeit der theologischen Inhalte christlicher Weltwahrnehmung an die menschlichen Grundbedürfnisse sind für Preul natürlich gegeben: die umfassende Anschlussfähigkeit des Rechtfertigungsglaubens an die unterschiedlichen Bereiche des geschichtlichgesellschaftlichen Lebens beruht nach Preul darauf, dass der Rechtfertigungsglaube in den Kategorien von Schöpfung, Sünde und zu guten Werken befähigendem Glauben ein »dynamisches Wirklichkeitsverständnis« biete, das sowohl umfassende wie auch sehr konkrete Verständnis- und Wahrnehmungsmöglichkeiten enthalte und zugleich »einen Zielbegriff der gestaltbaren Wirklichkeit enthält« (170). Mit dem Begriff der Schöpfung Gottes verweise christliche Weltwahrnehmung auf den Geheimnis bleibenden Grund der Existenz, der genauer bestimmt sei durch die Person Jesu Christi; mit der Rede von der Welt als gefallener Schöpfung beschreibe sie den auf einer Fehlhaltung (dem amor sui) beruhenden Missbrauch der verliehenen endlichen Freiheit, und mit der Rede von der Christusoffenbarung und der damit verbundenen Versöhnung beschreibe sie die Möglichkeit der Befreiung aus diesem Missbrauch von Freiheit durch ein von außen kommendes, den Menschen verwandelndes Geschehen (vgl. 174f). Die volkskirchliche Gestalt der Institution Kirche ist Preul ebenfalls einen eigenen Gedankengang wert. Im Gegenüber zu einer Obrigkeitskirche wie zu einer »Freiwilligkeits- und Bekennerkirche« (181) verweist die Konzeption der Volkskirche auf die Einbeziehung des kulturellen Lebens in seiner gesellschaftlichen Vielfalt in das Leben der Kirche so48

wie auf die Bedeutung von vorgegebenen und fraglos übernommenen Selbstverständlichkeiten für die Identitätskonstruktionen des modernen Menschen. Zu diesen Selbstverständlichkeiten gehören nach Preul v.a. die Amtshandlungen, Teilnahme an großen kirchlichen Festen (v.a. Weihnachten) und »das Wissen davon, daß man seinen Pfarrer (seine Pfarrerin) hat« (183), daneben zu einem hohen Grad auch Kirchensteuer, Präsenz der Kirche in der Öffentlichkeit und stereotype Erwartungen v.a. gegenüber der Person des Pfarrers/der Pfarrerin. Theologisch lasse sich das Festhalten an dieser Form von Kirche dadurch rechtfertigen, dass (1) die in CA 7 eingeräumte Freiheit hinsichtlich der institutionellen Ausgestaltung von Kirche die Möglichkeit zu einem breiten Spektrum von Konkretionen schaffe und somit die in der Volkskirche vorhandene Vielfalt legitimiere; (2) eine Konzeption der Kirche als Volkskirche darauf verzichte, die verborgene Kirche durch klare Grenzziehungen sichtbar werden zu lassen und statt dessen Luthers Empfehlung folge, nicht über den Glauben zu urteilen, sondern »nach der >Regel der Liebe< zu verfahren« (192); (3) die Gestalt der Kirche als Volkskirche am besten vereinbar sei mit dem Gedanken des allgemeinen Priestertums, weil darin allen Christinnen und Christen die Möglichkeit gegeben sei, sich selbst entsprechend ihrer eigenen Entscheidung in unterschiedlicher Intensität an unterschiedlichen Orten in das Handeln der Kirche zu integrieren. Die heutige Gestalt von Volkskirche ist für Preul damit nur grundsätzlich, nicht aber in ihren nur historisch zu erklärenden Details begründet; für deren Beurteilung gelte das Kriterium der Zweckmäßigkeit im Blick auf die kommunikative Grundfunktion von Kirche. Anhand dieses Kriteriums benennt Preul auch einige Grundprobleme von Volkskirche und mögliche Lösungsansätze, darunter die Notwendigkeit der öffentlichen Kommunikation des volkskirchlichen Konzepts, d.h. der Volkskirche als »Institution, in deren Kähmen individuelle Frömmigkeitsgestaltung gerade dadurch möglich wird, daß man sich %ur Tradition in ein eigenes Verhältnis setzen kann«. (195; Hervorh. EK). Dass durch die öffentliche Kommunikation der Kirche zugleich Inhalte problematisiert werden, die für viele Menschen bisher zu den Selbstverständlichkeiten gehörten, und damit der Fundus an Selbstverständlichkeiten auch als Grundlage der Volkskirche aufgelöst wird, muss nach Preul in Kauf genommen werden; zugleich sei aber für einen adäquaten Ersatz im Blick auf die Identität sichernde und Handeln ermöglichende Funktion solcher Selbstverständlichkeiten durch schichtspezifische Bildungsangebote zu sorgen (vgl. 197f).25 25 Der Sache nach beschreibt Preul hier einen Prozeß, den Erne als >Horizontverschiebung< bezeichnet. Aus der phänomenologischen Beschreibung Ernes (s.u. Kapitel 2, Abschnitt 1.4) wird deutlich werden, daß das Problem weniger in einem drohenden Totalverlust von Selbstverständlichkeiten liegt, sondern in der Frage, wohin die Verschiebung erfolgt, d.h. welche neuen Selbstverständlichkeiten an die Stelle

49

Nach der Reflexion über die volkskirchliche Grundstruktur der Kirche beschreibt Preul in einem weiteren Abschnitt die Kirche als Organisation im Sinne der Organisationstheorie N. Luhmanns, nämlich als selbstreferentielles System von aufeinander be2ogenen Entscheidungen (vgl. 204), die auf drei Ebenen getroffen und jeweils durch Entscheidungen der anderen beiden Ebenen begründet werden: (1) die Ebene der einzelnen konkreten Handlungen der Organisation; (2) die Ebene der handlungsleitenden Grundsatzentscheidungen und (3) die Ebene der Entscheidungen über die eigene Mitgliedschaft in der Organisation. Das damit beschriebene geschlossene System schließt nach Preul freilich nicht aus, »daß die die Entscheidungen treffenden Personen sich gleichzeitig an ihren jeweiligen ethischen Prinzipien orientieren« (206). Einige Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Kirche als Organisation, die sich aus ihrer besonderen Situation ergeben (keine spezifische Motivation der Mitglieder durch Kindertaufe, universaler Anspruch, Bindung an Schrift und Bekenntnis, >kirchliches Leben< als Zweck, der der Organisation Kirche nicht extern ist) lassen sich durch Modifikationen beheben: Die fehlende spezifische Motivation führe zu einer Beziehung von Grundsatzentscheidungen auf die Motivation einzelner Gruppen, die dem Kern der Organisation näher stehen; diese Gruppen seien durch Bildungsarbeit zahlenmäßig möglichst stark zu erweitern. Grundsatzentscheidungen seien weiterhin nicht rein nach dem Mehrheitsprinzip zu lösen, sondern durch Aufweis der den Entscheidungen zugrundeliegenden Interpretation von Schrift und Bekenntnis. Der Zweckbestimmung der Kirche entspricht es, dass die handelnden Personen nicht ausführende Organe der Kirche sind, sondern »selbständige Subjekte, die ihr sie bestimmendes christliches Wirklichkeitsverständnis allerdings der Wirksamkeit der Kirche, genauer: der in ihr stattfindenden Verkündigung, verdanken« (211). Während die Überlegungen zu Kirchenleitung und Kirchenrecht im Rahmen der Organisationstheorie für unsere Untersuchung zur Seelsorge nichts Wesentliches austragen, berührt Preul mit der Frage nach Repräsentation von Kirche wieder einen entscheidenden Punkt. Er stellt zunächst fest, dass vor Ort v.a. der Pfarrer/die Pfarrerin »durch ihre Amtsführung und ihr Leben für die Kirche >steht< und ihr Ansehen verbürgt« (235), geht dann auf weitere Repräsentanten auf überregionaler Ebene ein und weist darauf hin, dass nach reformatorischem Verständnis zunächst jeder Christ/ jede Christin für die gesamte Kirche sprechen könne hinsichtlich der Frage nach dem grundlegenden Bekenntnis dieser Kirche. Wo die stellvertretende Kommunikation aber der bisherigen, nun problematisch gewordenen und aufgegebenen alten treten. Kirchliches Handeln hat also in diesem Zusammenhang die Aufgabe, durch bestimmte Impulse neue Variantenbildungen im Rahmen der bestehenden christlichen Tradition zu ermöglichen und zu fördern, um eine Aufgabe der gesamten Tradition zugunsten anderer Traditionssysteme zu verhindern.

50

über diese grundlegende Frage hinausgeht, ist aufgrund der sich auch in der Kirche spiegelnden gesellschaftlichen Meinungsvielfalt keine einfache Darstellung eines allen gemeinsamen Konsensus möglich. Vielmehr bestünden drei unterschiedliche Modi von Repräsentation, von denen nur die letzten beiden in ihrer Verbindung der Kirche aufgrund ihrer biblisch-reformatorischen Grundlagen angemessen seien: (1) das hierarchisch-autoritative Modell: Was die Spitze sagt, gilt für alle, weil es die Spitze sagt; (2) das Kommunique-Modell: die einzelnen Repräsentanten legen in möglichst ausgewogenen Stellungnahmen dar, »was zumindest von der breiten Mehrheit für richtig gehalten wird« (239); (3) das Modell der exemplarischen Repräsentanz: »Die Spitze [oder jemand anderes] ... verdeutlicht durch profilierte Meinungsäußerung auf exemplarische Weise jene Freiheit, die im Rahmen und auf der Grundlage derjeweiligen Organisation möglich ist und die jedem Mitglied in entsprechender Weise zukommt« (240), d.h. die eigene Meinungsäußerung wird als eine, aber nicht einzige auf der Basis der gemeinsamen Überzeugung aller Mitglieder verantwortbare Position dargestellt. 3.3 Funktionen der Kirche fiir die Gesellschaft: Lebensbegleitung und Sprachspiel-Pflege Im Anschluss an die theologische Reflexion zum Wesen der Kirche und die humanwissenschaftlichen Analysen zu Kirche als Institution, Volkskirche und Organisation beschreibt Preul in einem dritten Hauptteil, welche Funktionen Kirche in der und für die Gesellschaft übernehmen kann, d.h. wie sich die theologisch bestimmte seelsorgerliche Aufgabe der Kirche mit den in der Gesellschaft vorhandenen Bedürfnissen vermitteln lässt. Als erste unter vier Funktionen behandelt Preul das Wirken der Kirche in Bezug auf Lebenslauf und Lebensgeschichte von Individuen. Die Frage nach der Vermittelbarkeit des kirchlichen Interesses an der Kommunikation der Rechtfertigungsbotschaft mit gesellschaftlichen Interessen an der Gestaltung eines Übergangs beantwortet Preul dahingehend, dass die Rechtfertigungsbotschaft als Kern keineswegs »schon die inhaltlich erschöpfende Darstellung des christlichen Wirklichkeitsverständnisses« (245) biete und sich in einer von der Rechtfertigung her verstandenen Schöpfungslehre eine Reihe von Übereinstimmungen zu den gesellschaftlichen Erwartungen hinsichtlich kirchlicher Begleitung von Lebensübergängen finden lassen. Diese Erwartungen teilt Preul in Anlehnung an K.W. Dahm in zwei Gruppen auf: >»Darstellung und Vermittlung von grundlegenden Deutungs- und Wertsystemen< und helfende Begleitung in Krisensituationen und an Knotenpunkten des Lebens«< (246). 51

Begleitung von Lebensgeschichten erfolgt in der Kirche v.a. durch Amtshandlungen. Ihre Funktion sieht Preul in Anlehnung an J. Matthes darin, dass Kirche den einzelnen Menschen bei der Aufgabe unterstützt, seine individuelle Lebensgeschichte mit der »gesamtgesellschaftlich geregelte[n] und geltendejn] Bestimmung des >normalen< Lebenslaufs mit seinen >typischen< Einschnitten, Höhepunkten und Krisen« (248) zu vermitteln. Allerdings müsse man die zugrundeliegende Vorstellung eines >typischen< Lebenslaufs problematisieren: Angesichts einer pluralistischen Grundhaltung in der Gesellschaft gelte es als >normalFreiwilligensurvey< 199942 42 Vgl. Hradil 2 0 0 3 , 1 1 6 - 1 2 0 .

60

darauf hingewiesen, dass der seit den späten 70er Jahren beobachtete Wertewandel hin zu einem stärkeren Streben nach Eigenständigkeit, wie ihn u.a. Inglehart unter dem Begriff des >WertewandelsIndividualisierungstheseErlebnisgesellschaft< beschrieben haben,43 seit den 90er Jahren eine gegenläufige Korrektur erfährt: Erstens spielt die Gemeinschaft in den Wertvorstellungen der Menschen eine sehr viel größere Rolle als in den beiden Jahrzehnten zuvor. Diese Vorstellungen vom Wert der Gemeinschaft konkretisieren sich aber immer weniger in Gestalt selbstgewählter und jederzeit aufzukündigender Wahl-Gemeinschaften, sondern in Form der durchaus verpflichtenden, langfristig gedachten (quasi-) ehelichen Partnerschaft und der Familie. Hohe Treuevorstellungen sind damit verbunden. Zweitens ist der Wert der Sicherheit hervorgetreten. Hier konkretisieren sich die Wertvorstellungen in erster Linie in Gestalt eines sicheren Arbeitsplatzes. Und drittens haben materialistische Werthaltungen (wieder) an Bedeutung gewonnen. Sie gehen aber immer weniger mit Pflicht- und Anpassungswerten einher, wie dies noch Ronald Inglehart fand. Sie verbinden sich vielmehr mit Entfaltungswerten. Einkommen etc. wird primär als Mittel zur Selbstentfaltung geschätzt. Vielleicht sollte man diese >neu-alten< Werthaltungen als >Luxusmaterialismus< bezeichnen.44 Hradil deutet diese Veränderung als Folge einer Veränderung in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: Während die seit den späten 60er Jahren heranwachsende Generation in ihren >postmaterialistischen< Werten v.a. den Mangel an individuellen Freiheiten zu überwinden trachteten, die sie selbst erfahren hatten, stellte sich dieses Problem für die seit den 90er Jahren heranwachsende Generation nicht mehr in gleicher Weise: Während nun an individuellen Gestaltungsmöglichkeiten kaum Mangel bestand, wurde für die Wertorientierung v.a. die mangelnde Sicherheit des Arbeitsplatzes sowie die fehlende Orientierung und Harmonie in einer pluralistischen Gesellschaft entscheidend, die einen hohen Aufwand für ständige Prozesse des Aushandelns erfordert und das ständige Risiko des Scheiterns beinhaltet.45 Dabei handelt es sich, so Hradil weiter, allerdings um eine Veränderung der Werte, d.h. vor allem um veränderte Wünsche und Ziele. Schwierigkeiten sieht Hradil dagegen in der Realisierung der neuen Werte von Sicherheit und Gemeinschaft, weshalb er auch in dem beschriebenen Wertewandel keine Rückkehr zu den Zuständen im Deutschland der 50er Jahre ausmachen kann: Einerseits verbinden sich die damals ebenfalls präsenten Werte Gemeinschaft und Sicherheit heute mit anderen Werten wie Selbstverwirklichung und richten sich auf andere Inhalte (Si43 Vgl. Hradil 2 0 0 3 , 1 1 3 f . 44 Hradil 2 0 0 3 , 1 2 0 . 45 Vgl. Hradil 2 0 0 3 , 1 2 0 - 1 2 2 .

61

cherheit wird heute v.a. in Verbindung mit dem Arbeitsplatz genannt), zum anderen haben sich die Rahmenbedingungen entscheidend geändert; die Anforderungen an die Mobilität haben zugenommen und zugleich sind die eigenen Erfahrungen mit gelungenen Modellen zur Realisierung der neuen Werte Gemeinschaft und Sicherheit gering: »Diese Kluft zwischen dem >neuen< Sicherheits- und Gemeinschaftsstreben einerseits und strukturellen Bedingungen und erlernten Sozialisationsbeständen andererseits, die oftmals zu Konkurrenz, zur Vereinzelung, zu Konflikten zwingen werden, sorgt m.E. voraussehbar für kommende Probleme und Konfliktstellungen.«46 Parallel zu den skizzierten Veränderungen hat sich die Soziologie in jüngerer Zeit wieder intensiver mit dem nach 1945 für lange Zeit unter Ideologieverdacht stehenden Begriff >Gemeinschaft< auseinander gesetzt und dabei auch das 1887 erstmals veröffentlichte grundlegende Werk »Gemeinschaft und Gesellschaft« des Kieler Soziologen Ferdinand Tönnies neu gewürdigt. So hat der Hildesheimer Sozialpädagoge Heinz Sprang in einem Sammelband zur »Renaissance der Gemeinschaft«, der auf eine Tagung der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft 1987 zurückgeht, die Thesen Tönnies aufgenommen und modifiziert, indem er die Notwendigkeit einer Balance von Gemeinschaft und Gesellschaft darlegte. Tönnies verstand ursprünglich Gemeinschaft wesenhaft als organische Einheit menschlicher Willen und vertrautes Zusammenleben und Gesellschaft als mechanisch-künstliche Konstruktionen, die auf rationalen Erwägungen und Vorteilsinteressen beruhen; deshalb ging er von einem Prozess der zunehmenden Vergesellschaftung der ursprünglich als Gemeinschaft orientierten Sozialbeziehungen aus, in dem die Polarität zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft zunimmt.47 Sprang verweist demgegenüber auf die funktionalisierende Interpretation durch Max Weber, der die Begriffe »zunehmend relativ und miteinander korrespondierend« versteht: »sie bezeichnen Grade wechselseitiger Verflochtenheit bzw. unterschiedliche Anteile von Intimität/Emotionalität einerseits und Interessenhaftigkeit/ Zweckrationalität andererseits« (78). Diese Relativierung der globalen Bedeutung der Begriffe >Gemeinschaft< und >Gesellschaft< durch Weber sieht Sprang weiter fortgesetzt bei Gerhard Wurzbacher, der anstelle der beiden Globaltypen sozialer Beziehungen nun eine Triade von »partieller ausgerichteten, frei kombinierbaren Strukturfaktoren« vorschlägt: »Organisations-, Solidarisations- und Individualfaktor« (80). Der Vorteil dieser Veränderung liegt für Sprang darin, dass er eine Sichtweise fördert, »in der das personalisierte Individuum zum Maßstab für die Befindlichkeit sozialer Verhältnisse wird« (80). Der Prozess der zunehmenden Vergesellschaftung bewirkt daher in dialekti46 Hradil 2 0 0 3 , 1 2 3 f . 47 Vgl. Sprang 1990, 76f. folgenden auf diesen Aufsatz.

62

Alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich im

scher Weise zugleich Vergemeinschaftung, indem die Vergesellschaftung mit Individualisierung einhergeht und Individuen hervorbringt, welche die Vor- und Nachteile beider Faktoren (Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung) erleben und nach einer der individuellen Selbstverwirklichung angemessenen Balance streben, »wobei das Niveau [ihrer] sozialen Kompetenz und das Bestreben nach hinreichender Befriedigung [ihrer] sozialen Grundbedürfnisse die entscheidenden Regulative sind« (83). Während Tönnies die Möglichkeiten zukünftiger Vergemeinschaftung angesichts des zunehmenden Prozesses der Vergesellschaftung zu seiner Zeit zunächst kritisch einschätzt, später jedoch einige Hoffnung in die Entwicklung des Genossenschaftswesens setzt, kann Sprang in der Gegenwart eine Vielzahl unterschiedlicher Vergemeinschaftungsprozesse erkennen, die er in ein typologisches Schema einordnet: (VjPseudo-Vergememschaftung wird von Sprang weiter ausdifferenziert in taktische und affektuelle Formen: letztere umfassen die massensuggestive, temporäre Gleichschaltung Einzelner als Teilnehmer bei Großveranstaltungen oder als manipulierter Verbraucher; erstere kann tauschorientiert sein (zwischenmenschliche Beziehungen werden eingesetzt, um einen Handel zu fördern, oder werden selbst zum Gegenstand eines Handels, z.B. in der >jovialen< Art von Rundfunk- oder TV-Moderatoren), oder »integrationsideologisch« (86; Gegensätze werden verleugnet zugunsten einer den Status quo sichernden Harmonie, z.B. in Betrieben zwischen Management und Mitarbeitenden: >wir sitzen alle in einem BootTräger arrangierter Vergemeinschaftung< im Sinne von Sprang zu werden und damit nicht nur ihrem theologisch bestimmten Wesen als communio sanctorum, sondern auch dem menschlichen Bedürfnis ihrer Mitglieder nach einer Balance zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft zu entsprechen. Dabei gilt es freilich zunächst eine für das Christentum als Buchreligion schwierige Hürde zu meistern, die Tietz aufstellt, indem er gleich eingangs dezidiert der »substantialistischen These« widerspricht, nach der »sich die Grenzen von partikularen Wir-Gemeinschaften mit Rekurs auf eine gemeinsam geteilte Tradition, Kultur oder Sprache bestimmen lassen«.51 Statt dessen bestimmt Tietz diese Grenzen, aus denen sich auch die Identität einer Gemeinschaft erheben lässt, »mit Rekurs auf jene Wertungsoperationen [...], mit denen sich die Mitglieder dieser Gemeinschaften auf ein gemeinsam geteiltes und nur gemeinsam zu realisierendes Gutes beziehen« (11). Tietz geht dabei methodisch von der faktisch bestehenden Kommunikation zwischen Mitgliedern einer Gemeinschaft aus, die sich selbst und andere Mitglieder ihrer Gemeinschaft mit >wir< bezeichnen, während andere Menschen, die nicht zu dieser Gemeinschaft gehören, mit >ihr< oder >sie< bezeichnet werden. Im Kern seiner Überlegungen steht die Annahme, »daß im Inneren der sprachlichen Praktiken von partikularen Wir-Gemeinschaften die Idee eines richtigen Lebens angesiedelt ist, die aufs engste mit den Grenzen des Wir verbunden ist.« (11) Mit dem methodischen Vorrang der erstrebten Zukunft vor der traditionsbestimmten Vergangenheit für die Bestimmung der Gemeinschaft in der Gegenwart vollzieht Tietz freilich eine Denkfigur, die auch der Theologie nicht unbekannt ist. Große dogmatische Entwürfe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, besonders prominent Wolfhart Pannenberg und Jürgen Moltmann,52 haben den Primat der Eschatologie innerhalb der Dogmatik zur Methode erhoben und auch die Bedeutung des Christusereignisses primär in seiner Vorwegnahme des für die Menschheit insgesamt noch ausstehenden Heils gesehen, was sich exegetisch u.a. mit dem Verweis auf die Bedeutung der Reich-Gottes-Verkündigung für den historischen Jesus rechtfertigen lässt. Und auch Tietz räumt zwar der auf die Zukunft bezogenen >Idee eines richtigen Lebens< den Primat ein, holt aber schließlich die zunächst beiseitegeschobene Tradition mit anderem Status wieder in seine Bestimmung von Gemeinschaft ein, wenn er im letzten Kapitel unter den Überschriften »Die Gegenwart der Vergangenheit« und »Die Zukunft der Gegenwart« sich zwar gegen eine »Hypostasierung des Überlieferungszusammenhangs« (257) wehrt, aber 51 Tietz 2002, 11; alle weiteren Verweise hierauf erfolgen durch eingeklammerte Seitenzahlen im Text. 52 Vgl. u.a. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie. Band 1-3, Göttingen 1988—1993; Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung, München 1966.

65

dennoch an einer relativen Vorgängigkeit der Tradition festhält: weil die Tradition einer Gemeinschaft auch Aussagen über das gemeinsam zu verwirklichende Gute beinhaltet, ist sie auch für die Identität der Gemeinschaft relevant, und weil die in der Gemeinschaft verbundenen Individuen sich »immer schon in einer historisch kontingenten Gemeinschaftstradition vorfinde[n]« (258) und keinen neutralen Standpunkt außerhalb einnehmen können, lassen sich immer nur einzelne Aspekte dieser Tradition in Frage stellen, niemals aber die Tradition als ganze. 6.1 Die Rationalität von partikularen

Gemeinschaften

Zu Beginn seiner Untersuchung rückt Tietz jedoch zunächst die gemeinsam geteilten Überzeugungen in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen und zeigt, dass partikulare Wir-Gemeinschaften diese in doppelter Weise voraussetzen: zum einen im hermeneutischen Sinn als »intersubjektiv geteilte Sprache« (13) im Sinne eines gemeinsamen, inhaltlich gefüllten Vorverständnisses, das ein wechselseitiges Verstehen erst ermöglicht (ohne dass es sich dabei um die gleiche Muttersprache handeln muss, wie das Beispiel der Schweiz zeigt, vgl. 26), zum anderen und darüber hinausgehend im ethischen Sinn als normativer Konsens im Blick auf wertrationale Überzeugungen. Mit dieser Bestimmung grenzt sich Tietz zugleich gegen Positionen ab, die partikularen Wir-Gemeinschaften eine je eigene Rationalität zuschreiben, die gegenüber Außenstehenden nicht zu rechtfertigen sei (vertreten z.B. von Richard Rorty); das damit verbundene Alles-oder-Nichts-Schema entspricht für Tietz nicht den tatsächlichen Möglichkeiten zum Verstehen und damit auch zur Rechtfertigung auch außerhalb einer partikularen Wir-Gruppe. Tietz unterscheidet hier zwei Formen von Rationalität: Rationalität] beschreibt eine Person bzw. deren Äußerungen als zumindest »minimal vernünftig« und damit grundsätzlich verstehbar, während Rationalität2 auf der Basis von vorhandener Rationalität] eine weitere, relative Differenzierung vornimmt zwischen >vernünftig< und >unvernünftigwir< umfasst, »dessen Verhalten auf der Basis hermeneutischer Verstehenspräsuppositionen als zumindest >minimal vernünftig< zu bezeichnen ist« (14). Letztere hingegen »sind keine homogenen, in sich abgeschlossenen, diskret voneinander abgetrennten kugelförmigen Einheiten, sondern historisch und sozial bestimmte Gebilde, die mehr oder weniger ineinander übergreifen. Wir 2 -Gemeinschaften sind Gemeinschaften, die durch >Fa66

milienähnlichkeiten< miteinander verbunden sind.« (60) Dabei ist es eher die Regel als die Ausnahme, daß einzelne Individuen Mitglied in mehreren Wir 2 -Gemeinschaften sind.

6.2 Kommunikation über Werte als Basis von Gemeinschaft In Aufnahme der Position Tönnies, der begrifflich seinerseits auf Kant zurückgreift, unterscheidet Tietz dann bei den Wir 2 -Gemeinschaften noch einmal zwischen commeräum und communio·. Während erstere Gruppe zwar etwas Gemeinsames bewirken kann (das commercium der Börsenhändler z.B. den Anstieg eines bestimmten Aktienkurses), aber keineswegs aufgrund gemeinsamer Intentionalität handelt, können die Mitglieder der letzteren gerade aufgrund ihrer gemeinsamen normativen Uberzeugungen intentional etwas Gemeinsames bewirken. Gegenstand der weiteren Betrachtungen ist für Tietz im Anschluss an diese Differenzierung die Wir 2 -Gemeinschaft als communio. Dabei betont er, dass trotz aller Ideologiekritik, mit der die Position Tönnies später konfrontiert wurde, die These von der Vorgängigkeit der Gemeinschaft (communio) gegenüber der Gesellschaft (commercium) schon aufgrund der Notwendigkeit von Gemeinschaftsbüdung für die Fortpflanzung nicht ernsthaft bestritten werden kann, und daß Tönnies bereits eine sehr moderne Vorstellung von der Einheit hat, die innerhalb einer Wir 2 -Gemeinschaft als communio besteht: diese ist prozedural hergestellt, d.h. durch gegenseitige Bejahung, und besteht als Einheit des Differenten, ist also nicht homogenisierend gedacht. So ergibt sich die Konzeption eines kollektiven Selbstverhältnisses, welches erreicht wird, indem die Mitglieder der Gemeinschaft sich miteinander darüber verständigen, was sie, gemessen an den gemeinsam geteilten Werten, die sich darauf beziehen, was aus der Sicht der Gruppenmitglieder der Gemeinschaft aufs Ganze gesehen gut oder besser für sie ist, gemeinsam wollen< können. (71) Dass die Integration der Gemeinschaft über die kommunikative Herstellung von Konsens zwischen Individuen über die gemeinsam geteilten Werte erfolgt, kann Tietz auch im Rekurs auf die Theorie des symbolischen Interaktionismus von G. H. Mead darstellen. Dabei erweist sich die Kommunikation als konstitutiv für die Identität einer partikularen Wir 2 -Gemeinschaft, weil das Bestehen von Gemeinschaft neben dem auf ein gemeinsames Ziel gerichteten Handeln auch das Bewusstsein von der bestehenden Obereinstimmung voraussetzt, das nur kommunikativ hergestellt werden kann. Für Tietz ergibt sich daraus, »daß nicht nur die Sprache in dem Gespräch gründet, von dem Heidegger einmal sagte, dass >wir< es sind, sondern auch die Gemeinschaft, die, wie vermittelt auch immer, aus der Ich-Du-Perspektive von 67

Kommunikationsteilnehmern ihr normatives Selbstverständnis schöpft — so, daß sich selbst noch die Institutionen, die eine Gemeinschaft sich gibt, und deren Wandel auf diese Weise erklären lassen. [...] Das Verfahren der diskursiven Willensbildung trägt so der Autonomie unvertretbarer Individuen und ihrer Mitgliedschaft in der intersubjekdv geteilten Lebensform einer partikularen Wir-Gemeinschaft Rechnung.« (78). Den Diskurs, um den es bei der angesprochenen Willensbildung geht, möchte Tietz allerdings nicht im Habermasschen Sinne verstanden wissen. Weil sich die Notwendigkeit des Dialogs aus der Brüchigkeit von Sinnzusammenhängen ergibt und Habermas sein Modell auf die Prüfung von Geltungsansprüchen beschränkt, erweitert Tietz es um den von Schnädelbach vorgestellten >sinnexplikativen DiskursStadium des Suchens und Berechnens< werden sodann verschiedene Handlungsoptionen ausprobiert, die zu einer dem jeweiligen Kontext angemessenen Handlung fuhren könnten. (81) 6.3 Werte als intersubjektive Regeln für Präferen^aussagen Ein entscheidender Punkt in Tietzs Denkgebäude ist sein Verständnis von Werten. Diese stellen für ihn keine eigenständige ontologische Größe dar — ein seiner Meinung nach im nachidealistischen Zeitalter nicht mehr vertretbarer Ansatz - , sondern über eine Grammatik der evaluativen Rede entwickelt er die These, dass Werte »Verwendungsregeln von Wertprädikaten« (14) darstellen, d.h. »Werte legen Vorzugsrelationen fest, die besagen, daß bestimmte Güter attraktiver sind als andere« (110). Sie unterscheiden sich damit in unterschiedlicher Weise sowohl von Begriffen, die sich auf Weltgegenstände beziehen und deshalb zum Inhalt von Urteilen werden können, die wahrheitsfähig sind, wie auch von Normen, die zum Inhalt von absoluten Geltungsaussagen werden können: Gegenüber den Urteilen fehlt ihnen der Weltbezug und damit die Wahrheitsfahigkeit, gegenüber Normen verweisen sie nicht auf einen absoluten, sondern auf einen graduellen, relativen Geltungsanspruch, der nicht universal, sondern partikular ist. Werte, die für das ethisch-existentielle Selbstverständnis von partikularen Wir2Gemeinschaften konstitutiv sind, drücken die Vorzugswürdigkeit von Gütern aus, die in bestimmten Kollektiven als erstrebenswert gelten und durch zielge68

richtetes Handeln erworben oder realisiert werden können. [...] Die Praxis des Wertens und Bewertens lernen wir analog zur >Praxis des empirischen Urteilensc >Es werden uns Urteile beigebracht und ihr Zusammenhang mit anderen Urteilen. Ein Ganges von Urteilen wird uns plausibel gemacht, wobei es der niberkommene Hintergrund< ist, auf welchem die Mitglieder von partikularen Wir 2 -Gemeinschaften zwischen >gut< und >schlecht< zu unterscheiden lernen. Werte sind etwas durch und durch Intersubjektives, so daß Versuche, sie aus Privatoptionen erklären zu wollen, von Hause aus auf Scheitern angelegt sind. (109f, mit einem Zitat von Wittgenstein) Eine besondere Gruppe innerhalb der so beschriebenen Werte stellen nach Tietz die normativen Werte dar, die Bewertungen von Normen vornehmen und damit ein Bindeglied zwischen partikularem Ethos und universaler Moral bilden: Normative Werte sind Werte, die das Faktum universalistischer Prinzipien der Moral positiv bewerten. Mit solchen Werten liegt eine Bewertung der Moral im ganzen vor. Und eine solche Bewertung ist selbst kein moralisches, sondern ein ethisches Urteil, mit dem die Mitglieder einer partikularen Wir2-Gemeinschaft eine Antwort auf die Frage geben, warum sie moralisch sein wollen [...] Moralische Einsichten binden den Willen nämlich erst dann, wenn sie in ein ethisches Selbstverständnis eingebettet sind, das die Sorge um das Wohl für das Gerechte einspannt. (111) Einzelne Werte - ob sie nun normative Werte sind oder nicht - sind stets eingebunden in eine Präferenzordnung, die jeweils für eine bestimmte Gruppe zu einer bestimmten Zeit gilt. Als Regeln für die evaluative Beurteilung von Gegenständen und Sachverhalten auf der Basis dieser Präferenzordnung können Werte auch über persönliche Präferenzen hinaus >Geltung< haben; diese >Objektivität< ist jedoch lediglich ein Ausdruck ihrer intersubjektiven Geltung, die ihre Veränderung erschwert, aber nicht verunmöglicht. Welche Argumente für die Geltung eines bestimmten Wertes angeführt werden können, ist abhängig von der konkreten Präferenzordnung einer Gruppe und der darin zum Ausdruck kommenden Rationalität 2 und kann daher ebenso Gegenstand des Diskurses werden wie die Geltung selbst. Ethische Diskurse lassen sich von daher nicht im Rückgriff auf letztbegründende Sätze zu einem Ende führen, sondern beruhen auf dem »Geltungsanspruch der Authentizität, [...] der, wenn er in Frage gestellt wird, [...] immer nur durch Sprechakte erneut beteuert oder aber praktisch eingelöst werden kann« (153). Dem entspricht es, dass die in den ethischen Werten zum Ausdruck kommende kollektive Konzeption des Guten stets nur eine partikulare sein kann, weshalb auch der Dissens in ethischen Fragen zwischen unterschiedlichen Wir 2 -Gemeinschaften »erwartbar und auch moralisch legitim« (156) ist. Die deshalb gebotene Toleranz gegenüber anderen partikularen Gemeinschaften endet allerdings dort, wo deren Selbstverständnis »mit jenen allgemeinverbindlichen Normen oder Prinzipien konfli69

giert, die auch jenseits der partikularen Wir 2 -Gemeinschaft Geltung beanspruchen können« (156). 6.4 Das Verhältnis von Individuum und

Wir2-Gemeinschaft

Fragt man nach dem Inhalt des Selbstverständnisses, das einer partikularen Wir 2 -Gemeinschaft zugrunde liegt, so lassen sich zwei Dimensionen unterscheiden: eine »desknptiv-hermeneutische« (161), die sich aus den gemeinsam geteilten Geschichten ergibt, wie sie in dieser Gemeinschaft als >>Quellen des Wim (159) erzählt werden, und eine »normativ-pro^edurale« (161), in der es »um die Frage des Wir-Ideals geht« (161), d.h. um die praktische Frage nach dem Handeln der Gemeinschaft, nach der »unmittelbare^] oder weitere[n] Zukunft des Kollektivs«, nach dem »Spielraum der freien Entscheidung« und ihren Grenzen, nach dem, »was aufs Ganze gesehen gut oder besser für ein Kollektiv ist« (164f). Tietz weist darauf hin, dass das normative Selbstverständnis, das in diesen Fragen von den Mitgliedern einer partikularen Wir2-Gemeinschaft gefordert ist, »eine Übereinstimmung in zentralen Punkten ist, die immer ein gewisses Maß an Differenz aushält« (168). Den Mitgliedern einer Gemeinschaft kommt damit ein besonderer normativer Status zu, der sich darin äußert, dass sie bestimmten Richtigkeitsstandards in ihrem Verhalten unterworfen sind, »die in der betreffenden Gemeinschaft kollektiv anerkannt sind« (168). Dieser Status wird in performativen Äußerungen, d.h. per expliziter Zuschreibung durch eine der Gemeinschaft zugehörige und von ihr dazu ermächtigte Person an eine andere Person übertragen und stattet diese mit bestimmten Rechten und Pflichten aus, »wobei jede einzelne dieser Statuszuweisungen mit internen Bewertungskategorien verknüpft ist, mit denen die Mitglieder dieser Wir 2 -Gemeinschaft dann darüber befinden, ob das betreffende Gemeinschaftsmitglied, gemessen an dem, was es entsprechend seines Status zu tun oder zu lassen hat, ein gutes Gemeinschaftsmitglied ist« (172). Fragt man genauer nach dem Verhältnis des Individuums zu seinem mit bestimmten Rollen verbundenen Status, so hilft das Konzept des generalisierten Anderem weiter, mit dem G.H. Mead die Entwicklung der individuellen Identität in einer Dialektik zwischen >I< und >Me< beschreibt, wobei »das >Me< als der kollektive Träger des ethischen Bewusstseins verstanden werden kann, das an den Konventionen und Praktiken einer besonderen Gemeinschaft haftet« (184). Mead kommt dabei zu dem Ergebnis, »daß der Einzelne nur dann >eine vollständige Identität entwickeln und die, die er entwickelt hat, besitzen< kann, wenn er >die Haltungen der organisierten gesellschaftlichen Gruppe, zu der er gehört, gegenüber der [=den?] organisierten, auf Zusammenarbeit beruhenden gesellschaftlichen Tätigkeiten, mit denen sich diese Gruppe befaßt, annimmt«< (185). Der Einzelne ist deshalb für die Übernahme sei70

ner Identität »auf die Anerkennung durch das Kollektiv angewiesen« (185). Das bedeutet jedoch nicht, dass der Einzelne einer bestimmten Wir 2 Gemeinschaft mit ihren Überzeugungen ausgeliefert wäre. Weil die Gemeinschaften unter den Bedingungen der Moderne selbst um die Existenz anderer Gemeinschaften wissen und sich ihnen gegenüber in der Spannung von Nähe und Distanz verhalten, steht diese Möglichkeit auch dem Individuum gegenüber der Wir 2 -Gemeinschaft offen, zu der es sich zugehörig weiß. Indem von ihm eine Stellungnahme gegenüber den normativen Erwartungen der Gemeinschaft erwartet wird, erhält er zugleich die Möglichkeit zur Distanznahme — auch wenn dies mit »der Mißbilligung der ganzen Gemeinschaft« (194) verbunden sein kann. Doch auch für diesen Fall gibt es vorgezeichnete Wege des Umgangs damit: Die einzige Methode, durch die wir die Mißbilligung der ganzen Gemeinschaft umgehen können, liegt darin, daß wir eine höhere Gemeinschaft errichten, die in gewissem Sinn die von uns vorgefundene Gemeinschaft überstimmt. (194, Zitat Mead) Mit dieser Möglichkeit der Distanznahme bieten moderne Gemeinschaften eine Freiheit, die partikulare und universalistische Tendenzen miteinander versöhnt: Eine Gemeinschaft, die universalistische Prinzipien institutionalisiert hat, die also die individuelle Freiheit ihrer Mitglieder garantiert, verkörpert nun aber nicht nur ein historisch-kontingentes, sondern ein rational-universalistisches Ethos — weshalb man hier auch von einem partikular-allgemeinen Ethos sprechen kann. Und mit solch einem rational-universalistischen Ethos kann man auch als ein rationales und auf seine Autonomie bestehendes Individuum >versöhnt< sein. (199) Beschreibt man die Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft umgekehrt aus der Sicht der Gemeinschaft, so zeigt sie sich als Dialektik von Inklusion und Exklusion, die als »zwei Seiten einer Medaille« (226) erscheinen: Indem bestimmte Personen als Mitglieder einer partikularen Wir-Gruppe benannt werden, werden zugleich alle anderen als NichtMitglieder ausgeschlossen. Dabei kann die Benennung — anders als beim commercium — ausschließlich von innen erfolgen, d.h. durch die Gruppenmitglieder selbst und, wie bereits dargestellt, in Form von Statuszuschreibungen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass unter den Bedingungen der Moderne diese Statuszuschreibungen nie die gesamte Identität eines Individuums betreffen: Wir gehören nämlich ganz unterschiedlichen Wir2-Gemeinschaften an, was sich an den vielfaltigen Verwendungsweisen des selbstbezüglichen Ausdrucks >wir< ablesen läßt. Daher ist >Identität [...] immer weniger monolithisch, sondern nur noch plural möglich. Leben unter heutigen Bedingungen ist Leben im Plu71

ral, will sagen: Leben im Übergang zwischen unterschiedlichen Lebensformen/ [...] Die soziale Welt ist ein Konglomerat sozialer Kollektive, die sich im Sinne von teils konzentrischen, teils einander überlappenden sozialen Kreisen verstehen lassen - die von der Familie über nationale bis zu übernationalen Einheiten reicht. (229f) 6.5 Das Gespräch als Medium %ur Aufrechterhaltung von Gemeinschaft Wenn die Identität von Gemeinschaften von der im Gespräch vollzogenen Zustimmung ihrer Mitglieder zu den gemeinsamen Werten abhängt, dann wird das Gespräch zum Ort ihrer Existenz und bedarf angesichts der ständig präsenten Möglichkeit einer Veränderung der gegebenen Werte der ständigen Fortsetzung. »Allein im Gespräch, also im Prozeß der sprachlichen Verständigung über die Frage, was aufs Ganze gesehen gut oder besser für die jeweilige Gruppe ist, hat der Gemeinsinn - und damit auch das Gemeinwohl und schließlich die Gemeinschaft selbst — ihr Dasein. Außerhalb der diskursiven Praxis haben sie keinen Ort: Nirgends!« (252) Der Grund dafür liegt in der Fähigkeit des Individuums, »von den kollektiv geteilten Werten und Handlungen zurücktreten zu können und diese einer erneuten Prüfung zu unterziehen« (267f); bereits bejahte Überzeugungen können aufgrund neuer Gründe und Überzeugungen an Plausibilität verlieren und werden dann durch neue Überzeugungen ersetzt. Dafür muss die Wir2-Gemeinschaft unter den Bedingungen der Moderne einen Freiheitsraum ebenso bereitstellen wie für die Entscheidung eines Mitglieds für oder gegen die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. Die konkreten Entscheidungen und Veränderungen erfolgen freilich nie im luftleeren Raum, sondern stets auf dem Hintergrund einer Idee vom guten oder gelingenden Leben, die durch die Tradition der Gemeinschaften geprägt ist, denen das Individuum bisher angehört hat. Die Identität einer Gemeinschaft, die auf diese Weise verändert wird, steht folglich stets in der Spannung zwischen Tradition und Neuerung, zwischen >gefunden< und >gemachtQuellen des Wir< und dem >WirIdealsemantischen Autoritär ihrer Mitglieder zusammen, daß diese auf der Basis alter Geschichten neue Geschichten über das je eigene Dasein ersinnen, durch die die Bedeutung der Beziehungen zu einer Personengruppe vermindert und die zu einer anderen Gruppe gesteigert wird. Daher ist auch das einzige, worauf man sich von den Praktiken einer bestimmten Gemeinschaft ausgehend sinnvoll berufen könnte, die Praxis einer besseren Gemeinschaft. (270) 7. Exkurs: Seelsorge und Kirche in systemtheoretischer Sicht (Isolde Karle) In ähnlicher Weise wie die vorliegende Arbeit begreift auch Isolde Karlf3 Seelsorge vom Wesen der Kirche her. Sie greift dafür ebenfalls auf die Kirchentheorie von R. Preul zurück und bestimmt Seelsorge funktional als „religiöse Kommunikation", 54 wobei sie diesen Kommunikationsvorgang im wesentlichen mit Hilfe der Systemtheorie Luhmanns versteht. Dazu verweist sie in ihrer Kieler Dissertation auf die grundlegende Differenz zwischen psychischen und sozialen Systemen, die einen direkten Austausch von Information unmöglich machen und dazu führen, dass Verstehen zwischen zwei psychischen Systemen nur durch den mit einer doppelten strukturellen Kopplung verbundenen Durchgang durch ein System sozialer Kommunikation möglich und dadurch zugleich in der Authentizität des Mitgeteilten begrenzt wird. 55 Eine rein auf psychoanalytischen Begriffen beruhende Hermeneutik für menschliche Psyche, Gesellschaft und Geschichte vernachlässige diese Differenz ebenso, wie eine rein auf die psychischen Konflikte des Individuums fokussierte Seelsorge die Bedeutung der sozialen Systeme für das Individuum übersehe. Individuelle Identität sei unter den Bedingungen der Moderne nicht mehr einfach vorgegeben, sondern jeweils neu zu konstruieren, wobei die Semantik der verschiedenen Kommunikationssysteme, an de53 Vgl. Karle 1996; 1999. 54 Karle 1996, 243. 55 Vgl. Karle 1996, 127-144, bes. 136ff.

73

nen das Individuum teilhabe, die Konstruktion wesentlich beeinflusse. Karle plädiert deshalb für eine Seelsorge, die sich dezidiert von der systemischen Einordnung der Kirche als System religiöser Kommunikation, d.h. auf die in der Moderne an das Individuum delegierten »Sinnprobleme«56 bezogener Kommunikation, versteht. Anders als die vorliegende Arbeit bezieht Karle jedoch - trotz ihrer Kritik am Individualismus und an der Bedürfnisorientierung moderner Poimenik — Seelsorge immer noch auf das beim einzelnen Menschen zu behebende Defizit, das jetzt allerdings nicht mehr dem Individuum zugeschrieben, sondern als gesellschaftlich bedingt verstanden wird: Seelsorge hat demnach die Aufgabe, mit den Ressourcen des christlichen Sprachspiels »Möglichkeiten und Angebote der Störung und Relativierung der gesellschaftlich quasi vorgeschriebenen Egozentrik zur Verfügung zu stellen«.57 Die vorliegende Arbeit beschreibt dagegen Seelsorge nicht primär von ihrer Funktion für das Individuum her, sondern wählt ihre Funktion für die Kirche zum Ausgangspunkt. Ihr Interesse gilt deshalb vor allem der Gemeinschaftsorientierung von Seelsorge, die bei Karle nur in einem kurzen Hinweis zur Sprache kommt - Karle spricht in diesem Zusammenhang mit Verweis auf den Münchner Sozialpsychologen Heiner Keupp von der Funktion der Ortsgemeinde als soziales Netzwerk,58 »in dem Individuen ihre eigene Identität im Zusammensein mit anderen bilden und weiterentwickeln können - im wechselseitigen Austausch ihrer Erfahrungen, aber auch in Auseinandersetzung mit den vielfältigen Erfahrungen der biblisch-christlichen Tradition«.59 Die Kommunikation des Evangeliums in der Seelsorge erfolge als Gebrauch von »[c]hristliche[n] Sinnformen wie Gebete, Psalmen, Lieder«, die durch ihre »Gediegenheit« »überindividuelle Sinnzusammenhänge« herstellten,60 aber auch auf Grund ihrer Fremdheit wirksam seien im Hinblick als Störung, die neue Wahrnehmung ermögliche.61 Damit beschränkt Karle sich auf die Funktion von Seelsorge für individuelle Psychosysteme; die Funktion von Seelsorge für das soziale System Kirche kommt dagegen nicht eigens in den Blick. Gerade diese Funktion ist jedoch für eine dezidiert nicht mehr vom Individuum, sondern von der Kirche als Gemeinschaft bestimmte Poimenik zentral; und erst in dieser Sicht wird auch deutlich, daß Seelsorge eben kein einseitiges Handeln der Kirche am Individuum ist, sondern ein Teil des die Kirche als System konstituierenden autopoietischen Prozesses: die Kommunikationsbeiträge der von Karle als wesentlich wahrnehmend beschriebenen psychischen Systeme dienen dem sozialen System Kirche als Sen56 57 58 59 60 61

74

Karle 1996, 239; vgl. 2 0 6 - 2 4 4 . Karle 1999, 217. Vgl. Karle 1996, 241 f. Karle 1 9 9 9 , 2 1 9 . Karle 1999, 216. Karle 1999, 217.

soren für die durch Veränderungen in ihrer Umwelt bedingten Plausibilitätsverluste der eigenen Kommunikation, die dann durch die im Prozeß des Aushandelns zwischen ihren Mitgliedern erfolgende Variantenbildung wieder aufgehoben werden müssen. Dabei ist es neben der Gediegenheit der Sprache vor allem deren wesentlich eschatologische Gestalt als Sprache der Hoffnung, welche die aus der Vergangenheit mehr oder weniger vertrauten Bilder und Symbole für die Gegenwart bedeutsam erscheinen läßt, sofern sie durch kontinuierliche Variantenbildung62 trotz mannigfacher Störungen auch in der Gegenwart noch als angemessener Ausdruck einer möglichen und erstrebenswerten Zukunft erscheinen kann, die in ihrer eschatologischen Fülle - und hier stimmt die vorliegende Arbeit wieder mit Karies Betonung des verbum alienum überein — nicht vom Individuum aus eigener Kraft entworfen oder geschaffen wird, sondern von Gott als Geschenk verheißen ist.

8. Zusammenfassung. Seelsorge als Sorge fiir den Fortbestand der communio sanctorum Die Kirche als Gemeinschaft, auf die Seelsorge als Handeln der Gemeinschaft an einzelnen Mitgliedern bezogen ist, hat im Durchgang durch die verschiedenen Blickrichtungen an Gestalt gewonnen. Im Folgenden möchte ich die wichtigsten Elemente kurz noch einmal aufgreifen und darauf hin zuspitzen, wie eine Seelsorge aussieht, die dieser Gestalt von Kirche entspricht. Zunächst bleibt mit Schwöbel festzuhalten, dass Kirche ihre Existenz als communio sanctorum der innertrinitarischen Gemeinschaft verdankt, die im Heilshandeln Gottes durch Jesus Christus und den Heiligen Geist auf die Menschen ausgeweitet wurde. Die Kirche ist damit Teil der auf die Welt gerichteten, universalen Kommunikationsbewegung Gottes, die auf die Einbeziehung der gesamten Schöpfung in das gute, der Bestimmung Gottes entsprechende Leben im Reich Gottes ausgerichtet ist. Kirche existiert dabei aber, wie u.a. der ökumenische Dialog zeigt, immer nur in der partikularen Gestalt örtlich und konfessionell begrenzter Gemeinschaften. Aus dieser Perspektive erscheint in der Tat eine hinreichende Übereinstimmung zwischen der Theorie partikularer Wir 2 -Gemeinschaften als Gruppen von Individuen, die sich gemäß der Beschreibung von Tietz über kommunikative Übereinstimmung in bestimmten Werten, d.h. in ihrer Sicht darauf, wie ein gutes und gelingendes Leben für sie als Gemeinschaft aussieht, konstituieren, und der ekklesiologischen Bestimmung der Kirche als Gemeinschaft von Menschen, die nach lutherischem Verständnis ebenfalls über Kommunikation konstituiert ist, näm62 Siehe unten Kapitel 2, Abschnitt 1.4.

75

lieh die Kommunikation des Evangeliums, also der Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders als Voraussetzung für das erhoffte gelingende Leben im Reich Gottes. Der Unterschied liegt zunächst darin, dass in der Kirche als communio sanctorum die Vorstellung vom gelingenden Leben eine eschatologische Größe darstellt, während bei Tietz die ganz konkrete, unmittelbare Zukunft als gestaltbare gemeint ist. Beides muss sich jedoch nicht ausschließen; vielmehr scheint es, dass die lokalen Wir2-Gemeinschaften, in denen Kirche >vor Ort< existiert, nur dann in engerer Gemeinschaft zusammen leben können, wenn es ihnen gelingt, die große eschatologische Münze in konkrete, realisierbare Visionen von gelingendem Leben umzusetzen, die freilich nicht nur notwendig in stärkerem Maße partikular sind, weil sie im Kontext einer bestimmten, zeitlich und räumlich beschränkten Situation entwickelt werden, sondern auch als Visionen vom gelingenden Leben notwendig fragmentarisch bleiben, insofern sie das eschatologisch verheißene Heil gerade nicht selbst herstellen können, sondern sich lediglich zeichenhaft darauf beziehen. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass die angesprochenen >lokalen Wir2-Gemeinschaften< nicht identisch sind mit der Parochie, der Ortsgemeinde als Organisationseinheit einer Landeskirche. Entscheidend ist vielmehr der direkte kommunikative Kontakt der Mitglieder einer Wir2-Gemeinschaft sowie deren Selbstverständnis, das im Gebrauch des gemeinsamen >wir< zum Ausdruck kommt; nur dadurch wird eine Personengruppe zur Gemeinschaft im hier gemeinten Sinn. Ob es sich dann um Lokal- oder Personalgemeinden handelt, ob die Menschen, die >wir< sagen, langfristig oder nur für einen begrenzten Zeitraum (z.B. auf einer Freizeit oder Tagung) miteinander in Kontakt stehen, trägt dagegen nur für den Grad möglicher Intensität der Gemeinschaft etwas aus, nicht aber für das Faktum der Gemeinschaftsbildung. Analog zu den nationalen Wir2-Gemeinschaften, von denen Tietz sprechen kann, gilt dabei: Auch die regionalen (oder landeskirchlichen, nationalen, ...) kirchlichen Verbände welcher institutionellen Struktur auch immer können zu Wir2-Gemeinschaften werden, sofern sie in Form der Kommunikation unter ihren Mitgliedern ein entsprechendes Wir-Bewusstsein schaffen und erhalten können. Insofern Kirche in Gestalt der lokalen (oder auch der regionalen, landeskirchlichen, nationalen, ...) Wir2-Gemeinschaften aber konkrete und deshalb in größerem Maß partikulare Visionen von dem entwickeln, was für diese konkrete Gemeinschaft in der Gegenwart gelingendes Leben darstellt, werden sie auch anfalliger für Dissens innerhalb der Gemeinschaft über diese Visionen. Dabei kann sich eine Gemeinde gegenüber dissentierenden Mitgliedern nicht mehr einfach auf vorgegebene Normen berufen, weil diese, wie von Schwöbel und Preul gezeigt wurde, lediglich den Kernbestand an Gemeinsamkeit festschreiben, der in der reinen Verkündigung des Evangeliums und der rechten Verwaltung der Sakramente besteht. Daher ist die Gemeinschaft darauf angewiesen, in 76

fortlaufendem Dialog zu prüfen, ob die bereits formulierten Visionen noch ausreichend plausibel erscheinen, oder gegebenenfalls verändert werden müssen, um angesichts veränderter Rahmenbedingungen neue Plausibilität zu gewinnen. Dabei ist insbesondere der Dialog mit denjenigen Mitgliedern notwendig, bei denen sich der lebensweltliche Horizont besonders stark verändert hat, weil hier damit zu rechnen ist, daß bisherige Selbstverständlichkeiten plötzlich nicht mehr gelten und Veränderungen in der individuellen Sicht auf das, was als gelingendes Leben gilt, zu erwarten sind: also Situationen, die traditionell von der Kasualseelsorge abgedeckt werden ebenso wie individuelle Krisen und Umbrüche, ob sie nun durch punktuelle Ereignisse verursacht sind (z.B. in der Notfallseelsorge) oder als langsame Entwicklung nur plötzlich an bestimmten, symbolischen Ereignissen festgemacht und dann in besonderer Weise erlebt werden (z.B. das Altern anhand runder Geburtstage), aber auch Situationen, in denen sich das gemeinschaftliche Ethos als den individuellen Bedürfnissen zu stark entgegengesetzt erwiesen hat und eine Person deshalb bewusst gegen die eigentlich geteilten gemeinschaftlichen Überzeugungen gehandelt hat oder Situationen, in denen individuell Fortschreibungen, Veränderungen und Umdeutungen der gemeinschaftlichen Überzeugungen vorgenommen wurden, die aus der Sicht anderer Gemeinschaftsmitglieder nicht angemessen sind.63 Bezogen auf dieses Verständnis von Kirche als lokale Wir2-Gemeinschaft fallt der Seelsorge die Aufgabe zu, im Gespräch über das, was in der Gemeinschaft als gelingendes Leben gilt bzw. gelten soll, Übereinstimmung zu erzielen. Dabei ist Bohrens Mahnung gerechtfertigt, dass es in der Seelsorge keine privilegierte Kommunikation gibt, sondern letztlich der Dialog zwischen beliebigen Gemeindegliedern zur Seelsorge wird, soweit er diese Funktion erfüllt. Allerdings wird in der Regel die Gemeinschaft auch diese Aufgabe auf unterschiedliche Weise institutionalisieren, so dass bestimmte Mitglieder als Repräsentanten (im Sinne der exemplarischen Repräsentanz Preuls) diesen Dialog in besonderer Weise suchen und wahrnehmen. Insofern der Pfarrer/ die Pfarrerin bereits in anderen Bereichen die Repräsentation der Gemeinschaft als ganzer übernimmt, fallt ihm/ihr diese Aufgabe natürlicherweise ebenfalls zu; was nicht ausschließt, dass eine Gemeinschaft dies anders regelt zum Beispiel über einen Besuchsdienstkreis.64 63 Die beiden letztgenannten Situationen werden in Poimeniken des 19. Jahrhunderts mit den Begriffen der Sünde und des Irrtums belegt und in jüngerer Zeit eher vernachlässigt. - Die orthotomische Kategorisierung der Anlässe von Seelsorge nach Krankheit, Sünde und Irrtum (vgl. z.B. Nitzsch 1857, 168-178, bes. 170) bietet zwar immer noch wichtige Erkenntnisse, handelt Seelsorge aber zu stark unter dem Gesichtspunkt des beim Einzelnen zu behebenden Defizits ab. 64 Allerdings stellt sich dann anders als bei einer diakonischen Konzeption von Seelsorge die entscheidende Frage, mit welcher repräsentativen Vollmacht die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines solchen Kreises ausgestattet werden; besteht ihre

77

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Frage nach dem Grad an Übereinstimmung, der im Seelsorgegespräch erreicht werden soll. Als Mindestmaß wird man innerhalb der lutherischen Kirche die Zustimmung zu den bereits genannten Kriterien nach CA 7 festhalten dürfen, also (mit Preul) die Zustimmung zu einer antimeritorischen Verkündigung des Evangeliums, d.h. des Angebotes zur Gemeinschaft mit Gott durch Christus im Heiligen Geist und zu den Sakramenten Taufe und Abendmahl als Zeichen und Ausdruck dieser Verkündigung, sowie zu der Feststellung, dass die darüber hinausgehenden Punkte Gegenstand von Nützlichkeitserwägungen sind, in denen unterschiedliche Standpunkte zulässig erscheinen. Diese Mindestbedingungen reichen aus, um die Grundform an Gemeinschaft zu ermöglichen, welche Gott in der Kirche geschenkt hat: die Teilnahme am gemeinsamen Gottesdienst einschließlich der Sakramentsfeiern, in dem diese Übereinstimmung symbolisch zum Ausdruck kommt — dabei beschränken sich Liturgie und Predigt natürlich nicht auf die Darstellung dieser beiden Elemente aus CA 7, aber die weiteren Konkretionen können ebenfalls als exemplarische Repräsentanz< verstanden werden, in der die protestantische Freiheit zur Differenz mitgedacht werden soll und muss. Eine über diese Mindestbedingungen hinausgehende Übereinstimmung kann von Seiten der Kirche aufgrund ihrer eigenen Präferenzordnung nicht zwingend gefordert werden, sondern wird davon abhängen, wie weit bei den Gesprächspartnern der Wunsch und die Möglichkeit zu weitergehenden Übereinstimmungen und damit erlebbar engerer Gemeinschaft gegeben ist, und wird deshalb ebenfalls zum Gegenstand von Aushandlungsprozessen im Gespräch. Die Inhalte, über die im Gespräch Übereinstimmung erzielt werden soll, lassen sich als Visionen von einem gelingenden Leben bezeichnen — diese können aber auch via negationis zur Sprache kommen, indem Erfahrungen von nicht gelingendem Leben thematisiert werden. Jedenfalls wird es um Erzählungen von Vergangenem — ob positiv oder negativ — ebenso gehen wie um erzählende Konstruktionen möglicher Zukunft. Unter den Bedingungen der Moderne kommt dabei auch den Erzählungen der christlichen Tradition nur eine relative Vorrangstellung zu; auch sie müssen sich im Gespräch als plausibel erweisen, um von beiden Seiten anerkannt zu werden. Und angesichts der vielfaltigen lebensweltlichen Kontexte in unserer ausdifferenzierten Gesellschaft wird sich dabei häufig eine Weiterentwicklung der bestehenden Erzählungen als notwendig erweisen, um den konkreten Details der Situation gerecht zu werden. Aufgabe doch darin, stellvertretend für die gesamte Gemeinschaft mit dem Gesprächspartner/ der Gesprächspartnerin auszuhandeln, was in der Gemeinschaft insgesamt als ein gelingendes Leben gelten soll und was nicht. Aus diesem Umstand dürften sich auch so manche Akzeptanzprobleme erklären lassen, die Besuchsdienstkreise heute erfahren, weil die Frage ihrer Vollmacht in der Regel völlig ungeklärt ist.

78

Insofern die Identität der Gemeinschaft nicht unabhängig von der Identität ihrer Mitglieder besteht, sondern von ihnen kommunikativ hergestellt und aufrecht erhalten wird, steht in den Seelsorgegesprächen auch die Identität der Gemeinschaft selbst auf dem Spiel: kann die Gemeinschaft ihren Mitgliedern eine Vision von gelingendem Leben bieten, die auch in deren vielfaltigen lebensweltlichen Kontexten Plausibilität behält, oder erweist sie sich an bestimmten Punkten als nicht hinreichend tragfähig? Und wenn dieser Fall eintritt, gelingt es, die Vision im Gespräch in einer Weise weiterzuentwickeln, die in der in Frage stehenden Situation neue Plausibilität schafft, ohne das Wertegeflecht der Gemeinschaft dabei in einer Weise zu verändern, die anderen Mitgliedern die Akzeptanz unmöglich macht? Seelsorge wird auf diese Weise zu einer dezidiert kirchenleitenden und theologischen, d.h. im Gespräch kirchliche Tradition deutend fortschreibenden Aufgabe, ohne zu Verkündigung im Sinne eines einseitigen Kommunikationsgefalles zu werden, und kann so das Grundanliegen kerygmatischer Seelsorge einholen — freilich in einer Form, die den Bedingungen der Moderne Rechnung trägt, indem sie Gott nicht einseitig auf Seiten der Tradition oder des Seelsorgers/ der Seelsorgerin verortet, sondern mit dem kreativen Wirken des Heiligen Geistes im Gespräch rechnet, der allein Plausibilitätserfahrung und damit Glauben/Vertrauen bewirken kann.65 Aber auch das therapeutische Anliegen der Seelsorgebewegung wird nicht aufgegeben, sondern verliert lediglich an Priorität gegenüber dem Anliegen der Aufrechterhaltung der Gemeinschaft. Sofern sich aber herausstellt, daß diese Gemeinschaft primär dadurch bedroht ist, daß die Gemeinschaft und damit die Aufrechterhaltung der Kommunikation durch Umstände, die in der Psyche eines Mitglieds liegen, beeinträchtigt ist, wird sich die Aufmerksamkeit der Gemeinschaft selbstverständlich auf die Beseitigung dieser Umstände richten. Weil aber diese Aufgabe von ihrem Ziel einer Veränderung psychischer Strukturen her nicht im Zentrum der Seelsorge liegt, kann sie ohne schlechtes Gewissen an Experten abgegeben werden — auch wenn selbstverständlich psychische Prozesse in jedem Gespräch wirksam sind und ihr Erkennen und ihre Berücksichtigung zur kommunikativen Kompetenz von Seelsorgerinnen und Seelsorgern gehört. Während therapeutische Kompetenz darauf zielt, das Individuum in seinen innerpsychischen Prozessen zum Besseren zu verändern (zu >heilenTübinger Rhetorik< an.3 Letztere vertritt eine v.a. im Rückgang auf Aristoteles entwickelte, interdisziplinäre Gestalt von Rhetorik, die über ein rein instrumentell-technisches Verständnis hinausgeht und sich umfassend »als Theorie und zugleich inte1 Damit werden andere Bezugswissenschaften wie z.B. Psychologie oder Soziologie nicht ausgegrenzt; lediglich ihre Stellung als primärer Gesprächspartner wird relativiert. Sie finden ihren Ort nun an verschiedenen Bezugspunkten im rhetorischen Theoriegebäude, z.B. bei der Frage nach den zu berücksichtigenden Einstellungen des Gegenübers oder nach den emotionalen Wirkungen von Sprache. Dabei wird auch die in der Seelsorgelehre bisher weitgehend übliche Beschränkung auf die (analytische oder humanistische) Psychotherapie aufgehoben und andere psychologische Richtungen (z.B. Verhaltenstherapie, Sozialpsychologie) werden verstärkt einbezogen. 2 Blumenberg 1981, 104-136. 3 Zur >Tübinger Rhetorik< vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Ueding/ Steinbrink 1994, 196-204, sowie den Ausstellungskatalog zum 30jährigen Bestehen des Tübinger Seminars für Allgemeine Rhetorik, Knape (Hg.) 1997.

81

graler Bestandteil der lebensweltlichen Praxis sowie als humanwissenschaftliches Bildungssystem« 4 versteht. Der institutionell am 1967 von Walter Jens inaugurierten >Seminar für Allgemeine Rhetorik* angebundene Forschungsdiskurs hat sich u.a. durch das Jahrbuch >Rhetorik< und das seit 1992 erscheinende >Historische Wörterbuch der Rhetorik< zum auch international beachteten Rückgrat der deutschsprachigen RhetorikForschung entwickelt. 5 Er zeichnet sich — anders als z.B. die primär auf empirisch verifizierbare Methoden ausgerichtete Tradition der frühen amerikanischen >new rhetoricgutes oder besseres Leben< bezeichnen könnte. Intention richtet sich demnach nicht auf Vermittlung mit dem längst schon Anerkannten, sondern mit zukünftig Anzuerkennendem, es hat Finalstruktur wie die Affekte, die der Rhetorik als Gefühlsgründe dienen und die sich hauptsächlich auf einen Zielinhalt, nicht auf einen Erfahrungsinhalt allein beziehen. [...] Ethos und pathos bringen derart einen Überschuß in die rhetorische Argumentation, die der auf den Erfahrungsreichtum rekurrierende logos von sich aus nicht besitzt, d.h., durch sie vermag auch er Anschluß an die Dimension der Zukunft, auf die Handeln sich immer bezieht, zu gewinnen.11 Eine solchermaßen als Kommunikationstheorie begründete Rhetorik muss sich auch nach ihren Beziehungen und Anschlussmöglichkeiten zu anderen Theorien menschlicher Wahrnehmung und Kommunikation fragen lassen. Daher kommt im dritten Abschnitt die Semiotik in der Gestalt der dreistelligen Zeichentheorie von Charles S. Peirce und ihrer Weiterführung in der neueren Theorie Umberto Ecos in den Blick, die 4 Ueding/Steinbrink 1994,196. 5 Vgl. Allmendinger/Herrmann/Muschel u.a. 1997. 6 Vgl. den ausführlichen Überblick von Kramer 2003. 7 Vgl. den Forschungsüberblick bei Ueding 1997. 8 Ueding/Steinbrink 1994,196. 9 Vgl. Kapitel 2, Abschnitt 1.4. 10 Ueding/Steinbrink 1994,199. 11 Ueding/Steinbrink 1994, 199.

82

hinsichtlich menschlicher Kommunikation eine umfassendere Basis bildet, auf der sich die Rhetorik als begrenzte Fragestellung verorten kann. Nach dieser grundlegenden anthropologischen und semiotischen Bestimmung der Rhetorik sollen noch ihre Beziehungen zu einigen weiteren mit menschlicher Kommunikation befassten und für die Seelsorge relevanten Disziplinen skizziert werden, deren Theorieelemente die Rhetorik ergänzen und bereichern können. Dabei kommt aufgrund der bereits historisch engen Verbindung zur Rhetorik zunächst die Ästhetik in den Blick (Abschnitt 4); außerdem soll die Frage nach der Anschlussfähigkeit von Rhetorik zur Symboltheorie hier behandelt werden, weil in der Seelsorgelehre die Frage nach Wirkung von Sprache unter dem Einfluss der Pastoralpsychologie vor allem über den Begriff des Symbols diskutiert wurde. Dabei wird allerdings mit Heribert Wahl ein Gesprächspartner gewählt, der seinerseits bereits die Alternative von Zeichentheorie und Symboltheorie zu überwinden trachtet und sich damit in besonderer Weise anschlussfähig erweist für eine semiotisch fundierte Rhetorik (Abschnitt 5). In einem weiteren Schritt wird schließlich nach der anthropologischen und semiotischen Grundlegung und der Integration von zwei Nachbardisziplinen noch das Verhältnis der Rhetorik zur Psychotherapie in den Blick genommen (Abschnitt 6). Dabei soll gezeigt werden, dass beide im Bezug zur Seelsorge nicht einander ausschließende Alternativen sind, sondern vielmehr Psychotherapie immer schon rhetorisch arbeitet und Rhetorik als Theorie einer auf die Ermöglichung gemeinschaftlichen Handelns gerichteten Kommunikation auf die Psychotherapie als Partnerin angewiesen ist, weil jede Kommunikation durch die bei den Kommunikationspartnern und -Partnerinnen ablaufenden psychischen Prozesse beeinflusst ist und die Berücksichtigung der entsprechenden Zusammenhänge zum Gelingen von Kommunikation beitragen kann. In Fällen, in denen die zwischenmenschliche Kommunikation über ein bestimmtes Maß hinaus durch Faktoren gestört ist, die in der Psyche des einzelnen Gesprächspartners verortet werden können, ist eine psychotherapeutische Behandlung sogar zur Fortsetzung der Kommunikation zwingend erforderlich.

83

1. Rhetorik im Kontext von Seelsorge 1.1 Rhetorik als Reflexionsperspektive (Gert Otto) Die Geschichte der christlichen Theologie ist ohne die Geschichte der Rhetorik nicht zu denken, und umgekehrt gehört zu entscheidenden Epochen der Geschichte der Rhetorik die Geschichte der Theologie als Partnerin.12 Besonders einleuchtend ist diese Aussage im Blick auf Augustin und Melanchthon, aber auch das Verhältnis von Theologie und Rhetorik bei Luther ist Gegenstand einer längeren Debatte geworden.13 Aus Gründen, die in der Geschichte der Rhetorik ebenso begründet sind wie in theologischen Entwicklungen,14 wurde diese enge Beziehung im 20. Jh. nicht fortgeführt; erst um 1970 begann »[e]ine Renaissance der Rhetorik«15 zumindest auf dem Gebiet der Homiletik. Eine dezidierte Ausweitung der Rhetorik-Rezeption auf das gesamte Gebiet der Praktischen Theologie nahm jedoch erst Gert Otto in seiner >Grundlegung der Praktischen Theologie< 1986 vor, indem er die Rhetorik als »Reflexionsperspektive«16 einführte. Dieser Begriff erhält bei Otto forschungsstrategische Bedeutung in der Forderung, »die sektorale Gliederung der Praktischen Theologie [...] zugunsten einer perspeküvischen aufzugeben, weil eine sektorale Gliederung der komplexen Realität, in der wir es mit Religion, mithin auch mit Kirche zu tun haben, nicht mehr gerecht wird«.17 Anstelle der abgelehnten sektoralen Gliederung präsentiert Otto ein Geflecht aus Handlungsfeldern (die nicht den Aufgaben des Pfarramts entsprechen, sondern Tätigkeiten von Pfarrern und Laien gleichermaßen umfassen) und quer dazu durch alle Handlungsfelder hindurch zu berücksichtigende Reflexionsperspektiven, in denen jeweils auch außertheologische Disziplinen zur Betrachtung der Handlungsfelder herangezogen werden.18 Otto führt in seiner >Grundlegung< die Reflexionsper12 Otto 1998, 187f. Zur Geschichte der chrisd. Rhetorik vgl. Otto 1994a; Eybl 1994; Gutzen/Ottmer 1994. 13 Vgl. u.a. Dockhorn 1973, Breymayer 1973, zur Mühlen 1990, Junghans 1998, Stolt 2000; Stolt 2001a. 14 Vgl. die Darstellung bei Otto 1998,177-182. 15 Josuttis 1975a, Titel. 16 Otto 1986, 83 u.ö.; zur Rhetorik als Reflexionsperspektive vgl. ebd. 109-129. 17 Otto 1986, 69. Im folgenden beziehen sich im Text in Klammern angegebene Seitenzahlen auf dieses Werk. 18 Vgl. das Schema in Otto 1986, 71. Als Handlungsfelder nennt Otto dort Jugendarbeit, Predigt, Gemeinwesenarbeit, Gottesdienst, Altenarbeit, Konfirmation, Seelsorge, Unterricht, Ausländerarbeit und Amtshandlungen und weist darauf hin, daß diese Aufzählung prinzipiell unabgeschlossen ist und sich aus neuen Arbeitsfeldern auch neue Reflexionsperspektiven ergeben können. In seinem zweiten Band »Handlungsfelder der Praktischen Theologie« (Otto 1988) tauchen dann neue Leitbegriffe auf, denen einzelne Arbeitsfelder zugeordnet werden: Lernen (mit Erwachse-

84

spektiven Hermeneutik, Rhetorik, Didaktik, Recht, Ideologiekritik, Kommunikation und Symbolik aus; Rhetorik versteht er dabei als Reflexion auf die »Dimensionen überzeugenden Redens« (108), die anwendbar ist auf alle Situationen, »in denen einer (oder mehrere) anderen einen Inhalt, eine Überzeugung mit Worten zugänglich machen will [...] in der Absicht, den Adressaten mit Gründen auf seine Seite zu ziehen« (112). 1.1.1 Die Universalität von Rhetorik: Ihr Verhältnis zu anderen Disziplinen Mit dieser Definition des Gegenstands rhetorischer Reflexion ergibt sich für Otto über die Frage nach der sprachlichen Vermittlung von Wahrheit eine enge Verbindung zur Hermeneutik. Weil zum Verstehen die Fähigkeit gehört, das Verstandene in Sprache zu fassen, verständlich zu artikulieren, »durchdringen sich der rhetorische und der hermeneutische Aspekt der menschlichen Sprachlichkeit auf vollkommene Weise« (114, Zitat Gadamer). Rhetorik ist so »die Bedingung der Möglichkeit einer jeden Gesellschaft, sich mit sich selbst zu verständigen« (116). Damit stellt sich Otto gegen ein instrumentelles Verständnis von Rhetorik und sieht es als ihr Ziel, eine Einheit der nur hypothetisch möglichen Trennung von Form und Inhalt, Ausdruck und Sache anzustreben und auf die Bearbeitung der bleibenden Differenz dieser beiden Spannungspole zu reflektieren. Dabei ergibt sich: Rhetorische Aspekte bleiben dem Inhalt des Ausgesagten nicht äußerlich, sondern bringen immer eine inhaltliche Parteinahme zum Ausdruck. Die Frage der Wahrheit stellt sich nicht losgelöst von der Form ihrer Vermittlung. »Mit dem Weg, auf dem ich Wahrheit finde, und mit der Weise, sie anderen mitzuteilen, damit es in einer konkreten Situation ihre Wahrheit werden kann, damit hat es Rhetorik zu tun.« (117) Weil die sprachliche Vermittlung von Wahrheit nie frei von Interessen des Vermittlers ist, und dieser seine Zielsetzungen verantworten muss, verbindet sich Rhetorik über die Analyse der einer Rede inhärenten Wirkabsichten eng mit der Ethik und deckt die Wirkungen und die verwendeten Wirkmittel auf, damit diese nach ethischen Kriterien überprüft werden können. (118ff) Zugleich verbindet sie sich in der auf Veränderung des Hörers zielenden Wirkabsicht mit der Didaktik·. »Es genügt nicht, das >Richtige< sagen zu wollen; als Bestandteil des >Richtigen< ist der Weg seiner Vermittlung in einer spezifischen Situation mitzudennenbildung/Jugendarbeit und Religionsunterricht/Konfirmandenarbeit), Helfen (mit Seelsorge/Beratung und Sozialgesetzgebung/Diakonie/Entwicklungshilfe), Verständigung (mit Generationen/Ökumene/Männer und Frauen), Reden und Schreiben (mit Reden/Sprache/Predigt), Deuten (mit Lebensgeschichte/Taufe/Trauung), Feiern (mit Fest/Gottesdienst/Kindergottesdienst) und Kooperieren (mit Kommunikative Praxis/Laien/Pfarrerinnen und Pfarrer).

85

ken.« (125) Über die Rede als Reflexionsgegenstand verbindet sich die Rhetorik auch mit anderen Disziplinen, die sprachliche Kommunikation behandeln; Otto nennt hier Linguistik, Soziolinguistik und Semiotik, Kommunikationswissenschaft, Ideologiekritik und Sozialwissenschaft. (120) Zu den Aufgaben der Rhetorik gehört es Otto zufolge schließlich auch, auf die Vielfalt anderer, nichtsprachlicher Kommunikationsmittel aufmerksam zu machen, in die sich die Rede als sprachlicher Modus der Kommunikation einreiht. »Erst wenn Kommunikation dem Reichtum humaner Möglichkeiten entsprechend vielfältig ausgelebt wird, in Gestik und Mimik, in Tanz und Spiel, in körperlicher Zuwendung und Berührung, in Bildern, in Musik und Gesang, erst dann wird der Stellenwert der unverzichtbaren Kommunikation durch Wort und Rede richtig einschätzbar, aber erst dann.« (120f) Auch im Bereich des Handelns stellt Sprache einen herausgehobenen Teilbereich dar. Sprache ist nicht nur zur planenden Vorbereitung, als Kommentar zur Durchführung oder als Resümee im Nachhinein handlungsergänzend wirksam, sondern stellt, anders als es die weit verbreitete Gegenüberstellung von Reden und Tun erwarten lässt, selbst eine Form des Handelns dar, z.B. bei der Konsensbildung innerhalb einer Gruppe, die im Bereich der praktischen Fragen im Zusammenleben von Menschen nicht durch logische Deduktion, sondern nur durch überzeugende Rede ermöglicht wird. Weil »im Medium Sprache Handeln über sich selbst Rechenschaft zu geben imstande ist«, wird die überzeugende Rede zugleich zu einem »Paradigma verantwortlichen Handelns« (123, Zitat Kopperschmidt). Dabei ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass Sprache gelernt wird im Zusammenhang mit spezifischen (teilweise veränderungsbedürftigen!) Interaktions formen und durch sie geprägt ist. »Auch wenn wir von einer neuen Welt sprechen, sprechen wir von ihr in einer alten Sprache, in der Sprache der alten Welt.« (124) Sprache umfasst für Otto nicht nur die Möglichkeit, logisch-diskursiv oder berichtend zu kommunizieren, sondern auch die poetische »Sprache gestalteter Bilder·« (125). Gerade im Bereich der Religion hilft sie, angesichts der durch die Sprache erreichten Vergegenständlichung der Wirklichkeit ihre Verdinglichung zu vermeiden. »Realität in ihrer Vielschichtigkeit, ... Hoffnungen und Zukunftsperspektiven, die Gegebenes übersteigen, [sind] gar nicht anders sagbar ... als in tendenziell poetischer Sprache.« (126) Für die rhetorische Reflexionsperspektive in der Praktischen Theologie führt dies zu einem universalen Geltungsanspruch ähnlich dem der Hermeneutik (vgl. 113): »Kaum ein praktisch-theologisches Problem wäre nicht zugleich auch ein rhetorisches.« (127) Als Beispiele praktischtheologisch zu reflektierender rhetorischer Akte führt Otto an: die Predigt der Kirche, (säkularisierte) religiöse Vorstellungen in politischen Re86

den sowie die kirchlichen >Denkschriften< als kirchlicher Beitrag zur gesellschaftlichen Meinungsbildung. (127ff) 1.1.2 Die Aufnahme rhetorischer Theorien in der Praktischen Theologie So universal der Anspruch der Rhetorik damit gefasst wird, so abstrakt bleiben auch Ottos Ausführungen in diesem Zusammenhang. Konkrete Hinweise auf einzelne Elemente rhetorischer Theoriebildung und deren Nutzen für die Praktische Theologie bleibt er schuldig; das ändert sich auch nicht im Zusammenhang mit der Besprechung des Handlungsfeldes »Reden und Schreiben« (249-286)," in dem u.a. »[d]ie Predigt als Rede/Handlung« (269-276) beschrieben wird. Erneut geht es v.a. um die Frage des rechten Verhältnisses von Form und Inhalt, also um die Festlegung auf eine hermeneutische gegenüber einer instrumenteilen Rhetorik, sowie um die Rechtfertigung der Einbeziehung der Rhetorik in den homiletischen Diskurs. Zentrale Fragen sind hierbei die Verwendung poetischer Sprache in der Predigt sowie das Verständnis der Predigt als menschliche Rede bzw. zwischenmenschliche Interaktion, was unter Zuhilfenahme der Sprechakttheorie dahingehend näher bestimmt wird, daß Predigt als Rede eine Handlung darstelle. Für die in diesem Handlungsfeld notwendige »Sprachlehre als das Herzstück aller Rhetorik« (261) verweist Otto zwar u.a. auf den »Grundriß der Rhetorik« von Ueding und Steinbrink,20 führt dann aber mit der Unterscheidung von instrumenteller und medialer Sprache (263—269) eine Differenzierung breit aus, die weniger rhetorischen als hermeneutischen Charakter hat und in ihrer Abstraktheit (die mediale Sprache unterscheidet sich von der instrumentellen darin, dass mediale Sprache nicht ein Instrument zur Bezeichnung von >Gegebenem< darstellt, sondern die Welt des Gegebenen transzendiert, nach dem Sinn fragen lässt, zu einem Prozess der Sinnfindung anregt) weit davon entfernt ist, für die Praxis im Handlungsfeld operationalisierbar zu sein.21 Im Handlungsfeld »Verständigen« (210—248) spielt die Rhetorik dann keine Rolle mehr, auch wenn dort unter »Verknüpfungen« (241) auf sie als eine der »dominierende [n] Reflexionsperspektiven« neben Hermeneutik und Ideologiekritik verwiesen wird. Im Handlungsfeld »Helfen (1) Seelsorge/Beratung« (142—174) erscheint sie überhaupt nicht; dort wird im wesentlichen die Auseinandersetzung zwischen einem verkündigenden Seelsorgeverständnis in Anlehnung an Thurneysen und einem pastoralpsychologisch geprägten Seelsorgeverständnis reflektiert. 19 In diesem Abschnitt beziehen sich alle Verweise in Klammern auf Otto 1988. 20 Vgl. Ueding/Steinbrink 1994. Otto bezieht sich auf eine frühere Auflage dieses Werks. 21 Für den Bereich der Homiletik hat Otto in späteren Aufsätzen und Monographien (z.B. Otto 1999) eine Reihe von Konkretionen geliefert, die hier jedoch außer Betracht bleiben können.

87

Die von Otto hervorgehobene Universalität seines Rhetorik-Verständnisses erweist sich im Blick auf die weitere Entwicklung zudem als eine relative Größe - während Otto die Rhetorik noch auf sprachlich verfasste Kommunikation beschränkt, lassen sich aufgrund der jüngeren semiotischen Forschungen auch nonverbale Kommunikationsformen mit Hilfe rhetorischer Analysen auf die ihnen inhärenten Wirkungsabsichten hin befragen. Grundlage der Verknüpfung von verbalen und nonverbalen Kommunikationsformen ist die semiotische Einsicht, dass auch letzteren jeweils ein überindividueller Code zugrunde liegt, der durch den zu analysierenden Kommunikationsbeitrag auf bestimmte Weise aktualisiert wird.22 Die von Otto noch getrennt aufgeführten Reflexionsperspektiven von Rhetorik und Symbolik lassen sich deshalb auf semiotischer Grundlage zusammenführen als Frage nach den angemessenen Kommunikationsmitteln zur Erzielung einer bestimmten Wirkung bei den Rezipienten eines Zeichenprozesses. 1.2 Die Verbindung von Rhetorik und Theologie in der Arbeit an und mit sprachlichen Symbolen (Manfred Josuttis) In der Theologischen Realenzyklopädie findet sich ein ebenfalls von Gert Otto verfasster Artikel Rhetorik,23 der neben Ausführungen zu Begriff und Geschichte der Rhetorik sowie einer Verhältnisbestimmung von Rhetorik und Philosophie/Ethik, Ästhetik und Politik auch einen Abschnitt »Rhetorik und Theologie« enthält. Darin verweist Otto auf eine 1985 von Manfred Josuttis eher beiläufig vorgenommene Verhältnisbestimmung, die er aufnimmt und ausführt. Josuttis hatte erwähnt, dass Theologie und Rhetorik als gemeinsamen Forschungsgegenstand die sprachliche Gestalt der Predigt haben, insofern Theologie sich mit »der Arbeit am religiösen Symbolsystem im Einflussbereich der biblischen Überlieferung« beschäftigt und Rhetorik mit »der Arbeit mit sprachlichen Symbolen, traditionellerweise bezogen auf öffentliche Gelegenheiten«:24 Sie können sich begegnen und miteinander kooperieren, weil Rhetorik und Theologie gemeinsam menschliche Arbeit an und mit sprachlichen Symbolen wissenschaftlich reflektieren. Sie müssen in der Homiletik sachnotwendig aufeinander bezogen werden, weil auch die religiöse Rede im Akt der Predigt den allgemeinen Gestaltungs- und Wirkungsbedingungen menschlicher Arbeit an und mit Sprache unterliegt.25

22 Vgl. z.B. Eco 2002, 167ff zur Analyse von bildlichen Werbebotschaften. 23 Otto 1998. 24 Josuttis 1985, 142. 25 Josuttis 1985,142f.

88

Diese Verhältnisbestimmung nimmt Otto auf und zieht daraus den Schluss, »daß — von Josuttis< eigenem Ansatz her — Theologe insgesamt auf Rhetorik bezogen und auf die Kooperation mit Rhetorik angewiesen ist, [...] weil es Glauben ohne Sprache nicht gibt und mithin auch Theologie nicht anders als sprachlich vollzogen werden kann.« Diese Bestimmung von Theologie konkretisiert sich für Otto darin, dass alle Theologie adressatenbezogen zu sein hat, d.h. dass sie »alle ihre Inhalte und Aussagen auf ihre jeweiligen Adressaten hin zu denken und zu formulieren« hat.26 Diese Bestimmung von Theologie setzt, darauf weist Otto ausdrücklich hin, einen nicht instrumentell-pädagogisch (platonisch), sondern hermeneutisch-ethisch (aristotelisch) konzipierten Begriff von Rhetorik voraus. Dem wird im folgenden Rechnung zu tragen sein. 1.3 Exkurs: Der Status der Metapher in der Dogmatik Fragt man nach dem Ort der Rhetorik in der deutschsprachigen Dogmatik, so wird man zunächst nicht fündig werden. Indirekt spielt ihr Gegenstand jedoch sehr wohl eine Rolle, und zwar im Dialog mit den verschiedenen sprachphilosophischen Theorien. Die Frage, wie man in menschlicher Sprache angemessen von Gott sprechen kann, hat die Systematische Theologie des 20. Jahrhunderts zu Reflexionen über ihre eigene Sprachlichkeit geführt; dabei geriet angesichts der Unmöglichkeit, Gott begrifflich zu fassen, neben dem Mythos und dem Symbol besonders die Sprachform der Metapher ins Zentrum des Interesses. So hält Eberhard jungel als ein Ergebnis seiner Untersuchungen fest: »Die Sprache des Glaubens ist durch und durch metaphorisch. Gott ist ein sinnvolles Wort nur im Zusammenhang metaphorischer Rede.«27 In Anlehnung an Aristoteles, der eine Metapher dann als gelungen betrachtet, wenn in ihr das Ahnliche erkannt werden kann, verweist er als Basis für die Wahrheit metaphorischer Rede auf eine doppelte Entsprechung, zum einen die Entsprechung zwischen der Metapher als Element der Sprache und dem Seienden, zum anderen eine im Seienden selbst strukturell angelegte Entsprechung: »In der geglückten Metapher entspricht die Sprache folglich der Entsprechung, die schon immer das Seiende durchwaltet.«28 Diese Struktur der doppelten Entsprechung findet Jüngel auch in der Sprache des Glaubens wieder. Damit angesichts der radikalen Differenz zwischen Gott und Welt die metaphorische Sprache des Glaubens überhaupt gelingen kann, muss dafür eine gewisse Vertrautheit mit Gott angenommen werden, von der her die in der Metapher zur Sprache kom26 Otto 1 9 9 8 , 1 8 8 . 27 Jüngel 1980, 144; vgl. zum Folgenden auch Buntfuß 1997, 1 3 9 - 1 6 9 , bes. 153ff. 28 Jüngel 1 9 8 0 , 1 2 6 .

89

mende Entsprechung als solche erkannt werden kann. Da diese Vertrautheit nicht von menschlicher Seite hergestellt werden kann, muss sie von Seiten Gottes, also als Offenbarung, initiiert werden. Diese Offenbarung versteht Jüngel als Anrede Gottes an den Menschen und sieht darin eine Entsprechung zum anredenden Charakter von Sprache, der nicht minder wahrheitshaltig sei als ihr Aussagecharakter und in der Metapher in besonderer Weise zum Ausdruck komme, insofern sie die Aufforderung enthält, die in ihr zur Darstellung kommende Entsprechung von Seiendem wahrzunehmen. 29 Indem die neutestamentlichen Gleichnisse in metaphorischer Sprache »Gott als einen Redenden zu erkennen«30 geben, der sich selbst in seinem Kommen in Jesus Christus zur Sprache gebracht hat, ermöglichen sie eine von Gott als Subjekt ausgehende Vertrautheit mit ihm, die aber selbst wieder metaphorischer Natur ist. Die metaphorischem Verstehen zugrunde liegende Vertrautheit wird im Hinblick auf Gott also weniger durch einzelne herausragende Metaphern bewirkt, die in den Gleichnissen enthalten sind, sondern vor allem durch ihren Charakter als Erzählung, in der die einzelnen Metaphern nur bündelnde und fokussierende Pointen bilden und damit nicht als beliebige menschliche Schöpfungen erscheinen, deren Legitimität angesichts des Gegensatzes von Gott und Welt stets fraglich wäre, sondern als Ausdruck eines Anredeprozesses, der in Gottes redendem Handeln seinen Ursprung hat.31 Der Timm-Schüler Markus Buntfuß hat in seiner Münchner Dissertation diese Gedanken Jüngels aufgenommen und im Anschluss an die neuere Metaphernforschung die Dialektik von innovativer und konservativer Funktion der Metapher herausgearbeitet. Diese beruht auf zwei unterschiedlichen Gestalten, die Metaphern annehmen können: sie können als lebendige oder als konzeptuelle Metaphern auftreten. Die lebendige Metapher beschreibt Buntfuß in Anlehnung an Ricoeur, der seinerseits auf Ulimann, Richards und Black zurückgreift, als Interaktion zwischen einem einzelnen Wort als focus und dessen kontextuellem Rahmen, dem frame. Da der focus selbst auf einen bestimmten Kontext verweist, der sich von dem des frame unterscheidet, geschieht ein Bedeutungstransfer, indem ein Kontext (tenor) durch einen zweiten (vehicle) erfasst 29 Vgl. Jüngel 1980, 132ff. Was Jüngel hier dogmatisch als Leistung von Metaphern formuliert, läßt sich mit H. Wahl auch pastoralpsychologisch als symbolische Erfahrung deuten, s.u. Kapitel 2, Abschnitt 5.2. 30 Jüngel 1992, 210. 31 Für diese Interpretation vgl. Buntfuß 1997, 162ff. Während Jüngel letztlich die Kreuzestheologie ins Zentrum christlicher Rede von Gott stellt, kritisiert Buntfuß dies als seiner Begründung der Metapher in der Analogie nicht angemessen und schlägt vor, die Inkarnationsmetapher ins Zentrum zu stellen, weil sich in ihr formale und inhaltliche Aussage besonders entsprechen: »sie sagt, was sie macht, und sie macht, was sie sagt« (Buntfuß 1997,183).

90

wird und so aus zwei gleichwertigen, getrennten Kontexten eine neue Einheit entsteht.32 Im Unterschied zur erkenntnisstiftenden Funktion der lebendigen Metapher wirkt die konzeptuelle Metapher begründungssichernd, indem sie durch ihre Gebräuchlichkeit quasi selbstverständlich ein Rahmenkonzept als Kontext zur Verfügung stellt, mit dessen Hilfe ein anderer Kontext strukturiert werden kann. Dabei muss sie selbst im Text nicht in Erscheinung treten; ihr Rahmenkonzept wird vielmehr durch mit ihr assoziierte, bereits gebräuchliche oder auch neu gebildete Metaphern aktualisiert. Ihre strukturierende Wirkung entspricht so der einer Schlussregel in der Argumentationstheorie: »Sie regelt, auf welche Weise welche Gemeinplätze des Herkunftsbereiches auf welche Gemeinplätze des Zielbereichs projiziert werden.«33 Insofern die Anwendung der konzeptuellen Metapher im Sinne einer Schlussregel zugleich die Behauptung ihrer Gültigkeit für den zu strukturierenden Bereich voraussetzt, wirkt sie im Falle ihrer Akzeptanz selbstverstärkend, weil ihre Anwendung zugleich ein Argument für ihre Gültigkeit darstellt.34 Die Beschreibungen von lebendiger und konzeptueller Metapher nehmen jeweils eine bestimmte Funktion von Metaphern in den Blick, wobei sich ein Gegenüber von Innovation und Kontinuität/Stabilität ergibt. In der konkreten Bewertung von Metaphern allerdings stellen die beiden Theorien nicht etwa die Endpunkte eines Kontinuums dar, sondern bieten zwei unterschiedliche Skalen mit jeweils eigenen Eckpunkten: die lebendige Metapher steht hier der toten/ usuellen Metapher gegenüber, während der konzeptuellen Metapher als komplexem Gebilde die einfache Wortmetapher gegenübertritt. Lebendige wie usuelle Metaphern können dabei beide entweder als reine Wortmetaphern in Erscheinung treten oder als Element einer konzeptuellen Metapher wirksam werden. Im System der rhetorischen Aufgaben, wie es der Darstellung in Kapitel 3 zugrunde liegt, findet sich dabei die konzeptuelle Metapher als auf die Topik bezogen im Bereich der inventio, während die lebendige Metapher als Teil der sprachlichen Gestaltung in der elocutio zu verorten ist. Allerdings geht es hier nur um Schwerpunktsetzungen, denn auch die strukturierende Funktion der konzeptuellen Metapher bedarf der Umsetzung in konkrete Sprache, wobei vor allem die rhetorischen Figuren hilfreich sind, um in der Struktur enthaltene Verbindungen und Distanzierungen sichtbar zu machen. Und auf der anderen Seite wirkt auch der Gebrauch einer lebendigen Metapher u.U. zurück auf die Struktur des Textes bzw. verbindet sich mit einer innovativen Konstellation von Argumenten. Die Spannung zwischen Innovation und Tradition lässt sich nicht auf das Gegenüber von (bekannter) Sache und (inno32 Vgl. Buntfuß 1997, 21 ff. 33 Buntfuß 1997, 67; vgl. 5Iff. 34 Vgl. Buntfuß 1997, 83.

91

vativem) Ausdruck verteilen, sondern durchzieht beide Ebenen; ein innovativer Ausdruck wird immer auch neue Aspekte an der Sache selbst sichtbar machen, während eine traditionsverhaftete Sicht auf die Sache auch zu wiedererkennbaren sprachlichen Formulierungen führt.

1.4 Das >Rhetonsche< als Gegenstand von Seelsorge (Thomas Erne) Ausgehend v o n einer Konzeption Praktischer Theologie als Theorie gelebter Religion im Rahmen eines phänomenologisch verstandenen Alltags, greift Erne in seiner Tübinger Habilitationsschrift »Rhetorik und Religion. Studien zur Praktischen Theologie des Alltags« den phänomenologischen Begriff des Rhetorischen 35 des 1 9 9 6 verstorbenen Philosophen Hans Blumenberg auf und zeigt, dass gelebte Religion darin rhetorisch wirkt, dass sie Kontingenz eindämmt und lebensweltliche Vertrautheit bewahrt, indem sie Handlungsalternativen zugleich ausblendet und doch »als mitgegebenen verdeckten Sinn präsent hält« (194). 36 1.4.1 Die Unterscheidung v o n Rhetorik und >Rhetorischem< Erne grenzt trotz der begrifflichen Unschärfe im Gebrauch sein Verständnis des >Rhetorischen< hinsichtlich der Funktion gegenüber traditionellen Konzeptionen v o n Rhetorik ab: Im Blick auf den Alltag als Lebenswelt wird [...] deutlich, was »das Rhetorische« von »Rhetorik« im Sinne einer kommunikativen Verständigung über vorgängige Handlungsorientierungen unterscheidet. Die Pointe des Rhetorischen besteht eben darin, in den Horizonten der Lebenswelt dafür zu sorgen, dass in Handlungssituationen manches auf sich beruht, damit einiges thematisiert werden kann. Diese vortheoretische und vorkommunikative »Stimmigkeit« kommt nicht durch ein explizites Einverständnis zustande. Es ist eine Art von Evidenz, die auf der suggestiven Kraft von Bildern und Symbolen beruht, situationsspezifische Horizonte des Selbstverständlichen abzuschirmen. (81) 35 Der mit den Begriffen rhetorisches Verfahren^ >RhetorikRhetorisches< bezeichnete Gegenstandsbereich ist bei Erne zunächst sehr weit und unscharf gefaßt; er umfaßt alle Möglichkeiten, Bedeutungen Ausdruck zu verleihen, die nicht auf begriffliche Exaktheit abzielen, also auch nonverbale Ausdrucksformen, wie sie sich in Symbolen und Ritualen finden. Die entscheidende Gemeinsamkeit aller zum Gegenstandsbereich des Rhetorischen gehörenden Ausdrucks formen ist ihre metaphorische Gestalt, wobei auch dieser Begriff wieder in einem weiten Sinn, d.h. über die Grenzen verbaler Sprachen hinausreichend, zu verstehen ist. Es geht also um Ausdrucksformen, die mehr sind als ein bloßes Signal und zugleich unbestimmter als ein in seiner Bedeutung exakt umrissener Begriff. Letzterer kann allerdings durchaus als eine besonders stark in ihrer Bedeutung reduzierte Sonderform der Metapher verstanden werden, vgl. Erne 2002, 86f. 36 Alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich in diesem Abschnitt auf Erne 2002. 92

Während Erne also der Rhetorik die Aufgabe zuschreibt, im Medium der Kommunikation Einvernehmen über eine bestimmte Handlungsorientierung herzustellen, siedelt er das Phänomen des »Rhetorischen« unter Rückgriff auf Blumenbergs Revision der Kulturphilosophie E. Cassirers auf einer basaleren Ebene an: Indem in einer konkreten Situation die Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte gerichtet wird, finden sich andere Aspekte außerhalb des Wahrnehmungshorizonts und werden so in ihrer (irritierenden) Wirkung begrenzt. Dieses Verfahren macht den Menschen als nicht von Instinkten geleitetes »Mängelwesen« (170) überhaupt erst überlebensfähig; angesichts einer durch die Vielzahl von einander widersprechenden Aspekten der wahrgenommenen Umwelt gegebenen Unbestimmtheit benötigt er Techniken, mit denen diese Unbestimmtheit begrenzt und Zumindestens in »unbestimmte Bestimmtheit« (171) umgewandelt werden kann, um zu Handlungen fähig zu werden. Das Rhetorische wird damit zu einem grundlegenden Phänomen aller Kultur, durch die der Mensch Distanz von der Wirklichkeit gewinnt und so in einer unbestimmten Welt seinen Ort finden kann. 1.4.2 Die eigenständige Rationalität des Rhetorischen Erne verweist auf Blumenbergs These, dass der Mensch als Mängelwesen nicht über einen Instinkt verfügt, der die Bedeutung seiner Wahrnehmungen eindeutig festlegen würde, sondern darauf angewiesen ist, sich diese Bedeutung mühsam zu erarbeiten - ein Projekt, dem die gesamte menschliche Kultur gewidmet ist. Weil Menschen aber darauf angewiesen sind, Entscheidungen zu treffen, ohne dass ihnen die Zeit gegeben ist, dafür auf philosophische Letztbegründungen zu warten, hat das rhetorische Verfahren nicht nur eine besondere Bedeutung, sondern auch eine besondere Legitimität gegenüber dem streng logisch-analytischen Verfahren. Um dies zu belegen, beschreibt Erne die Blumenbergsche Kritik an Husserls Projekt einer transzendentalen Phänomenologie: Während Husserl die Welt durch die zunehmenden Möglichkeiten der Technik in einer zunehmenden Funktionalisierung gefangen sieht, die Verstehen tendenziell überflüssig mache, und diesem Trend durch die Gegenbewegung der Phänomenologie begegnen möchte, mit der sich die Aufmerksamkeit von der Funktion wieder mehr auf die Erscheinungen verlagert, weist Blumenberg nach, dass Husserl faktisch aufgrund der gegenwärtigen Unerreichbarkeit seines Zieles, alle Erscheinungen umfassend zu verstehen, der Kontingenz technischer Entscheidungen weiter Vorschub leistet. Der in der Technisierung der Welt zum Ausdruck kommende Sinnverlust, den Husserl beklagt, ist für Blumenberg ein »selbst auferlegter Sinn vergeht« (145, Zitat Blumenberg), der mit »pragmatische [n] Formen der Daseinsfürsorge« (145) einhergeht. Während das Projekt eines umfassenden Verstehens der Welt langsam fortschreitet, wird das notwendige Handeln nach dem »Prinzip des unzurei93

chenden Grundes« (146, Zitat Blumenberg) pragmatisch, und das heißt konkret: rhetorisch begründet. Auf dem Weg zwischen einer (mythologischen) Lebenswelt, in der alles selbstverständlich war, und einer (eschatologischen) »Evidenzwelt« (148) besteht die Lebenswelt gegenwärtig darin, dass durch die technischen wie die rhetorischen Verfahren die Fraglichkeit der Welt verdeckt wird, um überhaupt handeln zu können.37 Technik und Rhetorik erfüllen diese gemeinsame Funktion allerdings auf unterschiedliche Weise. Während die Technik durch die sofortige Verfügbarkeit von Ergebnissen standardisierter Verfahren eine Beschleunigung des Handelns bietet, stellt die Rhetorik den »Inbegriff der Verzögerung« (153) dar, weil ihre Verfahren stets einen Umweg gegenüber der technologischen Orientierung an Machbarkeit und Effizienz darstellen. Ihr Vorteil liegt jedoch darin, dass sie zugleich Spielräume für individuelle Sinnerfahrungen eröffnet, weil sie eine Vielzahl von Begründungsmöglichkeiten zulässt; ihr Bestehen neben der Technologie ist Ausdruck des Zweifels daran, »dass die kürzeste Verbindung zweier Punkte auch der humane Weg zwischen ihnen sei«. (154) 1.4.3 Die Metapher als Ort des Rhetorischen Die Funktion des Rhetorischen, durch das Schaffen eines Horizontes bestimmte Aspekte zu fokussieren und andere abzuschirmen, beruht »auf der suggestiven Kraft von Bildern und Symbolen« (81), d.h. auf der Wirkung von Metaphern. Während die klassische Rhetorik jedoch die Figur der Metapher als Substitution einer eigentlichen Aussageweise durch eine uneigentliche, >übertragene< Darstellung beschrieb, verneint Erne die Rückführbarkeit von metaphorischer Rede auf begriffliche Aussagen und bestimmt umgekehrt im Rückgriff auf Wittgensteins Sprachspieltheorie und die darin enthaltene Feststellung, dass die Zusammenhänge zwischen Sprachelementen nicht als logische Verknüp-

37 Es scheint mir, daß sich die Beschreibung, die Blumenberg hier der modernen Gesellschaft zukommen läßt, auch auf die Seelsorge des 20. Jahrhunderts übertragen läßt: Die empirische Wende führte zu einem Verständnis der Praktischen Theologie als Handlungstheorie, verbunden mit dem Versuch, durch Einbeziehung der Humanwissenschaften eine größere Funktionalität kirchlichen Handelns zu erreichen. Demgegenüber ist in den letzten beiden Jahrzehnten eine Hinwendung zur Phänomenologie zu beobachten, mit der das Spektrum der Wahrnehmung religiöser Praxis über das kirchliche Handeln hinaus erheblich erweitert und vertieft werden sollte und konnte. Beide Strömungen haben jedoch letztlich zum gleichen Ergebnis beigetragen: sowohl die Ausrichtung an standardisierten Verfahren aus verschiedenen therapeutischen Richtungen wie auch die Betonung der Pluralität und Diversität der individuellen Situation haben dazu geführt, daß die Praxis kirchlichen Handelns im Bereich der Seelsorge heute weitgehend kontingent erscheint — geprägt durch biographische und situative Zufälle, die keiner weiteren Begründung fähig scheinen.

94

fungen, sondern vielmehr als >Familienähnlichkeiten< zu beschreiben seien, nun Begriffe als verfestigte Metaphern. 38 Die Bedeutung der Metapher liegt darin, dass sie lebensweltliche Selbstverständlichkeiten abschirmt vor weiteren Rückfragen nach ihrer Sinnhaftigkeit. »Die rhetorische Anstrengung meint den Aufwand, der nötig ist, um einen Fond an fragloser Weltvertrautheit dadurch abzuschirmen, dass mögliche Handlungsvarianten aus dem Horizont der Akteure ausgeblendet werden.« (161f) Durch die Metapher wird nicht, wie im klassischen Verständnis der Rhetorik, durch Übertragung eine Analogie zwischen zwei begrifflich bestimmbaren Sachen hergestellt, sondern vielmehr Distanz geschaffen von einem primären, noch unbestimmten Eindruck, der keine Handlung ermöglicht. Phänomenologisch interessiert daher weniger der terminus ad quem, die Aussage, die durch die Metapher über einen bestimmten Gegenstand gemacht wird, sondern der terminus a quo, wovon mit ihrem Gebrauch Distanz erreicht wird. Symbolische Formen dienen folglich vor allem dazu, Abstand vom unmittelbaren Eindruck zu gewinnen und durch die Verknüpfung mit Vertrautem auch im Kontakt mit Unbestimmbarem den Horizont lebensweltlicher Vertrautheit aufrecht zu erhalten. Erne macht dies an einem Beispiel deutlich: Um bei Achill zu bleiben, wird man sagen, dass die Metapher »Löwe« für den überwältigenden Eindruck, den Schrecken, der von diesem Kämpfer ausging, steht. Der terminus a quo ist die Unbestimmtheit dieses Eindrucks, der erst dadurch zur Erfahrung wird, dass für ihn ein Bild steht, also bestimmte Unbestimmtheit an Stelle von Unbestimmtheit. Erst so gewinnt der Eindruck auch Bedeutung. (163 Anm. 32) 1.4.4 Das rhetorische Verfahren als Konstruktion und Destruktion Die Stabilisierung der vertrauten Lebenswelt, die das rhetorische Verfahren mit Hilfe von Metaphern leistet, ist stets ein vorläufiges und begrenztes Ergebnis. Die Vertrautheit, die auf diese Weise hergestellt wird, kann erneut fraglich werden und bedarf dann der erneuten Stabilisierung. In diesem Prozess verschiebt sich der lebensweltliche Horizont: W o Irritationen auftreten, werden diese durch neue Selbstverständlichkeiten ausgeglichen, indem die Unbestimmtheit, die aufgebrochen ist, durch eine erneute Verbindung des fraglich gewordenen Horizonts mit einem vertrauten Gegenstand/Sachverhalt begrenzt wird. Dieser Prozess der Horizontverschiebung wirkt auf einzelne Metaphern bezogen als Variation in der Rezeption. Während die rhetorische 38 Die Bezeichnung von Begriffen als verfestigte Metaphern findet sich bereits bei Friedrich Nietzsche in dessen Kritik am Wahrheitsbegriff (»Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne.« In: Unzeitgemäße Betrachtungen. Stuttgart 1976, 609ff; vgl. auch Buntfuß 1997,139-169, bes. 153ff).

95

Wirkung der Metapher einerseits davon abhängt, daß sie intersubjektiv anerkannt ist, muss sie andererseits offen sein für produktive Anpassungen an die konkrete Situation. Die Metapher ist also bestimmt durch die Dialektik zwischen der überindividuellen Bestimmtheit, die sich durch die Rezeption einer vorgängigen Bedeutung ergibt, und der produktiven Adaption, welche die Unbestimmtheit der Metapher zur Variantenbildung nutzt. (Vgl. 176ff) Gerade ihre Unbestimmtheit im Vergleich zum Begriff ermöglicht es der Metapher, die Funktion der Abschirmung des lebensweltlichen Horizonts wahrzunehmen: Weil sie durch die bestimmte Unbestimmtheit, mit der sie sich auf das Erleben bezieht, nicht nur abschirmt, sondern zugleich das Abgeschirmte gegenwärtig hält, ist sie offen für Variantenbildungen und Adaptionen, die eine fraglich gewordene Lebenswelt erneut stabilisieren können. Neben der Konstruktion von Vertrautheit kommt der Metapher also als rhetorischem Verfahren auch die Funktion der Destruktion zu: sie bewahrt die Möglichkeit zur Stabilisierung von Lebenswelt, indem sie in ihrem Sinnüberschuss auch die Unsicherheit mit präsent hält, vor der diese Lebenswelt abgeschirmt werden soll, und damit eine Anpassung an sich verändernde Umstände ermöglicht. Besonders deutlich wird diese Dialektik im Mythos, der seine Qualität als überzeugender Ausdruck von Wirklichkeit durch den langen Prozess der Variantenselektion in der mündlichen Überlieferung gewonnen hat: Nicht das Material als solches, sondern seine Beziehung auf die Interessen der Hörer, die Wirkung entscheidet über Fortbestand der Geschichten, die der Erzähler zu bieten hat. Die in der rhetorischen Situation gegebene Anbindung der Stoffe an die Wünsche des Publikums fungiert als ein Selektionsprozess. Varianten, die sich gegenüber der Rezeption nicht bewähren, verfallen dem Vergessen. (182) Die Stabilität der Wirkkraft eines Mythos (und einer Metapher) wird erreicht durch dessen ständige Fortschreibung, durch die ständige Aneignung, die zugleich die Kritik an der bestehenden Form und deren Bejahung bedeutet, und die als Kritik selbst ein Wagnis darstellt, weil die intersubjektive Geltung dieser individuellen Variante keineswegs gesichert ist. 1.4.5 Gelebte Religion als rhetorisches Phänomen Als Versuch des Menschen, mit der Kontingenz seiner Lebenswelt umzugehen, ist gelebte Religion ein Teil der menschlichen Kultur. Im Unterschied zu anderen kulturellen Symbolwelten bietet sie jedoch ein »spezifischefs] Bewusstsein der Differenz von Darstellung und Dargestelltem« (193), mit dem sie das rhetorische Verfahren aller Kultur noch einmal explizit zum Ausdruck bringt. Dementsprechend findet sich auch im Verhältnis von gelebter Religion zu ihrer manifesten Form die Spannung 96

von vorgegebenen Metaphern, Symbolen und Geschichten zu ihren immer neu entstehenden Adaptionen und Varianten. Das Rhetorische religiöser Sinndarstellung liegt folglich nicht nur darin, ein explizites Einverständnis über die midaufenden Hintergrundgewissheiten zu ermöglichen, sondern auch durch imaginative Suggestionen das Übermaß an Fraglichkeit, das an den Rändern und im Zentrum der Lebenswelt aufbricht, abzublenden. [...] Als Phänomen des Rhetorischen hat es die Religion aber auch mit ihren eigenen Fremdheiten zu tun, dem verdeckten im manifesten Sinn, den noch nicht aktualisierten Varianten, die den bestehenden Konsens irritieren. (193) Gelebte Religion stellt deshalb für Erne nicht ein »Urvertrauen« (so W. Härle in Anlehnung an E. Erikson) dar, sondern gehört aufgrund der Dialektik von Abschirmung und Präsenthalten von Alternativen, von Stabilisierung und Überschreitung des Selbstverständlichen zu den rhetorischen Phänomenen der Lebenswelt. Sie ist wie andere rhetorische Phänomene bezogen auf die Begriffsarbeit kritischer Reflexion, und hat wie diese zugleich ein Eigenrecht gegenüber der Begriffsarbeit als »eigenständige Leistung der Distanzierung von Unbestimmtheit« (195). Religion als rhetorisches Phänomen ist [...] eine Ausdrucksleistung, welche in einer [gegenüber anderen kulturellen Symbolwelten] gesteigerten Weise vertraute Formen stabilisiert und überschreitet. In diesem spezifischen Umgang mit dem Grundkonflikt der Darstellung von Sinn gleicht sie eher einem »Ferment [[...]] als [[einem]] Fundament«, das, indem es sich prägnant ausbildet, auch für andere und anderes bedeutsam wird. (197)39 1.4.6 Die Bedeutung des Rhetorischen für die Seelsorge Auf der Basis seiner Bestimmung des Rhetorischen geht es Erne in der Seelsorge grundlegend darum, immer wieder neu eine Balance zu finden im Konflikt zwischen dem Bedürfnis nach festen Formen und Stabilität und der Notwendigkeit, diese Formen wieder zu überschreiten, um leben zu können, und auf diese Weise die Horizontverschiebungen zu gestalten, ohne daß eine abschließende Bewältigung des Grundkonflikts möglich wäre. »Die Horizonte des Alltags lassen sich nicht in einer letzten Gewissheit oder in einem horizontunabhängigen Urvertrauen gründen, das in allen folgenden Krisensituationen nur noch beständig zu erneuern ist.« (206) Weil nicht nur Krisenerfahrungen, sondern auch die Erstarrung in gesicherten stabilen Ordnungen vor diesem Hintergrund zum Problem wird, spricht Erne lieber von Konflikten als von Krisen als Auslöser von Seelsorge. 39 Die kursiven Worte stehen auch bei Erne kursiv; die einfachen eckigen Klammern geben in diesem Zitat eine Einfügung von EK wieder, die doppelten eckigen Klammern eine Einfügung von Th. Erne in ein (durch einfache Anführungszeichen markiertes) Zitat aus Peter Kiwitz, Lebenswelt und Lebenskunst, 1986, 95.

97

Seelsorge stellt so eine Form des Alltagsgespräches dar, in dem alltägliches Orientierungswissen bearbeitet wird; ihr Thema ist entsprechend »die im Alltag eingelagerte Lebensweisheit, die Kunst, die konfligierenden Grundkoordinaten des Lebens in einem ausgewogenen Verhältnis zu halten«. (216) In Abgrenzung zu H. Luther, der lediglich verunsichernde Funktion von Religion für die Seelsorge fruchtbar machen möchte, und zu E. Hauschildt, für den Religion im alltäglichen Gespräch die Funktion hat, mit ihren Symbolen einen Raum offen zu halten, in dem Transzendenzerfahrungen wie z.B. Tod sozial rekonstruiert werden können, möchte Erne unter Rückgriff auf das Symbolverständnis von J. Scharfenberg die Funktion der Religion im Seelsorgegespräch weiter fassen und beschreibt sie als Möglichkeit, durch die Verwendung von religiösen Metaphern und Symbolen zum Gewinn von Freiheit sowohl gegenüber der Bedrohung durch Unbestimmtheit wie gegenüber der Bedrohung durch zu fest gefügte Ordnungen beizutragen. Denn was religiöse Symbole auszeichnet, ist eine bestimmte Zuspitzung der Beziehung von gegebenen Formen und ihren Überschreitungen, und das nicht als ein zufalliger, sondern als wesentlicher Ausdruck des Gottesverhältnisses, das sie thematisieren. Nur solche religiösen Symbole sind angemessen, die nicht nur das Unbedingte, sondern zugleich ihren eigenen Mangel an Unbedingtheit zum Ausdruck bringen. (224f) Dabei ist die Intersubjektivität rhetorischer Sprachformen von Bedeutung für deren Wirksamkeit. Als Ausdruck von Wirklichkeitswahrnehmung werden rhetorische Sprachformen nicht jeweils ad hoc neu gebildet, sondern primär als vorgegebene Sprachformen rezipiert und damit bereits intersubjektiv vermittelt: »Wir können an der Bedeutung eines Ausdrucks, etwa eines Mythos oder einer Metapher, nur teilnehmen >im Modus mitgeteilter Subjektivität, in der erzählten Geschichten« (177f) In diesem Prozess von Erzählen und Hören bilden sich Varianten, deren Wirksamkeit durch einen fortlaufenden Selektionsprozess sichergestellt wird: Nicht das Material als solches, sondern seine Beziehung auf die Interessen der Hörer, die Wirkung entscheidet über [den] Fortbestand der Geschichten, die der Erzähler zu bieten hat. Die in der rhetorischen Situation gegebene Anbindung der Stoffe an die Wünsche des Publikums fungiert als ein Selektionsprozess. Varianten, die sich gegenüber der Rezeption nicht bewähren, verfallen dem Vergessen. Der bewährte Stoff, der sich in dieser intersubjektiven Geltungssphäre durchsetzt, wird durch Wiederholung prämiert, nicht nur vom >Erfinder< der Geschichten, sondern am Ende auch von den Autoren, die schriftlich fixieren, was den Zustand der Konstanz erreicht hat. (182) Der Bedeutungsüberschuss, der in der überlieferten Form enthalten ist, drängt freilich angesichts sich verschiebender Horizonte und neu aufbrechender Fragwürdigkeiten immer wieder dazu, das Gewohnte auf neue Weise zur Darstellung zu bringen. Auch nach der schriftlichen Fi98

xierung geht der Prozess der Rezeption durch Variantenbildung weiter; allerdings ist dieser Prozess nun mit größeren Risiken verbunden, weil die alte Variante weiterhin verfügbar bleibt und die neue nun an ihr direkt gemessen werden kann: Insofern ist mit jeder individuellen Aneignung von Bedeutungen, die im Zuge ihrer Rezeptionsgeschichte den Zustand »quasi objektiver Geltung« erreicht haben, das Wagnis verbunden, ob die individuelle Variante auch in der Sphäre intersubjektiver Geltung - und das heißt, ob sie auch als Variante dieser bestimmten Geschichte — ihre Anerkennung finden wird. (183)

1.4.7 Fazit: Seelsorge als Variantenbildung Ernes Darstellung der in Technik und Rhetorik gegebenen Handlungsmöglichkeiten mit eigenständiger Rationalität leuchtet ein: Während die Technik Unsicherheiten im Verstehen dadurch überspielt, dass sie bestimmte Verfahren anbietet, die ohne weiteres Verstehen benutzbar sind, wirkt die Rhetorik Unsicherheiten entgegen, indem sie für bestimmte Entscheidungen jeweils einen Horizont schafft, durch den bestimmte Aspekte als bedenkenswert in den Vordergrund treten, während anderes als selbstverständlich ausgeblendet wird. Beide Verfahren werden von jedem Menschen alltäglich angewandt, um überhaupt zu Handlungen fähig zu sein. Beide unterscheiden sich von philosophischen Rationalitätsstandards darin, dass ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit sich nicht aus feststehenden Prämissen analytisch und logisch einwandfrei ableiten lässt, also aus wissenschaftlicher Sicht defizitär bleibt. Gegenüber der binären Logik wissenschaftlicher Rationalität (wahr oder falsch) beruhen pragmatische Begründungen in ihrer Rationalität auf graduellen Differenzen und Wahrscheinlichkeiten. Bestimmte Aussagen sind wahrscheinlicher als andere; bestimmte Handlungen erscheinen angemessener als andere. Die Grundlage solcher Abwägungen ist die Vereinbarkeit mit den zum Zeitpunkt der Entscheidung verfügbaren Erfahrungen. Für die Technik bedeutet dies: >wer heilt, hat rechtknechtischer Existenz< (Piaton) versteht und die Notwendigkeit der vorgebrachten Zwangsbedingungen bestreitet. Weil Piaton davon ausgeht, dass dem Menschen der Besitz von Wahrheit und Evidenz möglich ist, weist er der Rhetorik lediglich die Aufgabe zu, diese Wahrheit mit den Mitteln des rhetorischen ornatus zur Wirkung zu bringen. Damit steht sie allerdings immer schon vor dem Problem, erklären zu müssen, warum angesichts eines grundsätzlich möglichen Zugangs zur Wahrheit die Rhetorik überhaupt noch zu deren Vermittlung gebraucht werde. 43 Diese in der Geschichte der Rhetorik so lange wirksame Gegenposition ist für Blumenberg in der Gegenwart obsolet geworden: So lange die Philosophie ewige Wahrheiten, endgültige Gewißheiten wenigstens in Aussicht stellen mochte, mußte ihr der consensus als Ideal der Rhetorik, Zustimmung als das auf Widerruf erlangte Resultat der Überredung^ verächtlich erscheinen. Aber mit ihrer Umwandlung in eine Theorie der wissenschaftlichen >Methode< der Neuzeit blieb auch der Philosophie der Verzicht nicht erspart, der aller Rhetorik zugrunde liegt. [...] Das, was Thomas S. Kuhn in seiner Struktur wissenschaftlicher Revolutionen das »Paradigma« genannt hat — die beherrschende Grundvorstellung in einer wissenschaftlichen Disziplin für einen längeren Zeitraum, die sich alles verfeinernde und erweiternde Nachforschungen integriert —, dieses Paradigma ist nichts anderes als ein consensus, der sich zwar nicht ausschließlich, aber auch über die Rhetorik der Akademien und der Lehrbücher zu stabilisieren vermochte.44 Ein weiteres Argument Blumenbergs für die Wahl der Defizit-Anthropologie sieht der Mönchengladbacher Sprach- und Literaturpädagoge J o s e f Kopperschmidt 4 5 mit Verweis auf weitere Veröffentlichungen Blumenbergs in der Ubereinstimmung mit der Institutionentheorie z.B. A. Gehlens, die auch R. Preul für seine Kirchentheorie rezipiert hat (s.o.): Wie die Rhetorik, so bieten auch Institutionen dem Menschen eine Möglichkeit, sich gegen die aus dem Fehlen letzter Gewissheiten über die Welt entstandenen Risiken abzusichern. D e n Vorteil dieser Argumentation sieht Kopperschmidt darin, dass Blumenberg mit dieser Dichotomie rhetorischer Begriffsbildung anschlussfähig wird gegenüber 42 43 44 45

Blumenberg 1981, 108. Vgl. Blumenberg 1981, 124. Blumenberg 1981,112. Vgl. Kopperschmidt 2000a, 18.

103

anderen anthropologisch begründeten Wissenschaften; dagegen kritisiert er, dass Blumenberg die sozialen Voraussetzungen von Rhetorik unzureichend berücksichtigen würde, und ergänzt Blumenbergs Ausführungen zu den konstitutionellen Mängeln des Menschen (fehlende Zeit, fehlende Gewissheit, Handlungs- und Entscheidungsdruck sowie Abhängigkeit von anderen) um das Motiv des gesellschaftlich erzwungenen Gewaltverzichts, mit dem er zugleich Blumenbergs auf Aristoteles aufbauende Position gegenüber einer »sophistischen Herrschafts- bzw. Überwältigungsrhetorik«46 abgrenzen möchte. 2.2 Das Problem der Gewalt in der Rhetorik Mit der beschriebenen Ergänzung möchte Kopperschmidt den phänomenologisch gewonnenen Rhetorikbegriff Blumenbergs öffnen für ein Verständnis, das von Habermas her Rhetorik als kritische Handlungswissenschaft konzipieren möchte. Mit Gadamer, Habermas und Adorno interpretiert Kopperschmidt an anderer Stelle den oben dargestellten Rhetorikbegriff dahingehend, dass eine Rhetorik, die sich als Theorie der Verständigung durch Sprache versteht, nicht nur technisches Wissen zum Gebrauch der Sprache bereitstellt, sondern auch kritisch nach dem Zweck sprachlicher Äußerungen fragt und dabei Verständigung von Manipulation, Uberzeugen von Uberreden zu unterscheiden weiß.47 Rhetorik hat folglich als Gegenstand »Sprache, insofern sie als Medium der Verständigung [...] beansprucht wird«, oder anders formuliert: Rhetorik fragt »nach den Bedingungen eines gelingenden Konsenses« und damit »nach den Bedingungen, unter denen Argumente ihre Überzeugungskraft rein zur Geltung bringen können«.48 Dabei sieht Kopperschmidt »die beanspruchte Wahrheit eines gelungenen Konsenses rückgebunden [...] an das Maß eingelöster Bedingungen gewaltfreier Konsensermittlung«.49 Kopperschmidts Konzeption ist von verschiedenen Seiten kritisiert worden, insbesondere wegen ihrer zu optimistischen Sicht menschlicher Rationalität. So hat der Sprach- und Kommunikationswissenschaftler Hellmut Geißner50 darauf hingewiesen, dass die idealisierenden Annahmen Kopperschmidts über Kommunikationsziele entweder wirkungslos bleiben oder zu ergänzen sind durch die Reflexion auf außerhalb rationaler Argumentation liegende Gründe, die Handeln auslösen. Weil rhetorische Kommunikation Teil einer umfassenderen, Sinn konstituieren46 47 48 49 50

104

Kopperschmidt 2000a, 20. Vgl. Kopperschmidt 1977, 217; 223. Kopperschmidt 1977, 223. Kopperschmidt 1977, 225. Geißner 1977.

den Symboloperation ist, die menschliches Handeln jenseits von Kommunikation einschließt und immer in bestimmten geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontexten geschieht, muss eine angemessene rhetorische Theoriebildung auch auf diese Bedingungen reflektieren. Geißner hat deshalb eine — nach eigener Aussage unvollständige — Aufzählung von Überzeugungshindernissen vorgenommen, »die durch rationale Argumentation nicht schlichtweg beseitigt werden können«.51 Auch der ausgewiesene Kenner klassischer Rhetorik Klaus Dockhorn wendet sich gegen die Meinung, durch die Beseitigung von Gewaltmomenten in der Kommunikation sei die optimale Kommunikationssituation zu erreichen. Er zeigt, dass Kopperschmidt den Begriff der pistis bei Aristoteles fehlinterpretiert, wenn er ihn als Überzeugtsein bzw. Evidenz im rationalen Sinn versteht. Hier gehe es vielmehr um ein >GlaubenHalten für< nicht im Sinne eines Beweises, sondern als Wirkung kunstgemäßer Überzeugungsmittel, die (1) als ethische die Vertrauenswürdigkeit des Redners erweisen, (2) als emotionale ein Gefühl im Hörer erregen und (3) als logische plausible Gründe benennen.52 Das der aristotelischen Rhetorik zugrunde liegende Menschenbild sei folglich nicht kompatibel mit den emanzipatorischen Interessen von Habermas, weil letzterer die affektive Seite des Menschen nicht ausreichend berücksichtige.53 In ähnlicher, zugleich weiterführender Weise kritisiert der Tübinger Rhetoriker Joachim Knape die Reduktion der rhetorischen Situation auf die »theoretisch ideal bereinigten Kommunikationssituationen«54 nach dem Modell des >herrschaftsfreien Diskursesdas Rhetorische^ das Thomas Erne in Anlehnung an Blumenberg seinen Analysen zugrunde gelegt hat, in den Bereich der Technologie. Rhetorik ermöglicht durch ihre Verfahrensbeschreibungen eine Beschleunigung der Konstruktion von Sprachformen, weil ihre Verfahrensmuster die Rückführung einzelner Entscheidungen auf tiefer gehende Wirkungszusammenhänge von Sprache unnötig macht. Zugleich aber hat Rhetorik als ihren Gegenstand die Sprache, d.h. ein Medium, das durch Distanznahme eine Verzögerung des Handelns be61 Knape 2000b, 180. 62 Gutenberg 1985, 120.

107

wirkt. Als Theorie sucht sie sich dieses Gegenstandes auch durch phänomenologische Reflexion zu vergewissern und hat damit in der Spannung von Theorie und Technik selbst Anteil an der Spannung von Begriff und Metapher, von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, die Erne in Anlehnung an Blumenberg als menschliche Grundsituation beschrieben hat. Seelsorgelehre, die eine solchermaßen fundierte Rhetorik zur Bezugswissenschaft wählt, kann von ihr profitieren im Blick auf die Dialektik von prinzipieller Gleichberechtigung und wechselseitiger Angewiesenheit aller Gesprächspartner auf Zustimmung bei zugleich festgehaltener Wahrnehmung der in der konkreten Situation gegebenen Differenzen, die eben auch persuasive Redebeiträge einer oder mehrerer Seiten notwendig machen können. Seelsorge muss auf dieser Basis weder das Ideal einer von Machtgefälle völlig freien Beziehung realisieren, noch bleiben die Machtverhältnisse unbeachtet. Weil das Ziel des Gesprächs in der Herstellung von Übereinstimmung in Wahrnehmung (Meinungen) und Haltung (Einstellungen) liegt, gibt es kein fundamentales, sondern lediglich ein situatives Machtgefälle (durch Wissensvorsprung, Bildungsgrad, Stimmungen ...), das sich zudem auch innerhalb des Gespräches z.B. durch einen Themenwechsel verändern kann. Betrachtet man die im Seelsorgegespräch zur Sprache kommenden Inhalte, so wird es sich um eine Verknüpfung von christlichen Traditionen der Wirklichkeitsdeutung mit konkreten, immer schon auf die eine oder andere Art gedeuteten Wirklichkeitserfahrungen handeln. Dabei sind beide Gesprächspartner Fachleute — der Seelsorger/ die Seelsorgerin v.a. für die christliche Tradition (und für bestimmte, selbst erlebte oder von anderen mitgeteilte Wirklichkeitserfahrungen), deren Gesprächspartner/Gesprächspartnerin v.a. für die konkreten Wirklichkeitserfahrungen (und für bestimmte, individuell angeeignete und auf diese Erfahrungen bezogenen Deutungsmuster). Auch hier ist eine Gleichrangigkeit prinzipiell gegeben. 3. Semiotische Grundlegung Will man die Rhetorik mit anderen Disziplinen ins Gespräch bringen, die ebenfalls über Aspekte menschlicher Kommunikation nachdenken, dann bietet es sich gegenwärtig an, auf das Theoriegebäude der Semiotik zurückzugreifen, das über den Zeichenbegriff eine kleinste Interpretationseinheit zur Verfügung stellt, die sich als für viele Disziplinen anschlussfähig erwiesen hat.63 Wie diese Anschlussmöglichkeiten für die Rhetorik aussehen, soll im folgenden dargestellt werden. Angesichts der auch in der Semiotik gegebenen Vielfalt an Theorien fiel die Wahl auf die dreistellige Zeichentheorie (Semiotik), wie sie grundlegend von Char63 Vgl. Posner (Hg.) 1997; 1998; 2003.

108

les S. Peirce entwickelt und in jüngerer Zeit in prominenter Weise von Umberto Eco in Richtung auf eine Kulturtheorie weiterentwickelt wurde. Die dreistellige Semiotik wird gegenüber der zweistelligen SemioseLehre von F. de Saussure vorgezogen, weil Peirce nicht wie de Saussure von einem objektiven Gegebensein von Zeichenbedeutungen ausgeht, sondern mit der Einführung des Interpretanten (bedeutungsgebender Kontext) als dritter Größe neben Repräsentamen (Mittel, Zeichengestalt) und Objekt (das Bezeichnete) die von der Rhetorik immer betonte Kontextabhängigkeit mit einbezieht. Zudem hat Peirce selbst auch die Rhetorik in seine semiotischen Überlegungen einbezogen (s.u.) und ihr dabei nicht nur wissenschaftstheoretisch einen Platz zugewiesen, sondern zugleich zeichentheoretisch eine Einteilung der Rhetorik in funktional unterschiedene Teilrhetoriken vorgeschlagen und mit seinem System der Zeichenklassen auch eine zeichentheoretische Klassifikation rhetorischer Figuren sowie der rhetorischen Gattungen und Redestile ermöglicht. 3.1 Semiotische Grundkonyepte: Dreistelligkeit und unendliche Semiose Die Dreistelligkeit des Zeichenbegriffs ist bei Peirce begründet in einer Triade von relationenlogisch fundierten Kategorien, die in ihrem Zusammenhang »unsere Erfahrungen und unser Wissen konstituiert«.64 Die drei Kategorien Erstheit, Zweitheit und Drittheit entsprechen einstelligen (z.B. >x ist rotx schlägt yx gibt y ein zgrünBaumrealensymbolisch< sein, d.h. von Ähnlichkeit und realen Beziehungen unabhängig (z.B. Fahne und Staat). Die Beziehung dieser Beziehung auf eine bestimmte Frage oder Hinsicht kann so beschaffen sein, dass das Zeichen allein keine Aussage ist (keinen propositionalen Gehalt hat, z.B. ein einzelnes Wort, die Zeichnung eines Baums) und deshalb weder wahr noch falsch sein kann, oder so, dass das Zeichen in eine Aussage übersetzt werden kann (z.B. ein Satz, ein Wegweiser neben einer Straße), oder so, dass das Zeichen als Aussage zugleich eine Regel darstellt (z.B. eine wenn-dann-Aussage, ein Rauchverbotsschild). Aus den genannten Alternativen entsteht so ein System von drei mal drei Zeichenaspekten (vgl. Tabelle 1). Reflexion über ...

Triaden (Begründung)

Erstheit

Zweitheit

Drittheit

Mittel

Quali

Sin

Legi

Objekt

Ikon

Index

Symbol

Interpretant

Rhema

Dicent

Argument

Trichotomien (Realisierung)

Tabelle 1: System der Zeichenaspekte nach C.S. Peirce67

Zur Konstitution eines Zeichens bedarf es dabei jeweils der Wahl eines Elementes aus jeder Zeile (also für Mittel, Objekt und Interpretant). Die Zusammensetzungen sind jedoch nicht beliebig; bestimmte Kombinationen sind ausgeschlossen. So gibt es beispielsweise kein Zeichen, das hinsichtlich seiner Gestalt eine bloße Qualität (grün) darstellt, hinsichtlich seiner Beziehung auf ein Zweites außerhalb seiner selbst auf einen bestimmten, singulären Gegenstand bezogen ist und als Fragerichtung 67 Vgl. die Darstellung bei Oehler 1993,127ff.

110

eine allgemeine Regel impliziert (also die Verbindung von Argument, Index und Quali). Verfolgt man die Tabelle vom Mittel zum Interpretanten, so gilt, dass die Kategorie, die das Mittel bestimmt, zugleich das Maximum an Relationalität für das gesamte Zeichen festlegt, also nur Verbindungen mit Objekt- und Interpretantenaspekten gleicher oder geringerer Relationalität möglich sind. Auf gleiche Weise determiniert der Objektaspekt den Interpretantenaspekt. So ergeben sich schließlich zehn semiotisch gültige Verbindungen, die zugleich zehn Zeichenklassen darstellen: I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X.

rhematisch-ikonische Qualizeichen rhematisch-ikonische Sinzeichen rhematisch-ikonische Legizeichen rhematisch-indexikalische Sinzeichen rhematisch-indexikalische Legizeichen rhematisch-symbolische Legizeichen dicentisch-indexikalische Sinzeichen dicentisch-indexikalische Legizeichen dicentisch-symbolische Legizeichen argumentisch-symbolische Legizeichen68

Die Relationen, die Peirce mit dem Zeichenbegriff verbindet, kamen bisher lediglich als >offene Enden< in ihrer Funktionalität im Blick auf ein einzelnes Zeichen zur Sprache. Damit aber tatsächlich von Relationalität gesprochen werden kann, müssen die Relationen natürlich wiederum eine Verbindung zu etwas anderem herstellen — und für die Semiotik ist dieses andere primär immer ein weiteres Zeichen. Der Interpretant] wird seinerseits zum Repräsentamen 2 , also einer Zeichengestalt, die sich als auf ihr Objekt2 auf das ursprüngliche Zeichen,, konkret: dessen Beziehung von Repräsentameni und Objekt], verweist und in dieser Beziehung wiederum einen Interpretanten2 hat, der in einem weiteren Schritt wiederum zum Repräsentamen 3 wird ... und so fort, bis der Prozess der Semiose, d.h. der Generierung eines Zeichens durch ein anderes irgendwann gewaltsam gestoppt wird, z.B. durch den Tod. Weil jedes Zeichen interpretierbar sein muss, Interpretation aber nur durch Zeichen geleistet wird, bleibt jeder Interpretationsprozess prinzipiell unabgeschlossen. De facto wird der unendliche Prozess der Semiose freilich auch durch den Handlungszwang begrenzt, dem wir als Menschen ausgesetzt sind, und der zum Abbruch des Interpretationsprozesses führt, wie der Hamburger Philosoph Klaus Oehler in seiner Einführung in die Semiotik von Peirce verdeutlichte: »Die Handlung dokumentiert dann die umständehalber abgebrochene Interpretation einer Situation.«69

68 Schönrich 1999, 27. 69 Oehler 1993,130.

111

3.2 Rhetorik als Zweig der Semiotik In einer bisher wenig beachteten, interdisziplinär angelegten Arbeit hat sich die Oehler-Schülerin Regina Podlewski 1982 der Frage gewidmet, welchen Gewinn die Rhetorik aus der Semiotik von Charles S. Peirce ziehen kann.70 Dabei hat sie darauf hingewiesen, dass auch Peirce selbst in damals unveröffentlichten Manuskripten die Rhetorik als einen Zweig der Semiotik konzipiert hat: Sie kommt für Peirce neben die spekulative Grammatik (Erstheit: Beschreibung der Arten, auf die ein Objekt Zeichen sein kann) und die spekulative Logik/Kritik (Zweitheit: Beschreibung der Arten, in denen Zeichen auf ein Objekt bezogen werden können) zu stehen als Theorie darüber, wie Zeichen als Interpretanten wirksam gemacht werden (Drittheit), d.h. als Beschreibung der »unabänderlichen Voraussetzungen dafür [...], daß ein Zeichen sich so verhalte, ein anderes als annähernd äquivalent zu sich selbst zu bestimmen«.71 3.3 Zeichen und ihre Wirkung Rhetorik fragt nach der Wirksamkeit von Sprache, und Sprache basiert auf Zeichengebrauch. In der bisherigen Darstellung ist die Semiotik vor allem als ein System von Zeichenrelationen in den Blick gekommen. Geht man aber wie Oehler mit Peirce davon aus, dass jegliches menschliche Denken in Zeichen passiert, dann wird der Begriff des Zeichens als funktionaler Begriff alles umfassen, was von Menschen wahrgenommen wird und dadurch auf sie wirkt: Die Welt besteht nicht aus zwei sich wechselseitig ausschließenden Arten von Dingen, aus Zeichen und NichtZeichen beziehungsweise aus einer Art von Dingen, die eine Bedeutung haben, und einer Art von Dingen, die keine Bedeutung haben. Es gibt überhaupt keine bedeutungslosen Objekte. Alle unsere Objekte sind Objekte von Zeichen, und ein Zeichen ohne Bedeutung gibt es nicht — das wäre ein Widerspruch. Gerade dieser Sachverhalt kommt in der triadischen Struktur des Zeichenbegriffes evident zur Darstellung.72 Die Bedeutung eines Objektes besteht darin, ein Zeichen zu determinieren; und diese Determination äußert sich darin, dass das Zeichen (die 70 Podlewski 1982. 71 Podlewski 1982, 45f; vgl. Fry 1986. Podlewski stellt darüber hinaus das von Peirce in Analogie zu seiner relationenlogischen Analyse des Zeichensystems entwickelte hochspekulative System von Arten rhetorischer Untersuchungen dar, die sich in Methodik und Gegenstand jeweils unterscheiden; für die vorliegende Untersuchung bleibt diese Einteilung jedoch ohne Ertrag und wird deshalb nicht weiter ausgeführt. Die von Podlewski in zwei Hauptteilen ihrer Arbeit dargestellten semiotischen Klassifizierungen wichtiger rhetorischer Kategorien werden entsprechend ihrem materialen Gehalt in Kapitel 3 vorgestellt. 72 Oehler 1 9 9 3 , 1 3 2 .

112

Beziehung zwischen Mittel und Objekt) einen Interpretanten hervorbringt, d.h. einen Interpreten (ein menschliches Bewusstsein) »zu einem Gefühl, einer Handlung oder einem Zeichen determiniert«73 - wobei letztlich auch das Gefühl oder die Handlung als Zeichen zu verstehen sind, die Unterscheidung, die Oehler hier vornimmt, also nur der Explikation des Umfangs der Determination dient. Die Frage, wie weit ein Interpret durch Zeichen in seinem Interpretationsprozess determiniert werden kann, hat die Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert in heftige Debatten geführt. Während Umberto Eco dabei zunächst die Mitarbeit des Interpreten in seiner Individualität beim Verstehen von Texten betonte, hat er später74 gegenüber einer sich auf den Prozess der unendlichen Semiose berufenden Position, die jegliche Grenzen von Interpretation als willkürlich ablehnte, eine Differenz zwischen (willkürlichem) Gebrauch und (legitimierbarer) Interpretation konstatiert und energisch »die Grenzen der Interpretation«75 verteidigt. Dabei berief er sich auf den Zusammenhang zwischen Interpretation und Gewohnheit, der im Peirceschen Begriff des finalen Interpretanten enthalten ist: Das semiotische System als geschlossenes System kann Objekte der Außenwelt nur integrieren, indem durch Zeichen Handlungen beschrieben werden, die eine (zweitheitliche) Erfahrung mit dem entsprechenden Objekt ermöglichen. Erweist sich die Beschreibung als wirksam, wird sie zur Regel und die darin beschriebene Handlung zur Gewohnheit, d.h. zum finalen Interpretanten. Dies setzt voraus, dass auch die jenseits der Zeichenwelt verbleibenden Objekte Gewohnheiten ausbilden (im Sinne von Naturgesetzen oder Regelmäßigkeiten); erst die Übereinstimmung zwischen beiden ermöglicht das zeichenhafte Erfassen von Objekten, weshalb in den gewohnheitsmäßigen Handlungen die Grenzen der Interpretation liegen: Ein Zeichen kann einen energetischen und emotionalen Interpretanten erzeugen: wenn man ein Musikstück hört, ist der emotionale Interpretant unsere Reaktion auf den Zauber der Musik; doch erzeugt diese Gefiihlsreaktion auch eine geistige oder muskuläre Anstrengung, und diese Arten des Reagierens sind energetische Interpretanten. Eine energetische Antwort erfordert keine Interpretation: sie stellt (durch aufeinanderfolgende Wiederholungen) eine Gewohnheit her. Nachdem wir eine Zeichensequenz empfangen haben, wird unsere Art und Weise, uns in der Welt zu verhalten, fortdauernd oder vorübergehend verändert. Diese neue Verhaltensweise ist der Finale Interpretant. An diesem Punkt gelangt die unbegrenzte Semiose zum Stillstand, die Bewegung der Zeichen hat Modifikationen der Erfahrung hervorgerufen, das fehlende Bindeglied zwischen Semiose und physischer Realität ist schließlich identifiziert.76 73 74 75 76

Oehler 1993,129. Vgl. Eco 1990. So sein Buchtitel in deutscher Übersetzung: Eco 1999. Eco 1990, 54.

113

INTENSIONEN IDEOLOGISCHE STRUKTUREN

EXTENSIONEN

t

AKTANTENSTJ8IIKT1Ü8JRN iL 1 ERZÄHLERISCHE STRUKTUREN Makropropositionen der Fabel

DISKURSIVE STRUKTUREN Erkennung des Topic Reduktion von Szenographien Hervorhebung und Narkotisierung von Eigenschaften Auswahl von Isotopien

WELTSTRUKTUREN Matrix von Welten Zuschreibung von Wahrheitswerten Urteile zur Annehmbarkeit von Welten Erkennen von proposi tionalen Standpunkten

VORAUSSAGEN UND INFERENTIELLE SPAZIERGÄNGE Wahrscheinlichkeitsdisjunktionen und Inferenzen EXTENSIONEN IN PARENTHESE Erste, nicht bindende Bezugnahme auf Welten

AKTUALISIERTER INHALT

Abbildung 1: Die textuelle Mitarbeit des Lesers nach Umberto Reo (Umberto Eco: Ledor in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. Aus dem Italienischen von Hein^-Georg Held, S. 89, © 1987 Carl Hanser Verlag, München-Wien)

Die entstehende Gewohnheit, die als finaler Interpretant den Gesetzmäßigkeiten der Außenwelt entspricht, gewinnt dadurch an Objektivität, dass sie intersubjektiv kontrollierbar ist. Allerdings stellt auch sie nur

114

einen scheinbaren Abschluss der Semiose dar, weil Gewohnheiten als Handlungen wiederum zu Zeichen werden und so einen neuen Prozess von Interpretationen auslösen. Für die Frage nach den Grenzen der Interpretation bedeutet dies, dass »die Arbeit an der Interpretation eine wahlweise Beschränkung [erfordert], eine Beschränkung der interpretativen Richtungen und daher die Planung von Diskursbereichen«.77 Damit ist die Strategie angesprochen, mit der ein Autor in seinem Text bestimmte Kompetenzen seines Lesers voraussetzt, aktualisiert und konstituiert.78 Wie vielfältig und komplex man sich die Mitarbeit auf Seiten des Lesers vorstellen muss, wird aus dem Schaubild deutlich, das Eco seinen Ausführungen voranstellt (s. Abb. 1). Während die beiden Kästen auf der untersten Ebene die Voraussetzungen beschreiben, mit denen der Leser/ die Leserin dem Text begegnet, stellt der obere Kasten den Prozess der Interaktion zwischen Leser/Leserin und Text dar. Zwar lässt sich dieses Schema nicht einfach für die Rhetorik übernehmen. Zum einen, weil Eco sich hier explizit auf schriftlich vorliegende Texte bezieht und daher eine Vielzahl von weiteren Faktoren unberücksichtigt lässt, die in der Kommunikation vermittels schriftlicher Texte keine Rolle spielen; zum anderen deshalb, weil Eco nicht an der Produktion, sondern an der Rezeption interessiert ist. Aber die von Eco vorgestellten Voraussetzungen auf Seiten des Lesers/ der Leserin beschreiben mit Enzyklopädie und Umfeld Faktoren, die auch im Gespräch wirksam sind und denen deshalb von Seiten der Rhetorik Aufmerksamkeit zu schenken ist. Dabei muss die Enzyklopädie des Lesers/ der Leserin als gegebene Voraussetzung berücksichtigt werden; das Umfeld kann dagegen in bestimmten Grenzen auch gestaltet werden — die klassische rhetorische Lehre von der actio bietet dafür ebenso Hilfestellungen wie die Hinweise zum Beginn einer Rede, der durch entsprechende Gestaltung die bisherige Wahrnehmung des Umfelds durch die Rezipienten beeinflussen kann. Die Bedeutung des Dargestellten für die Rhetorik liegt darüber hinaus darin, dass Eco (1) die strategische Dimension, also die Wirkungsabsicht von Zeichenproduktion klar benennt und Wirkung als semiotischen Prozess beschreibt, und dass er (2) zugleich deutlich macht, dass diese Wirkung von vielen, auf komplexe Weise miteinander verbundenen Faktoren abhängig ist, die von der Kommunikationsquelle her nur bedingt beeinflussbar sind, selbst wenn man annimmt, dass die Rezeption im Rahmen der Interpretation bleibt und nicht zum bloßen Gebrauch wird. Freilich ist dabei auch festzuhalten, dass anders als bei schriftlicher Kommunikation im Falle von face-to-face-Kommunikation eine Reihe von Möglichkeiten besteht, über direkte Rückmeldungen Interpretationen zu korrigieren, die nicht im Interesse des Redners liegen. 77 Eco 1990, 57. 78 Vgl. Eco 1990, 65ff.

115

4. Rhetorik und Ästhetik In der Moderne, besonders seit dem 19. Jahrhundert, ist die Rhetorik gegenüber dem Ideal der Authentizität des Ausdrucks als Manipulationskunst in Verruf geraten und durch eine als Gegenbild konzipierte Ästhetik ersetzt worden.79 Damit wurde nicht nur die Rhetorik missverstanden, sondern auch in der Kommunikationstheorie der Aspekt des Ausdrucks gegenüber dem der Wirkung einseitig in den Vordergrund gestellt. Beides wird heute zunehmend korrigiert, sowohl im Bereich der Kommunikationstheorie80 wie in der neuen Aufmerksamkeit, welche die Rhetorik seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen81 findet, einschließlich der Theologie.82 Vor diesem Hintergrund lässt sich auch das Verhältnis von Rhetorik und Ästhetik heute weniger als Konkurrenz denn als von verschiedenen Fragestellungen herkommendes Zusammenwirken begreifen. Ausgehend von Hellmut Geißners Argumentation, »daß das Kriterium des Rhetorischen auch für den Bereich der Künste zutrifft«,83 hat Norbert Gutenberg anhand alltagssprachlicher Überlegungen eine Neubestimmung vorgenommen.84 Dabei gilt ihm als Kriterium für Rhetorizität zunächst die Intentionalität85 - und zwar sowohl von Seiten des Sprechers, wie von Seiten des Hörers. Wenn beim Hörer das bloße Hinhören zum gezielten, reflektierten Zuhören wird, oder wenn der Sprecher mit seinem Reden bewusst subjektive Ziele verfolgt, dann ist eine Sprech- oder 79 Vgl. Jens 1977, 433. 80 Vgl. z.B. Watzlawick/Beavin/Jackson 1969 zur Unterscheidung von Inhaltsund Beziehungsebene, sowie Schulz von Thun 1981, 209—213 zur Komplementarität von Ausdruck und Wirkung. 81 Vgl. z.B. die Themenbände der Zeitschrift »Rhetorik« : Rhetorik und Theologie (Jg. 5/1986), Rhetorik und Psychologie (Jg. 6/1987), Rhetorik und Politik (Jg. 11/1992), Juristische Rhetorik (Jg. 15/1996), Rhetorik in der Schule (Jg. 17/1998), Rhetorik und Philosophie (Jg. 18/1999). 82 Vgl. den schon genannten Themenband »Rhetorik und Theologie«, der v.a. Themen der Homiletik und der Bedeutung der Rhetorik für die Kirchen des 16. und 17. Jahrhunderts behandelt. Eine besondere Rolle bei der inzwischen breit rezipierten Wiedergewinnung der Rhetorik für die Homiletik kommt den zahlreichen Veröffentlichungen von Gert Otto und Manfred Josuttis zu; vgl. Grözinger 1979. Während die Rhetorik im Bereich der Exegese (v.a. des NT) schon fast selbstverständlich als Gesprächspartnerin gilt (z.B. bei den internationalen Konferenzen zu Rhetorical Criticism, die seit 1992 regelmäßig stattfinden, vgl. Porter/Stamps [Hg.] 1999), sind für den Bereich der Systematischen Theologie (Cunningham 1991; Compier 1999) und die nichthomiletischen Bereiche der Praktischen Theologie (z.B. Liturgik: Aune 1994) erst vereinzelte Veröffentlichungen zu beobachten. 83 Gutenberg 1985,117. 84 Gutenberg 1985. 85 Vgl. auch das in Kapitel 2, Abschnitt 2.3 zur Definition von manipulativer Rhetorik Ausgeführte.

116

Hörhandlung rhetorisch. Den Gegenbegriff zu rhetorischem Handeln bildet am anderen Ende der Skala, in Aufnahme einer Formulierung Geißners, der Begriff der >phatischen< Kommunikation. Sie ist gegeben, wenn zwar subjektive Motivationen vorliegen, aber keine Relation von Zielen und Mitteln gegeben ist, also keine Intentionalität vorliegt, sondern Aufgaben quasi >automatisiertproduziert< wurden. Dieses Moment menschlicher Produktivität, wie ich es verkürzt nennen möchte, ist es, was Vergnügen bereitet, dem Schaffenden und dem Aufnehmenden. Es ist für die differenzierte Wahrnehmung an fast allen menschlichen Tätigkeiten und ihren Produkten vorhanden, es kann beim Produzieren aber fehlen, wenn nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden oder Umwege entstehen oder Dinge nur gerade so erreicht werden. [...] Dieses genußbereitende Moment menschlicher Produktivität nenne ich »ästhetisch«.87 Wie der Begriff >rhetorischästhetisch< damit sowohl auf die Produktion, das Sprechen, wie auf die Rezeption, das Hören, anwendbar. Damit entstehen verschiedene Kombinationsmöglichkeiten zwischen rhetorischen und ästhetischen Sprech- und Hörakten. Dabei setzt ästhetisches Produzieren und Wahrnehmen als ein besonderer intentionaler Akt jeweils die Rhetorizität auf der gleichen Seite voraus, während Sprecher- und Hörerakt voneinander unabhängig sind: Ein phatdscher Sprechakt kann rhetorisch oder ästhetisch aufgefasst werden; umgekehrt kann ein rhetorischer oder ästhetischer Sprechakt ästhetisch oder phatisch wahrgenommen werden, wobei im letzteren Fall noch zu unterscheiden ist, ob der Sprechakt beim Hörenden manipulativ wirkt und damit insgesamt rhetorisch bleibt, oder ob auch die manipulative Wir-

86 Gutenberg 1985, 122. 87 Gutenberg 1985,125f.

117

kung ausbleibt, die Sprecher-Rhetorizität »verpuffen« muss und »der Gesamt-Prozeß [...] >rephatisiert< ist«.88 In diesem Zusammenhang schlägt Gutenberg noch vor, »dem rhetorischen Zentralbegriff >Sprechhandeln< den ästhetischen Zentralbegriff >Sprechspielen< gegenüberzustellen«, wobei dieses >Sprechspielen< »ein Handeln im rhetorischen Sinne ist, nur eines, das zusätzlich das Moment menschlicher Produktivität im Sprechen und Zuhören intentional ergreift«.89 Mit dieser Bestimmung von rhetorischem, ästhetischem sowie manipulativem Handeln lässt sich auch Knapes Vorschlag konkretisieren, zur Reduktion des Widerstandes gegen die Konfrontation mit persuasiven Sprachakten ästhetisches Spiel< einzusetzen.90 Für die Seelsorge könnte dies bedeuten, der christlichen Tradition entstammende Wirklichkeitsdeutungen >spielerisch< ins Gespräch einzubringen, d.h. als erkennbar menschliche Produktion, die nicht aufgrund einer hinter ihr stehenden Autorität zwangsweise übernommen werden muss, sondern als menschliche Produktion ästhetisch, d.h. mit Blick auf ihre >Geschicktheit< oder >SchönheitSymbolzeichens< entwickelt. Dabei hat er >Symbole< nicht als Objekte besonderer Qualität beschrieben, sondern als prozesshaftes, interaktives Geschehen, von dem die üblicherweise als >Symbole< verstandenen Objekte lediglich einen Teil darstellen. Wahl spricht daher von >SymbolerfahrungSymbolzeichenSelbstobjekts< er durch Bions Modellstruktur >containercontainedfinalen Interpretanten< auf die Frage nach den Grenzen der Interpretation in Kapitel 2, Abschnitt 3.3.

120

objekt sowie den Dialog mit Lorenzers Überlegungen zur Unterscheidung von Symbol, Klischee und Zeichen vertieft. 5.2.1 Das Symbol-Zeichen als äußere Gestalt eines Selbstobjekts (Kohut) Heinz Kohuts Konzept des >Selbstobjekts< beschreibt eine psychogenetische Struktur, die sich in transformierter Form verallgemeinern lässt für alle Phasen des menschlichen Lebens. Kohut betrachtet die ursprüngliche Beziehung zwischen Säugling und Mutter (oder einer anderen Pflegeperson) vom Säugling her als Beziehung zwischen Selbst und (archaischem) Selbstobjekt, wobei das Selbstobjekt vom Selbst des Säuglings zunächst als Teil seiner selbst verstanden wird; in späteren Stadien »wandelt sich diese >Psymbiotisches Verschmelzen ist!) immer mehr in eine >Teilbabeäußere< Gestaltungen transformierter Selbstobjekt-Erfahrungen, als externalisierte Selbstobjekt-Repräsentanzen«103 auffassen. Dabei ersetzt die symbolische Erfahrung als Beziehung zu einem Symbolzeichen nicht die archaische SelbstobjektBeziehung, sondern >vertritt< sie: »Indem das Selbst die alte Szene neu erlebt, macht es eine neue analoge Erfahrung.«104 Die neue Erfahrung wird möglich, indem das Symbol-Zeichen ein »potentielle [s] Sinn-Angebot«105 macht, d.h. sich (einer bestimmten Person oder Gruppe) zum Gebrauch als Selbstobjekt anbietet. Indem das Symbol-Zeichen in seiner Selbstobjekt-Funktion nicht aufgeht, sondern seine Differenz behält, entsteht eine Triade zwischen Selbst, Symbol-Zeichen und Selbstobjekt, die einen 99 Wahl 1999, 449. 100 Wahl 1999, 448; zur Unterscheidung von archaischem Selbstobjekfc und der allgemeinen Bedeutung des Begriffs >Selbstobjekt< vgl. Wahl 1994, 95. 101 Vgl. Wahl 1999, 449. 102 Wahl 1999, 449. 103 Wahl 1 9 9 4 , 1 0 5 , im Orig. hervorgehoben. 104 Wahl 1999, 450. 105 Wahl 1999, 453.

121

»potentielle [η] symbolischen Raum«106 eröffnet und so neue Bedeutungen erschließt. 5.2.2 Der Raum des Zeichens als Container (Bion) Die Verbindung von gleichzeitiger Präsenz und Absenz eines Objekts für ein Subjekt lässt sich auch in Bions Modell von emotionaler Erfahrung beschreiben. Nach Bion bezieht sich emotionale Erfahrung immer auf konkrete Beziehungen; genetisch gesehen in der Beziehung zwischen Mutter und Kind. In dieser Beziehung lässt sich das Grundmuster von >container< und >contained< beobachten: Der Säugling stößt »[s]eine quälenden emotionalen Erfahrungen (Frustration, Angst, Verwirrung)«107 aus in die Mutter (die er zunächst ganz als Milch spendende Brust erlebt), was einer projektiven Identifikation entspricht; die Mutter nimmt diese quälenden Anteile auf und gibt sie dem Säugling nach einem Umwandlungsprozess in annehmbarer und beruhigender Weise zurück. Dieser Prozess, der sich in funktionaler Sicht mit dem >affect attunement< der Selbst-Psychologie deckt, ermöglicht die Verbindung von äußeren Sinneseindrücken und inneren emotionalen Erfahrungen zu einer Art traumhafter »primitive [r] Gedanken« bzw. in der Terminologie Bions »AlphaElemente« (136). Das Konzept der >Gedanken< unterscheidet Bion dabei nach Wahls Darstellung von >Konzeptionen»angeborene[n] proto-mentale[n] Zustände [n] von Erwartung< (z.B. einer Brust, die Milch gibt) [...] mit Sinneseindrücken geeigneter >Realisierungen« (136) und sind damit Repräsentanzen von Vergangenem, während Gedanken zu haben bedeutet, »das Fehlende mental repräsentieren zu können«, also »das >noch nicht< bzw. >nicht mehr< zu denken« (138). Letzteres ist nur möglich, wenn die Frustrationstoleranz des Säuglings ausreicht, um die zunächst als Repräsentanz der Abwesenheit der Mutterbrust entstehende Konzeption der >NichtBrust< umzuwandeln in einen Gedanken etwa der Art »ich wünsche mir eine Brust« (137). Die Bildung von Konzeptionen und Gedanken erfolgt nach Bion aber nicht nur zu Beginn des menschlichen Lebens, sondern beschreibt auch für Erwachsene den Prozess der Aneignung von Erfahrungen, d.h. den »Weg von emotionalen Erfahrungen zu immer höheren Formen der Abstraktion, in denen jedoch affektives, kognitives und Beziehungsgeschehen immer miteinander verflochten sind« (137). Für das Symbolverständnis folgert Wahl aus dieser Beschreibung: Beide — emotional verschiedenen — Arten von Repräsentanzen müssen sich miteinander verbinden, um eine symbolische Erfahrung zu bilden: Die symbolische Repräsentanz >enthält< (als »container«) nie nur Erfüllung, sondern immer auch 106 Wahl 1999, 453. 107 Wahl 1994, 135. In diesem Abschnitt beziehen sich alle Seitenangaben in Klammem auf Wahl 1994.

122

die emotional verarbeitete Different den Mangel\ die Abwesenheit des Ausstehenden und Unabgegoltenen (als >containedSymbol< ist demnach auch nie nur eine >Konzeptioncontainer0< wird von Bion zur Darstellung der ungewussten »letzten Wirklichkeit« (139) verwendet, aus der sich alles menschliche Wissen entwickeln muss. Weil das Wissen, um das es Bion geht, ein emotionales Wissen ist, gilt: In der psychoanalytischen Situation, aber auch in jedem Lese- und Verstehensvorgang muß man warten (und das manifest Gesagte bzw. Geschriebene nicht zu sehr beachten), bis das »O« einer Erfahrung sich so weit entwickelt, daß es durch das Auftauchen wirklicher (psychischer) Ereignisse manifest wird, gewußt wird und die Erfahrung deuten läßt. [...] Die Transformation, die der Analytiker in sich dabei erfahrt, läßt ihn einen Zustand der »Konvergenz< mit der Angst, Trauer oder Halluzination seines Patienten erreichen, läßt ihn »wirklich mit ihm sein« (Grinberg). (139f) Was Wahl hier in Anlehnung an Bion beschreibt, ist exakt das, was Rhetorik durch die Wahl der richtigen Mittel erreichen möchte: die Erfahrung der >Konvergenz< zwischen Redner (bzw. den vom Redner produzierten Zeichen) und Zuhörenden im Blick auf die mit Emotionen verknüpfte (und in Zeichen dargestellte) Wirklichkeitswahrnehmung des Redners. Damit bietet das Symbolzeichen nicht nur eine Darstellungsmöglichkeit, die in einer der menschlichen Wahrnehmung angemessenen Weise Präsenz und Absenz verbindet und damit in herausragender Weise für die Darstellung der eschatologisch grundierten christlichen Realitätswahrnehmung geeignet ist, sondern zugleich auch ein im rhetorischen Sinne angemessenes Instrument zur Herstellung von Gemeinschaft durch gemeinsames, von Emotionen geprägtes Erleben. 5.2.3 Der Raum des Zeichens als Möglichkeitsraum (Winnicott) Winnicott beschreibt in seiner Theorie des >potential space< die genetische Entwicklung des Selbst vor allem von den Voraussetzungen auf 123

Seiten der Mutter (bzw. der Pflegeperson) her: Während die Mutter für den Säugling ein archaisches Selbstobjekt, also einen Teil seiner selbst darstellt, benötigt der Säugling eine verlässliche Beziehung, das >holdingSelbst«handling< von Seiten der Mutter, d.h. des Reagierens auf die Signale des Säuglings unter Verzicht auf zuvorkommende, nicht auf Signale wartende Bedürfniserfüllung (163f). Dazu gehört auch die Funktion des >object presentinggood enough< (hinreichend guten) Selbstobjekts,110 das eine zugleich haltende und freilassende Beziehung aufbaut und so einen kreativen Freiraum einräumt, in dem das Kind zunächst »die Illusion von omnipotentem Erschaffen und Lenken genießen« (169) und später das illusorische Element, d.h. die Differenz zwischen Illusion und Realität erkennen kann. In diesen kreativen Freiraum gehören auch die Übergangsphänomene und -objekte (Daumenlutschen, Teddy, Kuscheltuch ...), mit denen der Säugling den Raum zwischen objektiver und subjektiver Wahrnehmung füllt und so die Möglichkeit des Objektbesitzes erlebt. Nach Winnicott stellen Symbole eine spätere Transformationsgestalt von Übergangsphänomenen dar, die sich nicht mehr nur auf das Objekt als innere Realität beziehen, sondern es zugleich als äußere Realität wahrnehmen und gebrauchen; erst mit dieser Transformation ist die Befähigung zu symbolischer Erfahrung gegeben. Um diese Transformation zu ermöglichen, muss das Selbstobjekt (die Mutter) allerdings seine >Zerstörung< durch das Selbst >überlebengood enough mothers

124

dichtete Beispiele für eine Lebensform [zu] begreifen, die als ganze den Charakter des Übergangs an sich trägt« (181). Es geht also um einen >spielerischen< Umgang mit Symbol-Zeichen im >potential spaceTrennungForm der EinheitBeziehungs-Gestaltkreis< (Wahl) Ausgehend von diesen Überlegungen weist Wahl auf die »durchgängig symbolische Erfahrungsstruktur auch des Glaubens und der christlichen Praxisformen der Glaubenden« 1 " hin und bestimmt Kirche symboltheoretisch als »die christlich-ekklesiale Grundgestalt der tragenden, haltenden und verbindenden Selbstobjekt-Matrix Gottes«."2 Diese Selbstobjekt-Matrix findet ihren Ausdruck in den symbolischen Erfahrungen der Glaubenden mit den Symbol-Zeichen des Glaubens und wird in deren Lebenspraxis selbst wieder zum Symbol-Zeichen.113 Es umfasst damit einen Kreislauf, der von ersten Erfahrungen mit den Symbol-Zeichen über deren kreativen Gebrauch als Selbstobjekt bis hin zur eigenen Selbstobjekt-Funktion für andere reicht. Kirche als Koinonia ist für Wahl aber nicht nur »der notwendige Entwicklungs-Raum für potenzielle symbolische Erfahrung und Praxis«, der im Vollzug der symbolischen Erfahrung erfahren wird »als die tragende Christus-Gemeinschaft der glaubenden, hoffenden und liebenden Kirche«, sondern zugleich der offene Raum, der zum möglichen Selbstobjekt für die Welt wird und damit »jede auto-zentrisch verengte Absolutsetzung und immunisierende Selbstgenügsamkeit (Autarkie)« verhindert.114 Kirche als Koinonia ist damit ein über symbolische Erfahrung realisiertes Geflecht von Beziehungen, in denen Menschen sich wechselseitig einen Möglichkeitsraum eröffnen, den sie zugleich selbst vorfinden.

111 112 113 114

Wahl 1994, 509. Wahl 1 9 9 4 , 5 1 1 . Vgl. Wahl 1994, 511. Wahl 1994, 512.

5.2.5 Kriterien und Voraussetzungen gelingender symbolischer Kommunikation - die Unterscheidung von Symbol-Zeichen und Diabol Wahl hat Symbol-Erfahrung als einen triadischen Prozess zwischen Selbst, Selbstobjekt und Symbol-Zeichen beschrieben. Indem das Symbol-Zeichen in seiner Selbstobjekt-Funktion nicht aufgeht, sondern seine Differenz behält, entsteht ein »potentieller symbolischer Raum«.115 Dieser Raum bildet das Kriterium zur Unterscheidung von SymbolZeichen von anderen semiotisch als Zeichen verstandenen Objekten; wo die Fähigkeit oder Möglichkeit zur symbolischen Erfahrung fehlt, fallen die Beziehungen des Selbst zum Symbol-Zeichen und zum Selbstobjekt zusammen und die Freiheit zur Differenzwahrnehmung ist nicht mehr gegeben; die Zeichen »werden >diabolisiertAufführung< der Rede im Blick auf Stimme, Gestik und andere Aspekte. Daneben gehört zur Angemessenheit auch die Einheitlichkeit der verwendeten Sprache (Mundart, Stilart) und die Ubereinstimmung von Sprache und literarischer Gattung (Warnung vor Mitteln, die den Poeten vorbehalten sind). Die äußere Angemessenheit »betrifft das Verhältnis zwischen der Rede (und ihren werkinternen Bestandteilen) und den außersprachlichen Systemen und Gegebenheiten«.23 Hier ist das consilium des Redners gefragt, seine Fähigkeit, die in der jeweiligen Situation nützlichen Mittel für seine Rede auszuwählen. Dazu zählt zunächst die Berücksichtigung der Zuhörer in ihren Gedanken, Empfindungen und Anschauungen, aber auch Ort und Zeitpunkt der Rede, die Person des Redners und seine soziale Stellung sowie der Gegenstand der Rede im Verhältnis zu Publikum, Ort und Zeit. »Wirken kann die Rede nur, wenn sie den außer ihr liegenden Gegebenheiten angemessen ist, wenn sie die Realität berücksichtigt und in der sie umgebenden Realität als wahr erscheinen kann.«24 Um als wahr erscheinen zu können, muss eine Rede zunächst verstanden werden, und dazu bedarf sie der Sprachrichtigkeit (puritasfb als Voraussetzung. Ob ein korrekter Sprachgebrauch vorliegt, muss nach vier Aspekten entschieden werden: den logischen Sprachgesetzen {ratio), dem Alter der verwendeten Worte/Figuren (vetustas), der Autorität bekannter Autoren {auctoritas) sowie der Gebräuchlichkeit (consuetudo). Mit diesen Kriterien können sowohl Einzelworte als auch Wortverbindungen auf ihre Sprachrichtigkeit überprüft werden. Abweichungen davon (z.B. Wortneuschöpfungen, Auslassungen, etc.) können als besondere Stilmittel gestattet sein und gehören dann zum Redeschmuck.

21 22 23 24 25

144

Ueding/Steinbrink 1994, 216. Ueding/Steinbrink 1994, 218. Ueding/Steinbrink 1994, 219. Ueding/Steinbrink 1994, 221. Vgl. Ueding/Steinbrink 1994, 2 2 1 - 2 2 4 .

Die Klarheit/Deutlichkeit (perspicuitas)2'' bezieht sich nicht nur auf den sprachlichen Ausdruck, sondern ist in allen Produktionsstadien zu berücksichtigen. So sollen bereits die gefundenen Argumente als klare Gedanken gefasst und in eine klare Ordnung gebracht werden. Für die sprachliche Ausgestaltung gilt dann, dass alle Gedanken »treffend, sachgemäß und deutlich formuliert werden«,27 um dann ebenso Idar und deutlich artikuliert vorgetragen zu werden. Die Dunkelheit im Ausdruck wird nur in einigen besonderen Fällen zugelassen, wo sie die Wirkung der Rede unterstützt (Polemik, Satire). Auch hier sind bestimmte Abweichungen durch den Gebrauch rhetorischer Stilmittel (z.B. ausführliche Umschreibungen, Gebrauch von Metaphern) zur Erzielung einer bestimmten Wirkung zulässig. »Deutlich ist die Rede dann, wenn sie den Beifall der Kenner findet und zugleich dem Ungeschulten ohne Anstrengung verständlich ist.«28 2.3 Logos, Ethos und Pathos — die Grundkategorien rhetorischer Wirkung Dass die Rhetorik sich nicht auf die Vermitdung von Wissen beschränkt, sondern darüber hinaus auch die Affekte beeinflussen möchte, hat seinen Grund in ihrem Menschenbild: »nie hat die Rhetorik die sokratische Überzeugung geteilt, daß das Richtige und Gute erkennen auch schon zum entsprechenden Handeln oder nur zur entsprechenden Gesinnungsänderung führt. Daher genügt es nicht, nur auf einen Teilbereich der menschlichen Natur, Urteilskraft und Vernunft, einzuwirken, auch Gefühle und Willen, Sinnlichkeit und Seelenkräfte müssen auf eine der Beweisführung angemessene Art angesprochen werden.«29 Vernünftigkeit lässt sich nach rhetorischem Verständnis nicht abstakt herleiten, sondern »ist eine Kategorie des subjektiven Bewußtseins und der gesellschaftlichen Welt«,30 weshalb Vernünftigkeit immer wieder im Kommunikationsprozess zwischen den Beteiligten ausgehandelt und sichergestellt werden muss. Neben der rational-logischen Wahrheit spielen dabei auch »[praktische, moralische und ästhetische Erwägungen, subjektive Interessen und emotionale Gestimmtheit, Vorurteile und Vorgefühle, Einflüsse von Tradition, Sitte und religiösen Dogmen«31 eine Rolle. Die Rhetorik hat die Aufgabe des Redners in diesem Zusammenhang in drei Formen der Wirkung gegliedert: Belehrung, Unterhaltung und Leidenschaftserregung {logos, ethos und pathos bzw. docere, delectare und movere)?2

26 27 28 29 30 31

Vgl. Ueding/Steinbrink 1994, 2 2 4 - 2 2 6 . Ueding/Steinbrink 1994, 224. Ueding/Steinbrink 1994, 226 mit Verweis auf Quintilian, Inst. Orat. VIII,2,22. Ueding/Steinbrink 1994, 278. Ueding/Steinbrink 1994, 278. Ueding/Steinbrink 1994, 278.

145

2.3.1 Einsicht und Belehrung (docere/pragma/logos) Will Rede nicht bloße Propaganda sein, so wird sie immer auch argumentativ auf die Sache eingehen, die sie vertritt, und sich dementsprechend an den Verstand der Zuhörenden wenden. Insbesondere im nüchternen Stil des genus humile tritt der Zweck der Belehrung ganz in den Vordergrund. Allerdings wird auch dieser nüchterne und schlichte Stil nicht ohne Wirkung auf die Affekte der Zuhörenden bleiben; »Sachlichkeit, Nüchternheit, Verständigkeit in Rede und Gedankenführung erwecken vielmehr Vertrauen und Beifalligkeit, also zwar schlichte, aber dafür auch besonders dauerhafte Gefühle, die dann häufig über die Person des Redners (als Ausweis seiner Geradheit und Redlichkeit) vermittelt werden und damit zum Bestandteil seiner Charakterwirkung werden (ethos).«33 Im Falle einer zu starken Konzentration auf die Belehrung droht dagegen die Ermüdung und Langeweile der Zuhörenden (taedium), was dem Zweck der Rede zuwiderlaufen würde. 2.3.2 Unterhaltung und Vergnügen (delectare/ethos) Die Erregung der mitderen, sanften, angenehmen Affekte verbindet sich mit der Unterhaltung der Zuhörenden.34 Dies geschieht vor allem durch die glaubwürdige Präsentation der eigenen Person des Redners in seinem ganzen Auftreten, Reden und Handeln als ein vom Ideal des ehrenwerten Mannes (vir bonus) geprägter Mensch, dessen Redlichkeit und Festigkeit dem Publikum klar vor Augen stehen soll. Um das mit diesem Bild verbundene Wohlwollen der Zuhörenden zu erreichen, wird von der klassischen Rhetorik der mitdere Stil empfohlen, der durch nur mäßigen Gebrauch von Figuren und Tropen einen natürlichen Eindruck erweckt und durch die Vermeidung von Extremen sowohl in der rationalen als auch in der emotionalen Beanspruchung des Publikums einen entspannenden Effekt hat. Auch hier muss allerdings durch gelegentlichen Wechsel der Ermüdung vorgebeugt werden. 2.3.3 Leidenschaftserregung (movere/pathos) Zur Überzeugung gehört auch eine emotionale Gestimmtheit gegenüber der zur Rede stehenden Sache; wo diese nicht in einer milden Gestimmtheit des Ethos besteht, sondern heftige Gefühle beinhaltet, spricht die Rhetorik vom Pathos. Es zu erregen, gehört zu den schwierigsten Aufgaben des Redners, besonders wenn er nicht auf eine schon vorhandene 32 guten 33 34

146

Vgl. zum Folgenden auch das oben in Kapitel 2, Abschnitt 6.2 zum Ideal des Redners (vir bonus) Ausgeführte. Ueding/Steinbrink 1994, 279. Vgl. Ueding/Steinbrink 1994, 280.

Grundstimmung seines Publikums zurückgreifen kann, sondern diese durch seine Rede erst schaffen muss. Als Mittel dafür dient die Darstellung der intendierten Leidenschaften durch den Redner selbst, wozu ihm der gesamte rhetorische Schmuck in Figuren und Tropen zur Verfügung steht und reichlich genutzt werden soll; dies entspricht dem erhabenen Stil {genus grande). Seinen wichtigsten Ort hat das pathos am Schluß der Rede, wenn es darauf ankommt, alle Anstrengungen nochmals zur (letztmöglichen) Beeinflussung des Publikums zusammenzunehmen, eine Haltungsänderung zu bewirken und möglicherweise direkt eine bestimmte Handlung in Gang zu setzen. Doch auch in den anderen Redeteilen ist es angebracht, wenn es von der Gewichtigkeit des Themas oder dem Zweck her angeraten erscheint. Auch bringt es Lebendigkeit und Abwechslung in die Rede, bedarf aber selber mehr als die beiden anderen Redeweisen der Variation: der pathetische Stil als die höchste Anspannung aller rednerischen Kräfte entfaltet sich nur punktuell zu größter Wirkung, länger anhaltend erscheint er angestrengt und künstlich.35

3. Inventio Teil I: Gegenstand und Aufgabe wahrnehmen Beim ersten Schritt der Redeerstellung, der inventio, geht es nach klassischem rhetorischen Verständnis36 darum, aus einem Thema oder einer Fragestellung heraus die damit zusammenhängenden Gedanken und stofflichen Möglichkeiten zu entwickeln, indem zunächst der Gegenstand hinsichtlich des exakten Punktes der Auseinandersetzung erkannt wird (intellectio). Auch die Wahl der richtigen Redegattung {genus dicendi) gehört zum grundlegenden Verständnis von Gegenstand und Situation. Von diesen Einsichten her können dann, in absichtlich parteiischer Weise, passende Gedankengänge und sichere Beweise entfaltet werden, wobei neben der Breite des Stoffes auch alle drei Überzeugungsmittel (docere — delectare — movere) berücksichtigt werden sollen. Neben Sachkenntnis sind hier v.a. Scharfsinn und Fleiß gefordert; eine Hilfe bietet die heute in verschiedenen Disziplinen rezipierte Lehre von den Fundstätten der Beweise (Topik). Aufgrund des großen Umfangs der Ausführungen zur Topik wurden die Ausführungen zur inventio in zwei große Abschnitte geteilt; der erste Abschnitt behandelt die intellectio einschließlich der Redegattungen, der zweite Abschnitt die Topik.

35 Ueding/Steinbrink 1994, 281 f. 36 Vgl. Ueding/Steinbrink 1994, 209f.

147

3.1 Kriterien %um Elfassen der Aufgabe (intellectio) in der antiken Rhetorik Ein Redner 37 soll prinzipiell über jeden Gegenstand angemessen und wirkungsvoll reden können. D a z u muss er die zu behandelnde Sache sorgfältig studieren und unter einer konkreten Fragestellung erfassen (intellectio), unter welcher der Stoff geordnet und dargeboten werden kann; hierf ü r bietet die Rhetorik ein System v o n Klassifikationen, das sich aus den Relationen zwischen Redner, Gegenstand und Z u h ö r e n d e n ergibt. 38

3.1.1 Verhältnis des Redners zum Gegenstand: Welche Fragen sind v o n Interesse? Drei verschiedene Einteilungsmöglichkeiten bieten sich an, w e n n m a n die Fragen nach ihrer Art unterscheidet: (1) eine Unterscheidung nach ihrer Konkretheit: es gibt finite (begrenzte) Fragen, die konkret beantwortet werden können, und infinite (unbegrenzte) Fragen, die nur allgemein beantwortet werden können; (2) eine Unterscheidung nach ihrer Komplexität: es gibt einfache Fragen (z.B.: hat er es getan?), aus mehreren einfachen Fragen zusammengesetzte Fragen (z.B.: hat er es getan und war es ein Unrecht, es zu tun?) und vergleichende Fragen, bei denen mehrere Alternativen gegeneinander abzuwägen sind (z.B.: hat er es aus Liebe getan oder aus Habgier?); (3) eine Unterscheidung nach der Begründungsform (status), die der Gerichtsrede entstammt; es gibt Fragen (a) nach der Wahrheit eines behaupteten Sachverhalts {status coniecturae — >Hat er es getan?Was hat er getan?Hat er es zu Recht getan?Darf vor diesem Gericht darüber verhandelt werden?^.

3.1.2 Verhältnis des Redners z u m Zuhörer: Welche Funktion hat die Rede? D a s Verhältnis des Redners zum Z u h ö r e r hängt in der Regel v o n d e m Verhältnis ab, das der Gegenstand seiner Rede zum Z u h ö r e r hat, deswe37 Die antike Rhetorik verwendet stets die männliche Sprachform, weil sie von männlichen Rednern ausgeht; auf die (unhistorische) Umwandlung in geschlechtsneutrale Schreibung wird bei ihrer Darstellung verzichtet. 38 Vgl. zum folgenden Ueding/Steinbrink 1994, 254-257; Lausberg 1960, 51138! 148

gen werden beide Aspekte zusammen betrachtet. Dabei kann ein Sachverhalt von den Zuhörern als sicher (certum) oder zweifelhaft (dubium) eingeschätzt werden, woraus sich drei Redegattungen (genera dicendi) ergeben: (1) Ist der Sachverhalt sicher, so verhält sich der Redner lobend oder tadelnd gegenüber dem Gegenstand und spricht die Zuhörer als passiv Genießende an; dem entspricht als Redegattung die Lobrede (genus demonstrativum). (2) Ist der Sachverhalt zweifelhaft und liegt in der Zukunft, so wirkt der Redner beratend auf die zur Entscheidung befugten Zuhörer ein, indem er den Gegenstand unter dem Aspekt der Nützlichkeit bespricht; dem entspricht die Gattung der Beratungsrede {genus deliberativum). (3) Ist der Sachverhalt zweifelhaft und liegt in der Vergangenheit, so wirkt der Redner beratend auf die zur Urteilsfindung befugten Zuhörer ein, indem er den Gegenstand unter dem Aspekt von Recht und Unrecht zur Sprache bringt; dem entspricht die Gattung der Gerichtsrede (genus iudiäale). Dabei ist zu beachten, dass keine der Gattungen rein existiert, sondern in jeder Gattung auch Elemente der anderen zu finden sein werden. Es geht bei der Entscheidung für eine Gattung lediglich um den primären Duktus der gesamten Rede. 3.1.3 Verhältnis der Zuhörer zum Gegenstand: Wie schwierig ist es, zu überzeugen? Je nach Haltung der Zuhörer gegenüber dem zur Rede stehenden Sachverhalt lassen sich auch verschiedene Grade der Vertretbarkeit (in der Gerichtsrede) bzw. Verständlichkeit einer Sache unterscheiden: (1) genus honestunr. der Gegenstand der Rede entspricht den Erwartungen und Werten der Zuhörenden vollkommen; »das dialektische Element kann in den Hintergrund treten und der ausschmückend-bestätigenden Epideixis Platz machen«;39 (2) genus dubium·. es handelt sich um eine Sache, deren Wert/Wahrheit emsthaft in Frage steht, d.h. dass in der Person und/oder im Gegenstand der Rede eine Mischung von bonestas und turpitude (s.u.) vorliegt; in diesem Fall muss der Redner durch dialektische Argumentation die Zustimmung seiner Zuhörer zu gewinnen trachten; (3) genus turpe (oder admirabile): die zur Rede stehende Sache und/oder Person überrascht oder schockiert die Zuhörer durch einen Verstoß gegen allgemein anerkannte Vorstellungen; der Redner muss mit großer Fertigkeit und hohem Mitteleinsatz (Steigerung, Färbung) die Zuhörer zu gewinnen trachten; (4) genus humiler. die Zuhörenden betrachten den Gegenstand der Rede als belanglos; der Redner muss erst die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer gewinnen; (5) genus obscurunr. die Sachverhalte sind den Zuhörern schwer verständlich oder schwer durchschaubar und müssen erst ausführlich erläutert werden.

39 Lausberg I960, 57.

149

3.2 Die aristotelischen Redegattungen und ihre semiotische Deutung Regina Podlewski weist in ihrer Untersuchung zur Rhetorik als pragmatischem System40 darauf hin, dass bereits das klassische Schema der drei Redegattungen bei Aristoteles rhetorische Textsorten »erstens nach ihrem Bezug auf eine grammatische Zeitform und zweitens nach ihrem Bezug auf eine bestimmte Wirkungsabsicht« (61) unterschied: (1) das genos dikanikon (genus iudiäale, Gerichtsrede) thematisiert Vergangenes; die Hörer sollen dessen Wert beurteilen; (2) das genos symbouleutikon (genus deliberativum, Staatsrede) thematisiert Zukünftiges; die Hörer sollen Ziele bestimmen; (3) das genos epideiktikon (genus demonstrativum, Festrede) thematisiert zeitlich nicht genau Bestimmtes, aber für die Gegenwart Bedeutsames; die Hörer betrachten v.a. die Kompetenz des Sprechers. Podlewski zeichnet dieses Schema als materiale Konkretion in den von ihr rekonstruierten Entwurf der Peirceschen Rhetorik ein, in dem Rhetorik neben Grammatik und Logik zum dritten grundlegenden Pfeiler der Semiotik wird als Theorie über die Wirksamkeit von Zeichen als Auslöser für die Produktion weiterer Zeichen. Angesichts der weniger praktischen als methodeutischen, d.h. an grundlegender Reflexion des Zeichengebrauchs interessierten Theoriekonstruktion geht es Podlewski nicht um die Klassifizierung konkreter Reden, sondern um eine Typenbildung des rhetorischen Zeichengebrauchs, weshalb sie von den ursprünglichen historischen Kontexten (Gerichtsverhandlung, Volksversammlung, Rednerwettstreit) weit gehend abstrahiert. Diese Abstraktion von der Rede hin zu aller durch Zeichen vermittelten Kommunikation eröffnet zugleich neue Anschlussmöglichkeiten für eine Seelsorgelehre, die es zwar mit rhetorischer, d.h. wirksamer Kommunikation zu tun hat, ihren Gegenstand aber nur selten in der vollständigen Form einer abgeschlossenen Rede vorliegen hat. Den größten Teil ihrer Ausführungen widmet Podlewski in ihrer semiotischen Reformulierung der aristotelischen Redestile allerdings dem Versuch, die drei klassischen Gattungen durch eine Verbindung mit dem System der spekulativen Rhetorik von Peirce als zeidose kategoriale Unterscheidungen zu legitimieren, der wenig überzeugend bleibt. Weil Podlewski die Redegattungen in der Diagonalen des Schemas von Triaden und Trichotomien41 verorten will, als »vollständiger Interpretant« (87), »vollständiges Objekt« (121) und »vollständiges Mittel« (158), übernimmt sie die Peircesche Aufteilung der drei Schlussformen Abduktion, Induktion und Deduktion auf Drittheit, Zweitheit und Erstheit und ordnet sie 40 Vgl. Kapitel 2, Abschnitt 3.2; alle Seitenangaben im Text verweisen im folgenden auf Podlewski 1982. 41 Vgl. Kapitel 2, Abschnitt 3.1.

150

jeweils einer Redegattung als dominante Schlussform zu. Warum aber z.B. die Abduktion als Verfahren zum Gewinn einer neuen Regel eher dem dikanischen genos (81 ff), die Induktion dagegen dem symbouleutischen (112ff) und die Deduktion dem epideiktischen genos (145ff) zugeordnet wird, bleibt letztlich nicht zwingend, m.E. lässt sich eine solche Aufteilung auch in anderer Anordnung nicht stringent durchführen. 42 Eine weitere Schwierigkeit in der Anwendung liegt darin, dass sich zumindest dikanisches und symbouleutisches genos nicht scharf von einander trennen lassen; sowohl in der klassischen Form als Gerichts- und Beratungsrede, wie auch in den neuen Formen, die Podlewski ihnen gibt, vermischen sich jeweils in der praktischen Durchführung beide Fälle: Die Gerichtsrede lässt sich auch als Beratung der Richter über die zu treffende Entscheidung auffassen, und die Beratungsrede als Bewertung möglicher Alternativen anhand von aus der Tradition vorgegebenen Normen, denen das mögliche Handeln zu entsprechen hat. Unbestritten und für die Zwecke der vorliegenden Studie wichtig bleibt jedoch Podlewskis Darstellung der Redegattungen als dreier unterschiedlicher Methoden des Zugriffs auf einen Gegenstand bzw. Sachverhalt (in seiner unmittelbaren Evidenz/Sinnhaftigkeit, in seiner konkreten Eigenart und als Symbol), die durch die Verknüpfung mit den semiotischen Kategorien Erstheit, Zweitheit und Drittheit ermöglicht wird, sowie die Verknüpfung dieser drei Zugriffsweisen mit drei dafür jeweils zentralen Elementen des rhetorischen Systems: 43 (1) Dem genos dikanikon ordnet Podlewski die Topik als »Findekunst« (74) zu, die eine Bewertung von Sätzen aufgrund der allgemein akzeptierten Wahrscheinlichkeit der in ihr enthaltenen >Gemeinplätze< ermöglicht. Der Gegenstandsbezug ist in dieser Redegattung als drittheitlich verstanden (der Bezug der Rede auf die Realität beruht auf Übereinstimmung). (Vgl. 64—95) (2) Dem genos symbouleutikon wird der Komplex der rhetorischen Schemata zugeordnet, weil dieses Genus dazu dient, die Fülle an Informationen durch Reduktion auf Alternativen für eine Entscheidung fruchtbar zu machen und die rhetorischen Schemata als Wiederholungs- und Stellungsfiguren die Aufmerksamkeit auf bestimmte Punkte zu lenken, denen dadurch besondere Bedeutung für die Entscheidungsfindung zukommt. Der Gegenstandsbezug in dieser Redegattung ist ^weitheitlich (der Bezug der Rede auf die Realität beruht auf ihrer direkten Verweis-Relation, d.h. sie wirkt als Hinweis auf eine bestimmte Realität). (Vgl. 95-132) 4 2 Dass Podlewski die Schwierigkeiten dieser Aufteilung bemerkt, zeigt sich daran, daß sie dem dikanischen genos nicht nur die Frage nach der Bewertung einer Handlung auf Recht oder Unrecht hin zuschreibt, sondern auch die - in der traditionellen Rhetorik dem genos symbouleutikon zugeschriebene — Aufgabe der Rechtsfindung und -Setzung (weil sich in letzterer die Notwendigkeit des abduktiven Schlusses besonders deutlich zeigt). 4 3 Die gerade kritisierten Aspekte der Systematisierung Podlewskis sind in dieser stark verkürzten Zusammenfassung nicht berücksichtigt.

151

(3) Dem genos epideiktikon wird der Komplex der rhetorischen Tropen 2ugeordnet, weil dieses Genus v.a. den »rhetorischen Typus des Zeigens und Darstellens« (133) repräsentiert, und die Tropen gegenüber den Schemata nicht die quantitativen, sondern die qualitativen Aspekte eines Gegenstandes in den Vordergrund stellen. Dies geschieht durch die »raumbezogenen, ausdehnungshaften« (148) Wirkungen der Tropen, die der Hervorhebung und Steigerung ([auxesis) des Wertes eines Gegenstandes dienen. Aufgrund der den Tropen zugrunde liegenden Analogiebeziehungen kommt dieser Redegattung ein erstheitlicher Gegenstandsbezug zu. (Vgl. 133-168) Versteht man in Aufnahme dieser Ausführungen Podlewskis die Rede insgesamt als ein Großziehen, so lässt sich dieses Zeichen selbstverständlich wie jedes andere Zeichen auch nach ikonischem, indexikalischem oder symbolischem Gegenstandsbezug unterscheiden. Aufgrund der Funktion einzelner rhetorischer Elemente für die Wirkung der gesamten Rede lassen sich dann auch die gerade beschriebenen Zusammenhänge zwischen dem semiotischen Gegenstandsbezug und der Intensität und Häufigkeit des Gebrauchs der entsprechenden rhetorischen Elemente plausibel machen, ohne dass man wie Podlewski ein komplexes System unter Einbeziehung von Schlussformen (Abduktion, Induktion, Deduktion)44 und Stellung im System der Zeichenklassen (vollständiges Mittel, vollständiges Objekt, vollständiger Interpretant) heranziehen müsste: (1) Der Zugriff auf den symbolischen Aspekt eines Gegenstands/Sachverhalts, auf sein Wesen als Bestandteil eines allgemein gewussten und anerkannten (z.B. 44 Die von Podlewski für den Bereich der Gattungslehre ins Spiel gebrachte Zuordnung der Schlußformen Deduktion, Induktion und Abduktion bleibt dagegen sinnvollerweise der Betrachtung der rhetorischen Schlußregeln vorbehalten. Hier läßt sich zumindest eine Analogie zwischen den von Kienpointner beschriebenen drei Hauptklassen rhetorischer Argumentationsschemata und den von Peirce beschriebenen logischen Schlußformen feststellen (vgl. unten Kapitel 3, Abschnitt 5.4). Kienpointner verweist auf die Notwendigkeit, über eine bloße Dichotomie von Deduktion und Induktion zur Klassifikation hinauszugelangen und unterteilt die gefundenen Argumentationsschemata nach der Art ihres Umgangs mit den jeweiligen Schlußregeln in (1) Schlußregel-benützende Argumentationsschemata, (2) Schlußregel-etablierende Argumentationsschemata und (3) Argumentationsschemata, die weder die in der ersten Hauptklasse enthaltenen Schlußregeln einfach benutzen, noch sie (wie in der zweiten Hauptklasse) induktiv etablieren. (Vgl. Kienpointner 1992, 243ff; die dritte Klasse enthält die Argumentationsschemata Illustration, Analogie und Autorität. Kienpointner selbst verwendet in diesem Zusammenhang lediglich den Begriff der Induktion; die Analogie läßt sich jedoch auch für Deduktion und Abduktion herstellen, wenn man berücksichtigt, daß es sich in allen drei Hauptklassen nicht um wirklich analytisch-logische Schlüsse handelt, sondern alle Fälle erst durch inhaltliche Urteile ihre Argumentationskraft erlangen.) Eine feste Zuordnung einer der drei Hauptklassen zu einer bestimmten Redegattung, sei es im Blick auf deren antike Einteilung oder auf die in Anlehnung an Peirce getroffene Unterscheidung von erstheitlichen, zweitheitlichen und drittheitlichen Aspekten des Gegenstandsbezuges, läßt sich dagegen m.E. nicht vornehmen.

152

Rechts-)Systems, erfolgt besonders durch die Verwendung von Topoi (bzw. konzeptuellen Metaphern). (2) Der klassifizierende Zugriff auf einen Gegenstand/Sachverhalt anhand seiner konkreten Eigenschaften und im Blick auf den möglichen Umgang mit ihm bedient sich v.a. der (mit der dispositio und den Redefiguren/Schemata verbundenen) Anordnung, d.h. der Verdeutlichung von Gemeinsamkeiten und Differenzen durch Zusammenstellung und Gegenüberstellung. (3) Der ästhetische Zugriff auf die Sinnhaltigkeit eines Gegenstandes bedient sich primär der (schon in der rhetorischen Tradition als bildhaft, d.h. unter dem Aspekt der Ikonizität verstandenen) sprachlichen Mittel der Tropen (darunter die innovativen Metaphern). 3.3 Gebräuchliche Interaktionsmuster als Gesprächsgattungen Jenseits dieser abstrakten semiotischen Erwägungen hat Ralf Günther am Beispiel der Gefangnisseelsorge deutlich gemacht, wie sehr das Gesprächsverhalten der beteiligten Personen von Kommunikationserfahrungen aus anderen institutionalisierten Formen des Gesprächs bestimmt wird (Günther nennt hier für seinen Bereich als relevante Gesprächsformen die Kommunikation im Verhör und vor Gericht, Beratungsgespräche und Therapiegespräche): In all diesen Institutionen werden die gleichen alltagskommunikativen Sprechhandlungen und Handlungsmuster verwendet, die jedoch jeweils ganz eigene Ziele, Chancen und Gefahren freisetzen. Alltägliche Interaktionsformen wie Erzählen, Argumentieren, Fragen-Antworten usw. können aufgrund ihrer Verwendung in den anderen Institutionen in der Seelsorge keineswegs >unschuldig< benutzt werden. Um so dringlicher ist es, daß die Bedeutung und Rollenverteilung der verwandten Interaktionsmuster nicht nur implizit, sondern notfalls mit einer metakommunikativen Sequenz ausgehandelt werden.45 Zum Verständnis der Situation im Seelsorgegespräch gehört es deshalb auch, die Erwartungen der Gemeindeglieder im Blick auf die im Gespräch gültigen Interaktionsmuster wahrzunehmen und gegebenenfalls explizit zu thematisieren und auszuhandeln, um daraus resultierende Missverständnisse und Kommunikationshindernisse zu vermeiden.46 3.4 Intellectio und Seelsorgegespräch Die in der intellectio traditionell aufgeworfenen Fragen lassen sich als heuristisches Schema auch für die Analyse des Gesprächsgegenstandes 45 Günther 2005, 248f; im Original kursiv. 46 Zur Interaktion im Gespräch und dem dabei erforderlichen >Aushandeln< vgl. Kapitel 3, Abschnitt 8.4.2.

153

einsetzen — und zwar wie oben beschrieben im Dreieck zwischen den im Gegenstand angelegten Möglichkeiten, der Einstellung zu und dem Wissen um den Gegenstand, die/das auf Seiten des Seelsorgers/ der Seelsorgerin vorhanden ist, sowie der Einstellung zu und dem Wissen um den Gegenstand, die/das auf Seiten des Gesprächspartners/ der Gesprächspartnerin vorliegen. Die Frage nach den >status< der Sache ist in der antiken Fassung freilich zu stark auf die Gerichts situation zugeschnitten; eine verallgemeinerte Fassung, die auch in der Seelsorge verwendbar ist, könnte aber folgendermaßen aussehen: (a) Frage nach der Definition eines Sachverhalts (statusfinitionis — >Um was geht es genau?Wie plausibel erscheint mir der dargestellte Sachverhalt?^ (c) Frage nach der emotionalen Bewertung eines Sachverhalts (status qualitatis — >Wie bewerte ich den Sachverhalt?Bin ich die richtige Person, um darüber zu sprechen?^. Hinsichtlich der Redegattungen legt sich zunächst die Beziehung der Gattungsfrage, die ja zugleich eine Frage nach der Funktion ist, auf das ganze Gespräch nahe: Welche Funktion soll dieses Gespräch haben? Dabei liegt die Entscheidung nicht (wie bei einer Rede) zunächst allein beim Redner, sondern der Seelsorger/ die Seelsorgerin muss aufgrund der Gesprächssituation seine/ihre eigenen Vorstellungen von der Art des geführten Gesprächs stets mit den Vorstellungen des Gegenübers abgleichen. Für die Seelsorge ist dabei der Hinweis von Watzlawick,47 dass jede Kommunikation auch eine Beziehungsseite hat, von besonderer Bedeutung. Im Rahmen der vorliegenden Konstruktion von Seelsorge wird dabei zusätzlich relevant, dass der Gegenstand des Gesprächs in der Regel mit der Frage nach Werten, d.h. nach Vorstellungen von einem guten Leben, verknüpft ist, und damit auch die Identität der am Gespräch beteiligten Personen in hohem Maße zum Gegenstand des Gesprächs wird. Ralf Günther verweist in diesem Zusammenhang auf das soziologische Konzept der »interaktiven Herstellung von sozialer Identität«,48 das davon ausgeht, dass Identität durch Kategorisierungen dargestellt wird: »In einem Gespräch werden bestimmten Personen(-gruppen) ganz bestimmte Kennzeichen und Handlungen (sogenannte >category-bound activitiesin Schubladen gesteckt.« 49 So gewinnt der Aspekt des Aushandelns von Identität, der sich 47 Vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 1969, bes. 53ff. 48 Günther 2005, 169; im Original kursiv. 49 Günther 2005, 169.

154

mit soziolinguistischen Mitteln in jedem Gespräch herausarbeiten lässt, für die Seelsorge besondere Bedeutung und bedarf besonderer Aufmerksamkeit, und zwar nicht nur im Blick auf den Wortlaut, sondern auch bei der rhetorischen Gestaltung der Gesprächsbeiträge. 50 Wie die antike Rhetorik darauf hingewiesen hat, dass innerhalb einer Rede in der Regel alle drei Gattungen auftreten werden, aber in unterschiedlicher Gewichtung, so lassen sich auch funktionale Differenzierungen für einzelne Gesprächsbeiträge vornehmen. Diese Frage wird im Rahmen der dispositio noch ausführlicher behandelt, wenn es um die Strukturierung kleinerer Abschnitte unterhalb der ganzen Rede geht. Unter der Prämisse, dass Seelsorge grundsätzlich Gemeinschaft aufrecht erhalten oder (wieder) herstellen soll, lassen sich die möglichen Funktionen des Gesprächs in Anlehnung an das oben zu Podlewski Ausgeführte folgendermaßen differenzieren: (1) Wo Gemeinschaft dadurch gefördert werden kann, dass bestimmte Ereignisse in ein vom Gegenüber anerkanntes System der Weltordnung (Topik, s.u.) eingeordnet und damit gemeinsam bewertet werden können, handelt es sich im wesentlichen um einen symbolischen Realitätsbezug des Gesprächs und damit um die von Podlewski dem genos dikanikon zugeordnete Redegattung, die ihren Schwerpunkt auf die Auswahl und Verknüpfung der richtigen Topoi legt. (2) Wo Gemeinschaft dadurch gefördert werden kann, dass ein durch bestimmte Ereignisse fraglich gewordenes Weltbild durch >Variantenbildung< (vgl. Erne) angepasst werden muss, um diese Ereignisse integrieren zu können, handelt es sich im wesentlichen um einen indexikalischen Realitätsbezug des Gesprächs und damit um die von Podlewski dem genos symbouleutikon zugeordnete Redegattung, deren Schwerpunkt in der Anordnung der verschiedenen Topoi und Erfahrungselemente durch Assoziation und Dissoziation liegt. (3) Wo Gemeinschaft schließlich dadurch gefördert werden kann, dass das gar nicht explizit fraglich gewordene, aber etwas aus dem Gebrauch geratene Weltbild erneut als gemeinsames in den Mittelpunkt gestellt wird, handelt es sich im wesentlichen um einen ikoniscben Realitätsbezug des Gesprächs und damit um die von Podlewski dem genos epideiktikon zugeordnete Redegattung, deren Schwerpunkt in der besonderen ästhetischen Ausgestaltung der ausgewählten Topoi durch die Verwendung von Tropen und Sprachfiguren liegt. Auch in diesem Zusammenhang gilt freilich das bereits zum antiken Schema Gesagte: Die Funktionen und Gattungen können sich mischen; es geht hier nur um die Vorherrschaft einer Funktion und Intention innerhalb des Gesprächs. Auch die bei den einzelnen Gattungen genannten rhetorischen Elemente sind selbstverständlich alle in allen Gesprä50 Günther hat darauf hingewiesen, daß »[g]eladene und direktive Fragesequenzen, bestimmte Sprachhandlungen (Vorwurf, Handlungsaufforderung usw.), große Wissensdifferenzen, forcierendes Interaktionsverhalten usw. [...] regelmäßig zu >Imagebedrohungen«< führen und umgekehrt »Metaphern, rituelle und alltagskommunikative Sequenzen [...] >Imagebedrohungen< verhindern oder ausgleichen« können (Günther 2005, 154).

155

chen präsent, nur eben in unterschiedlicher Gewichtung und Bedeutung für die jeweilige Gesprächsintention. Welche Elemente dies im einzelnen sind, wird in den folgenden Abschnitten deutlich werden.

4. Inventio Teil II: Akzeptable Argumente finden Die Frage nach Argumenten, die von den Zuhörenden als akzeptabel betrachtet werden und daher ihre Wirksamkeit entfalten können, gehört zu den ältesten Bestandteilen des rhetorischen Systems. Dabei zeichneten sich schon früh Differenzen zwischen unterschiedlichen Betrachtungsweisen ab: Handelt es sich bei den Topoi mehr um methodische Hinweise zum Auffinden von Argumenten, oder handelt es sich dabei bereits um inhaltlich gefüllte, allgemein anerkannte Aussagen, die in der Argumentation ohne weiteres herangezogen werden können? Beide Anschauungen haben sich durch die Geschichte hindurch in unterschiedlicher Weise hervorgetan und sind jeweils heftig disputiert worden.

4.1 Topik %wischen Methode und Klischee-Sammlung Wesentlich ist: jede Rede (auch die Lobrede) hat einen Satz oder eine Sache annehmbar zu machen. Sie muß Argumente dafür anführen, die sich an den Verstand oder das Gemüt des Hörers wenden. Nun gibt es eine ganze Reihe solcher Argumente, die für die verschiedensten Fälle anwendbar sind. Es sind gedankliche Themen, zu beliebiger Entwicklung und Abwandlung geeignet. Griechisch heißen sie koinoi topoi; lateinisch loci communes, im älteren Deutsch »Gemeinörter«. So sagen noch Lessing und Kant. Nach dem englischen >commonplace< wurde dann um 1770 »Gemeinplatz« gebildet. Wir können das Wort nicht verwenden, da es seine ursprüngliche Verwendung verloren hat. Deshalb behalten wir das griechische topos bei. Um das Gemeinte zu verdeutlichen: ein topos allgemeinster Art ist »Betonung der Unfähigkeit, dem Stoff gerecht zu werden«; ein topos der Lobrede: »Lob der Vorfahren und ihrer Taten«.51 Mit diesen Sätzen beschreibt Ernst Robert Curtius in seinem für die Topikforschung des 20. Jahrhunderts grundlegenden Werk zur Topik in der abendländischen Literatur die begriffliche Basis für den Gegenstand seiner Forschungen. Allerdings stellt er zugleich fest, dass sich das Wesen der Topik gegenüber ihrer klassischen Gestalt gewandelt hat: Die topoi sind also ursprünglich Hilfsmittel für die Ausarbeitung von Reden. Sie sind, wie Quintilian (V 10,20) sagt, >Fundgruben fur den Gedankengang< (argumentorum sedes), sind also einem praktischen Zweck dienstbar. Aber wir 51 Emst R. Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter. 6. Aufl., Bern, München 1967, 79f, zitiert nach Bornscheuer 1976, 139.

156

sahen, daß die beiden wichtigsten Arten der Rede, Staats- und Gerichtsrede, mit dem Untergang der griechischen Stadtstaaten und der römischen Republik aus der politischen Wirklichkeit verschwanden und in die Rhetorenschule flüchteten; daß die Lobrede zu einer Lobtechnik wurde, die sich auf jeden Gegenstand anwenden ließ; daß auch die Poesie rhetorisiert wurde. Das bedeutet nichts anderes, als daß die Rhetorik ihren ursprünglichen Sinn und Daseinszweck verlor. Dafür drang sie in alle Literaturgattungen ein. Ihr kunstvoll ausgebautes System wurde Generalnenner, Formenlehre und Formenschatz der Literatur überhaupt. Das ist die folgenreichste Entwicklung innerhalb der Geschichte der antiken Rhetorik. Damit gewinnen auch die topoi eine neue Funktion. Sie werden Klischees, die literarisch allgemein verwendbar sind, sie breiten sich über alle Gebiete des literarisch erfaßten und geformten Lebens aus.52 Dass es in der Geschichte des Begriffs >Topik< zu deutlichen Bedeutungsverschiebungen gekommen ist, wird heute allgemein anerkannt. So hat Aristoteles in seiner Topik noch versucht, eine möglichst formal gehaltene Methode zu entwickeln, mit der Redner in den dialektischen Disputationen umfassenden Zugriff auf alle verfügbaren Argumente erhalten können, und hatte dazu eine Vielzahl von Gesichtspunkten aufgezählt, die sich nach vier Grundklassen unterscheiden lassen (Merkmal, Akzidens, Gattung, Definition eines Gegenstandes), die sich dann nochmals in weitere Unterklassen ausdifferenzieren (z.B. ist eine Unterklasse der Klasse >Akzidens< die Frage nach mehr oder weniger starker Ausprägung der akzidentiellen Eigenschaft, was zum Topos des Schlusses vom Größeren auf das Geringere führt).53 Schon in der lateinischen Rhetorik dagegen »wird der topos immer ausschließlicher zur Beweisformel (locus)«,54 also von der rein formalen Kategorie zur inhaltlich gefüllten Argumentationshilfe, und im Laufe der Geschichte lässt sich eine zunehmende »Stereotypisierung von Beweisformeln zu Gemeinplätzen«55 beobachten. So verweist Cicero auf den Nutzen fertig bereitstehender Grundgedanken und formuliert daraus seine Lehre von den loa communes, die zwar allgemeine Problem-Perspektiven enthalten, aber in bereits vorformulierter Form, die nur noch auf das konkrete Problem angewandt werden muss56 - oder auch in seiner allgemeinen Formulierung verwendet werden kann: So kam es zu jenen bald verrufenen fertigen Argumentationsmustern und Gemeinplatz-Anthologien, aus denen der Redner sich nur noch zu bedienen brauchte, so daß die Arbeit entfiel, den allgemeinen topos (zum Beispiel den Fundort animi natura = Wesensart der Person) aus der detaillierten Kenntnis 52 53 54 55 56

Ebd. Vgl. Ueding/Steinbrink 1994, 234f. Ueding/Steinbrink 1994, 235. Ueding/Steinbrink 1994, 235. Vgl. Ueding/Steinbrink 1994, 236.

157

des konkreten Menschen, um den es bei der Erörtertung eines Streitfalles gehen mochte, mit den ganz besonderen Merkmalen auszufüllen.57 4.2 Klassische Kategorien der Topik bei Quintilian Nach Quintilian wird die Gesamtheit der Loci — entsprechend der römischen Unterscheidung zwischen Sachenrecht und Personenrecht 58 — eingeteilt in diejenigen, die sich aus der Person ergeben, und diejenigen, die sich aus der Sache ergeben {loci α persona/ a re).59 4.2.1 Fundorte, die sich aus der Person ergeben (loci a persona) Auf eine Person bezogene Argumente können abgeleitet werden von (a) ihrer Abstammung (genus), (b) ihrer Volkszugehörigkeit (natio; hebt auf den >Volkscharakter< ab), (c) ihrer staatlichen Herkunft (patria; hier werden die Gesetze, Sitten, Lebensformen u.a. verhandelt), (d) ihres Geschlechts (sexus), (e) ihres Alters (aetas), (f) ihrer Erziehung und Ausbildung (educatio et disäplinä), (g) ihrer körperlichen Beschaffenheit (habitus corporis), (h) ihrem Schicksal (fortuna; z.B. die Beschreibung als Glückspilz oder Pechvogel), (i) ihrer sozialen Stellung {conditio), (j) ihrer Wesensart {animi natura), (k) ihrem Beruf bzw. der Art ihrer Betätigung {studio), (1) ihren Neigungen (quid ajfectet quisque·, Vorlieben und Abneigungen), (m) ihrer bisherigen Geschichte (ante acta dicta), (η) ihrem Namen (nomen\ v.a. Bei- und Spitznamen). 4.2.2 Fundorte, die sich aus dem Sachverhalt ergeben (loci a re) Auf einen Sachverhalt bezogene Argumente können abgeleitet werden von (a) seiner Ursache (causa·, Quintilian unterscheidet psychologische und physische Ursachen), (b)dem Ort des Geschehens (locus), (c)der Zeit des Geschehens (tempora), (d)der Art und Weise des Geschehens (modus), (e)der Möglichkeit des Geschehens {facultas), 57 Ueding/Steinbrink 1994, 237. 58 Eine grundlegende Unterscheidung des römischen Zivilrechts; vgl. SchmidtBiggemann 2000, 254. 59 Vgl. Ueding/Steinbrink 1994, 237f.

158

(f) der Bestimmung/ Abgrenzung des Geschehens (finitio), (g)der Ähnlichkeit des Geschehens {simut), (h)der Vergleichbarkeit des Geschehens (comparatio; z.B. Schluss vom Kleineren auf das Größere oder umgekehrt), (i) Unterstellungen eines Geschehens {fictio\ ein unterstellter Sachverhalt wird auf die Konsequenzen für den in Frage stehenden Sachverhalt hin untersucht; dabei kann der unterstellte Sachverhalt wiederum nach allen loa a re bestimmt werden), (j) Umstände eines Geschehens {circumstantia\ wird herangezogen, wenn andere loa nicht ausreichen, um der Besonderheit des Falls gerecht zu werden, und umfasst die Eigentümlichkeiten gerade dieses einzelnen, besonderen Geschehens). 4.3 Theoretische Grundlegung. Topik als >Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft Eine heftige Diskussion entbrandete in der Folge der Ausführungen von Curtius über die Frage, wie weit man die von ihm aufgezeigten Veränderungen in der Geschichte der Topik noch unter den Begriff der Topik subsumieren sollte bzw. ob es nicht geraten sei, für eine Neubestimmung des Begriffs auf die ursprüngliche (zumeist als eine besondere Form der Logik interpretierte) Bestimmung durch Aristoteles zurückzugreifen und die von Curtius als Topoi bezeichneten Stereotypen und Klischees damit auszuschließen. Eine gewisse Zäsur in dieser Auseinandersetzung brachte 1976 die Arbeit des Literaturwissenschafders Lothar Bornscheuer,60 der seine Arbeit explizit disziplinübergreifend und im Rückgang auf Aristoteles und Cicero angelegt hatte. Dabei stellte er eine gewisse Unschärfe schon in der Bestimmung des Begriffs bei Aristoteles fest, der zwar ein möglichst formal-methodisches Vorgehen anstrebte, aber von der Bezogenheit der Topik auf ein vorwissenschaftliches, alltägliches Wissen immer wieder gezwungen wurde, auch materiale Aspekte in seine Darstellung mit aufzunehmen: Methodologisch-begriffliche >Unschärfe< ist bei Aristoteles eines der zentralen Wesensmomente der ethisch-praktischen Vernunft und daher auch der in ihren Bereich fallenden umgangssprachlichen Argumentationstopik, — unbeschadet der Tatsache, daß die aristotelische Topik-Schrift trotzdem gewisse Tendenzen zu einer methodologischen Durchdringung aufweist. Um den wahren, ganzen Charakter dieser Schrift zu kennzeichnen, müßte man sie als den paradoxen Versuch bezeichnen, das Unsystematisierbare, die Komplexität natürlichen Sprechens und Verhaltens trotz allem abstrakt-analytisch zu durchdringen und >methodisch< in den Griff zu bekommen.61 60 Bornscheuer 1976. 61 Bornscheuer 1976, 42.

159

Bei Cicero tritt dagegen weniger die formale, als die inhaltliche Seite der Topik in den Vordergrund, weil sie seiner Form der Rhetorik, die vor allem von der meisterhaften Beherrschung der sprachlichen Gestaltungsmöglichkeiten lebte, mehr entgegenkam. Cicero übernahm zwar die aristotelischen Topoi-Kataloge als hilfreich für die Ausbildung von Rednern,62 kontrastierte sie aber mit den eigentlich bedeutsamen und schwerer zu handhabenden, als loci communes bezeichneten Topoi, die er vor allem im Blick auf die emotionale Wirkung bei den Zuhörenden zum Abschluss der Beweisaufnahmen einsetzte. Dazu nutzte er Elemente, die formal auf einer sehr allgemeinen Ebene lagen, aber zugleich inhaltlich deutlich gefüllt und sprachlich geschickt ausgeführt waren:63 Im Kanalbett der Gemeinplätze vereinigen sich nach diesem Ideal die copia rerum (omnia quae in inventione rerum et sententiarum...) und die copia verborum (omnia ornamenta elocutionis...) zu einem doppelt mächtigen Redestrom, der die letzten psychischen Widerstände des Publikums mit sich fortreißt. Loci communes sind Fundgruben der moralischen Emphase, des wortgewaltigen Plädoyers für Recht und Ordnung, für Sitte und Tradition, des Appells an Bürgersinn, gesunden Menschenverstand und allgemeinmenschliches Empfinden. Die Gemeinplatz-Topik ist eine allgemeine, öffentlich relevante Verhaltenstopik, ein Quellgrund weniger der theoretischen als der praktischen Vernunft.64 Ausgehend von diesen Untersuchungen hält Bornscheuer erneut die Unscharfe des Begriffs als Ergebnis fest: Mit dem Begriff der Topik wird demnach sowohl eine bestimmte, überindividuelle Ansammlung von Prämissen bezeichnet, die von Einzelnen in der Argumentation zur Begründung von Aussagen und Ansprüchen herangezogen werden, wie auch eine Methode, zu solchen Prämissen zu gelangen. Was Aristoteles mit seiner >Topik< nach Bornscheuers Meinung leistet, ist der Versuch, »aus dem weiten Feld der Doxa, d.h. der gesamtgesellschaftlichen Vor-Verständnisse und >Vor-Urteile< die allgemeinsten kategorialen Aspekte der umgangssprachlichen Urteils-Struktur herauszuarbeiten«.65 In der doppelten Orientierung auf möglichst allgemeine und zugleich möglichst auf den einzelnen Problemfall bezogene Argumente eröffnet die Topik einen Raum zum kreativen, assoziativen Umgang mit den einzelnen Topoi, der sich auch unter dem Begriff der Kombinatorik fassen lässt und eine individuelle Kompetenz beschreibt: Topik und Kombinatorik — oder auch »Zitat und Montage« — sind zwei Aspekte derselben Sache, nämlich des Umgangs mit einem gesellschaftsgeschichtlich identifizierbaren Erfahrungs- und Bildungswissen. Topik ließe sich daher auch

62 Vgl. Bomscheuer 1976, 65. 63 Vgl. Bornscheuer 1976, 80. 64 Bomscheuer 1976, 69. 65 Bornscheuer 1976, 45.

160

als die bewußte oder unbewußte Kompetenz innerhalb eines gesellschaftlich jeweils relevanten >Herrschaftswissens< bezeichnen.66 Dabei wendete sich Bornscheuer entschieden gegen die Subjektivitätsideologie der Moderne, welche die Topik aufgrund ihres bloßen Sammeins und Wiederverwertens gering achtete, und wies darauf hin, dass auch die Topik bereits eine Fülle von kreativen Momenten beinhalte, indem sie mit der Kombinatorik verbunden war: Es gehört zu den Vorurteilen der subjektivistischen Originalitätsästhetik, daß das alteuropäische rhetorisch-dialektische Bildungswesen keine eigentlich produktiven Prinzipien gekannt habe, obwohl es in der »Topik« als einer »ars inveniendi« geradezu eine Methodenlehre des Forschens und Findens entwickelt hatte. [...] Ein erster Schritt auf dem Weg zu einer Rehabilitierung der schöpferischen Einbildungskraft als einem spezifisch gesellschaftlichen Vermögen ist daher der in den vorliegenden Untersuchungen unternommene Versuch, die ursprünglichen Leistungsmomente der topischen inventio wieder freizulegen und an diesem historischen Leitfaden das Modell einer >Hermeneutik der Einbildungskraft im Horizont der gesellschaftlichen Praxis< zu entwerfen. Die Einsicht, daß alle historisch-fortschrittlichen Produktivitäten auch im »Reich des Geistes« in erster Linie »kollektive Leistungen« sind, läßt heute die zweihundertjährige Periode des hochbürgerlichen, subjektivistischen Bildungsidealismus zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 20. Jahrhunderts im Rahmen einer drei tausend jährigen europäischen Kulturentwicklung als ein relativ kurzes Intermezzo erscheinen.67 Eine solche Verbindung von Topik und Kombinatorik setzt voraus, dass die einzelnen Topoi sich dafür eignen, zu ganz unterschiedlichen Kombinationen zusammengefügt zu werden. Bornscheuer sieht deshalb in den Topoi selbst nicht nur den Aspekt der Habitualität, mit dem er den gesellschaftlichen Bezug festhält, sondern auch den Aspekt der Potenzialität als wichtiges Element der Topik. Darüber hinaus führt er mit den Begriffen von Intentionalität und Symbolizität noch zwei weitere Aspekte ein, mittels derer er ein kritisches Element in der Topik verankern möchte: Zu den Bestimmungsmerkmalen der topisch geprägten Einbildungskraft gehören daher nicht nur die beiden dialektischen Momente einer gesellschaftlichhabituellen Allgemeingültigkeit und eines produktiven Interpretationsspielraums innerhalb der jeweils herrschenden Topik, sondern auch das Moment einer kritischen Intentionalität; erst eine solche entscheidet, welche Neuerung auch eine sinnvolle Veränderung bedeutet. [...] Ein kritisches Topikbewußtsein hält gegenüber jeder technologischen Gesellschafts- und Kunsttheorie die Differenz zwischen Wesen und Erscheinung offen. Es bedarf daher schließlich einer ausdrücklichen Reflexion auf die Kriterien, an denen der symbolische 66 Bornscheuer 1976, 21. 67 Bornscheuer 1976, 19.

161

Ausdruckswert sprachlicher und insbesondere literarischer Topik gemessen werden kann.68 Insgesamt sieht Bornscheuer die Verbindung von Topik und deren zwangsläufig kombinatorischer Anwendung als »zwei Aspekte derselben Sache, nämlich des Umgangs mit einem gesellschaftsgeschichtlich identifizierbaren Erfahrungs- und Bildungswissen«, und folglich als »die bewußte oder unbewußte Kompetenz innerhalb eines gesellschaftlich jeweils relevanten >Herrschaftswissensjeder vorgelegten Zweifelsfrage< nimmt Bornscheuer im Begriff der Poten^ialität auf. Sie 68 69 70 71 72 73

162

Bomscheuer 1976, 22f. Bomscheuer 1976, 21. Bornscheuer 1976, 93. Aristoteles, Topik; zitiert nach Bomscheuer 1976, 26. Bornscheuer 1976, 97 in Aufnahme eines Zitats von P. Bourdieu. Bornscheuer 1976, 97, in Aufnahme eines Zitats von P. Bourdieu.

beschreibt im Blick auf die Gesamtheit der Topoi die große Breite und damit zugleich Unschärfe der Topik, im Blick auf den einzelnen Topos dessen Mehrdeutigkeit und Interpretationsbedürftigkeit, die zugleich seine Interpretationsfahigkeit und Anwendbarkeit in der konkreten Argumentation ausmacht. Die primäre Überzeugungskraft eines Topos beruht auf seinem Charakter als habitualisierter Standard (erstes Bestimmungsmerkmal). Wo immer in einem Argumentationszusammenhang eine Grundnorm des jeweils herrschenden gesellschaftlichen Selbstverständnisses ins Bewußtsein gerufen wird, handelt es sich zunächst um einen Argumentationswert. In der Regel ist aber gerade das allzu >Selbstverständliche< derartig polyvalent (zweites Bestimmungsmerkmal), daß seine bloße Nennung im konkreten Problemfall nicht auch schon von einem Kontrahenten als einsinniges Argument anerkannt werden muß, sondern eine interpretatorische Applikationsbemühung im Sinne des je eigenen Argumentationsinteresses herausfordert.74 Dieses Interpretationsinteresse, das den Topos auf eine bestimmte Situation hin auslegt, bezeichnet Bornscheuer als Intentionalität. Durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Intentionen angesichts einer bestimmten Situation wird ausgehend von bestimmten Topoi die Problemlösung in einem dialogisch-dialektischen Prozess vorangetrieben; dem einzelnen Topos kommt dabei in der Verbindung von Habitualität, Potenzialität und Intentionalität die Rolle zu, die in einer bestimmten Situation (bzw. in ihrer gesellschaftlich sanktionierten Wahrnehmung/ Deutung) enthaltene Problematik »auf eine jeweils höhere, >sinnvolle< Bewußtseinsebene«75 zu heben. Bornscheuer beschreibt den Topos aufgrund dieser Leistung, die keinem einzelnen Aspekt, sondern nur ihrer Verbindung zukomme, als »dynamische[n] Konzentrationspunkt eines sinnkonstitutiven Horizonts«76 und bietet damit Anknüpfungspunkte zu den phänomenologischen Ausführungen von Thomas Erne, die noch deutlicher werden, wenn man seinen vierten Aspekt berücksichtigt. Die dynamische Kraft, die Bornscheuer den Topoi zuschreibt, verdanken diese nämlich noch einem weiteren Aspekt: der Symboli^ität. Mit diesem Begriff fasst Bornscheuer zugleich die Abgrenzbarkeit und Elementarität des einzelnen Topos wie seine Komplexität und Wandelbarkeit hinsichtlich seiner konkreten Gestalt, auch hinsichtlich des Grades »sowohl der verbalen wie der semantischen Konzentration«.77 Aufgrund dieser dialektischen Bestimmung gilt, dass Topoi sich nicht vollständig beschreiben lassen, sondern man »lediglich einen umrißhaften Rahmen [angeben kann], innerhalb dessen jede individuelle bzw. gruppenspezifische Aneignung und Verwendung ihre eigene Auswahl und Präzisierung 74 75 76 77

Bornscheuer Bornscheuer Bornscheuer Bornscheuer

1976, lOOf. 1976,102. 1976,103. 1976,103.

163

treffen muß«.78 In der Zusammenfassung wird die Parallele zu Erne noch einmal deutlicher: Topisches Wissen ist ein >HorizontwissenHorizonts< und daher prinzipiell nur >im Umriß< beschreibbar. Er ist das tragende Bauelement jedes sprachlich-sozialen Kommunikationsgefüges, Umschlagplatz zwischen Kollektiv und Individuum, Bewußtsein und Unbewußtem, Konvention und Spontaneität, Tradition und Innovation, Erinnerung und Imagination. Der Topos im allgemeinen Sinn gehört in den Bereich der Umgangssprache, der vorwissenschaftlichen Bewußtseinsbildung, der Erfahrung und Erörterung lebensbedeutsamer Probleme. Den Umriß eines Topos bzw. einer Topik bestimmen vier verschiedenartige Hauptmomente: die kollektiv-habituelle Vorprägung (Habitualität), die polyvalente Interpretierbarkeit (Potentialität), die problemabhängige, situativ wirksame Argumentationskraft (Intentionalität) sowie die sich gruppenspezifisch konkretisierende Merkform (Symbolizität).79 Für die Seelsorge bedeutet dies, dass eine >Horizontveränderungbring our boys home^.88 Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis Knoblauchs, dass angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierungen der Lebenswelt, verbunden mit der Auflösung traditionell geteilter Werte und Überzeugungen, die kommunikativen Topoi für die Stabilität von Gruppen größere Bedeutung erlangen: Denn der Zerfall an Traditionen und Selbstverständlichkeiten zwingt nicht unbedingt zur Argumentation. Er zwingt eher zur (häufiger narrativ und konversationeil als argumentativ organisierter) Kommunikation, in der die Vielzahl der unterschiedlichen Perspektiven inszeniert, präsentiert und mehr abgeglichen als ausgehandelt wird. Und wenn wir davon ausgehen, daß sich diese Kommunikation nicht als rationaler Dauerdiskurs, also als Dauerreflexion institutionalisieren läßt — wofür es gute empirische Gründe gibt — sondern empirisch unheilbar rhetorisch ist und zur Endastung neigt, dann könnte man vermuten, daß sich Traditionen in den Prozessen der Kommunikation ausbilden können, daß es also eine gleichsam im Fluß befindliche sekundäre Traditio87 Knoblauch 2000, 659. 88 Vgl. Knoblauch 2000, 660-663.

167

nalisierung in der Kommunikationsgesellschaft gibt und daß es schließlich gerade die kommunikativen Topoi sein können, die eine Art von Dauerhaftigkeit und Halt im Wandel bieten.89 Die hier angesprochene Verschiebung des kommunikativen Handelns vom Aushandeln zum bloßen Abgleichen führt Knoblauch an anderer Stelle noch weiter aus. In seiner Einleitung zu einem Sammelband über kommunikative Lebenswelten geht er auf die von Helmut Schelsky stammende These ein, dass der Verlust von traditioneller Verbindlichkeit zum vermehrten kommunikativen Aushandeln führe, dieses Aushandeln aber — so Schelsky gegen Habermas — nicht unbedingt rational verlaufen müsse, und in der Mehrzahl der Fälle auch nicht rational verlaufe, weil der bestehende Entscheidungsdruck einen langen Prozess des rationalen Aushandelns häufig nicht zulasse. In diesen Fällen entstünden vielmehr als >sekundäre Traditionalisierung< neue Konventionen, in denen der Prozess der Kommunikation selbst ritualisiert werde.90 Knoblauch verweist auf empirische Studien zu kommunikativen Gattungen, die zeigen, »daß noch in den informellsten Bereichen - von formalen, institutionellen Kontexten ganz zu schweigen - kommunikative Vorgänge mehr oder weniger festen, erwartbaren und verpflichtenden Mustern folgen, an denen sich Handelnde orientieren«.91 Diese Muster bezeichnet Knoblauch als »Ins^enierungsmuster; Darstellungsformen und Interaktionsrituale«, die dazu dienen, »den sozialen Ort von Handelnden anzuzeigen und ihre Handlungen zu koordinieren«,92 und verweist dabei auf die Forschungen von Gerhard Schulze zu sozialen Milieus und deren Gebrauch milieuspezifischer Zeichen und Kommunikationsformen. Angesichts der wahrnehmbaren gruppenspezifischen Alltagsrituale, Gruppenembleme und Kollektivsymbole spricht Knoblauch von der »Notwendigkeit zur Inszenierung«, die »gleichsam die nonverbale Seite«93 der zu beobachtenden Kommunikationsflut darstellt, mit der Handeln vorbereitet oder nachträglich bestimmt wird - sofern sich das Handeln nicht bereits vollständig in der Kommunikation vollzieht. Diese nonverbale Seite vorgefertigter Formen ist notwendig zur Verständigung und kann »die Gestalt kommunikativer Gattungen und Muster, ritueller Inszenierungsmuster und Darstellungsformen bzw. alltagsästhetischer Schemata annehmen«.94 Versucht man, die Ausführungen Knoblauchs in Bezug auf das Angleichen weiter zu entwickeln, dann ergibt sich ein Aspekt, der für die Rhetorik von besonderem Interesse ist. Zunächst kann die Frage, warum es gerade die topische Struktur der Kommunikation ist, die ein über-

89 Knoblauch 2000, 665f. 90 Vgl. Knoblauch (Hg.) 1996,18f. 91 Knoblauch (Hg.) 1996, 20. 92 Knoblauch (Hg.) 1996, 21; Hervorh. EK. 93 Knoblauch (Hg.) 1996, 21. 94 Knoblauch (Hg.) 1996, 21.

168

greifendes Ordnungsschema schafft, wo traditionelle Gemeinsamkeiten sich auflösen, mit dem Verweis auf die von Bornscheuer festgestellte Potenzialität von Topoi beantwortet werden. Weil Topoi als grundlegende Prämissen in ganz unterschiedliche Argumentationskontexte eingepasst werden können, bieten sie mehr Möglichkeiten zur Übereinstimmung. Dies liegt nicht unbedingt an ihrer Abstraktheit; Knoblauchs Ausführungen machen in ihren Verweisen auf alltagsästhetische Schemata, Inszenierung und Gestalt vielmehr deutlich, dass der ästhetische Aspekt in der Kommunikation gegenwärtig eine entscheidende Rolle spielt. Die große Bedeutung ästhetischer Aspekte hängt vermutlich mit dem in unserer Gesellschaft wirksamen permanenten Entscheidungsdruck zusammen und mit der Tatsache, dass sich ästhetische Aspekte schneller und intuitiver erschließen als der Gedankengang einer rationalen Argumentation. Für die Topik bedeutet dies, dass der von Bornscheuer mit dem Begriff der Symbolizität beschriebene Aspekt der prägnanten sprachlichen Gestalt für die Rezeption von Topoi ebenfalls besonderes Gewicht erhält. 4.7 Topisch wirksame Hin^elelemente im Gespräch Ralf Günther hat in seiner Leipziger Dissertation zu Seelsorgegesprächen im Gefängnis Textelemente herausgearbeitet, die in besonderer Weise in der Lage sind, durch ihre Verwendung im Rahmen von erzählenden und darstellenden Sequenzen Einverständnis zwischen den am Gespräch beteiligten Personen zu generieren und damit aus rhetorischer Sicht topisch wirken. Es handelt sich dabei um »vorgeformte Ausdrücke, Metaphern und Schlüsselwörter«,95 die als Worte, Phrasen oder formelhafte Ausdrücke bestimmte Darstellungssequenzen zusammenfassend symbolisieren und damit zugleich auf eine bestimmte argumentative Funktion innerhalb des Gesprächs zuspitzen. Die »vorgeformte [n] Ausdrücke« zeichnet dabei besonders aus, dass sie als »Rahmenausdrücke [...] einerseits den Sinn der Darstellung festlegen und so ein Gerüst an Bedeutung schaffen, andererseits auch LeersteÜen offen lassen, wo die sachlichen Informationen eingetragen werden können«.96 Dabei ist Günther vor allem die innerhalb einer Gruppe festgeprägte Formulierung wichtig, die »eine ganz bestimmte so^al-integrative Funktion [hat], denn damit wird demonstrativ eine eigene Welt sowie soziale Gemeinschaft und Zugehörigkeit symbolisiert«.97 Aus rhetorischer Sicht wird man dem zustimmen und zugleich noch einen weiteren As95 Günther 2005, 133. 96 Günther 2005,136. 97 Günther 2005, 138.

169

pekt einbringen können: in ihrer topischen Wirkung ermöglichen es vorgeformte Ausdrücke, bestimmte Sachverhalte durch Assoziation mit einer von einer bestimmten Gruppe geteilten werthalügen Beschreibung entsprechend den eigenen Vorstellungen zu qualifizieren. Soweit die Assoziation nachvollziehbar ist, ist damit zugleich eine Gemeinsamkeit nicht nur im Sprachgebrauch, sondern auch in der Bewertung hergestellt. Das gleiche gilt für die von Günther an zweiter Stelle genannten Metaphern, soweit es sich dabei um konzeptuelle Metaphern handelt: »Biographische und so^okulturelle Erfahrungen werden in ganz bestimmten metaphorischen Konzepten realisiert, die für die Angehörigen einer bestimmten Gruppe handlungstragend werden.«98 Aber auch nichtkonzeptuelle Metaphern können argumentativ wirken, indem sie Analogien zum Ausdruck bringen zwischen Bereichen, die nicht direkt vergleichbar sind. Wie bei aller bildhaften Rede ist die Gefahr des Missverständnisses groß, soweit das Gegenüber nicht z.B. aufgrund der Zugehörigkeit zur gleichen Gruppe die Metapher kennt oder sich ihre Bedeutung aufgrund seiner Bekanntschaft mit dem Ursprungsbereich der Metapher erschließen kann. Eine besonders große Bedeutung für die Herstellung von Übereinstimmung haben für Günther die sog. »Schlüsselwörter«, deren Bedeutung er mit Formulierungen von Werner Nothdurft beschreibt: »Schlüsselwörter kondensieren komplexe Argumentationsfiguren, Erklärungsmodelle, Evaluationsprozesse oder Themen in griffigen Formeln. Diese Formeln fungieren als Etiketten, die stellvertretend für den semantischen und pragmatischen Gehalt von Diskursprozessen stehen, ihn gewissermaßen absorbieren und ihn semantisch und pragmatisch zuspitzen.« Schlüsselwörter bringen einen undurchschaubar verzweigten Diskursprozeß »in ein routinemäßig handhabbares alltagsweltliches Format«. Schlüsselwörter können auch vorgeformte Ausdrücke oder Metaphern sein und sind ebenso wie diese streng kontextgebunden und an die Gepflogenheiten einer lokalen Kommunikationsgemeinschaft gekoppelt. Sie werden in diesen sozio-kultureüen Gruppen gebildet und können hier zu fest verankerten und wiederkehrenden Strukturen heranwachsen. Sie verweisen »in prägnanter Form auf interessen- bzw. gruppenspezifische Deutungsschemata und Relevanzen«. In der Aushandlung über die Bedeutung eines solchen Begriffes stehen damit gleichzeitig auch die gegenwärtige kommunikative und soziale Position bzw. Identität der Gesprächspartner zur Debatte." An der Funktion von Schlüsselwörtern wird dabei noch einmal die Wichtigkeit der Einstellung auf das Gegenüber mit den für dessen/deren Lebenswelt jeweils relevanten Topik deutlich: Günther weist darauf 98 Günther 2005, 140. 99 Günther 2005, 144 mit Zitaten aus Nothdurft, Werner: Schlüsselwörter. Zur rhetorischen Herstellung von Wirklichkeit. In: Kallmeyer, Werner (Hg.): Gesprächsrhetorik. Rhetorische Verfahren im Gesprächsprozeß. Tübingen 1996, 3 5 1 - 4 1 8 , 380f.

170

hin, dass zwar jede der am Gespräch beteiligten Personen aus ihrem jeweiligen sozialen Kontext bestimmte Schlüsselwörter kennt und benutzt, sich aber erst an der Aufnahme dieser Begriffe und Wendungen durch das Gegenüber entscheidet, ob sie auch im konkreten Gespräch den Status von Schlüsselwörtern erhalten und damit Übereinstimmung herbeiführen können. 4.8 Topik und Seelsorge Angesichts dieser Situation wird Seelsorge nicht auf dem Ziel beharren können, durch rhetorische Argumentation zu einer Ubereinstimmung in der Wirklichkeitswahrnehmung zu gelangen. Sie wird vielmehr mit Menschen rechnen müssen, die eine ästhetische >Stimmigkeit< bereits als ausreichend betrachten und die Argumente des Seelsorgers/ der Seelsorgerin vor allem daraufhin prüfen, ob sie sich in der dargebotenen Gestalt möglichst stimmig und bruchlos in die eigene Lebenswelt integrieren lassen. Die kirchlichen Kasualhandlungen bieten ein gutes Beispiel dafür, wie angesichts der Polyvalenz der im Ritual zur Darstellung kommenden Topoi ganz unterschiedliche Milieus das Geschehen jeweils in ihrem Sinn deuten können — und damit meist auch zufrieden sind (der Pfarrer/ die Pfarrerin dagegen in der Regel weniger, weil er/sie ein Ideal der Übereinstimmung und nicht der Angleichung zugrunde legt).'00 Theologisch stellt sich damit die Frage, wo die für christliche Gemeinschaft notwendigen Grenzen der notwendigen Obereinstimmung liegen, und wo die Angleichung im gemeinsamen Anknüpfen an eine bestimmte Kommunikationsform bereits ausreicht. In den kirchentheoretischen Ausführungen dieser Arbeit101 wurde bereits dargestellt, dass die lutherische Theologie hier einen Minimalkonsens vorsieht, der sich auf eine antimeritorisch verstandene, auf Vertrauen gegründete Gottesbeziehung beschränkt, die in der Gestalt der Sakramente ihren verständlichen Ausdruck finden soll. Wo dieser gegeben ist, steht also auch einer Angleichung durch ästhetisches Zusammenstimmen bei bleibenden Unterschieden im Verständnis der gemeinsamen Kommunikation nichts entgegen; vielmehr kann hier der Verweis auf 1 Kor 12 deutlich machen, dass die Vielfalt unterschiedlicher Gebrauchsweisen der Tradition im Rahmen der einen christlichen Gemeinde auch biblisch bereits im Blick und akzeptiert ist. Was hier im Blick auf (Kasual-)Gottesdienste gesagt wurde, lässt sich auch auf das Seelsorgegespräch übertragen. Im Rückgriff auf die phänomenologische Terminologie von Thomas Erne lässt sich die Aufgabe 100 Vgl. dazu die phänomenologische Annäherung an Kasualhandlungen von W.E. Failing in Failing/Heimbrock 1998, 2 0 0 - 2 3 2 . 101 Vgl. oben Kapitel 1, Abschnitt 3.

171

dahingehend präzisieren, dass die aufgrund einer Horizontverschiebung eingetretene Differenz zwischen den beiden am Seelsorgegespräch beteiligten Menschen nicht durch argumentatives Aushandeln in eine völlige Deckung der Horizonte überführt werden soll, sondern lediglich eine Hori^ont-Angleichung anzustreben ist, die ihren Ausdruck in einer von beiden Seiten wahrnehmbaren >Stimmigkeit< findet. Die Mittel zu dieser Angleichung sind zwar rhetorischer Natur, und aufgrund der ihnen zukommenden Potenzialität bzw. Polyvalenz leisten die dem jeweiligen Thema zugehörigen Topoi einen wichtigen Beitrag dazu, aber dabei spielt die ästhedsche Dimension,102 und damit die Symbolizität der Topoi, eine mindestens ebenso wichtige Rolle. Dem entspricht es, wenn der Raum des Seelsorge-Gesprächs weniger von argumentativer Strenge und Rigidität geprägt ist, als vielmehr einen >Spielraum< eröffnet, in dem ästhetische Rekonstruktionen vorgenommen werden, die zwar durchaus rhetorisch, also mit der Intention der Überzeugung des Gesprächspartners/ der Gesprächspartnerin verbunden, zu verstehen sind, aber zugleich den Charakter von Inszenierungen annehmen, deren Gestalt mindestens ebenso sehr überzeugen muss wie ihre auf Ubereinstimmung mit der Tradition des Evangeliums beruhende argumentative Grundstruktur. Weil eine ästhetische Inszenierung, die zugleich rhetorisch überzeugend wirken soll, möglichst genau auf die in der Lebenswelt des jeweiligen Gesprächspartners/ der Gesprächspartnerin wirksame Topik abgestimmt sein muss, bedarf die Seelsorge ausführlicher Analysen der in den verschiedenen hebenswelten wirksamen Topoi vor allem im Blick auf deren Potenzialität. Zwar wäre ein passgenaues Einstellen auf den jeweiligen Menschen in seiner individuell gestalteten Lebenswelt ideal, ist aber unter den derzeitigen Rahmenbedingungen nicht leistbar, weil es eine lange Zeit des Kennenlernens voraussetzt. Die verschiedenen soziologischen Milieustudien (Schulze, Vester, Sinus-Milieus; neuerdings auch die lebensweltlichen Beschreibungen der 4. EKD-Umfrage103) bieten dagegen durch die Konzentration auf wenige, in ihrer Topik deutlich von einander unterscheidbare Gruppen hilfreiche, weil sowohl differenzierte wie handhabbare Kategorisierungen, die allerdings bisher nur Teile des relevanten Spektrums innerhalb der Topik abdecken.104 So fehlen Ausfüh102 Vgl. die Ausführungen zu Rhetorik und Ästhetik oben Kapitel 2, Abschnitt 4. 103 Vgl. Schulze 1996; Vester 1997; Burda 2002; Kirchenamt der EKD (Hg.) 2003. 104 Für die Rezeption der Milieutheorie in der Praktischen Theologie vgl. u.a. Becks 1996; Roosen 1997a; Hauschildt 1998a; Wegner 2000, Vögele/Bremer/Vester (Hg.) 2002. Auf den ersten Blick eignen sich alle großen Milieustudien als Fundus zur Inventarisierung und Kategorisierung der milieuspezifischen Topoi. Während die Milieutheorie von Schulze aufgrund ihrer Beschränkung auf fünf Milieus und der leicht nachvollziehbaren Zugehörigkeitskriterien zunächst den Vorzug vor Vester verdient, dessen Aufgliederung in neun Milieus eine kompliziertere Zuordnung beinhaltet, hat

172

rungen zu bevorzugten Argumentationsstrukturen einzelner Milieus, deren Kenntnis für Gespräche äußerst wertvoll wäre.

5. Dispositio: Den Weg %ur Gemeinschaft gestalten Eine zweite Aufgabe neben dem Sammeln und Abwägen von Argumenten und Gegenargumenten sieht die antike Rhetorik in deren sinnvoller Anordnung (dispositio).νΆ

5.1 Natürliche und künstliche Anordnung Grundsätzlich wird für die Anordnung unterschieden zwischen einem natürlichen und einem künstlichen Ordnungsprinzip [ordo naturalisI ordo artificialis), wobei die >Natürlichkeit< des ordo naturalis darin besteht, dass er dem Wahrscheinlichen, Erwartbaren folgt, d.h. dass die Erzählung eines Sachverhalts der chronologischen Abfolge entspricht, aber auch dass die Rede insgesamt der traditionellen rhetorischen Einteilung in vier bzw. fünf Teile folgt. Ein ordo artificialis kommt hingegen zum Einsatz, wenn Schwierigkeiten in der Vertretbarkeit oder Darstellbarkeit der Sache eine Abweichung vom Üblichen geraten erscheinen lassen und z.B. eine Erzählung in der Mitte beginnt, um den Anfang in einer Rückblende später zu erzählen, oder zum Beispiel Einleitung (exordium) und/oder Schluss (peroratio) weggelassen werden, um aufgrund der besonderen Nüchternheit einer rein auf die Argumentation konzentrierten Darstellung eine besondere Wirkung zu erzielen.

die Studie von Vester, Bremer und Vögele heute den Vorteil, ähnlich wie die neue EKD-Studie auf einer aktuelleren und dezidiert im kirchlichen Feld erhobenen Datenbasis aufzubauen (wobei die EKD-Studie derzeit nur Kurzbeschreibungen bietet; die Studie mit ausführlichen Auswertungen fehlt noch). - Allerdings scheint mir von kirchlicher Seite bisher nicht genügend beachtet, daß gerade mit den Sinus-Milieus eine (von der Klassifizierung her dem Modell Vesters sehr ähnliche) Typologie zur Verfügung steht, die nicht nur im Bereich der Werbewirtschaft weit verbreitet ist und daher regelmäßig aktualisiert wird (zuletzt 2004), sondern auch aufgrund ihres kommerziellen Charakters aktuelle und sehr weit ausdifferenzierte Daten nach Mediengebrauch, Konsumverhalten und Freizeitinteressen zur Verfügung stellt und außerdem die v.a. für den Gebrauch in Kirchengemeinden interessante Möglichkeit bietet, die Milieuzugehörigkeit auch für räumlich sehr kleine Einheiten (bis hin zu einzelnen Straßen und Häuserblocks) darzustellen. 105 Vgl. zum folgenden Ueding/Steinbrink 1994, 210-213; Barthes 1988, 78-85; Lausberg 1960, 241-247.

173

5.2 Ordnungsschemata Unabhängig vom gewählten Ordnungsprinzip stehen verschiedene Ordnungsschemata zur Verfügung, die sowohl für das Verhältnis der Redeteile zueinander wie auch zur Gliederung einzelner Redeteile bis hin zur Ebene des einzelnen Satzes verwandt werden. Die wichtigsten sind das zweigliedrige, die Spannung zweier Sachverhalte betonende antithetische Schema (Α-B; AAA...-BBB...; AB AB AB ...) und das eher Vollständigkeit betonende dreigliedrige Schema mit einem verbindenden Mittelteil (A-BC), wobei der verbindende Mittelteil zur Wirkungssteigerung auch ans Ende und damit einer Antithese gegenüber gestellt werden kann ([A-B]C). Aus deren Kombination oder Vervielfältigung ergeben sich das viergliedrige Schema mit einem antithetischen Mittelteil (ABBC) oder das fünfgliedrige Schema mit einem auf Vollständigkeit ausgerichteten Mittelteil (ABBBC). Schemata, die über fünf Glieder hinausgehen, zielen zumeist auf besondere Darstellung der angestrebten Vollständigkeit, wobei die Überfüllung und daraus folgend die Ermüdung der Hörer durch geeignete Auswahl des Stoffs und dessen Anordnung auf einen Höhepunkt hin vermieden werden muß. 5.3 Ein topisches System von Schlußregeln für die Argumentation Wendet man die allgemeinen Ordnungsprinzipien zunächst nicht auf die Ebene der Rede als Gesamteinheit an, sondern bleibt auf der mikrostrukturellen Ebene der Verknüpfung von einzelnen Sätzen bzw. Aussagen, so stellt sich die Frage nach möglichen Regeln solcher Verknüpfungen, d.h. nach der Anwendung von Topoi im Rahmen der Argumentation. Die Unschärfe des Begriffs >Topik< bringt es dabei mit sich, dass sowohl die inhaltlichen Aussagen als Topoi verstanden werden können, als auch die Regeln, nach denen solche Aussagen innerhalb eines argumentativen (mündlichen oder schriftlichen) Textes verknüpft werden. Es geht hier also erneut um einen Teilbereich der Topik. Dabei gehört die Neuformulierung eines der Topik entsprechenden Systems von Schlussregeln durch den in Belgien lebenden Juristen und Philosophen Chaim Perelman in Zusammenarbeit mit der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlerin huäe Olbrechts-Tyteca106 zu den entscheidenden Ursachen für die neue Aufmerksamkeit der Geisteswissenschaften auf eine nun nicht mehr als Vorläufer der Stilistik, sondern primär als Argumentationstheorie verstandene Rhetorik. Das 1958 von beiden gemeinsam veröffentlichte Werk >La Nouvelle Rhetorique: Traite deFaustregel< besondere Bedeutung haben; wenn einer dieser Aspekte zutrifft, steigt die Tendenz zur Ausführung der nahegelegten Handlung stark an: »Der Vorteil derartiger >Faustregeln< liegt in ihrer Effizienz und Ökonomie. Indem ein Individuum automatisch auf ein in der Regel informatives Auslösemerkmal reagiert, reduziert sich sein Aufwand an Zeit, Energie und mentaler Kapazität. Der Nachteil solchen Reagierens ist, dass der Organismus anfällig für >dumme< und folgenschwere Irrtümer wird; indem er sein Verhalten von einem kleinen Teil der verfügbaren Informationen abhängig macht (auch wenn es ein in der Regel aussagekräftiger Teil ist), erhöht sich das Risiko eines Fehlers, insbesondere bei automatischen, gedankenlosen Reaktionen.« (Cialdini 2002, 39) 200

Die hier verwendete Typisierung v o n Kommunikationsaufgaben beruht auf einer Unterscheidung von Sprechakten im Blick auf ihre gesellschaftliche Funktion; Heinemann und Heinemann nennen auf dieser Basis fünf Grundtypen: 195 (1) (2) (3) (4)

sich ausdrücken/ selbst darstellen (sich psychisch entlasten); kontaktieren (Kontakt aufnehmen/erhalten/abbrechen); informieren (Informationen an Partner vermitteln); auffordern/steuern (Partner veranlassen, Handlungen/Sprechhandlungen zu vollziehen); (5) ästhetisch wirken (bei Partnern eine ästhetische Wirkung erzielen).

Dabei handelt es sich nicht um exklusive Typen; Mischformen und Überlagerungen sind möglich. Insbesondere der fünfte Typ (ästhetisch wirken) unterscheidet sich zwar durch die Gestaltung einer fiktiven Textwelt v o n den anderen, kann diese aber zugleich alle überlagern. Zugleich lassen sich die Grundtypen weiter differenzieren. So wird der Typ >auffordern< als >bitten< (rogativ), >appellieren< (appellativ) und >anweisen< (direktiv) unterschieden; für den Typ >informieren< nennen Heinemann und Heinemann I n f o r m a t i o n e n v e r m i t t e l e (repräsentativ) und I n f o r mationen setzen mit sozialen K o n s e q u e n z e n (deklarativ). 196 195 Vgl. Heinemann/Heinemann 2002, 223f, die hier in modifizierender Weise die Typologie der Sprechakte aufnehmen, wie sie von John R. Searle 1971 für Aussagen auf der Satzebene entwickelt wurde; diese umfasst in der von Brinker leicht modifizierten Form, in der sie bei Heinemann/Heinemann zitiert wird, ebenfalls 5 Klassen: »Repräsentativa (Feststellungen, Behauptungen, Vorhersagen ...), Direktiva (Bitten, Weisungen, Anträge ...), Kommissiva (Versprechen, Drohungen, Garantien ...), Expressiva (Beileidshekundungen, Klagen, Grußadressen ...) und Deklarativa {Trauungen, Ernennungen, Berufungen ...)« (ebd. 223). Beide Typologien lassen sich damit auf die von dem Sprachwissenschaftler Roman Jakobson in Anlehnung an sein Kommunikationsmodell entwickelte Typologie sprachlicher Funktionen zurückführen, das 6 Typen umfasst, von denen Searle und Heinemann/Heinemann jeweils einen Typ weniger bieten, der für Einzelaussagen bzw. ganze Texte jeweils verzichtbar erscheint: Jakobson nennt im Anschluss an das Modell Bühlers zunächst die allein auf den Sender ausgerichtete emotive (expressive) Funktion, die auf den Empfanger ausgerichtete, v.a. im Imperativ vorkommende konative Funktion sowie die auf den Inhalt der Mitteilung ausgerichtete rtferentielle Funktion von Sprache, und ergänzt diese um drei weitere Funktionen: die auf die Herstellung und Aufrechterhaltung des Kontakts ausgerichtete phatische Funktion, die den Fragen der Übereinstimmung des der Mitteilung zugrundeliegenden Codes gewidmete metasprachliche Funktion sowie schließlich die ganz auf die Nachricht selbst in ihrer vorliegenden Gestalt ausgerichtete poetische Funktion von Sprache (vgl. Jakobson 1971, bes. 146—152). Während bei Searle (und Brinker) für die Analyse von Einzelaussagen die poetische Funktion fehlt, haben Heinemann/ Heinemann auf der Ebene ganzer Texte die metasprachliche Funktion nicht aufgenommen. 196 So Heinemann/Heinemann 2002, 225f, die sich dabei auf ausführliche empirische Studien zum Sprachhandlungserwerb des Pädagogen Klaus R. Wagner beziehen, der auf der Basis des Dortmunder Kindersprachkorpus eine Differenzierung der Grundtypen - bei Wagner sind es 7: in Anlehnung an Bühler Direktive (Appell), De201

Auf der Basis der Unterscheidung von Grundtypen beruht auch ein Modell %ur Textproduktion von Heinemann und Heinemann. Dabei stellt die Entscheidung für einen bestimmten Grundtyp den ersten Schritt zur Textproduktion dar; als zweiter Schritt folgt die >PlanungskomponenteGlobale OrientierungLokale Ausgestaltung^ d.h. die Versprachlichung/Verschriftlichung des Textes. Dazu gehört die Heranziehung intentions-, themen- und textsortenspezifischer Lexik und syntaktischer Muster.197 Die von uns vorgeschlagenen Ablaufstränge lassen sich als >WENN-DANNOperationen interpretieren: Wenn ein[e] bestimmte Intentionsstruktur gegeben ist, folgen daraus (allerdings nicht zwingend!) charakteristische Text-ThemaEntfaltungen, Textstrukturierungen und Formulierungs-Ketten. Aber nicht alle Komponenten des Modells kommen bei allen Textproduktionsprozessen gleichermaßen zum Tragen. Je nach Zweck und Situation ist hier flexible Handhabung gefragt. Das schließt umgekehrt auch ein, dass manche Teilaspekte für bestimmte konkrete Texte besonders wichtig sein können und daher mehrfach realisiert werden.198 Vergleicht man dieses Modell mit den hier zugrundegelegten rhetorischen Arbeitsschritten, so lassen sich die ersten beiden Schritte der intellectio im Rahmen der inventio zuordnen, während die beiden folgenden Schritte die rhetorischen Aspekte von inventio, dispositio und elocutio abdecken; die dispositio umfasst dabei Teile sowohl der globalen Orientierung wie der lokalen Ausgestaltung. Gegenüber dem an der Gerichtsrede orientierten rhetorischen Modell erscheint dieses Modell flexibler in der Anwendung auf unterschiedliche Textsorten, bleibt dabei allerdings auch notwendig abstrakter; weil die Selektionen in einem Schritt jeweils unterschiedliche Möglichkeiten für die folgenden Schritte nach sich ziehen, lassen sich hier keine allgemeinen Differenzierungen mehr vornehmen. Heinemann und Heinemann selbst beschränken sich darauf, exemplarisch die Produktionsschritte für die Textsorten Magisterarbeit und Beklarative (Ausdruck) und Assertive (Darstellung); zusätzlich Kommissive (Selbstverpflichtungen), Emotive (unwillkürlicher Ausdruck von Gefühlen) und Expressive (intentionaler Ausdruck von Gefühlen) sowie Akkompagnemente (an den Sprecher selbst gerichtet) — in insgesamt 441 illokutive Akte und auf einer höheren Abstraktionsebene 202 Sprechpläne (im Sinne einer mehrere illokutionäre Akte umfassenden Strategie des Sprechers/ der Sprecherin, z.B. »sich rechtfertigen«, Sprechplan Nr. 100, Wagner 2001, 392-394) unternommen hat, die hier aufgrund ihres Umfangs nicht dargestellt werden kann. Für eine ausführliche Systematik vgl. Wagner 2001. 197 Vgl. Heinemann/Heinemann 2002, 2 2 5 - 2 2 7 . 198 Heinemann/Heinemann 2002, 227.

202

Werbungsschreiben in ihren Gestaltungsmöglichkeiten 2u beschreiben, und sehen in einer weiteren Beschreibung von Textproduktionsprozessen ein Desiderat. Dieser Einschätzung dürfte auch im Blick auf das Seelsorgegespräch zuzustimmen sein. Auch hier könnte eine differenzierte Beschreibung von Intentionen, Typen von Gesprächsbeiträgen und der dabei zur Verwendung kommenden Strategien und Textelemente zur genaueren Wahrnehmung und in der Folge — als daraus entwickelte kasuistische Textund Argumentations-Modelle — nicht nur zur besseren Ausbildung, sondern auch zur Verbesserung der Praxis im Sinne einer konsistenteren und wirksameren Kommunikation beitragen.

5.8 Gesprächsfiguren Einen ersten Schritt in diese Richtung bietet Eberhard Hauschildt in seiner Untersuchung zum pastoralen Geburtstagsbesuch;199 dort benennt er einige aus der Analyse von Gesprächstranskripten gewonnene >Gesprächsfigurem in der Kommunikation zwischen Seelsorgerinnen und Seelsorgern und den Besuchten: Dabei handelt es sich um therapeutische Figuren wie Ambivalenzdarstellung, Selbsttherapie (die Besuchte bearbeitet einen psychischen Konflikt im Gespräch selbst), Psychokiatsch und Therapieverweigerung, sowie um verkündigende Figuren wie Gespräch und Segen, Aufklärung über den Pfarrberuf, Diskussion von Heterodoxie, die [Klärung und] Bewährung von kirchlicher Laienidentität, sowie um eine Figur, die Hauschildt als »Volkskirchlich Handeln« beschreibt, in der nicht mehr theologische Reflexion vollzogen wird, sondern Kontingenzbewältigung ganz im Modus des Small Talk, nämlich im Rahmen eines deklarativen Sprechaktes erfolgt.200 Es ist Hauschildts Verdienst, mit Hilfe soziolinguistischer Methoden die poimenische Wahrnehmung überhaupt auf diese kleinen Formen und Einheiten gelenkt zu haben. Allerdings bleibt sein Umgang mit diesen Formen entsprechend dem Duktus der gesamten Arbeit deskriptiv und auf den Einzelfall bezogen - die genannten Formen finden sich jeweils in nur wenigen Gesprächen wieder. Im Rahmen einer auf die Ausbildung von kasuistischen Modellen ausgerichteten linguistisch-rhetori199 Hauschildt 1996; vgl. Hauschildt 1994. 200 Vgl. Hauschildt 1994, 234-273; 327-366; Günther bleibt in seiner Untersuchung dagegen bei den von der Linguistik bereitgestellten, formaleren und abstrakteren Begriffen für einzelne Gesprächssequenzen, z.B. >Erzählsequenzbest practices Modellen optimieren und zur Anpassung im Einzelfall allgemein zur Verfügung stellen. Das gleiche gilt auch für Peter Bukowski, der als Leiter des reformierten Predigerseminars in seiner seelsorgerlichen Programmschrift >Die Bibel ins Gespräch bringen< die Vorbereitung auf »eine begrenzte Anzahl typischer, das heißt immer wiederkehrender Fragen« fordert, »die Gemeindeglieder von sich aus an uns richten«.201 Für diese Fragen sollten Antworten nicht erst im laufenden Gespräch neu entwickelt werden, sondern vom Seelsorger/ der Seelsorgerin bereits in der Vorbereitung auf seine/ ihre Tätigkeit gefunden und für die Gesprächssituation vorbereitet werden. Bukowski nennt dabei die folgenden typischen Fragen, die er anders als Hauschildt nicht in ihrem konkreten Auftreten innerhalb eines Gesprächs wiedergibt, sondern als allgemeine Zusammenfassung einer Vielzahl ähnlicher Fragen:202 »Was soll am christlichen Glauben schon dran sein, wenn die Kirche doch soviel Unrecht begangen hat?« »Muss man denn jeden Sonntag in die Kirche rennen?« fragt jemand, der selbst an Festtagen nicht regelmäßig im Gottesdienst erscheint. Variante: »Dass ich aus der Kirche ausgetreten bin, hat doch nichts mit meinem Glauben zu tun« sagt einer, der Patenonkel werden möchte. »Wie soll man an die Bibel glauben, sie widerspricht sich doch dauernd?« Die >naturwissenschaftliche< Variante dieser Frage lautet: »Muss man das mit der Rippe eigentlich glauben?« Oder auch: »Wenn Adam und Eva die ersten Menschen waren, wo hatten Kain und Abel dann eigentlich ihre Frauen her?« »Was sollen bloß die verschiedenen Religionen, glauben wir denn nicht alle an einen Herrgott?« »Wenn Gott die Menschen liebt, warum hat er dann überhaupt zugelassen, dass sie sündigen?« Oder: »Das mit dem Baum war doch eine Falle!« »Warum kann Gott nicht auch so vergeben, warum muss er dafür extra seinen Sohn opfern?« »Wie kann Gott das zulassen?« Variante: »Warum trifft es ausgerechnet mich?« Oder auch: »Womit hat XY das verdient?« »Was wird denn aus Erwin, jetzt, wo er tot ist?« »Hilft Beten wirklich?« Auf Bukowskis bei einem Studientag an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn als Kritik an der theologischen Ausbildung zitierte Frage einer Mutter »Was wird denn eigentlich aus Erwin,

201 Bukowski 1994, 47. 202 Vgl. Bukowski 1994, 47f.

204

jetzt, wo er tot ist?«203 hat Hauschildt mehrere mögliche Antworten skizziert. Dabei zeigt er, dass die Frage unterschiedliche Aspekte beinhaltet: [Die Situation wäre] psychologisch lesbar gewesen als Ausdruck der noch nicht erfolgten Ablösung vom Toten; gefragt sind Gesichtspunkte, die helfen, in einen solchen Ablöseprozeß einzutreten (Psychologie der Trauer). Sie wäre symbolisch lesbar gewesen: Die Frage [...] arbeitet mit der Metaphorik von Raum und Zeit und ist innerhalb dieser Metaphorik zu bearbeiten (Symboltheorie). Es wäre klar: Die Antwort muß eine authentische sein und zugleich das Christentum repräsentieren können (Theorie der Rolle des Pfarrers). Und: Die jetzt richtige Antwort hängt von der Lebens- und Deutewelt der fragenden Person ab (Theorie unterschiedlicher ggf. milieuspezifischer Frömmigkeiten). Die richtige Antwort ist nur im Dialog zu finden (dialogische Theologie).204 Je nachdem, welchen Aspekt man in den Vordergrund stellt, sind damit unterschiedliche Antworten denkbar, die zudem einen ersten Versuch darstellen können, der ggf. auf Rückfragen im Dialog erweitert und durch andere Aspekte ergänzt werden kann: [Eine erste Antwort könnte zum Beispiel den für die Frömmigkeitstradition zentralen Ausdruck >Himmel< aufnehmen,] wie etwa: »Er kommt in den Himmel« — und bereit sein zu klären, was denn die Metapher Himmel meinen könnte. Oder: »Sie machen sich auch jetzt Sorgen um Erwin« — und bereit sein, das Ansprechen der Emotionen auch zu verlassen, wenn das Gegenüber nun wissen will, was die Kirche für eine Lehre von den letzten Dingen vertritt. Und dann ggf. zu sagen: »In der Kirche gibt es verschiedene Versuche, auf ihre Frage zu antworten; wir wissen es nicht. Man kann sich vorstellen: es ist wie ein Schlaf, und später einmal werden alle zusammen aufwachen. Mir selber reicht das Vertrauen aus: Erwin kommt irgendwie in Gottes Hand. Und Gott wird es schon richtig machen.« Oder: »In der Bibel gibt es einen Seher, der sieht, daß Gott am Ende der Tage die Tränen von den Menschen abwischen wird und es kein Geschrei und keine Trauer geben wird. Das ist meine Hoffnung. Die gilt auch für Erwin.«205 Die differenzierte Antwort von Hauschildt stellt im Ansatz bereits ein kasuistisches Modell für die angegebene Gesprächssituation dar, das natürlich nicht vollständig ist, sondern der Erweiterung bedarf; so fehlt z.B. eine Ausdifferenzierung nach verschiedenen Milieus.206 Leider wurde 203 Bukowski 2000, 475. Faktisch ist Bukowskis Anfrage an die Fakultät die Frage nach einem rhetorisch fundierten Theologieverständnis, wie es auch G. Otto in Anschluss an M. Josuttis gefordert hatte (s.o. Kapitel 2, Abschnitt 1.2). 204 Hauschildt 2000a, 485. 205 Hauschildt 2000a, 485. 206 So ließe sich z.B. vorstellen, daß bei entsprechendem Interesse im Niveaumilieu (vgl. Schulze 1996, 283—291) auch die Frage der persönlichen Identität über den Tod hinaus wesentlich ausführlicher und im Rückgriff auf philosophisch-anthropologische Identitätstheorien besprochen werden könnte, während im Harmoniemilieu (vgl. ebd., 292—300) z.B. der Verweis auf das Weiterleben im Herzen derer, die den Verstorbenen geliebt haben, sich als hilfreich erweisen könnte.

205

eine solche Vorgehensweise aber bisher in der Seelsorgelehre - auch von Hauschildt selbst — nicht umfassend aufgenommen und umgesetzt; die Kasuistik der Frage nach dem Verbleib von Toten blieb ein durch die Herausforderung Bukowskis provozierter Einzelfall ohne Bedeutung für die poimenische Diskussion. 5.9 Moves and Structures: Textherstellung als Oramaturgie Der für die Interdisziplinarität seiner Studien berühmte amerikanische Literaturkritiker und Rhetoriker Kenneth Burke basiert sein System der Rhetorik auf einer grundlegenden Einsicht, die er mit dem Begriff des dramatism verbindet: Menschen nehmen Realität nicht unvermittelt wahr, sondern ausschließlich vermittelt über sprachliche Zeichen. Darin besteht ihr Unterschied zu anderen Lebewesen und Dingen: »things move, persons act«207 — nur Menschen handeln, indem sie ein Konzept, eine Vorstellung von dem haben, was sie tun. Diese Feststellung bedeutet zugleich, dass die Handlungen eines Menschen wesentlich sprachlich verfasst sind, und gleiches gilt auch für die den Handlungen zugrunde liegenden Motive, die für Burke identisch sind mit einer bestimmten Wahrnehmung der Ausgangssituation durch die handelnde Person: Sie sind sprachlicher Natur und lassen sich in den sprachlich verfassten Handlungen entschlüsseln. Dazu entwickelte Burke ein System von fünf Größen, aus deren Beziehungen zu einander sich Gewichtungen entnehmen lassen, die über die der Handlung zugrunde liegende Situationswahrnehmung (also das Motiv) Aufschluss geben können.208 Die fünf Größen sind dieselben, die auch für die Beschreibung einer Handlung als Drama notwendig sind: Handelnder {agent), Handlung (act), Handlungsmittel {agency), Handlungsrahmen {scope) und Handlungszweck {purpose}.209 Dieses Modell von Burke nimmt der amerikanische Praktische Theologe David Buttrick in seiner Homiletik auf und verbindet es mit weiteren rhetorischen Theorien. Während das Modell von Heinemann und Heinemann relativ abstrakt blieb, gibt Buttrick zwar verallgemeinerbare, aber dennoch sehr ausführliche und konkrete Hinweise zur Grob- und Feinstrukturierung von Predigten, die auch im Blick auf Redebeiträge im Seelsorgegespräch Nutzen versprechen. Dabei verwendet Buttrick neben rhetorischen Theorien u.a. auch die Filmdramaturgie als Modell für die Analyse verschiedener Aspekte der Sprechhandlung >PredigtPentadic Criticism< in Kapitel 4, Abschnitt 1 herangezogen. 209 Vgl. Foss/Foss/Trapp 2 0 0 2 , 1 9 7 - 2 0 4 .

206

spektive einnimmt und diese in der Sprache der Predigt auch zum Ausdruck bringt. Die Predigt wird dabei als eine strukturierte Verknüpfung von einzelnen Schritten, >MovesStatementMove< wirkenden Sätzen zum Ausdruck kommt, um die Aufmerksamkeit der Zuhörenden zu bündeln. Das einleitende Statement lenkt also die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand; es gibt damit zugleich in seinem Wortlaut die Perspektive vor, in der dieser Gegenstand erscheint, sowie eine damit verbundene Stimmung (>moodwahr< und >falsch< enthalten ist, kann der Paradoxie die Zeichenklasse des dicentisch-indexikalischen Legi zugeschrieben werden.« (199) 5) Die rhetorische Frage ist wegen ihres »zum konventionellen Schema erstarrte [n] Gebrauch[s]« der Wissensbegierde »als ein zum Symbol degenerierter Index zu verstehen«, woraus sich die Zugehörigkeit zur Zeichenklasse des dicentischsymbolischen Legi-Zeichens ergibt (200). 6) Neben den Tropen und Schemen kennt die antike Rhetorik auch den (selten gebrauchten) Begriff des Plasma,2i2 das »im Sinne von Charakter als >Stilgattung< verwendet wurde« (201). Ihr ist die Allegorie zuzuordnen aufgrund deren »argumentische[r] Grundlage im Interpretanten, ... [des] Symbolcharakterfs] im Objektbezug sowie ... [der] Verwendung konventioneller Legi-Zeichen als Mittel« (201). 6.3 Die Tropen und Figuren in der antiken Rhetorik Die schmückende Gestaltung einzelner Worte (Tropen)1^ zur Verbesserung der Wirkung erfolgt nach antiker Vorstellung notwendigerweise dadurch, dass ein Wort durch ein oder mehrere andere, wirkungsvollere Worte ersetzt wird. Dabei kann es sich um ein altes, inzwischen ungewöhnliches Wort handeln (Archaismus), das Aufmerksamkeit erregt und, soweit es noch bekannt ist, der Aussage »eine besondere Aura«234 verleihen kann, oder um ein neugebildetes Wort (Neologismus), das durch seinen Klang oder durch ein Wort, von dem es abgeleitet wurde, seinen Sinn erhält, oder aber um (ein oder mehrere) Wort(e), die in uneigentlicher, übertragener Bedeutung gebraucht werden, weil sie in einem bestimmten Zusammenhang zum ursprünglichen Wort stehen (Tropus). Bei den Tropen, die ein bestimmtes Wort in einer bestimmten Hinsicht ersetzen können, unterscheidet man je nach Beziehung zu diesem verschiedene Arten. Auch die Wort- und Satzfiguren (Schemata) werden in der antiken Rhetorik als Abweichungen unterschiedlicher Art vom normalen Sprachgebrauch betrachtet und daher »als Ausdruck von Bewegung, von Affekten, von Leben verstanden: durch die ars rhetorica werden sie zu einem Repertoire an Mitteln oder Verfahren, um Starres (nämlich die logischen Begriffe) lebendig werden zu lassen oder starr Gewordenes (eingefah-

232 Podlewski führt als Beispiel für die Trias Tropos-Schema-Plasma eine Rhetorik-Schrift von Pseudo-Plutarch an; vgl. Podlewski 1 9 8 2 , 1 5 2 Anm. 251. 233 Vgl. Ueding/Steinbrink 1994, 2 8 6 - 2 9 9 . 234 Ueding/Steinbrink 1994, 287.

218

rene res und verba) in neuer Form zu aktualisieren.«235 Als Möglichkeiten der Veränderung stehen gegenüber dem v.a. bei Einzelworten angewandten Austausch (immutatio\ s.o.) bei den Wortverbindungen die Hinzufügung (iadiectio), die Auslassung (detractio) sowie die Umstellung (transmutatid) zur Verfügung; zusätzlich wird in der antiken Rhetorik unterschieden zwischen Veränderungen, die v.a. den exakten Wortlaut betreffen (Wortfiguren, figurae verborum), und Veränderungen, die den Gedankengang in stärkerem Maß beeinflussen (Gedankenfiguren, figurae sententiae). Diese Unterscheidung ist allerdings alles andere als trennscharf; Quintilian verweist darauf, dass manche Rhetoren die damit gegebene Differenzierung nicht mitvollziehen würden.236 In der Gruppe der figurae verborum wird nochmals unterschieden zwischen Figuren, die lediglich ein Abweichen von der üblichen Sprachnorm bedeuten und als grammatische Figuren mit dem Ziel der Abwechslung eingeordnet werden, und der Gruppe der eigentlich rhetorischen Figuren, »die nicht nur auf dem Sprachgebrauch beruht, sondern dem Sinn selbst bald Reiz, bald zudem auch noch Kraft verleiht«.237 Umfang und Grenzen der figurae sententiae sind strittig. So wird Cicero, der seiner Darstellung einen weit gefassten Begriff zugrundelegt, von Quintilian heftig dafür kritisiert, dass er auch Erscheinungen als Figuren auffasse, die zu den Grundlagen jeder Rede gehörten wie z.B. die lichtvolle Erläuterung (illustris explanatio) oder die gliedernde Ankündigung ('propositio); Quintilian schließt auch gegen die Meinung anderer die Bezeichnung der Affekte selbst als Gedankenfiguren aus, da Figuren nie bestimmte Sachverhalte seien, sondern Mittel zu deren Darstellung. Über die intendierte Wirkung der Gedankenfiguren, deren Gebrauch er selbst für den eher sachlichen Redeteil der argumentatio empfiehlt, schreibt Quintilian: Denn wenn es auch am wenigsten für die Beweisführung auszumachen scheint, in welcher Figur der betreffende Gedanke ausgesprochen wird, so macht die Figur doch glaublich, was wir aussprechen, und findet, wo man sie nicht vermutet, ihren Weg zum Herzen der Richter. [ ...] Die Gefühlsregungen nun gar lassen sich durch nichts stärker lenken. Denn wenn schon der Ausdruck der Stirn, Augen und Hände starken Eindruck auf die Erregung der Gemüter macht, wieviel mehr erst der Ausdruck der Rede selbst, wenn er ihr Mienenspiel so zurechdegt, wie es der gewünschten Wirkung entspricht? Am stärksten jedoch wirkt sich die Nützlichkeit der Gedankenfiguren als Mittel zur Empfehlung aus: ob sie für die Person des Prozeßredners werben oder für die Verhandlung günstig stimmen, durch Abwechslung den Überdruß lindern oder bestimmte Stellen anständiger oder harmloser klingen lassen.238 235 236 237 238

Ueding/Steinbrink 1994, 299. Vgl. Quintilian, Inst. orat. IX,1,15. Quintilian, Inst. orat. IX,3,28. Quintilian, Inst. orat. IX,1,19.21.

219

Aus diesen Aussagen wird deutlich, dass die Gedankenfiguren anders als Wortfiguren nicht erst im Stadium der elocutio, sondern bereits bei der inventio eine Rolle spielen; sie sind Argumentations figur und Schmuck zugleich. Gedankenfiguren können durch syntaktische Veränderungen (v.a. durch Wechsel der Satzart zu Frage, Ausruf ...) gebildet werden, oder durch explizite Sinnprä^isierung oder Sinnaussparung, aber auch durch szenische Erweiterung oder Anrede des Publikums die Bedeutung einer Sache steigern oder verharmlosen. Neben den Figuren spielen noch weitere Aspekte bei der sprachlichen Ausgestaltung eine Rolle, die Quintilian unter dem Begriff der compositio zusammenfasst: »Ähnlich wie die Musik versucht, durch bestimmte Klänge und Rhythmen Gefühle hervorzurufen, so versucht dies auch die Rede mit Hilfe der Wortfügungskunst.«239 Dabei unterscheidet Quintilian nach gebundener und ungebundener Rede; letztere beinhaltet z.B. Gespräche und Briefe und ist nicht in gleichem Maße auf die kunstvolle Wortfügung angewiesen wie die gebundene Rede. 6.4 Sprachliche Gestaltung in der Seelsorge: Bilder und Formen als Wegzeichen »Man kann nicht nicht kommunizieren.« — Dieser Satz von Paul Watzlawick ist inzwischen zum kommunikationstheoretischen Allgemeingut geworden. Heute gehen einzelne Stimmen in der Kommunikationswissenschaft noch darüber hinaus und setzen sich mit der in der Rhetorik durch die Jahrhunderte herrschenden Meinung auseinander, es gebe eine >natürliche< Redeweise, der gegenüber die im rhetorischen Lehrstück der elocutio besprochenen Tropen und Figuren einen besonderen Zusatz, eine Art >Redeschmuck< (ornatus) darstellen würden. Der Essener Kommunikationswissenschafder H. Walter Schmitz hat gegenüber einer Unterscheidung von nüchtern-informierender und persuasiver Kommunikation betont, dass »in der kommunikativen Fundamentalhandlung schon eine persuasive Grundstruktur« enthalten sei und folglich »auch die rhetorische Figurenlehre und die darin enthaltene Lehre von den Tropen für sprachliche Kommunikation generell gelten«240 müsse. Dem entspreche auch die empirische Feststellung, dass gerade in der Alltagssprache eine Vielzahl von rhetorischen Figuren und Tropen nachweisbar sei. Entgegen dem verbesondernden Verständnis von Rhetorik als »Kunstlehre der Rede« wären dementsprechend aus kommunikationstheoretischer Sicht die rhetorischen Kategorien, hier insbesondere und exemplarisch betrachtet die Tropen, als elementare Grundprozesse sprachlicher Kommunikation selbst

239 Ueding/Steinbrink 1994, 324. 240 Schmitz 1996,152f; Hervorh. EK.

220

aufzufassen, und zwar als semantische Mechanismen, die für jede Art sprachlicher Kommunikation relevant sind.241 Wenn also der als nüchtern und sachlich zu beschreibenden Redeweise keineswegs ein kategorialer Vorzug gegenüber anderen Redeweisen zukommt, sondern sie lediglich die Wahl einer besonderen Stilart gegenüber ebenso möglichen anderen darstellt, dann stellt sich auch für die Seelsorgelehre die Aufgabe, die verschiedenen sprachlichen Stilmittel hinsichtlich der Angemessenheit ihrer Wirkung auf die seelsorgerliche Situation wahrzunehmen. Auch wenn ein großer Teil der im Seelsorgegespräch wahrnehmbaren Stilmittel eher unbewusst als gezielt eingesetzt wird, kann die stilistische Analyse zeigen, wie aus dem Zusammenspiel der eingesetzten Stilmittel eine bestimmte Aussage erst entsteht und vom Gegenüber in spezifischer Weise aufgenommen werden kann. Unter dem Aspekt der Produktion wäre es allerdings verfehlt, für die Gesprächsbeiträge der Seelsorgerin/ des Seelsorgers eine stilistisch sorgfältig durchkomponierte Gestaltung zu verlangen; dies ist angesichts der Gesprächssituation nicht im voraus möglich und im Gespräch spontan in diesem Umfang nicht leistbar. Die in der Gesprächssituation meist unbewusst bleibende, aus Gewohnheit gespeiste Sprachkompetenz des Seelsorgers/ der Seelsorgerin, die sich in seinen/ihren persönlichen Stilpräferenzen spiegelt, kann allerdings durch Analyse bewusst gemacht und in einzelnen, die Wirkung beeinträchtigenden Aspekten dann durch Übung gezielt verändert werden — z.B. die häufige Verwendung biblischer Metaphern bei Gesprächen mit Menschen, die nur eine rudimentäre biblische Sozialisation erfahren haben. Ebenso lassen sich häufig wiederkehrende Aussagen, wie z.B. die Begründung der Regel, dass aus der Kirche Ausgetretene kein Patenamt übernehmen dürfen, nicht nur im Blick auf die Argumentation, sondern auch im Blick auf die eingesetzten Stilmittel hinsichtlich der beabsichtigten Evidenz optimieren. Wenn es das Ziel von seelsorgerlicher Kommunikation ist, Menschen eine neue Sicht ihrer Wirklichkeit (oder die alte, fraglich gewordene Sicht neu) zu ermöglichen, die sie dann auch zum Handeln befähigt und folglich eine Haltung (habitus) darstellt, dann gilt es nicht nur, in der inventio die bisherige und die angestrebte neue Sicht der Wirklichkeit zu erkunden und in der Dispositio Schritte zur Überführung der einen Sicht in die andere (also: zur Hori^ontverschiebung) zu entwerfen, sondern es gilt auch, diese Schritte in der elocutio in einer Weise zu gestalten, dass die Menschen, denen sie vorgetragen werden, ihnen gerne folgen. Dazu gehört eine aufgrund ihrer weitgehenden Übereinstimmung mit den jeweiligen Hörgewohnheiten einladende sprachliche Gestaltung, die aufgrund einer angemessenen Mischung von Vertrautem und Neuem (nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Formulierung!) leicht zu erfassen und nachzu241 Schmitz 1996, 153.

221

vollziehen ist, ohne dabei durch zu geringen Neuheitswert zu langweilen oder durch zu großen Abstand zum Vertrauten zu überfordern. Während die zuletzt genannten Kriterien sich vor allem auf die grundlegenden Aspekte der Wahl des Redestils sowie der allgemeinen Mittel zur Ausdruckssteigerung beziehen, dient die Unterscheidung einzelner Figuren und Tropen deren Anwendbarkeit zur Unterstützung der konkreten inhaltlichen Aussage durch die Wahl der angemessensten Sprachgestalt. Im Bild vom Weg lässt sich die Wahl von Figuren und Tropen als die Füllung des Zwischenraumes zwischen zwei Wegweisern durch eine Vielzahl von kleinen Markierungen verstehen, die im Idealfall zwar nicht alle exakt in dieselbe Richtung weisen (weil sie an unterschiedlichen Stellen eines Weges stehen, der auch Krümmungen beinhaltet), aber in ihrer Gesamtheit und Abfolge möglichst exakt einen bestimmten Zielpunkt bestimmen.242 Dabei geht es in noch wesentlich stärkerem Maße als unter den Aspekten von inventio und dispositio um die ganzheitliche Ansprache des Gegenübers, d.h. um die Kopräsen^ von Logos, Ethos und Pathos243 im zu findenden sprachlichen Ausdruck. Zwar bieten auch die einzelnen Topoi und deren Zusammenstellung bereits Anknüpfungspunkte für bestimmte Emotionen und Haltungen, aber gerade an der Formulierung im Detail entscheidet sich in vielen Fällen, in welchem Maß und mit welchen Nuancen bestimmte Emotionen und Rollenmuster/Haltungen bei den Gesprächspartnerinnen und -partnern angestoßen werden. 7. Memoria: Nachhaltigkeit

unterstützen

7.1 Memoria in der antiken Rhetorik Unter dem Begriff der Memoria244 wurden in der antiken Rhetorik Mnemotechniken verhandelt, die es dem Redner erleichtern sollten, sich seine Gedanken und die während der Rede geplanten Aktionen einzuprägen. Dass ohne Manuskript gesprochen wird, wurde hier selbstverständlich vorausgesetzt, da ja der Gelehrte notwendig über ein gutes Gedächtnis verfügte245 und dieses auch in der Ausbildung durch ständiges Auswendiglernen und Rezitieren trainiert wurde. Als Mnemotechnik wurde 242 Dieses zielgerichtete Vorgehen stellt dennoch keine Verletzung der Freiheit und Individualität des Gegenübers dar, insofern (a) das Ziel des Gesprächs jeweils im Dialog ausgehandelt und präzisiert wird und (b) dem Gegenüber stets die Freiheit erhalten bleibt, aufgrund eigener Prüfung des Gesagten zu widersprechen und eine andere als die darin zum Ausdruck gebrachte Haltung einzunehmen. 243 Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 2.3 sowie Kapitel 2, Abschnitt 6.2. 244 Vgl. Ueding/Steinbrink 1994, 229f. 245 Vgl. Ueding/Steinbrink 1994, 230.

222

vor allem die Verbindung von Gedanken mit räumlich vorstellbaren Orten empfohlen, z.B. ein Haus, dessen Zimmer den einzelnen Redeteilen entsprechen und deren Ausgestaltung (>MöblierungMemoria< wiedergibt: Simonides [...] sei während eines Gastmahles im Hause des Skopas vor die Tür gerufen worden; in demselben Augenblick, als Simonides das Haus verließ, stürzte es ein. Alle Gäste seien nicht allein getötet, ihre Leichen seien vielmehr bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden. Nur durch die Erinnerung an jene Orte, wo jeder Gast gelegen habe, sei Simonides in der Lage gewesen, die Toten zu identifizieren.247 Das besondere Gewicht liegt dabei auf der Ordnung, im dargestellten Fall der Sitzordnung. Je vertrauter/gewohnter diese Ordnung dem Gedächtnis ist, desto leichter kann sie später wieder rekonstruiert werden, weshalb zumeist vorgeschlagen wird, das eigene Haus oder aber die eigene Stadt als Grundlage für die Orte zu nehmen, die mit den einzuprägenden Gedächtnisinhalten zu verknüpfen sind. Die Gedächtnisinhalte selbst werden mit Hilfe assoziativer Transformationen in Bilder umgewandelt, die dann mit den einzelnen Orten in der richtigen Reihenfolge verbunden werden. Dabei wird empfohlen, Bilder auszuwählen, die in besonderer Weise Aufmerksamkeit erregen, weil sie ungewöhnlich sind oder die eigenen Emotionen ansprechen; Bilder, die mit Emotionen verbunden sind, werden leichter behalten und erinnert.248 7.2 Memoria und kollektives/ kulturelles Gedächtnis Auch in der Gegenwart werden die antiken Hinweise zur Förderung der Gedächtniskunst noch in zahlreichen populärwissenschaftlichen Ratgebern verbreitet. Das wissenschaftliche Interesse hat sich im 20. Jahrhundert jedoch auf den kulturwissenschaftlichen Aspekt der Memoria konzentriert und nach Möglichkeiten und Grenzen eines kollektiven Gedächtnisses gefragt. Grundlegend wurde hier u.a. das Werk des französischen Soziologen Maurice Halbwachs, der die besondere Rolle von Fa246 Vgl. Ueding/Steinbrink 1994, 230. 247 Zitat aus Neuber 2001, 1045; vgl. Cicero, De Oratore II, 353; Quintilian, Inst. XI, 2. 248 Vgl. Neuber 2 0 0 1 , 1 0 4 5 .

223

milie, religiösen Gruppen und gesellschaftlichen Klassen für das kollektive, aber auch für das individuelle Gedächtnis darlegte: [Die in diesen Gruppen gebräuchlichen] Namen, Riten und Symbole sind nicht äußerliche Speichermedien oder historisches Sediment, sondern Voraussetzung für die Selektion und Strukturierung gegenwärtiger Erfahrungen in Relation zu ihrem geschichtlichen Kontext. Dazu treten geschichtliche Überlieferung, Zeitund Raumvorstellungen. Individuelle Erinnerung ist, wenn sie nicht bewußt reflektiert wird, häufig nichts als die Repräsentation kollektiven Wissens, wie es sich im Prozeß der gesellschaftlichen Interaktion unbemerkt akkumuliert.249 Im Anschluss an Halbwachs und in Aufnahme philologischer und philosophischer Forschungen zum Vergleich mündlicher und schriftlicher Uberlieferungstechniken haben die Konstanzer Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann und der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann nach den Möglichkeiten zur Weitergabe kultureller Überlieferungen gefragt. Dabei stellten sie fest, dass zwar in skripturalen Gesellschaften die Überlieferung nicht mehr durch performative Wiederholung erfolge, sondern durch dauerhafte Speicherung vermittels der Schrift. »Da Schrift selbst jedoch kein Gedächtnis ist, sondern nur dessen Medium, muß eine bestimmte Form von Erinnerungskultur dem Speicher dort zuhilfe kommen, wo eine besonders lange zerdehnte Kommunikation den primären Sinnzugang nicht mehr erlaubt«.250 Im Rahmen der Intertextualitätstheorie, wie sie z.B. Renate Lachmann entwickelt hat, werden dagegen Texte nicht nur als Medium der Erinnerung verstanden, sondern ihnen wird selbst ein Gedächtnis zugeschrieben, »das durch intertextuelle Bezüge auf die Vergangenheit konstituiert ist«.251 Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass Erinnern auf der Basis dieses systemischen Gedächtnisbegriffs nicht lediglich im Bewahren von Texten erfolgt, sondern auch im Modus der Umschreibung und Aktualisierung, weil darin neue Verweise auf die vorausgehenden Texte geschaffen werden. Überblickt man die vielfaltigen Verbindungslinien zwischen der ursprünglich auf den Redner bezogenen individuellen Memoria und dem kulturellen Gedächtnis, so überrascht es nicht, dass auch die Verbindung von Memoria und Topik zum Forschungsgegenstand wurde. So hat Ernst R. Curtius »Topik als Restitution eines kollektiven Gedächtnisses«252 bezeichnet und entsprechend den Arbeitsschritt der inventio als Erinnerungsakt verstanden.

249 250 251 252

224

Neuber Neuber Neuber Neuber

2001,1075. 2001. 1076. 2001, 1076. 2001, 1076.

7.3 Memoria und Seelsorge: Die Frage nach Einfachheit und Einprägsam/zeit Die besondere Bedeutung der rhetorischen Memoria-Lehre und ihrer modernen Erweiterungen liegt m.E. weniger in den Techniken zum Gedächtnis-Training, als vielmehr darin, dass sie die Aufmerksamkeit auf den Aspekt des >Im-Gedächtnis-Behalten< lenkt. Dabei geht es nicht nur um die angemessene Vorbereitung des Seelsorgers/ der Seelsorgerin, sondern zumindest im gleichen Maß um die Rezeptionsmöglichkeiten der Menschen, denen er/sie in der Seelsorgepraxis begegnet. Sowohl bei der Konzeption einzelner Gesprächsbeiträge als auch bei deren sprachlicher Ausgestaltung erscheint es sinnvoll, sich die Kriterien für leichtere Merkbarkeit in Erinnerung zu rufen, um nicht eine nachhaltige Wirkung schon dadurch zu verschenken, dass aus der komplexen Argumentation lediglich ein unbestimmtes, wenn auch positives Gefühl in der Erinnerung der Gesprächspartnerinnen und -partner zurückbleibt. Zwar wird auch ein solches Gefühl nicht gering zu schätzen sein im Blick auf das Ziel der (wieder-)herzustellenden Gemeinschaft, aber wenn es notwendig sein sollte, eine durch Horizontverschiebungen bedrohte Gemeinschaft zu erhalten oder gemeinsame Uberzeugungen im Blick auf bestimmte Werte zu etablieren, dann wird es vor allem darum gehen, die nötigen gedanklichen Anpassungsprozesse im Dialog so vorzunehmen, dass die wichtigsten Schritte auf dem gemeinsamen Weg vom Gesprächspartner/ der Gesprächspartnerin auch langfristig immer wieder allein wiederholt werden können. Der Dreischritt der mnemotechnischen Kriterien Orte - Ordnung Bilder hat seinen Schwerpunkt zunächst in der inventio\ hier muss der Gegenstand mit Hilfe der Topik mit Orten verknüpft werden (zumeist im übertragenen Sinne, d.h. mit Gemeinplätzen, die diesem speziellen Gegenüber vertraut und von ihm/ihr anerkannt sind; denkbar wären aber auch konkrete Orte, wie z.B. ein Denkmal, ein Bild in der Wohnung oder ein Gegenstand im Kirchenraum), die dann in eine für diese Gesprächspartnerin/ diesen Gesprächspartner vertraute Ordnung (im Sinne eines vertrauten Musters der Argumentation bzw. der Abfolge von Gedanken) gebracht werden. Während der erste Schritt eher auf den materialen Aspekt der Topik zielt, greift der zweite Schritt auf deren formalen Aspekt sowie auf die Dispositio zurück. Neben inventio und dispositio ist aber auch die elocutio als konkrete sprachliche Ausgestaltung betroffen, wenn es darum geht, die gefundenen Argumente und ihre Ordnung durch Verwendung möglichst einprägsamer, d.h. Aufmerksamkeit erregender und emotional wirksamer, Bilder (Tropen) zu optimieren, sowie die Anordnung der Bilder durch entsprechende rhetorische Figuren zu unterstützen.

225

8. Actio: Begehung

ausdrücken

8.1 Actio in der antiken Rhetorik Am Abschluss des Prozesses zur Erstellung einer Rede steht deren Vortrag,253 wozu auch die Gestaltung der Rahmenbedingungen (soweit möglich) und die gesamte nonverbale Kommunikation während der Rede (z.B. auch die Präsentation von Zeugen oder Indizien) gerechnet wurde. Im Laufe der Zeit hat sich eine Unterscheidung zwischen dem stimmlichen Vortrag der Rede (pronuntiatio) und den die Rahmenbedingungen gestaltenden und nonverbalen Elementen {actio) herausgebildet. Dem Vortrag wird im Blick auf die Wirkung die größte Bedeutung innerhalb der fünf Produktionsstadien zugemessen. Zur Uberzeugungskraft gehört dabei auch die emotionale Wirkung auf die Zuhörenden in Ethos und Pathos. Während Ethos die Glaubwürdigkeit des Redners bezeichnet, die in der Rede zum Ausdruck kommen soll »als Emotion des Wohlwollens, der Freundlichkeit, der Geneigtheit, auch offenbar der Gelassenheit«,254 beschreibt Pathos die Erregung heftiger Gefühle (z.B. Angst, Trauer, Wut, Abscheu etc.) bei den Zuhörenden. Quintilian erinnert daran, dass deren Erregung und Steuerung eine besondere Fertigkeit des Redners verlangt; »diese Aufgabe kennt kein Mittleres, sondern entweder erzielt sie die Tränen oder — Gelächter«.255 Die für die sprachliche Ausgestaltung der Rede geltenden Unterschiede zwischen attischem und asianischem Stil entfalten ihre Wirksamkeit auch auf dem Gebiet der Actio, und zwar im Blick auf die Frage, wie >theatralisch< ein Redner auftreten soll, d.h. wie eng er sich beim Vortragen seiner Rede an die Praxis der zeitgenössischen Schauspielkunst anlehnen soll und darf. Von Cicero wurde der seit dem 2. Jh. v.Chr. übliche asianische Stil der Rhetorik-Schulen mit seiner starken stimmlichen und rhythmischen Ausgestaltung sowie theatralischen Gestik und Mimik entschieden abgelehnt. Er verlangt, das Mienenspiel während der Rede unverändert zu lassen und lediglich mit den Augen die empfundenen Emotionen auszudrücken; die Gestik solle »nicht - wie beim Schauspieler und Pantomimen, das Gesagte ausdrücken, sondern die Worte nur unterstreichen, den Inhalt und die Gedanken nur andeuten«.256 Das Hauptmittel des Redners ist für ihn die Bewegung und der Klang der Stimme; es gibt nach seiner Auffassung »ebenso viele Stimmbewegungen, als es Gemütsbewegungen gibt, und die Gemüter werden durch die Stimme stark beeinflußt. [...] Darum wird jener hervorragende Red253 254 255 256

226

Vgl. Ueding/Steinbrink 1994, 2 3 0 - 2 3 2 . Dockhorn 1968, 53; vgl. Ueding/Steinbrink 1994, 231. Quintilian, Inst. Orat. VI, 1,45, vgl. Ueding/Steinbrink 1994, 232. Steinbrink 1992, 47.

ner seinen Stimmklang ständig wechseln und ändern, die ganze Skala wird er durchlaufen, seine Stimme bald hebend, bald sie senkend«.257 Auch Quintilian grenzt sich vom asianischen Stil ab, räumt aber ein, dass sich eine etwas lebhaftere Vortragsweise als von Cicero gefordert allgemein eingebürgert habe. Für ihn ist besonders wichtig, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln angemessen umgehen zu können, weshalb er auch in die Ausbildung des idealen Redners Schauspielunterricht (Aussprache, Mimik, Gestik) ebenso einbezieht wie Tanzunterricht für Bewegungen und Gebärden. V o n den dabei erworbenen Techniken dürfe der Redner freilich später »nur eine Spur«258 zeigen. E s geht nicht um die bloße Darstellung großer Gefühle in der Rede, sondern »[d]er Redner muß die Affekte, die er bei seinem Zuhörer hervorrufen will, ... selbst empfinden, es ist für ihn nötig, >sich richtig ergreifen zu lassen, die Bilder der Geschehnisse in sich aufzunehmen und sich rühren zu lassen, als wären sie wirklich««.259 Die Gestik muss mit der Stimme im Einklang stehen und damit ebenso wie diese den Anforderungen an die Rede insgesamt genügen, nämlich »fehlerfrei, deutlich, schmuckvoll und passend«260 sein. Dazu gehört auch, dass sie sich im Ausmaß den einzelnen Redeteilen anpasst: Bescheidenes Gebärdenspiel und eine maßvolle Stimme empfehlen sich für die Einleitung, in der sich der Redner selbst einführen muß. Der Er2ählteil (narratio) fordert bereits ausgeprägte Gebärden, eine hellere Stimme und einfache Klangfarben. Die Beweisführung {argumentativ) ist am abwechslungsreichsten und vielfältigsten; da sie meist lebhaft und energisch ist, empfiehlt sich eine entsprechende Afctio], Exkurse (egmsiones) sollten ruhig und gelöst vorgetragen werden. Der Epilog verlangt, wenn er der zusammenfassenden Aufzählung (enumeratio) dient, einen gleichmäßigen Vortrag. Kommt es dabei zur Evozierung von Affekten, wird die Afctio] lebhaft und bewegt.261 Um das Publikum für sich zu gewinnen und zu überzeugen reicht es nach Quintilian nicht aus, nur auf Stimme, Mimik und Gestik zu achten. Auch Kleidung und der gesamte Eindruck, den das Äußere des Redners auf die Zuhörenden macht, wirken dabei mit und müssen deshalb einbezogen werden. Letztlich sind alle einzelnen Elemente nur Teilaspekte, vermittels derer dem Publikum eine Haltung, ein Habitus {Ethos) des Redners präsentiert wird.262 257 Cicero, Orator 17,55; 18,59. 258 Steinbrink 1992, 49. 259 Steinbrink 1992, 49f mit einem Zitat aus Quintilian, Inst. Or. XI,3,62. 260 Steinbrink 1992, 49. 261 Steinbrink 1992, 50. 262 Im Zusammenhang mit der Forderung nach der Präsentation einer in sich stimmigen Haltung wird m.E. auch der Grund für die deutliche Abgrenzung von der Schauspielkunst einsichtig: Während der Schauspieler grundsätzlich eine Welt präsentiert, die vom Publikum als besondere, von der eigenen Realität unterschiedene Welt vorausgesetzt wird, erwartet man vom Redner, dass er die gemeinsam

227

8.2 Actio als Gestaltung von Ausdruck — moderne Ansätze In den Rhetorik-Lehrbüchern des 20. Jahrhunderts wird zwar die Bedeutung des Ausdrucks für die Wirkung des Vortrags unvermindert hoch eingeschätzt, dabei spielen jedoch einzelne Regeln zur Gestaltung von Stimme, Mimik oder Gestik praktisch keine Rolle mehr sondern werden der individuellen Anpassung an den eigenen Charakter anheim gestellt. »Es gibt zwar offensichtliche Fehler im Gebärdenspiel, die ein Redner zu vermeiden hat, da sie zur Lächerlichkeit führen können, nicht aber verbindliche, von der Person losgelöste Vorschriften zur Gestik oder Mimik.«263 Dem entspricht es, dass die Ausdruckspsychologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Mimik und Gestik »als Äußerungsformen seelischer Vorgänge, als Bild der Emotionen« versteht und damit ähnlich wie schon Cicero und Quintilian den Schwerpunkt auf die Übereinstimmung von Person des Redners und Ausdruck der (tatsächlich empfundenen) Emotionen in der Rede legt. Neuere Forschungen zu Körpersprache und nonverbaler Kommunikation in der Kinesik unterstreichen noch die Bedeutung von Stimme, Mimik und Gestik für die menschliche Kommunikation und werden insbesondere in der populärwissenschaftlichen Ratgeber-Literatur zur angewandten Rhetorik, z.B. bei Managerschulungen, in entsprechenden Übungen praktisch umgesetzt. So betont der Pantomime Samy Molcho, Seminarleiter und Autor zahlreicher Bücher zur Körpersprache, den engen Zusammenhang von Emotion und Ausdruck: Was wir sind, sind wir durch unseren Körper. Jede innere Bewegung, Gefühle, Emotionen, Wünsche, drücken sich durch unseren Körper aus. Was wir Körperausdruck nennen, ist der Ausdruck innerer Bewegungen.264 Dabei weist Molcho auch darauf hin, »daß wir den größeren Teil der Mimik, Gebärden und Gesten, mit denen wir uns gegenüber anderen ausdrücken, durch Nachahmung oder Erziehung (uns) angewöhnt ha-

erfahrbare Realität zur Darstellung bringt - wenn auch unter einer bestimmten Perspektive, die sich von der eigenen unterscheiden mag. Während einem Schauspieler also zugestanden bzw. von ihm erwartet wird, verschiedene, sich widersprechende Rollen für eine begrenzte Zeit möglichst perfekt zu übernehmen und anschließend wieder abzulegen, wird von einem guten Redner erwartet, dass er in seiner Rede seiner eigenen Person treu bleibt, d.h. auch über die begrenzte Zeit des Vortrags hinaus derjenige bleibt, als der er sich in der Rede darstellt. 263 Steinbrink 1992, 72. 264 Molcho, Samy: Körpersprache. München 1984, 21. In der Praktischen Theologie wurden ähnliche Aussagen zur engen Verbindung von Leiblichkeit und Bewusstsein (in seinen emotionalen wie kognitiven Aspekten) jüngst in Anlehnung an G.H. Meads Theorie der Gesten von W.-E. Failing und H.-G. Heimbrock vorgetragen; vgl. den Abschnitt »Kommunikation in Bewegung« in Failing/Heimbrock 1998, 5 0 - 5 8 , v.a. 51 ff.

228

ben. Sie dienen dazu, unsere Gefühle darzustellen, und sind, bei aller Subjektivität [...] ein allgemein verbindlicher Code«.265 8.3 Actio und Seelsorge: Durch Ausdruck Begehung gestalten Auch wenn man die von Molcho postulierte Eindeutigkeit beim Verständnis von körperlichen Ausdrucksformen angesichts der schon in der verbalen Sprache innerhalb einer Gesellschaft sehr vielfaltigen, milieuund subkulturbezogenen, außerhalb der jeweiligen Gruppe kaum mehr verständlichen Sprachspiele für nicht gegeben erachten muss, sollte die Intersubjektivität und Sozialisationsabhängigkeit von Körpersprache auch in der seelsorgerlichen Kommunikation berücksichtigt werden. Ziel ist dabei weniger der bewusste und geplante Einsatz von Gesten zur Erzeugung bestimmter Wirkungen beim Gegenüber, als vielmehr die Vermeidung von der verbalen Kommunikation widersprechenden nonverbalen Signalen. Es geht also um die Frage der Kohärenz von verbaler und nonverbaler Kommunikation; weil letztere aber grundlegend eine Kommunikation von Persönlichkeit und Haltungen darstellt, geht es damit immer um die Stimmigkeit (aptum) in der Kommunikation des rednerischen Ethos, der Persönlichkeit des Seelsorgers/ der Seelsorgerin in Relation zu seinem/ihrem Gegenüber. Es ist aber nicht nur die Relation des Seelsorgers/ der Seelsorgerin zu seinem/ihrem Gegenüber, die unter dem Aspekt der Actio betrachtet wird. Noch grundlegender ist es vielmehr die Relation des Seelsorgers/ der Seelsorgerin zur Sache und zur Situation, die den Gegenstand des Gesprächs darstellt. Schließlich geht es beim Halten der Rede nach den Vorstellungen der klassischen Rhetorik darum, diese Relation für das Publikum präsent werden zu lassen und sie durch eine angemessene Präsentation als so plausibel erscheinen zu lassen, daß sie von den Zuhörenden als eigene Haltung übernommen wird. Der Einsatz von Stimme, Mimik und Gestik sowie weiterer wahrnehmbarer Ausdrucksmittel wie Kleidung, Körperhaltung, mitgebrachte Personen oder Gegenstände (für die Seelsorge z.B. ein Geburtstagsgeschenk oder eine Erbauungsschrift), dient dazu, nicht nur den verbal leichter darstellbaren kognitiven, sondern auch den emotionalen Anteilen dieser Haltung möglichst wirksam und umfassend Präsenz zu verschaffen. Der Aspekt der Actio richtet sich also auf die Haltung gegenüber einer bestimmten Sache/Situation und einer zu dieser Sache/Situation in Beziehung stehenden Person, die Seelsorgerinnen und Seelsorger in einer bestimmten Gesprächssituation zum Ausdruck bringen. Angesichts der Notwendigkeit, sich deutlich vom Schauspieler zu unterscheiden, ist 265 Steinbrink 1992, 74, mit Verweis auf Molcho, Samy: Körpersprache. München 1984, 63.

229

dabei eine Übereinstimmung von der dem Redner/ der Rednerin grundsätzlich eigenen Haltung und der zum Ausdruck gebrachten Haltung notwendig. Daher spielen neben dem eigenen Kommunikationsinteresse und den Begrenzungen der Möglichkeiten durch das Publikum und die zur Rede stehende Sache/Situation auch die in der eigenen Person liegenden Begrenzungen eine Rolle. Die grundlegenden Fragen für die Betrachtung des Seelsorgegesprächs unter dem Aspekt der actio lauten daher: (1) Welche Haltung gegenüber der in Frage stehenden Sache/ Situation möchte ich meinem Gegenüber empfehlen und daher im Gespräch selbst einnehmen? (2) Welche Haltung möchte ich im Umgang mit der in Frage stehenden Sache/ Situation gegenüber meinem Gesprächspartoer/ meiner Gesprächspartnerin einnehmen? (3) Welche Einschränkungen für die beiden angestrebten Haltungen ergeben sich aus den Kenntnissen und Erwartungen meiner Gesprächspartnerin/ meines Gesprächspartners in Bezug auf meine Person? (4) Welche Einschränkungen für die beiden angestrebten Haltungen ergeben sich aus den Kenntnissen und Erwartungen meiner Gesprächspartnerin/ meines Gesprächspartners in Bezug auf die in Frage stehende Sache und/oder Situation? (5) Welche Beschränkungen für die beiden angestrebten Haltungen ergeben sich aus meinem eigenen Selbstbild, meinen Emotionen und Vorstellungen?

8.4 Exkurs: Begehung gestalten im Wechsel von Rede und Gegenrede Eine Besonderheit des Seelsorgegesprächs gegenüber der rhetorischen Standardsituation der Rede liegt in der direkten Interaktion zweier Gesprächspartner, d.h. in der Abfolge von Rede und Gegenrede. Für die rhetorische Reflexion ist dies nicht nur dahingehend von Bedeutung, dass durch die Möglichkeiten zur direkten Reaktion des Gesprächspartners/ der Gesprächspartnerin Daten für die inventio gesammelt und Argumentationsstrukturen bzw. sprachliche Formulierungen aufgrund unerwarteter Reaktionen korrigiert werden können. Auch das Verhalten im Zusammenhang mit der Interaktion selbst wird zum Ausdruck für eine bestimmte Haltung gegenüber der Gesprächspartnerin/ dem Gesprächspartner und gegenüber der in Rede stehenden Sache bzw. Situation. 8.4.1 Der Wechsel von Redebeiträgen in der Konversationsanalyse Für die Seelsorge hat E. Hauschildt266 in seiner soziolinguistischen Analyse von pastoralen Geburtstagsbesuchen bereits eine Reihe im Gespräch wirksamer interaktiver Mechanismen herausgearbeitet. Hauschildt nimmt 266 Hauschildt 1996.

230

dabei auf die ethnomethodologischen Theorien der Konversationsanalyse Bezug,267 die sich mit der Mikrostruktur von Gesprächen beschäftigen und darauf untersuchen, wie ein Gespräch durch das kontinuierliche Abstimmen des Teilnahmeverhaltens konstituiert wird. Die Mikrostruktur wird nach dieser Theorie bestimmt von einzelnen >turnsturn-taking< läßt sich auch aus der Perspektive der hörenden Person beschreiben: Während das Gegenüber spricht, hat sie entweder die Möglichkeit, dann einen turn zu beginnen, wenn ihr der turn vom Redenden zugeteilt wird. Sie kann außerdem, wenn der Redende seinen turn beendet hat, sich den neuen tum nehmen. Denkbar ist auch, daß sie den Redenden einfach unterbricht. Dann aber wird dieser neue turn eben gerade explizit als auf den alten bezogen eingeführt werden: »Tschuldigung, aber ...« — womit angezeigt wird, daß das Rederecht des anderen verletzt [...] wird und dafür eine Begründung geliefert werden muß.268 Gerade im Umgang mit Störungen wie der zuletzt beschriebenen lässt sich weiter feststellen, dass von Seiten der Redenden grundsätzlich ein Interesse besteht, den eigenen turn auch zu Ende zu führen. Wird innerhalb des gerade laufenden turn für die redende Person ein Änderungsbedarf sichtbar, so ergibt sich ein System von Präferenzen, wie mit dieser Störung am besten umzugehen ist: Vorgezogen wird die Selbstkorrektur; wird die Korrektur durch das Gegenüber initiiert, dann wird die Selbstdurchführung der Korrektur dem vorgezogen, daß das Gegenüber die Korrektur vollzieht. Grammatikalische Inkongruenzen bei solchen Korrekturen werden in Kauf genommen, weil der Vorteil, das Rederecht zu behalten und also den turn tatsächlich auch auszuführen, Priorität hat.26" Die Bedeutung einzelner turns wird dabei erst deutlich, wenn er im Zusammenhang mit dem darauffolgenden turn (d.h. innerhalb einer Se267 Hauschildt verweist hier v.a. auf die Arbeiten von Harvey Sacks, Emanuel Α. Schegloff, Gail Jefferson sowie die Überblicksdarstellungen von Jürgen Streeck (Konversationsanalyse - ein Reparaturversuch. In: Zs. f. Sprachwissenschaft, Jg. 2 [1983], H.l, 7 2 - 1 0 4 ) und John C. Heritage (Recent developments in conversation analysis. In: Sociolinguistics 15 [1985], 1 - 1 9 ) ; vgl. Hauschildt 1996, 9 8 - 1 0 5 . 268 Hauschildt 1 9 9 6 , 1 0 0 . 269 Hauschildt 1996, 101.

231

quenz) betrachtet wird; der folgende turn signalisiert im inhaltlichen Eingehen oder gerade Nicht-Eingehen auf den vorausgegangenen, welche Wahl innerhalb eines Spektrums von Ablehnung über Ignorierung bis hin zu entschiedener Zustimmung das Gegenüber in der Bewertung des turn getroffen hat. Mit Rückgriff auf die Untersuchung eines Gesprächs zwischen Krankenhausseelsorger und Patient durch den Linguisten Heiko Hausendorf zeigt Hauschildt, dass sich anhand solcher Sequenzen auch das Aushandeln von Charakter und Inhalt des Gesprächs zwischen den Beteiligten rekonstruieren lässt. 8.4.2 Sprachliche Interakdonsformen im darstellenden Gespräch Bei der beschriebenen mikrostrukturellen Analyse von Tonbandprotokollen pastoraler Geburtstagsbesuche arbeitet Hauschildt drei Formen von Interaktion heraus, die im Zusammenhang mit der Darstellung eines Sachverhalts durch einen der beiden Gesprächspartner zu beobachten sind. Die einfachste Form bildet die Darstellungsgewährung™ die Hauschildt mit dem Modus des Berichts verknüpft. Auch in dieser Form, bei der im wesentlichen eine der beiden Personen redet und die andere zuhört, bleibt die zuhörende Person keineswegs stumm; vielmehr signalisiert sie immer wieder akdv ihre Zustimmung zur weiteren Darstellung (z.B. durch Äußerungen wie >mh-m< oder >jaja< ist weniger auffällig als z.B. die Wiederholung der Worte des Gegenübers oder eine kurze Kommentierung) als auch nach ihrer Reichweite: Ein »hm< oder »ja< etwa kann bedeuten: (a) »Ich höre dich« (Zustimmung zur akustischen Präsenz des Sprechers). (b) »Ich höre deine Worte« (Zustimmung zur verbalisierten Präsenz des Sprechers). (c) »Ich verstehe, was du sagst« (Zustimmung zum verbalisierten Sachverhalt). (d) »Ich sehe ein, was du sagst« (Zustimmung zur verbalisierten Präsenz einer Wertung). (e) »Ich stimme zu« (Zustimmung zur Wertung eines Sachverhalts). 271

Solche Signale der Darstellungsgewährung können auch von der redenden Person induziert werden, indem diese ihrerseits einen turn mit bestimmten Signalen beendet, wie z.B. den Fragepartikeln >gellodernja aber< zur (formalen) Konfüktminimierung.273 Neben der Verbindung von Zustimmung und Negation (>ja, aberHandwerkszeugzum alten Eisen gehören< und abgeschrieben sind, reicht oft tatsächlich der Besuch eines als Repräsentanten von Kirche oder bürgerlicher Gemeinde akzeptierten Menschen aus, um die in dieser Vorstellung liegende Kränkung zu überwinden und neues Vertrauen in fortbestehende Gemeinschaft zu ermöglichen. 9. Fa%it: Die Bedeutung der Rhetorik für die Seelsorge Die Ausführungen in diesem Kapitel haben gezeigt, dass die Rhetorik als Theorierahmen die Integration einer Vielzahl für die Seelsorge relevanter einzelner Theorieelemente aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen ermöglicht und deren Bezug auf die Situation des Seelsorgegesprächs durch den Fokus auf wirksames Reden als Sprechhandeln herstellt. Wo genau die Bezüge zur Seelsorgesituation liegen, ist bei der Besprechung der einzelnen rhetorischen Arbeitsschritte jeweils dargelegt worden und kann hier nicht im Einzelnen wiederholt werden. Hingewiesen sei an dieser Stelle lediglich noch einmal auf einige m.E. besonders wichtige Punkte; dabei ist an erster Stelle die Bedeutung der Topik zu nennen: die Überzeugungskraft von Gemeinplätzen in entsprechend prägnanter und symbolischer Gestalt ist für Seelsorge, die ihre Aufgabe in der Herstellung von Übereinstimmung im Blick auf gemeinsame Werte (d.h. gemeinsame Vorstellungen davon, was in der Gemeinschaft als gutes oder besseres Leben gilt) hat, die entscheidende Ressource (inventio). Zum Erreichen ihrer Wirkkraft müssen die im Gespräch verwendeten Topoi jedoch eingebunden sein in einen Gesprächsverlauf, der insgesamt schlüssig und einleuchtend erscheint und damit die Aussagen einzelner Teile und Topoi stützt und zugleich interpretiert (dispositio). Unterstützt wird die Wirkkraft weiterhin durch eine möglichst einfache, leicht verständliche Sprache, die ergänzt wird durch bildhafte und zugleich prägnante Formulierung einzelner Spitzensätze (elocutio). Durch die einfache und bildhafte Sprache und eine klar erkenndiche Struktur steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass das Gesagte bei den Gesprächspartnerinnen und -partnern über das Gespräch hinaus präsent bleibt und wirkt {memoria). Nicht zu unterschätzen ist dabei die Wirkung der nonverbalen Signale, die der Seelsorger/ die Seelsorgerin im Gespräch unvermeidlich durch Stimme, Haltung, Verhalten, Kleidung u.a.m. übermittelt. Je weniger hier widersprüchliche Botschaften transportiert werden, je mehr das ganze Auftreten die inhaltliche Botschaft

237

stützt, desto leichter kann sie von den Gesprächspartnerinnen und -partnern aufgenommen werden {actio). Grundsätzlich wurde jedoch beim Durchgang durch die Vielzahl rhetorischer Elemente deutlich, dass die Rhetorik eben vor allem dies leistet - einen Theorierahmen und damit verbunden Fragerichtungen zu liefern, die für die einzelnen rhetorischen Situationen jeweils auf unterschiedliche Weise mit inhaltlichen Konkretionen zu füllen sind. Für die Situation des Seelsorgegesprächs ist dies bisher kaum geschehen und stellt daher ein dringendes Forschungsdesiderat dar. Dabei ist besonders die Notwendigkeit einer Wiederbelebung praktisch-theologischer Kasuistik auf wissenschaftlichem Niveau sichtbar, wie sie aus der Verbindung von Rhetorik und modernen Theorien von Sprachhandlungen (z.B. interaktionell konzipierter Textlinguistik) jetzt entwickelt werden kann. Die neueren Darstellungen zur Topik als alternativem Bezugsystem zu einer rein aus formalen Regeln entwickelten Logik haben gezeigt, dass die Praktische Theologie mit der Übernahme moderner naturwissenschaftlicher Standards sich eines Ballasts entledigt hat, der sich angesichts des Paradigmenwechsels zur Postmoderne teilweise als Nutzlast herausstellt und dringend wieder reaktiviert werden sollte. In diesem Kapitel wurde primär der Produktionsaspekt von Seelsorge, d.h. die Gestaltung seelsorgerlicher Gespräche, auf das rhetorische Theoriegebäude bezogen. Im folgenden Kapitel soll dagegen anhand der Analyse einiger ausgewählter verschriftlichter Seelsorgegespräche gezeigt werden, dass und wie die Rhetorik auch zur poimenischen Analyse einen methodischen Beitrag leisten kann.

238

Kapitel 4: Rhetorische Gesprächsanalyse Von ihrer Anlage her ist Rhetorik von Anfang an produktionsorientiert; sie soll der Verbesserung rednerischer Praxis und der Ausbildung von Rednern dienen.1 Zur Ausbildung wurden aber schon bald auch die Niederschriften von bereits gehaltenen und überlieferten Reden großer Redner herangezogen, die intensiv studiert wurden, um die verwendeten rhetorischen Mittel und Techniken zu erkennen und in einem zweiten Schritt nachahmen und damit zur vollständigen Beherrschung und eigenständigen Praxis gelangen zu können.2 Insofern hat auch die Praxis der rhetorischen Textanalyse eine lange Tradition, und mitderweile hat sich die Richtung auch umgekehrt, so dass Methoden, die Texte auf die in ihnen faktisch vorkommende Rhetorizität befragen, im Nachhinein in Methoden zur Textproduktion und -Optimierung überführt werden. Entsprechend der Vielzahl rhetorischer Mittel und Techniken gibt es auch eine Fülle von Analysemethoden, die jeweils unterschiedliche Ziele verfolgen und unterschiedliche Aspekte rhetorischen Handelns herausarbeiten können. Eine Reihe von derzeit in der amerikanischen Rhetorik als üblich anerkannten Methoden hat die Kommunikationswissenschaftlerin Sonia Foss3 für Studierende zusammengestellt. Dabei weist sie darauf hin, dass die grundlegende und zugleich >klassische< Analyse immer noch an den fünf rhetorischen Produktionsschritten inventio — dispositio — elocutio — memoria — actio orientiert ist und das vorliegende Endprodukt darauf hin analysiert, welche rhetorischen Elemente in den einzelnen Schritten der Erstellung zur Anwendung kamen. Alle weiteren Techniken konzentrieren sich eher darauf, einzelne Aspekte im Detail zu analysieren, wobei sich die interessierenden Aspekte auf einen oder mehrere Erstellungsschritte beziehen oder auch völlig quer dazu liegen können. Eine Schwierigkeit aller Analyseverfahren Hegt darin, dass sie, sofern sie wissenschaftlichen Standards genügen sollen, nachvollziehbar sein und sich deshalb auf eine auch anderen zur Analyse verfügbare Gestalt des analysierten Gegenstands beziehen müssen. Für mündliche Kommunikation bedeutet dies, dass sie aus der Flüchtigkeit der rednerischen actio in ein Medium überführt werden muss, das sie auf Dauer stellt, im

1 Vgl. die Darstellung bei Barthes 1988, bes. 19f für die Anfänge der Rhetorik als Metasprache. 2 Vgl. Ueding/Steinbrink 1994, 328ff mit Verweis auf Quintilians Inst. Or. X,l, wo die Ausbildung durch exempla breit behandelt wird. 3 Foss 1989.

239

Normalfall also verschriftlicht.4 Dabei gehen unweigerlich bestimmte Aspekte der Interaktion, wie sie die am Gespräch Beteiligten erleben, verloren, während andere Aspekte in den Vordergrund treten; die verschiedenen dazu verwendeten Techniken beinhalten jeweils eigene Vor- und Nachteile. Die im Zusammenhang mit Seelsorgegesprächen heute am meisten verwendete Form des Verbatims entsteht, indem der Seelsorger/ die Seelsorgerin sich im Anschluss an das Gespräch möglichst wörtliche Aufzeichnungen über den Verlauf macht, wobei auch eigene Gedanken und Emotionen berücksichtigt werden. Während dadurch ein gutes Bild von der Sicht des Seelsorgers/ der Seelsorgerin auf das Gespräch vermittelt werden kann, bleibt die Sicht des Gegenübers im Dunkel und muss aus dessen Äußerungen erschlossen werden, die dem Seelsorger/ der Seelsorgerin in Erinnerung geblieben sind. Wie viel an tatsächlich stattgefundener verbaler Kommunikation dabei verloren geht, zeigt der Blick auf eine zweite Möglichkeit zur Verschriftlichung, das Transkript von Tonbandmitschnitten. Hier werden Stotterer, angefangene Sätze und empathische Ausrufe sichtbar, die in Verbatims kaum je auftauchen, die aber einen völlig neuen Blick auf die Interaktion zwischen den Beteiligten erlauben. Zugleich fehlt jedoch jede Möglichkeit, nicht in akustischen Signalen zum Ausdruck gebrachte Gedanken und Empfindungen nachzuvollziehen. Am wenigsten Informationen über die Interaktion von Kommunikationspartnern liefern dagegen Gesprächsskizzen, wie sie z.B. Eduard Thurneysen in seinem als Anleitung gedachten Buch »Seelsorge im Vollzug« verwendet. Thurneysen beschreibt hier vor allem seine eigene Gesprächsstrategie, die damit klar nachvollziehbar wird, den Leser/ die Leserin aber über das tatsächlich geführte Gespräch weitestgehend im Unklaren lässt. Eine rhetorische Analyse muss sich auf diese unterschiedlichen Potentiale einstellen; deshalb werden die drei im folgenden analysierten Texte jeweils mit ganz unterschiedlichen Methoden und Fragestellungen behandelt. Dies dient nicht nur dazu, den vorhandenen Texten gerecht zu werden, sondern erlaubt es zugleich, ein breiteres analytisches Spektrum zu präsentieren und zugleich im Gespräch mit drei unterschiedlichen Konzepten von Seelsorge, die hinter den ausgewählten Gesprächen stehen, zu zeigen, wo sich Ubereinstimmungen und Unterschiede zum vorliegenden Konstrukt einer gemeinschaftsorientierten Seelsorge ergeben.

4 Natürlich besteht auch die Möglichkeit von Tonband- und Videoaufzeichnungen. Auch für sie gilt jedoch, was in der Folge für Texte gesagt wird: je nach verwendeter Technik werden je unterschiedliche Aspekte der realen Interaktion durch ihre Aufzeichnung ausgeblendet.

240

Bei der Auswahl wurde zusätzlich darauf geachtet, vor allem solche Gesprächssituationen zu berücksichtigen, die in der gemeindlichen Praxis häufig vorkommen. Analysiert wurden deshalb ein Ausschnitt aus dem Transkript eines Geburtstagsbesuchs (abgedruckt und besprochen bei E. Hauschildt), ein Verbadm eines Traugesprächs (abgedruckt und besprochen bei H.-Chr. Piper) und die Skizze eines Beratungsgesprächs anlässlich einer Ehekrise (abgedruckt und besprochen bei E. Thurneysen). 1. Seelsorge als alltägliches Gespräch: ein

Geburtstagsbesuch

Der im 20. Jahrhundert allgemein üblich gewordene Besuch von Gemeindegliedern anlässlich eines >runden< Geburtstages ab einem bestimmten Alter stellt einen Paradefall von gemeinschaftsorientierter Seelsorge dar, weil er sich in diesem Paradigma angemessener als in jedem anderen gegenwärtig gebräuchlichen Seelsorge-Konzept verstehen lässt. Das liegt vor allem daran, dass der Geburtstagsbesuch seinen Ursprung nicht im pastoralen Handeln, sondern in allgemein gesellschaftlicher Praxis hat; der pastorale Geburtstagsbesuch wird deshalb von den Besuchten zumeist im Rahmen des allgemein-gesellschaftlichen Kommunikationsschemas >Geburtstagsbesuch< gedeutet, in dem der Gemeinschaftsaspekt eine wichtige Rolle spielt. 1.1 Der Geburtstagsbesuch

als

Gesprächsgattung

E. Hauschildt hat in diesem Zusammenhang zwei verschiedene Schwerpunkte beschrieben, die dieses allgemeine Schema >Geburtstagsbesuch< je nach Besucher ausprägen kann: der Besuch kann als Besuch einer Würdenträgerin aufgefasst werden, der einen Akt gesellschaftlicher Anerkennung darstellt5 (z.B. beim Besuch der Bürgermeisterin, des Vorgesetzten, der Vereins-Vorsitzenden etc.), oder aber als Besuch eines Freundes/ einer Freundin, der/die selbstverständlich auch an diesem wie an anderen wichtigen Ereignissen Teil hat und so seine/ ihre Verbundenheit zum Ausdruck bringt.6 In den meisten Fällen dürfte es sich um eine Verbindung beider Aspekte in unterschiedlicher Gewichtung handeln: wer kommt, bringt damit seine Wertschätzung für den Besuchten/ die Besuchte ebenso zum Ausdruck wie die Verbindung zu ihm/ihr. Im Blick auf den Pfarrer/ die Pfarrerin dürfte die Gewichtung eine gewisse Korrelation zu Bildungsgrad und Alter des/der Besuchten aufweisen: Während ältere und >einfache< Menschen eher den Aspekt der Wert5 Vgl. Hauschildt 1996, 115f. 6 Vgl. Hauschildt 1996, 116f.

241

Schätzung sehen dürften, der allein schon in der Tatsache des Besuchtwerdens liegt, werden jüngere und gebildetere Besuchte eher den freundschaftlichen Charakter in den Vordergrund stellen — und das Gespräch auch stärker daran messen, ob es den damit verbundenen Erwartungen gerecht geworden ist. Im Rahmen seiner Analysen hat Hauschildt mit Verweis auf Reinhard Schmidt-Rost auch beschrieben, dass die beiden genannten Aspekte von den Seelsorgerinnen und Seelsorgern im 20. Jahrhundert zunehmend als unprofessionell erlebt wurden und deshalb andere Konzepte bevorzugt wurden. Der Geburtstagsbesuch wurde in der Folge professionell vor allem als Gelegenheit verstanden, mit dem/der Besuchten in Kontakt zu kommen und im dabei entstehenden Gespräch missionarische oder therapeutische Ziele zu erreichen.7 Die Schwierigkeit dieser Deutungsverschiebungen liegt darin, dass sie häufig von den Besuchten nicht mitvollzogen werden; Hauschildt weist auf eine Umfrage hin, der zu Folge die meisten der Besuchten lediglich »sich mal unterhalten«8 wollten. Als fünftes Konzept nennt Hauschildt das von Schmidt-Rost in Anlehnung an C.I. Nitzschs Seelsorgeverständnis beschriebene Verständnis von Seelsorge, dessen Ziel darin liegt, »die Selbständigkeit des einzelnen durch eine intensive Orientierung an einem gemeinsamen, Bedeutung vermittelnden Sinn zu ermöglichen, ohne dazu einen institutionellen Kirchenbegriff zu befestigen«.9 Seelsorge besteht für Schmidt-Rost entsprechend primär darin, Anleitung und Anstöße dazu zu geben, das eigene Leben im Horizont des christlichen Glaubens zu deuten. Die hier beschriebene Verknüpfung von Individualität und Gemeinschaft weitet gegenüber den beiden anderen Konzepten den Rahmen des Seelsorgegesprächs deutlich aus und erweist sich so als anschlussfähiger für die zuerst genannten >profanen< Deutungen, insbesondere für den Aspekt der freundschaftlichen Verbundenheit, der sich ja in der Regel als weitgehende Übereinstimmung in der Deutung des Lebens und der darin wirksamen Ereignisse ausdrücken wird, also ebenfalls einen deutenden Aspekt beinhaltet. Allerdings misst Schmidt-Rost dem Bildungsaspekt mehr Gewicht zu, als das der vorliegende Entwurf einer gemeinschaftsorientierten Seelsorge für notwendig hält. Damit kommt letztere noch näher an die skizzierte Deutung durch die Besuchten heran, ohne daß dadurch das Wirksamwerden der in den anderen Konzepten als Ziele enthaltenen Aspekte grundsätzlich verneint würde: Selbstverständlich wird ein freundschaftliches Gespräch die Deutung von den Jubilar/ die Jubilarin betreffenden wichtigen Ereignissen beinhalten — und zwar aus der Sicht beider Gesprächspartnerinnen), so dass auch der Horizont des Glaubens eingebracht werden kann, weil er zumindest in der Sicht des Pfarrers/ der 7 Vgl. Hauschildt 1996,119-121. 8 Hauschildt 1996,121. 9 Schmidt-Rost 1988,119; zit. nach Hauschildt 1996,121. 242

Pfarrerin enthalten ist. Selbstverständlich werden im Rahmen eines freundschaftlichen Gesprächs auch Krisenerfahrungen zur Sprache kommen und bearbeitet werden können. Aber im Zentrum steht der Ausdruck und die Aufrechterhaltung der Verbundenheit zwischen den beiden am Gespräch beteiligten Menschen, wie dies dem allgemein gebräuchlichen Schema des Geburtstagsbesuchs entspricht. Lehrende, verkündigende und therapeutische Gesprächsformen haben ihren primären Ort in anderen Gesprächsschemata (dem Lehrgespräch, dem liturgischen Gespräch, dem Beratungsgespräch) und werden in das Gespräch beim Geburtstagsbesuch nur episodenhaft integriert, wie Hauschildt in seinen Gesprächsanalysen nachgewiesen hat.10 Das grundlegende Kriterium für die Integration solcher >Episoden< ist dabei die Funktion der jeweiligen Form für den Ausdruck, die Förderung und Aufrechterhaltung der Verbundenheit zwischen Besucher(n)/Besucherin(nen) und Besuchtem/Besuchter. 1.2 Auswahl des analysierten Gesprächs und Interpretationsansat% Wie die für den Geburtstagsbesuch grundlegende Gemeinschaftsorientierung mit den Mitteln des Gesprächs realisiert wird, soll im Folgenden anhand der Analyse eines Gesprächs herausgearbeitet werden, das von Hauschildt bereits ausgewertet wurde und als anonymisiertes Transkript im Anhang seiner Arbeit vollständig veröffentlicht wurde." Die Wahl dieses Gesprächs erspart die vollständige Wiedergabe und ausführliche Analyse des Gesprächs in allen Details; statt dessen soll im Folgenden besonders dargestellt werden, welchen Erkenntnisgewinn eine integrative rhetorische Analyse unter dem Paradigma von gemeinschaftsorientierter Seelsorge gegenüber dem soziolinguistischen Ansatz Hauschildts bietet. Ich wähle als Interpretationsmethode die bei Foss als >klassisch/ neoaristotelisch12 bezeichnete Methode rhetorischer Analyse, die durch Verknüpfung von Kontext und im Text belegbaren Wahlakten bei der Texterstellung (differenzierbar v.a. nach inventio, dispositio und elocutio, d.h. nach herangezogenen Argumenten, Struktur und sprachlicher Gestaltung) die Frage nach der intendierten Wirkung zu beantworten sucht und diese mit der tatsächlichen (angesichts der durch die Anonymisierung fehlenden Möglichkeit zur vom Transkript unabhängigen Rekonstruktion an der Reaktion des Gegenübers abgelesenen) Wirkung vergleicht. In Verbindung mit den gefundenen Gesprächs Strategie η soll dabei besonders der für das vorliegende Konzept zentrale Aspekt der Herstellung und Aufrechterhaltung von Gemeinschaft in den konkreten 10 Vgl. Hauschildt 1996, bes. 2 2 9 - 2 7 3 ; 3 2 7 - 3 6 6 . 11 Hauschildt 1996, 4 0 7 ^ 4 0 . 12 Foss 1 9 8 9 , 7 1 - 1 1 0 .

243

Gesprächsstrategien aufgesucht und dargestellt werden. Dazu verbinde ich die beschriebene neo-aristotelische Analyse mit der auf K. Burke zurückgehende Methode des pentadic criticism" die darstellende Texte analog zum Drama nach in ihnen enthaltenen Handlungen, Rollen, Mitteln, Situationen und Absichten untersucht. 1.3 Detailanalyse: Gespräch über Beerdigung und Tod14 1003 1004 1005 1006 1007 1008 1009 1010 1011 1012 1013 1014 1015 1016 1017 1018 1019 1020 1021 1022 1023 1024 1025 1026 1027 1028 1029 1030 1031 1032 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041

C2 S C2 S C2 [S C2 's ,S C2 iS C2 ,S C2 jS C2

l

rC2 S C2 S C2 ,S C2 S C2 [S C2 S iC2 ^ S C2

wenn mir mal was passieren sollte [1,5] dann werden Sie amal eine Ansprache halten eine kleine. ich werde Sie beerdigen Frau (C2|. gel! Sie machen das. ja. und man muB in meinem Alter daran denken. aber sicher des muß man auch in meinem Alter des kann ma einfach nit so wegschieben. in jedem Alter, gell, ja was ich so erleb im Krankenhaus und so, gell, ja ja und was ich was was ich zu beerdigen habe, ja gell das ist wirklich so. das kann morgen sein, das kann übermorgen sein das ist überhaupt da spielt das Alter schier keine Rolle. =keine Rolle. =ja =ja. ja ich muß mich selber wundern daß ich so all gworden bin ich hab nit gedacht daß ich das erreiche, aber naja jetzt isses soweit, das geht schneller als man denkt. ja ja, und wie ich Sie so anschau: gesund sans, gesund sans! ja? =haha ja ja ma_ mal so mal so ma spürt amal des uns ( ), und mitm Gehen hapert's sehr, und naja. mit dem Knie m? mit dem Fuß jajaja. mit dem mitm Fu_ ach ja ja ja.

13 Foss 1989, 3 3 5 - 3 6 6 ; zu Burke vgl. auch Kapitel 3, Abschnitt 5.9. 1 4 Zum Text vgl. Hauschildt 1996, 429f. Im folgenden erfolgen alle Verweise über die vorangestellten Zeilennummern. Klammern, die zwei Zeilen verbinden, signalisieren Gleichzeitigkeit; [1,5] Pausenlänge in Sekunden, ( ) unverständliche Teile, 0 ° leise gesprochene Aussagen, = unmittelbaren Anschluss an den vorausgehenden Satz, + das Ende der Gültigkeit einer vorher in |] stehenden Bemerkung zur Sprache. Unterstreichungen signalisieren akustisch wahrnehmbare Hervorhebungen, S steht für Seelsorger(in), C2 für die besuchte Jubilarin.

244

1042 1043 C2 1044 1045 S 1046 rC2 1047 l S 1048 S 1049 1050 1051 1052 C2 iusj 1054 C2

[2] es stellt sich schon allerhand ein net aber, darf immer noch zufrieden sein, "m ja' "darf man Ihnen noch was (einschenken)+ [sehr leise:] ( )+ aber gell Frau (C2) das müssen'S scho auch bedenken, wenn i des jetzt dazu sagen darf: ich bin jetzt (Zahl) Jahr an der (N-)kirch und dann geh ich in Ruhestand, da bin ich IZahll bitte gell, ja da muß ich mich ja schicken! )an [Matscnen aut BeineJ Ilautes LachenJ [lautes Lachen]

Den kurzen Gesprächsgang über den Wunsch von C2, von S beerdigt zu werden (1003-1054), hat Hauschildt zusätzlich in einem Aufsatz in »Wege zum Menschen« noch einmal ausführlich analysiert und dadurch zum bekanntesten Beispiel für Alltagsseelsorge gemacht. Im folgenden soll zunächst Hauschildts Analyse referiert werden, um dann in einem eigenen, rhetorischer Methodik folgenden Interpretationsgang die unter der Perspektive der Gemeinschaftsorientierung von Seelsorge zu Tage tretenden Aspekte zu beschreiben. 1.3.1 Alltagsseelsorge Hauschildt weist darauf hin, dass C2 zu Beginn den Tod nur verklausuliert ausspricht (»was passieren sollte«. 1003). Diese Verklausulierung sei Ausdruck einer »Bedrohung des Selbst« und der »Sehnsucht nach einer Vergewisserung vom Gegenüber her«, die »alltagspragmatisch eingeholt«15 werde: eine bestimmte Person (S) solle im Todesfalle handeln. Für C2 sei dabei weniger das Ritual an sich von Interesse, sondern die Ansprache, d.h. dass »der Tod dieser einen Person bestmöglich zum Ausdruck gebracht wird«.16 Deshalb sei es ihr wichtig, dass gerade S die Beerdigung vornehmen wird. Zugleich werde durch die Erfüllung des Wunsches ein Stück Kontinuität über den Tod hinaus ermöglicht: »Er, der jetzt mit ihr redet, wird auch dann reden.«17 Der Wunsch von C2 sei folglich Ausdruck »alltagstypischefr] Handlungsplanung«18 im Sinne einer Vorsorge für die Zukunft; zugleich aber entspreche er in seiner Personalisierung der Beziehung zur Kirche der in der christlichen Religion angelegten Personalisierung der Glaubensbeziehung. Der Seelsorger sei dabei als Person gefragt, die eine bestimmte Rolle einnimmt; er sei gleichzeitig die C2 bekannte Person und ein Vertreter der Kirche. Der Inhalt der gewünschten Ansprache werde dagegen über den mit der Rolle von S als Pfarrer vorgegebenen Rahmen hinaus nicht weiter be15 16 17 18

Hauschildt Hauschildt Hauschildt Hauschildt

1994, 1996, 1996, 1996,

268. 364. 364. 364.

245

stimmt: »Nicht, was er sagen will, ist von Interesse, sondern daß überhaupt etwas gesagt werden wird. Das Inhaltliche ist eingeklammert. Es wäre ein zusätzlicher Akt theologischer Interpretation zu sagen, ein christliches Bekenntnis sei damit impliziert, wenn der evangelische Geistliche angefordert werde.«19 Mit seiner Antwort vereindeutige S die verklausulierte Anfrage von C2 im Blick auf das gemeinte Ereignis >Tod< und gebe ihr zugleich die erwünschte Zusage. Indem er zunächst von allen möglichen Hindernissen absehe, bleibe S nicht auf der Ebene alltagspragmatischer Zusagen, sondern biete für C2 eine »Verläßlichkeit selbst für den Todesfall ... er, dieser eine Pfarrer, symbolisiert für diese Besuchte das andere, das bleibt.«20 Er fungiere damit als »Bürge von Sinn«,21 ohne dass dieser Sinn weiter expliziert werde. Eine »hohe inhaltlich gefüllte Theologie« sei deshalb nicht feststellbar, wohl aber »Alltagstheologie«.22 Diese zeige sich auch in den folgenden »weisheitlichen Sätzen«,23 die S und C2 austauschen: auch hier werde Gott nicht explizit genannt; die hier vorgenommenen Erwägungen zur Endlichkeit des Lebens blieben vielmehr auf der Ebene »volkskirchliche [r] Konventionalität«,24 in deren Rahmen ein »Sich-Begrenzen-Können« 25 etabliert werde. Hauschildt weist darauf hin, dass die vorangegangene Vergewisserung durch S dieses Transzendenzbewusstsein bei C2 ermöglicht habe: »Das personalisierte Symbol [= die Zusage der Beerdigung durch S] als Beantwortung alltagsweltlicher Sorge löst Transzendenzbewußtsein aus.«26 Aus therapeutischer Sicht, so Hauschildt, lasse sich die vereindeutigende Zusicherung von S ebenfalls als defizitär beschreiben: er gebe C2 keine Gelegenheit, den Konflikt weiter zu verbalisieren, sondern reagiere sofort entlastend. Auch seine Generalisierung der Unabhängigkeit des Todes vom Alter sowie der unterstützende Verweis auf die eigenen Erlebnisse widerspreche therapeutischen Regeln. Dennoch lasse sich ein therapeutischer Fortschritt feststellen, der freilich mit alltäglichen Mitteln erreicht worden sei und in seiner Reichweite geringer sei: »Die (wohl angstauslösende) Endlichkeit konnte präzisiert werden; im Wechselspiel gelang es, sie genauer auszusprechen, sie aus dem eventualis in die Gegenwart zu überführen. Da kann Frau C2 sagen: >aber naja jetzt isses soweit«. 27 Man könne hier deshalb von »Alltagstherapie«28 sprechen: Mit 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

246

Hauschildt Hauschildt Hauschildt Hauschildt Hauschildt Hauschildt Hauschildt Hauschildt Hauschildt Hauschildt

1994, 1996, 1994, 1994, 1994, 1994, 1994, 1996, 1994, 1994,

268. 365. 269. 269. 269. 269. 269. 365. 270. 270.

Hilfe »konventioneller Versatzstiicke«29 gelinge es C2, im Blick auf die eigene Endlichkeit eine Ambivalenzaussage zu formulieren: »es stellt sich schon allerhand ein net aber, darf immer noch zufrieden sein« (1043f). Die Brüchigkeit der mit Hilfe alltagsseelsorgerlicher Mittel erreichten Ergebnisse zeigt sich für Hauschildt an dem folgenden Einwand von S, der die ursprüngliche Symbolisierung von Sinn in seiner Zusage nun alltagspragmatisch einschränken muss: »Der Bürge von Sinn muß nämlich zugeben, daß er ... seine Bürgschaft nicht aufrecht erhalten kann ... Nach der Alltagswahrscheinlichkeit kann er nicht mit seiner Person für die transzendente Sicherheit unmittelbar einstehen.«30 Dennoch verliere die ursprüngliche Zusage dadurch nicht ihre symbolische Kraft: »Der unlogische Satz über die unlogische Möglichkeit, sich mit dem Sterben zu beeilen, bewahrt die theologische Logik des in alltagstypischer Weise geäußerten Anliegens, von diesem Pfarrer beerdigt zu werden als symbolische Verwirklichung der transzendenten Kontinuität Gottes. Der unlogische Humor ist in diesem Sinne am logischsten.«3' Die solchermaßen erreichte Lösung ist für Hauschildt einerseits eine Weiterführung der ursprünglich erreichten Ambivalenz im Blick auf die Endlichkeit des eigenen Lebens, andererseits aber ein Ergebnis, das »sich ... weder rational-theologisch festschreiben noch emotional-psychisch auf Dauer stellen«32 lässt. In ihr zeige sich eine Gleichzeitigkeit von Selbstverendlichung und Möglichkeitserweiterung, deren Dauer über den Moment des Gesprächs hinaus nicht bestimmbar sei.33 1.3.2 Rhetorische Analyse I: Kontext Das Gespräch als Drama im Ringen um Gemeinschaft Fragen wir mit rhetorischen Mitteln nach den Aspekten von Gemeinschaft, die in diesem Gesprächsabschnitt deutlich werden, so ist zunächst der Kontext in den Blick zu nehmen, der Kontext im Gespräch und der Kontext des Gesprächs, soweit er aus den Redebeiträgen von C2 und S erschlossen werden kann. Die Perspektive, aus der dieser Kontext betrachtet wird, ist die von K. Burke vorgeschlagene Analyse von Darstellungen als Drama auf zwei Ebenen: auf der Ebene der Redeinhalte/ des Dargestellten und auf der Ebene des Gesprächs/ der Darstellung. Auf beiden Ebenen lässt sich der im Gespräch hergestellte Text als Drama verstehen, in dem Personen in bestimmten Rollen mit Hilfe bestimmter Mittel bestimmte Handlungen in bestimmten Situationen zu bestimmten Zwecken vollbringen.34 Im folgenden erweist sich vor al29 30 31 32 33 34

Hauschildt 1994, 271. Hauschildt 1994, 271. Hauschildt 1996, 366. Hauschüdt 1994, 271. Vgl. Hauschildt 1994, 272. Zum sog. pentadic criticism vgl. Foss 1989, 335—366.

247

lern die Frage nach den in den Gesprächsbeiträgen jeweils enthaltenen und implizierten Rollen als aufschlussreich für das Verständnis des Gesprächs. C2 und S kennen sich bereits länger; vor fünf Jahren hat S schon einmal C2 zum Geburtstag besucht und seither jedes Jahr eine Grußkarte geschickt, für die C2 sich jeweils schriftlich bei ihm bedankt und dabei ihrer Freude Ausdruck gegeben hat. Diese Dankesbriefe waren wiederum Anlass zur Freude für S, weil er in den meisten Fällen keinen Dank für seine Geburtstagswünsche bekommt. Eine gegenseitige Wertschätzung ist somit als Ausgangsbasis für das Gespräch gegeben; darüber hinaus scheint C2 der Kontakt zu S wichtig zu sein; als sie im Anschluss an den vorliegenden Abschnitt ihrem Bedauern über seine bevorstehende Pensionierung Ausdruck verleiht, nennt sie ihn einen »Lichtblick in der Kirche« (1062) und sagt, dass sie immer besonders darauf achtet, wann er predigt. Auch ihrer Tochter gegenüber hat sie ihn immer lobend erwähnt. Im Blick auf das aktuelle Gespräch ist zunächst auf die begrenzte Zeit hinzuweisen, die S für diesen Besuch zur Verfügung steht: die Menge seiner Arbeit beschreibt er als »randvoll« (291); es ist schon kurz vor Mittag und zuhause wartet ein Mittagessen auf ihn. Dennoch, so betont er, wollte er sich diesen Besuch am Vormittag danach nicht nehmen lassen, nachdem er schon am Tag selbst nicht kommen sollte. Einige Sätze vor dem vorliegenden Abschnitt hat er bereits ein erstes Mal seinen bevorstehenden Aufbruch angekündigt: »ich bedien mich, noch ein Schnaps ... und dann reichts, danke.« (977-980). Auf Seiten von C2 ist vor allem ihre Gebrechlichkeit relevant, die sie selbst als zunehmende Einschränkung ihrer Möglichkeiten erlebt und als Ausgeliefertsein an Umstände, auf die sie nur wenig Einfluss hat. Deutlich wurde dies im Verlauf des Gesprächs bereits in der Schilderung ihrer mangelnden Gehfahigkeit, die sie nicht nur an Besuchen bei ihrer im Ausland lebenden Tochter hindert, sondern auch den Kirchgang beschwerlich macht — und manchmal hat sie auch Angst vor dem durch eine einsame Straße führenden Weg dorthin. (310-326) Auch die Unsicherheit, ob und wie für ihre Tochter ein Umzug zurück in ihre Nähe möglich wird (wird sie eine Arbeitsstelle finden, oder müssen beide von der Rente und in der Wohnung von C2 leben? Wenn ja, soll C2 nicht lieber auf die Rückkehr der Tochter verzichten, um das gute Verhältnis zu ihr nicht zu belasten?), macht ihr deutlich, wie wenig sie selbst ihre Situation beeinflussen kann (400—626). Dieser Aspekt des Ausgeliefertseins spielt auch eine Rolle, wenn C2 erzählt, dass im Haus jetzt neue Fenster eingebaut wurden - die ihr keinen Vorteil bringen - und sie entgegen ursprünglicher Zusicherungen die Kosten für das durch den Einbau notwendig gewordene Ausbessern der Tapeten nun selbst übernehmen soll (914-975). 248

In allen drei Fällen zeigen die Reaktionen von S im vorausgehenden Gespräch, dass er die darin zum Ausdruck kommende Situation von C2 zumindest in ihrer emotionalen und existentialen Bedrohung nicht erkennt oder jedenfalls nicht darauf eingeht. Die Angst vor der einsamen Straße überspielt er generalisierend: »jaja gell, es ist da noch no nie da was losgewesen wahrscheinlich, aber die Angst ist halt da.« (318—320). Im Blick auf die Stellensuche der Tochter muss er die Anfrage ablehnen, ob er nicht bei einer Bibliothek am Ort etwas vermitteln könne und verweist statt dessen auf ausländische Betriebe, bei denen die Tochter ja mal unverbindlich nachfragen könnte - auch wenn er zugeben muss, dass die Situation für ältere Arbeitnehmer im Moment eher schwierig sei. Dass es Schwierigkeiten geben könnte, wenn Tochter und Mutter in einer Wohnung zusammenleben würden, kann er nur bejahen - schließlich wolle die Tochter ja vielleicht auch mal ungestört sein und z.B. Männerbesuch empfangen. Er fragt dann danach wie lange C2 schon alleine lebt und auf die Schilderung vom frühen Tod ihres Mannes und der langen Zeit des Alleinlebens verweist er auf die positive Seite: »so wie ich sie erlebe ... so selbständig ... wären Sie nie in diesem Alter geworden ... nie mehr!« (609-615) Auch die Symbolizität des Tapeten-Problems entgeht ihm: »geh Frau {C2}! ... des sind doch keine Probleme.« (972) Während C2 sich selbst jeweils als eigentlich stark, nun aber von zunehmender Schwäche gekennzeichnet darstellt, sucht S sie auf die Rolle einer in Stärke und Selbständigkeit ihm ebenbürtigen Gesprächspartnerin festzulegen. Seine Strategie zur Aufrechterhaltung von Gemeinschaft im vorliegenden Gespräch erweist sich als die des Abblendens von Differenzen und Vereindeutigens von Ambivalenzen. Lediglich in den Episoden, in denen konkrete Ratschläge möglich sind, gibt S diese und erlaubt damit C2, die Rolle der Ratsuchenden zu übernehmen, während er selbst dabei für begrenzte Zeit die komplementäre Rolle des Helfers akzeptiert. C2 ist es damit in drei aufeinander folgenden Anläufen nicht gelungen, einen wesentlichen Aspekt ihres Lebens in seiner emotionalen Bedeutung so ins Gespräch einzubringen, dass er von S anerkannt worden wäre. Die Gemeinschaft zwischen beiden ist damit aus der Sicht von C2 gefährdet: gerade in dem Punkt, der ihr Leben gegenwärtig wesentlich bestimmt, ist keine Übereinstimmung hinsichtlich Inhalt und Bewertung möglich geworden. Die Angst vor der eigenen Hilflosigkeit, falls ihr etwas passieren sollte, konnte nicht zum Gegenstand gemeinsamer Betrachtung werden; S hat diese Angst bisher nicht als relevantes Thema wahrgenommen. Wie gegenwärtig die Angst vor zukünftigen bedrohlichen Ereignissen dagegen für C2 im Gespräch ist, wird in dem Abschnitt deutlich, der dem hier zu analysierenden Text unmittelbar vorausgeht: Als Reaktion auf den weiteren Schnaps, den S sich einschenkt, fordert sie ihn ganz im Sinne alltagspragmatischer Überlegungen dazu auf, etwas dazu zu essen, und fragt dann, ob er mit dem Auto da sei. Auf seine Antwort, er sei wie 249

immer mit dem Fahrrad unterwegs, äußert C2 nun Angst um ihn·, »gefährlich gell. ... hab i jetzt Angst um Sie.« (983-985) In seine lachende Abwehr stimmt sie ein, um darin zugleich noch einmal zu wiederholen: »ich hab Angst um sie, ... das ja nix passiert.« (987-990), was S erneut verneint »na brauchnStarken< einnehmen könnten, und C2 durch den Verweis auf ihre Gesundheit (1031f) zur Zustimmung zu bewegen sucht, weist C2 dagegen mit Verweis auf ihre Probleme beim Gehen (1035f) wegen ihres Fußes (1038) wieder als nicht adäquat zurück, um dann ihrerseits das in diesem Gesprächsgang Erreichte als Ambivalenz zu formulieren: »es stellt sich schon allerhand ein net aber, darf immer noch zufrieden sein.« (1043f) Dieses Fazit findet auch die Zustimmung von S, so dass hier nach langem Ringen endlich den Zielen des Small Talk entsprechend »größtmögliche Gemeinsamkeit hergestellt und lustvoll Ubereinstimmung begangen«36 worden ist. Anders als Hauschildt sehe ich jedoch das Freude auslösende Hauptergebnis nicht darin, dass hier ein individueller Deutungsfortschritt für C2 erreicht ist (was offen bleiben muss), sondern in der erreichten Gemeinsamkeit der Deutung des gegenwärtigen Zustandes von Frau C2, die den im Laufe des Gesprächs zwischen S und C2 darüber entstandenen Konflikt lösen konnte. Dieses Ergebnis ist es auch, das im Fortgang des Gesprächs die humorvoll-absurde Reaktion von C2 erklärt, als S ihr eröffnet, dass er die zu Beginn gemachte Zusage einer Beerdigung durch ihn durch seinen bevorstehenden Ruhestand teilweise zurückziehen muss (1048— 1054). Während Hauschildt nur darauf verweist, dass hier die durch die Zusage von S ursprünglich erreichte symbolische Repräsentanz von Sinn »zugleich aufgehoben und festgehalten«37 werde, stellt sich aufgrund der rhetorischen Analyse die Situation differenzierter dar: Weil für C2 die Frage nach der Übernahme der Bestattung nur einen Teil des eigentlichen Anliegens darstellte, während der andere — und aufgrund der langen Vorgeschichte im Gespräch, die sich damit verbindet, darf man wohl annehmen: der wichtigere - Teil, die Anerkenntnis ihres Selbstbildes durch S, durch dessen Einschränkung nicht betroffen ist, kann C2 die Einschränkung durch S humorvoll aufnehmen. Indem sie den alltagspragmatisch stimmigen, aber zugleich absurden Gedanken äußert, sich dann beeilen zu müssen (mit dem Sterben), bringt sie zum Ausdruck, dass sie den Rückzug von S nicht als Widerruf der erreichten Gemeinschaft versteht, sondern als das, was er auch für S darstellt: eine alltagspragmatische Erwägung, die an seiner grundsätzlichen Bereitschaft und damit an der Beziehung zwischen beiden nichts ändert. Die Umstände könnten so sein, dass S seine Zusage nicht einhalten kann, ohne dass er 36 Hauschildt 1994, 272. 37 Hauschildt 1994, 271.

254

dafür verantwortlich ist. Indem C2 auf die (absurde) eigene Möglichkeit verweist, dem zu begegnen, bringt sie zum Ausdruck, dass sie S die Verantwortung dafür auch nicht anlasten will, sondern sie selbst übernimmt. Das gemeinsame Lachen bestätigt dann, dass beide Seiten die Absurdität dieses Gedankens erkennen, aber zugleich dessen Sinn akzeptieren: dass die erreichte Gemeinschaft zwischen S und C2 durch das Eingeständnis keinen Schaden gelitten hat. Dass C2 in der Folge nach einer kurzen Pause dennoch in laute Klage darüber ausbricht, dass der Ruhestand von S bereits so bald bevorsteht (1059—1104), dürfte weniger an der nun doch einsetzenden Trauer über die dann nicht mehr bestehende Möglichkeit liegen, von S beerdigt zu werden, als in dem ihr nun deutlich werdenden wesentlich bedeutenderen drohenden Verlust des Gesprächspartners überhaupt, mit dem gerade erst mühsam eine neue Stufe der Gemeinschaft erkämpft und erreicht wurde. 1.3.4 Herstellung von Gemeinschaft als rhetorisches Handeln Die vorangehende Analyse hat deutlich gemacht, dass trotz vieler Brüche im Gespräch gerade an der ausführlicher analysierten Stelle eine vertiefte Gemeinschaft etabliert werden konnte. Dass dies »allerdings gerade mit standardisierten Aussprüchen«38 erfolgt, ist kein Zufall: nur in der von beiden Gesprächspartnern als keiner weiteren Begründung bedürftig akzeptierten Topik zeigt sich der Horizont, der Gewissheit vermitteln und damit zur Grundlage für weiteres Reden und Handeln werden kann. Dass hier auf explizit christliche Formeln verzichtet wird, liegt weniger daran, dass sie explizit abgelehnt würden, als darin, dass sie in der Kultur der Gegenwart nicht mehr die topische Kraft besitzen, die Gewissheit ermöglicht. Die statt dessen verwendeten topischen Formulierungen sind umgekehrt in ihrer Potentialität und Symbolizität weit genug, um auch christliche Deutungen zu ermöglichen und so als Ausdruck von Alltagstheologie bestimmt werden zu können. Mit der Verwendung topischer Argumentation ist in diesem Fall auch wie von Hauschildt gezeigt ein alltagstherapeutischer Fortschritt erreicht - die im Topos des jederzeit möglichen Todes ausgedrückte Unsicherheit im Blick auf die Zukunft kann ausgehalten und muss nicht verdrängt werden. Freilich sind auch andere Strategien denkbar, die eine mehr auf die Details der konkreten Situation von C2 bezogene Bearbeitung des Todesthemas ermöglichen. Therapeutische Seelsorgekonzepte wollen mit ihren verschiedenen Gesprächsstrategien (empathisches Zuhören, Spiegeln, Deuten, Störungen in automatischen Handlungs- und Denkmustern erzeugen ...) genau dies ermöglichen — eine größtmögliche Differen38 Hauschildt 1994, 269.

255

zierung in der bewussten Wahrnehmung von Ambivalenzen. Indem diese Strategien zugleich die Aufmerksamkeit des Seelsorgers/ der Seelsorgerin auf die emotionalen Aspekte und Ambivalenzen in den Aussagen der Besuchten lenken, fördern sie auch eine vertiefte Gemeinschaft in der gemeinsamen Aufmerksamkeit auf die Situation der Besuchten. Sie benötigen allerdings deutlich mehr Zeit und emotionales Engagement zu ihrer Durchführung und unterscheiden sich in der Wirkung nur graduell von den Ergebnissen der geschilderten alltagstherapeutischen Strategie: die unterschiedlichen Aspekte der eigenen Betroffenheit vom Tod sind dann deutlicher und differenzierter bewusst wahrgenommen, und die daraus entstehende neue Lebensgewissheit ist deshalb weniger brüchig und gefährdet als die alltagstherapeutisch hergestellte. Hier gilt es, Aufwand und Wirkung einzelner Strategien gegeneinander abzuwägen und dann eine pragmatische Entscheidung zu treffen. Im vorliegenden Fall gilt sicher, dass S durch mehr Aufmerksamkeit auf die emotionale Bedeutung der Aussagen von C2 sowohl sich wie C2 einige Zeit und Energie hätte sparen können. Dennoch hat er schließlich mit seiner Beerdigungs-Zusage und der Verwendung des Topos vom Tod, mit dem man in jedem Alter rechnen muss, zum Erreichen des Ziels größtmöglicher Ubereinstimmung entscheidend beigetragen. Gemeinschaft zeigt sich aber nicht nur an dieser Stelle, sondern wird das ganze Gespräch hindurch auch immer wieder durch den Small Talk zwischen beiden am Gespräch Beteiligten hergestellt und zum Ausdruck gebracht. Das mangelnde Eingehen von S auf die Bedürfnisse von C2 ist deshalb nur ein graduelles Hindernis für Gemeinschaft. Aus diesem Grund kann C2 am Schluss den Besuch positiv würdigen: »ich danke Ihnen sehr! [...] das hat mich wirklich sehr gefreut. Und ich werdeigentlichen< und >uneigentlichen< Seelsorgegesprächen von Hauschildt zurecht als wenig hilfreich abgelehnt worden. Seelsorge als Aufrechterhaltung und Wiederherstellung von Gemeinschaft tut gut daran, gerade das Medium des Small Talk nicht zu verachten, sondern intensiv zu nutzen. Seelsorgerliche Professionalität muss nicht bedeuten, möglichst schnell vom Small Talk auf angeblich professionellere, weil therapeutische Gesprächsformen zu wechseln, sondern kann sich auch darin zeigen, mit professioneller rhetorischer Kunstfertigkeit gerade den Small Talk als Gesprächsform in seiner gemeinschaftsstiftenden Funktion wahrzunehmen und zu nutzen. Dabei gehört es, wie bereits beschrieben, zur Professionalität des Seelsorgers/ der Seelsorgerin, das nötige Maß an Aufmerksamkeit für die im Gespräch zum Ausdruck gebrachten Intentionen zu entwickeln und darauf möglichst angemessen einzugehen. Die von der Seelsorgebewegung so geforderte und geförderte Kunst der Wahrnehmung von emotionalen Bedeutungsaspekten bleibt auch für das vorliegende Konzept einer gemeinschaftsorientierten Seelsorge unerlässlich. Der angemessene Umgang mit den wahrgenommenen Intentionen orientiert sich dann allerdings weniger an einem therapeutischen Fortschritt, als vielmehr an möglichen Wegen zu einer vertieften Gemeinschaft im Blick auf die dargestellten Sachverhalte und die in den wahrgenommenen Intentionen enthaltenen Wertvorstellungen, Selbst- und Fremdbilder. 257

Auch im Small Talk können und sollen dabei Gefühle zur Sprache kommen - aber nicht als Gegenstand therapeutischen Umgangs, sondern als Teil eines Lebens, das als Ganzes in Gemeinschaft mit dem Seelsorger/ der Seelsorgerin und der ihn/sie entsendenden Gemeinde steht. Dazu ist es wichtig, dieses Leben mit seinen zentralen Erfahrungen, Deutungen und Ambivalenzen im Gespräch zur Darstellung kommen zu lassen, weil nur das, was gemeinsam in den Blick genommen wird, auch zum Gegenstand von Gemeinsamkeit werden kann. Damit wirkliche Gemeinschaft möglich wird, darf dieses gemeinsame In-den-Blick-Nehmen nicht einseitig bleiben, und hier unterscheidet sich das auf Gemeinschaft zielende vom therapeutischen, das Individuum stärkenden Seelsorgegespräch. Gemeinschaft bedingt einen reziproken Akt gemeinsamer Aufmerksamkeit auf beide Gesprächspartner. Weil aber der Seelsorger/ die Seelsorgerin nicht als Privatperson auftritt, sondern als Repräsentant/Repräsentantin von Kirche und konkreter Ortsgemeinde, sind es vor allem die zentralen Erfahrungen, Deutungen und Ambivalenzen im Leben dieser Gemeinde und der Kirche Jesu in allen ihren Gestalten, zu der die Gemeinde gehört, die im Gespräch zur Darstellung kommen sollen. Insofern der Seelsorger/ die Seelsorgerin am Leben seiner/ihrer Gemeinde ebenfalls entscheidend beteiligt ist, kann der Schwerpunkt dabei durchaus auch auf persönlichen Erzählungen liegen, soweit sich ein Bezug zum Leben der Gemeinde herstellen lässt, wie z.B. im Bericht von S über seinen Besuch in C-Land bei einem von der Gemeinde geförderten Projekt. 2. Seelsorge als Kasualgespräch: Ein Traugespräch Anhand der Analyse eines Verbatims, das den Hausbesuch eines Pfarrers beim Brautpaar anlässlich dessen bevorstehender Trauung wiedergibt,39 sollen Gemeinsamkeiten und Unterschiede einer gemeinschaftsorientierten und rhetorisch verfahrenden Seelsorge gegenüber dem Gesprächsmodell der Seelsorgebewegung herausgearbeitet werden. Das ausgewählte Gespräch ist Teil einer Praxishilfe von Hans-Christoph Piper zum pastoralen Hausbesuch und wird von Piper auch kommentiert; diese Kommentare werden hier ebenfalls einbezogen. Dass die Wahl gerade auf ein Traugespräch fiel, hat einen Grund: die auf die Bearbeitung psychischer Konflikte orientierte Seelsorgebewegung tut sich hier wie auch bei Taufbesuchen besonders schwer, weil der Anlass von seinem Wesen her ein >freudiger< ist und vom gesellschaftlichen Verständnis her weder Trost noch Konfliktberatung impliziert. Auch wenn der Bedarf dafür im Einzelfall durchaus gegeben sein mag, lässt sich dies nicht konzeptuell festschreiben, weswegen sich in den beiden in jüngerer Zeit erschiene39 Piper 1988, 3 3 - 4 2 .

258

nen grundlegenden Seelsorge-Lehrbüchem aus dem Umfeld der Seelsorgebewegung keine eigenen Abschnitte zur Kasualseelsorge finden, sondern diese jeweils unter die Seelsorge in verschiedenen Lebensaltern subsumiert und dort in Verbindung mit typischen Konfliktsituationen der einzelnen Altersgruppen behandelt wird. Die im folgenden herausgearbeiteten Unterschiede können und sollen deshalb nicht verallgemeinernd auf die Praxis der therapeutischen Seelsorge insgesamt bezogen werden,40 sondern dienen dazu, die Vorteile einer gemeinschaftsorientierten Seelsorge in einem Kernbereich gemeindlicher Seelsorge zu verdeutlichen.

2.1 Das Kasualgespräch als Gesprächsgattung im Kontext der Kasualhandlung Das Kasualgespräch steht als Teil der Vorbereitung eines Kasualgottesdienstes in engem Zusammenhang mit der gottesdienstlichen Handlung. Wolfgang Steck hat mit Verweis auf Arbeiten von Rössler, Thilo und Groeger drei Aspekte benannt, die sich von dieser Bestimmung her für den Charakter des Kasualgesprächs ergeben: als informatives Gespräch dient es der »Einführung in den Sinn und den daraus resultierenden Ablauf des Rituals«; als lehrhaftes Gespräch »verdeutlich [t] [es] die ethischen Implikationen der den Kasualien zugrunde liegenden Institutionen und deren Deutung in den kirchlichen Lebensordnungen«,41 und als Explorationsgespräch »dokumentier^] [es] den Gesprächspartnern die Einzigartigkeit der Situation und erläuterft] dem Pfarrer die besonderen individuellen Konturen des Kasus, aufgrund derer er die Kasualrede entwirft«.42 Die einzige ausführlichere Darstellung des Kasualgesprächs hat HansJoachim Thilo 1971 vorgelegt. Er versteht darin das Kasualgespräch als ein mit tiefenpsychologischen Methoden zu führendes Beratungsgespräch, das sich in einzelne Phasen gliedern lässt: Empfang — Akzeption (Signalisierung von Zuwendung und Bereitschaft zum Gespräch) — Information (durch den Besucher) — Gesprächspausen (v.a. am Anfang und Ende der Darstellung) — Situationsklärung (durch den Seelsorger, mit Hilfe von Klärungsfragen und >SpiegelnLebensdeutung< vollzieht sich in den drei Dimensionen von Gespräch, Deutewort und Symbolhandlung und heißt für Thilo: Es geht um die Deutung des Grundes der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit des Menschen ist aber die Frage nach seinem Woher und Wohin, also jene Problematik, die mit Geburt, Liebe, Zeugung, Siechtum und Tod verbunden ist. Dabei sind die Realitäten dieses Lebensweges allen deutlich. Die konkrete Deutung dessen, was diese Stufen des Lebensweges für mich beinhalten und wie sie für mich praktikabel werden, und dies alles unter der Botschaft des Neuen Testamentes: Das ist der Auftrag der beratenden Seelsorge in der Pastoraltheologie der Kasualien.45 Wilhelm Gräb hat dieses Verständnis von Kasualien als auf den individuellen Lebensweg bezogene Handlungen aufgenommen und zugleich zugespitzt. Für ihn ist das Ziel von Kasualhandlungen die »Rechtfertigung von Lebensgeschichten«46 Als »Gelegenheiten lebensgeschichtlicher Sinnarbeit«47 dienen sie der »Kommunikation von Rechtfertigungsglauben«,48 mit dessen Hilfe die individuelle Lebensgeschichte nicht aus sich selbst als sinnvoll erwiesen werden muss, sondern ihren Sinn zugesprochen bekommt aus dem Evangelium in Form einer »vorbehaltlose [n], unbedingte[n], in Gott gründende [n] Anerkennungκ.49 In diesem Punkt, so Gräb weiter, treffen sich die Interessen der Institution Kirche und der Gemeindeglieder als Individuen, welche die Kasualpraxis in Anspruch nehmen: Meine These lautet: Den zu einer Amtshandlung Kommenden geht es um lebensgeschichtlich motivierte Wahrnehmung ihrer Kirchenzugehörigkeit und darin inhaltlich um Teilhabe an den Gründen, welche die Kirche für die Rechtfertigung von Lebensgeschichten hat.

43 Vgl. Thilo 1971, 71-106. 44 Thilo 1971,110. 45 Thilo 1971,113. 46 Gräb 1998, 172. 47 Gräb 1998, 188. 48 Gräb 1998, 200. 49 Gräb 1998,199f.

260

Die Kirche kann und muß dieses Motiv aus den ihr eigenen Gründen aufnehmen. Es geht auch ihr um die Rechtfertigung von Lebensgeschichten, nicht auf der Grundlage dessen, was diese selber dafür bereitstellen, sondern auf der Grundlage und in der Zusage des rechtfertigenden Glaubens an Jesus Christus.50 Fragt man nach der Rolle des Kasualgesprächs in diesem Konzept, so findet man zunächst den Verweis auf die zunehmende Bedeutung des Kasualgesprächs für die kirchliche Kasualpraxis: »Der symbolisch-rituelle Akt, den die kirchliche Feier darstellt, verlangt nach einer Ergänzung durch das offene Gespräch, in dem es darum geht, unter Berücksichtigung der jeweils spezifischen Situation bei der Bewältigung der anstehenden Lebensprobleme zu helfen.«51 Die anstehenden Lebensprobleme versteht Gräb vor allem als Erfordernis »biographischer Identitätskonstruktion«:52 Das Individuum ist gefordert, die mit dem Kasus zusammenhängenden Erfahrungen von Differenz und Distanz, sowie von Übergängen in neue Sozialbeziehungen lebensgeschichtlich zu integrieren und nimmt dazu die Hilfe der Kirche in Anspruch. Was Gräb hier als Aufgabe für die Kasualpraxis insgesamt formuliert, lässt sich besonders auf das Kasualgespräch beziehen: [...] es geht um den Entwurf von Szenen der Erinnerung und um die Imagination von Erwartungen, mit denen Menschen sich im Jetzt der rituellen Begehung identifizieren können, die sie sich als den sinnhaften Entwurf ihres eigenen Lebens aneignen können.53 Uberhaupt sieht Gräb eine enge Verbindung zwischen Kasualpraxis und Seelsorge; hat Seelsorge doch »jedenfalls zumeist lebensgeschichtliche Veranlassungen«.54 Unter Berufung auf Schleiermacher und Thurneysen versteht er Seelsorge als Deutung der individuellen Lebensgeschichte von der Rechtfertigungslehre her, d.h. in der Seelsorge wird »die Veranlassung des Gesprächs unter der Kategorie der Sünde«55 und damit als individuelle Konkretion einer allen Menschen eigenen Störung im Selbst- und Weltverhältnis interpretiert56 und zugleich eine neue Deutung der Lebensgeschichte »unter der Kategorie der Vergebung bzw. der Gnade oder der Rechtfertigung«57 angestrebt, die zur Annahme der eigenen Endlichkeit anleiten möchte58 und dazu Deutungsangebote liefert, die »den anderen nicht fesdegen auf das, was er zu seinem Glück geleis50 51 52 53 54 55 56 57 58

Gräb 1998, 201. Gräb 1998,198. Gräb 1998, 188. Gräb 1998,188. Gräb 1998, 213. Gräb 1998, 228. Vgl. Gräb 1998, 223f. Gräb 1998, 229. Vgl. Gräb 1998, 224-226.

261

tet und ihm zu seinem Unglück widerfahren ist, sondern ihn aus dem Blickpunkt Gottes in seiner ebenso unverdienten wie unverlierbaren Würde und Ganzheit sehen lassen«.59 Auch wenn Gräb durch die gemeinsame Unterstellung aller am Gespräch Beteiligten unter die Kategorie der Sünde das der therapeutischen Seelsorge eigene Defizit-Gefalle aufheben möchte, beschreibt er Seelsorge doch einseitig als deutendes Handeln des Seelsorgers/ der Seelsorgerin, das dann den Klienten/ die Klientin zur Übernahme einer angemesseneren Deutung des eigenen Lebens befähigen soll. Einen Schritt weiter geht hier die Bestimmung von Kasualgespräch wie Kasualgottesdienst als »Segensraum«, die Ulrike Wagner-Rau in ihrer Kieler praktischtheologischen Habilitationsschrift vorgenommen hat.60 In Anlehnung an Winnicotts Konzeption des intermediären Raumes fordert sie, dass kirchliche Kasualhandlungen einen Raum eröffnen müssen, der im Blick auf die beteiligten Menschen auf mehrfache Weise bestimmt wird: als »Raum für das Erzählen der je eigenen Geschichte« und damit der Konstruktion von Identität, als »Raum grundlegender Akzeptanz« auch für die negativ besetzten Aspekte der eigenen Identität, als »Raum der Kreativität« auch bei den Versuchen, die eigene Identität zu (re) konstruieren, als »Raum der Begegnung mit dem Anderen«, in dem der Zuspruch Gottes z.B. anhand eines biblischen Textes als etwas Fremdes erfahren werden kann, zu dem ich mich auf je eigene Weise verhalten und ihn mir auf meine spezifische Weise aneignen kann; schließlich als »Raum der liturgischen Gemeinschaft«, in der sich einzelne als Teil eines größeren Zusammenhanges wahrnehmen können. Als »Segensraum« eröffnet sich im Idealfall der Raum einer zwischenmenschlichen Gemeinschaft, der zugleich Hinweischarakter hat auf eine diese Gemeinschaft transzendierende Beziehung, in der positive wie negative Aspekte der eigenen Biographie als aufgenommen und angenommen erfahren werden können und damit zugleich ein Raum eröffnet wird für Neues.61 Eine gemeinschaftsorientierte Seelsorge-Konzeption wird diesen Ansatz aufnehmen und zugleich erweitern: Indem zwischen Seelsorger/Seelsorgerin und Klient/Klientin eine angemessene Deutung für wichtige Ereignisse aus der Lebensgeschichte des Klienten/ der Klientin ausgehandelt wird, verändert sich im Blick auf die Erfahrungen des Klienten/ der Klientin auch das Verständnis des Seelsorgers/ der Seelsorgerin für die eigene Tradition, aus der seine/ihre Deutungen gespeist werden. Die Deutungen, um die es im Seelsorgegespräch geht, sind nicht auf Seiten des Seelsorgers/ der Seelsorgerin bereits vorhanden und müssen nur noch hergeleitet werden, sondern werden im Gespräch gemeinsam er59 Gräb 1998, 229. 60 Wagner-Rau 2000. 61 Vgl. Wagner-Rau 2000, 122-173; die Zitate sind den Überschriften auf S. 124, 1 2 8 , 1 3 5 , 1 4 1 , 1 5 0 und 156 entnommen.

262

stellt und ausgehandelt. Insofern ist das Kasualgespräch nicht nur eine Quelle für Informationen, mit denen sich die Kasualansprache als Zuspruch einer neuen Wirklichkeit lebensnäher gestalten lässt; die im Gespräch hergestellte Deutegemeinschaft ist vielmehr bereits selbst ein Symbolzeichen für diese Wirklichkeit, für die von der Kirche verkündigte Gemeinschaft mit Gott, die den Sünder nicht >umdrehtJa< vor dem Altar bekräftigte Ehe werden. Auf der einen Seite will sie diesen >Wechsel< — sie hat ihn (mit dem Aufgebot) selbst beantragt. Auf der anderen Seite kommt er ihr nun doch zu schnell. Lieber hätte sie diesen Schritt noch ein wenig länger hinausgezögert. Aus der Ehe- und Lebensberatung wissen wir von vielfältigen Bindungsängsten in der jungen Generation, die viele Partner den Schritt zum Standesamt (und in die Kirche) hinausschieben läßt.65 Meines Erachtens stellt Pipers Deutung hier eine Überinterpretation dar, die in ihrer Simplizität sicher nicht typisch ist, an der aber gut deutlich wird, welche Gefahren therapeutische Seelsorge durch die auf psychische Konflikte bezogene Interpretation von Aussagen ihrer Klientinnen und Klienten mit sich bringt: Tendenziell werden hier bestimmte Aussagen über einen (von der Klientin in der Außenwelt verorteten) Sachverhalt X symbolisch umgedeutet als >eigentlich< gemeinte Aussagen über einen (im Psychosystem der Klientin lokalisierten) Sachverhalt Y. Dieses Vorgehen baut aber zugleich ein therapeutisches Gefalle auf, in dem der Seelsorger die Klientin besser versteht als diese sich selbst, und macht damit die Klientin zum Objekt seelsorgerlichen Wahrnehmens (und in der Folge auch seelsorgerlichen Handelns, wenn versucht wird, den solchermaßen erhobenen Zustand zu verändern, was Piper in diesem Kontext aber nicht vorschlägt): Einander widerstreitende Gefühle (Ambivalenzen) zu benennen, ist außerordentlich schwer. So ist es gut zu verstehen, daß sie zunächst auf >Nebenschauplätzen< wiedergefunden und anhand von nicht so brisanten, aber aktuellen Situationen benannt werden, damit man sich allmählich an das eigentliche Problem herantasten kann. Natürlich ist das der Frau selber in diesem Augenblick nicht deutlich. Und natürlich findet sie es >nicht schönStand der Ehefrau< spricht. Er hätte es Α sicherlich besser ermöglicht, die emotionale Bedeutung ihrer zunächst gegebenen Antwort weiter zu entfalten. Eine andere Alternative für P, auf die erste Aussage von Α zu reagieren, wäre z.B. »Da kommt für Sie jetzt ziemlich viel auf einmal zusammen!«; auch damit wäre er auf den Zusammenhang von Hochzeit und Stellenwechsel eingegangen, den Α offensichtlich sieht und als unglücklich erlebt, hätte es aber vermieden, die Situation auf die Analogie der beiden Wechsel zuzuspitzen und damit von dem, was Α anspricht auf etwas überzuleiten, was sie angeblich >eigentlich< ansprechen möchte. Eine weitere Alternative unter vielen möglichen wäre die direkte Frage nach der Bedeutung des gerade Gehörten, etwa »Was bedeutet das jetzt für Sie? Haben Sie viel zusätzliche Arbeit dadurch?« Bleibt man bei dem, was Α in ihrer Antwort tatsächlich angesprochen hat, nämlich den Wechsel ihres Arbeitsplatzes innerhalb des gleichen Unternehmens, und bezieht diese Schilderung auf die Eingangsfrage nach der Befindlichkeit wenige Tage vor der Hochzeit, dann ergibt sich, dass der Wechsel des Arbeitsplatzes keineswegs so unbedeutend ist, wie Piper dies in seiner Analyse annimmt, und dass zugleich der Bezug zum eigentlichen Thema >Hochzeit< keineswegs nur symbolisch herstellbar ist, wie Piper es anzunehmen scheint: Der Wechsel von einem Stockwerk in ein anderes, wie ihn Α schildert, ist nicht einfach nur der Wechsel eines 66 Piper 1988, 37f. 67 Piper 1988, 38.

268

Raumes, in dem der eigene Schreibtisch steht. Vielmehr ergeben sich daraus auch bedeutende soziale Konsequenzen: von einem Tag auf den anderen sind es neue Kolleginnen und Kollegen, mit denen man im gleichen Raum arbeitet oder Tür an Tür sitzt, sind es völlig andere Menschen, die draußen auf dem Gang vorbeilaufen und dabei einen flüchtigen Blick oder eine schnelle Bemerkung wechseln. Der Wechsel des Arbeitsplatzes von Α ist ein tiefgreifender Wechsel des am Arbeitsplatz bestehenden sozialen Umfelds, selbst dann, wenn er (was nicht ausdrücklich gesagt wird) nicht zugleich mit einem Wechsel der Tätigkeit oder der Abteilung einhergehen sollte. Daraus ergeben sich aber wiederum mit gewisser Wahrscheinlichkeit Konsequenzen für die Hochzeit: Gerade wenn Α sich mit den Kollegen gut versteht, ist es wahrscheinlich, dass sie auch einige von ihnen zur Hochzeit eingeladen hat. Nun sind aber die eingeladenen Kollegen plötzlich in einem gewissen Sinne Ex-Kollegen, und zusätzlich werden neue Kollegen wichtig — soll Α sie zusätzlich einladen, oder nicht? Werden die bisher eingeladenen noch kommen, wo der bisherige enge Kontakt nun lockerer wird? Dass Α sich wirklich mit solchen Überlegungen beschäftigt, lässt sich aus dem vorliegenden Text nicht beweisen. Die Wahrscheinlichkeit, mit der die vorgelegten Vermutungen zutreffen, ist aber mindestens genau so hoch wie diejenige, dass Pipers Deutung zutrifft - und sie haben den Vorteil, Α nicht unterstellen zu müssen, dass sie >eigentlich< etwas ganz anderes meint, als sie sagt. Der Wechsel der Arbeitsstelle belastet Α im Blick auf ihre Hochzeit — so sagt sie es selbst, und so lässt es sich auch verstehen, ohne dass man die von Piper angenommene Bindungsangst unterstellen muss. Dennoch - darin stimme ich Piper zu - lässt sich die Situation des Arbeitsstellenwechsels auch symbolisch deuten. Allerdings deute ich ihn nicht in der Weise, wie Piper das versucht, indem er den Arbeitsstellenwechsel faktisch als Zeichen mit indexikalischem Objektbezug versteht, sondern im Sinne einer symbolischen Erfahrung:68 In der Beziehung zu den Kolleginnen und Kollegen hat Α Teil an einer bestimmten Gruppenidentität. Diese Teilhabe verändert sich durch den Wechsel in ein anderes Stockwerk entscheidend - ebenso entscheidend, wie sich durch die Hochzeit ihre Identität in Beziehung zu ihrer Familie und ihrem zukünftigen Ehemann noch einmal verändert. Man könnte sogar behaupten, die Bedeutung des Arbeitsstellenwechsels sei im Blick auf die konkrete äußere Wirklichkeit gewichtiger: Während die Hochzeit primär eine bereits bestehende Beziehung (die beiden leben bereits in der gemeinsamen Wohnung) öffentlich macht und auf Dauer stellt, wirkt sich der Wechsel am Arbeitsplatz unmittelbar in einer Veränderung des sozialen Umfelds aus. Die Erfahrung einer Veränderung der (bezogen auf die Ar68 Vgl. dazu die an H. Wahl orientierten Ausführungen zur symbolischen Erfahrung in Kapitel 2, Abschnitt 5.2.

269

beitsstelle) primären Bezugsgruppe durch den Wechsel an der Arbeitsstelle kann so als symbolische Erfahrung zu einem Symbolzeichen werden für die mit der Hochzeit zum Ausdruck kommende Veränderung der primären Bezugsgruppe von der Elternfamilie zur Partnerschaft. Dabei geht aber die Erfahrung des Wechsels in der Arbeit keineswegs in dieser Symbolfunktion vollständig auf: das Symbolzeichen behält neben seiner Funktion als Gegenstand symbolischer Erfahrung, d.h. als Selbstobjekt, seine Eigenständigkeit und eröffnet gerade durch diese Differenz einen Freiraum, der neue und andere Deutungen ermöglicht — auch andere Deutungen der nun als Selbstobjekt fungierenden symbolischen Erfahrung, auf die es als Zeichen verweist. Was genau nun der Inhalt der symbolischen Erfahrung ist, in welcher Weise hier Identität gestützt und gesichert wird bzw. bedroht ist, lässt sich aus den wenigen Aussagen von Α nicht mit hinreichender Sicherheit entnehmen; hier wäre weitere Klärung notwendig, welche Aspekte des Wechsels die Beunruhigung verursachen. Die oben vorgetragene Vermutung erklärt zunächst ja nur, dass sich aus der zeitlichen Verbindung von Arbeitsplatzwechsel und Hochzeit auch ganz praktische Schwierigkeiten ergeben können; welche Aspekte dabei für Α im Vordergrund stehen, und woran sich die Befürchtungen fest machen (daran, dass alte Kollegen nicht kommen? Dass neue sich übergangen fühlen, wenn sie nicht eingeladen werden?), müsste im weiteren Gespräch erst noch geklärt werden. 2.2.2 Umgang mit Symbolzeichen Für die Seelsorge bedeutet dies, dass hier keineswegs eine schnelle Überleitung von dem »relativ unbedeutenden« »Nebenschauplatz« zu dem »eigentliche [n] Problem« und >Hauptschauplatz< Partnerschaft zu empfehlen ist,69 sondern das geduldige Wahrnehmen der Emotionen, die im Symbolzeichen >Arbeitsplatz< zum Ausdruck gebracht werden. Es handelt sich dabei - gegen Piper - nicht um Emotionen, die auf die Hochzeit bezogen sind und im Symbol des Arbeitsstellenwechsels zum Ausdruck gebracht werden, sondern um Emotionen, die sich inhaltlich, soweit aus den wenigen Anhaltspunkten im Text überhaupt eine Rekonstruktion möglich ist, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit als Unsicherheit bezüglich der eigenen Identität in Beziehung zum sozialen Umfeld deuten lassen, die ausgelöst wird durch den mit der Hochzeit bevorstehenden Statuswechsel und durch den mit dem Wechsel des Arbeitsplatzes gerade aktuellen Wechsel im kollegialen Umfeld. Daher gilt der Verzicht auf eine Fokussierung in Richtung Hochzeit sowohl im Blick auf das Ziel einer den Intentionen dieser Arbeit entsprechenden herrschaftsfreien Gemeinschaft zwischen Ρ und Α wie im Blick auf mögliche therapeutische Ziele: auch wenn die Ambivalenzbearbeitung im Vorder69 So Piper 1988, 37f.

270

grund stehen sollte, lässt sich diese Ambivalenz zwischen Abschied und Neubeginn, zwischen Verlust und Gewinn ebenso gut, vielleicht sogar weniger stark emotional besetzt und damit leichter verbalisierbar, an der Situation am Arbeitsplatz wahrnehmen und bewusst machen. Im Rahmen einer auf Bewahrung der Deutegemeinschaft ausgerichteten Seelsorge stellte sich auf dieser Basis dann nach einer weiteren Situationsklärung fur Ρ die Frage, welche gemeinsame Haltung gegenüber der geschilderten Situation möglich wäre, und welche Topoi und Metaphern diese Haltung zum Ausdruck bringen könnten und damit gegebenenfalls das Symbolzeichen >Wechsel der Arbeitsstelle< in einer bestimmten Weise qualifizieren. Im folgenden soll kurz eine auf der Basis des bisher Gesagten denkbare Fortsetzung beschrieben werden, um wenigstens in Ansätzen zu verdeutlichen, wie eine gemeinschaftsorienderte Seelsorge hier mit rhetorischen Mitteln verfahren könnte; die gesamte Darstellung muss dabei natürlich notwendig hypothetisch bleiben. Als eine Möglichkeit, deren Angemessenheit freilich im Gespräch auszuloten wäre, stellt sich m.E. die Frage nach den unterschiedlichen Bildern dar, die unterschiedliche, für Α relevante Personengruppen (Freunde, unterschiedliche Kollegen, nicht zuletzt der eigene Bräutigam) von ihr haben könnten — wobei vermutlich sowohl Befürchtungen wie auch Hoffnungen zum Ausdruck kommen werden, die jeweils auf konkrete Beziehungen bezogen sind. Im Blick auf Symbole, mit deren Hilfe eine gemeinsame Deutung ermöglicht wird, dürfte sich vor allem der Aspekt der Hoffnung auf gelingende Gemeinschaft als anschlussfähig erweisen. Die Hoffnung auf gelingende Gemeinschaft ist inhaltlich zunächst auf die Situation an der Arbeitsstelle sowie natürlich auf die besondere Gemeinschaft der Ehe bezogen, bietet aber zugleich Anschlussmöglichkeiten im Blick auf die Gemeinschaft mit Gott. Im symbolischen Ausdruck der Gemeinschaft mit Gott könnte die Hoffnung zum Ausdruck kommen, über allen angesprochenen Wechsel hinaus dieselbe bleiben zu können und die bisher erfahrene positive Qualität von Gemeinschaft auch in Zukunft erleben zu können. Mit Hilfe der gleichen topischen Argumentation, mit der die erhoffte Gemeinschaft im Kollegenkreis relativiert (nicht abgewertet!) werden kann durch die wichtigere, weil intimere Gemeinschaft der Ehe, lässt sich auch letztere relativieren durch die Gemeinschaft, die Gott schenkt — in allen menschlichen Gemeinschaften und über sie hinaus. Als konkrete (und natürlich in der Auswahl völlig subjektive) Formulierung steht mir hier der Abschluss einer Meditation von Dietrich Bonhoeffer vor Augen, der als Aufnahme des Topos von der Ehe als Gemeinschaft in guten und schlechten Tagen eingeführt werden kann: »Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, ο Gott!«.70 Indem Bonhoeffer im Vorlauf dieses Wortes (das im Gefängnis entstand, aber das ist für die gegenwärtige Situation nicht relevant) zunächst die Unterschiede 70 D. Bonhoeffer 1997,187.

271

zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung und dann auch die unterschiedlichen Möglichkeiten der Selbstwahrnehmung beschreibt, die sich ihm aufdrängen, ermöglicht er den Anschluss an die Frage nach der Identität angesichts einer Vielzahl divergierender Deutemöglichkeiten, die auf der Basis der oben beschriebenen Deutung hypothetisch als eine mögliche Grundfrage von Α angesichts der beiden angesprochenen Wechsel angenommen wird. Die konkreten Probleme, die Α im Zusammenhang mit dem Stellenwechsel und der bevorstehenden Hochzeit hat, sind dadurch freilich nicht gelöst; aber sie wurden als Probleme auf der zwischenmenschlichen Ebene betrachtet, anerkannt und zugleich durch die Einbeziehung von Partnerbeziehung und Gottesbeziehung relativiert. Für eine auf Gemeinschaft zielende Seelsorge ist damit das Ziel erreicht, sofern nicht von Α ein neuer Impuls kommt, die Gemeinschaft zum Seelsorger durch Einbeziehung weiterer Aspekte im Zusammenhang mit diesem Thema weiter zu erproben und im Falle einer erneuten Anerkennung damit auch zu vertiefen. 2.2.3 Die Kasualhandlung vorbereiten — auf den Glauben zu sprechen kommen Folgen wir nun wieder dem Verlauf des tatsächlichen Gesprächs, wie es im Verbatim wiedergegeben wird, so fällt auf, dass Ρ nach dem Scheitern des ersten Gesprächsabschnitts erneut die Führung übernimmt, aber nur, um sie sogleich an das Brautpaar abzugeben, indem er sich bereit erklärt, Fragen in Bezug auf den Gottesdienst zu beantworten. Dieser zweite Einstieg erweist sich als wenig ergiebig, weil das Brautpaar lediglich auf die Erfahrungen bei einer Trauung vor einigen Wochen verweist und angibt, damit alles Notwendige über den Ablauf zu wissen. Für Ρ ergibt sich damit möglicherweise die Schwierigkeit, dass er nicht weiß, welchen Traugottesdienst das Paar besucht hat und ob sie davon ausgehend eventuell Besonderheiten dieses einen Gottesdienstes als allgemein üblich erwarten. Sinnvoller wäre in diesem Zusammenhang das Angebot von P, dem Brautpaar den geplanten Ablauf kurz darzustellen, so dass diese sich eine Vorstellung bilden können. Mit einer solchen Darstellung ließen sich dann auch die zu klärenden Fragen in diesem Bereich (Liedwünsche, Kollektenzweck, Sitzordnung) verbinden. Eine längere Darstellung durch Ρ würde diesem zugleich die Gelegenheit geben, nach dem Scheitern beim Verstehen von Α im Verlauf seiner Darstellung selbst Anknüpfungspunkte für das weitere Gespräch zu schaffen, auf die Α und Β ihrerseits eingehen können, z.B. indem er auch die Bedeutung einzelner Elemente der Trauung als Ausdrucksformen für emotional besetzte Sinngehalte darstellt (z.B. Ringtausch, Eheversprechen, Fürbitten durch Trauzeugen). Die Darstellung aus eigener Initiative würde nicht nur das Gleichgewicht der Gesprächsbeiträge wieder herstellen, sondern zugleich auch für Α und Β etwas von der Person Ρ sichtbar 272

werden lassen, so dass diese ihrerseits im Bemühen um Gemeinschaft ihre Fragen und Gedanken anschlussfahig machen könnten an das, was Ρ in der Darstellung von der eigenen Person zu erkennen gibt, und nicht nur an das Bild, das sie aus anderen Quellen von Ρ gewonnen haben (z.B. durch Analogieschlüsse von Erfahrungen, die Freunde und Bekannte mit anderen Vertretern seines Amtes gemacht haben). Wenn Ρ im Anschluss an die Besprechung einiger Details zum Gottesdienst nun versucht, das Brautpaar »auf den Glauben hin«71 anzusprechen, dann tut er dies über die Frage nach Beziehungen zur Kirche und will damit vermutlich dem Brautpaar die Antwort erleichtern, weil Aussagen über den Bezug zur Kirche als konkret fassbarer Institution ihnen leichter fallen könnten als andere Einstiegspunkte. Ob dies tatsächlich der Fall ist, muss angesichts der kirchensoziologischen Untersuchungen und phänomenologischen Überlegungen der letzten Jahre zumindest problematisiert werden. Die zu erwartende geringe Zahl von Kontakten könnte leicht den Charakter eines erwarteten Eingeständnisses von Defiziten — und damit eine erneute Gefahrdung von Gemeinschaft im Gespräch — hervorrufen. Im vorliegenden Fall zeigt sich ebenfalls, dass die Beziehungen zur kirchlichen Institution nicht die Basis für ein tiefergehendes Gespräch über Glaubensfragen bieten können. Zwar sind beide Brautleute der Kirche gegenüber positiv eingestellt, aber es fehlt ihnen an Sprachmöglichkeiten, diese Einstellung adäquat zum Ausdruck bringen zu können. So kann Α letztlich nur eine Verfallsgeschichte präsentieren - ihr Kontakt zur Kirche ist gegenüber früher - trotz der damals gemachten positiven Erfahrungen — zurückgegangen. Und Β deutet ebenfalls eine solche früher-später-Differenz an, um dann aber auf eine andere Ebene zu wechseln, auf der die Beziehung positiver ausgedrückt werden kann: Er findet es »interessant, was da gesagt wird« (Bl), kann das aber auf Nachfrage von Ρ nur bedingt weiter qualifizieren — und zwar im Blick auf die emotionale Seite der besonderen Gottesdienste unter freiem Himmel bei Wehrübungen: »Das ist ein großes Erlebnis. Da ist die Kirche auch dabei.« (B2) Zuvor betont er durch Wiederholung noch einmal, dass er seine Beziehung zur Kirche nicht als Verfallsgeschichte sehen möchte: »Ja, ich finde es oft ganz interessant, was da gesagt wird. Auch jetzt.« (B2) Α schließt sich nun ebenfalls an die von Β gewählte Strategie der Darstellung ihres Verhältnisses zur Kirche an und bietet ihrerseits eine weitere doppelte Qualifikation: Es sind »die Vergleiche in der Predigt zwischen Bibel und Alltagsleben«, die den Gottesdienst interessant machen, wobei dies Fragen sind, mit denen man »sich da sonst nicht mit [beschäftigt]« (A10). Wenn Piper diesen Gesprächsgang in seiner Zusammenfassung völlig eindeutig wertet (»Beide berichten über positive Erfahrungen mit der Kirche und mit Gottes71 So berichtet Piper die ihm von Ρ nachträglich mitgeteilte Intention seiner Frage nach der kirchlichen Herkunft der Braudeute; vgl. Piper 1988, 38f.

273

dienstbesuchen«72), dann unterschlägt er damit die auf der zeitlichen Ebene der Darstellung sehr wohl vorhandenen und von uns gerade herausgearbeiteten Ambivalenzen. Ρ dagegen scheint die Ambivalenzen deutlicher wahrzunehmen. Er greift von dem Gesagten - obwohl er ja auf den Glauben zu sprechen kommen möchte - nicht die inhaltlichen Punkte auf (die Faszination eines Gottesdienstes unter freiem Himmel z.B., oder die Tatsache, dass Kirche auf Wehrübungen mit Gottesdiensten dabei ist, oder die von A angesprochene Verknüpfung von Bibel und Alltagsleben), sondern entschließt sich, zunächst mit Hilfe einer topischen Formulierung Übereinstimmung über einen formalen Gesichtspunkt des gerade vom Brautpaar Erzählten herzustellen: Es fällt nicht leicht, über religiöse Dinge zu sprechen (PI3). Dass er damit einen wichtigen Punkt getroffen hat, zeigt die Bestätigung durch B, die Ρ seinerseits noch einmal aufnimmt und damit erneut bestätigt. Immerhin ist es Ρ dadurch gelungen, eine deutliche Gemeinsamkeit mit beiden zu etablieren, was bei inhaltlicher Aufnahme des von Α oder Β Ausgesagten sicher schwieriger gewesen wäre. Dass Ρ jedoch auch die weiterführende Aufnahme dieses Gedankens durch A, die ihn inhaltlich füllt, indem sie von ihren Zwiesprachen mit Gott berichtet, von denen sie ihren Kolleginnen lieber nichts erzählt, nur als Aussage über die Schwierigkeit religiöser Kommunikation aufnimmt (vgl. Ρ 15), erstaunt dagegen angesichts seiner eigenen Absicht, über den Glauben ins Gespräch zu kommen, und entlockt Piper den verständnisvollen Kommentar, dass es »auch für einen Pfarrer ein großer Unterschied [ist], ob er im Schutz seines Talars hinter einer Kanzelbrüstung vom christlichen Glauben spricht, oder ob er sich unter vier oder sechs Augen über seinen persönlichen Glauben äußert«.73 Dem kann man nur beipflichten. Allerdings hat es sich Ρ in diesem Fall auch selbst schwer gemacht, indem er Glauben in Bezug auf die Kirche thematisiert und damit die Erwartungen in eine Richtung gelenkt hat, in der alltägliche Formen von Frömmigkeit jenseits aktiven Teilnahmeverhaltens und explizit kirchlicher Formulierungen immer schon als defizitär erscheinen. Angesichts dieser selbstgeschaffenen Ausgangs situation gelingt es Ρ aber trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten, diesen Gesprächsgang als Etablierung von Übereinstimmung in der Deutung des Themas abzuschließen. Angesichts der Andeutungen von Α und Β ließe sich freilich vermuten, dass bei einer anderen Wahl des Ausgangspunktes die Übereinstimmung noch tiefgehender hätte ausfallen können. So wäre es denkbar, auf den bei der Trauung erbetenen Segen Gottes hinzuweisen und danach zu fragen, was dieser Segen denn konkret beinhalten könnte für das gemeinsame Leben des Brautpaars. Mit dieser Einstiegsfrage wäre der Horizont gesetzt für ein Gespräch über Lebensentwürfe, Hoffnungen und 72 Piper 1988, 39. 73 Piper 1988, 39.

274

Befürchtungen, das von vornherein Gottes Handeln mit präsent hält, ohne dass es von den Braudeuten explizit eingebracht werden müsste. Zugleich markiert ein solcher Einstieg bereits den Ausgangspunkt als gemeinsamen — der Segen Gottes für das Brautpaar wird als gemeinsames Interesse vorausgesetzt, und für die Konkretionen sind die Brautleute aufgrund ihrer eigenen Betroffenheit nicht weniger Experten als der Pfarrer in seiner theologischen Deutekompetenz. Im gemeinsamen Gespräch über die erhoffte Zukunft ließe sich verwirklichen, was Gemeinschaft als kommunikativ herzustellende Deutegemeinschaft bedeutet: der Dialog zwischen Pfarrer und Brautleuten über Möglichkeiten gelingenden Lebens, und damit die Verständigung über normative Aspekte der christlichen Deutung von Wirklichkeit. Letztere müssen dabei nicht ausschließlich vom Pfarrer eingebracht und den Braudeuten >übergestülpt< werden, sondern sind in der vom Christentum entscheidend geprägten ethischen Tradition unserer abendländischen Gesellschaft auch auf Seiten der Brautleute bereits in vielfältigen Aspekten präsent, an die deutend angeknüpft und dabei qualifiziert und differenziert werden kann. Ein solcher Einsatz beim Segen Gottes würde auch der - erneut leicht als eine Art Prüfung und Defizitfeststellung missverständlichen Frage von Ρ nach den Motiven für die kirchliche Trauung den problematischen Charakter nehmen, weil das Interesse am Segen Gottes bereits als gemeinsam anerkanntes Motiv vorausgesetzt wäre, und weitere, auch weniger eng mit Glauben und Religion zusammenhängende Motive dann als Nebenmotive nicht das gesamte Gewicht tragen müssten und deshalb leichter benannt werden könnten. Die Frage des Pfarrers an die Braudeute nach ihren Motiven für die kirchliche Trauung kann im vorliegenden Fall zwar die inzwischen entstandene Gemeinschaft offensichtlich nicht beeinträchtigen (der Ausblick auf eine wahrscheinliche erneute Inanspruchnahme des Pfarrers bei einer etwa anstehenden Taufe darf als Ausdruck der hergestellten Gemeinschaft verstanden werden; vgl. B6), aber aus den Antworten wird deutlich, dass es beiden schwer fallt, auf diese offene Frage hin die rechten Worte für ihre Gründe zu finden. Sie erleben die Begleitung der Kirche als wichtig (B4; Al2; wiederholt in B5), wenn auch nicht unbedingt das Wichtigste (B5 anders als Al 2) - der Bräutigam differenziert hier zwischen kirchlichem Ritual, dessen Bedeutung für ihn offen bleibt, und der Gottesbeziehung, die ihm Halt gibt (B5). Leider erfahren wir aus dem Verbatim nicht, ob und wie Ρ darauf eingeht; die Aussage von Β böte jedenfalls erneut eine Gelegenheit zum Gespräch darüber, wie der Halt aussehen kann, den Gott diesen beiden Menschen in ihrem Alltagsleben gibt (auch Α hat ja bereits die Verknüpfung von Gott und Alltagsleben in Al 1 zum Ausdruck gebracht). Positiv hervorgehoben werden muss die Frage, mit der Ρ das Ende des Gesprächs einleitet: er fragt wie zum Eingang nun erneut nach der Befindlichkeit der Brautleute und gibt diesen damit die Gelegenheit, das 275

vorangegangene Gespräch noch einmal selbst zu deuten. Die Frage muss nicht unbedingt wie im vorliegenden Fall auf das Gespräch zurück zielen; sie könnte auch erneut auf die bevorstehende Trauung verweisen und damit eine eventuelle Differenz zum Thema machen, die sich durch das Gespräch ergeben hat. Im vorliegenden Fall allerdings wäre mit einer solchen Formulierung der Frage wieder an die Schwierigkeiten des Anfangs erinnert und diesen damit neues Gewicht verliehen, was die erreichte Gemeinschaft wieder beeinträchtigen könnte.

2.3 Gemeinschaft im Interesse am Segen für dieses konkrete lieben Piper weist in seinem Kommentar zum Gespräch darauf hin, dass es zu den besonderen Schwierigkeiten der Kasualgespräche gehört, dass sich hier Seelsorge und Vorbereitung einer Amtshandlung mischen.74 Die Information der Besuchten über den Ablauf der bevorstehenden Handlung auf der einen Seite sowie das in der Regel mit einem bestimmten Fragenkatalog verbundene Erlangen von Informationen über die Erwartungen der Besuchten an die Amtshandlung sowie von »Informationen ..., mit deren Hilfe er seine Predigt persönlich gestalten kann« erschweren es nach Pipers Meinung dem Seelsorger sich auf die Menschen zu konzentrieren, die ihm gegenüber sitzen, und »auf Signale für Konflikte und Ambivalenzen [zu] achtejn]«.75 Während bei Trauerbesuchen ohnehin auch für die Besuchten die bevorstehende Beerdigung im Vordergrund stehe, sei es bei Taufe und Trauung wichtig, sich dieser Spannung bewusst zu sein und gegebenenfalls »umschalten«76 zu können auf ein dezidiert seelsorgerliches Gespräch. Gemeinschaftsorientierte Seelsorge muss dieser Einschätzung widersprechen. Wenn es in den Kasualhandlungen darum geht, die in Verheißung und Anspruch zum Ausdruck kommende Gemeinschaft Gottes mit den Menschen zu feiern, also angesichts von als Ubergang erfahrenen Veränderungen im Leben sich der bleibenden Zuwendung Gottes im Segen zu vergewissern,77 dann wird das sie vorbereitende Gespräch sich ebenfalls um diese Gemeinschaft drehen. Insofern aber die im Segen erfahrene Gemeinschaft mit Gott nach dem Glauben der Kirche ihren Ausdruck gerade in der menschlichen Gemeinschaft des Leibes Christi findet — also auch in der Gemeinschaft zwischen Pfarrerin/Pfarrer als Repräsentant der Kirche und den besuchten Gemeindegliedern — ist das Wesen des Seelsorgegesprächs als Herstellung von Gemeinschaft zugleich die beste Vorbereitung auf die darin vorzubereitende Kasualhand74 Vgl. Piper 1988, 41 f. 75 Piper 1988, 41. 76 Piper 1988, 41. 77 Vgl. Wagner-Rau 2000 sowie für die Trauung konkret Fechtner 2 0 0 3 , 1 2 1 - 1 4 2 , bes. 132ff.

276

lung. Die im gemeinsamen Gespräch hergestellte Gemeinschaft soll ja nicht bei bloßen Äußerlichkeiten stehen bleiben, sondern so weit vertieft werden, dass auch im Blick auf grundlegende Vorstellungen vom guten Leben Übereinstimmungen oder zumindest Angleichungen erzielt werden können. Indem die gemeinschaftliche Perspektive auf solche Entwürfe in den meisten Fällen mit Hilfe topischer Elemente hergestellt werden kann, kann sie zugleich zur Grundlage von Symbolisierungen werden, die dann im Gottesdienst ihren Platz finden. Im Kasualgespräch wird es also darum gehen, durch überzeugende Rede von beiden Seiten zu einer gemeinsamen Perspektive im Blick auf wichtige Aspekte des vergangenen und zukünftigen Lebens der von der Kasualhandlung Betroffenen zu gelangen, und die im Gespräch erarbeitete Gemeinsamkeit dann im Gottesdienst im Bezug auf die biblische Tradition deutend zu entfalten. Die Information über den Ablauf sowie die Beteiligung an der Vorbereitung werden damit zu Elementen im Gespräch, die nicht wie erratische Blöcke herausstehen, sondern organisch einbezogen werden können: Die Struktur der gottesdienstlichen Feier kann als Handlungsstruktur der Betroffenen erläutert werden und so zugleich Anknüpfungspunkte für eigene Deutungen und mögliche Widersprüche schaffen, in denen wiederum die Lebensentwürfe der Besuchten zum Ausdruck kommen. Dies gilt besonders für die Elemente, an deren Gestaltung sie beteiligt sind: die obligatorischen Fragen und Versprechen bei Taufe und Trauung oder die Fürbitten. Insofern stellt das Interesse des Pfarrers/ der Pfarrerin kein Hindernis für ein gelingendes Seelsorgegespräch dar, sondern trägt vielmehr zu dessen Gelingen entscheidend bei, weil anders als beim Geburtstagsbesuch auch von Seiten des Pfarrers/ der Pfarrerin per se ein Interesse daran besteht, die im Gespräch hergestellte Übereinstimmung soweit auszudehnen, dass auch die für das Leben der Besuchten wesentlichen Punkte zur Sprache kommen und zumindest einer Angleichung der Perspektiven zugeführt werden können. Dazu gehören selbstverständlich auch, aber nicht nur, die eventuell damit verbundenen Ambivalenzen und Konflikte, die in der Suche nach Möglichkeiten, angemessene Formulierungen für sie zu finden, zugleich eine Bearbeitung erfahren. Die Anliegen der Seelsorgebewegung werden damit auch in einer gemeinschaftsorientierten Seelsorgepraxis aufgenommen, ohne aber den primären Fokus zu erhalten. Gemeinschaftsorientierte Seelsorge bearbeitet Ambivalenzen und Konflikte, wenn und soweit sie ein Hindernis für die angestrebte Gemeinschaft darstellen. Sie orientiert sich nicht am bestmöglichen Menschen, sondern sucht — mit einer Formulierung Winnicotts ausgedrückt - eine Beziehung zu realisieren, die >hinreichend gut< (>good enoughseelsorgerliches Beratungsgesprächmachen< in dem Satz »Da kann man nichts mehr machen.« Lohse führt anhand dieses Beispiels vor, wie in der Konzentration auf unterschiedliche Aspekte des >machen< (Leitfrage hinter den Äußerungen des Seelsorgers: wer kann was [nicht] machen?) die relevanten Züge des Problems und zugleich mögliche Schritte auf eine Lösung hin zu Tage treten.83 Betrachtet man die Beziehung zwischen ratsuchender und beratender Person, so ergibt sich für Lohse eine komplementäre doppelte Asymmetrie: Zum einen sieht sich die ratsuchende Person als orientierungslos, ohnmächtig, hilfesuchend und/oder in der Opferrolle, dagegen sieht sie die ratgebende Person als wegweisend, allmächtig, Hilfe gewährend und/ oder in der Rolle des Retters/ der Retterin (UP/DOWN-Asymmetrie). Zum anderen sieht sich die ratsuchende Person als mit dem Konflikt in allen Einzelheiten vertraut, während sie die ratgebende Person als ohne hinreichendes Wissen betrachtet (IN/OUT-Asymmetrie). Zu letzterem kommt hinzu, dass sich für die ratsuchende Person die eigenen Probleme häufig als zirkulär darstellen und dadurch eine komplexe Homöosta80 81 82 83

Vgl. Lohse 2003, 2 0 - 2 8 . Lohse 2003, 48. Lohse 2003, 47. Vgl. Lohse 2003, 4 7 - 5 4 .

279

se, d.h. eine Art Balance zwischen verschiedenen Problemaspekten beinhalten, deren Veränderung zugunsten einer Seite durch die ratgebende Person einen sofortigen Ausgleich durch die ratsuchende Person zur Folge hat. Von einem Einstieg in diesen Zirkel, das »Konfliktkarussell«, 84 warnt Lohse daher entschieden. Für das Gelingen der Beratung ist es seiner Erfahrung nach vielmehr erforderlich, die beiden beschriebenen Asymmetrien durch Umkehrung tendenziell aufzuheben zugunsten einer »symmetrisch solidarische [n] Achse«, in der sich beide, ratsuchende wie ratgebende Person, in einer »realistischen UP-Position« und einer »realistischen IN-Position« befinden: 85 Die ratsuchende Person befindet sich in einer realistischen UP-Position, wenn sie sich klar bewusst ist, mit welchen eigenen Ressourcen sie einen ersten Schritt aus ihrer Sackgasse auf ein realistisches und für sie attraktives Ziel hin machen kann. Die ratsuchende Person befindet sich in einer realistischen IN-Position, wenn sie aus dem verwirrenden Problemnebel auftaucht und - unter Ausschließen des Hundertsten und Tausendsten — eine eindeutige Problemlage, die konkret lösbar ist, erkennt. Die beratende Person befindet sich in einer realistischen UP-Position, wenn sie ihre interaktive Kompetenz überlegt und gesteuert einsetzt, um der ratsuchenden Person zu einer UP-Position zu verhelfen. Die beratende Person befindet sich in einer realistischen IN-Position, wenn sie im Hier und Jetzt das begrenzte Mandat der ratsuchenden Person aufnimmt und versucht zu erledigen. Sind diese realistischen Positionen erreicht, stellt sich das Gefühl einer symmetrischen Solidarität zwischen ratsuchender und beratender Person ein. Das Kurzgespräch ist am Ziel.86 Lohse verknüpft damit ein prozesshaftes Geschehen auf der Beziehungsebene mit dem Prozess der Bearbeitung des Problemkomplexes, den der/ die Ratsuchende ins Gespräch einbringt. Ziel ist eine symmetrische Solidarität im Blick auf den Problemkomplex und die sich in diesem Blick zeigenden möglichen Lösungsschritte. Als Mittel, dieses Ziel zu erreichen, dienen der ratgebenden Person Lohse zufolge neben der bereits genannten Konzentration auf das >Sesam-öffne-dich< vor allem das genaue Hinhören auf verbale Formulierungen und nonverbale Zeichen der ratsuchenden Person und eigenes sorgfältiges Formulieren, sowie die Technik der erkundigenden Frage, die Lohse in Anlehnung an die sokratische Mäeutik als nicht-diagnostische, nicht-analytische Fragetechnik beschreibt, mit deren Hilfe die ratsuchende Person ein klareres und differenzierteres Bild von der eigenen Situation entwickeln kann: 84 Lohse 2003, 35. 85 Lohse 2003, 33. 86 Lohse 2003, 33f.

280

Mit mäeutischen Fragen will die beratende Person kein Faktenwissen ansammeln, sondern die ratsuchende Person anleiten, ihre Erfahrungen, Erkenntnisse und Erlebnisse so zu verknüpfen, dass sie von sich aus entdeckt, wie es für sie weitergehen könnte.87 Zu den weiteren von Lohse vorgestellten Techniken gehören auch die Verstörung eingefahrener Denkmuster durch deren Variation,88 die Beschleunigung von Denkprozessen durch Fokussierung,89 die Entschleunigung durch Anregung von Erzählungen,90 das Anregen von realistischen Zielformulierungen, 9 ' sowie das Erschließen von Kraftquellen durch differenzierte Wahrnehmung unterschiedlicher Ressourcen92 und schließlich die Zuspitzung auf das Erarbeiten möglicher Lösungsschritte. 93 Indem Lohse die Notwendigkeit der Herstellung einer symmetrischsolidarischen Beziehung als Gesprächsziel darstellt, erweist er sich als anschlussfähig für eine gemeinschaftsorientierte Seelsorge; letztere wird aber darin über seine Position hinausgehen, dass sie die Zugehörigkeit des Seelsorgers/ der Seelsorgerin zu einer konkreten Glaubensgemeinschaft stärker berücksichtigt, als dies der allgemein auf Beratungsgespräche zielende Ansatz von Lohse tut. Gemeinschaftsorientierte Seelsorge qualifiziert demzufolge die symmetrisch-solidarische Beziehung, von der Lohse spricht, nicht nur formal, sondern auch inhaltlich: sie umfasst den gemeinsamen Bezug auf normative Überzeugungen, die in der Tradition des christlichen Wirklichkeitsverständnisses verwurzelt sind. Die Entscheidung des/der Ratsuchenden, den Seelsorger/ die Seelsorgerin für ein beratendes Gespräch in Anspruch zu nehmen, schließt deren Funktion als Repräsentant/Repräsentantin einer christlichen Kirche mit ein. Daher wird der Seelsorger/ die Seelsorgerin sein/ihr Gegenüber zwar weder auf bestimmte Überzeugungen fesdegen noch ihn in irgendeine Richtung zwingen wollen, aber zugleich darauf achten, dass sein/ihr Gegenüber sich nicht ohne Not auf eine Handlungsmöglichkeit fesdegt, die sich innerhalb der bestehenden christlichen Deutegemeinschaft nicht mehr vertreten lässt. Das von Lohse als bevorzugtes Instrument beschriebene mäeutische Fragen wird also in besonderer Weise die weltanschaulichen und spirituellen Ressourcen der ratsuchenden Person berücksichtigen und darauf achten, dass diese nicht durch ihnen entgegenlaufende Handlungen geschmälert, sondern im Gegenteil durch das sprachliche Handeln des Seelsorgers/ der Seelsorgerin gestärkt werden freilich als Lösungen ermöglichende Ressourcen und nicht als Lösungen verhindernde Restriktionen. Dazu bedarf es in vielen Fällen auch der 87 Lohse 2003, 76; zur erkundigenden Frage vgl. 71-78. 88 Vgl. Lohse 2003, 78-83. 89 Vgl. Lohse 2003, 83-89. 90 Vgl. Lohse 2003, 90-95. 91 Vgl. Lohse 2003, 95-101. 92 Vgl. Lohse 2003, 101-107. 93 Vgl. Lohse 2003, 107-116.

281

Reflexion über Sinn und Funktion bestimmter Überzeugungen, um sie dann durch gezielte Variantenbildung für den konkreten Fall als Ressourcen anwendbar zu machen.

3.2 Auswahl und Analysemethoden Wie dies aussehen kann, soll im folgenden an einem Beispiel verdeutlicht werden, das nicht dem Buch von Lohse entnommen ist, sondern ein ganz anderes Konzept von Seelsorge repräsentiert: Eduard Thurneysen hat es in »Seelsorge im Vollzug« (1968) veröffentlicht. Für Thumeysen steht wie bereits gezeigt94 die inhaltliche Bestimmung des Seelsorgegesprächs als Verkündigung des christlichen Glaubens im Vordergrund. Durch die folgende Analyse soll im Gespräch mit Lohse gezeigt werden, wie die Intention Thurneysens im Zusammenhang einer gemeinschaftsorientierten Seelsorge aufgenommen und mit einer stärker psychotherapeutisch orientierten Theorie des Beratungsgesprächs vermittelt werden kann. Da Thurneysen weder Transkripte noch Verbatims erstellt hat und überhaupt nicht an der genauen Wiedergabe eines konkreten Gesprächs interessiert ist, sondern lediglich in kasuistischer Weise bestimmte Problemkonstellationen anspricht und mögliche Lösungsstrategien benennt, ändert sich auch die Vorgehensweise der Analyse erneut: Im Folgenden wird es darum gehen, im Rückgriff auf Argumentationstheorie und Linguistik die persuasive Strategie genauer herauszuarbeiten, die Thurneysen hier vorschlägt, und die Möglichkeiten ihrer Umsetzung im Rahmen eines beratenden Kurzgesprächs zu erörtern.

3.3 Detailanalyse In seinem 1968 erschienenen Buch »Seelsorge im Vollzug«, das er als Fortsetzung seiner »Lehre von der Seelsorge« versteht, möchte Thurneysen vor allem die Praxis darstellen, die aus seiner Seelsorgelehre folgt.95 Nach einer erneuten Darstellung der »Grundsätze der seelsorgerlichen Praxis (9—96) widmet er sich deshalb ausführlich drei konkreten Praxisfeldern: der »Beratung in Ehefragen« (97—174), der »Seelsorge am Kranken« (175-211) und der »Tröstung der Sterbenden und der Trauernden« (212—240). Der im Folgenden analysierte Abschnitt stammt aus dem Paragraphen zur Beratung in Ehefragen; dort beginnt Thurneysen mit einigen Bemerkungen zu Ort und Rahmenbedingungen des Seelsorgege94 S.o. Kapitel 1, Abschnitt 2.1. 95 Vgl. Thurneysen 1968, 9. Seitenangaben in Klammern ohne weitere Angaben beziehen sich im Folgenden auf dieses Buch.

282

sprächs (ungestört, einladend, ohne Zeitdruck), beschreibt dann die den Gesprächen zugrundeliegenden Ehenöte als vielfältig und oft tiefreichend und fordert echte Begegnung im Gespräch als Voraussetzung für eine ebenso echte und tiefgehende Begegnung der in einer Krise stehenden Ehepartner. Im Fortgang beschreibt Thurneysen seine biblisch-theologisch begründete Sicht der Ehe in sechs Thesen, die er jeweils erläutert: (1) Der Mensch existiert nur als Mann oder Frau, und ist jeweils, unabhängig von der Ehe, unauflösbar auf das andere Geschlecht bezogen. (2) Diese Differenzierung und Bezogenheit von Mann und Frau umfasst den ganzen Menschen, nicht nur das leibliche Dasein. (3) Diese geschlechtliche Differenzierung gehört zur guten Schöpfung Gottes, auch wenn sie durch den Sündenfall zum Kampf zwischen den Geschlechtern pervertiert wurde; Seelsorge wird auf die im Glauben bestehende Möglichkeit einer neu gestalteten, guten Beziehung hinweisen. (4) Mann und Frau sind gleichwertig, nicht gleichartig; darum stehen sie in einer geordneten Beziehung (Eph 5,21 ff), auch außerhalb der Ehe. (5) Ehe ist ausschließliche, völlige und lebenslängliche Gemeinschaft zwischen Mann und Frau. (6) Liebe zwischen Mann und Frau existiert in dreifacher Gestalt von Eros, Sexus und Agape; Agape ist als Gnadengabe »die tragende, über Eros und Sexus herrschende Kraft wahrer Ehe«. 96 Innerhalb der Erläuterungen zu den Thesen 4 bis 6 findet sich dann als letztes von drei Beispielen für die mangelnde Bindungskraft von Eros und Sexus allein und als Plädoyer für die Notwendigkeit der Agape als im Glauben gegründete Annahme des Partners/ der Partnerin auch der Text, der die Grundlage der folgenden Analyse bietet: Ein letztes Beispiel: Nach der Jungsehen Psychologie tragen Mann und Frau ein Bild in sich von dem, was sie an Liebeserfüllung im Leben erwarten. Aber nun geschieht es, daß die Ehe in ihrer Verwirklichung diesem Bild nicht entspricht. Sie hält nicht, was die beiden sich davon versprochen haben, obwohl beide in Liebe zusammengetreten sind. Aus der Tiefe des Herzens steigt immer wieder das Bild auf, das man sich vom Ehepartner gemacht hatte, und dem er nicht entsprach. Und jetzt begegnet dem Manne plötzlich eine andere Frau, und ohne daß er es bewußt will, überträgt er das Liebesbild, das er in sich trug, und das seine Frau, wie er meint, nie ganz erfüllt hat, auf diese andere Frau, und der Riß in der Ehe ist da. Ein Gleiches kann auch bei der Frau geschehen. Es brauchen beide keine niedriggesinnten Naturen zu sein. Es können im Gegenteil edle, tief empfindende Menschen sein, denen solches widerfährt. Aber sie kommen nicht über diese plötzlich aufflammende Zuneigung hinweg, die aus unbewußten Tiefen ihres Innern aufsteigt. Wiederum Abgründe des Herzens! Was kann in der Seelsorge solchen Unglücklichen gesagt werden? Ich möchte es stichwortartig ausdrücken: Verzicht, aber Verzicht nach vorne! Das heißt, es muß ihnen klargemacht werden, daß sie einem Phantom nachjagen, wenn sie meinen, sie würden glücklicher mit einem andern Partner. Es ist eine tiefe Ver96 Vgl. Thurneysen 1968, 1 1 4 - 1 2 3 ; Zitat 123.

283

wirrung des Herzens und der Gefühle, in der sie sich befinden. Gewiß vermissen sie etwas an voller Erfüllung in ihrer Ehe. Und gewiß muß dem Partner, zu dem hin die Türe irgendwie am Zugehen ist, aufgedeckt werden, daß auch er oder sie etwas versäumt oder verloren habe, was sie ihrem Manne oder er seiner Frau zu geben gehabt hätten und nicht gegeben haben. Aber das Entscheidende liegt darin: der Mann hat seine Frau oder sie hat ihren Mann noch nicht entdeckt. Das einander Liebhaben ist niemals eine Gegebenheit, die man mit dem Eheschluß fertig in der Hand hätte als einen Besitz, der nicht verlorengehen kann, der sozusagen durch die bürgerlich-rechtliche Institution der Ehe und durch die erotische Bindung ein für allemal garantiert wäre. Liebe bedingt ein immer neues einander Suchen und Finden, Überraschen und Entdecken. Darum Verzicht auf den Seitensprung und Abweg, der in der Begegnung mit dem Dritten oder der Dritten sich einem anbietet. Der Mann oder die Frau, die von der neuen Begegnung fasziniert sind, haben im Verzicht nach vorne ihren bisherigen Ehepartner ganz neu zu entdecken. Sie werden die sie zunächst beglückende neue Begegnung verstehen müssen als den Aufruf zu solchem neuen Suchen und Finden ihrer in der eigenen Ehe ihnen gegebenen, aber noch nicht wirklich erkannten und realisierten Möglichkeit echter Liebe, echten einander Begleitens. Manchmal braucht es geradezu ein solches Erleben, um die Ehe neu zu begründen.97 3.3.1 Die entscheidenden Eckpunkte der Situation Schon vor einer detaillierten Analyse muss festgehalten werden, dass es Thurneysen hier um ein Eheproblem geht, das relativ eng umgrenzt ist: Es handelt sich um eine Partnerschaft, (1) die ursprünglich auf wechselseitige Liebe der beiden Partner begründet war, in der (2) mindestens einer der beiden Partner die gegenwärtige Situation als weit von seinen/ ihren Idealvorstellungen entfernt wahrnimmt, und in der (3) diese Person nun plötzlich eine neue Liebe zu einer dritten Person empfindet, ohne dass es (4) bereits zu einer intensiven neuen Beziehung gekommen wäre. 98 Vielmehr nimmt (5) die betroffene Person angesichts dieser neu empfundenen Zuneigung zu einem anderen Mann/ einer anderen Frau seelsorgerlichen Beistand in Anspruch. 3.3.2 Die Situationswahrnehmung als seelsorgerliches Handeln Um die Situation zu skizzieren, setzt Thurneysen unter Verweis auf die Jungsche Tiefenpsychologie mit einer konzeptuellen Metapher ein: dem 97 Thurneysen 1968,125f. 98 Aus dem Text läßt sich (4) nur via negativa erheben; aber der Kontext, in dem diese Passage bei Thurneysen steht, legt es nahe, weil Thurneysen hier von den Problemen einer auf Liebe als bloßer Zuneigung gegründeten Ehe handelt, während er die Problematik des Ehebruchs an einem anderen Ort ausführlich beschreibt (135— 138).

284

im Inneren des Menschen vorhandenen Bild von der erwarteten Liebeserfiillung. Zur Logik dieser Metapher gehört es, dass die Realität dem Bild entsprechen kann oder nicht; der letztere Fall ist für Thurneysen in diesem Zusammenhang entscheidend und wird bildhaft ausgeführt. Dabei fällt auf, dass Thurneysen jede Möglichkeit zur Schuldzuweisung an einen der beiden Partner sorgfältig vermeidet. Trotz der vorhandenen Liebe (der allgemein anerkannten Voraussetzung für eine erfüllte Partnerschaft, also eine positive Qualifikation beider Partner), »geschieht es«99 (die unpersönliche Wendung drückt Zufälligkeit bzw. Nicht-Verantwortlichkeit aus): die Realität der Ehe entspricht nicht den Erwartungen der beiden Ehepartner (bei beiden Ehepartnern geschieht dies, nicht nur bei einem - erneut keine Schuldzuschreibung möglich). Thurneysen weitet die Metapher im Folgenden aus und fokussiert sie auf einen der beiden Partner, der durch unpersönliche Formulierung zugleich als verallgemeinerndes Beispiel dargestellt wird: nicht nur die Liebeserfüllung, also ein Zustand, ist als Idealbild vorhanden, sondern auch vom dazu notwendigen idealen Partner existiert ein Bild im Inneren, das der Realität entsprechen kann oder nicht. Gerade der Gegensatz zwischen Realität und Idealbild wird von Thurneysen dramatisch dargestellt: »aus der Tiefe des Herzens« (die Wendung symbolisiert hier zugleich den Kern der Person und den emotionalen Aspekt des Vorgangs) »steigt« (eine aktive Handlung des Bildes, nicht der Person) »immer wieder« (durch die andauernde Wiederholung gewinnt die Handlung Gewicht) »das Bild auf, das man sich vom Ehepartner gemacht hatte« (hier wird Spannung aufgebaut; zugleich wird durch die Unpersönlichkeit der Formulierung die Allgemeinheit des Vorgangs zum Ausdruck gebracht) »und dem er nicht entsprach.« Das kurze Satzende vollendet den dramatisch aufgebauten Gegensatz zwischen dem in einem langen Zug als zutiefst innerlich und ständig präsent beschriebenen Wunsch und der nur mit einem kurzen, abrupten Halbsatz ausgedrückten Verneinung seiner Erfüllung. Diese kontinuierliche Erfahrung wird nun unterbrochen durch ein neues, punktuelles Ereignis (»plötzlich«): dem Mann, der unter der mangelnden Entsprechung zwischen seinem Idealbild und der Realität im Blick auf seine Ehepartnerin leidet, begegnet eine andere Frau (sie begegnet ihm — erneut werden die Geschehnisse als von den Ehepartnern nicht selbst hervorgebracht, sondern quasi erlitten geschildert). Auch wenn der Mann dann selbst die Übertragung seines Bildes auf diese Frau vornimmt, weist Thurneysen darauf hin, dass dies geschieht, »ohne daß er es bewußt will« — also ohne Möglichkeit, dabei schuldig zu werden. Die Konsequenz ergibt sich unmittelbar aus diesem punktuellen Geschehen: »und der Riß in der Ehe ist da«. 99 Da Thurneysens Gesprächsbericht relativ kurz ist und keine Zeilennummern bietet, werden Zitate daraus im folgenden nur durch Anfuhrungszeichen ohne weitere Angaben kenntlich gemacht.

285

An dieser Stelle bindet Thurneysen die Konzentration auf einen der beiden Partner wieder zurück an das Paar als Ganzes: was hier der Klarheit halber an der Person des Mannes dargestellt wurde, kann die Frau genau so treffen. Und Thurneysen weist mit seiner Charakterisierung der Situation nicht nur den Schuldvorwurf zurück, sondern auch den Vorwurf mangelnder Sittlichkeit, der ersatzweise vorgebracht werden könnte: die beiden sind nicht notwendig »niedriggesinnte Naturen«, sondern »können im Gegenteil edle, tief empfindende Menschen sein«. Es geht ihm vielmehr darum, aufzuzeigen, wie wenig die Liebe (als Eros und Sexus) ausreicht als Fundament für eine stabile, dauerhafte Ehe. Denn gerade diese Liebe, dieses tief im Herzen begründete Empfinden von Zuneigung kann sich nach Thurneysens Darstellung in einem Moment auf einen neuen Menschen richten und damit die bestehende Partnerschaft in Frage stellen. Darum kann er die Beschreibung mit dem Aufruf schließen, der auf die bereits vorangegangenen Beispiele zurückverweist: »Wiederum Abgründe des Herzens!« In dieser Beschreibung fallt nicht nur die in den Formulierungen jeweils angelegte Vermeidung jeglicher Schuldzuschreibungen auf; daneben lässt sich noch eine zweite durchgehende Textstruktur offen legen: die der Unterscheidung zwischen dem Bild als Schein und der Realität. Das Bild (der Begriff verweist schon aus sich heraus auf eine in seiner Abbild-Funktion begründete Differenz zur Realität) wird als Ausdruck des Erhofften (also nie real vorhanden Gewesenen) dargestellt, dem die Realität nicht entspricht; es ist ein vom Menschen selbst gemachtes Bild, das so unscharf bleibt, dass es leicht von einer Person auf eine andere übertragen werden kann. Diese Unscharfe bedingt vermutlich auch, dass es keine Sicherheit über die Erfüllung durch die Realität gibt — die Feststellung, dass die Partnerin dieses Bild nie erfüllt hat, wird als subjektive Meinung beschrieben (»wie er meint«), und die Übertragung dieses Bildes sowie die daraus neu entstehende Zuneigung sind nicht bewusste Akte, sondern steigen aus den »unbewußten Tiefen ihres Innern« auf. Insgesamt sind es drei Aspekte, die in Thurneysens Darstellung der Ausgangssituation für das seelsorgerliche Gespräch besonders auffallen: der Verzicht auf Schuldzuschreibungen, die Deutung mit Hilfe der Differenz zwischen Bild und Realität, wobei dem Bild der Charakter des Unsicheren, Unscharfen, Scheinbaren zukommt, sowie schließlich die mit beiden Aspekten verbundene Verankerung des gesamten Geschehens im Unbewussten der betroffenen Person. 3.3.3 Seelsorgerliches Handeln als Prozess des (Um-)Deutens Wie soll nun in der Seelsorge mit dieser Situation umgegangen werden? Thurneysens Lösung ist bereits in der Situationsbeschreibung angelegt und orientiert sich wesentlich am topischen Gegensatz von Täuschung und Realität. Es geht Thurneysen um die Einsicht, dass die gegenwärtige 286

Situation auf einer Unschärfe (»Phantom«, »Verwirrung des Herzens und der Gefühle«) beruht, die aufzudecken und zu beheben sei: dem von seiner Übertragung des Wunschbildes auf eine andere Person ins Gefühlschaos gestürzten Ehepartner sei zuzugestehen, dass er/sie eine mangelnde Übereinstimmung zwischen Idealbild und ehelicher Realität wahrnehme; aber er/sie müsse erkennen, dass die nun mit einer anderen Person neu erhoffte Erfüllung ebenfalls eine Täuschung darstelle (»muß ihnen klargemacht werden, daß sie einem Phantom nachjagen«). Zugleich sei darauf zu verweisen, dass »der Mann ... seine Frau oder sie ... ihren Mann noch nicht entdeckt [hat]«. Der verwirrte Ehepartner ist also nach Thurneysens Analyse in einer dreifachen Täuschung gefangen, die ihm im Gespräch sukzessive bewusst werden soll: zunächst in der Täuschung durch die Hoffnung, dass mit dem ursprünglichen Partner die erwartete Erfüllung in der gemeinsamen Beziehung erreicht werden wird — diese Differenz hat er/sie bereits erkannt, und sie wird ihm für die Gegenwart von Thurneysen zugestanden. Zum zweiten in der Täuschung, dass ein neuer Partner/ eine neue Partnerin dieser Hoffnung besser entsprechen würde; diese Täuschung ist eine Deutung Thurneysens, die aber Plausibilität gewinnt durch das eigene Eingeständnis einer bereits vorliegenden Täuschung in der selben Sache im Blick auf die ursprüngliche Ehe.100 Die dritte Täuschung schließlich hebt die erste partiell auf und liegt darin, dass der ursprüngliche Partner/ die ursprüngliche Partnerin noch gar nicht richtig entdeckt wurde. Da diese Täuschung nicht gleichwertig mit den ersten beiden ist, ist ihre Plausibilität nicht wie im Falle der zweiten durch den Topos der gleichen Bewertung gleicher Sachverhalte gegeben und erscheint zunächst fraglich; Thurneysen unterstützt sie jedoch mit einer direkt anschließenden allgemein formulierten Aussage über das Wesen der Liebe: diese ist kein statischer Besitz, sondern »bedingt ein immer neues einander Suchen und Finden, Überraschen und Entdecken«. - Wenn diese Beschreibung akzeptiert wird, erscheint nicht nur die dritte Täuschung als plausibel, sondern zugleich verändert die ursprüngliche Defiziterfahrung (die Erkenntnis der ersten Täuschung) ebenfalls ihren Charakter von einem statischen zu einem dynamischen Zustand. Die gegenwärtig unbefriedigende Partnerschaft kann dann nicht mehr nur als Offenbarung einer ursprünglichen Täuschung durch die Realität verstanden werden, sondern eröffnet durch die Dynamisierung der Liebe ebenfalls eine Dynamisierung: die gegenwärtige Situation in der Ehe kann nun als ein »noch nicht« verstanden werden, in dem implizit ein >aber dann< als Verheißung mitzuhören ist. Deshalb kann Thurneysen seinen Ratschlag auch unter die Überschrift »Verzicht nach vorne« stellen. 100 Hier liegt das Argumentationsschema der Gleichheit der Bewertung bei Gleichheit der Sachverhalte vor; vgl. das Argumentationsschema 22 bei Kienpointner, s.o. Kapitel 3, Abschnitt 5.4.

287

Thurneysens Rede vom Verzicht nach vorne beinhaltet eine Deutung der plötzlich entflammten Zuneigung zu einer anderen Person nicht nur als (in Zukunft zu vermeidende) Täuschung, sondern auch als (für die Zukunft positiv wirkende) Anregung zu neuer Wahrnehmung der bestehenden Partnerschaft: der in der Logik der neuen Zuneigung liegende Wunsch nach Begegnung mit der entsprechenden Person stelle einen »Abweg«, einen »Seitensprung« dar; der eigentliche Sinn der neu empfundenen Zuneigung liege in ihrer Bedeutung für die Zukunft der bisherigen Partnerschaft: »Sie werden die sie zunächst beglückende neue Beziehung verstehen müssen als den Aufruf zu solchem neuen Suchen und Finden ihrer in der eigenen Ehe ihnen gegebenen, aber noch nicht wirklich erkannten und realisierten Möglichkeit echter Liebe, echten einander Begleitens.« Insofern kann Thurneysen auch die gegenwärtige Situation, in der die Partnerschaft aufs Höchste gefährdet erscheint, positiv werten als Mittel zu einer Neukonstitution gerade dieser Partnerschaft: »Manchmal braucht es geradezu ein solches Erleben, um die Ehe neu zu begründen.« 3.3.4 Die Gemeinschaftsaspekte der Deutestrategie Thurneysens Die Frage, ob und wie weit sich mit Hilfe der skizzierten Strategie eine Gemeinschaft zwischen Seelsorger/Seelsorgerin und ratsuchender Person herstellen lässt, muss in zwei Teilfragen differenziert werden. Zum einen ist zu untersuchen, ob die von Thurneysen vorgetragene Deutung der Situation hinreichend kompatibel zur bisherigen Selbstdeutung der ratsuchenden Person und den hinter dieser Selbstdeutung steckenden Werten ist, um von ihr akzeptiert zu werden und damit eine gemeinsame Perspektive auf das Problem zu ermöglichen. Zum anderen ist zu fragen, ob die vorgeschlagene Handlungsrichtung in der so gedeuteten Situation ausreichend plausibel gemacht werden kann, um gegenüber alternativen Handlungsmöglichkeiten schließlich längerfristig den Vorzug zu erhalten. In einem dritten Schritt soll schließlich analysiert werden, welche Wirkung die Handlungsstrategie Thurneysens auf die Gemeinschaft zwischen den beiden Ehepartnern haben könnte. Aus der bisherigen Analyse wurde bereits deutlich, dass Thurneysen sowohl in der Situationsbeschreibung wie in der Handlungsanweisung jede Schuldzuweisung vermeidet und seine Deutung so ausrichtet, dass die ratsuchende Person nicht als Täter, sondern vielmehr als Opfer von ihr nicht bewusst gesteuerter Vorgänge erscheint. Mit der Beschreibung, die ratsuchende Person befinde sich in »eine[r] tiefefn] Verwirrung des Herzens und der Gefühle«, wird lediglich positiv aufgenommen und inhaltlich qualifiziert, was die ratsuchende Person bereits darin zum Ausdruck bringt, dass sie den Seelsorger/ die Seelsorgerin um Rat fragt: dass es ihr unmöglich ist, allein zu einer klaren und eindeutigen Entscheidung zu kommen, welches Handeln in ihrer Situation am besten sei. Thurney288

sen vermeidet es, darüber hinaus ein zusätzliches, z.B. moralisches Gefalle zwischen Seelsorger/Seelsorgerin und ratsuchender Person entstehen zu lassen, das die Gemeinschaft behindern würde. Vielmehr signalisiert er durch seine Deutung Verständnis und lenkt den gemeinsamen Blick von den schwierigen Ereignissen in der Vergangenheit auf die sich gegenwärtig für die Zukunft bietenden Möglichkeiten und die dazu in der Gegenwart notwendigen Schritte. Seine Deutung der Vergangenheit als Geschehen, in dem die ratsuchende Person weitgehend passiv beteiligt war, und der Ausblick auf mögliche aktive Gestaltung in Gegenwart und Zukunft bieten ihr eine Rolle zur Identifikation an, die sie nicht moralisch oder sittlich abqualifiziert, sondern ihr eine Begegnung >in Augenhöhe< mit dem Seelsorger/ der Seelsorgerin ermöglicht und zugleich sowohl ihrer eigenen Intention entspricht, eine Lösung des Problems herbeizuführen, als auch ihren Wunsch nach erfüllter Beziehung als berechtigt aufnimmt und dessen mögliche Erfüllung beschreibt. Thurneysens Situationsdeutung erscheint daher unter der Voraussetzung, dass die oben beschriebenen, die Deutung tragenden Merkmale auf die Situation zutreffen, als hilfreich für die Herstellung einer gemeinsamen Deuteperspektive zwischen Seelsorger/Seelsorgerin und ratsuchender Person. Ob die so entstandene Gemeinschaft aufrecht erhalten werden kann, wenn der Seelsorger/ die Seelsorgerin sich in dieser Situation angesichts mehrerer denkbarer Möglichkeiten klar für eine bestimmte Handlungsaltemative ausspricht, ist damit noch nicht gesagt. Lohse warnt vor einem solchen Schritt, weil dadurch die komplexe »Homöostase« zwischen den verschiedenen Aspekten des inneren Konflikts der ratsuchenden Person aus der Balance gerate und ein »Konfliktkarussell«"" in Gang gerate, in dem von Seiten der ratsuchenden Person immer wieder neu die Unmöglichkeit einer solchen Lösung aus der Kompliziertheit der ganzen Angelegenheit bewiesen werde. Weil nur die ratsuchende Person selbst die Auswirkung von Veränderungen in der Homöostase realistisch einschätzen könne, empfiehlt Lohse, dass die beratende Person sich statt eigener Vorschläge zur Veränderung darauf beschränken solle, auf Gefahren hinzuweisen, die diese Veränderung mit sich bringt, und so die ratsuchende Person dazu ermutige, selbst mögliche Veränderungen zu thematisieren. Dazu dient ihm auch die Technik des »mäeutischen Fragens«, mit deren Hilfe die ratsuchende Person zu neuen Wahrnehmungen und Überlegungen angeleitet werden kann, ohne dass sie dabei die Herrschaft über den Prozess verliert und sich in Abhängigkeit von der ratgebenden Person und deren externer Deutung begeben muss.102 Wenn Lohse es als Ziel dieser Methode beschreibt, »dass die ratsuchende Person zu dem kommt, was in ihr steckt«, dann liest sich das neutraler, als es de facto sein kann, denn durch die Fragen wird die Auf101 Vgl. Lohse 2003, 35-41. 102 Vgl. Lohse 2003, 71-78.

289

merksamkeit der ratsuchenden Person auf bestimmte Bereiche fokussiert, die damit an Gewicht gewinnen, während andere, geringer oder nicht berücksichtigte Bereiche Gewicht verlieren. Außerdem stellt die konkrete Formulierung der Frage das Erfragte immer zugleich in einen bestimmten Kontext, in eine bestimmte Verbindung zu Anderem. Das mäeutische Fragen ist also im Kern ebenso ein rhetorisches Verfahren wie das Eintreten in die direkte Argumentation; es geht nur anders vor und vergrößert durch die Haltung des Fragens den Freiheitsgrad der ratsuchenden Person, weil die fragende Person weder selbst direkt Stellung bezieht, noch die ratsuchende Person zur Übernahme einer bestimmten Einstellung auffordert, so dass letztere nicht in die Lage kommt, sich verteidigen zu müssen und deshalb offener reden kann. Mit Hilfe des mäeutischen Fragens kann auch die Strategie Thurneysens unter bestimmten Bedingungen so umgesetzt werden, dass die Gemeinschaft zwischen Seelsorger/ Seelsorgerin und ratsuchender Person dadurch nicht gefährdet wird. Das Gelingen der Strategie wird allerdings davon abhängen, ob und zu welchem Grad es der ratsuchenden Person möglich ist, angesichts der konkreten Geschichte der ursprünglichen Partnerschaft die Hoffnung auf eine Erfüllung der eigenen Wünsche in der Beziehung zum ursprünglichen Partner/ zur ursprünglichen Partnerin wieder zu beleben. Sollte sich dies trotz der Unterstützung durch die Fragen des Seelsorgers/ der Seelsorgerin als nicht möglich herausstellen, so ist für die Gesprächsgemeinschaft dennoch nichts verloren, weil die bisherigen Fragen lediglich den Status der ergebnisoffenen Erkundigung und Erkundung hatten, so dass als Ergebnis auch die gemeinsame Feststellung möglich erscheint, dass diese Alternative angesichts der konkreten Umstände nicht durchführbar erscheint. Ein solcher Fall wäre z.B. gegeben, wenn sich herausstellen sollte, dass schon zu Beginn der Partnerschaft das gegenseitige Von-einander-angezogen-Sein nur einseitig gegeben war und so die Partnerschaft an keinem Punkt ihrer Geschichte Ressourcen bietet, die in der gegenwärtigen Krise genutzt werden könnten. In diesem Fall hätte sich dann im Gespräch herausgestellt, dass die reale Situation der Fallbeschreibung Thurneysens nicht hinreichend entspricht, um hier als Leitbild dienen zu können, und daher andere Leitbilder heranzuziehen sind — z.B. Überlegungen dahingehend, wie eine solche Partnerschaft möglichst im Geist der Nächstenliebe beendet werden kann. Verbindet man Thurneysens Strategie mit dem von Lohse für das beratende Kurzgespräch geforderten Vorgehen, so lässt sich die Gemeinschaft zwischen Seelsorger/Seelsorgerin und ratsuchender Person ohne spürbare Beeinträchtigung aufrechterhalten, obwohl der Seelsorger/ die Seelsorgerin gegenüber den verschiedenen Handlungsalternativen keineswegs neutral eingestellt ist, sondern eine eindeutige Option vertritt, die nicht unbedingt die bevorzugte Option der ratsuchenden Person ist. 290

In der Praxis wird die Seelsorgerin/ der Seelsorger darauf achten müssen, ganz im Sinne Lohses dem Gegenüber mit Hilfe mäeutischer Fragen genug Raum zu geben, beide Beziehungen hinsichtlich der damit verbundenen Gedanken und Emotionen darzustellen, damit beim Gegenüber nicht der Eindruck entsteht, der Seelsorger/ die Seelsorgerin lege ihn/sie auf eine bestimmte Position fest. Dabei geht es darum, zwei Unterschiede herauszuarbeiten: den Unterschied zwischen den Hochphasen (oft zu Beginn) der Partnerschaft und dem gegenwärtigen Zustand, und den Unterschied zwischen der bisherigen und der neu begonnenen Beziehung. Auf der Basis dieser Unterschiede kann dann nach Ressourcen in der ehelichen Beziehung gesucht werden, die Anknüpfungspunkte für die Zukunft bieten. Alles dies kann durch die Einladung zu Erzählungen erreicht werden, die entsprechend fokussiert erfolgen. Um ein konkretes Beispiel zu geben, führe ich für den von Thurneysen skizzierten Fall und die von ihm vorgeschlagene Strategie eine Kette möglicher Fragen an, die jeweils als Einladungen zum Erzählen bzw. hypothetischen Erzählen zu verstehen sind: »Erzählen Sie doch bitte: Was macht Sie dankbar, wenn Sie an die neue Beziehung denken?« — »Und was macht Sie traurig/wütend, wenn Sie an Ihre Ehe denken?« — »Gab es Zeiten, zu denen Sie das, was Sie jetzt in der neuen Beziehung erfahren und schätzen, auch in Ihrer Ehe erfahren haben?« — »Wie ist es zu dieser Veränderung zum Schlechteren gekommen?« - »Wie müsste Ihre Ehe aussehen, damit Sie einen Gewinn darin sähen, die Beziehung mit Ihrem Ehepartner/ Ihrer Ehepartnerin aufrecht zu erhalten?« — »Was wäre der Gewinn, den Sie von einer solchen erneuerten Beziehung hätten?« — »Was müsste sich sofort verändern, damit Sie daran glauben könnten, dass Ihre Ehe sich zu dem Zustand entwickeln kann, den Sie vorhin beschrieben hatten?« — »Welche Voraussetzungen hätte diese Veränderung? Was könnte ein erster Schritt sein, der die genannte Veränderung in Gang bringt?« — »Trauen Sie es sich/ Ihrem Partner/ Ihrer Partnerin zu, diesen Schritt zustande zu bringen? Wer oder was könnte Sie/ Ihren Partner/ Ihre Partnerin darin unterstützen?« — »Was könnte Ihre Rolle dabei sein? Haben Sie ein Bild vor Augen, wie Sie konkret vorgehen können?« - »Glauben Sie, dass Sie diesen ersten Schritt tun können?« Die angegebene Fragenkette kann freilich nur zur Verdeutlichung des Gesagten eine mögliche Gesprächsstruktur wiedergeben, die keineswegs als normative, ideale oder gar einzig mögliche Alternative gemeint ist; im konkreten Einzelfall sind die Formulierungen zudem jeweils den Gesprächsbeiträgen der ratsuchenden Person anzupassen und gegebenenfalls in Reaktion darauf auch die Fragerichtung zu modifizieren.103 Die an103 Natürlich kann sich auch der Fall ergeben, daß die ratsuchende Person bereits so auf eine Antwort festgelegt ist, daß sich jeglicher Versuch, durch Fragen oder andere Methoden alternativen Möglichkeiten Präsenz zu verleihen, als unmöglich

291

geführte Fragenkette sollte aber gezeigt haben, dass die Strategie Thurneysens sich nicht nur in Form eines Vortrags oder eines >Anpredigens< umsetzen lässt, sondern als Strategie offen ist für unterschiedliche Formen der Umsetzung. Die Verknüpfung mit der von Lohse vorgestellten Methodik des Kurzgesprächs erscheint als tauglich, um trotz einer inhaltlichen Präferenz seitens der Seelsorgerin/ des Seelsorgers die Gemeinschaft mit der ratsuchenden Person nicht zu gefährden, sondern eher zu vertiefen. In diesem Zusammenhang sollte auch die Wirkung der Deutungsstrategie Thumeysens auf die Gemeinschaft der beiden Ehepartner noch betrachtet werden. Zum Zeitpunkt des Gesprächs ist diese Gemeinschaft offensichtlich stark gefährdet. Thurneysen achtet jedoch auch hier darauf, dass sich kein Gefälle einstellt, dass nicht der eine Partner als Täter dasteht und der andere als Opfer. Er weist vielmehr darauf hin, dass nicht nur die ratsuchende Person ihren Partner noch nicht richtig entdeckt hat, sondern auch dieser Partner »etwas versäumt oder verloren habe, was sie ihrem Manne oder er seiner Frau zu geben gehabt hätten und nicht gegeben haben«. Wenn dies beiden Partnern plausibel vermittelt werden kann, bietet diese Gemeinsamkeit eine neue Ausgangsbasis, weil sie sowohl gegenseitige Schuld wie die Möglichkeit zu gegenseitiger Vergebung angesichts einer noch offenen Zukunft etabliert. Zur Ausgangsbasis für weitere Gemeinschaft wird diese Deutung allerdings nur, wenn auch die gemeinsame Zukunft realistisch erscheint, d.h. wenn die Hoffnung auf zukünftige Erfüllung der beiderseitigen Wunschvorstellungen von einer gelungenen Beziehung von beiden als realistisch erlebt wird. Dazu gehört möglicherweise ein vom Seelsorger/ von der Seelsorgerin oder einer anderen neutralen und geschulten Person vermitteltes intensives Gespräch der beiden Ehepartner, in dem ohne Schuldzuweisungen über diese Wunschvorstellungen gesprochen werden kann. Aus der Skizze Thurneysens lässt sich dies zwar nicht ohne weiteres entnehmen, es liegt aber im Duktus seiner Strategie, zu der für ihn auch die (für Thurneysen nicht vom Seelsorger zu leistende) therapeutische Verarbeitung von psychischen Problemen gehört, die bei einem oder beiden Ehepartnern zu übersteigerten Erwartungen im Blick auf den Partner geführt haben. Wichtig ist Thurneysen im Blick auf die zukünftige Partnerschaft, dass sie nicht nur in Eros und Sexus gründet, sondern in Agape, d.h. »die Ehe kann nicht nur auf natürlich-biologischen oder auf rein psychologisch bestimmbaren Voraussetzungen sich auferbauen, sondern sie muß auf ewigem Grunde ruhen.«104 Anders ausgedrückt: »Die Eheparterweist. In diesem Fall steht der Seelsorger/ die Seelsorgerin vor der Frage, ob er/sie die bereits feststehende Antwort >rechtfertigen< kann und will, oder — ganz im Sinne Thurneysens — gegebenenfalls darauf hinweist, daß hier eine Täuschung über Person und/oder Aufgabe des Seelsorgers/ der Seelsorgerin besteht und deshalb ein anderer Gesprächspartner/ eine andere Gesprächspartnerin gesucht werden sollte. 104 Thurneysen 1 9 6 8 , 1 2 6 .

292

ner sind nicht mehr sich selber überlassen, ein Boden ist unter ihren Füßen, der sie trägt.«'05 Für die Seelsorge bedeutet dies, dass im Gespräch ähnlich wie bei Kasualhandlungen die Verheißung Gottes zur Sprache zu bringen ist, dass die Hoffnung auf den Segen Gottes für die gemeinsame Zukunft ebenso stark gemacht werden muss, wie den beiden Partnern die Wagnisse auf diesem gemeinsamen Weg angesichts der Erfahrungen in der Vergangenheit vor Augen stehen. Da Gottes Segen sich nicht nur in unerwarteten Wendungen und >Wundern< zeigt, sondern auch in der Begabung von Menschen mit Ressourcen, die ihnen helfen, im Geist der Liebe mit einander zu leben, sollte dieses >stark machen< der Hoffnung auch durch die rhetorische Verstärkung gemeinsam mäeutisch herausgearbeiteter Ressourcen106 für ein mögliches Gelingen der Partnerschaft erfolgen. Solche Verstärkung wirkt vor allem durch ausfuhrliches, emotional gefärbtes Vor-Augen-Stellen, d.h. primär durch das Erzählen von Geschichten (aus der Vergangenheit wie auch hypothetisch von der erhofften Zukunft). Auch Ritualhandlungen wie z.B. ein Gebet oder ein erneuter Segen mit Handauflegen können in dieser Situation der weiteren Verstärkung der Hoffnung dienen — nicht anstelle, sondern in Aufnahme des Gesprächs. Und die im Seelsorgegespräch entstandene Gemeinschaft mit dem Seelsorger/ der Seelsorgerin wird als Ressource ebenfalls nicht unterschätzt werden dürfen - kann sie doch bei den Ratsuchenden zum Symbol werden für das Vertrauen darauf, dass die eigene Beziehung nicht eine reine Privatsache ist, sondern begleitet wird: durch Gott, aber eben auch durch andere Menschen, denen das Schicksal dieser Partnerschaft nicht gleichgültig ist. 3.4 Der Nutzen der Kasuistik fir die Seelsorge Es gehört zum Wesen von Gemeinschaft, dass sie sich auf gemeinsame Normen bezieht.107 Was dies für die Seelsorge bedeutet, hat der Rückgriff auf Thurneysens Fallbeispiel gezeigt: der Seelsorger/ die Seelsorgerin steht den möglichen Lösungsalternativen nicht neutral, gleich-gültig gegenüber, sondern unterstützt die ratsuchende Person darin, eine Lösung zu finden, die den Anforderungen der Gemeinschaft gerecht wird, zu der Seelsorger/Seelsorgerin wie ratsuchende Person gehören — hier im konkreten Fall kam dies in der Bevorzugung der Option für die Aufrgthterhaltung und Neubelebung der bestehenden Ehe zur Geltung. Dass diese Normgebundenheit nicht mit dem Geltendmachen apodiktischer Forderungen zu verwechseln ist, wurde bereits bei Thurneysen selbst sichtbar, der in seinem Fallbeispiel moralische Konnotationen 105 Thurneysen 1968, 127. 106 Zur Ressourcenorientierung vgl. Lohse 2003, 1 0 1 - 1 0 7 . 107 Vgl. oben Kapitel 1, Abschnitt 6.

293

strikt zu vermeiden sucht, und auch die Forderung nach Aufrechterhaltung der bestehenden Partnerschaft nicht einfach mit Verweis auf die Bibel begründet, sondern zusätzlich von den Folgen her argumentiert: im unmittelbaren Anschluss an den hier analysierten Text verweist Thurneysen darauf, dass »Bruch oder Scheidung ... nur neue und dann endgültige Enttäuschung bereiten [würden]. Man kann sein Leben auch und gerade auf diesem Felde nicht wiederholen, ohne tiefe und bleibende Verwundung davonzutragen.«108 Noch deutlicher konnte die nicht-autoritative Anwendung normativer Tradition aber in der Verbindung von Thurneysens Empfehlung mit den methodischen Überlegungen von Lohse zum Kurzgespräch aufgezeigt werden: Gemeinschaft beruht nicht einfach auf der Akzeptanz bestimmter vorgegebener Normen, sondern bedarf der Herstellung und Aufrechterhaltung durch die kommunikative Adaption der Normen an die Situation. Dazu gehört deren Umsetzung in eine kommunikative Strategie, bei der die Situation der ratsuchenden Person mit ihren Wünschen und Ressourcen in den Mittelpunkt des Gesprächs tritt, und die sich darum bemüht, die Gemeinschaft zwischen Seelsorger/Seelsorgerin und ratsuchender Person nicht zu gefährden, sondern auch mit Hilfe rhetorischer Verfahren zu etablieren und zu intensivieren. Auf diese Weise wird auch die häufige Verknüpfung zwischen ethischem Konflikt und Autoritätskonflikt aufgebrochen, die Klaus Winkler als Schwierigkeit bei der Einbeziehung materialer Ethik im Seelsorgegespräch beschrieben hat.109 Aus der Perspektive der theologischen Ethik hat Dietz Lange darauf hingewiesen, dass die meisten ethischen Problemfalle, die in der Seelsorge auftreten, nicht nur auf persönlichkeitsspezifische Probleme im Umgang mit einer bestimmten Norm zurückzuführen sind, sondern darüber hinaus einen Normenkonflikt beinhalten: Wenn mir zwei verschiedene, relativ berechtigte Forderungen mit Unbedingtheit begegnen: Was erlaubt mir, einer von ihnen nicht Folge zu leisten? Die Wahl des geringeren Übels als des geringeren bleibt zwar die gebotene Entscheidung; als Wahl eines Übels dagegen bleibt sie auf der Ebene der Unbedingtheit Schuld - unvermeidlich zwar, aber dennoch zurechenbar, und zwar gleichgültig, ob sich die Wahl im nachhinein als richtig oder als falsch erweist.110 In dieser Problematik sieht Lange den eigentlichen Kern christlicher Seelsorge: diese Schuld kann nicht einfach aufgelöst werden — weder durch Ausreden noch durch Rationalisieren - , aber sie kann und muss in der Seelsorge theologisch als Störung des Gottesverhältnisses interpretiert werden, die nur durch Zuspruch von Vergebung aufgehoben werden kann. Aus der Vergebung heraus erwächst dann der »Mut, unvermeidliche Schuld auf sich zu nehmen, also auf der Ebene der konkreten ethi108 Thumeysen 1968,126. 109 Vgl. K. Winkler 1991, 37f. 110 D. Lange 1991,69.

294

sehen Entscheidung Güter abzuwägen und das geringere Übel zu wählen«, wobei anders als in der bloßen philosophischen Rationalisierung die Möglichkeit eröffnet wird, »das Bewußtsein der Zweideutigkeit jeder ethischen Entscheidung und die Spannung zwischen den Ebenen des Unbedingten und des Relativen auszuhalten«." 1 Wenn Lange allerdings als praktische Konsequenz lediglich fordert, den Menschen in diesem Konflikt anzunehmen, den Kern des Konflikts herauszuarbeiten und die Vergebung zuzusprechen, um dadurch eine Basis für eine Entscheidung und damit für neues Handeln zu schaffen," 2 dann greift er damit m.E. noch zu kurz: Weil die Normen, die hier in Konflikt geraten sind, ihre Gültigkeit nicht aus der apodiktischen Setzung durch Gott erfahren, sondern aus der kommunikativen Herstellung innerhalb einer realen Gemeinschaft, wird auch Vergebung nicht nur als Vergebung Gottes zugesprochen werden können, sondern auch in der Beziehung zu der Gemeinschaft erfahren werden müssen. Sofern es sich bei dieser Gemeinschaft um die Gemeinschaft der Kirche handelt, geht es deshalb im Seelsorgegespräch auch darum, auch die konkrete Entscheidung im Prozess des Aushandelns vorzubereiten, so dass eine gemeinsame Perspektive darauf entsteht, welche Alternative in der konkreten Situation das kleinere Übel darstellt. Anders als der vom therapeutischen Paradigma ausgehende Ansatz von Winkler, der ethische Entscheidungsprozesse in ihren entscheidenden Faktoren möglichst umfassend bewusst machen möchte, damit das Individuum zu einer eigenständigen Entscheidung in der Lage ist, und der deshalb jegliche Kasuistik in der Seelsorge ablehnt," 3 sieht der vorliegende gemeinschaftsorientierte Ansatz daher auch den Nutzen einer Kasuistik in der Seelsorge: Wenn das Ziel weniger in der Maximierung von Bewusstsein des Einzelnen im Zusammenhang mit ethischen Entscheidungen liegt, als vielmehr darin, in einer Situation pluraler und konfligierender Interessen (sowohl in der Person des/der Ratsuchenden wie auch in dessen/deren Umfeld) eine Lösung zu finden, mittels derer die ratsuchende Person sich nicht aus der bestehenden Gemeinschaft ausschließt und zugleich nicht in die Lage kommt, die eigene Identität mit ihrer Geschichte und ihren Bedürfnissen verleugnen zu müssen, dann können kasuistisch geordnete Modelle von Handeln und zu erwartenden Folgen im Sinne Toulmins" 4 dabei helfen, eine solche Entscheidung durch das gedankliche >Durchspielen< der verschiedenen relevanten Modelle auf ihre Akzeptabilität zu überprüfen und dann das den situativen Anforderungen am besten entsprechende Modell in seinen Details auf die konkrete Situation hin anzupassen (Stichwort: Variantenbildung) und anzu111 112 113 114

D. Lange 1991, 73. Vgl. D. Lange 1991, 7 3 - 7 7 . Vgl. K. Winkler 1991, 28. Vgl. oben Kapitel 3, Abschnitt 5.5.4.

295

wenden. Dabei gilt es, zwei Ebenen zu unterscheiden, auf denen Kasuistik im Beratungsgespräch wirksam werden kann: (1) die Ebene des im Gespräch thematisierten Konflikts; die hier benötigte Kasuistik ist im Wesentlichen allgemein-ethischer Natur und muss in Kooperation mit der theologischen Ethik formuliert werden; (2) die Ebene der vom Seelsorger/ von der Seelsorgerin zu wählenden Gesprächsstrategie; hier geht es um das seelsorgerliche Verhalten, das ja nicht ohne Folgen für die Frage nach den Inhalten der im Gespräch zu erreichenden inhaltlichen Lösung bleibt; insofern verbinden sich hier allgemein-ethische und spezifisch pastoralethische bzw. poimenische Gesichtspunkte. Die Ausarbeitung einer solchen pastoralethischen und einer allgemeinethischen Kasuistik, wie sie Thurneysen in seinem Buch »Seelsorge im Vollzug« auf dem Stand seiner Zeit zumindest ansatzweise bietet, stellt für die gegenwärtige Seelsorge ein ebenso dringendes Desiderat dar, wie die bereits zuvor geforderte Kasuistik milieuspezifischer Topik und verbindet sich mit dieser.

296

Fazit und Ausblick Die in dieser Arbeit vorgestellte Konstruktion einer gemeinschaftsorientierten, rhetorisch verfahrenden Seelsorge wurde weder historisch hergeleitet noch systematisch begründet. Sie verdankt sich primär einer pragmatischen Setzung, die von der Plausibilität und Funktionalität ihrer Ausführung lebt. Wenn der Begriff von Gemeinschaft, der im Dialog mit bisherigen Seelsorgekonzepten, Dogmatik, Kirchentheorie, Soziologie und Gemeinschaftstheorie entwickelt wurde, als eine zutreffende Beschreibung von Kirche nachvollzogen werden kann, wenn es plausibel erscheint, dass Kommunikation auch in der Kirche heute nicht primär als wertneutrale Weitergabe von Informationen zu beschreiben ist, sondern als In-formation, als gestaltende Einwirkung auf eine andere Person mit sprachlichen Mitteln, die auf Übereinstimmung im Blick auf zukünftiges Handeln zielt, wenn darüber hinaus die in theoretischen Erwägungen und Analyse von praktischen Beispielen dargestellte Praxis als der Situation der Kirche in der Gegenwart angemessen erscheint, dann kann die vorliegende Konstruktion von Seelsorge Geltung beanspruchen. Damit versteht sich diese Arbeit selbst als Teil der Kommunikation, in der die Mitglieder der communio sanctorum sich darüber verständigen, was für die Gemeinschaft insgesamt gut oder besser ist, als eine Variantenbildung innerhalb der Tradition der Seelsorge, deren Legitimität sowohl daran hängt, dass sie als in sich schlüssige Variante der gemeinsamen Tradition anerkannt wird, wie auch daran, dass ihr Entwurf als eine Weiterentwicklung anerkannt wird, welche unter den Bedingungen dieser Welt die gegenwärtige Praxis christlichen Lebens dem eschatologischen Ziel des Lebens im Reich Gottes ein Stück näher bringt. Zu diesem Zweck wurde in Kapitel 1 eine trinitätstheologisch fundierte Ekklesiologie beschrieben, die soziologisch als Gemeinschaft im Gegenüber zur Gesellschaft bestimmt wurde und deren Gemeinschaftsbegriff gemeinschaftstheoretisch als Wir2-Gruppe expliziert werden konnte, die ihre Identität in der expliziten Übereinstimmung ihrer Mitglieder im Blick auf bestimmte Werte gewinnt, wobei zugleich die Mitglieder ihre Identität aus dem Bezogensein auf die Gemeinschaft gewinnen. In Kapitel 2 wurde eine Konzeption von Rhetorik vorgestellt, die Rhetorik als notwendigen Ausgleich für den Mangel an Instinktgeleitetheit und Sicherheit im Umgang mit der Welt versteht und die das Ziel rhetorischer Kommunikation in der Herstellung von Übereinstimmung im Blick auf zukünftiges Handeln sieht. Eine solche Rhetorik versteht alle Kommunikation als rhetorisch, soweit sie intentional ist, d.h. Ab297

sichten verfolgt, oder aber von den Rezipienten als intentional wahrgenommen wird. Sie kommuniziert mit Hilfe von Zeichen, die im Sinne der Peirceschen Semiotik als dreistellig verstanden wurden, und zu denen auch die Symbolzeichen gehören, deren besondere Wirkung darauf beruht, durch hinreichende Ähnlichkeit mit frühkindlichen Selbstobjekterfahrungen eine erneute Selbstobjekterfahrung und damit Identitätsstärkung zu ermöglichen, aufgrund der zugleich wahrgenommenen Differenz zur ursprünglichen Erfahrung aber einen >Möglichkeitsraum< (Winnicott) eröffnet, der als Freiheitsraum genutzt werden kann. Schließlich wurde auf die enge Verbindung von Rhetorik und Psychotherapie verwiesen, wie sie sich nicht nur in der Psychoanalyse, sondern auch in der personzentrierten Therapie und in besonderer Weise in der konstruktivistischen Kurzzeittherapie von Watzlawick u.a. nachweisen lässt. In Kapitel 3 wurden schließlich anhand der antiken Struktur der fünf rhetorischen Arbeitsschritte eine Vielzahl von rhetorischen Theorieelementen vorgestellt, von denen sich die Topik als Lehre von Gemeinplätzen und darauf bezogener plausibler Argumentation in Verbindung mit der Forderung einer auf die Darstellung der Konsequenzen zukünftigen Handelns anhand von Fallbeispielen bezogenen Kasuistik als besonders zentral herausstellte, freilich ergänzt durch Fragen des Auffindens und der Anordnung von Gesichtspunkten, deren möglichst wirksamer und zugleich einprägsamer sprachlicher Gestaltung und schließlich auch der Bedeutung des Gesamteindrucks, den die Person des Seelsorgers/ der Seelsorgerin im Gespräch bietet. Kapitel 4 diente schließlich dazu, einige der dargestellten Theorieelemente nun in der Analyse von Seelsorgegesprächen auf die Praxis zu beziehen und damit über Beispiele eine deutlichere Sicht auf die hier vertretene Konstruktion von Seelsorge zu ermöglichen und diese zugleich mit anderen Seelsorgekonzeptionen ins Gespräch zu bringen. Dabei konnte anhand des Transkript-Ausschnitts eines Geburtstagsbesuches gezeigt werden, dass die vorliegende Konstruktion zwar wie Hauschildt die Wahrnehmung auf die Details in der Interaktion lenkt, aber diese nicht von den Idealen der Therapie und der Verkündigung her als Miniaturen therapeutischen oder verkündigenden Handelns versteht, sondern sie noch stärker in ihrer eigenständigen, weder verkündigenden noch therapeutischen, sondern interaktiv-aushandelnden Funktion wahrnehmen kann — als Aushandeln dessen, was gelten soll, z.B. im Blick auf die Situation von Frau C2: Ist nur ihre Stärke, ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit ein Wert, der im Gespräch Anerkennung findet, oder gilt auch ihre Schwäche und Hilfsbedürftigkeit als zulässig in der im Gespräch aktualisierten Gemeinschaft der Kirche? Anhand des Verbatims eines Kasualbesuchs anlässlich einer Trauung konnte im Gespräch mit Piper gezeigt werden, dass sich die Schwierigkeiten in der Bestimmung einer einheitlichen Funktion dieses Gesprächs auflösen, wenn man nicht mehr die Bearbeitung eines Konflikts als 298

Hauptfunktion von Seelsorge postuliert, sondern erneut die Frage in den Mittelpunkt stellt, welche Werte denn Geltung haben sollen im Leben des Brautpaars und in der Gemeinschaft der Kirche und darum als geltend dargestellt werden sollen im bevorstehenden Traugottesdienst. Anhand der Beschreibung eines Beratungsgesprächs in Eheangelegenheiten konnte schließlich im Rückgriff auf Eduard Thurneysen entwickelt werden, wie dessen Anliegen der Verkündigung der Rechtfertigung und der Zurechtbringung in einer gemeinschaftsorientierten Seelsorge in einer Weise aufgenommen werden kann, die der Freiheit des Individuums Rechnung trägt und zugleich eine Einladung zur Gemeinschaft darstellt. Das Spezifikum der vorliegenden Konstruktion von Seelsorge liegt in erster Linie im Bereich der Ziele von Seelsorge sowie, damit verbunden, in einer Horizontverschiebung in der Frage nach dem Status der Personen, die Seelsorge in Anspruch nehmen. Sie erscheinen nun nicht mehr als autonome Individuen, auch nicht (wie in der systemischen Seelsorge) als in ihre Umwelt eingebundene und in den Interdependenzen der jeweiligen Systeme gebundene Individuen, denen die Seelsorgerin/ der Seelsorger als Außenstehende(r) gegenübertritt, sondern als Individuen, die immer schon in eine Gemeinschaft eingebunden sind, die auch den Seelsorger/ die Seelsorgerin umfasst: die Kirche. Aufgabe von Seelsorge ist es demnach nicht mehr an erster Stelle, die psychischen Konflikte eines Individuums zu bearbeiten, um dadurch dessen als möglichst autonom verstandene Identität zu fördern, sondern es wird im Gespräch der Versuch unternommen, die in der Gemeinschaft der Kirche geltenden Werte im Blick auf konkrete Situationen auszuhandeln und damit die diesen Werten zugrunde liegenden Traditionen durch Variantenbildung fortzuschreiben und weiterzuentwickeln. Dieser Aufgabe dient auf poimenischer Seite vor allem die Entwicklung einer differenzierten Topik und Kasuistik, die es ermöglicht, in den unterschiedlichen Gesprächskontexten jeweils plausible und erstrebenswerte Bilder von der erstrebenswerten Zukunft zu präsentieren. Angesichts dessen, dass Kirche in der Moderne die Meinungsführerschaft im Diskurs über Werte verloren hat und diese Diskurse, soweit sie eine größere Reichweite besitzen, gegenwärtig daher in den allermeisten Fällen in anderen Sprachspielen ablaufen (v.a. den Sprachspielen der multimedialen Inszenierungen, wie z.B. in der Werbung), darf sich die Poimenik dabei nicht auf eine Sichtung der kirchlichen Überlieferung beschränken, sondern muss auch die wertebezogenen Topoi anderer Gemeinschaften und Institutionen in die zu entwickelnde Kasuistik mit einbeziehen. Zur Erfüllung dieser Aufgabe bedarf sie der intensiven Zusammenarbeit mit der theologischen Ethik. Nachdem der Schwerpunkt seelsorgerlicher Tätigkeit im Verständnis der vorliegenden Konstruktion wieder im Bereich der Theologie liegt, 299

nämlich im Deuten und Fortschreiben von christlicher Überlieferung, kann auch der Wert deutlicher wahrgenommen werden, den das theologische Studium in seinen exegetischen, historischen und systematischen Differenzierungen für die Seelsorge darstellt. Allerdings ergeben sich zugleich auch Anstöße zu Reformen im Theologiestudium. Die Anfragen an dessen gegenwärtige Gestalt, die sich aus der vorliegenden Konstruktion von Seelsorge ergeben, betreffen vor allem deren einseitige Bevorzugung der Frage nach historischer Genese und interner Konsistenz theologischer Konzeptionen gegenüber der Frage nach den Konsequenzen theologischer Aussagen für die Frömmigkeit und das Handeln der Christen, sowie von analytisch-reflektierender und beschreibender Praxis gegenüber einer konstruktiv-applizierenden und gestaltenden Praxis. Eine stärkere Einbeziehung von Werten im Sinne von Visionen gelingenden Lebens in der Gemeinschaft der Kirche ließe sich quer durch alle theologischen Disziplinen hindurch realisieren, ohne dass deren wissenschaftlicher Status dadurch verändert würde, und die stärkere Einbeziehung von Praxisübungen ließe sich im Sinne eines ganzheitlichen Lernens ebenfalls hochschuldidaktisch rechtfertigen. Die vorliegende Konstruktion von Seelsorge unterstreicht außerdem den Wert Klinischer Seelsorgeausbildung für die seelsorgerliche Praxis. Indem die KSA Seelsorgerinnen und Seelsorger in der Wahrnehmung eigener Kommunikationshindernisse und deren Bearbeitung schult, also darin, das Gegenüber im Gespräch als eigenständiges Individuum wahrnehmen zu lernen, damit überhaupt ein fruchtbares Gespräch unter Gleichberechtigten über gemeinsame Werte zustande kommen kann, trägt sie zur Ausbildung einer für die Seelsorge unabdingbaren personalen Kompetenz bei, denn bei allen in dieser Arbeit vorgestellten rhetorischen Elementen darf nicht vergessen werden, dass die intellectio nicht zufallig am Beginn der rhetorischen Aufgaben steht: ohne ein hinreichendes Verständnis für die Situation, in der das Gespräch stattfindet und die Situation, die den Inhalt des Gesprächs bestimmt, ist reflektiertes rhetorisches Handeln nicht möglich. Empathisches, mit Echtheit und Akzeptanz verbundenes Zuhören stellt folglich weiterhin die erste Aufgabe des Seelsorgers/ der Seelsorgerin dar. Es verbindet sich allerdings mit einer Haltung, die zunächst weniger >professionell< erscheinen mag, weil sie die Echtheit des Seelsorgers/ der Seelsorgerin stark ausweitet und ihm zugesteht, ja von ihm fordert, eigene Interessen und Wertungen in das Gespräch einzubringen, soweit sie mit den Interessen der Gemeinschaft übereinstimmen — freilich auf eine Art, die dem Gegenüber den nötigen Spielraum zum Umgang damit lässt, also in einer ästhetischen und spielerischen Weise, die gleichwohl einen hohen Grad von Professionalität beinhaltet. Ermöglicht wird dadurch die Herstellung einer Beziehung, die auch über den seelsorgerlichen Kontakt hinaus bestehen bleibt, weil ihre Intensität nicht durch eine extreme Zurücknahme der eigenen Person des Seel300

sorgers/ der Seelsorgerin erkauft ist, sondern gerade dadurch entsteht, dass alle Beteiligten sich als Personen begegnen, deren Interesse sich darin trifft, im Gespräch gemeinsam eine mögliche Zukunft zu entwickeln, die beiden als möglich und erstrebenswert erscheint. Die Gemeinsamkeit der Entwicklung entspricht der Bedeutung des Individuums und des Beziehungsaspekts; die inhaltliche Ausrichtung auf Zukunft betont die Offenheit, die Veränderbarkeit dessen, was in der Vergangenheit war oder gegenwärtig ist — Kommunikation ist gerade deshalb nötig, weil die Zukunft sich nicht von selbst aus der Gegenwart ergibt; >Zukunft< als Ziel des Gesprächs thematisiert zugleich die dem Gespräch inhärente Handlungsorientierung: Zukunft will gestaltet werden, und das Seelsorgegespräch dient dazu, mögliches gemeinsames Handeln zu entwerfen. Die Kombination beider Aspekte verdeutlicht, dass die Beziehung auf Dauer angelegt ist — es geht nicht um einen flüchtigen Kontakt, dessen Ziel die Wiederherstellung von Autonomie und die Auflösung der im Gespräch etablierten intensiven Beziehung ist, sondern um eine immer wieder neue wechselseitige Anpassungsleistung, mit deren Hilfe die Beziehung in einer jeweils auszuhandelnden Balance von Individualität und Bezogenheit aufrechterhalten und wiederhergestellt wird. Seelsorge im hier vorgestellten Sinn anerkennt damit, dass Individualität nur im Bezug auf Gemeinschaft möglich ist, aber unter den Bedingungen der Moderne nicht im Bezug auf eine einzige Gemeinschaft aufgeht, sondern gerade in der Bündelung einer Mehrzahl von Bezügen auf ganz unterschiedliche Gemeinschaften zum Ausdruck kommt. Insofern diese multiple Bezogenheit nicht als Loyalitätsbruch verstanden wird, sondern als legitimer Ausdruck von Individualität gewürdigt werden kann, ist die Gestaltung den Aushandlungsprozessen innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft überlassen. An ihre Grenzen gerät so verstandene Seelsorge, wo das Interesse an einer fortdauernden Gemeinschaft nicht bei allen Beteiligten gegeben ist. Damit muss aber nicht notwendig auch das Gespräch an sein Ende geraten, sofern die Beteiligten sich auf einen anderen Status verständigen können. Aus christlicher Sicht ließe sich das weitergeführte Gespräch dann entweder als christlicher Samariterdienst qualifizieren, oder als missionarisches Gespräch, oder aber der Seelsorger/ die Seelsorgerin verlässt seine/ihre Rolle und repräsentiert nun nicht mehr die Gemeinschaft der Kirche, sondern eine andere Gemeinschaft, der sich die am Gespräch beteiligten Personen gemeinsam zugehörig wissen — z.B. die Gemeinschaft der in einem bestimmten Land/ in einer bestimmten Region lebenden Menschen, die eine gemeinsame Sprache sprechen. Mit diesen Deutungen lässt sich auch das Gespräch mit Nichtchristen z.B. in der Krankenhausseelsorge oder der Anstaltsseelsorge im Rahmen des vorliegenden Konstrukts einordnen und rechtfertigen. Die vorliegende Konstruktion bietet eine Möglichkeit, die divergente Landschaft seelsorgerlicher Praxis unter einem einheitlichen Paradigma 301

zu verstehen, ohne bestimmte Formen seelsorgerlichen Gesprächs schon aufgrund der in der jeweiligen Situation liegenden Rahmenbedingungen als Seelsorge minderer Qualität zu qualifizieren. Sie bietet zugleich ein Paradigma, das primär theologische und kommunikative Qualifikationen auf Seiten der Seelsorgerinnen und Seelsorger voraussetzt und deren Tätigkeit damit als spezifisch kirchliche Tätigkeit qualifiziert. Und sie bietet schließlich mit der Rhetorik eine Bezugswissenschaft, die eine hohe Integrationsleistung und Anschlussfähigkeit für Theorien aus anderen Wissenschaften aufweist und damit besonders geeignet erscheint, ein so vielfältiges Praxisfeld wie die Seelsorge unter einer einheitlichen Fragestellung zu erschließen. Ausgestattet mit diesen Eigenschaften soll die vorliegende Konstruktion einen Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs darüber leisten, welche Praxis in der Seelsorge für die Gemeinschaft der Kirche gut oder besser erscheint. Ihr Verfasser hofft, dass er sie für diese Aufgabe mit hinreichender Plausibilität versehen konnte.

302

Literatur

Im Labyrinth der Zeichen. Zur Textsemiotik Umberto Ecos (EHS Reihe IX: Italienische Sprache und Kultur 18), Frankfurt a.M./Bern/New York u.a. 1990. ALLMENDINGER, U T E / HERRMANN, SVEN / M U S C H E L , ROLAND: Das Tübinger Seminar für Allgemeine Rhetorik seit 1967, in: Knape, Joachim (Hg.): 500 Jahre Tübinger Rhetorik - 30 Jahre Rhetorisches Seminar, s.u., 169-173. AMBRESTER, M A R C U S L . / S T R A U S E , GLYNIS H.: A Rhetoric of Interpersonal Communication, Prospect Heights 1984. A U N E , M I C H A E L B . : T O Move the Heart. Philipp Melanchthon's Rhetorical View of Rite and its Implications for Contemporary Ritual Theory, San Francisco 1994. BARTHES, ROLAND: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a.M. 1988. B E C K S , H A R T M U T : Der Gottesdienst in der Erlebnisgesellschaft. Zur Bedeutung der kultursoziologischen Untersuchung Gerhard Schulzes für Theorie und Praxis des Gottesdienstes, Bonn, Diss. 1996 BERNHARDT, REINHOLD/LINK-WIECZOREK, ULRIKE(Hg.): Metapher und Wirklichkeit. Die Logik der Bildhaftigkeit im Reden von Gott, Mensch und Natur (Dietrich Ritsehl zum 70. Geburtstag), Göttingen 1999. BILLIG, M I C H A E L : Arguing and Thinking. A rhetorical approach to social psychology, Cambridge 21996. BLIESENER, T H O M A S / H A U S E N D O R F , H E I K O / SCHEYTT, CHRISTOPH: Klinische Seelsorgegespräche mit todkranken Patienten, Berlin/Heidelberg/ New York 1988. BLUMENBERG, H A N S : Säkularisationsthese und Toposforschung: Zur Substantialisierung der Geschichte, in: Jehn, Peter (Hg.): Toposforschung. Eine Dokumentation (Respublica Literaria 10), Frankfurt a.M. 1972, 150-159. —: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981. B O H R E N , RUDOLF: Gemeinde und Seelsorge, in: ders. (Hg.): Geist und Gericht. Arbeiten zur Praktischen Theologie, Neukirchen-Vluyn 1979, 129-149. BONHOEFFER, DIETRICH: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Eberhard Bethge, Gütersloh 161997. AHLBORN-RIZZUTO, URSULA:

303

Psychoanalyse als Verständigungsprozeß, in: WzM 42 (1990), 335-347. BORNSCHEUER, L O T H A R : Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt a.M. 1976. —: Zehn Thesen zur Ambivalenz der Rhetorik und zum Spannungsgefüge des Topos-Begriffs, in: Plett, Heinrich F. (Hg.): Rhetorik, s.u., 204-212. - : Art. Topik, in: RDL 2 4, Berlin/New York 1984, 454-^75. B R E U E R , D I E T E R : Einführung in die pragmatische Texttheorie, München 1974. - : Die Bedeutung der Rhetorik für die Textinterpretation, in: Plett, Heinrich F. (Hg.): Rhetorik, s.u., 23-44. / S C H A N Z E , H E L M U T (Hg.): Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion(Kritische Information 99), München 1981. BREYMAYER, REINHARD: Bibliographie zum Thema »Luther und die Rhetorik«, in: LingBibl 21 (1973), H. 2, 39-44. BRINKER, K L A U S / A N T O S , G E R D / H E I N E M A N N , W O L F G A N G (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 16.1/ 16.2), Berlin/New York 2000/2001. B U B N E R , RUDIGER: Dialektik als Topik. Bausteine zu einer lebensweltlichen Theorie der Rationalität, Frankfurt a.M. 1990. BUKOWSKI, PETER: Die Bibel ins Gespräch bringen. Erwägungen zu einer Grundfrage der Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 31996. —: Rückfragen an die akademische theologische Ausbildung, in: PTh 89 (2000) 474-482. BUNTFUSS, M A R K U S : Tradition und Innovation. Die Funktion der Metapher in der theologischen Theoriesprache (TBT 84), Berlin/New York 1997. B U R D A ADVERTISING CENTER G M B H (Hg.): Die Sinus-Milieus in Deutschland. Strategische Marketing- und Mediaplanung mit der Typologie der Wünsche Intermedia. Eine Dokumentation für Anwender, Offenburg 2002 [=Burda 2002], BURGSMÜLLER, ALFRED (Hg.): Kirche als »Gemeinde von Brüdern« (Barmen III). Band I: Vorträge aus dem Theologischen Ausschuß der Evangelischen Kirche der Union (Veröffentlichungen des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union), Gütersloh 1980. - (Hg.): Kirche als "Gemeinde von Brüdern" (Barmen III). Band 2: Votum des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union (Veröffentlichungen des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union.), Gütersloh 1981. / W E T H , RUDOLF (Hg.): Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation, Neukirchen-Vluyn 1983. B O O T H E , BRIGITTE:

304

Dramatism, in: Thayer, Lee (Hg.): Communication. Concepts and Perspectives, Washington 1967, 327-360. - : A Grammar of Motives (Campus 134), Berkeley 1969 [=Burke 1969], - : A Rhetoric of Motives, Berkeley/Los Angeles 1969 [=Burke 1969a], B U T T O C K , D A V I D : Homiletic. Moves and Structures, Philadelphia 1987. CIALDINI, ROBERT B.: Die Psychologie des Überzeugens. Ein Lehrbuch für alle, die ihren Mitmenschen und sich selbst auf die Schliche kommen wollen, Bern/Göttingen/Toronto u.a. 22002. COMPIER, D O N H . : What is Rhetorical Theology? Textual Practice and Public Discourse, Harrisburg, PA 1999. C O N L E Y , T H O M A S : What Counts as a Topos in Contemporary Research? In: Schirren, Thomas/Ueding, Gert (Hg.): Topik und Rhetorik, s.u., 579-585. CROWLEY, SHARON / H A W H E E , D E B R A : Ancient Rhetorics for Contemporary Students, Boston u.a. 2 1998. CUNNINGHAM, D A V I D S . : Faithful Persuasion. In Aid of a Rhetoric of Christian Theology, Notre Dame/London 1991. CZAPLA, B E A T E : Art. Rhetorices partes, in: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 7, Tübingen 2005, 1412— 1423. DAMBLEMONT, G E R H A R D : Rhetorik und Textanalyse im französischen Sprachraum, in: Ueding, Gert (Hg.): Rhetorik heute. Teil I (Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 7), Tübingen 1988, 109-131. DOCKHORN, K L A U S : Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne (Respublica literaria 2), Bad Homburg v.d.H./Berlin/Zürich 1968. - : Luthers Glaubensbegriff und die Rhetorik, in: LingBibl 21 (1973), H.2, 19-39. - : Kritische Rhetorik? In: Plett, Heinrich F. (Hg.): Rhetorik, s.u., 252275. D Y C K , JOACHIM (Hg.): Rhetorik und Psychologie (Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 6), Tübingen 1987. - : Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition (Rhetorik-Forschungen 2), Tübingen 31991. Eco, UMBERTO: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München 1990. - : Die Grenzen der Interpretation, München 21999. - : Einführung in die Semiotik, München 9 2002 f 1972]. E N D E R T , E L K E : Über Zusammenhänge von Fühlen und Denken in Wahrnehmungs- und Wissensprozessen. Ein Vergleich der »Affektlogik« von Luc Ciompi mit dem wissenssoziologischen Ansatz Ludwik Flecks (PapyRossa Hochschulschriften 17), Köln 1997. B U R K E , KENNETH:

305

Einführung in die Homiletik. Theologische Grundlagen — Methodische Ansätze — Analytische Zugänge, Tübingen 2000. E R N E , T H O M A S : Rhetorik und Religion. Studien zur Praktischen Theologie des Alltags (Praktische Theologie und Kultur 10), Gütersloh 2002. E Y B L , F R A N Z : Art. Christliche Rhetorik B.III. Katholizismus, in: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 2, Tübingen 1994, 208-216. FAILING, W O L F - E C K A R T / H E I M B R O C K , H A N S - G Ü N T E R : Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt — Alltagskultur — Religionspraxis, Stuttgart/Berlin/Köln 1998. FECHTNER, KRISTIAN: Kirche von Fall zu Fall. Kasualpraxis in der Gegenwart - eine Orientierung, Gütersloh 2003. Foss, SONJA K . : Rhetorical Criticism. Exploration and Practice, Prospect Heights 1989. Foss, SONJA Κ. / Foss, K A R E N A. / T R A P P , ROBERT: Contemporary Perspectives on Rhetoric, Prospect Heights 3 2002. F R Y , VIRGINIA H . : A juxtaposition of two views of rhetoric: Charles Peirce's semiotic and Kenneth Burke's dramatism, in: Semiotics 10 (1985/86), 431-439. GEISSNER, H E L L M U T : Das handlungstheoretische Interesse an Rhetorik oder: das rhetorische Interesse an gesellschaftlichem Handeln, in: Plett, Heinrich F. (Hg.): Rhetorik, s.u., 230-251. - : Art. Gesprächsrhetorik, in: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Tübingen 1996, 953-964. GEISSNER, H E L M U T : Art. Lasswell-Formel, in: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, Tübingen 2001, 31-38. G R Ä B , W I L H E L M : Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998. G R O M , BERNHARD: Religionspädagogische Psychologie des Kleinkind-, Schul- und Jugendalters, Düsseldorf 5 2000. G R O S S , A L A N G . / K E I T H , W I L L I A M M . (Hg.): Rhetorical Hermeneutics. Invention and Interpretation in the Age of Science, Albany 1997. GRÖZINGER, ALBRECHT: Das Verständnis von Rhetorik in der Homiletik. Bemerkungen zum Stand der Diskussion, in: ThPr 14 (1979), 2 6 5 274. - : Die Sprache des Menschen. Ein Handbuch. Grundwissen für Theologinnen und Theologen, München 1991. G Ü N T H E R , R A L F : Gefangnisseelsorge — eine Seelsorge auf der Schwelle zwischen einander fremden Diskurswelten, in: Böhme, Michael/Lindemann, Friedrich-Wilhelm/Naumann, Bettina u.a. (Hg.): Entwickeltes Leben. Neue Herausforderungen für die Seelsorge (Festschrift für Jürgen Ziemer zum 65. Geburtstag), Leipzig 2002, 3 0 9 336. ENGEMANN, W I L F R I E D :

306

Seelsorge auf der Schwelle. Eine linguistische Untersuchung von Seelsorgegesprächen auf der Schwelle (APTh 45), Göttingen 2005. GUTENBERG, N O R B E R T : Über das Rhetorische und das Ästhetische. Grundsätzliche Bemerkungen, in: Beetz, Manfred (Hg.): Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 4. Stuttgart 1985,117-131. G U T Z E N , D./ O T T M E R S , M.: Art. Christliche Rhetorik IV. Protestantismus, in: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Tübingen 1994, 216-222. HAUSCHILDT, EBERHARD: Ist die Seelsorgebewegung am Ende? Über alte und neue Wege zum Menschen, in: WzM 46 (1994), 260-273. —: Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse des pastoralen Geburtstagsbesuches (APTh 29), Göttingen 1996. —: Milieus in der Kirche. Erste Ansätze zu einer neuen Perspektive und ein Plädoyer für vertiefte Studien, in: PTh 87 (1998), 392-404. - : Art. Seelsorge II. Praktisch-theologisch, in: TRE 31, Berlin/New York 2000, 31-54. [=Hauschildt 2000] —: Theologische Bildung und pastorale Kompetenz. Eine Antwort auf Peter Bukowskis Rückfragen, in: PTh 89 (2000), 483-489. ^ H a u schildt 2000a] HEINEMANN, M A R G O T / H E I N E M A N N , W O L F G A N G : Grundlagen der Textlinguistik. Interaktion — Text — Diskurs (Reihe Germanistische Linguistik 230), Tübingen 2002. H E S S - L Ü T T I C H , E R N S T W.: Art. Dialog, in: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Tübingen 1994, 606-621. - : Art. Gespräch, in: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Tübingen 1996, 929-947. H O B S O N , T H E O : The Rhetorical Word. Protestant theology and the rhetoric of authority (Ashgate New Critical Thinking in Theology & Biblical Studies), Aldershot 2002. H O L Z E , HEINRICH (Hg.): Die Kirche als Gemeinschaft. Lutherische Beiträge zur Ekklesiologie (LWB-Dokumentation 42), Genf 1998. H R A D I L , STEFAN: Die Suche nach Sicherheit und Gemeinschaft in der individualisierten Gesellschaft, in: Hillmann, Karl-Heinz / Oesterdiekhoff, Georg W. (Hg.): Die Verbesserung des menschlichen Zusammenlebens. Eine Herausforderung für die Soziologie, Opladen 2003, 111-125. HVIDTFELT NIELSEN, KARSTEN: Wirken oder Wissen. Zur Rhetorizität des Sprechens, in: Augias 56-59 (2001), 75-92. J A F F E , SAMUEL: Freud as Rhetorician: Elocutio and the Dream-Work, in: Dyck, Joachim u.a. (Hg.): Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 1, Stuttgart 1980, 42-69. J A H R , SILKE: Emotionen und Emotionsstrukturen in Sachtexten. Ein interdisziplinärer Ansatz zur qualitativen und quantitativen BeschreiGÜNTHER, RALF:

307

bung der Emotionalität von Texten (Studia Linguistica Germanica 59), Berlin/New York 2000. JAKOBSON, ROMAN: Linguistik und Poetik, in: Ihwe, Jens (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik: Ergebnisse und Perspektiven, Teilband 2,1: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft/Teil I (Ars poetica/Texte. 8,2,1), Frankfurt a.M. 1971,142-178. JAMISON, R O B E R T / D Y C K , JOACHIM: Rhetorik, Topik, Argumentation. Bibliographie zur Redelehre und Rhetorikforschung im deutschsprachigen Raum 1945-1979/80, Stuttgart-Bad Canstatt 1983. JENS, WALTER (Hg.): Rhetorik und Theologie (Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 5), Tübingen 1986. - : Art. Rhetorik, in: RDL 2 Bd. 3, Berün/New York 1977, 432-456. JOST, W A L T E R / H Y D E , MICHAEL J . (Hg.): Rhetoric and Hermeneutics in Our Time. Α Reader (Yale Studies in Hermeneutics), New Haven/ London 1997. /OLMSTED, WENDY (Hg.): Rhetorical Invention and Religious Inquiry. New Perspectives, New Haven/London 2000. JOSUTTIS, MANFRED: Eine Renaissance der Rhetorik, in: VuF 20 (1975), 22-48. - : Rhetorik und Theologie in der Predigtarbeit. Homiletische Studien, München 1985. JÜNGEL, EBERHARD (Hg.): Entsprechungen: Gott - Wahrheit - Mensch. Theologische Erörterungen Bd. 2 (BevTh 88), München 1980. - : Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 61992. JUNGHANS, HELMAR: Der junge Luther und die Humanisten, Göttingen 1985. - : Die Worte Christi geben das Leben, in: Wartburg-Stiftung (Hg.): Wissenschaftliches Kolloquium: »Der Mensch Luther und sein Umfeld« (Wartburg-Jahrbuch, Sonderband), Eisenach 1996,157-176. - : Martin Luther und die Rhetorik (SSAW.PH 136/2), Leipzig/Stuttgart 1998. KALVERKÄMPER, HARTWIG: Die Rhetorik des Körpers: Nonverbale Kommunikation in Schlaglichtern. Literaturbericht, in: Müller, Thomas (Hg.): Körper und Sprache (Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 13), Tübingen 1994,131-169. - : Art. Körpersprache, in: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Tübingen 1998, 1339-1371. - : Vorläufer der Textlinguistik: die Rhetorik, in: Brinker, Klaus / Antos, Gerd/Heinemann, Wolfgang u.a. (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik, s.o., 1-17. KAPP, VOLKER: Rhetorik in Frankreich - die neuere französische Rhetorikforschung, in: Ueding, Gert (Hg.): Rhetorik heute, Teil I (Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 7), Tübingen 1988, 93-108. 308

Seelsorge in der Moderne. Eine Kritik der psychoanalytisch orientierten Seelsorgelehre, Neukirchen-Vluyn 1996. —: Seelsorge in der modernen Gesellschaft. Spezifische Chancen, Ressourcen und Sinnformen der seelsorgerlichen Kommunikation, in: EvTh 59 (1999), 203-219. KIENPOINTNER, M A N F R E D : Alltagslogik. Struktur und Funktion von Argumentationsmustern (Problemata 126), Stuttgart-Bad Canstatt 1992. - : Art. Inventio, in: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Tübingen 1998, 561-587. KIRCHENAMT DER EKD (Hg.): Kirche — Horizont und Lebensrahmen. Weltsichten, Lebensstile, Kirchenbindung. Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2003. K L E I N , J O S E F : Komplexe topische Muster. Vom Einzeltopos zur diskurstyp-spezifischen Topos-Konfiguration, in: Schirren, Thomas / Ueding, Gert (Hg.): Topik und Rhetorik, s.u., 623-649. K N A P E , JOACHIM (Hg.): 500 Jahre Tübinger Rhetorik — 30 Jahre Rhetorisches Seminar. Katalog zur Ausstellung im Bonatzbau der Universitätsbibliothek Tübingen vom 12. Mai bis 31. Juli 1997, Tübingen 1997. - : Die Interdisziplinarität der Tübinger Rhetorik in historischer Sicht, in: Strobel, Karl (Hg.): Die deutsche Universität im 20. Jahrhundert. Vierow 1994, 200-217. —: Zwangloser Zwang. Der Persuasion-Prozeß als Grundlage sozialer Bindung, in: Ueding, Gert/Vogel, Thomas (Hg.): Von der Kunst der Rede und Beredsamkeit, Tübingen 1998, 54—69. - : Was ist Rhetorik? Stuttgart 2000 [Knape 2000], —: Allgemeine Rhetorik. Stationen der Theoriegeschichte, Stuttgart 2000 [Knape 2000a]. - : Persuasion und Kommunikation, in: Kopperschmidt, Josef (Hg.): Rhetorische Anthropologie, s.u., 171-181 [Knape 2000b]. K N A U F F , M A R K U S : Räumliches Wissen und Gedächtnis. Zur Wissenspsychologie des kognitiven Raums (Studien zur Kognitionswissenschaft), Wiesbaden 1997. KNOBLAUCH, H U B E R T (Hg.): Kommunikative Lebenswelten. Zur Ethnographie einer geschwätzigen Gesellschaft, Konstanz 1996. —: Topik und Soziologie. Von der sozialen zur kommunikativen Topik, in: Schirren, Thomas/Ueding, Gert (Hg.): Topik und Rhetorik, s.u., 651-667. K O L M E R , L O T H A R / R O B - S A N T E R , C A R M E N : Studienbuch Rhetorik (Rhesis. Arbeiten zur Rhetorik und ihrer Geschichte 1), Paderborn/München/Wien u.a. 2002. KOPPERSCHMIDT, J O S E F : Allgemeine Rhetorik. Einführung in die Theorie der Persuasiven Kommunikation, Stuttgart/Berlin/Köln u.a. 1973. - : Von der Kritik der Rhetorik zur kritischen Rhetorik, in: Plett, Heinrich F. (Hg.): Rhetorik, s.u., 213-229. K A R L E , ISOLDE:

309

- : Methodik der Argumentationsanalyse (Problemata 119), StuttgartBad Canstatt 1989. - (Hg.): Rhetorik. Bd. 1: Rhetorik als Texttheorie, Darmstadt 1990. - (Hg.): Rhetorik. Bd. 2: Wirkungsgeschichte der Rhetorik, Darmstadt 1991. - : Das Ende der Verleumdung. Einleitende Bemerkungen zur Wirkungsgeschichte der Rhetorik, in: ders. (Hg.): Rhetorik. Bd. 2: Wirkungsgeschichte der Rhetorik, s.o., 1-33. - (Hg.): Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus. München (Fink) 2000. - : Topik als Argumentationsheuristik. Wie aus Lady Di eine "sterbliche Göttin" wurde, in: Schirren, Thomas / Ueding, Gert (Hg.): Topik und Rhetorik, s.u., 669-683 [= Kopperschmidt 2000]. - : Was weiß die Rhetorik vom Menschen? Thematisch einleitende Bemerkungen, in: ders. (Hg.): Rhetorische Anthropologie, s.o., 7—37. [=Kopperschmidt 2000a] / S C H A N Z E , H E L M U T (Hg.): Fest und Festrhetorik. Zu Theorie, Geschichte und Praxis der Epideiktik (Figuren 7), München 1999. K R A M E R , O L A F : Art. New Rhetoric, in: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, Tübingen 2003, 259-288. K R I Z , JÜRGEN: Über rhetorisch induzierte Veränderung in der Psychotherapie, in: Dyck, Joachim (Hg.): Rhetorik und Psychologie (= Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 6), Tübingen 1987, 85-97. K U R S A W E , BARBARA: docere — delectare — movere. Die officia oratoris bei Augustinus in Rhetorik und Gnadenlehre (SGKA.NF.I 15), Paderborn/München/Wien u.a. 2000. L A K O F F , G E O R G E / J O H N S O N , M A R K : Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg 2 2000. L A N G E , D I E T Z : Evangelische Seelsorge in ethischen Konfliktsituationen, in: PTh 80 (1991), 62-77. LAUSBERG, HEINRICH: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, München 1960. LEHMANN, KATHARINA: Französische Werbung aus semiotischer und rhetorischer Sicht (EHS Reihe XIII: Französische Sprache und Literatur 231), Frankfurt a.M./Berlin/Bern u.a. 1998. L E M K E , H E L G A : Theologie und Praxis annehmender Seelsorge, Stuttgart/ Berlin/Köln u.a. 1978. - : Personzentrierte Beratung in der Seelsorge, Stuttgart/Berlin/Köln 1995. L O H S E , T I M M H . : Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung. Eine methodische Anleitung, Göttingen 2003. LUCAITES, J O H N L . / C O N D I T , CELESTE M . / C A U D I L L , SALLY (Hg.): Contemporary Rhetorical Theory. A Reader (Revisioning Rhetoric.), New York/London 1999. 310

Hermeneutik, Rhetorik und Semiotik. Studien zur Rezeptionsgeschichte der Bibel, Konstanz, Diss. phil. 1985. M E T Z G E R , S T E F A N / R A P P , W O L F G A N G (Hg.): Homo inveniens. Heuristik und Anthropologie am Modell der Rhetorik (Literatur und Anthropologie 19), Tübingen 2003. M E Y E R , H A N S JOACHIM: Rhetorik in der Wissenschaft ( S S A W . P H 1 3 5 / 6 ) , Stuttgart/Leipzig 1998. M E Y E R - B L A N C K , M I C H A E L : Vom Symbol zum Zeichen. Symboldidaktik und Semiotik, o.O. 1995. —: Vom Symbol zum Zeichen. Symboldidaktik und Semiotik, Rheinbach 2 2002. M O L C H O , SAMY: Körpersprache, München 2 0 0 3 . M Ü L L E R , W O L F G A N G G . : Die traditionelle Rhetorik und einige Stilkonzepte des 20. Jahrhunderts, in: Plett, Heinrich (Hg.): Die Aktualität der Rhetorik (Figuren 5), München 1996, 160-175. M U M M E N D E Y , H A N S D I E T E R : Psychologie der Selbstdarstellung, Göttingen/Bern/Toronto u.a. 2 1995. N E U B E R , W O L F G A N G : Topik als Lektüremodell. Zur frühneuzeitlichen Praxis der Texterschließung durch Marginalien - am Beispiel einiger Drucke von Hans Stadens >Warhaftiger Historiahat< nicht die Wahrheit: sie sucht sie«. Über Eloquenz und Ethik, in: Härle, Wilfried u.a. (Hg.): Befreiende Wahrheit (Festschrift für Ellert Herms zum 60. Geburtstag; MThSt 60), Marburg 2000, 534-547. PERELMAN, C H A I M : Das Reich der Rhetorik. Rhetorik und Argumentation, München 1980. — / OLBRECHTS-TYTECA, L U C I E : Die neue Rhetorik. Eine Abhandlung über das Argumentieren. Hg. von Josef Kopperschmidt (Problemata 149), Stuttgart 2004. PIELENZ, M I C H A E L : Argumentation und Metapher (Tübinger Beiträge zur Linguistik 381), Tübingen 1993. PIPER, H A N S - C H R I S T O P H : Der Hausbesuch des Pfarrers. Hilfen für die Praxis, Göttingen 21988. P L E T T , HEINRICH F. (Hg.): Rhetorik. Kritische Positionen zum Stand der Forschung (Kritische Information 50), München 1977. —: Die Rhetorik der Figuren. Zur Systematik, Pragmatik und Ästhetik der >ElocutioRhetorical Psychology