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German Pages [324] Year 2007
V&R
Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie
Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne Steinmeier in Zusammenarbeit mit den Zeitschriften PASTORALTHEOLOGIE u n d
W E G E ZUM M E N S C H E N
und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie
Band 54
Vandenhoeck & Ruprecht
Klaus Kohl
Christi Wesen am Markt Eine Studie zur Rede von der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche
Vandenhoeck & Ruprecht
Für Annette
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 987-3-525-62402-9
© 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schrifdichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg Druck und Bindung: ©Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Vorwort „Christi Wesen am Markt!" Unter diesem Titel hat die EvangelischTheologische Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn die vorliegende Studie zur Rede von der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche im Wintersemester 2006/2007 als Dissertation angenommen. Nicht die Rede allein von der Diakonie, sondern auch die von der Kirche ist in der akademischen wie in der kirchlichen Erörterung für die Ökonomik zu öffnen bzw. offen zu halten. Zurückhaltung hingegen ist angezeigt hinsichtlich der Rede von der Kirche und ihrer Diakonie in possessivem Sinne. Als praktisch-theologische Arbeit, welche die als dogmatisch notwendig erwiesene Rede von der Ökonomie Gottes mit qualitativ empirischen Verfahren verknüpft, plädiert die Studie für eine interdisziplinär zu betreibende Diakonik, für die weder die Theologie noch andere Wissenschaften den Anspruch einer Leitwissenschaft erheben können. Mit der Anmeldung der Arbeit am Ort der universitas litterarum geht die eidesstattliche Erklärung einher, keine weiteren als die angegebenen Hilfen in Anspruch genommen zu haben. Nicht angegeben sind Hilfen, die besonderer Erwähnung bedürfen und für die ich sehr herzlich danke: Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost, mein Doktorvater, hat sich meiner herzlich angenommen und mich bei entscheidenden Weichenstellungen kritisch gefördert. Prof. Dr. Eberhard Hauschildt hat mich aufs Neue auf die Theologie neugierig gemacht, hat mich genaueres Hinschauen gelehrt und ein freundliches, weiterführendes Zweitgutachten geschrieben. Prof. Dr. Michael Meyer-Blanck hat uns im Doktorandinnen- und Doktorandenkolloquium mit der Vielfalt praktisch-theologischen Schaffens vertraut gemacht. Prof. Dr. Hans Theodor Goebel, meiner Frau und mein Freund seit Jugendjahren, hat mich in der letzten Phase aufmerksam begleitet und mich ermutigt, die Arbeit abzuschließen. Die Evangelische Kirche im Rheinland hat mich mit dem vorzeitigen Ruhestand beschenkt. Mit dieser Arbeit habe ich ihn begonnen. Ich widme sie meiner Frau. Bonn-Bad Godesberg, Pfingsten 2007
Klaus Kohl
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Inhalt 1.
Ansichten des Gegenstandes
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1.1 Einführung 1.1.1 Eine Oberflächensicht 1.1.2 Erste Wegskizze 1.2 Annäherungen 1.2.1 Persönliche Begegnungen 1.2.2 Die Diakonie als Gegenstand der Theologie 1.3 Auf dem Wege zu eigenen Ansichten
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2.
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Wahrnehmungen des Gegenstandes
2.1 Wahrnehmung der Wahrnehmung 2.2 Wahrnehmung der Diakonie in Texten 2.2.1 Die Wahrnehmung der Diakonie in Predigten . . . . 2.2.2 Die Wahrnehmung der Diakonie in Leitbildern, Leitsätzen und Leitlinien 2.2.3 Die Wahrnehmung der Diakonie in der EKD-Denkschrift 2.2.4 Die Diakonie in den Texten 2.3 Wahrnehmung der Diakonie in Interviews 2.3.1 Der Gegenstand der Befragung 2.3.2 Die Partnerinnen und Partner der Befragung 2.3.3 Die Methode der Befragung 2.3.4 Die Befragung 2.3.5 Die Diakonie in den Interviews
154 193 207 207 213 215 218 262
3.
Einsichten in und Aussichten für den Gegenstand
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3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Gottes diakonisches Handeln kennt keine Grenzen Gott lässt mit sich handeln Kirche handelt als Diakonie Diakonie kann ohne Kirche handeln Diakonie ist da als Christi Wesen am Markt
Literatur
. . . .
37 39 41 93
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1. Ansichten des Gegenstandes Im Augenblick plant das Presbyterium einen Gesundschrumpfungsprozess der Gemeinde. Die Stelle für die Jugendarbeit wird künftig wegfallen. Das Ehrenamt soll gestärkt werden. Von Entlassungsproduktivität ist noch nicht die Rede. Die Arbeit der Gemeindeschwester ist seit langem der Sozialstation des Diakonischen Werkes übertragen. Zum Missfallen des Presbyteriums haben einige Gemeindeglieder für die Pflege ihrer gebrechlichen Eltern die Arbeiterwohlfahrt gewählt. Der Kindergarten muss in die Trägerschaft der Kommune übergeben werden. Diakonieausschuss und Besuchsdienstkreis suchen von Sitzung zu Sitzung neu nach ihren Aufgaben. „Wir danken für das Diakonieopfer vom letzten Sonntag in H ö h e von EUR 159,23", sagt die Presbyterin in den Abkündigungen. Bei 52 Sonntagen könnte das Presbyterium für den Haushaltsplan mit einem freiwilligen finanziellen Engagement für die Diakonie in H ö h e von E U R 8279,96 rechnen. Es berät, wie denn die Diakonie wieder zu einer Wesens- und Lebensäußerung der Kirche 1 werden könne. Soviel augenblicklich zur Kirche und zur Diakonie. In demselben Augenblick verhandelt die Diakonische Gesellschaft g G m b H gemeinsam mit den anderen Trägern der Wohlfahrtspflege und der Stadtverwaltung über eine neue Sozialraumgliederung. Es könnten weitere Arbeitsbereiche auf die Gesellschaft zukommen. Die Bilanz eines Geschäftsjahres weist inzwischen einen zweistelligen Millionenbetrag aus. Das Unternehmen ist gesund. Das Landeskirchenamt bemüht sich um Einsicht in das Zahlenwerk und meldet seine Aufsichtspflicht an. Die Diakonie ist schließlich eine Wesens- und Lebensäußerung der Kirche. So steht es im Gesellschaftsvertrag und in den Dienstanweisungen der Mitarbeitenden. Soviel augenblicklich zur Diakonie und zur Kirche. Ist die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche eine Sache des Augen-Blicks? Ist sie Ansichts-Sache? Ist sie ein Pro-Blem? 2 Wir werden sehen.
1 In der Literatur wie in der Umgangssprache ist von der Diakonie die Rede als Wesensund Lebensäußerung oder als Lebens- und Wesensäußerung, wie auch als Wesensäußerung oder als Lebensäußerung der Kirche. Ich widme der Differenzierung keine Aufmerksamkeit. Den ältesten Beleg für die Bezeichnung der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche finde ich im Gesetzesblatt der Deutschen Evangelischen Kirche, Ausgabe В (Altpreußen), 1940, Nr. 11, Berlin, 17.Juli 1940. 2 Wolfgang Huber, nachmaliger Ratsvorsitzender der EKD, sieht das Problem so: „Diakonie ohne Gemeinde? [ . . . ] Gemeinde vor der Kirchentür - soll damit gerade gemeint sein, daß die diakonische ,Gemeinde' sich mit der Ortsgemeinde nicht mehr verbinden
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1.1 Einführung Ich studiere die Diakonie als "Wesens- und Lebensäußerung der Kirche. Mit der oben skizzierten Szene, die frei erfunden, ähnlich aber schnell vorzufinden ist, befinden wir uns unmittelbar am Gegenstand der Untersuchung. Wie ist der Gegenstand zu sehen? Für die wissenschaftstheoretische Konstruktion einer Studie zur Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche bieten die wissenschaftlichen Disziplinen ihre je eigenen Zugänge an. Weil jener Topos die Diakonie und die Kirche als Institutionen possessiv miteinander verbindet, enthält der Gegenstand juristische Implikationen.3 Weil es hier wie da um Geld 4 geht, ist aus dem Ensemble der Sozialwissenschaften vor allem die Ökonomik angezeigt.5 Weil in der Formulierung Diakonie und Kirche in einem Genetiwerhältnis zueinander stehen, ist über deren Hervorbringung nachzudenken und die Geschichtswissenschaft zu befragen.6 Als Gegenstand der
läßt? Oder liegt in dieser Formel die Aufforderung dazu, die verschiedenen Formen [...] erneut als ,Wesens- und Lebensäußerung' nicht nur der Kirche, sondern ebenso auch der Gemeinde zu verstehen? [...] Der heute notwendige Neuansatz im Verständnis der Diakonie wird vielmehr das diakonische Handeln neu auf die Wirklichkeit der Gemeinde beziehen müssen" (Huber, Wolfgang: Die Gemeinde vor der Kirchentür. Die diakonische Aufgabe als Chance der Kirche, in: JDW 98, Stuttgart 1998, 34-40, 34). 3 Vgl. Christoph, Joachim E.: Der gemeinsame Rechtsrahmen von Kirche und Diakonie - Bestandsaufnahme und Entwicklungsperspektive im Blick auf Europa, in: epd-Dokumentation Nr. 49 (2003). Und Ders.: Die Zuordnung der Diakonie zur verfassten Kirche, in: Schmidt-Rost, Reinhard/Dennerlein, Norbert/Hahn, Udo (Hg.): Soll ich meines Bruders Hüter sein? Erkundungen und Reflexionen zum spannungsreichen Verhältnis von Kirche und Diakonie, Hannover 2005, 65-77. Und Ehnes, Herbert: Theorie und Praxis der Diakonie aus kirchenrechtlicher Sicht, in: Wort und Dienst 21 (1991), 247-256. 4 „Ohne Moos nix los" lautete das Motto des Diakonischen Werkes der EKiR bei der Adventssammlung 1997. Das Motto führte zu Auseinandersetzungen, in denen sich das DW der EKvW von der seit 1948 in NRW gepflegten Gemeinsamkeit der Sammlung mit dem DW der EKiR distanzierte (Tel. Auskunft von Kurt A. Holz, DW der EKiR). 5 Vgl. die entsprechenden Beiträge in: Schibilsky, Michael/Zitt, Renate (Hg.): Theologie und Diakonie, Gütersloh 2004, 261-397. 6 Vgl. Krimm, Herbert (Hg.): Quellen zur Geschichte der Diakonie, 5 Bd., Stuttgart 1960ff. Und Uhlhorn, Gerhard/Hauck, Albert: Art. Wohltätigkeitsanstalten, in: Hauck, Albert (Hg.): Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 21, Leipzig 3 1908, 435-452. Und Beyreuther, Erich: Geschichte der Diakonie und Inneren Mission in der Neuzeit, Berlin 21962. Und Herrmann, Volker/Kaiser, Jochen-Christoph/Strohm, Theodor (Hg.): Bibliographie zur Geschichte der deutschen evangelischen Diakonie im 19. und 20.Jahrhundert, Stuttgart 1997. Zur Problematik historischer Ableitung vgl. Otto, Gert: Diakonie und Gottesdienst? Eine Problemskizze, in: Götzelmann, Arnd/Herrmann, Volker/Stein, Jürgen (Hg.): Diakonie der Versöhnung. Ethische Reflexion und soziale Arbeit in ökumenischer Verantwortung. Festschrift für Theodor Strohm, Stuttgart 1998, 166-172: „Macht man [...] die Ergebnisse einer historischen Analyse zur Norm für einen völlig anderen Typus von Diakonie [...], so werden sie zum ideologischen Uberbau, der nicht mehr mit den Realitäten vermittelt ist [...] Der ideologische Charakter, der im Verweis auf den Gottesdienst als Zentrum aller kirchlichen Arbeit liegt, wird am Beispiel der Diakonie besonders deutlich" (167).
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Theologie verlangt die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung nach der Dogmatik, 7 nach der Kirchengeschichte, nach biblischer Exegese.8 Dieses Verlangen wohl nachempfindend und von der Fülle des in den Fußnoten nur angedeuteten Materials beeindruckt, will ich aber die Diakonie nicht unter den hier erwähnten Gesichtspunkten beschreiben; gleichwohl werden sie an den entsprechenden Orten in die Reflexionen einzubeziehen sein. Ich will nicht klären, ob die Diakonie eine Wesensund Lebensäußerung der Kirche ist oder nicht. Erst recht will ich nicht erklären, dass die Diakonie eine Wesens- und Lebensäußerung der Kirche zu sein hat. Ich erfrage, was mit der Rede von der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung gemeint ist und gemeint sein kann. Ich nähere mich der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche, indem ich die gegenwärtige Rede von ihr studiere. In der Rede von ihr begegne ich als Studierender mit Erfahrungen den Erfahrungen anderer; darum werde ich experimentieren. Wissenschaftstheoretisch konstruiere ich die Studie als einen hermeneutischen Prozess, in welchem ich die Phänomene zusammen baue, die ich sehe. Damit begebe ich mich in die Disziplin der Praktischen Theologie. Auf welche Weise ich Theologie praktisch treiben werde, kann ich nicht im Vorhinein festlegen.9 Die Methode hängt von den Gegenständen ab, derer ich ansichtig werde. Wessen ich ansichtig zu werden gedenke, hängt von den Gedanken ab, die ich im Laufe des Prozesses erarbeiten werde. Ich arbeite nicht voraussetzungslos. Die Voraussetzungen gilt es zu erarbeiten.10 7 Vgl. die verschiedenen dogmatischen Verortungen der Diakonie bei Barth, Karl: KD IV/3, § 72. Der Heilige Geist und die Sendung der christlichen Gemeinde, Zürich 1959, 780-1034, 1020ff. Und Ebeling, Gerhard: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 3, Dritter Teil. Der Glaube an Gott den Vollender der Welt, Tübingen 31993, 363f. Und Lange, Dietz: Ethik in evangelischer Perspektive. Grundfragen christlicher Lebenspraxis, Göttingen 1992, 410-475. Und Rendtorff, Trutz: Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, Bd. 2, Stuttgart 1981, 135-137. 8 Vgl. Brandt, Wilhelm: Dienst und Dienen im Neuen Testament, Gütersloh 1931. Und Beyer, Hermann Wolfgang: Art. Diakoneo, diakonia, diakonos, in: T h W N T II, hg. von Kittel, Gerhard, Stuttgart 1935, 81-93. Und die entsprechenden Beiträge in: Götzelmann, Arnd/Herrmann, Volker/Stein, Jürgen (Hg.): Diakonie der Versöhnung. Ethische Reflexion und soziale Arbeit in ökumenischer Verantwortung. Festschrift für Theodor Strohm, Stuttgart 1998, 41-234. Und Collins, John N.: Diakonia. Re-Interpreting the Ancient Sources, New York/Oxford 1990. Und Herrmann, Volker/Merz, Rainer/Schmidt, Heinz (Hg.): Diakonische Konturen. Theologie im Kontext sozialer Arbeit, Heidelberg 2003, 12-212. Und Schäfer, Gerhard K./Strohm, Theodor (Hg.): Diakonie - biblische Grundlagen und Orientierungen. Ein Arbeitsbuch, Heidelberg '1998. Und Schibilsky, Michael (Hg.): Kursbuch Diakonie, Neukirchen-Vluyn 1991, 145-252. Und Welker, Michael (Hg.): Brennpunkt Diakonie, Neukirchen-Vluyn 21999. 9 Zu den verschiedenen Konzeptionen der Disziplin vgl. Grethlein, Christian/MeyerBlanck, Michael (Hg.): Geschichte der Praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker, Leipzig 2000. Und Lämmlin, Georg/Scholpp, Stefan (Hg.): Praktische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Tübingen/Basel 2001. 10 „Ein wichtiger Beitrag der Theologie zum allgemeinen wissenschaftlichen Diskurs besteht gerade darin, die letzten Voraussetzungen alles Denkens, Forschens und Argumen-
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Mit diesen einführenden Bemerkungen bin ich bereits im Gegenstand der Studie und bei ihrer Sache. Ihre Behandlung kündige ich in Bildern an: Ich mache mich auf eine Entdeckungsreise. Oder: Ich blättere im multimedialen Buch des Lebens.11
1.1.1 Eine Oberflächensicht Der Gegenstand der Untersuchung ist die Diakonie. Die Diakonie ist da. Sie war da und wird da sein. Die Diakonie ist so da, seit es Menschen gibt, und wird da sein, solange es Menschen geben wird. Sie ist da, wo jemand Hilfe braucht und bekommt. Diakonie ist helfendes Handeln. Sie ist so da, seit Gott die Welt ins Sein gerufen hat, und wird da sein, bis Gott alles in allem sein wird. Ich studiere, wie das Dasein helfenden Handelns, wie das Dasein der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche zur Geltung kommt. So und so? So wie so? So oder so? Die Diakonie ist zum Beispiel da, wo deutsche Kinder in den Kindergarten der Arbeiterwohlfahrt gehen, und da, wo lateinamerikanische Kinder nach der Nacht, in der sie stehlend für den Lebensunterhalt der Familie gesorgt haben, tagsüber im Hort eines von ADVENIAT geförderten Ordens sich waschen dürfen und zu essen bekommen und mit Müll zu basteln lernen. Die Diakonie ist da, wo sich die Witwe des Beamten mit B-8-Pension im Seniorenheim unter dem Kronenkreuz ihres Alters freut, und da, wo alte Campesinos unter Anleitung durch die Enkelgeneration das Lesen und Schreiben lernen. Die Diakonie ist da, wo der Gymnasiast mit seinem Golf GTI im kirchlichen Internat anreist, und da, wo arbeitslosen Jugendlichen Berufshilfe angedeiht. Die Diakonie ist da, wo in einem evangelischen Krankenhaus plastische Chirurgie die Lebensqualität verbessern soll, tierens so klar wie möglich offen zu legen, auch wenn - oder gerade weil - wir sie nicht mehr ableiten, verifizieren oder beweisen können. Die Erinnerung an die Tatsache, dass alles - auch alles wissenschaftliche - Denken von unableitbaren Voraussetzungen abhängt, hat selbst argumentative Qualität. Der Ausweis der Wissenschaftlichkeit von Theologie besteht deshalb gerade nicht darin, dass sie versucht, sich so voraussetzungslos wie möglich zu geben, sondern dass sie so vollständig und offen wie möglich ihre eigenen Voraussetzungen benennt, solche Voraussetzungen aber auch in den anderen Wissenschaften aufzeigt oder deren Entdeckung und Wahrnehmung stimuliert" (Härle, Wilfried: Ehrlich - lembereit, in: Huber, Wolfgang [Hg.]): Was ist gute Theologie?, Stuttgart 2004, 27-38, 30). 11 „Das Buch des Lebens enthält zwar sehr wohl auch Texte: Reden, die gehalten werden; Formulare für das Feiern; Bücher, aus denen unterrichtet wird: Das Buch des Lebens ist aber insgesamt multimedial [ . . . ] Während die textorientierte praktisch-theologische Hermeneutik sich weitgehend auf solche Texte aus der Praxis beschränkte, die im Zusammenhang der Institution Kirche produziert wurden (Predigten, Agenden, Katechismen und Unterrichtsmaterialien), gerät sie als Phänomenologie in die unabschließbare Weite gelebten Lebens" (Hauschildt, Eberhard/Laube, Martin/Roth, Ursula: Einleitung der Herausgeber, in: Dies. [Hg.]): Praktische Theologie als Topographie des Christentums. Eine phänomenologische Wissenschaft und ihre hermeneutische Dimension, Rheinbach 2000, 11-32, 20).
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und da, wo in einem konfessionell nicht gebundenen Hospiz unheilbar Kranke menschliche Nähe von Fremden spüren. Sie ist da in der Kleinfamilie und in der großen weiten Welt. Sie ist da, wo Menschen Menschen helfen. So und so, so wie so, so oder so? Wenn die Diakonie so und so da ist, muss von ihrem jeweiligen Dasein die Rede sein. Wenn die Diakonie so wie so da ist, müssen Unterscheidungen wahr- und Vergleiche vorgenommen werden. Wenn die Diakonie so oder so da ist, eignet sich als Art ihrer Beschreibung die Gegenüberstellung. Wenn Diakonie und Diakonie nicht kontrovers im Raum stehen bleiben sollen, müssen über die Wörter und, wie und oder Verknüpfungen hergestellt und Alternativen in Dialoge überführt werden. Seit 1948 gilt für die E K D und ihre Gliedkirchen die Diakonie offiziell als „Wesens- und Lebensäußerung der Kirche" 12 . Mit dieser Bezeichnung erhält der Gegenstand der Untersuchung eine gewisse Bestimmung. Ein Aspekt des Gegenstandes ist also die Kirche, die ihr Leben und Wesen in der Diakonie äußert; Diakonie und Kirche sind demnach zusammen zu sehen. Darüber hinaus erinnert Eberhard Hauschildt*3 daran, dass die Diakonie, als Uberlebensstrategie aus der Hilfsbedürftigkeit der Menschen geboren, sich im helfenden Handeln auch ohne religiöse Motive ganz alltäglich einstellt. Ein weiterer Aspekt des Gegenstandes ist dann also der normale Alltag, so dass die Theologie als kirchliche Wissenschaft, die vom helfenden Handeln als von der Diakonie handelt, sich als alltägliche theologia publica zu erweisen hat. 14 Die Weite des Gegenstandes schließlich ist aufgezeigt, wenn Hauschildt über die EKD-Formulierung hinaus die Diakonie das Wesen Christi, das Wesen Gottes selbst nennt. 15 Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die alltägliche Diakonie nach christologischen, ja den Allerweltsalltag der Diakonie nach theologischen Implikationen zu befragen. Solange die Diakonie der Kirchen in Deutschland weitgehend nach dem Subsidiaritätsprinzip aus öffentlichen Händen finanziert wurde und
12 Art. 15 (1) Grundordnung der EKD vom 13.07.48. - Vgl. Petzold, Ernst: Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche und als Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland, in: Strohm, Theodor (Hg.): Diakonie in Europa. Ein internationaler und ökumenischer Forschungsaustausch, Heidelberg 1997, 322f. 13 Hauschildt, Eberhard: Art. Diakonie, in: Clasen, Winrich C.-W./Meyer-Blanck, Michael/Ruddat, Günter (Hg.): Evangelischer Taschenkatechismus, Rheinbach 2001, 40-43, 40. 14 Karl Barth hat in seinem letzten akademischen Semester die Theologie bezüglich ihrer Stellung innerhalb des Kanons der Wissenschaften erneut zur Bescheidenheit gemahnt: „Die Theologie hat sich seit dem Ende ihres trügerischen mittelalterlichen Glanzes als akademische Vormacht viel zu sehr darum bemüht, sich durch Rechtfertigung ihrer Existenz wenigstens ein ihrer würdiges Plätzlein an der Sonne der allgemeinen Wissenschaft zu sichern. Ihrer eigenen Arbeit ist das nicht gut bekommen. Sie ist dabei nämlich weithin ins Schielen und Stottern geraten" (Barth, Karl: Einführung in die evangelische Theologie [1961/62], Zürich 3 1985, S.23). 15 Hauschildt: Art. Diakonie, 40.
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nach dem Selbstkostendeckungsprinzip mit partnerschaftlich ausgehandelten, fest vereinbarten Pflegesätzen arbeitete, stand es ihr wie allen Trägern der freien Wohlfahrtspflege anheim, ihre Arbeit auf ihre Weise nach eigener Sinngebung auszurichten und ihr eigenes pädagogisches, therapeutisches, theologisches, geistliches, kirchliches Profil zu entwickeln. Durch die Finanzierung diakonischer Arbeit marginal in Anspruch genommen beschränkten sich die Kirchen mehr oder weniger auf die Beteiligung an der inhaltlichen Ausrichtung der Arbeit und legten Wert auf die klare Formulierung des diakonisch-kirchlichen Selbstverständnisses. Die inzwischen eingetretene Ökonomisierung des Sozialstaates sieht den Wettbewerb zwischen gewerblichen und diakonischen Trägern vor. Die Diakonie ist zur Dienstleisterin geworden, die ihre Produkte zu marktgängigen Preisen verkaufen muss.16 Vielfach gewinnt sie Gestalt in der Rechtsform der gemeinnützigen Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Mit der Diakonie ist die Wesens- und Lebensäußerung der Kirche, ist das Wesen Christi, ist das Wesen Gottes am Markt. In Verbindung mit diesem scheinbaren Paradigmenwechsel wird gelegentlich eine Veränderung in der Sache befürchtet. Die Befürworterinnen und Befürworter der Einführung der Ökonomie in die Diakonie scheinen sich mit ihren Gegnern und Gegnerinnen die Waage zu halten.17 Die Diakonie ist da. Wie lange wird sie da sein als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche? Hauschildt gibt zu bedenken: „Diakonie als Gestalt des Christentums kommt von der christlichen Kirche her, wird aber nicht mehr von ihr regiert, hat hohes gesellschaftliches Ansehen und legitimiert so Kirche, ist eine öffentliche Angelegenheit im säkularen Staat [ . . . ] Ihr Stand ist auf Dauer nicht unabhängig davon, ein wie hoher Anteil der Gesellschaftsmitglieder sich christlichen Kirchen auf die eine oder andere Weise verbunden weiß".18 Die Diakonie ist da. So und so? So wie so? So oderso? Ja! Mit dieser Formulierung habe ich ein Sprachspiel eröffnet. Ob, wenn eine der drei Denkfiguren aus dem Spiel entfernt wird, das Spiel entschieden - und damit gewonnen und zugleich verloren - oder ob es verdorben ist, wird die Studie zu erweisen haben. Mit der Eröffnung des Sprachspiels bin ich unmittelbar bei der Sache; denn man sagt nicht dasselbe, wenn man von dem Gleichen redet. Mit dem Sprachspiel steht die Sache selbst auf dem Spiel. Insofern ist das Spiel ernst; es muss zunächst in Geltung bleiben, dass von der Diakonie so und so und so wie so sowie so oder 16 Zum Ganzen vgl. Weth, Rudolf: Diakonie in der Wende vom Sozialstaat zum Sozialmarkt, in: Weth, Rudolf (Hg.): Totaler Markt und Menschenwürde. Herausforderungen und Aufgaben christlicher Anthropologie heute, Neukirchen-Vluyn 1996, 1 1 1 - 1 1 8 . 17 Vgl. die Zusammenfassung bei Gebhard, Dörte: Menschenfreundliche Diakonie. Exemplarische Auseinandersetzungen um ein theologisches Menschenverständnis und um Leitbilder, Neukirchen-Vluyn 2000, 272-277. 18 Hauschildt: Art. Diakonie, 43. 14
so geredet wird. Um der Ernsthaftigkeit des Spiels willen ist jetzt der Ort aufzusuchen, von dem aus der Gegenstand wahrgenommen wird, und sind die Voraussetzungen zu klären, unter denen die Methode gewählt wird.
1.1.2 Erste
Wegskizze
Nachdem der Gegenstand der Untersuchung oberflächlich abgetastet ist im Sinne der Wahrnehmung seiner Oberfläche, d. h. der Inhalte der Diakonie, ihrer Handlungsformen, der an ihr Beteiligten und der Deutungen, ist nun die Weise der Annäherung an den Gegenstand und sind die Erkenntnisvoraussetzungen der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche zu bedenken. Diese sind abhängig von dem Gegenstand, der im Folgenden differenziert zu bezeichnen ist. Die Untersuchung duldet keine abschließende Festlegung der Methode, weil diese mit der jeweiligen Wahrnehmung des Gegenstandes zusammenhängt. Wir haben mit einer Methodenvielfalt zu rechnen. Deshalb erfolgt hier eine Orientierung im Sinne einer ersten Wegskizze. Diakonie ist helfendes Handeln. Wo dieses als solches bezeichnet wird, begegnen wir einer Deutung. Wir nähern uns dem Gegenstand der Untersuchung, der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche, nicht, indem wir helfendes Handeln empirisch beschreiben, nicht, indem wir diakonische Einrichtungen aufsuchen und deren Tätigkeiten des Näheren untersuchen. Gegenstände der Untersuchung sind nicht die Institutionen und Organisationen der Diakonie. Die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche soll wahrgenommen werden mittels der Rede vom helfenden Handeln, welches als Diakonie und als Wesensund Lebensäußerung der Kirche zur Geltung gebracht wird. Der Gegenstand dieser Studie ist von sprachlicher Art. Die Inhalte des diakonischen Handelns haben es mit dem Leben, mit dem Geborenwerden bzw. dem Gebären und mit dem Sterben zu tun; Leben und Sterben sind Prozesse. Darum kann über die Diakonie sinngemäß nicht anders als über diakonische Prozesse geredet werden; wie ihre Inhalte betrifft das, weil von diesen beeinflusst, deren Organisationsformen und auch die Rede von ihr. Ich gehe nicht davon aus, dass ich über die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche eine endgültige, abschließende Definition werde abgeben können. Ich gehe vielmehr davon aus, dass ich auf die Wahrnehmung von Prozessen angewiesen bin, hier vor allem von Prozessen, wie sie sich sprachlich artikulieren. Prozesse als Bewegungen kann man als abgeschlossene Prozesse über ihre Ergebnisse erfassen und sie nach bestimmten Kriterien ordnen und bewerten. Man muss sie jedoch zugleich immer als gewordene und weiter werdende und wie auch immer motivierte Prozesse in ihrem Fluss wahrnehmen. Das betrifft weiter die Einflüsse, die in sie 15
eingehen und die sie bewirken, die Normen, die in sie implantiert sind und ihren Fluss beeinflussen, wie auch die Optionen, die für ihren weiteren Fluss aufgemacht werden. Ein Hauptteil dieser Studie wird der Wahrnehmung der Wahrnehmung der Diakonie gelten. Das Wahrgenommene selbst wird jeweils das weitere Vorgehen und dessen Art, die Methode, bestimmen. Mit der wiederholten Reflexion der Methode greife ich eine fundamentale Funktion praktischer Theologie, ja der Theologie allgemein auf, sofern Theologie zu treiben ist als dasjenige Denken, welches den christlichen Glauben als Unterbrechung des Handelns zu verantworten hat. Aussagen über den Glauben als Unterbrechung nicht irgendeines, sondern des helfenden Handelns sind angezeigt, wenn von der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche, als Wesens- und Lebensäußerung Christi und Gottes selbst gehandelt wird. Um Bewegungen, um Flüsse wahrnehmen zu können, bedarf es darüber hinaus des Eingeständnisses, dass ich selbst in Bewegung, im Flusse bin. Ich fließe nicht allein, sondern bin mit vielen im Boot und im Wasser. Diese Wahrnehmung wird nicht unterschlagen werden. Ich halte sie für eine elementare Voraussetzung theologischer Arbeit, welche dann nicht theologische Standpunkte zu beschreiben, sondern Bewegungen zunächst wahrzunehmen hat. Aus meiner subjektiven Wahrnehmung der wahrgenommenen Bewegungen werde ich Schlüsse für die weitere Behandlung des Forschungsgegenstandes ziehen und Anschlüsse aufzeigen. Nachdem der Gegenstand der Studie oberflächlich abgetastet ist, sind im Anschluss jene Orte aufzusuchen, an welchen die Diakonie begegnet bzw. mir begegnet und begegnet ist. Der Ort, von dem aus ich jene Ortsbesichtigungen vornehme, ist der Schreibtisch des Rentners, der als Pfarrer hauptberuflich in der Kirche tätig war und ehrenamtlich weiter in der Diakonie tätig ist. An ihm melden sich Lebenserinnerungen und Leseerinnerungen. Derer werden wir in der Beschreibung persönlicher Begegnungen und theologischer Reminiszenzen ansichtig. 19
19 Vgl. Lämmlin, G e o r g / S c h o l p p , Stefan: Vorwort, in: Dies. (Hg.): Praktische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, T ü b i n g e n / B a s e l 2001, V - V I I I : „Die Biographie ist derjenige Fokus, in dem sich die Wahrnehmung von Praxis, auch die Selbstwahrnehmung eigener Praxis, die Rezeption und die Rekonstruktion der Theoriegeschichte wie die Formung einer eigenen Wahrnehmungs- und Reflexionsperspektive bündeln" (VII). U n d Härle: Ehrlich - lernbereit: Es ist „eine G r u n d f r a g e guter Theologie [ . . . ] Von welcher Lebenswirklichkeit, von welchem Erfahrungsbereich handelt dieser Text, diese Lehre, diese Aussage? Dabei stellt sich die Frage mehrfach: sowohl im Blick auf den (früheren) Entstehungskontext solcher Aussagen, als auch im Blick auf ihren (heutigen) Rezeptionszusammenhang - und dann noch einmal im Blick auf den Vergleich zwischen diesen Kontexten. Es macht die Beschäftigung mit Theologie zu einer faszinierenden, gelegentlich aber auch ungemein anstrengenden und belastenden Angelegenheit, dass in ihr die Person der T h e o login und des Theologen immer mit einbezogen ist und deshalb nicht außen vor bleiben kann" (31).
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1.2 Annäherungen Die Diakonie ist an Orte und an Zeiten gebunden. Auf der Suche nach den Orten lasse ich mir von der Diakonie als helfendem Handeln selbst den jeweils seine Zeit beanspruchenden Weg weisen, um von Ort zu Ort ihre Wahrnehmungsweisen zu beschreiben. Dabei erwarte ich nicht, dass eine der theologischen Disziplinen der wahre Ort der Diakonie sei, sondern dass die Disziplinen auf je ihre Weise im Sinne der Arbeitsteilung sich als Orte der Wahrnehmung erschließen. Die wissenschaftliche Wahrnehmung stößt dabei auf Orte auch unwissenschaftlicher Wahrnehmung, die in gleicher Weise zu berücksichtigen sind. Dies gilt auch für meine Wahrnehmung der Diakonie, die neben den wissenschaftlich bestimmten gleichfalls unwissenschaftliche Orte antrifft. Deshalb notiere ich zunächst Orte der Diakonie an meinem persönlichen Wege, um sodann die Diakonie als einen Gegenstand der Theologie zu rekapitulieren.
1.2.1 Persönliche Begegnungen Es sind und waren lebendige Menschen, die mich die Diakonie erleben ließen und lassen. Der Rückblick auf Orte an meinem Wege erstreckt sich über mehr als sechzig Jahre. In dieser Zeit haben sich die Orte, die Menschen, die Diakonie und die Art meiner Wahrnehmung gewandelt. Konstitutiv für die Diakonie als den Gegenstand der Wahrnehmung ist an allen hier bezeichneten Orten, dass an ihnen Gott, der Glaube, die Gemeinde, die Kirche zur Sprache kommen, und zwar so zur Sprache kommen, dass die Frage nach Gott und die Frage nach der Diakonie als dem Handeln der Kirche von Ort zu Ort dringender werden. Während zu Anfang Gott, der Glaube, die Gemeinde, die Kirche fraglos schienen, werden sie zunehmend fragwürdig.20 1.2.1.1 Die Großmutter und Schwester Luise
(1945ff)
In meiner Herkunftsfamilie und meiner Heimatgemeinde erhielt ich durch diese beiden Frauen erste diakonische Ortsein- und -anweisungen, ohne mir dessen bewusst geworden zu sein. Schwester Luise, Kaiserswerther Diakonisse mit dunkelblauer Tracht und weißem Häubchen, wohnte in einem Zimmerchen im Gemeindehaus. Ihr kleines Heim soll wunderschön gewesen sein; niemand hat es je gesehen. Unermüdlich war Schwester Luise mit dem Rad in der Gemeinde unterwegs. Wöchentlich besuchte sie unsere Oma Bertha und erzählte ihr bei Kaffee und Kuchen, wer zu besuchen und für 20 Durch die Überschriften zu 1.2.1.1-1.2.1.4 drücke ich aus, dass die bezeichneten Orte durch Personen, durch Tätigkeiten, durch Probleme, durch Prozesse bestimmt sind.
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wen zu beten sei. So kamen in Großmutters täglichen Hausandachten neben den Namen der Familienangehörigen und der Missionsschwestem und Missionare in „Deutsch-Südwest" und Sumatra auch die der Kranken und Sterbenden und in anderen Nöten Lebenden unserer Gemeinde vor. Gelegentlich pflegte Schwester Luise die Füße der Großeltern und entfernte die Hühneraugen; das gehörte zur Aufgabe der Diakonisse und wurde mit einem Beutelchen Kaffeebohnen entgolten. In regelmäßigen Abständen sammelte die Großmutter den Diakoniegroschen ein; dieses Geld bekam Schwester Luise an die Hand. Ich musste die Großmutter bei ihren Sammelgängen begleiten; sie ging davon aus, dass ich singend und später Flöte spielend die Geldbörsen der Spenderinnen und Spender weiter öffnen könnte. Ich tat das ungern. Meine Großmutter und Schwester Luise sind mir am deutlichsten in Erinnerung als die, die mich in die Kirche und in die Diakonie einführten; diese Erkenntnis ist eine spätere Deutung von Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend. Einen Unterschied zwischen Kirche und Diakonie hatten sie mir nicht vermittelt. Differenzierte Systeme kannte ich nicht. Dass die Kirchengemeinde und ihre Kulturen, in denen die Mitglieder meiner Familie Agenten mit verschiedenen Funktionen waren, mein Leben nachhaltig prägten, blieb mir verborgen. Ich erlebte die Diakonie individuell, familial, kirchlich, ökumenisch.
1.2.1.2 Die Gemeindearbeit
am Propsthof (196 5 f f )
Im zweiten Bezirk der Trinitatiskirchengemeinde in Bonn-Endenich, bewohnt von sozial schwachen kinderreichen Familien, Beamten der Bahn und der Post, jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Universität, Arbeitern und Angestellten, lag das Gemeindezentrum Am Propsthof, ein Ort ambivalenter Wahrnehmung der Diakonie. Dort war ich Vikar und Pfarrer und bewohnte, zuerst allein mit meiner Frau, später mit zwei Kindern, ein Pfarrhaus mit acht Zimmern in unmittelbarer Nähe städtischer Sozialbauten, in denen Familien mit bis zu 14 Personen in zwei Zimmern lebten. Im Sonntagsgottesdienst waren zwölf bis 15 Menschen, im Jugendheim täglich vierzig bis sechzig Jugendliche und an den Wochenenden über hundert. Zuerst habe ich allein mit Ehrenamtlichen gearbeitet; das waren vorwiegend Studierende der 68 er Generation aus den sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Fachbereichen sowie Studenten des Missionspriesterseminars der Societas Verbi Divini aus Sankt Augustin. Später kamen Professionelle hinzu. Schlägereien und Polizeieinsätze waren an der Tagesordnung; bei Großveranstaltungen finanzierte die Stadt Bonn einen Ordnungshüter, der ansonsten sein Einkommen als Rausschmeißer in einer Bar verdiente. Außer im Jugendheim fand die Gemeindearbeit hauptsächlich in den Häusern der Armen und im Pfarrhaus statt; sie bestand in sozialer Beratung und wirtschaftlicher Hilfe. 18
Zum Ensemble der Arbeit gehörte Schwester Hanna, mit 31 Jahren sechs Jahre älter als ich, Johanniterschwester, ebenfalls mit Tracht und Häubchen, statt mit dem Fahrrad mit dem Mofa und später mit dem Auto unterwegs. Sie hatte eine schöne Dienstwohnung, in die sie nach Feierabend hin und wieder Gäste einlud; bei solchen Gelegenheiten erschien sie in Zivilkleidung, ließ sich gern mit „Frau" und ihrem Nachnamen anreden und rauchte manchmal eine Zigarette. In unseren regelmäßigen Dienstbesprechungen wurde nichts ausgelassen, was in der Gemeinde geschah und geschehen musste. Schwester Hanna schwankte: Mal war ihr die Mütterberatung in Erziehungsangelegenheiten wichtig, mal sah sie ihren Schwerpunkt im Kindergottesdienst; mal beteiligte sie sich an der bevölkerungsaktivierenden Befragung der Menschen im sozialen Brennpunkt, mal stand die Bibelstunde an erster Stelle. Mit ihr schwankte ich. Was ist die Gemeinde? Was ist meine Aufgabe? Wer bin ich? Ein Heranwachsender, der mich von täglichen Begegnungen im Jugendheim kannte, war überrascht, dass ich es war, der ihm die Tür des Pfarrhauses öffnete, als er dem Pfarrer den Tod seines Vaters mitteilen und die Beerdigung anmelden wollte. Von ein- und derselben Person wurde ich unterschiedlich wahrgenommen; das lag an mir. In den siebziger Jahren richteten die Kirchengemeinden mit dem Diakonischen Werk nach Absprache mit den anderen Wohlfahrtsverbänden Sozialstationen ein. Fortan nahmen die Schwestern die Pflege der Kranken und Alten konfessionsübergreifend wahr und wurden zu 75 % aus öffentlichen Mitteln finanziert. Ein Viertel der Arbeit wurde von der Gemeinde bezahlt, damit die Schwestern Zeit für die Seelsorge hatten. Nur wenige Bonner Kirchengemeinden haben diese Praxis bis heute beibehalten; die meisten haben die Kooperationsverträge aufgelöst, weil die Zuordnung zu zwei Arbeitsbereichen und zu zwei Dienstgebern strukturelle Probleme mit sich brachte. Die strukturellen Probleme waren dadurch entstanden, dass das das Verhältnis von Kirche und Diakonie nicht geklärt war. Die Trinitatiskirchengemeinde hatte Schwester Hanna und mich zu den Armen und in den Gottesdienst gerufen. Gemeinsam schwankten wir zwischen den Orten. Ich war ungelernter Sozialarbeiter und gelernter Pfarrer in einer Person. Zu dieser Zeit hatte das Diakonische Werk des Kirchenkreises Bonn mich als seinen Vertreter in den Vorstand des neu gebildeten Vereins für Drogenberatung delegiert, in dem sich die Verbände der Wohlfahrtspflege, voll aus städtischen Mitteln finanziert, gemeinsam prophylaktischer und therapeutischer Arbeit widmeten. An diesem Ort waren fachliche und verbandspolitische Kompetenz angefragt; die hatte ich nicht. Theologische und kirchliche Kompetenz waren nicht verlangt.
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1.2.1.3 Im Dilemma der Frage nach dem Eigentlichen (1977ff) Ein weiterer Ort an meinem Wege war das Amt für Jugendarbeit der Evangelischen Kirche im Rheinland. Dort nahm ich im Zusammenhang mit der Jugendarbeit die Diakonie, wenn auch in anderem Bezugsrahmen, so doch in ähnlichen Brechungen wahr. Als Landesjugendpfarrer hatte ich die evangelische Jugendarbeit zu fördern. Haupt-, neben- und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Mitglieder der kirchlichen Leitungsorgane waren im Wesentlichen meine Gesprächspartner und -partnerinnen. Auf der kommunalen Ebene, der Landes- und der Bundesebene ist die Evangelische Jugend mit den anderen Jugendverbänden zu Jugendringen zusammengeschlossen und erhält mit ihnen gemeinsam für bestimmte Vorhaben erhebliche öffentliche Zuschüsse. Unsere Jugendarbeit sollte evangelisch sein. Aus meiner Jugend kenne ich als hauptamtliche Jugendarbeiter die Diakone. Diakone wurden in ihren Brüderhäusern eingesegnet und für die Arbeit in den Gemeinden ausgesegnet. Sie waren Generalisten und Spezialisten zugleich. Sie kannten sich mit der Bibel und Gott und der Welt aus und hatten eine Spezialausbildung ζ. B. in der Jugend- oder der Behindertenarbeit, der Krankenpflege, im Haushalts-, Kassen- und Rechnungswesen. In den sechziger Jahren hatten die Anforderungen an die Professionalität der Sozialarbeit zugenommen und die Kirchen - um der Qualität der Arbeit willen - auf Absolventinnen und Absolventen staatlicher Fachhochschulen für Sozialarbeit zurückgegriffen, die nicht kirchlich ausgebildet waren; später gründeten die Kirchen eigene Fachhochschulen. Das Klima in der Jugendarbeit verschlechterte sich, als die evangelischen Kirchen nach und nach um der Wahrung des Evangelischen willen für ihre Mitarbeitenden eine so genannte kirchliche Zusatzausbildung forderten; die Kirchen wollten frommere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ihre fehlende religiöse Sozialisation sollte nachgeholt werden.21 Dieser Forderung widersprach ich mit dem als Student bei Ernst Käsemann22 gelernten Argument, in der Nachfolge Jesu Christi, in der 21 Zur Situation in den 70er Jahren vgl. Weth, Rudolf: Diakonie am Wendepunkt, in EvTh 36 (1976), 263-279: „Viele Fachkräfte in der Diakonie wie Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Heilpädagogen, Mediziner, Sozialpsychiater u. a. sind nicht an einer aufgesetzten Firmierung ,evangelisch' interessiert, sondern an einer fachlichen und selbständigen Sozialarbeit vorzugsweise in einem nicht zu sehr reglementierten Freiraum, wie ihn die kirchliche bzw. freie Trägerschaft zu gewährleisten scheint Dabei fällt ins Gewicht, daß in der Tat nicht wenige von ihnen zu einer Vermittlung christlichen Glaubens und fachlichen Handelns weder bereit noch imstande sind. Dieser Sachlage tragen wiederum manche Diakonietheologen mit dem säkularisierungstheologischen Postulat Rechnung, das ,Evangelische' der Diakonie müsse sich gerade in der säkularen Fachlichkeit ihrer Sozialarbeit erweisen" (269). 22 Käsemann, Ernst: Amt und Gemeinde im Neuen Testament, in: Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 1, Göttingen 1960, 109-134, 111. Ders.: Gottesdienst im Alltag der Welt, in: Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 2, Göttingen 1964, 198-204, 104.
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Teilhabe an Christi Leib werden alle weltlichen Qualifikationen, die angeborenen und die erworbenen Fähigkeiten, zu Gnadengaben, zu Charismen, die dem Aufbau des Leibes Christi dienen. Was aber ist Nachfolge Jesu Christi? Befinden sich alle Menschen in der Nachfolge Jesu Christi, die einen Arbeitsvertrag mit einem kirchlichen Dienstgeber haben? Mein Widerspruch blieb in jeder Hinsicht unbefriedigend. Mein Versuch, kirchliches Handeln und Sozialarbeit aufeinander zu beziehen, misslang. Die Evangelische Kirche im Rheinland hatte mich verpflichtet, die Interessen der Kirche wie die der Jugendlichen wahrzunehmen und sie in der Öffentlichkeit zu vertreten. Dabei wurden Spannungen erkennbar, die zwischen Personen bzw. Gruppen und in einzelnen Personen, ζ. B. in mir, lagen. Deren Wurzeln in den verschiedenen Wahrnehmungsweisen zu suchen, ist eine Aufgabe dieser Arbeit.
1.2.1.4 Von der Wohlfahrt zum Wettbewerb
(1989$)
Kurz nach meinem Dienstantritt in der Bad Godesberger Johannes-Kirchengemeinde wurde ich in den Vorstand des „Evangelischen Vereins für Diakonie e.V." berufen, der 1885 von dem Pfarrer Julius Axenfeld als „Evangelischer Verein für Innere Mission zu Godesberg" gegründet worden war. Zu den Gründungen Axenfelds gehören u. a. ein Erholungshaus für Männer, das Evangelische Pädagogium, der Lutherverein für Diasporapflege, die Evangelische Privatelementarschule, das Evangelische Diasporawaisenhaus Godesheim, eine freiwillige Krankenpflege, eine Evangelische Kleinkinderschule, ein Waisenheim, ein Genesungsheim. 23 Axenfeld hatte, wie das im 19. Jahrhundert üblich war, den Trägern dieser Einrichtungen den juristischen Status des Vereins gegeben, um dessen und deren Unabhängigkeit gegenüber der Institution Kirche zu wahren. Weil ein ehrenamtlich tätiger Laienvorstand die im letzten Jahrzehnt um ein Vielfaches angewachsene Arbeit nicht leisten und verantworten konnte, hat der Verein sich um die Jahrtausendwende in eine Stiftung umgewandelt und mehrere gemeinnützige Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit Geschäftsführer, Aufsichtsrat und Gesellschafterversammlung als den gesetzlich gebotenen Organen gegründet. Diese GmbHs werden betriebswirtschaftlich geführt und von sozialpädagogisch und pflegerisch qualifizierten Fachkräften geleitet. Für die leitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gilt die ACK-Klausel. Mitglieder des Vereins waren neben Einzelpersonen die Bad Godesberger Kirchengemeinden. Mitglieder des neuen Stiftungsrates sind ausschließlich Einzelper23 Vgl. Bitter, Stephan (Hg.): Julius Axenfeld und die ev. Gemeinde Godesberg (1870-1895). Erinnerungen von Karl und Theodor Axenfeld. Anlässlich des 100. Todestages herausgegeben von Stephan Bitter, Rheinbach 1996, 206f.
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sonen, von denen vier durch die Presbyterien der vier Bad Godesberger Kirchengemeinden benannt werden können. Die Aufgaben der Stiftung, deren Vorstand die Gesellschafterversammlung der Holding-GmbH bildet, sind die Verwaltung der Immobilien, die Verantwortung der Gesamtkonzeption, die Entscheidung über die Übernahme neuer Aufgaben sowie die Verbindung zur Öffentlichkeit. Die Erinnerung an die mehr als hundert Jahre währende Geschichte des Ev. Vereins für Diakonie е. V. hält für die Wahrnehmung der Diakonie eine Fülle historischer Orte bereit. Die werden hier nicht im Einzelnen aufgesucht. Meine Untersuchung widmet sich der Gegenwart, in der Qualitätssicherung und -Steigerung durch Fachlichkeit und Wirtschaftlichkeit gewährleistet werden sollen. Die sozialpolitischen Rahmenbedingungen der jüngsten Zeit haben die Diakonie auf den Markt geschickt. Jetzt muss sie handeln, ohne sich verkaufen zu lassen. Auf dem Wege von der öffentlich finanzierten Wohlfahrtspflege zum Wettbewerb am Sozialmarkt sind weite Teile der Diakonie einem derartigen Wandel unterworfen bzw. haben ihn zu gestalten begonnen, wie die Kirche und die Diakonie ihn selten erlebt haben. Auf dem Wege vom Elternhaus in den Ruhestand habe ich die Diakonie auf so interessante und vielfältige Weise erlebt, dass ich lernen möchte, was ich erfahren habe. Um Erfahrungen mit meinen Erfahrungen machen zu können, soll anschließend die Behandlung der Diakonie als Gegenstand der Theologie rekapituliert werden.
1.2.2 Die Diakonie
als Gegenstand der Theologie
Weil die Diakonie als ein Handeln da ist, in dem Gott, der Glaube, die Gemeinde, die Kirche in Frage stehen, führt der Weg des Theologen zur Praktischen Theologie als auf mehrfache Weise mit dem Handeln befasster theologischer Disziplin. Aus den Reihen in der Diakonie tätiger Theologen wurde geklagt, die Diakonie habe in der Praktischen Theologie nicht ihren angemessenen Ort gefunden, weil es an einer eigenen Disziplin der Diakonik fehle.24 24 Vgl. Funke, Alex: Diakonie und Universitätstheologie - eine versäumte Begegnung?, in: PTh 72 (1983), 152-164. Albert, Jürgen: Diakonik - Geschichte der Nichteinführung einer praktisch-theologischen Disziplin, in: PTh 72 (1983), 164-177. Philippi, Paul: Diakonik. Diagnose des Fehlens einer Disziplin, in: PTh 72 (1983), 177-186. Wagner, Heinz: Ein Versuch der Integration der Diakonie in die Praktische Theologie, in: PTh 72 (1983), 186-194. Vgl. auch Wendland, Heinz-Dietrich: Christos Diakonos, Christos Doulos. Zur theologischen Begründung der Diakonie, in: Ders.: Die Kirche in der revolutionären Gesellschaft. Sozialethische Aufsätze und Reden, Gütersloh 1967, 181-192, 181. - Eine Übersicht über die Diskussion des Verhältnisses von Diakonie und Theologie gibt Schäfer, Gerhard K.: Evangelisch-theologische Konzeptionen und Diskussionslinien der Diakonie,
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Theologiestudierende, die Pfarrerinnen und Pfarrer der EKiR werden wollen, sollen ein Diakoniepraktikum machen; sie müssen es nicht. Die Beliebigkeit, mit der diese Übung diakonischer Praxis in der Ausbildung angesiedelt zu sein scheint, verrät die ausbildungsdidaktische wie die wissenschaftstheoretische Unsicherheit bezüglich der theologischen Bedeutung und Ansiedlung der Disziplin. 25 Dietrich Rössler beschreibt zutreffend das auch in kirchlichen Leitungsorganen oft artikulierte Problemempfinden; er fragt, ob die Diakonie Ausfluss der Liebe Christi sei oder eine Spielart der modernen Sozialarbeit und ob die diakonischen Arbeitsfelder nicht selbst weitgehend Missionsfelder geworden seien. Er sieht eine der Problemwurzeln in der Professionalisierung und Spezialisierung der diakonischen Arbeit. 26 Dieser Frage werde ich mich nicht in der hier alternativ formulierten Form stellen, sondern werde ihr in der Beobachtung verschiedener Wahrnehmungen nachgehen. Es ist offenkundig, dass die Theoriediskussion zur Diakonie vorwiegend in den Sozialwissenschaften geführt wird. Das will bedacht sein; denn auch dort hat sie ihre Orte, weshalb die Theologie den Sozialwissenschaften nicht das Wort nehmen darf, sondern auf sie zu hören und mit ihnen ins Gespräch zu kommen hat. Die Suche nach den Orten der Diakonie droht jedoch vorschnell abgebrochen zu werden, wenn um der Begrenzung des Gegenstandes oder seiner Eindeutigkeit willen ungeduldig die Frage nach dem Handlungssubjekt der Diakonie eingeführt und als Antwort ohne Umschweife die Kirche bzw. die Gemeinde bereitgehalten wird. 27 Das kann dazu führen, dass die Diakonie ihre eigene Ekklesiologie entwickelt. 28 Das müsste jedoch kein Schade sein, wenn es gelänge, den Ort der Diakonie im Handeln der Kirche auf eine solche Weise aufzuweisen, dass die Sozialwissenschaften bei den ekklesiologischen Bestimmungen mitwirkten. Das ist der Mühe wert. Dörte Gebhard merkt an, „dass die Theologie durchaus ihrer kritischbegleitenden Aufgabe für die Diakonie gerechtzuwerden vermag," 29 indem sie die von Philippi, Wagner u. a. geübte „Kritik an der ,kranken' Theologie" aufgreift und die Kritik an einzelnen Theologumena kritisch in: Ruddat, Günter/Schäfer, Gerhard K. (Hg.): Diakonisches Kompendium, Göttingen 2005, 91-121. 25 Vgl. Götzelmann, Arnd: Evangelische Sozialpastoral. Zur diakonischen Qualifizierung christlicher Glaubenspraxis, Stuttgart 2003, 145-149. Zur Ausbildung der Pfarrer, wie ich sie erlebt habe, vgl. Josuttis, Manfred: Der Pfarrer ist anders. Aspekte einer zeitgenössischen Pastoraltheologie, München 4 1991, 211-229. 26 Rössler, Dietrich: Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/New York 2 1994, 165f. 27 Vgl. Albert: „Die Auffassung der Gemeinde als Subjekt der Diakonie ist doch mehr eine Forderung geblieben als daß sie mit der Eigendynamik der diakonischen Praxis konkurrieren könnte. Die Praktische Theologie wiederum krankt an der im pastoralen Amt gekrönten Handlungshierarchie" (Diakonik, 176). 28 Vgl. Rössler: Grundriß, 164. 29 Gebhard: Menschenfreundliche Diakonie, 105.
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sichtet, um der Theologie implizit ein gewisses Maß an gesundheitlicher Stabilität zu attestieren.30 Wenn gleichwohl Klage über das Fehlen der Diakonik als einer eigenen Disziplin geführt wird, ist über die gefundenen, von Gebhard widerlegten Gründe zur Klage hinaus zu fragen, welche Aufgaben die Klagenden einer möglichen Diakonik zuweisen. Ich frage, wer was wozu von wem braucht. Braucht die Diakonie die Theologie? Braucht die Theologie die Diakonie? Brauchen Diakonie, Kirche und Theologie eine Diakonik? Was ist Diakonik? Für Jürgen Albert ist „das Fehlen der Diakonik [ . . . ] nicht nur ein Anzeichen für die Beschaffenheit und Selbstverständnis unserer theologischen Fakultäten, sondern auch Ausdruck unserer wissenschaftsgeschichtlichen Situation."31 Weil Wissenschaft die Handlungsdimension des schöpferischen Menschen zu begründen, zu ermöglichen und zu garantieren habe, gelte es, in der neuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung das Verhältnis zwischen Sicherheit und Gewissheit, zwischen securitas und certitudo als theologisches Kardinalproblem zu bedenken: „So hat in unserem Zusammenhang theologisches Denken die Aufgabe, Struktur und Funktion von Wissen und Wissenschaft in Hinsicht auf das Heil des Menschen zu erkennen, es hat die Rechtfertigungsdimension des Wissens und der Wissenschaft zu klären."32 Alberts Hinweis führt zwar über unsere Fragestellung im engeren Sinne, ob die Theologie die Diakonie und vice versa wenn, wozu brauche, insofern hinaus, als er die Notwendigkeit der Theologie für die Wissenschaft insgesamt und grundsätzlich reklamiert; gleichwohl ist er für unsere Fragestellung von besonderer Bedeutung. Albert macht darauf aufmerksam, dass im Zusammenhang der fortschreitenden Differenzierung von Verkündigungs- und Handlungsreligion im ausgehenden 19. Jahrhundert der geschwundene Kirchenglaube nicht Hindernis, sondern Hilfe und Voraussetzung zum sozialen Handeln wurde, so dass die Diakonie eine kathartische Bedeutung für den Protestantismus gewinnt: „Sie ist die Lebensform des allgemeinen Priestertums. Diese Lebensform aber entzieht sich ihrer Institutionalisierung in der Wissenschaftsform Praktische Theologie. Dagegen wurde in den laientheologischen Modellen der Diakonie das Verhältnis zwischen dem homo faber und dem homo creator in einer Weise bestimmt, der gegenüber akademische Theologie als fad und uninteressant gelten mußte. Der anthropologische und theologische Zusammenhang zwischen Schöpfung und/Kreuz scheint eine Interpretationsmöglichkeit für die Geschichte der Diakonie zu sein. Die Diakonie ist hineingenommen in den dialektischen Prozeß von Kreuz und Kultur als Ausformung des Verhältnisses von Gewißheit und Sicherheit der menschlichen Existenz."33 30 31 32 33
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82-105. Albert: Diakonik, 164. 165. 172f.
Für die Beantwortung unserer Frage, wer was wozu von wem brauche, sind Alberts Ausführungen Hinweise darauf, dass die Diakonie die Theologie braucht, weil die Rechtfertigungsdimension von Wissen und Wissenschaft sowie die Rechtfertigungsdimension diakonischer Existenz als Lebensform des allgemeinen Priestertums in Hinsicht auf das Heil und damit zusammenhängend das Verhältnis von homo faber und homo creator sowie das Verhältnis von securitas und certitudo einer Klärung bedürftig sind. Sobald die oben angezeigte Differenzierung von Verkündigungs- und Handlungsreligion, von Kirchenglaube und sozialem Handeln stattfindet, ist zur Bestimmung des Verhältnisses von Diakonie und Kirche die Theologie als Ekklesiologie angefragt. Alex Funke erinnert: „Die IM mußte, wollte sie nicht ihr Verständnis aufgeben, daß Apostolat und Diakonat zum esse der Kirche gehören, sich contre coeur als , Kirche' neben den Kirchen in ,freien Assoziationen' formieren. Hätte sie während dieser Fehlentwicklung nicht Bundesgenossen in eigener Initiative finden müssen bei den Lehrern der Kirche an den Fakultäten?"34 Auf „Aushilfe durch die forschende und lehrende Theologie" 35 angewiesen sieht Funke schließlich die heutige Diakonie bei der Frage nach der evangelischen Spiritualität in diakonischen Einrichtungen. Zur Inangriffnahme der Aufgabe, die diakonische Lebensform des allgemeinen Priestertums auf die Kirche und das sie leitende Handeln zu beziehen, bietet Friedrich Schleiermacher die Praktische Theologie auf: „Wie die philosophische Theologie die Gefühle der Lust und Unlust an dem jeweiligen Zustand der Kirche zum klaren Bewusstsein bringt: so ist die Aufgabe der praktischen Theologie, die besonnene Tätigkeit, zu welcher sich die mit jenen Gefühlen zusammenhängenden Gemütsbewegungen entwickeln, mit klarem Bewusstsein zu ordnen und zum Ziel zu führen." 36 Indem die Theologie als Praktische Theologie sich anschickt, die besonnene Tätigkeit hier der Diakonie bzw. der Inneren Mission - zu ordnen und zum Ziel zu führen, wird sie sich zugleich als philosophische Theologie den Gefühlen der Lust und Unlust an dem jeweiligen Zustand der Kirche zuzuwenden haben. Im Gefolge Schleiermachers werden jene Gefühle auf das Verhältnis der Kirche zu den sozialen Umbrüchen, die die aufkommende Industriegesellschaft bewirkt, zu beziehen sein. Unsere Frage, wer was wozu brauche, ist dahingehend zu beantworten, dass die Kirche, wenn sie
34 Funke, Alex: Diakonie und Universitätstheologie, 155. 35 160f. - Zur Spiritualität vgl. die Beiträge in: H o f m a n n , Beate/Schibilsky, Michael (Hg.): Spiritualität in der Diakonie. Anstöße zur Erneuerung christlicher Kernkompetenz, Stuttgart/Berlin/Köln 2001. 36 Schleiermacher, Friedrich: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Zweite umgearbeitete Ausgabe (1830), $ 257, in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg. von Fischer, Hermann u.a., Bd.6, Berlin/New York 1998.
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helfendes Handeln versagt und deshalb die Diakonie nötig macht, und mit ihr die Diakonie der Theologie bedürfen, und zwar als praktischer und als systematischer Theologie. Während die Innere Mission des 19. Jahrhunderts, angesichts der Verelendung der Massen tätig werdend, in weiten Teilen die gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen als Rahmenbedingungen des Elends nicht antastete und gar vor der Sozialdemokratie warnte, wird nun zunehmend - ζ. B. von Michael Schibilsky - die Marktwirtschaft (kapitalismus-)kritisch ins Auge gefasst: „Wir reiten hinein in eine uns fremde Welt der Ökonomie - und haben dort zu konstatieren: Marktwirtschaft ist eine menschliche Größe - sie ist vom Menschen erdacht, wird von ihm als wirtschaftliches Ordnungssystem praktiziert und möglicherweise weiterentwickelt. Immer dann, wenn ein gesellschaftspolitisches Leitmotiv zur Ideologie wird, wenn eine Idee exklusiv, monopolartig in ihrer Bedeutung wächst, ist christlicher Glaube - ist Diakonie zum Widerspruch aufgerufen. Die Ökonomisierung des gesamten Denkens ist eine solche Bekenntnissituation, in der die Diakonie aufgerufen ist, sich ihrer eigenen Ziele zu vergewissern - und Widerspruch anzumelden."37 Die Diakonie erkennt nach Schibilsky ihre Ziele in actu confessionis. Zur Feststellung wie zur Formulierung des status confessionis bedarf die Diakonie der Theologie. Die Theologie muss den Ort bestimmen, an dem bekannt wird. Nach Schibilsky ist einer der Orte die Ökonomik, ein Fachbereich der Sozialwissenschaften. Alex Funke plädiert für die Überwindung der interdisziplinären Berührungsängste von Theologie und Sozialwissenschaften und fordert den Dialog: „Beide wenden sich diagnostizierend und zurecht helfend - demselben Hilfe verlangenden Menschen zu, erleben Gelingen und Versagen, Heilung und Therapieresistenz, dankbares Annehmen und abweisenden Widerstand und - nicht selten - eine bedrückende Hilflosigkeit [ . . . ] [Es] drängt sich - eruptiv - der Wunsch auf nach Versöhnung und Zusammengehen der beiden Aussagen von Wahrheit an den Menschen und zum Menschendasein. Darauf müsste in den Studiengängen vorbereitet werden."38
37 Schibilsky, Michael: Einladung zum Leben. Zur theologischen Kernkompetenz der Diakonie in schwieriger Zeit, in: Schreiner, Martin (Hg.): Vielfalt und Profil. Zur evangelischen Identität heute, Neukirchen-Vluyn 1999, 124-140, 137. Im Blick auf die Berücksichtigung marktwirtschaftlicher Aspekte bei der Organisation der Kirche kann nicht nur der status confessionis aus-, sondern gar der Kampf angesagt werden. Vgl. Herlyn, Okko/Lauer, Hans-Peter: Kirche in Zeiten des Marktes. Ein Störversuch, NeukirchenVluyn 2004: So wird die Kirche „diesen bürgerlichen Möchte-gern-Konkurrenten Gottes wohl zur Kenntnis nehmen, wohl aber auch als eine reale Gefahr für das leibliche, geistige und seelische Wohl des heutigen Menschen, ja auch als faktische Leugnung und Lästerung Gottes ernst nehmen. Sie wird diesem Götzen [ . . . ] seinen gotteswidrigen Anspruch auf Beherrschung aller Lebensbereiche hart und kompromisslos bestreiten und mit ihrer kleinen Kraft die Stirn bieten" (19). 38 Funke: Diakonie und Universitätstheologie, 162.
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Ähnlich wie Funke siedelt Heinz Wagner die Diakonie und mit ihr die Sozialwissenschaften gemeinsam mit der Theologie auf einer Ebene an. Eine Platonisierung der Theologie als vermeintliche Wissenschaftlichkeit verwerfend, die sich an Begriffen und Definitionen freut, fordert er eine „gültige(n) und sachgemäße(n) Durchdringung, Erfassung, Bewegung und Formung des Lebens selbst. Diakonie inmitten theologischer Wissenschaft stellt Frage und Antwort, Analyse und System unter das Liebesgebot. Es mag manchen Hörer befremden, dem Liebesgott Jesu im Räume der Wissenschaft zu begegnen. Diese Verwunderung könnte von daher kommen, daß mit der universalen Gültigkeit des Liebeswillens Jesu letzthin doch nicht gerechnet wird. Ihm sind alle Bereiche des Lebens unterworfen." 39 Dem ist entgegenzuhalten, dass nicht die Diakonie die Theologie unter das Liebesgebot stellt, sondern dass Gott seinem Volk Liebe gebietet (Lev 19,18; 1 Joh 3,18 u. ö.) und das Liebesgebot in jedem Fall als Inhalt der Predigt Glauben weckt und Anfechtung bewirkt, als unmittelbares Strukturprinzip wissenschaftlicher Arbeit aber untauglich ist. Der Inhalt der von Wagner unterstellten Verwunderung macht indirekt auf die Differenz von praktisch-empirischen Realisierungsagenten der Diakonie und Gott als dem Realisierungssubjekt der Diakonie aufmerksam. Theologisches Denken muss das Wissen um diese Differenz bewahren und darf es nicht der Liebe opfern. Gleichwohl ist Wagners Hinweis zu beachten: Wir „proklamieren [...] nicht ein Wächteramt der Diakonie innerhalb der Theologie, viel lieber möchten wir von einem Helferamt der Diakonie im System der theologischen Wissenschaften sprechen."40 Diesen Gedanken führt Michael Schibilsky weiter, indem er die Diakonie als Lehrerin der Theologie bestellt: „In der Begegnung mit diakonischem Denken und Handeln kann wissenschaftliche Theologie den Gegenpol dieser Binnendifferenzierung genauer in den Blick nehmen: Interdisziplinarität und Generalisierungsfähigkeiten. In den Handlungsfeldern der Diakonie kommen nahezu alle wissenschaftlichen Disziplinen in ihrer Verantwortung gegenüber dem Menschen zur Sprache [...] In der Begegnung mit der Diakonie als Lebens- und Wesensäußerung der Kirche könnte theologische Wissenschaft lernen und erfahren, welche Not es heute zu lindern gilt."41 Wenn Schibilsky erinnert: „Im diakonischen Hilfehandeln geht es zuerst um Verständlichkeit, [sie!] dessen, was uns fremd, unverständlich oder auch unbegreiflich ist. Es geht um eine Hermeneutik der Endlichkeit des Menschen"42, hat er damit auf einen wichtigen Beitrag der Diakonie zum theologischen Lernen verwie39 Wagner, Heinz: Ein Versuch der Integration der Diakonie in die Praktische Theologie, 192. 40 Ebd. 41 Schibilsky: Einladung zum Leben, 132. 42 134.
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sen, der bestimmt „zuerst" zur Wirkung kommen muss, der aber das Wesen der Diakonie nicht umfassend zu erfassen vermag, solange einer Hermeneutik der Endlichkeit nicht eine Hermeneutik der Ewigkeit, solange einer Hermeneutik des Fragments nicht eine des Ganzen, welche das Kreuz und die Auferstehung miteinander bedenkt, an die Seite gestellt wird. Weit indessen öffnet Schibilsky das von der Diakonie für die Theologie zu erbringende Lehrgut mit seinem Hinweis auf die Not, deren Kenntnis die Vererdung und den Weltbezug der Theologie augenfällig erscheinen lässt. Ulrich Bach reklamiert mit der Diakonie die theologia crucis nicht nur um der „Ebenerdigkeit" der Theologie willen, welche den Schlüssel für das Verständnis der Diakonie gebe,43 sondern, weil „theologia crucis [...] nicht theologische Reflexion des Kreuzes [...], sondern [ . . . ] umfassend eine Theologie, die durchgängig vom Kreuz Jesu Christi her denkt" 44 , meint, vor allem um der wahren Theologie und Anthropologie, um der Erkenntnis Gottes und des Menschen sowie des angemessenen Verhältnisses von Glaube und Werk willen: „Das Kreuz Christi ist [...] nicht nur eine Aussage über Christus (bzw. über Gott), sondern auch über uns (bzw. über unsere Werke). Durch das Kreuz werden die Werke , zerstört'." 45 Theologiestudierende, die Pfarrerinnen und Pfarrer der EKiR werden wollen, sollen ein Diakoniepraktikum machen; sie müssen es nicht, sie können auch ein Industriepraktikum machen. Der Unterschied zwischen beiden Praktika ist aufgrund des oben Ausgeführten deutlich. Im Industriepraktikum lernen die Studierenden Menschen unter Arbeitsbedingungen kennen, die nicht die zukünftiger Pfarrer und Pfarrerinnen sein werden. Das gilt auch für das Diakoniepraktikum. Darüber hinaus aber sind sie mit der Diakonie in ein Lernfeld einbezogen, dessen Didaktik theologische Elemente und solche aus anderen Wissenschaftsbereichen enthält und das deshalb sehr weit ist, weil durch die Frage nach dem Heil und der Heilung des Menschen, in welche die Diakonie involviert ist, die Frage nach Gott offenkundig einbezogen ist. Unsere bisherigen Beobachtungen ließen bei keiner der Wissenschaften eine Priorität als Leitwissenschaft, wohl aber das Angewiesensein der Wissenschaften aufeinander erkennen. Die Theologie muss ihre Fähigkeit zur Interdisziplinarität bewähren, wenn sie sich an einer Diakonik beteiligen will, die ich umfassender verstehe als die „Erforschung und systematische Dar43 Bach, Ulrich: Kreuzes-Theologie und Behinderten-Hilfe. Dem scheidenden Präsidenten des Diakonischen Werkes der EKD, Theodor Schober, dem ich manche Ermutigung verdanke, in: PTh 73 (1984), 211-224: „Eine an Luthers Schriften geschulte, am Neuen Testament ausgerichtete theologia crucis ist die ,ebenerdigste' Theologie, die ich mir zur Zeit vorstellen kann [...] Die Theologie des Kreuzes ist tatsächlich der ,Schlüssel' für das Verständnis jeder evangelischen Behinderten-Arbeit, vielleicht der Schlüssel für das Verständnis aller christlichen Diakonie" (223). 44 Bach: 217. 45 Ebd. 28
Stellung des sozialen Seins und Handelns der Kirche"46, weil sie helfendes Handeln auch jenseits der sich von der Kirche selbst gesetzten Grenzen wahrnimmt. Dies gilt auch, wenn sie, wie oben vermerkt, Theologie als Ekklesiologie treibt. Jürgen Albert und Paul Philippi notieren bezüglich der Diakoniewissenschaft ihre Sorge so: „Die Bezugskonstruktion von differenzierten sozialphilosophischen Aussagen auf der einen zu positivistisch anmutenden Theologumena auf der anderen Seite scheint nicht geglückt. Zu einer Einheit der Handlungswissenschaften, wie die Diakonik sie benötigt, wird noch ein weiter und anstrengender Weg zu gehen sein."47 Auf diesem Weg ist zu klären, wie eigene Ansichten gewonnen werden können, ohne dass jedoch „Theologumena" und „Sozialphilosophumena" die Sicht der Theologie auf die Diakonik allein als auf eine Handlungswissenschaft einschränken.48
1.3 Auf dem W e g e zu eigenen Ansichten Den Ausgangspunkt für einen Weg zu eigenen Ansichten suche ich nicht in einer Bewertung der zuletzt beschriebenen Diskussionslage über die Diakonie als Gegenstand der Theologie. Zur Klärung der Methode muss ich nicht primär der Diskussionslage über die Diakonie, sondern der Diakonie selbst als des Gegenstandes der Untersuchung - wohl unter Berücksichtigung der Diskussion - ansichtig werden. Darum verlangt die Frage nach der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche innerhalb der Forschungsschwerpunkte der Diakoniewissenschaft 49 eine 46 So Albert, Jürgen/Philippi, Paul: Art. Diakonie III. Diakoniewissenschaft/Diakonik, in: T R E , Bd. 8, Berlin/New York 1981, 656-660, 657. 47 Albert/Philippi: 659. 48 Vgl. dazu Schibilsky, Michael/Zitt, Renate: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Theologie und Diakonie, Gütersloh 2004, 9-39: „Wir plädieren f ü r eine .Theologie als Theorie der Lebenskunst': Eine solche Theologie ist 1. diakonisch, 2. empirisch, 3. person-reflektiert, 4. zeitbedingt und hat 5. ihren ,Sitz im Leben' genau dort, wo sie hingehört: im alltäglich gelebten Leben. D o r t beginnt ihr Erkenntnisweg und ihre Reflexionsleistung. Sie beginnt mit sorgfältiger Beobachtung der Beobachtung des Alltags - einer Beobachtung zweiten Grades. Nicht nur - wie Martin Luther zur Übersetzung der Bibel - den Leuten a u f s Maul schauen, sondern ihr Leben anhören, ihre Seele wahrnehmen, wirtschaftliche, politische und religiöse Konflikte wahrnehmen. Theologie in diesem Sinne konfrontiert die Ergebnisse dieser Wahrnehmungen mit theoretischer Analyse und mit biblischen Glaubensund Wissensbeständen" (13). 49 Vgl. die Projektbereiche des D W I bei Strohm, Theodor: Art. Diakoniewissenschaft, in: RGG 4 , Bd. 2, Tübingen 1999, 801-803: „1. Theol. und Praxis der Diakonie im Bezugsfeld sozialstaatlicher Entwicklungen. Handlungsfelder der diakonisch-sozialen Arbeit Diakonische Dimensionen christl. Gemeindepraxis. Klärung methodischer Fragen im Dialog von Theol. und Human- bzw. Sozialwiss. 2. Exemplarische Untersuchungen zu den bibl. Überlieferungen, zur frühen Kirche und zu außerbibl. rel. Traditionen. 3. Die hist, und zeitgesch. Erschließung und Aufarbeitung der Diakonie im Kontext kirchl. Überlieferungen
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wissenschaftstheoretische Präzisierung, welche zunächst mit Michael Schibilsky v o r a u s s e t z t , d a s s D i a k o n i e p r a k t i s c h t h e o l o g i s c h v e r s t a n d e n w i r d „als eine überindividuell o r g a n i s i e r t e o d e r institutionalisierte F o r m d e s H e l f e n s , a l s o als eine P r a x i s , d i e sich i m N a m e n d e s C h r i s t e n t u m s oder im Auftrag von Kirche und D . einem einzelnen M e n s c h e n oder einer P e r s o n e n g r u p p e z u w e n d e t , d i e sich in einer N o t l a g e o d e r in bes. Bedürftigkeit befinden"50. D i e theologischen Zugänge zu diesem P h ä n o m e n u n d d i e A n s i c h t e n s e i n e r sind vielfältig; ihre G e s c h i c h t e ist T e i l d e r G e s c h i c h t e d e r D i a k o n i e . Bis z u d e r hier zitierten B e s t i m m u n g w a r es ein weiter W e g . W e i l in d e r R e f o r m a t i o n s z e i t h e l f e n d e s H a n d e l n i m V e r d a c h t stand, als W e r k g e r e c h t i g k e i t m i s s v e r s t a n d e n z u w e r d e n , k o m m t es ζ . B. in C A V I I n i c h t vor. 5 1 D e r d i a k o n i s c h e N e u a n s a t z in d e r M i t t e d e s ^ . J a h r h u n d e r t s k o n n t e k a u m auf d i a k o n i s c h e D e n k t r a d i t i o n e n in d e r w i s s e n s c h a f t l i c h e n T h e o l o g i e z u r ü c k g r e i f e n . W e i l d e m christlichen G l a u b e n n a c h d e r e v a n g e l i s c h e n T h e o l o g i e d a s P r i n z i p d e s sola scriptum e i g e n ist, w u r d e das h e l f e n d e H a n d e l n , w u r d e d i e Innere M i s s i o n in d e r R e g e l b i b l i s c h b e g r ü n d e t ; es k a n n n i c h t a u s g e s c h l o s s e n w e r d e n , d a s s d i e b i b l i s c h e n B e g r ü n d u n g e n e i g e n e s H a n d e l n z u l e g i t i m i e r e n hatten. 5 2 M i t d e m
und gesellschaftlicher Entwicklungen insbes. der öfftl. und freien Wohlfahrtstätigkeit. 4. Die diakonisch-soziale Verantwortung der Kirchen im eur. Einigungsprozeß und in der Ökumene. Beiträge zum interkonfessionellen und interrel. Dialog" (803). 50 Schibilsky, Michael: Art. Diakonie VI. Praktisch-theologisch, in: RGG, Bd. 2, Tübingen "1999, 798-801, 798. Für die Begriffe „Notlage" und „besondere Bedürftigkeit" sehe ich eine weite Fassung geboten; auch die Beamtenwitwe mit B-8-Pension und der Gymnasiast mit dem Golf GTI erfahren die Zuwendung der Diakonie. 51 Vgl. jedoch die Aufnahme der Taten der Liebe in den Kodex der Kennzeichen der Kirche, der notae externae bei Luther und Melanchthon. Nachweise finden sich bei Härle, Wilfried: Art. Kirche VII. Dogmatisch, in: TRE Bd. 18, Berlin/New York 1989, 277-317, 291. - Zu der aufgrund reformatorischer Erkenntnisse entstandenen Vernachlässigung der Diakonie in der Theologie vgl. Turre, Reinhard: Grundlegung und Gestaltung der Diakonie, Neukirchen-Vluyn 1991: „So befreiend Luthers Einsicht war, daß die Werke im Artikel von der Rechtfertigung nichts zu tun haben, so kurzschlüssig und einseitig war doch die Folge, daß die Besinnung auf die Diakonie als Frucht des Glaubens nicht mehr zentral bedacht, sondern in allen theologischen Disziplinen nur noch am Rande behandelt wird." Hinzu kommt eine innertheologische „Spiritualisierung aller Glaubens- und Lebensvollzüge, die Glaubenswahrheiten nur noch behaupten, aber nicht mehr erweisen möchte." Dem entspreche außertheologisch ein verkürztes Wirklichkeitsverständnis, das „innere Antriebskräfte, Motivation, Wirken des Geistes als nicht wissenschaftswürdig diskreditiert" (293). 52 „Am Anfang der modernen Diakonie steht nicht ein Anstoß durch richtige theologische Einsichten, sondern richtungweisend ist die konkrete Not vieler Menschen. Zugespitzt: Es ist das durch die Frömmigkeit geschärfte Gefühl, welches das rationale diakonische Handeln aus sich hervorbringt [...] Die sich darin ausdrückende Theologie ist in der Regel eine ,einfache' Theologie [...] Ihr geht es um die Rechtfertigung der Diakonie nicht zuletzt gegenüber kirchlicher Kritik. Bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist diese fast ausschließlich von diakonischen Praktikern und oft in Kleinschriften eher implizit als explizit entwickelte Theologie der Versuch einer Legitimierung der je eigenen Praxis. Die diakonietypische Theologie ist eine Praxistheologie" (Ruschke, Werner M.: Theologie und 30
Vorgehen, die Diakonie biblisch zu begründen, ist jedoch noch nicht die praktische Theologie, sondern ist die historische Exegese als Disziplin bemüht und allein deren Ansicht von der Diakonie vorgestellt.53 „Wenn die Diakonie überhaupt in den Blick der wissenschaftlichen Theologie kommt, so geschieht das zumeist deduktiv. Die Theologie leitet dabei exegetisch und dogmatisch ab, warum und zu welchem Zweck es Diakonie gibt und welche Gestalt sie annehmen sollte. Für die mit der Diakonie Vertrauten und in ihr Arbeitenden ist dieser methodische Zugang häufig wirklichkeitsfern."54 An den Beiträgen der systematischen Theologie zur Diakonie beobachtet Matti Järveläinen, dass die der Diakonie geltende theologische Theoriebildung, durchzogen von einem heils-
Diakonie. Zehn Sätze zu einer neuen Verhältnisbestimmung, in: Diakonie, Konfession Profession - Institution. Jubiläumsjahrbuch 1998, Stuttgart 1998, 73-77, 73). 53 So auch in dem praktisch-theologischen Artikel über die Diakonie von Schibilsky, Michael: Art. Diakonie VI. Praktisch-theologisch: „D. wird theol. als Dienst von Menschen an Menschen abgeleitet vom Versöhnungsdienst Christi (2 Kor 5,18). Als Urbild dient die Tischgemeinschaft des Abendmahls. D. gründet im Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe, einer gemeinsamen christl.-jüd. Wurzel. Der Zusammenhang von Gotteserkenntnis, Erbarmen und Recht [ . . . ] findet in der D. adäquaten Ausdruck. Gotteserkenntnis ist da, wo eine Gemeinschaft ihre Armen und Schwachen in Gesetzen aufnimmt, die auf Erbarmen zielen. Die geistl. Orientierung dient dazu, das Vertrauen in Liebe und Freiheit zu stärken. Kirche versteht sich als heilende Gemeinschaft, wenn sie mit dem ihr Fremden, Unbekannten und Unvertrauten nach den Maßstäben eines bibl. orientierten Menschenbildes umgeht. Da die Entfremdung von Gott die tiefste N o t des Menschen ist und sein Heil und Wohl untrennbar zusammengehören, vollzieht sich D. als ganzheitlicher Dienst am Menschen. Diakonische Praxis als soziale Arbeit findet in der Partizipation an der helfenden Beziehung Gottes zur Welt in Jesus Christus ihren Ausdruck" (799). - Zu der differenzierenden Bestimmung der Diakonie durch Collins, John N.: Diakonia. Re-Interpreting the Ancient Sources, New Y o r k / O x f o r d 1990, vgl. die Aufsätze in: Herrmann, Volk e r / M e r z , Rainer/Schmidt, Heinz (Hg.): Diakonische Konturen. Theologie im Kontext sozialer Arbeit, Heidelberg 2003, 127-212. 54 Ruschke: Theologie und Diakonie, 75. Vgl. Reitz-Dinse, Annegret: Theologie in der Diakonie. Exemplarische Kontroversen zum Selbstverständnis der Diakonie in den Jahren 1957-1975, Neukirchen-Vluyn 1998: »Die Praxis selbst blieb dabei ohne jegliche theologische Relevanz. Sie war Produkt, Frucht des Glaubens, Antwort der Gemeinde, Dienst der Liebe. Das bedeutet: f ü r sich selbst genommen war die diakonische Praxis im theologischen Blickwinkel immer etwas Abgeleitetes [ . . . ] Dabei wurde die Gemeinde zwar weniger als öffentliche Schnittstelle zwischen Kirche und Welt gedeutet, als vielmehr als christliche Gruppe angesehen, die im Liebesdienst zum Ausdruck bringt, was sie glaubt und bekennt" (14f). - Im Gegensatz zu Dierk Starnitzke, der in seiner theologischen Grundlegung der Diakonie nach 1945 die nicht-universitäre, nicht-akademische Arbeit zum Thema bewusst übergeht, weil sich dort keine präzise und differenzierte Befassung mit den Problemen finde (Starnitzke, Dierk: Diakonie als soziales System. Eine theologische Grundlegung diakonischer Praxis in Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, Stuttgart/Berlin/Köln 1996, 41), bescheinigt Reitz-Dinse den Theologen in den diakonischen Arbeitsfeldern und in der Kirche eine nicht minder professionelle Befassung mit der Sache, zumal diese darüber hinaus vor der Aufgabe standen, „die Ergebnisse solcher Beschreibungen und Reflexionen in praktisches Handeln umzusetzen sowie umgekehrt aus den praktischen Handlungsfeldern heraus die immanenten theologischen Themen wahrzunehmen und zu formulieren" (lOf).
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geschichtlichen Konzept, dessen Brennpunkte der christologische, der ekklesiologische sowie der eschatologische Aspekt bilden, auf das Ganze des kirchlichen Handelns ausgeweitet wurde, so dass die besonderen Probleme der Diakonie aus dem Blick zu geraten drohen.55 Weil mein Blick auf die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche fokussiert ist, könnte sich die Untersuchung eben dieser Formel nahe legen. Auch hier können die historische und die dogmatische Theologie wichtige Einsichten vermitteln, insbesondere die, dass die Bemühung der Formel im Zusammenhang mit dem gescheiterten Versuch steht, die Innere Mission und das Hilfswerk mittels einer theologischen Bestimmung aneinander zu binden.56 So ist „die viel zitierte Schlüssel-
55 Järveläinen, Matti: Gemeinschaft in der Liebe, Heidelberg 1993. Das theologische Gespräch in den 50er und frühen 60er Jahren des 20. Jahrhunderts betreffend stellt Järveläinen fest: Es „wurde erkannt, dass die Forschung sich nicht genügend einer systematischtheologischen Untersuchung der Diakonie gewidmet hatte. Deshalb strebte man jetzt danach, der Diakonie einen theologisch fundierten Platz im Glaubensgebäude der Kirche einzuräumen. In diesem Zusammenhang wurde der Diakoniebegriff weit gefasst und war als solcher theologisch recht unklar. Die theologische Grundlegung der Diakonie konnte hier als theologische Theoriebildung des gesamten kirchlichen Wirkens verstanden werden. Und auf der anderen Seite konnte das gesamte kirchliche Wirken als Diakonie gelten. Die theologische Untersuchung der Diakonie wurde von einem heilsgeschichtlichen Konzept durchzogen, dessen Brennpunkt der christologische, ekklesiologische und eschatologische Aspekt bildete. Die christologische Forschung konzentrierte sich zum großen Teil auf die ,paradoxe Christologie' des Neuen Testaments, laut der der Kyrios auch Diakonos ist [...] In der Ekklesiologie wurde einerseits die Zusammengehörigkeit der kirchlichen Wesensbestimmung mit der Diakonie und andererseits das Wechselspiel von Kirche und eschatologischem Gottesreich betont. Die Kirche wurde als .eschatologische Gegenform' (Wendland) zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, d. h. der Welt, gesehen. Zugleich wurde jedoch auch betont, daß die Kirche, obwohl sie ,aus der Kraft der kommenden Welt' lebt, niemals aufhört, selber an der Geschichte zu partizipieren. Es handelt sich hierbei also um die Vorstellung, daß ,Gottes befreiende Herrschaft schon heute wirksam wird, ohne dabei aufzuhören, Hoffnung zu sein (Rieh). Diese Herrschaft wurde wiederum als Diakonie verstanden" (120f). 56 Reitz-Dinse stellt, zunächst eine exemplarische Kontroverse erinnernd (Theologie in der Diakonie, 17-22), ausführlich und überzeugend dar, wie in den Jahren seit 1957, seit der Rat der EKD und der Centrai-Ausschuss für Innere Mission die Fusion des Werkes als „Innere Mission und Hilfswerk der EKD" betrieben hatten, für die unterschiedlichen Positionen, die einerseits im Praxisfeld der Inneren Mission, andererseits in dem des Hilfswerks bestimmend sind, ein Konsens gesucht wird, ohne dass die Vertreter zu einer theologischen Klärung zu kommen vermögen; dies gelte auch für die Zeit nach der Gründung des Diakonischen Werkes der EKD im Jahre 1975 (23-91): „Da Mission und Diakonie - entgegen mancher Bemühungen, beide auf die gemeinsame christologische Wurzel zurückzuführen - als einander ausschließende Konzepte erlebt wurden, kam das ursprünglich angestrebte Zusammenwachsen von Innerer Mission und Evangelischem Hilfswerk im fusionierten Werk nicht zustande [...] Die offizielle Teilung der theologischen Hauptabteilung des Werkes in die Bereiche a und b ist dafür ein sichtbares Zeichen" (89). Das diakonische Werk konnte sich in der sozialpolitischen Szene gut etablieren, weil pragmatische Fragen den Alltag des Werkes prägten (90). „Für die Theologie in der Diakonie bestand dagegen weniger Eindeutigkeit, so daß die Einheit des Diakonischen Werkes zunächst nur auf der organisatorischen Ebene gewährleistet war, während der theologische
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formel des Artikels 15 der Grundordnung der EKD ein gerade noch zustande gebrachter Kompromiß zwischen zwei grundverschiedenen Auffassungen von Diakonie, einer eindeutig in der Kirche verorteten, zentral organisierten, und einer neben der Kirche arbeitenden, dezentral organisierten, pluralen Form. Artikel 1557 markiert deshalb nicht nur, wie meist allzu selbstverständlich angenommen wird, die Identität von Diakonie und Kirche, sondern er bezeichnet vor allem auch das Problem von deren gegenseitiger/Zuordnung sowie die Schwierigkeit einer einheitlichen Gesamtdefinition der beiden verschiedenen diakonischen Konzepte."58 Indem einerseits davon auszugehen ist, dass exegetische, historische59 und dogmatische Aspekte sehr wohl fundamental zur Erkenntnis der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche beitragen,60 ist andererseits pragmatisch nicht von diesen auszugehen; bei einem solchen
Diskussionsstand in der Theologischen Abteilung des Werkes dieser Einheit nicht entsprach" (91). So begann „sich abzuzeichnen, daß die tatsächliche Entwicklung des Diakonischen Werks unabhängig von der theologischen Arbeit verlief. Die Dynamik dieser Entwicklung kam von außen, d. h. von der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung, von den sozialstaatlich garantierten Leistungsvorgaben, von finanziellen Fragen, ζ. B. in Pflegesatzverhandlungen. Die Theologie zeigte sich in diesen komplexen Rahmenbedingungen nicht als Vordenkerin für die diakonische Praxis. Sie konnte dies nicht sein, weil sie sich dann für bestimmte Zielvorstellungen verfügbar gemacht hätte, ihre kritische Funktion aufgegeben hätte und zu einer legitimierenden Ideologie hätte werden können" (175). 57 Art. 15, АЫ Grundordnung E K D : „Die Evangelische Kirche in Deutschland und die Gliedkirchen sind berufen, Christi Liebe in Wort und Tat zu verkündigen. Diese Liebe verpflichtet alle Glieder der Kirche zum Dienst und gewinnt in besonderer Weise Gestalt im Diakonat der Kirche; demgemäß sind die diakonisch-missionarischen Werke Lebensund Wesensäußerung der Kirche." 58 Starnitzke: Diakonie als soziales System, 31 f. 59 Zur Verarbeitung biblischer Befunde vgl. die Beiträge in Schäfer, Gerhard K./Strohm, Theodor (Hg.): Diakonie - biblische Grundlagen und Orientierungen. Ein Arbeitsbuch, Heidelberg 3 1998, sowie Benedict, Hans-Jürgen: Die größere Diakonie: Versuch einer Neubestimmung im Anschluss an John N. Collins, in: Herrmann, Volker/Merz, Rainer/Schmidt, Heinz: Diakonische Konturen. Theologie im Kontext sozialer Arbeit, Heidelberg 2003, 127-135, Dietzel, Stefan: Zur Entstehung des Diakonats im Urchristentum. Eine Auseinandersetzung mit den Positionen von Wilhelm Brandt, Wolfgang Hermann Beyer und John N. Collins, 136-170, Dunderberg, Ismo: Vermittlung statt karitativer Tätigkeit? Überlegungen zu John N. Collins' Interpretation von diakonia, 171-183, und Starnitzke, Dierk: Die Bedeutung von diakonos im frühen Christentum, 184-212. Einen geschichtlichen Überblick geben Schäfer, Gerhard K . / H e r r m a n n , Volker: Geschichtliche Entwicklungen der Diakonie, in: Ruddat, Günter/Schäfer, Gerhard K.: Diakonisches Kompendium, Göttingen 2005, 36-67. 60 Vgl. Ruschke: Theologie und Diakonie: „Exegetische und dogmatische Ableitungen oder historische Erinnerungen dienen dann dazu, das induktiv Erfragte in ein neues Licht zu stellen. Dogmatische Ansätze sind - vermutlich nicht nur in der Diakonie - nur dann hilfreich, wenn sie nicht abschließend festlegen, sondern wenn sie gesprächseröffnend sind und neue Perspektiven aufdecken helfen. Alle großen dogmatischen Topoi sind daraufhin zu überprüfen, ob und inwieweit sie die Einsichten der real existierenden Diakonie berücksichtigen und beantworten" (76).
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Verfahren wäre eine exegetische oder eine kirchengeschichtliche oder eine dogmatische Arbeit über einen Gegenstand kirchlicher Praxis zu schreiben, welche .Einsichten in die Diakonie vermittelt, indem sie hinter die Praxis der Diakonie zu schauen ermöglicht. Um aber zu solchen Einsichten zu gelangen, die eine Theorie der Praxis ermöglichen und gar ylKisichten auf eine künftige Praxis eröffnen können sollen, bedarf es einer Klärung der Theorie, der Λ »sichten. Bei diesen Ansichten wird es sich, weil es meine, eines theologischen Rentners mit diakonischer Praxis, Ansichten sind, um subjektive Ansichten handeln. Insofern gehört im Sinne einer reflexiven Verdopplung meine Rolle als Subjekt der Wahrnehmung mit in die Theorie der Praxis hinein. Für eine Untersuchung der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche als Studie in der Disziplin der Praktischen Theologie ist es um der wissenschaftstheoretischen Präzisierung willen geboten, den Ausgangspunkt für einen Weg zu eigenen Ansichten bei den sich bietenden Wahrnehmungen zu wählen. Deshalb wende ich mich im Folgenden den Wahrnehmungen des Gegenstandes zu. Deren wissenschaftstheoretische Bestimmung geschieht durch Differenzierungen. 61
61 Vgl. Schmidt-Rost, Reinhard: Theorie der Krisen und Grenzen. Praktische Theologie im Dienst sozialer Arbeit, in: Nauer, D o r i s / B u c h e r , Rainer/Weber, Franz (Hg.): Praktische Theologie. Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven, Stuttgart 2005, 218-223: „Alle Theologie ist Reflex religiöser Praxis in Gedanken; christliche Theologien sind systematische Reflexionen christlicher Praxis, [ . . . ] auch Reflexionen weiteren Handelns und Wirkens im Sinn des christlichen Glaubens in der Welt [ . . . ] Die moderne Praktische Theologie ist eine wissenschaftliche Reflexion auf die Differenzierung und Pluralisierung christlich-religiöser P r a x i s " (218).
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2. Wahrnehmungen des Gegenstandes Weil die Diakonie da ist - so und so und so wie so sowie so oder so wird sie von vielen Menschen wahrgenommen. Ich setze mit der Wahrnehmung weder bei den Weisen der Diakonie noch bei den sie nötig machenden Umständen, sondern bei den Weisen ihrer Wahrnehmung ein. Helfendes Handeln kann, muss aber nicht als Diakonie wahrgenommen werden. Die Diakonie wird unterschiedlich wahrgenommen. Das neugeborene Kind auf der Wöchnerinnenstation des Malteserkrankenhauses nimmt die Diakonie anders wahr als sein Vater, die komatöse Patientin im Hospiz des Evangelischen Waldkrankenhauses anders als ihre Angehörigen, der Geschäftsführer des Jugendhilfezentrums anders als der Jugendliche in der Notschlafstelle, die in Kolumbien acht Kinder allein erziehende Mutter anders als die Psychologin in der Schwangerenkonfliktberatungsstelle des Paritätischen Wohlfahrtsverbande Die Diakonie als helfendes Handeln wird bewusst, unbewusst und unterbewusst wahrgenommen: handelnd und empfangend, helfend und erleidend, fühlend und denkend, hoffend und verzagend, betend und zahlend, fordernd und fördernd. Sie wird unwissenschaftlich und wissenschaftlich wahrgenommen. Die wissenschaftliche Wahrnehmung hat ihre natürlichen Orte in der Gemeinschaft aller Fakultäten und Disziplinen. Die Fakultäten und Disziplinen haben ihre natürlichen Orte in der Geschichtlichkeit des Alltags der Welt. Wissenschaftliche Wahrnehmung bewährt sich in der unterscheidenden Ordnung der Orte, welche dem Diabolischen, dem Durcheinanderbringen, wehrt. Ich präzisiere meine Wahrnehmung als theologische Wahrnehmung. Die Theologie hat, auch wenn sie die Diakonie wahrnimmt, im Konzert mit anderen Disziplinen ihre Profanität als Wissenschaft zu erweisen. Eberhard Jüngel fordert von der Theologie, dass sie im Gebrauch der Vernunft mit allen Wissenschaften wetteifert und dennoch im Verständnis der Vernunft mit ihnen streitet. Im Streit der Fakultäten hat sie ihr Selbstverständnis auf eine solche Weise zu bewähren bzw. neu zu erstreiten, dass sie bestreitet, ob man im Streit um einen gemeinsamen Endzweck vereinigt sei.1 „Die Theologie kann ihre Eindeutigkeit nur gewin1 Jüngel, Eberhard: Das Verhältnis der theologischen Disziplinen untereinander, in: Ders.: Unterwegs zur Sache. Theologische Bemerkungen, München 1972, 34-59, 38f. Vgl. Meyer-Blanck, Michael: „[...] religiös unmusikalisch"? Zum Nutzen theologischer Bildung in Wissenschaft und Beruf, in: Pro facultate. Mitteilungen der „Freunde der Evangelisch-theologischen Fakultät Bonn e.V.", Nr. 2, Bonn 2004, 31-40: „Gerade im Gegenüber zur Kulturwissenschaft braucht die Theologie die Konfessionalität einer nicht nur
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nen, indem sie sich auf das Ereignis des Wortes Gottes als Ereignis des Glaubens bezieht, und zwar in allen ihren Teilen. Im durchgängigen Bezug auf das Ereignis, in dem Gottes Wort Glauben gewährt, hat die Theologie ihr Wesen. Das heißt: sie ist wesentlich scientia eminens practica"2 und in der Reflexion der Praxis bereits selbst Praxis.3 Sich auf das Ereignis des Wortes Gottes als Ereignis des Glaubens beziehend „muß sich die Konfrontation [der Theologie] mit den empirischen Wissenschaften vor allem in der Dogmatik vollziehen, um den Glauben in dem, was er zu sagen hat, als gottgemäße Erfahrung mit aller Erfahrung zu verantworten."4 Ohne zwiespältig zu werden, ja um ihrer Eindeutigkeit willen, hat sie die „Zweisprachigkeit von konfessorisch gebundener Rede und Religionstheorie"5 zu pflegen. Weil die Rede von der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche Erfahrung von - so wie so, so und so, so oder so - Wahrgenommenem vermittelt, ist jetzt die Wahrnehmung pragmatisch näher zu bestimmen.
betrachtenden, sondern positionell erkennbaren Vorgehensweise" (36). „Die akademische Lehre in der Theologie kollabiert, wenn das Bekennen an die Stelle der Reflexion tritt. Aber sie kollabiert auch, wenn kein Bekenntnis im Hintergrund zu erkennen ist" (37). Ahnlich - hier zum Verhältnis von Ethik und Praktischer Theologie - Lange, Dietz: Ethik in evangelischer Perspektive. Grundfragen christlicher Lebenspraxis, Göttingen 1992: „Die positive Bedeutung der theologischen Ethik f ü r die praktische Theologie besteht darin, mit dieser (im Verein mit der Glaubenslehre) so zu kooperieren, daß sie nicht in unkritischer Empirie oder in ebenso unkritischer Erbaulichkeit versinkt und auf diese Weise zu einer bloß technischen Disziplin wird, sondern eine theologische Wissenschaft bleibt" (302). 2 Jüngel: Verhältnis der theologischen Disziplinen, 40. 3 Vgl. Schmidt-Rost: Theorie der Krisen und Grenzen: „Als Reflexion von Praxis des Glaubens sind die christlichen Theologien selbst christliche Praxis und wirken als Reflexion auf die weitere Gestaltung christlicher Praxis ein. Deshalb konnte man schon immer sagen: Theologia est scientia eminens practica" (218). 4 Ebeling, Gerhard: Die Klage über das Erfahrungsdefizit in der Theologie als Frage nach ihrer Sache, in: Ders.: W o r t und Glaube, Bd. 3, Tübingen 1982, 3-28: „Fragwürdig [ . . . ] ist der Anschein bloßer Addition von Historischem und Empirischem, als ob der Historismus durch Empirismus unschädlich gemacht werden könnte [ . . . ] Es kommt darauf an, dass die Konfrontation mit der Empirie theologisch reflektiert und dem Verständnis und dem Leben des Glaubens integriert wird" (27). Für Ebeling ist die Sache der Theologie das Ineinander von Gottes-, Welt- und Selbsterfahrung, „wie es in der Erscheinung Jesu Christi sich ereignet hat und verkündbar geworden ist und im Glauben [ . . . ] lebensbestimmend wird" (Ders.: Studium der Theologie. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen 1975, 171). 5 Meyer-Blanck: Zum Nutzen theologischer Bildung: „Innertheologisch ist die Unterscheidung von funktionaler und substantialer Religionsbetrachtung von fundamentaler Bedeutung" (35).
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2.1 Wahrnehmung der "Wahrnehmung In diesem Teil der Untersuchung erhebe ich Äußerungen zur Wahrnehmung der Diakonie, indem ich diese empirisch wahrnehme und hermeneutisch-konstruktiv mit ihnen umgehe.6 Auch unwissenschaftliche Wahrnehmungen der Diakonie werden wissenschaftlich wahrgenommen. Ich will ermitteln, wer was über die Diakonie weiß und wer die Diakonie wie wahrnimmt und erlebt. Im Hintergrund steht das Interesse an der Erkenntnis, wie die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche wahrgenommen und zur Geltung gebracht wird. Die Befragung umfasst offizielle und inoffizielle, amtliche und persönliche, kirchliche und nicht kirchliche Äußerungen. Ich befrage Menschen und Texte. Diese Unterscheidung dient der Ordnung und der Verortung. Sie ist oberflächlich insofern, als auch in geschriebenen Texten es Menschen sind, die zur Sprache kommen. Bei der Befragung von Menschen ist das gesprochene Wort das Medium zwischen anderen Menschen und mir. Bei gedruckten Texten ist es das geschriebene Wort. Geschriebene Texte senden im Gegensatz zu Menschen im Gespräch einmalige, nur durch Erklärung der Autoren oder durch neue Texte erläuter- und revidierbare Botschaften und können selbst weder reagieren noch sich korrigieren oder sich wehren; andrerseits geht ihnen in jedem Falle eine unmittelbare Reflexion über den Gegenstand des Geschriebenen, in welche der jeweilige Kontext involviert
6 Vgl. Kießling, Klaus: Praktische Theologie als empirische Wissenschaft?, in: Nauer, Doris/Bucher, Rainer/Weber, Franz (Hg.): Praktische Theologie. Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven. Ottmar Fuchs zum 60. Geburtstag, Stuttgart 2005, 120-127: „Praktische Theologie verstehe ich als eine auf empirische Forschung angewiesene theologische Disziplin, die in der Auseinandersetzung mit Fragen der Interdisziplinarität in die Lage kommt, mit empirischer Forschung hermeneutisch-kritisch umzugehen, ohne sie zu verteufeln oder vergöttern zu müssen" (126). Und Hauschildt/Laube/Roth (Hg.): Praktische Theologie als Topographie des Christentums, Rheinbach 2000, dort: Einleitung der Herausgeber, 11-32: „Nachdem die Dialektische Theologie Geschichte geworden ist, gilt auch gleiches f ü r eine strukturfunktionale Praktische Theologie. Statt dessen ist das Wahrnehmen, das umfassende und differenzierte Wahrnehmen der gegenwärtig gelebten Religionspraxis in den Vordergrund getreten. Freilich: Wie genau sich dieses Wahrnehmen zu vollziehen habe und im Rahmen welcher Theorietypen es am besten zu fassen sei, darüber beginnt nun erst wieder ein neuer Diskurs. Das Angebot an humanwissenschaftlichen Theorien wächst ständig und wird immer rasanter. Umso wichtiger ist es, Theorietypen zu identifizieren und gemeinsame Aufgaben zu benennen, die diese Theorien zu lösen haben [ . . . ] Die grundlegenden Aufgaben, die Theorieansätze f ü r einen Gesamtentwurf Praktischer Theologie [ . . . ] zu erfüllen haben, sind [ . . . ] Phänomenologie, Hermeneutik, Konstruktion [ . . . ] Diese Aufgaben werden von solchen Theorien nicht mehr zufriedenstellend gelöst, die ein Beschreiben von Phänomenen an sich ohne Akte des Verstehens oder ein Verstehen ohne intersubjektiv nachvollziehbare Akte des Beschreibens f ü r ausreichend halten. Sie werden auch nicht mehr von solchen Theorien zufrieden stellend gelöst, die alles entweder auf autarke Subjekte oder auf Individualitäten negieren-/de Strukturen meinen zurückführen zu können" (30f).
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ist, voraus. Die aufgrund einer Befragung spontan sich äußernden Menschen indessen haben in der Regel über den Gegenstand nachgedacht und Erfahrungen mit ihm gemacht und diese reflektiert. Das wird Differenzierungen hinsichtlich der Befragungen erfordern. Bei der Befragung von Menschen bin ich in erster Linie Hörer, wenngleich das, was ich zu hören bekommen werde, durch meine Fragen ausgelöst und mitbestimmt ist und sodann zu Texten werden wird. Ich werde mit Menschen in verschiedenen Systemen reden.7 Bei der Befragung von Texten bin ich in erster Linie Täter, indem ich lese, wenngleich das, was ich lese, fremder Herkunft ist. Im Akt der Wahrnehmung bin ich - bei der Befragung von Menschen und bei der Befragung von Texten auf je unterschiedliche Weise - Rezipient und Produzent zugleich, gelegentlich vermutlich auch, wenngleich wider Willen, Reduzent.8 Die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche wahrnehmend nehme ich Abstand von der Absicht, den Terminus zu deduzieren. Mehr als dessen Herkunft interessieren mich sein Gebrauch, seine Vermittlung, seine Aneignung. Hier wird Praktische Theologie als Wahrnehmungswissenschaft von Wahrgenommenem wahrgenommen.9 Weil ich prozeß- und nicht personenorientiert vorgehe, ist
7 Die Begründungen der Auswahl und der Methoden erfolgen jeweils an Ort und Stelle. 8 Vgl. Failing, Wolf-Eckart/Heimbrock, Hans-Günter: Ausblick. Von der Handlungstheorie zur Wahmehmungstheorie und zurück, in: Dies.: Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt-Alltagskultur-Religionspraxis, Stuttgart 1998, 275-294: „Mit der Wahrnehmung setzt Verstehen, Normieren und Handeln ein; sie ist keineswegs Vorbedingung von etwas anderem, was von ihr sauber zu trennen wäre, etwa nach dem häufig erwähnten Dreischritt: Sehen - Urteilen - Handeln. Vielmehr konstituiert sich in der Wahrnehmung das Subjekt jeweils überhaupt erst. Theologische wie phänomenologische Argumente sprechen dafür, diesen Prozeß nicht als ,Aneignung', sondern eher als Sich-Aussetzen zu begreifen und zu methodisieren. Wahrnehmung wäre dann auch emphatisches Weggehen vom ängstlichen Subjekt, um mit mutigem ,schrägen Blick' vom Anderen her nicht nur sich selbst wahrzunehmen, sondern mehr und andere Wirklichkeit zu Gesicht zu bekommen [ . . . Es] kann dann gar nicht überraschen, daß Ästhetik und Ethik hier in eine neue Gemengelage kommen, die sich bisherigen Entgegensetzungen entzieht, denn Wahrnehmen ist auch als Gestalten zu begreifen. Denn die von uns gemeinte Art der Wahrnehmung zielt weniger auf ,Durchblick' oder gar ,Ubersicht', schon gar nicht primär auf Feststellungen. Sie ruft nicht/nach einer Sehschule, die man hinter sich lässt, sondern nach fortlaufenden Prozessen. Sie suggeriert nicht, daß danach eindeutiges Urteilen, Handeln und Verhalten möglich sei. Wahrnehmen ist nicht einfach An-Sehen und Zu-Hören. Sie impliziert Wirklichkeit und Fiktion, etwas Meditativ-Imaginäres, ohne diese gegen Rationalität und Diskurs zu stellen. Zwischen empiristisch-objektivistischem Behaupten und resignierter Beliebigkeit beharrt der Wahrnehmende auf der Möglichkeit, etwas als ,für wahr' zu nehmen und den Raum des Dialogs wie rationaler Geltungsdiskurse nicht zu verschließen. Wahrnehmen ist so gesehen - wie eine gute Frage - nicht das Schaffen von Aufnahmebereitschaft f ü r eine Antwort, sondern selbst anfängliches Antworten" (282f). 9 Vgl. Grethlein, Christian/Meyer-Blanck, Michael: Geschichte der Praktischen Theologie im Überblick: „Die gegenwärtigen Bemühungen der Disziplin müssen die Alternative von Sache und Person überwinden und vielmehr die Sache im Prozeß der Vermittlung und Aneignung durch Personen studieren lehren. Der Mitteilungs-, Darstellungs- und Gestal-
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die Bestimmung meiner Informanten im Sinne von typischen Personen und typischen Texten nicht gefordert. Ich will nicht wissen, ob über die Diakonie zum Beispiel in Bayern anders geredet wird als in Nordelbien. Kriterium der Auswahl ist allein die Erwartung, dass die Personen und die Texte etwas zur Diakonie werden sagen können. Deren Wahrnehmungen werden referierend in einen Diskurs eingebracht, den ich als Subjekt weiterer Wahrnehmung organisiere. Ich werde den Prozess der Wahrnehmung öffnen, nicht abschließen. Darum befrage ich zunächst Texte, sodann Menschen. Texte sind in sich abgeschlossen und werden sich während der Lektüre öffnen. Die Ergebnisse ihrer Befragung werde ich als Impulse in offen zu gestaltende Interviews einbringen, welche durch die Verschriftlichung ebenfalls zu Texten werden. Ziel meiner Studie ist nicht der abschließende Nachweis, ob die Diakonie eine Wesens- und Lebensäußerung der Kirche ist oder nicht, sondern der eröffnende Versuch, solche Rede von der Diakonie bezüglich ihrer Anschlussfähigkeit zu prüfen und gegebenenfalls die Anschlussfähigkeit herzustellen.
2.2 Wahrnehmung der D i a k o n i e in Texten Nachdem die Diakonie auf dem Markt ist, macht sie dort auch durch Texte auf sich aufmerksam, ζ. B. mit kleinen Autos der Sozialstationen, auf denen neben dem Kronenkreuz eingängige Slogans abgebildet sind; mit ihnen signalisiert die Diakonie ihre Teilnahme am Wettbewerb auf dem Sozialmarkt und wirbt sie um Kundinnen und Kunden. Von solchen Texten wird hier nicht die Rede sein. Die Auswahl der hier zu untersuchenden Texte ist begrenzt; sie wird im Folgenden begründet. Meine Entscheidung, neben der Wahrnehmung der Diakonie als Wesens· und Lebensäußerung der Kirche in Gesprächen auch deren Wahrnehmung in Texten zu studieren, folgt der Einsicht, dass Texte, entsprechend ausgewählt, von sich aus Aussagen zum Gegenstand der Untersuchung machen und dass sie von vornherein intentional orientiert sind, während Menschen im direkten Gespräch, ob dieses angekündigt oder überraschend erbeten wird, dazu einer Motivation bedürfen. Meine Entscheidung, die Wahrnehmung der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche zuerst in Texten zu studieren, folgt der Einsicht, dass in sich zunächst abgeschlossene Texte Gespräche eröffnen können, indem sie Teile ihres Materials zur Verfügung stellen, während sie, an das tungsprozeß des Evangeliums und dessen unterschiedliche Formen rücken nun in den Mittelpunkt des Interesses, und Bezugswissenschaften dieses neuen Weges Praktischer Theologie sind Ästhetik, Semiotik und Phänomenologie. Die Wahrheit des Evangeliums als die wahrgenommene, der Prozeß Wahrnehmung und die Form des Wahrzunehmenden werden thematisiert" (61).
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Studium von Interviews anschließend befragt, lediglich Stellungnahmen zu diesen anzubieten vermöchten. Vor den Gesprächen studiert, wirken sie sich durch mich, den sie Studierenden und anschließend die Gespräche Führenden, leitend auf die Erkenntnisbildung aus. Texte haben Kontexte in mehreren Dimensionen. Als Student in der Disziplin der Praktischen Theologie untersuche ich die Texte nicht bezüglich ihrer Herkunft und ihrer Wirkung seit ihrer Entstehung bis zum heutigen Tage, sondern hinsichtlich ihrer Wahrnehmung der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche am heutigen Tage. Indem ich Praktische Theologie treibe, gehe ich davon aus, dass die Texte, gelegentlich unter Berufung auf ältere Texte, dogmatische und ethische Implikationen zeigen werden, deren Konsistenz auch wahrzunehmen sein wird. Bei der Auswahl der Texte lasse ich mich davon leiten, dass diese ihren Sitz im Leben der Kirche und der Diakonie haben und deutlich erkennbar in deren Praxis vorkommen. Welche Texte kommen in Frage? Ich untersuche Predigten, Leitbilder und eine Denkschrift. Bei der Entscheidung für die Befragung dieser Textgruppen vernachlässige ich quantitative Gesichtspunkte. Ich will nicht wissen, welche der Textgruppen der Diakonie die größte Aufmerksamkeit schenken und am meisten zur Information über sie beitragen. Ich untersuche Predigten, weil in ihnen als vornehmen Phänomenen kirchlicher Praxis Aussagen über das Wesen und Leben der Kirche und dann auch über die Diakonie, wenn diese eine Wesens- und Lebensäußerung der Kirche ist, zu erwarten sind. Ich untersuche Leitbilder zur Diakonie sowie die Diakonie-Denkschrift der EKD, weil sie als Selbstbekundungen der Diakonie, wenn diese eine Wesens- und Lebensäußerung der Kirche ist, Aussagen über die Kirche machen werden. Dabei befrage ich nicht Texte der Diakonie nach der Kirche, nicht Texte der Kirche nach der Diakonie. Ich befrage Texte nach der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche. Die Texte sind nach ihren Eigenarten zu unterscheiden. Mit den Texten von Predigten, Leitbildern und einer Denkschrift wende ich mich sehr verschiedenen literarischen Gattungen zu. Predigten haben eine promissorische, Leitbilder eine emanzipatorische, Denkschriften eine deklaratorische Funktion. Die Auswahl der Texte begründe ich nicht mit den unterschiedlichen, ihren Gattungen entsprechenden Funktionen, sondern mit der Vermutung ihrer gemeinsamen Inhalte. Bei der Lektüre der Predigten gehe ich nicht davon aus, dass sie explizit Ausführungen zur Diakonie oder gar zu ihr als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche machen müssen. Gleichwohl dürfen hinsichtlich meines Forschungsgegenstandes Predigten auf keinen Fall überhört werden, weil das Hören auf sie konstitutiv für das Sein der Kirche ist.10 Wenn die 10 „Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur" (Die Augsburgische Konfession 1530, VII. Von der Kirche, in: Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession
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Diakonie eine Wesens- und Lebensäußerung der Kirche ist und damit deren Wesen bestimmt, hat die Predigt als konstitutives Element der Kirche einen Anspruch darauf, zur Sache gehört zu werden. Bei der Lektüre von Leitbildern gehe ich davon aus, dass diese als Äußerungen von Praktikerinnen und Praktikern der Diakonie im Vollzug ihrer Entstehung der Stärkung der corporate identity und mit ihrer Veröffentlichung der Imagepflege dienen und damit nach innen wie nach außen klären wollen, was die Diakonie ist. Bei der Lektüre der Denkschrift gehe ich davon aus, dass ein Leitungsorgan der Kirche und der Öffentlichkeit ebenfalls zu denken geben will, was die Diakonie ist. Deshalb ist die Lektüre von Predigten, Leitbildern und einer Denkschrift für die Wahrnehmung der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche notwendig. Die Entscheidung über die Methode der Befragung der Texte wird im Zusammenhang mit ihrer Wahrnehmung getroffen.
2.2.1 Die Wahrnehmung der Diakonie in Predigten „Daß Menschen in christlicher Religionspraxis sich hörend, denkend, redend, handelnd und nicht zuletzt schweigend neben anderem immer auch auf biblische Glaubensüberlieferungen beziehen, ist über alle Differenzen theologischer Schulrichtungen hinweg für christliche Kirchen ebenso unstrittig wie konstitutiv." 11 Dass evangelische Religionspraxis biblische Glaubensüberlieferung vordringlich aus der gehörten Predigt bezieht, ist für das Selbstverständnis der Kirche konstitutiv. Darum gilt meine Aufmerksamkeit jetzt der Predigt. Im Folgenden befrage ich gehaltene und zu haltende gedruckt vorliegende Predigten danach, ob und wenn, wie in ihnen die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche zur Sprache kommt. Die Befragung von Predigten geschieht aus zwei Gründen. Mit der Diakonie hat es die Predigt als Teil des Gottesdienstes gemein, Wesens- und Lebensäußerung der Kirche zu sein. Deshalb und weil sie als regelmäßig stattfindende öffentliche Rede der Kirche eine weit reichende, ihr Selbstverständnis bekundende Informationsquelle ist, ist es die Predigt als Phänomen religiöser Praxis, die ich hier befrage. Indem ich die Predigt nach der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche befrage, folge ich einem theologischen und einem kommunikationstheoretischen Interesse. Die konstruktive, weil religiöse Theorie bildende Funktion der Predigt aufnehmend, wird im Folgenden der Versuch rekonstruktiven 1930, Berlin 5 1960 [BSLK], 31-137, 61). „Solchen Glauben zu erlangen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt" (V. Vom Predigtamt: 58). 11 Heimbrock, Hans-Günter: Feier des Unscheinbaren. Überlegungen zu Gottesdienst und Predigt, in: Failing, Wolf-Eckart/Heimbrock, Hans-Günter: Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt - Alltagskultur - Religionspraxis, Stuttgart 1998, 177-199, 177.
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Verstehens von religiöser Praxis hinsichtlich der Diakonie als Praxis der Kirche unternommen. 12 Die Auswahl der zu untersuchenden Predigten wird später begründet.
2.2.1 Λ Zum Befragen von Predigten Die zu befragenden Predigten liegen mir vor als Reden, die zu schriftlichen Texten geworden sind. Die Predigerinnen und Prediger werden die Kanzel mit einer wie auch immer zu beschreibenden Intention betreten und sie verlassen haben in der Hoffnung, ihrer Intention entsprochen zu haben, nicht hingegen mit der Absicht, die Diakonie als Wesensund Lebensäußerung der Kirche zur Geltung gebracht zu haben. Nach den Intentionen der Predigenden und nach deren Durchsetzung im Verlaufe der Gottesdienste frage ich nicht; diese müssen nicht einmal den Texten, die den Predigten zugrunde liegen, entsprechen. 13 Jener hermeneutischen Funktion, „die die Texte des Neuen und deshalb auch des Alten Testaments zur Predigt werden läßt" 14 , widme ich hier keine Aufmerksamkeit. Ich verfolge nicht den Weg vom Text zur Predigt, beziehe mich auch nicht auf die den Predigten zugrunde liegenden Bibeltexte. Mögliches kommunikatives Geschehen in der die Predigt hörenden Gemeinde, welches die Predigt auslöst oder/und auf sie einwirkt, lasse ich außer Acht. Dass jede Hörerin und jeder Hörer die Predigt anders verstanden haben kann als der Prediger bzw. die Predigerin sie gemeint hat, ist für die Untersuchung unbedeutend.15 Insofern kommt bei der folgenden Befragung die Inhaltsanalyse als empirische Methode nicht in 12 Vgl. Hauschildt/Laube/Roth: Einleitung der Herausgeber: „Damit ist es eine spezifische Art des Verstehens, des Verstehens von Praxis (Rekonstruktion) und des Verstehens von Theorie (Konstruktion), um die es in einer phänomenologisch orientierten Praktischen Theologie geht" (14). 13 Vgl. Roth, Ursula: Predigten hören. Wissenssoziologische und textwissenschafdiche Überlegungen zum Verhältnis von Predigt, Hörer-/innen und Gesellschaft, in: Hauschildt, Eberhard/Laube, Martin/Roth, Ursula (Hg.): Praktische Theologie als Topographie des Christentums, 2 7 0 - 2 8 9 : „Die einer Predigt zugrunde liegende Textintention stimmt [ . . . ] keineswegs notwendig mit der Intention des Predigers überein. Jeder/Text kann Bedeutungsnuancen enthalten, die nicht in der ursprünglichen Absicht des Autors liegen, jede Predigt kann - jenseits der ,intentio auctoris' und der ,intentio lectoris' - eine eigene ,intentio operis' entfalten" (285f). 14 Jüngel, Eberhard: Was hat die Predigt mit dem Text zu tun?, in: Ders.: Predigten, München 1968, 126-143, 140. 15 Zu den verschiedenen Hörerwahrnehmungen vgl. Denecke, Axel: Kleine homiletische Werkstatt II, in: Domay, Erhard (Hg.): Lesepredigten, I. Perikopenreihe, 1. Sonntag im Advent bis Ewigkeitssonntag. In Zusammenarbeit mit Beate Stierle herausgegeben von Erhard Domay, Gütersloh 2002, 5 - 1 4 : „Ich bin nicht bis zum Letzten verantwortlich für das, was ich beim Hörer auslöse, obwohl ich durchaus für alles verantwortlich bin, was ich sage" (11). Ich aber bin hier verantwortlich für das, was ich höre bzw. lese. Von dieser Verantwortung ist im Folgenden Rechenschaft abgelegt.
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Frage. 16 Im Sinne einer kritischen Interpretation der Texte, welche ich als Informanten auffasse, geht es „um einen interpretativen Nachvollzug subjektiv gemeinten Sinns bzw. die Rekonstruktion kollektiver Sinngehalte und latenter Sinnstrukturen. Ihr Ziel besteht [ . . . ] nicht [ . . . ] in der lebensweltlich-ethnographischen Beschreibung sozialer Milieus" 17 , sondern in der Beobachtung der Wahrnehmung der Diakonie als Wesensund Lebensäußerung der Kirche. Ich befrage die Texte nach dem Vorkommen dieses Terminus und nach seiner möglicher Deutung. Es gilt, in den Texten wahrzunehmen, wie durch sie als Predigten der Gegenstand der Untersuchung wahrgenommen wird. Das können und müssen die Prediger und Predigerinnen als Autoren der Texte nicht wissen. Partner des hier anstehenden Kommunikationsprozesses sind nicht die Predigenden und die Hörenden; Partner sind die Texte und ich, der Ort der Kommunikation ist mein Schreibtisch. Als Leser vieler Predigten werde ich zu einem fiktiven Predigthörer, der viele an verschiedenen Orten über einen langen Zeitraum gehaltene oder zu haltende Predigten auf einen Ort und eine Zeit fokussiert und sie behandelt wie eine einzige Predigt, von der er etwas über die Diakonie erfahren will. Während für die in den Texten enthaltenen gehaltenen bzw. zu haltenden Predigten gilt, dass sie als offene Kunstwerke über das sie beendende Amen hinaus wirken, 18 werden sie hier als Texte in ihrer Unendlichkeit beschnitten. Die Aussagen aller befragten Predigten zum Gegenstand der Untersuchung werden auf eine solche Weise miteinander in Beziehung gesetzt, dass sie einander interpretieren; 19 damit
16 „Inhaltsanalysen sind nur dann wissenschaftlich korrekt durchgeführt, wenn das Ergebnis unabhängig vom Forscher ist und heute wie übermorgen das Ergebnis nachvollzogen werden kann" (Brosius, Hans Bernd/Koschel, Friederike: Methoden der empirischen Kommunikationsforschung, Wiesbaden 2 2003, 167). Das ist bei meiner Befragung nicht der Fall. Nach Brosius/Koschel dient die Inhaltsanalyse der Erfassung sozialer Realität: „Die Analyse von Botschaften kann verwendet werden, um auf den Kontext der Berichterstattung, die Motive und Einstellungen der Kommunikatoren oder auf die mögliche Wirkung bei Rezipienten der Botschaften zu schließen" (168); das wird hier nur begrenzt geschehen. 17 Zur Methode vgl. Kretzschmar: Distanzierte Kirchlichkeit, 42. 18 Vgl. Luther, Henning: Predigt als Handlung. Überlegungen zur Pragmatik des Predigens, in: Z T h K 80 (1983), 2 2 3 - 2 4 3 : „Das Kunstwerk realisiert sich in dem, was es auslöst. Ahnlich scheint es mir bei einer Predigt zu sein, die gerade nicht als geschlossenes Kunstwerk verstanden werden kann. Nicht im Amen des Predigers gelangt die Predigt an ihr Ziel, sondern in den Predigten, die [ . . . ] jeder Hörer sich aufgrund der Rede des Predigers selber hält und was dieser daraus folgen läßt" (231). Und Barth, Hans-Martin: Deus praedicatus - praedicandus - praedicans, in: PTh 93 (2004), 167-180: „Die Predigt muss zu ihrer Vorläufigkeit stehen; sie bringt nicht das Ganze; das Ganze steht vielmehr noch aus. Gott ist nicht einfach da; er ist je und je im Kommen. Die Predigt muss die Verbindung der Vergangen-/heit zur Zukunft wieder finden; es geht in ihr weniger um Vergangenes als um die , Zukunft des Gekommenen' (Walter Kreck). Sie darf den Hunger nach Erfüllung gerade nicht stillen, sie muss ihn wecken und schüren!" (178f). 19 Vgl. Vedder, Ben: Was ist Hermeneutik? Ein Weg von der Textdeutung zur Interpretation der Wirklichkeit, Stuttgart 2000: „Der Forscher, der die Texte unter ,wirkungs-
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vollziehe ich einen rekonstruktiven Akt, den ich sogleich mit der Erarbeitung eines neuen Textes in einen konstruktiven Akt überführe. In der Untersuchung der Predigten als Texte, welche als eigenständige Texte in Fußnoten zitiert werden, werden die Texte zu einem neuen Text. Von einzelnen Predigten ausgehend, werde ich zu Aussagen über die Predigt als Phänomen religiöser Praxis gelangen und bezeichne deshalb den Gegenstand der Untersuchung in den folgenden drei Abschnitten nicht im Plural, sondern im Singular als „Die Predigt des Kirchenjahres", „Die Predigt aus der Diakonie" und „Die Festpredigt zur Diakonie"; damit vollziehe ich einen konstruktiven Akt. Die Untersuchung der Texte geschieht unter der im Folgenden notierten hermeneutischen Vorgabe.20 Um die Predigt als das, was sie zu sein beansprucht, - und nicht etwa als „Zentralorgan" der Kirche - befragen zu können, bedarf es unverzichtbarer subsidiärer Reflexion dogmatischen Denkens, 21 welches der Praktischen Theologie hier als wahrnehmender
geschichtlichem' Aspekt vergleicht, fragt nicht einfach so nach zufälligen Übereinstimmungen und Unterschieden. Er fragt erstens danach, welche Elemente von Text A in Text В wirken und eventuell auch in Text С oder Text D etc. Ein solches Element kann ein einzelnes Wort sein, aber auch ein kleineres oder größeres Textganzes. Indem ein Textelement in einen anderen Text aufgenommen wird, zeigt es etwas von seinen möglichen Bedeutungen. Die Texte, die Elemente von Text Α aufnehmen und aus ihm entstehen, lassen etwas von dem erkennen, was inhaltlich in Text Α behauptet wird. Zweitens läßt А etwas von dem erkennen, was inhaldich in Texten, die daraus folgen, behauptet wird. So betrachtet beschäftigt sich die Erforschung der Wirkung mit den Relationen zwischen Texten und ist in diesem Sinn intertextuelle Forschung. Voraussetzung hierbei ist, dass Texte durch die inhaltlichen Behauptungen anderer Texte hervorgebracht werden und daß das, was als inhaltliche Behauptung gewirkt hat, in den einzelnen Texten nachvollziehbar ist" (175). 20 Ich stimme Ursula Roth mit Wilhelm Grab auch im Blick auf meine Arbeit darin zu, dass Verstehen „kontextabhängig", „grundsätzlich biographisch geprägt" ist und einer „individuellen Lebensphilosophie", einer „privaten Dogmatik" (Vgl. Roth, Ursula: Predigten hören, 278) aufliegt. Dieses Eingeständnis ist Voraussetzung verantworteter Theologie. 21 Vgl. Barth, Karl: KD 1/1, § 1. Die Aufgabe der Dogmatik, München 1935, 1-23: „Das Kriterium der christlichen Rede von der Vergangenheit und von der Zukunft her und mitten in der Gegenwart ist also das Sein in der Kirche, d. h. aber Jesus Chri-/stus: Gott in seiner gnädigen offenbarenden und versöhnenden Zuwendung zum Menschen. Kommt die christliche Rede von ihm her? Führt sie zu ihm hin? Ist sie ihm gemäß? Keine dieser Fragen ist ohne die andere, aber jede ist mit ganzem Gewicht selbständig zu stellen. So ist Theologie als biblische Theologie die Frage nach der Begründung, als praktische Theologie die Frage nach dem Ziel, als dogmatische Theologie die Frage nach dem Inhalt der der Kirche eigentümlichen Rede" (2f). Barths Hinweis, der Praktischen Theologie obliege als Frage nach dem Ziel der der Kirche eigentümlichen Rede die Prüfung, ob diese Jesus Christus gemäß sei - (Vgl. Preul, Reiner: Kirchentheoretische Fundierung der Praktischen Theologie, in: Lämmlin, Georg/Scholpp, Stefan [Hg.]: Praktische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Tübingen/Basel 2001, 111-129: Die Praktische Theologie „ist dafür da, das kirchliche Handeln in Gottesdienst, Predigt, Unterricht, Seelsorge, Erwachsenenbildung, Jugendarbeit und Öffentlichkeitsarbeit bezüglich seiner Sachgemäßheit und Glaubwürdigkeit zu überprüfen und zu optimieren" [118]) - , gibt zwar keine umfassende Auskunft über die Aufgabe dieser Disziplin; er macht gleichwohl geltend, dass die Diszi-
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Wissenschaft hilft, sich jenes Wissen zu verschaffen, das empirische Wahrnehmung ihr vorenthält, ja naturgemäß vorenthalten muss, 22 auch wenn, ja gerade weil es um gehaltene bzw. zu haltende, gedruckt vorliegende les- und hörbare Predigten und nicht um die Predigt als Begriff geht. Als Äußerung der Kirche zur Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche kommt hier vorrangig die Predigt bzw. kommen vorrangig Predigten in Frage, weil sie als das Zeugnis des Wortes Gottes und die Kirche als die Zeugin des Wortes Gottes wesentlich und pragmatisch aufeinander bezogen sind.23 Indem ich diesen Bezug beachte, kommt die Studie, konstruktive Praxis rekonstruktiv aufnehmend, hier einer Form fundamentaltheologischer Funktion nach. 24
plinen mit dem ganzen Gewicht ihrer Selbständigkeit aufeinander angewiesen sind, weshalb die Predigt als Rede der Kirche auch hier dogmatischer Reflexion bedarf. - Vgl. dazu: Ebeling,: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 3. Dritter Teil: „Die Lehre von der Kirche befindet sich in ihrem Verhältnis zum Leben der Kirche in einer doppelten Gefahr, die allerdings nur die Kehrseite einer doppelten Notwendigkeit ist. Die erfahrene und geglaubte Wirklichkeit von Kirche ist die conditio sine qua non ernst zu nehmender Lehre von der Kirche [ . . . ] Bezeichnenderweise hat das ekklesiologische Thema erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts in beiden Konfessionen ein auffallend starkes Gewicht erhalten, im Protestantismus vornehmlich Hand in Hand mit kirchlichen Verfassungsproblemen, Unionsbestrebungen und Aktivitäten wie innerer und äußerer Mission und ökumenischer Bewegung bis hin sogar zur methodologischen Begründung der Wissenschafdichkeit der Theologie von ihrer Kirchlichkeit her, wofür Schleiermacher bahnbrechend war. Das alles erklärt sich aus dem Verlust selbstverständlicher Geltung der Kirche in der Moderne und hat/von daher auch sein gutes Recht [ . . . ] Eine allzu eifrige Hinwendung des Interesses zu ekklesiologischen Prinzipienfragen oder Gestaltungsproblemen steht im Verdacht der Kopflastigkeit Die Frage, was die Kirche ist und tut, überwuchert dann die Frage nach ihrem Kriterium: was die Kirche zur Kirche macht - und das ist ja offensichtlich nicht die Kirche selbst" (333f). 22 „Die praktische Theologie will nicht die Aufgaben richtig fassen lehren; sondern, indem sie dieses voraussetzt, hat sie es nur zu thun mit der richtigen Verfahrensweise bei der Erledigung aller unter den Begriff der Kirchenleitung zu bringenden Aufgaben. Für die richtige Fassung der Aufgaben ist durch die Theorie nichts weiter zu leisten, wenn philosophische und historische Theologie klar und in richtigem M a a ß angeeignet sind" (Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums, 418). „Es liegt nahe, an dieser Stelle auf die Systematische Theologie als die gemeinsame Basis beider Disziplinen zurückzugehen. In der T a t ist ein solcher Rückgriff unvermeidlich. Allerdings kann er nicht als Rückzug auf eine gesicherte Bastion begriffen werden, sondern nur in der Weise erfolgen, daß theologische Reflexion geschieht und in ihrer Unersetzlichkeit erkannt wird. Die Systematische Theologie hat dabei teil an der allgemeinen Aporie der Theologie, ja diese Aporie prägt sich in ihr am fundamentalsten aus" (Honecker, Martin: Aufgabe und Funktion der Praktischen Theologie - aus der Sicht der Systematischen Theologie und Sozialethik, in: T h P r I X [1974], 2 7 - 3 5 , 30). 23 „Die dogmatische Frage nach dem Wesen der Kirche [ist] zu unterscheiden [ . . . ] von der kirchenkundlichen Frage nach ihrem Erscheinungsbild in Geschichte und Gegenwart [ . . . ] Der Begriff ,Wesen' meint dasjenige, was die Kirche zur Kirche macht, ihre Eigenart als Kirche ausmacht und von anderen Realitäten unterscheidet" (Härle, Wilfried: Art. Kirche VII. Dogmatisch, in: T R E , Bd. 18, Berlin/New York 1989, 2 7 7 - 3 1 7 , 281). 24 Vgl. Grethlein/Meyer-Blanck: Geschichte der Praktischen Theologie: „Die sachliche
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Indem Martin Luther die Kirche bestimmt als creatura verbi divini,25 ist festgestellt, dass ihr als ecclesia audiens das Wort Gottes, welches als medium salutis sie zur congregatio sanctorum et vere credentium26 werden lässt, vorgegeben ist. Indem weiterhin Heinrich Bullinger geltend macht: „Praedicatio verbi dei est verbum dei"27, ist auch im Zusammenhang der Frage nach der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche für die ecclesia praedicans und die ecclesia audiens wie für die ecclesia doceni28 in gleicher Weise die Bestimmung des Wortes Gottes ζ. B. durch die erste These der Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen heranzuziehen: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben."29 Nähe von Systematischer und Praktischer Theologie ist anhand einer aktuell verantworteten Vermittlung von biblischer Botschaft und gegenwärtiger Religion als eine Form von Fundamentaltheologie zu beschreiben, die nicht weiter Subjekt und Tradition bzw. anthropologische und offenbarungstheologische Beschreibungen von Religion gegenseitig profiliert. Gegenseitige Abgrenzungsbemühungen schaden wohl der Systematischen Theologie [mit der Gefahr mangelnden Zeitbewusstseins] und der P T [mit der Gefahr der Auflösung in eine allgemeine Kulturtheorie] glei-/chermaßen" (60f). 25 Luther, Martin: Resolutiones Lutherianae super propositionibus suis Lipsiae disputatis (1519), in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 2, Weimar 1884, 388-435: „Ecclesia enim creatura est Euangelii, incomparabiliter minor ipso, sicut ait Iacobus: voluntarie genuit nos verbo veritatis suae, et Paulus: per Euangelium ego vos genui" (430). Ders.: De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (1520), in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 6, Weimar 1888, 484-537: „Eecclesia enim nascitur verbo promissionis per fidem, eodemque alitur et servatur, hoc est, ipsa per promissiones dei constituitur, non promissio dei per ipsam" (560). 26 CA VIII, in: BSLK, 62. 27 „Die Predigt des Wortes Gottes ist Wort Gottes. Wenn aber heute dieses Wort Gottes durch rechtmäßig berufene Prediger in der Kirche verkündigt wird, so glauben wir, dass Gottes Wort selbst verkündigt und von den Gläubigen aufgenommen wird und dass man kein anderes Wort Gottes erfinden oder vom Himmel erwarten kann" (Bullinger, Heinrich: Confessio Helvetica posterior [1562/1566], in: Jacobs, Paul [Hg.]: Reformierte Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen in deutscher Ubersetzung, Neukirchen-Vluyn 1949, 175-248, 178). 28 Zur Lehrkompetenz aller Christinnen und Christen vgl. Luther, Martin: D a ß eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht oder Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift (1523), in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 11, Weimar 1900, 408-416: „Denn das kann niemant leucken, das eyn iglicher Christen gottis wort hatt und von gott gelert und gesalbet ist zum priester [ . . . ] Dyße mitgenossen/sind die Christen, Christus bruder, die mit yhm zu priester geweyhet sind [ . . . ] Ists aber also, das sie gottis wort haben und von yhm gesalbet sind, so sind sie auch schuldig, das selb zu bekennen, leren und ausbreytten" (408f). 29 Die Theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Bannen vom 29. bis 31. Mai 1934, in: Evangelisches Gesangbuch für die Evangelische Kirche im Rheinland, die Evangelische Kirche von Westfalen, die Lippische Landeskirche in Gemeinschaft mit der Evangelisch-reformierten Kirche, Gütersloh/Bielefeld/Neukirchen-Vluyn 1996 (eg), 1377-1380, 1378.
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Jesus Christus als das eine Wort Gottes30 hörend, ihm vertrauend und gehorchend und zugleich es bezeugend, ist die Kirche bzw. die Gemeinde zu denken zugleich ζ. B. als Christi Leib, symbiotisch mit ihm zusammen (1 Kor 12,12-27) oder ihm als dem Haupt des Leibes verbunden (Kol 1,18), ebenso als seine Herde, von ihm geleitet und seiner Fürsorge gewiss (Joh 10,11-18), als ein Tempel, auf ihm errichtet (Eph 2,19-21), oder als zu einem geistlichen Haus mit Christus verbaute lebendige Steine (1 Petr 2,4-8). Diese ekklesiologischen Metaphern, welche allesamt eine kommunikative, mithin wortgemäße Note enthalten,31 sind nicht miteinander harmonisierbar, weil sie jede auf ihre Weise sowohl die Einheit als auch die Verschiedenheit Jesu Christi mit bzw. und der Kirche bekunden, und
30 Nach Karl Barth begegnet das eine Wort Gottes in der dreifachen Gestalt des verkündigten, des geschriebenen und des geoffenbarten Wortes Gottes, wobei alle Gestalten wiederum aufeinander bezogen und ihre Einheit in der Dreiheit begründet sind und in der Verkündigung zur Kenntnis gelangen: „Offenbartes Wort Gottes kennen wir nur aus der von der Verkündigung der Kirche aufgenommenen Schrift oder aus der auf die Schrift begründeten Verkündigung der Kirche. Geschriebenes W o r t Gottes kennen wir nur durch die die Verkündigung erfüllende Offenbarung oder durch die von der Offenbarung erfüllte Verkündigung. Verkündigtes Wort Gottes kennen wir nur, indem wir die durch die Schrift bezeugte Offenbarung oder indem wir die die Offenbarung bezeugende Schrift kennen. Es gibt nur eine Analogie zu dieser Lehre vom Worte Gottes. Genauer gesagt: Die Lehre vom Worte Gottes in seiner dreifachen Gestalt ist selber die einzige Analogie zu der Lehre, die uns bei der Entwicklung des Begriffs der Offenbarung grundlegend beschäftigen wird:/zur Lehre von der Dreieinigkeit Gottes" (Barth, Karl: K D I / 1 , § 4. Das Wort Gottes in seiner dreifachen Gestalt, 89-128, 124f). Zu den Gestalten des Wortes Gottes als verbum praedicatum, verbum scriptum, verbum incarnatum und verbum aeternum vgl. Ebeling, Gerhard: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 1: Prolegomena. Erster Teil. Der Glaube an Gott den Schöpfer der Welt, Tübingen 3 1987, 258f: „Mit dieser Übersicht über die vier Gestalten des Wortes Gottes sind wir durch das Credo vom dritten Artikel über den zweiten zum ersten zurückgegangen und auf den Kern des trinitarischen Gottesgedankens hingeführt worden. So hat sich bestätigt, daß der Begriff des Wortes Gottes einen Leitfaden der ganzen Dogmatik darstellt" (259). 31 Die oben zitierte Formel Bullingers auslegend merkt Isolde Karle (,Praedicatio verbi dei est verbum dei'. Bullingers Formel neu gelesen, in: EvTh 64 [2004], 140-147) an: „An der reformatorischen Lehre vom Wort Gottes ist bemerkenswert, dass Gottes Präsenz und Offenbarung weder an gegenständlichen heiligen Dingen, noch an einzelnen Personen wie einem Priester, der als Stellvertreter Christi agiert, noch an besonderen subjektiven inneren Erlebnissen und Empfindungen abgelesen wird, sondern einem zutiefst sozialen Sachverhalt zugeschrieben wird - dem der Kommunikation [ . . . ] Christus vergegenwärtigt sich demgemäss nicht im einzelnen Bewusstsein und in den Tiefen der Subjektivität, sondern vielmehr in der konkreten und authentischen Zusammenkunft der in seinem Namen Versammelten [ . . . ] Die Kommunikation stellt aus dieser Perspektive einen Prozess dar, der nicht auf einzelne Subjekte rückführbar ist, der auch nicht als Summe der Mitteilungsabsichten der Anwesenden begriffen werden kann, sondern eine emergente Ebene jenseits der Gedanken und Gefühle in den einzelnen Bewusstseinen darstellt. Niklas Luhmann hat diesen Sachverhalt mit dem provokanten Satz auf den Punkt gebracht, dass die Kommunikation kommuniziert, nicht die an sie gekoppelten individuellen Bewusstseine. Nicht nur die Predigenden, auch die Hörenden werden damit zum Medium des Wortes Gottes" (143).
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sind in ihren jeweiligen Aussagegehalten unter Berücksichtigung ihrer Kontexte wahrzunehmen und beizubehalten.32 Die Einheit der predigenden, der hörenden, der glaubenden, der gehorchenden Kirche ist nach Barmen 3 in Jesus Christus als dem gegenwärtig in Wort und Sakrament Handelnden so begründet: „Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, daß sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte."33 Bei der Durchsicht der Predigten nach der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche gilt es, auf Aussagen zu achten darüber, wodurch die Kirche zur Kirche, die Diakonie zur Diakonie und die Diakonie zu einer Wesens- und Lebensäußerung der Kirche werden. Durch die Barmer Ortsbestimmung „in der Welt der Sünde" und die Qualifizierung „als die Kirche der begnadigten Sünder" ist erinnert an die Verkündigung von der Rechtfertigung als den Inhalt des von der Kirche zu bezeugenden Wortes, auf den Jesus Christus als das eine Wort Gottes sich und sie festgelegt hat. Nach Luther ist der „articulus iusti-
32 Es kann in die Irre führen, wenn die in seiner Dissertation in Abwandlung der Formel „Gott als Gemeinde existierend" aus Hegels Religionsphilosophie entwickelte Formel Dietrich Bonhoeffers „Christus als Gemeinde existierend" als fundamentalekklesiologische Aussage monopolisiert wird; Bonhoeffer selbst schränkt ein: Eine „totale Identifikation" kann „nicht stattfinden" (Bonhoeffer, Dietrich: Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche [1927], in: Theologische Bücherei, Neudrucke und Berichte aus dem 20.Jahrhundert, Band 3, Systematische Theologie, München 3 1960, 92). Bonhoeffers Arbeit gilt der Uberwindung sowohl des religiösen Missverständnisses von der Kirche, das ihre Gestalt spiritualisiert und mit dem Reich Gottes identifiziert, als auch des historisierenden Missverständnisses, das sie historisch relativiert und ihr Wesen aus einer historisch-soziologischen Analyse bestimmen will (83f): „Die Realität der Kirche ist eine Offenbarungsrealität, zu deren Wesen es gehört, entweder geglaubt oder geleugnet zu werden" (85). Bonhoeffer sieht die Kollektivperson „Christus als Gemeinde existierend" in der „Offenbarung des Herzens Gottes" (97) begründet. Ihr personales Gegenüber hat die Kirche als „Christus als Gemeinde existierend" in sich selbst, weder in einem Ursprung noch in einem Ziel. Wohl ist Christus das historische Prinzip der Kirche (105). - Nach Martin Honecker ist „Prinzip" hinsichtlich des einmaligen und zugleich gegenwärtigen Wirkens Christi ein unangemessener Ausdruck, weil ein Prinzip von seinem Ausgangspunkt ablösbar ist (Honecker, Martin: Kirche als Gestalt und Ereignis. Die sichtbare Gestalt der Kirche als dogmatisches Problem, in: Wolf, Ernst [Hg.]: Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus, Zehnte Reihe, Band XXV, München 1963, 133f): Christus kann aber nicht als Ursprung der Kirche gedacht werden, da „in ihm [ . . . ] konkrete Innerzeitlichkeit und das ,für alle Zeiten' real zusammen"-fallen (106). Von dem von Bonhoeffer bezeichneten personalen Gegenüber der Kirche bleibt zu unterscheiden deren Ursprung: „Ihrem Ursprung nach ist die Kirche creatura verbi divini" (Härle: Art. Kirche VII., Dogmatisch, T R E 18, 281). 33 Barmen 3, in: eg, 1378.
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ficationis [ . . . ] magister et princeps, dominus, rector et iudex super omnia genera doctrinarum, qui conservat et gubernat omnem doctrinam ecclesiasticam et erigit conscientiam nostram coram Deo," und „magister et princeps super omnia doctrinarum genera, et gubernat omnem conscientiam et ecclesiam, sine quo mundus est insulsus et merae tenebrae, nec ullus est error, qui non irrepat et regnet sine illo"34. Desgleichen bekundet Luther 1537 in den „Artikeln] christlicher Lehre, so da hätten aufs Concilium zu Mantua oder wo es sonst worden wäre, überantwortet werden von unseres Teils wegen und was wir annehmen oder nachgeben könnten oder nicht etc."35: „Hie ist der erste und Häuptartikel: 1. Daß Jesus Christus, unser Gott und Herr, sei ,umb unser Sunde willen gestorben und unser Gerechtigkeit willen auferstanden' [ . . . ] und ,Gott unser aller Sunde auf ihn gelegt hat [ . . . ] Von diesem Artikel kann man nichts weichen oder nachgeben, es fall Himmel und Erden oder was nicht bleiben will; denn es/ist kein ander Name, dadurch wir können selig werden [...]' Und auf diesem Artikel stehet alles, das wir wider den Bapst, Teufel und Welt lehren und leben. Darum müssen wir des gar gewiß sein und nicht zweifeln. Sonst ist's alles verloren, und behält Bapst und Teufel und alles wider uns den Sieg und Recht."36
34 Luther, Martin: De operibus legis et gratiae, in: Vorrede zur Promotionsdisputation von Palladius und Tilemann (1537), in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 39, Erste Abt., Weimar 1926, 198-204, 202ff. 35 Luther, Martin: Schmalkaldische Artikel, in: BSLK, 405-468. - „Als bekanntester Ausdruck für die Hoch- und Höchstschätzung der Rechtsfertigungslehre gilt die Bezeichnung dieser Lehre als ,Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt', als articulus stantis et cadentis ecclesiae. Dieser Ausdruck lässt sich zwar in dieser Formulierung aus den Schriften der Reformatoren nicht direkt belegen. Die Sachaussage aber ist genuin reformatorisch" (Jüngel, Eberhard: Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen 1998, 13). 36 Luther: Schmalkaldische Artikel, 415f. - Gerhard Sauter merkt an, dass „die Rechtfertigungslehre zum allgegenwärtigen kritischen Prinzip ausgedehnt - und zugleich inhaltsleer, als Lehre hinfällig geworden [ist]. Als Faustformel des Protestantismus wird sie zum Ausdruck einer Haltung Gott und der Welt gegenüber" (Sauter, Gerhard: Zur Einführung, in: Ders. (Hg.): Rechtfertigung als Grundbegriff evangelischer Theologie. Eine Textsammlung, München 1989, 9-29, 14). Mit Ernst Käsemann ist festzuhalten, dass - über die Feststellung Rudolf Bultmanns hinaus, der mit Rm 10,3 die Gerechtigkeit Gottes als Gegensatz zur eigenen Gerechtigkeit bestimmt (Bultmann, Rudolf: ΔΙΚΑΙΟΣΥΝΗ ΘΕΟΥ, in: Ders.: Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, hg. von Dinkier, Erich, Tübingen 1967, 470-475), - die Gerechtigkeit Gottes exegetisch als „Macht der Gnade" zu gelten hat (Käsemann, Ernst: Meditation zu Römer 6, 19-23, in: Ders.: Exegetische Besuche und Besinnungen I, Göttingen 1964, 263-266, und: An die Römer. Kommentar zum Paulusbrief, Tübingen 3 1974, 26). - Vgl. auch Stuhlmacher, Peter: Gerechtigkeit Gottes bei Paulus, Göttingen 1965: „Konstitutiv ist also f ü r δικαιοσύνη θεου zunächst nur das Vorhalten des auf das Heil der Schöpfung bedachten, über die Schöpfung herrschenden und sich deshalb ihr gegenüber herrscherlich durchsetzenden Gottes [ . . . ] Die reale Macht der δικαιοσύνη θεου wird f ü r die Gemeinde nur erst im befreienden Ereignis des Wortes Gottes, welches den Christus als Auferstandenen ausruft, erfahrbar" (238).
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Philipp Melanchthon spricht überdies dem Artikel de iustificatione hermeneutische Funktion zu insofern, als dieser „auch zu klarem richtigen Verstände der ganzen heiligen Schrift fürnehmlich dienet, und zu dem unaussprechlichen Schatz und der rechten Erkenntnis Christi allein den Weg weiset, auch in die ganze Bibel allein die Tür auftut."37 Abgesehen von der fundamentalen Relevanz des Artikels von der Rechtfertigung ist dessen Bedeutung für die Gegenwart festzuhalten.38
37 Apologia der Confession, in: BSLK, 139-404, Art. IV, 159. - Ähnlich hat nach Bultmann - im Vorlauf zur Entmythologisierung - die Rechtfertigungslehre erkenntnistheoretische Bedeutung: „Die radikale Entmythologisierung ist die Parallele zur paulinischlutherischen Lehre von der Rechtfertigung ohne des Gesetzes Werke allein durch den Glauben. Oder vielmehr: sie ist ihre konsequente Durchführung für das Gebiet des Erkennens. Wie die Rechtfertigungslehre zerstört sie jede falsche Sicherheit und jedes falsche Sicherheitsverlangen des Menschen, mag sich die Sicherheit auf sein gutes Handeln oder auf sein konstatierendes Erkennen gründen. Der Mensch, der an Gott als seinen Gott glauben will, muß wissen, daß er nichts in der Hand hat, woraufhin er glauben könnte, daß er gleichsam in die Luft gestellt ist und keinen Ausweis für die Wahrheit des ihn anredenden Wortes verlangen kann" (Bultmann, Rudolf: Zum Problem der Entmythologisierung, in: Bartsch, Hans Werner [Hg.]: Kerygma und Mythos, Bd. 2, Hamburg 1952, 179-208, 207). - Die soteriologische Relevanz der Rechtfertigungslehre als hermeneutischer Kategorie weist Eberhard Jüngel auf: „Die Rechtfertigungslehre ist die hermeneutische Kategorie der Theologie, weil und insofern sie beides vereint: Kompromißlosigkeit im Streit um die Wahrheit des Glaubens und das Ereignis dieser Wahrheit als Ereignis von Einverständnis. In seiner allen theologischen Sätzen von ihrem alleinigen Grund Jesus Christus her ihr Profil, ihre Schärfe und ihren Charakter gebenden Polemik sorgt der Rechtfertigungsartikel dafür, daß die Theologie keine Kompromisse macht. In seiner Gezieltheit, die alle theologischen Sätze zur Verkündigung und zum Bekenntnis nötigt, erstrebt der Rechtfertigungsartikel wachsendes Einverständnis: wachsend, was die Zahl der Verstehenden betrifft; wachsend aber auch und erst recht, was das Verständnis der Verstehenden betrifft [...] Der mit der Rechtfertigungslehre verbundene Streit zielt also auf einen Frieden, der selber zur Sache der Rechtfertigungslehre gehört: gestritten wird um den Frieden, dessen , Seele' die Wahrheit des Evangeliums ist" (Jüngel, Eberhard: Das Evangelium von der Rechtfertigung, 42). - Hier ist an den Hinweis von Hans Joachim Iwand zu erinnern, „daß sich in der theologischen Bedeutung und im wissenschaftlichen Gebrauch des ,pro me' ein grundlegender Wechsel vollzogen hat und zwar in dem Sinne, daß das reformatorische ,pro me' zunächst eine inhaltliche Bedeutung hat und untrennbar mit hineingehört in das Evangelium von Jesus Christus [...], während es später formale Bedeutung erlangt und den methodischen Unterschied zweier Erkenntnisarten kennzeichnet [...] Das ,pro me' kommt jetzt in den Bereich der praktischen Vernuft zu stehen [...], und dieser sein methodischer Gebrauch unterscheidet fortan das Erkennen Gottes vom Welterkennen, es verlegt die Erkenntnisform aller theologischen Aussagen [...] in den Bereich des Subjektiven bzw. Praktischen" (Iwand, Hans Joachim: Wider den Mißbrauch des ,pro me' als methodisches Prinzip in der Theologie [1954], in: Sauter, Gerhard [Hg.]: Rechtfertigung als Grundbegriff evangelischer Theologie, 272-280, 274). Dagegen hält Iwand fest: „Nur unter der Voraussetzung der Gnadenwahl Gottes in Jesus Christus ist das ,pro me' theologisch sinnvoll. Das ,pro me' hat dort seinen festen Platz, wo wir die Gerechtigkeit Gottes im Absehen von uns selber an uns selbst/gelten und wirken lassen. Das ,pro me' gehört ins Evangelium" (278f). 38 Vgl. Schmidt-Rost, Reinhard: Dialektisch protestieren. Eine ,Re-lecture' über Revisionen' der Praktischen Theologie, in: Hauschildt, Eberhard/Laube, Martin/Roth, Ursula (Hg.): Praktische Theologie als Topographie des Christentum. Eine phänomenologische
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Wie der locus de iustificatione als der articulus stands et cadentis ecclesiae gilt, so hat die Verkündigung der Rechtfertigung als das Kriterium evangelischer Predigt zu gelten. Deren Hörerinnen und Hörer sind anzusprechen als simul iustae bzw. iusti et peccatores, als welche diese sich nur zu verstehen vermögen, wenn ihnen der Zuspruch und Anspruch des Wortes Gottes in rechter Unterscheidung von Gesetz und Evangelium19 widerfährt. Entsprechend hat von der Kirche zu gelten,
Wissenschaft und ihre hermeneutische Dimension, Rheinbach 2000, 325-343: „Im Streit um die Rechtfertigungslehre vermochte sich die wissenschaftliche Theologie mit ihrem inhaltlichen Anliegen nicht hinreichend verständlich zu machen, obwohl der Vorgang der Selbstrechtfertigung eine eminente Rolle im öffentlichen Leben spielt" (341). Und Grab, Wilhelm: Vernünftig - Zeitgemäß - Existenziell, in: Huber, Wolfgang (Hg.): Was ist gute Theologie?, Stuttgart 2004, 11-26: „Die evangelische Rechtfertigungslehre ist mit der befreienden Zusage, die sie impliziert, heute zu beziehen auf das Fragen nach dem Gewinn persönlicher Identität, nach dem Wert des Lebens; nach einem in Freiheit - und nicht unter dem Zwang der Verhältnisse - vollzogenen, sinnbewussten und zielorientierten Lebensentwurf [ . . . ] Ал der ,Sache' der Theologie, die die .Kommunikation des Evangeliums' ist, liegt es nicht, dass die gesellschaftliche Relevanz der Theologie heute vielfach nicht mehr einsichtig ist und ihr Ort an den Universitäten bestritten wird. Die Theologie muss ihre , Sache' nur vom Menschen und den gesellschaftlichen Verhältnissen her lesen und verständlich machen" (24). 39 Für die Untersuchung der Art und Weise, wie in der Predigt, welche die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche zur Sprache bringt, die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zur Geltung kommt, ist es ohne Belang, ob „die Zuordnung von Gesetz und Evangelium als eine anthropologische, als eine kerygmatische, als eine offenbarungstheologische, als eine christologische und als eine bundestheologische verstanden und interpretiert" wird; „entscheidend ist vielmehr die Frage und Auskunft, wo Gesetz und Evangelium ihren primären und grundlegenden Definitions- und Bestimmungsort haben" (Klappert, Bertold: Promissio und Bund. Gesetz und Evangelium bei Luther und Barth, Göttingen 1976, 23). Das Verhältnis von Gesetz und Evangelium anhand der Aufnahme von Luthers christologischer Ortsbestimmung in die bundestheologische durch Barth bestimmend, arbeitet Klappert heraus: „Während für Luther Gesetz und Evangelium als kerygmatisch-anthropologische Kategorien auch christologische Kategorien sind und während f ü r Barth die christologischen Kategorien Zuspruch und Anspruch, Evangelium und Gebot auch kerygmatische Kategorien sind, ist Barth zufolge Gesetz und Evangelium (in dieser Reihenfolge) eine exklusiv christologische Relation, die mit der Geschichte von Kreuz und Auferweckung identisch, d. h. exklusiv in der Geschichte von Kreuz und Auferweckung Ereignis und folglich in der kerygmatisch-anthropologischen Ebene nicht wiederholbar ist [ . . . ] Indem das Gesetz Gottes nicht mehr als anklagendes, sondern nur noch als durch Jesus Christus gehaltenes und erfülltes Gebot verkündigt werden kann, gibt es Barth zufolge nicht das richtende Gesetz Luthers als Kategorie der Verkündigung, sondern ausschließlich die drei kerygmatischen Formen des erzählenden, warnenden und weisenden Indikativs. Verkündigung wird also bei Barth [ . . . ] verstanden a) als erzählender Indikativ: du bist der, der du in Jesus Christus bist, b) als warnender Indikativ: du bist nicht mehr der, als der du in Jesus Christus verurteilt bist, und c) als promissorischer Indikativ: du wirst sein, der du in Jesus Christus schon bist" (152). - „Zur Identifikation des Sünders [ . . . ] bedient sich das Evangelium des den Sünder als Sünder ansprechenden und anklagenden Gesetzes. Indem das Evangelium sein opus proprium tut und den Sünder von seiner Sünde befreit, sie dadurch aber auch als Sünde zu erkennen gibt, überantwortet es sein opus alienum dem Gesetz, das den Sünder als Sünder identifiziert: nämlich mich als den allein durch Gottes Gnade besiegbaren Feind der Gnade Gottes. Während das Evangelium mit der
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dass sie als congregatio sanctorum et vere credentium zugleich die Gemeinschaft der Sünderinnen und Sünder ist, 40 welches zu erkennen erst durch die Offenbarung der Schrift möglich wird. 41 In der Untersuchung der Predigt im Blick auf die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche gilt es wahrzunehmen, ob und wenn, wie die an der Diakonie Beteiligten angesprochen werden als solche, die schon jetzt in Jesus Christus sind, und als solche, die sie in Jesus Christus nicht mehr sind, sowie als solche, die sie, jetzt schon in Jesus Christus seiend, sein werden. Schließlich ist die nach der Diakonie als nach einer Wesens- und Lebensäußerung der Kirche zu befragende Predigt wahrzunehmen als Bestandteil gefeierten oder zu feiernden Gottesdienstes. Der „Gottesdienst läßt sich geradezu definieren als dasjenige Geschehen, in dem der allmächtige Vater an der durch Jesus Christus erschlossenen unmittelbaren Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins teilgibt, indem er in der Kraft des Heiligen Geistes den Lebenszusammenhang des Sünders so elementar unterbricht, daß es in ihm zur Gottesgewißheit und deshalb zu jener Freiheit der Kinder Gottes kommt, die das ganze Leben als ein Leben in der Dank-/barkeit gegen Gott und im Dienst am Nächsten
Überwindung der Sünde zugleich deren Erkenntnis ermöglicht, ist es die Funktion des Gesetzes, den Sünder in Person [ . . . ] so zu identifizieren, daß er bekennen muß: mea culpa, mea maxima culpa. Das aber vermag das Gesetz nur, weil und insofern das Evangelium das Seine tut. Ohne das Evangelium ist das Gesetz ohnmächtig, unvermögend [ . . . ] Das Evangelium gibt dem Gesetz seine - allemal nur begrenzte - Leistungsfähigkeit" (Jüngel: Evangelium von der Rechtfertigung, 85f). Hans-Martin Gutmann erinnert daran, dass die vom Heiligen Geist gewirkte, H e r z und Gewissen der Menschen betreffende Unterscheidung des einen Wortes Gottes als Gesetz und Evangelium gleichwohl kognitiver Reflexion und die situative Erhellung begrifflicher Klarstellung wie klaren menschlichen Sprechens als göttlicher Rede bedürfe: „Menschen [ . . . ] sind heute einer Fülle von Verheißungen, aber auch Forderungen an ihre Identitätskonstitution ausgesetzt; die jeweils mächtigsten liegen in der Logik der Gratifikationen und Leistungsforderungen einer neoliberalen Marktökonomie [ . . . ] Der Gott der Bibel ist dagegen die lebensbegründende und -erhaltende Macht, die nichts anderes fordert als sie verheißt [ . . . ] Das Unterscheiden-Können von Gesetz und Evangelium zeigt sich [ . . . ] in einer Ermächtigung von, in subjektiver Perspektive: in einer Desensibilisierung gegenüber allen möglichen Verheißungen und Forderungen [ . . . ] Ich denke mir, dass verschiedene (auch außertheologische) Theoriemodelle, die in der jüngeren praktisch-theologischen Diskussion rezipiert wurden und werden [ . . . ] sich im Gefalle dieser zentralen theologischen Unterscheidung gewissermaßen ,aufhängen' lassen und bewähren müssen" (Gutmann, Hans-Martin: Praktische Theologie im neuen Jahrhundert - nichts Neues?!, in: Hauschildt, Eberhard/Schwab, Ulrich [Hg.]: Praktische Theologie für das 21.Jahrhundert, Stuttgart 2002, 67-78, 75f.). 40 „Quamquam ecclesia proprie sit congregatio sanctorum et vere credentium, tarnen, cum in hac vita multi hypocritae et mali admixti sint, licet uti sacramentis [ . . . ] " (CA VIII, BSLK, 62). 41 „Solche Erbsunde ist so gar ein tief bose Verderbung der Natur, daß sie kein Vernunft nicht kennet, sondern muß aus der Schrift Offenbarung geglaubt werden" (Luther, Martin: Schmalkaldische Artikel, BSLK, 434).
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vollziehen."42 Es ist zu fragen, ob und wenn, wie die Predigt teilhat und -gibt an der durch die Gegenwart Gottes bewirkten Unterbrechung des Lebenszusammenhangs des Sünders und sie die Teilhabe der Diakonie daran zur Sprache bringt. Indem ich die hier notierten hermeneutischen Vorgaben in die Wahrnehmung der Texte als Predigt einbeziehe, konstituiere ich mich neu, und zwar als Subjekt einer normenorientierten Wahrnehmung. 43 2.2.1.2 Die Predigten Die Auswahl der zu befragenden Predigten ist gleichfalls durch den Gegenstand der Untersuchung bestimmt. Ich will nicht wissen, wie wem von wem die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche bewusst gemacht und bewusst nahe gebracht wird und heute plausibel gemacht werden kann. Gerhard K. Schäfer hat diakonische Predigten aus der Geschichte gesammelt und stellt sie vor mit der Absicht: „,Die Menschenfreundlichkeit Gottes bezeugen', damit ist die Grundbestimmung von Kirche gegeben [ . . . ] Die Predigtsammlung will der Erinnerung dienen - der Erinnerung an Versuche aus der Geschichte der Christenheit, der Menschenfreundlichkeit Gottes (Tit 3,4) Ausdruck zu geben und ihr zu entsprechen [ . . . ] Der Rückgang in die Geschichte geschieht nicht zuletzt in der Hoffnung, Impulse für eine die Menschenfreundlichkeit Gottes widerspiegelnde kirchliche bzw. christliche Praxis in der Gegenwart zu gewinnen. Die Predigten der Vergangenheit können zu einem Sprachgewinn und zu einer Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten verhelfen."44 Die Absicht dieses Werkes verfolge ich ebenso wenig wie den Versuch, zu ermitteln, welcher Prediger der Diakonie angemessen als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche zur Geltung verhilft.45 Ich will vielmehr wahrnehmen, ob und wenn, wie die zum Gottesdienst versammelte Gemeinde im Hören der Predigt wahrnimmt, dass die Diakonie eine Wesens- und Lebensäußerung der Kirche ist. 42 Jüngel, Eberhard: Der evangelisch verstandene Gottesdienst, in: Ders.: Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, München 1990, 283-310, 296f. 43 Vgl. Failing, Wolf-Eckart/Heimbrock, Hans-Günter: Ausblick. Von der Handlungstheorie zur Wahrnehmungstheorie und zurück, in: Dies.: Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt - Alltagskultur - Religionspraxis, Stuttgart 1998, 275-294, 282. 44 Schäfer, Gerhard K.: Diakonische Predigt. Einführende Überlegungen, in: Ders. (Hg.): Die Menschenfreundlichkeit Gottes bezeugen. Diakonische Predigten von der Alten Kirche bis zum 20. Jahrhundert. Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg, hg. von Theodor Strohm, Bd. 4, Heidelberg 1991, 11-38, 9. 45 Das ist überzeugend geleistet worden von Theurich, Henning: Das Wort zur Stunde. Otto Ohl als Festprediger der Diakonie, in: Witschke, Reinhard (Hg.): Diakonie bewegt. 150 Jahre Innere Mission im Rheinland, Köln 1999, 333-354: „Otto Ohl war ein Festprediger der Diakonie, die sich als ,Wesens- und Lebensäußerung' der Kirche versteht" (350).
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Meine Wahrnehmung wäre von vornherein eingeschränkt, wenn die Auswahl der Texte sich auf so genannte diakonische Klassiker wie Predigten über Mt 25,31-46 und Lk 11,25-36 fokussierte. Die Auswahl sucht vielmehr Predigtorte auf in einer Reihenfolge, die eine Verdichtung von Aussagen zur Diakonie erwarten lässt. Ich gehe von der Ortsgemeinde über die diakonische Gemeinde zur diakonischen Festgemeinde. Zum Zwecke dieser Wahrnehmung lese ich zwei Predigtbände und zwei einzelne Predigten. Der erste Band enthält Predigten vom ersten Sonntag im Advent bis zum Ewigkeitssonntag für das Kirchenjahr 2002/2003 nach der ersten Perikopenreihe.46 In ihm lese ich, was irgendeine Gemeinde Sonntag für Sonntag zu hören bekommt bzw. bekommen kann. Er zeichnet sich dadurch aus, dass ihm nicht zu unterstellen ist, Aussagen zur Diakonie machen zu wollen. Der zweite Band enthält Predigten zur Diakonie. 47 Mit ihnen wird dokumentiert, dass in der Diakonie unter anderem auch gepredigt wird.48 Er zeichnet sich mit drei diakonischen Merkmalen dadurch aus, dass erstens die Prediger der in ihm versammelten Predigten „in der rheinischen Diakonie arbeiten oder mit ihr besonders verbunden sind" 49 , dass zweitens die Predigten je zu „diakonischen Anlässen" gehalten wurden und dass drittens der Band insgesamt zeigen will, dass in der Diakonie auch gepredigt wird. Die beiden einzelnen Predigten zeichnen sich dadurch aus, dass sie von Inhabern kirchlicher Leitungsämter zu besonderen diakonischen Anlässen gehalten wurden.50 2.2.1.2.1 Die Predigt des Kirchenjahres Ich untersuche 66 in einem Band versammelte, den ihn lesenden Predigerinnen und Predigern zur teilweisen oder vollständigen Übernahme empfohlene Predigten, die an den Sonn- und Feiertagen des Kirchenjahres 2002/2003 in allen deutschsprachigen Gottesdiensten gehört worden sein können und in einigen wohl gehört worden sind.51 Der Ort und der 46 D o m a y , Erhard (Hg.): Lesepredigten, I. Perikopenreihe, 1. Sonntag im Advent bis Ewigkeitssonntag. In Zusammenarbeit mit Beate Stierle herausgegeben von Erhard D o m a y , Gütersloh 2002. 47 Fröhlich, Wolfram (Hg.): Mit Wort und T a t . Predigten aus der rheinischen Diakonie. Karl-Wilhelm Gattwinkel, Kirchenrat, Direktor des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche im Rheinland, gewidmet zum 60. Geburtstag, Düsseldorf 1988. 48 Fröhlich: 7. 49 7. 50 Huber, Wolfgang: Predigt im Festgottesdienst „155 J a h r e Evangelisches Diakoniewerk Königin Elisabeth" am 14. Juni 1998, in: http:/www.ekd.de/Leben & Glauben - Predigten, Zugriff 23.02.04. - K o c k , M a n f r e d : Predigt zum Diakonie-Kirchentag im Eröffnungsgottesdienst in der Schloßkirche Wittenberg am 25. September 1998, in: http:/www.ekd.de/Leben & Glauben - Predigten, Zugriff 23.02.04. 51 D o m a y , Erhard (Hg.): Lesepredigten, I. Perikopenreihe, 1. Sonntag im Advent bis Ewigkeitssonntag. In Zusammenarbeit mit Beate Stierle herausgegeben von Erhard D o m a y ,
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Zeitpunkt des jeweiligen Gottesdienstes, die gemeindliche, kirchliche, gesamtgesellschaftliche Situation, in der er gefeiert wurde, der Text, der predigend ausgelegt wurde, die Person der Predigerin bzw. des Predigers sowie die der Autorin bzw. des Autors 52 und des Herausgebers bzw. der Herausgeberin und das Konzept des Verlages sind in unterschiedlicher Dringlichkeit bedeutend für den hermeneutischen Prozess, innerhalb dessen der Text aus der Bibel als gedruckte Predigt auf meinen Schreibtisch gelangt. Diese Faktoren sind jedoch nur mit unterschiedlicher Genauigkeit bzw. überhaupt nicht mehr zu ermitteln und bleiben hier nicht nur deshalb außer Betracht. Für mich ist allein das wichtig, was jetzt zu hören ist. Und ich höre, indem ich lese und was ich lese. Was wie wo zuvor gehört worden ist bzw. zu hören sein wird, entzieht sich mir. Ich fixiere mich in begrenzter Wahrnehmung auf einen bestimmten Ort in einem hermeneutischen Prozess, welcher seinerseits offen ist. Ich begebe mich in den hermeneutischen Prozess hinein mit der Suche nach Aussagen über die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche. Hier ist bereits nach der ersten Durchsicht der Predigten Fehlanzeige zu erstatten. Predigend wird die Diakonie nicht explizit als Wesensund Lebensäußerung der Kirche vorgestellt. Wer diese Predigten in ihrer Gesamtheit hört, vernimmt nur einmal das Stichwort „Diakonie", und zwar im Zusammenhang der komplexen Formulierung „sozial-diakonisch-missionarisches Handeln" 53 . Darum stelle ich einleitend fest, dass die Diakonie in den hier durchgesehenen Predigten kein ausgeführtes Thema ist. In ihnen wird die Diakonie nicht ausdrücklich angesprochen. 54 Dass damit die Diakonie nicht verschwiegen ist, wird zu zeigen sein. Ohne die Frage nach der Diakonie zu reduzieren, moduliere ich sie deshalb zur Frage nach dem Hilfehandeln in allen denkbaren Bezügen, wobei ich in der Recherche nach den Subjekten des Hilfehandelns den Blick auf die Kirche, als deren Wesens- und Lebensäußerung die Diakonie gilt, weit machen werde, zumal auch die Kirche an keiner Stelle thematisch expliziert wird. Ebenfalls unter quantitativem Gesichtspunkt ist festzustellen, dass sich unter den 66 hier abgedruckten Predigten allein 31 befinden, in denen von helfendem Handeln in einem solchen Sinne, der diakonischem, karitativem, sozialem Handeln entspricht, die Rede ist. Für den Fortgang der Untersuchung ist die Frage leitend, in welchem gepredigten Kontext die beobachtete einmalige Erwähnung der Diakonie steht: Hier wird sie verhandelt im Rahmen der Zuwendung der Gütersloh 2002. - Nach tel. Auskunft des Herausgebers vom 26.06.03 wurden die Lesepredigten von ca. 2000 Predigerinnen und Predigern benutzt. 52 Weil die Predigten zum Vorlesen konzipiert wurden, unterscheide ich zwischen Predigerin bzw. Prediger und Autor bzw. Autorin. 53 „Gehört sozial-diakonisch-missionarisches Handeln zu den Kernaufgaben einer Gemeinde^] oder verbuchen wir solches .unter femer liefen'?" (85). 54 Hier handelt es sich um eine quantitative Aussage, die hinsichtlich der Bedeutung der Diakonie in den vorliegenden Predigten nur eine geringe Aussagekraft hat.
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Gemeinde zu ihren Gliedern, im umfassenden Rahmen der kirchlichen Lebensäußerungen also, und im Rahmen der Frage nach der Zugehörigkeit zur Gemeinde, 55 die, zunächst unter dem Gesichtspunkt der Leistung und des Lohnes betrachtet, einbezogen wird in die und aufgehoben wird in der Rede vom Reich Gottes. 56 Die Inklusivität des Reiches Gottes, hier gleichfalls für die Kirche geltend gemacht, wird durch das sola gratia zur Sprache gebracht. Das Reich Gottes ist demnach neben der Kirche und über sie hinaus Bezugsgröße und Ermöglichungsgrund auch für helfendes Handeln und deshalb für dessen Verstehen und Verständnis konstitutiv. Vom Reich Gottes ist zu hören, dass in ihm alle Probleme, mit denen das Hilfehandeln, ohne im Einzelnen genannt sein zu müssen, sich befasst, umfassend gelöst sein werden.57 Die Verbindung zu dem noch ausstehenden Gottesreich ist herzustellen durch den Glauben58 und dadurch, dass wir, der Sorge entsagend, nach dem Reich trachten,59 um dann unsere Arbeit tun zu können. Dieser Verbindung nachgehend können wir schon jetzt ein Stück des Reiches Gottes spüren.60 Auch um der 55 „Ich höre die Klage [...] auch heute sehr wohl: in Diskussionen darüber, wer denn zur Gemeinde gehört. Wo für manch einen ζ. B. die Zuwendung des Pfarrers/der Pfarrerin bei einem Geburtstag nur denen zugebilligt wird, die regelmäßig in der Gemeinde erscheinen^] und grundsätzliches Unverständnis herrscht, dass die oder der dann auch zu solchen geht, die sich nie haben blicken lassen" (Ebd.). 56 „In Gottes Reich, im Himmelreich, ist das alles ganz anders. Hier gelten unsere Maßstäbe der Leistung nicht, weil Gottes Maßstäbe gelten. Und die bemessen und rechnen [...] mit dem Maß der Gnade [...] Das Bild meiner Mitmenschen bekommt dadurch menschlichere Züge [...] Dadurch wird er oder sie zu meinem Nächsten, jenseits aller Standesdünkel, jenseits aller Statussymbole, jenseits allen Sozialneids [...] Der Maßstab Gottes grenzt nicht aus, sondern verbindet alle seine Geschöpfe unter seinem Namen, macht sie zu Nächsten untereinander und jede und jeden zu seinem Ebenbild" (85f). 57 J a , gegen den Anbruch des Reiches Gottes wird selbst ein Sechser im Lotto und ein Durchmarsch beim Millionenquiz armselig erscheinen. Denn dann wird tatsächlich alles gut werden./Wir werden miteinander friedlich leben können auf der einen Erde. Es wird gerecht zugehen für alle. Es wird keine Verständigungsprobleme mehr geben, weil ein jeder den anderen verstehen wird. Wir werden keine Fragen mehr haben, denn alles wird Klarheit sein um uns her" (21f). 58 „Doch wenn wir am Glauben festhalten, wenn wir den Anbruch des Reiches Gottes jederzeit für möglich halten, all den schlechten Nachrichten und Katastrophenmeldungen unserer Zeit zum Trotz, dann werden wir dem Sog des Negativen widerstehen. Dann können wir in aller Ruhe und mit langem Atem unsere Arbeit tun. Dann werden wir aufsehen können, erhobenen Hauptes, über den Brei des scheinbar unabänderlich Faktischen hinweg in das Licht des Advent" (22). 59 J a , du hast viel Sorgen und Mühen, aber das ist nicht alles. Da gibt es noch einen anderen Teil, einen besseren, den darf uns niemand wegnehmen. Das Leben geht nicht ohne Sorgen, aber es ist mehr als Sorgen: ,Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit!' Die Reihenfolge ist nicht umkehrbar: Zuerst das Reich Gottes, dann die Sorgen der Welt! Denn durch unser Sorgen kommen wir nicht zu Gott" (233). 60 „Gehört nicht auch das eigene Handeln dazu, um ein Stück des Reiches Gottes schon jetzt zu spüren? Ist es nicht da schon angebrochen, wo Gottes Wille erfüllt und gelebt und seine Liebe weitergegeben wird?" (260).
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gegenwärtigen Gewissheit des künftigen Reiches willen ist dieses an unser Handeln gebunden,61 welches in Bezug auf jenes sogar gerichtsrelevant ist.62 Das Gericht Gottes wird mit allem Ernst gepredigt,63 auch wenn, ja gerade weil es nicht die Abrichtung, sondern die Aufrichtung der Gerichteten zum Ziel hat64 und deshalb selbst der Hinweis auf ein „zu spät" noch eine Einladung ist.65 Neben der Predigt des Gerichtes vermeldet das Verbot der Sorge,66 eine existentiale Grundbefindlichkeit und infolgedessen jegliches sorgenvolle Handeln für obsolet erklärend, dass der Lebenszusammenhang des Sünders heilsam unterbrochen und dem Hilfehandeln damit ein anderer
61 „Damit das ewige Leben nicht wie ein schöner Traum erscheint, bindet Jesus Gottes Reich ganz entschieden an unsere verantwortlichen Taten und spricht vom Gericht: ,Es kommt die Stunde, in der alle [ . . . ] hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.' Jeder Mensch wird vor Gott verantworten müssen, was er mit seinem Leben gemacht hat. Jesus will uns damit auffordern, schon jetzt bewusst wie ein Bürger des künftigen Gottesreiches zu leben" (273). 62 „Das letzte Gericht [ . . . ] Ich würde mein Leben noch einmal sehen, wie es wirklich war. Und dann hätte ich keinen Grund, das Urteil anzufechten. Da würden sie mir alle vor Augen stehen, die Hungernden und Durstigen, denen ich nichts gegeben habe, die Fremden, die ich nicht aufgenommen habe, die Kranken, die ich nicht versorgt habe, die Gefangenen, die ich nicht besucht habe. Da wäre nichts mehr dran zu drehen und zu deuten./Mehr noch. Wenn jemand versuchen würde sich herauszureden [ . . . ] , dann würde der Fremde auf einmal die Maske abnehmen und sagen: Du irrst dich, ich war das! Und wir würden das Gesicht des Richters sehen" (263f). 63 „Wenn die Gewaltigen gewalttätig gegen die Wehrlosen werden, wenn die Mächtigen sich an den Armen vergreifen, wenn die Satten sich weiter auf Kosten der Ärmsten mästen, dann allerdings wird Gott ihnen mit Gewalt und Strafe in den Arm fallen" (30). 64 „Gott liebt die Niedrigen. Sein Licht scheint in die Finsternis [ . . . ] Maria singt: Gott hält sein Versprechen [ . . . ] Maria - ihr folgen, das hieße: In das Tun Gottes einwilligen: Die Hungrigen mit Gütern füllen [ . . . ] Gottes Willen Raum geben und Raum schaffen überall - aber zuerst in uns selbst" (Ebd.). 65 „Und in dem Augenblick, wo sie die Wahrheit erkennen, ist es nun auch zu spät, daran noch etwas zu ändern [ . . . ] Ist es dann nicht inkonsequent, dass Jesus diese Geschichte überhaupt erzählt? Er erzählt sie, weil er [ . . . ] doch damit rechnet, dass Menschen die Wahrheit jetzt schon und hier schon erkennen. Dass die Geschichte ihr Werk doch tut, verunsichert, betroffen macht, sensibel macht für den Umgang mit dem Nächsten, der hungert und krank ist. Das ist die große Inkonsequenz Gottes. W o eigentlich nur noch Urteil und Gericht angesagt wäre, eröffnet er noch einmal einen Weg" (265). 66 „Menschen sind Mangelwesen, sind bedürftig und meinen, stets Dinge zum Leben zu brauchen. Darum hat die Sorge leichtes Spiel: Sie legt uns fest auf das, was uns fehltf,] oder auf das, von dem wir meinen, dass es uns fehlt. Die Sorge ergreift Besitz von uns. So dient sie nicht mehr dem Leben, sondern kann es zerstören" (232). „ [ . . . ] Ja, du hast viel Sorgen und Mühen, aber das ist nicht alles. Da gibt es noch einen anderen Teil, einen besseren, den darf uns niemand wegnehmen [ . . . ] .Sorget nicht!* ist ein heilender und heilsamer Zwischenruf. Den dürfen wir nicht überhören!" (233) „ [ . . . ] Jesus [ . . . ] setzt ein anderes Vorzeichen vor die Klammer unseres Lebens: Vertrauen auf die Liebe eines himmlischen Vaters, der um uns weiß. Die Sorgen der Welt sind nachgeordnet [ . . . ] Zuerst sollen wir wissen und beherzigen: Wir sind reich beschenkt. Was wir zum Leben brauchen, hat uns unser himmlischer Vater gegeben" (234).
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Ort einzuräumen ist.67 Der Lebenszusammenhang wird so unterbrochen, dass der Heilende den zu Heilenden aus seiner Umgebung löst und, bevor er ihn geheilt in diese zurück entlässt, ein Wunder vollbringt, dessen Subjekt selbst der biblische Text nicht klar bezeichnet. 68 Mit dieser lesenden Beobachtung werde ich als H ö r e r der Predigt von einer empirischen Wahrnehmungsebene auf eine theologische Wahrnehmungsebene geführt, auf welcher der Glaube als Trachten nach Gottes Reich und das Handeln als ihm entsprechendes Verhalten zum Thema werden. Diese Ebenen schieben sich ineinander, sie sind gleichwohl voneinander zu unterscheiden, nicht jedoch voneinander zu trennen. Beim helfenden Handeln sind dessen Vollzüge und Unterlassungen einerseits sowie andererseits die Rede von ihnen empirisch wahrnehmbar, beim Reich Gottes und dem Glauben ist es allein die Rede von ihnen. Im Reden von der Kirche und von der Diakonie, nicht in ihrem Handeln entscheidet sich, in welcher Weise die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche zu gelten hat. Gleichwohl ist das Reden von der Kirche und der Diakonie nicht ohne deren empirische Wahrnehmung zu denken. Zur Wahrnehmung der Gegenwart Gottes im helfenden Handeln bedarf es mehr als des offenen Auges; es braucht ein „christliches Verständnis" 69 , welches mit dem Hören auf das Wort Gottes beginnt und
67 „Leben ist mehr. Leben ist etwas anderes als der verwahrte materielle Erfolg! Hier liegt der Webfehler im Lebensverständnis des reichen Kornbauern. Was aber ist dann ,Leben'?" (236) „ [ . . . ] Empfangen und loslassen, einatmen und ausatmen, ansaugen und leerpumpen, empfangen und weitergeben: In sich ergänzend-gegensätzlichen Bewegungen vollzieht sich ,Leben'!" (237) „ [ . . . ] Auf diesem neuen Weg ahnen wir, dass Leben fruchtbar werden kann für andere Menschen, denen wir von dem weitergeben, was wir empfangen haben [ . . . ] Andere erfahren Hilfe, finden ihren Weg, spüren Liebe, erleben Heimat und Geborgenheit, finden Wege zur Freiheit [ . . . ] Was am Leben wirklich gelingt, die Gaben, die Leben ermöglichen, sind kein Verdienst, sondern Geschenk Gottes" (238). 68 J e s u s [ . . . ] nimmt den Taubstummen vor dem Volk ,besonders', holt ihn aus der Menschenmenge heraus, führt ihn beiseite [ . . . ] J a , bedeutet das denn nicht noch mehr Isolierung und Vereinzelung? Ist das nicht gerade ,Exkommunikation', Ausschluss aus der Gemeinschaft der anderen? [ . . . ] Andererseits: Jesus nimmt so - mit seinen Fingern Kontakt, Verbindung, eine Beziehung zu dem Beziehungslosen auf [ . . . ] Nicht irgendwie und irgendwo, sondern an den kritischen Stellen: am Ohr des Tauben, an Mund, Lippen und Zunge des Sprachlosen [ . . . ] Im selben Augenblick, in dem der Kontakt zwischen Jesus und dem Gehörlosen hergestellt zu sein scheint und wir darauf warten, dass beide sich tief und verstehend in die Augen schauen, löst Jesus den Blick von seinem Gegenüber und hebt die Augen auf zum Vater im Himmel: Die begonnene Beziehung zwischen Jesus und dem Taubstummen soll zur Dreierbeziehung erweitert werden. Erst dann spricht Jesus sein ,Hephata': ,Tu dich auf!' Einen Augenblick lang weiß man nicht so recht: Wem gilt diese Bitte oder vollmächtige Anweisung eigentlich? ,Tu dich auf - soll der Himmel sich auftun? Soll Gott sein Herz öffnen und sich des Armen erbarmen? Oder sollen/sich die Ohren und der Mund des Taubstummen öffnen, die Jesus gerade berührt? [ . . . ] Es soll ja nicht nur die Funktionsfähigkeit zweier Körperorgane repariert werden, sondern ein ganzer Mensch gesunden. Das Wunder geschieht: ,Alsbald taten sich die Ohren auf und das lähmende Band seiner Zunge löste sich. Und er redete recht" (220f). 69 „Nach christlichem Verständnis war er schon immer dabei, der schöpferische, hei58
die Wahrnehmung sowohl der Bedürftigkeit anderer Menschen70 wie der Welt als Gottes guter, geliebter Schöpfung71 erschließt. Für solches Verständnis der Welt und ihres Richters ist Gott das grundlegende Subjekt des Hilfehandelns und spielt die Art der Motivation der Menschen zum Handeln keine Rolle.72 Damit ist für den Glauben solches helfende Handeln, das nicht aus Glauben geschieht, gleichwohl als Gottes Diakonie an seinen Geschöpfen zu verstehen. Nicht christlich begründete Weisung zum Hilfehandeln ist für den Glauben ebenso relevant wie jene, die aus dem Glauben kommt.73 Als Wesens- und Lebensäußerung Gottes selbst lende, helfende und tröstende Geist [ . . . ] als Kraft des ewigen Gottes, die Leben schafft, Menschen bewegt und Leben heilsam begleitet [ . . . ] Dieser Geist ist [ . . . ] klar und eindeutig in seiner Gestalt. E r ist der Geist der Gerechtigkeit, der den Bedrängten beisteht, der Geist des Friedens, so dass Entscheidendes n i c h t , d u r c h Heer oder Kraft' geschieht [ . . . ] In Jesus Christus geht Gottes Geist seiner helfenden und heilenden Profession nach. Nicht f ü r die Gesunden, sondern f ü r die Kranken ist er da. Er tröstet die Verzagten, vergibt den schuldig Gewordenen, ermöglicht Umkehr und Neuanfang, heilt Kranke und Behinderte, erweckt von den Toten. Jesus Christus ist der heilende Helfer menschlichen Lebens, der Paraklet" (159f). 70 „Und alles beginnt mit dem rechten Hören, dem Sehen, dem Aufmerken, dem Wahrnehmen, der Sensibilität gegenüber der Not und dem Elend anderer [ . . . ] Und wenn wir bei Gottes Wort richtig hinhören, lernen wir, dass in erster Linie unser H e r z , nicht unser Aktiendepot ungeahnte Wachstumschancen hat [ . . . ] Durch Jesus hat er uns an die H a n d genommen, uns praktische Lebenshilfe gegeben, damit wir in seiner Liebe bleiben, aus dieser Liebe leben und auf die umfassende Intaktheit des Lebens auf dieser Erde aus sein können" (178). 71 „Ihr seid Gottes Kinder, die ganze Schöpfung ist euer, alle Dinge müssen euch zum Besten dienen. Seid nicht bange!" (42). 72 „Weder die Geretteten noch die Verurteilten werden gefragt, ob sie fleißig zur Kirche gegangen sind, ob sie regelmäßig gebetet haben oder die Bibel gelesen. Das scheint den Weltenrichter gar nicht zu interessieren. Ja, nicht einmal die Christlichkeit der Menschen kommt in den Blick. Kranke besuchen und Hungernde speisen, können das nicht Christen wie Nichtchristen in gleicher Weise tun? Natürlich können sie das. Und es steht uns Christen gut an, das, was Nichtchristen tun, sehr ernst zu nehmen und zu würdigen. Leider kann man es manchmal hören: dass gute Aktionen und großer Einsatz, wenn er von Nichtchristen kommt, herabgesetzt wird, als wenn das alles nicht zählt. Der Weltenrichter jedenfalls urteilt nicht so [ . . . ] Es verhält sich mit dem Zusammenhang von Glaube und Tat anders: Ich weiß, daß ich oftmals zu träge bin, das Gute zu tun. Ich sehe nicht hin, ich will meine Ruhe haben, ich weiß manchmal auch nicht, wie ich es anfangen soll. Ich brauche immer wieder Ermutigung und Hilfe und Wegweisung, das Gute zu tun. Und darum brauche ich alle Gottesdienste und alles Gebet und alles Bibellesen. Nicht als Selbstzweck, nicht als gutes Werk, um es vor dem Weltenrichter vorweisen zu können. Schon gar nicht, um es vor dem Nichtchristen als meinen Vorteil und Verdienst hervorzuheben. Aber als Hilfe zum Leben und Hilfe zum Tun des Guten brauche ich das alles. Brauche ich zum Beispiel diese Geschichte, damit ich erfahre, was wichtig ist f ü r mich und mein Leben" (266). 73 „Die Fakten sind bekannt. Gesetz und Propheten haben wir heute auch noch, wir müssen sie nur hören. Und wer die biblischen Propheten nicht hören kann oder will, kann die ,weltlichen' hören, wenn sie Mal für Mal in den Tagungsorten der G7-Gipfel demonstrieren, um die reichsten sieben Industrienationen zur Veränderung ihrer Politik zu Gunsten der Armen zu bewegen [ . . . ] Lazarus ist stets der Mensch in unserer Nähe und Ferne, dem genau das fehlt, was wir haben. Er ist bedürftig, wo Gott uns schon geholfen hat. Und
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ist die Diakonie deshalb weiter zu fassen denn als eine Wesens- und Lebensäußerung der Kirche, solange diese theologisch als congregatio sanctorum et vere credentium, rechtlich als Körperschaft des öffentlichen Rechtes oder als eingetragener Verein oder auf andere Weise beschrieben wird. Gleichwohl wird in den durchgesehenen Predigten die Kirche, wo sie auf das Reich Gottes bezogen bleibt, offen gehalten.74 Zur sichtbaren Gemeinde indessen gehört wesentlich das helfende Handeln als Handeln der Liebe hinzu, weil - empirisch wiederum nicht zu fassen - die Gemeinde und ihr Herr nicht zu trennen sind.75 Wie die Menschen, die im sonntäglichen Gottesdienst versammelt sind, Gott brauchen, so brauchen sie in ihrer Bedürftigkeit auch einander.76 Wo sie auf Gott hören, entsteht die lebendige Gemeinde, 77 die sich seinem Zuindem wir an ihm handeln und ihm unsere Stimme leihen, betreiben wir den Ausgleich von ungerecht verteilten Lebensschicksalen. Geben wir denen einen Namen, die meist nur als Gesindel, Mob, Klinkenputzer, Bagage oder Schnorrer gesehen wurden" (176f). 74 „Ist es [das Reich Gottes] nicht da schon angebrochen, wo Gottes Wille erfüllt und gelebt und seine Liebe weitergegeben wird? Sehen wir uns doch einmal bei uns in unseren Gemeinden um. Da sind viele Menschen in/den Besuchsdiensten, die trösten und zuhören können. Da gibt es einen Mittagstisch für ältere und einsame Menschen, da finden Kinder, die bis nachts auch bei größter Kälte auf der Straße sein müssen, einen Raum, in dem sie sich aufhalten können und betreut werden. Hier und in vielen anderen Beispielen, in den kleinen Anfängen, überall da, wo die Liebe Gottes lebendig wird, beginnt sich das Reich Gottes zu entfalten. In uns ist eine Menge Kraft und H o f f n u n g " (260f). 75 „Weinstock und Reben/sind auf Gedeih, nicht auf Verderb, miteinander verbunden [ . . . ] Wer in der wunderbaren Verbindung zum Weinstock entdeckt und erlebt, wie ihm lebensfördernde Liebe zuströmt, der wird ganz selbstverständlich diese Gabe weitergeben an die Menschen, die ihm anvertraut sind. Wer [ . . . ] im Glauben und in Jesus Christus bleibt, weiß, dass auch andere Menschen ein Teil des Weinstockes Christi sind. Deshalb wird er in den Schwächen anderer nicht Angriffspunkte sehen, sondern die Möglichkeit, ihnen zu helfen und Liebe weiterzutragen. Dabei ist ihm bewusst: Im Fruchtbringen wird niemand anders verherrlicht als Gott selbst. Damit ist dem Glaubenden eine ganz besondere Würde und Verheißung geschenkt. Der Glaubende, ja, wir alle können mithelfen, Gottes grenzenlose Liebe weiterzugeben, die letztgültig trägt. Wir können da mittun, das schenkt unserem Leben unendlichen Wert und ist doch auch ein Grund, froh gestimmt zu sein" (H6f). 76 „Wir hier in diesem Gottesdienst sind Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Jesu. Gott braucht uns. Tun wir etwas dazu, dass wir nicht alleine bleiben. Wir brauchen das Miteinander genauso wie er [ . . . ] Wir brauchen die vielen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in unserer Kirche, weil wir uns helfen können auf dem gemeinsamen Weg. Dann können wir das tun, was Gott von uns will: Gott in unserer Mitte Raum geben, Gottes Liebe zu den Menschen weitertragen und den Notleidenden helfen" (193f). 77 „,Auf ihn sollt ihr hören!' Denn dort, bei ihm, liegen nicht nur Leid und Nachteile, bei ihm finden wir endlich auch die wirkliche, haltbare Verklärung. In seiner Nähe sind wir sicher, sind wir geborgen, finden wir Frieden. Und das bedeutet: Wo Christen ihrem Glauben leben - denn nichts anderes heißt: ,auf ihn hören!' - , mit anderen Worten: wo sie Menschen helfen, Kranken, Unterdrückten, Geschlagenen, Gefangenen, Behinderten, Hungernden, da wird Frieden, da setzt sich Gerechtigkeit durch, da werden Freundschaften geschlossen, da erwächst aus den Betroffenen eine Gemeinschaft, eine Hilfs- und Lebensgemeinschaft, mit anderen Worten: da entsteht lebendige Gemeinde, da wird das Leben ,verklärt'" (82).
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spruch und Anspruch stellt.78 Von seinem Zuspruch lebend, entspricht sie seinem Anspruch.79 Gleichwohl wird darauf hingewiesen, dass die Kirche Gottes Anspruch nicht genügt80 und die Menschen aufgrund dieses Ungenügens ihr eigenes Leben verlieren.81 Indem hier die Differenz von Anspruch und Wirklich-
78 J e s u s Christus ist der gute Hirte der gesamten Herde des Vaters [ . . . ] Wir sind eingeladen, uns einzulassen auf das Bild von der einen Herde unter dem einen Hirten. W o das geschieht, da wird zweierlei möglich: Es kann das Vertrauen ins Unendliche wachsen, dass wir ganz und gar mit H a u t und Haaren geborgen sind bei Gott ,und wenn die Welt voll Wölfe war' [ . . . ] ' Die Sorge um uns und um das Unsere, um unsere Familie, unsere Kirche, unsere Kultur, verliert ihre vorherrschende Stellung. Wenn das Bild von Christus als dem guten Hirten der gesamten Herde in und unter uns wohnt, dann lässt sich andrerseits der Anspruch Gottes nicht mehr aus der Welt schaffen, allen Menschen auf der Erde Leben und Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen. An diesem Anspruch Gottes müssen die Handlungen oder Unterlassungen Einzelner sich messen lassen und genauso die politischen und sozialen Verhältnisse einer Gemeinschaft" (142). 79 „Und auch im neuen J a h r 2003 geht es um neu zu entdeckende, neu weiterzugebende Geschwisterlichkeit. Es gilt nach wie vor, Worte der Gnade zu finden f ü r die Menschen, die jede Perspektive und allen Lebenssinn meinen verloren zu haben. Es gilt nach wie vor, Worte der Gnade zu finden für die Traurigen, f ü r die Außenseiter, f ü r Junge und Alte. Es gilt nach wie vor, Worte der Gnade zu finden f ü r Fremde, für Kriminelle und Zerschlagene. Und, i(n)[m] Sinne Jesu verstanden, gehen diese Worte einher mit unserem Tun, mit unserem Engagement für die Menschen, die unsere Hilfe brauchen. Auch uns selbst gelten diese Worte der Gnade, wenn wir sie im neuen J a h r nötig haben. Sie werden uns zugesprochen von Menschen, die uns begegnen. Sie werden uns aufrichten, wenn wir nicht weiterwissen. Sie werden uns trösten, wenn wir traurig sind. Sie werden uns den Weg zeigen, wenn wir ohne Orientierung sind" (54). 80 „Warum wäscht Jesus den Seinen zum Abschied die Füße? Weil er ihnen noch einmal ganz deutlich machen will, sozusagen sie am eigenen Leib erfahren lassen möchte, was er wieder und wieder gesagt hat und was sie wohl nie ganz verstanden haben: ,Der G r ö ß t e unter euch soll sein wie der Jüngste, und der Vornehmste wie ein Diener.' Jesus stellt erneut und noch einmal in dieser Abschiedssituation die herrschenden Machtverhältnisse auf den Kopf. Die Ordnung des damaligen römischen Weltreiches, in der/es oben und unten gibt, Freie und Sklaven, Männer und Frauen, Reiche und Arme, Herrscher und Beherrschte, die gilt in der Gemeinschaft Jesu nicht mehr. Alle, die an Jesus glauben und ihm nachfolgen, sind eins in ihm, eines Leibes Glieder [ . . . ] ,Liebt euch untereinander, wie ich euch geliebt habe.' Das ist sein Vermächtnis. Diese Liebe, von der Jesus spricht und die er gelebt hat, die ist nicht leicht zu leben und nicht billig zu haben. Das ist kein Schmusekurs und keine ,Wir haben uns alle lieb'-Nettigkeit. Diese Liebe ist eine gewaltige Provokation, denn sie kehrt die herrschenden Machtverhältnisse um. In der Wirklichkeit dieser Liebe kann es nicht sein, dass wenige reich sind und viele vor Hunger sterben. In der Wirklichkeit dieser Liebe kann es nicht sein, dass einige mächtig sind und andere beherrscht werden [ . . . ] Es kann nicht sein, dass an der Börse viel verdient wird, aber in der Alten- und Krankenpflege wenig [ . . . ] Die Tradition der Fußwaschung hat sich in der Kirche nicht durchgesetzt. Wen wundert's? Nehmen wir die Provokation dieser Geschichte ernst. Wir erkennen, wie weit wir in vielem von dem entfernt sind, was Jesus gelebt hat - persönlich, in der Kirche und in der Gesellschaft. Aber wir können miteinander nach Wegen suchen, daran etwas zu ändern. Denn: , Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jüngerinnen und Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt', sagt Jesus" (120-122). 81 J e s u s sagt [ . . . ] : Es ist nicht gleichgültig, es gilt nicht gleich viel, ob Leben gemindert oder ob es gefördert wird. Es reicht oft nicht, sich selbst zu helfen, damit einem Gott hilft
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keit zu beobachten ist, ziehe ich zugleich die auch von der concregatio sanctorum et vere credentium dogmatisch geltend zu machende Rede von der Gemeinschaft der Sünderinnen und Sünder ein und verweise auf die Bedeutung des simul für die Rede von der Kirche. Die Kirche wird bis zum Ende der Tage Jesu Vorhalt an die Jünger angesichts ihres Unverständnisses hören: „O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen?" (Mk 9,19), um mit dem Vater des Geheilten zu schreien: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!" (Mk 9,24). Weniger noch jedoch als dem Anspruch, den Nächsten zu lieben, scheint die Kirche dem Anspruch der Gottesliebe zu entsprechen.82 Dadurch, dass die Identität von Gottes- und Nächstenliebe geltend gemacht wird, scheint die Frage nach der Gottesliebe prima vista entschärft zu sein; sie bleibt gleichwohl als Frage bestehen.83 In Korrespondenz zu dem aus der Heilungsgeschichte zitierten Vorhalt Jesu höre ich in den durchgesehenen Predigten die Predigt des Christus praesens. Der heilt als Verwundeter, stört gewaltlos die Mächte und befreit aus Gefangenschaft.84 In seinem Wort erfahren wir, wer wir in ihm jetzt [...] Naheliegend ist es schon, die Gedanken der Gleichgültigkeit zu denken [...] Jesus kennt diese Haltung: auf Distanz zu bleiben [...] Und er charakterisiert diese Haltung. Von Menschen, die sich so verhalten, sagt er: ,Sie sind Mietlinge.' Sie retten ihre eigene Haut. Sie bringen ihr Schäfchen ins Trockene [...] Mietlinge merken [...] nicht, dass sie ihr eigenes wesentliches Leben verlieren, wenn sie allein aus Angst um ihr animalisches Leben handeln. Dagegen würden sie Wesentliches gewinnen, wenn sie eigene Gefährdungen riskieren" (140). 82 „Wir haben als Kirche und als Gemeinschaft von Christen das zweite Gebot gut verstanden und internalisiert: , Liebe deinen Nächsten wie dich selbst'. Darüber wird viel geredet und vieles getan, um dieses Gebot zu verwirklichen. Aber wie ernst nehmen wir das Gebot, das Jesus diesem voranstellt. Das Gebot, Gott zu lieben, unsere Leidenschaft für ihn zu spüren und sie zu zeigen. Das Gebot also, das das erste unseres Lebens sein soll?" (246). 83 „Was muss ich tun, so fragt Herr Ρ aus Jericho oder Jerusalem oder meinetwegen auch aus Düsseldorf oder Dresden, dass ich ein erfülltes, beständiges Leben bekomme, ein Leben, zu dem Gott am Ende mal Ja sagen wird? [...] Gott, den wir nicht sehen, nicht anfassen, nicht besuchen können, der uns allenfalls aus den Buchstaben der Bibel anspricht, der uns oft so erschreckend weit weg zu sein scheint, wie machen wir das: Gott lieben? [...] Gott lieben heißt nämlich: seinen Nächsten, seine Nächste lieben. Gott, den man nicht sieht, liebt/man in seinen Nächsten, die man sieht? [...] Herr Ρ fragte: Wer ist das: Mein Nächster? Jesus fragt ihn und uns mit seiner Geschichte: Wem bist du der Nächste?" (223-226). 84 „Verwundbar und verletzbar [...] wird er über die Erde gehen: ohne Gewalt und Macht! Aber gerade so wird er den Mächtigen widerstehen. Nein, es wird nicht so sein, dass die Mächtigen über diesen Menschen herrschen. Er wird es vielmehr sein, der ihre Macht in Frage stellt, der ihre Machtspiele aufdeckt und stört. Er wird es sein, der ihrer Macht, die den Einzelnen nicht achtet, eine andere Macht entgegensetzt: die Macht der Liebe, die den Einzelnen wahrnimmt und respektiert; eine Macht der Liebe, die selber verletzbar wird, ein verletzbarer Mensch. Ja, das ist die Weihnachtsbotschaft: Gott wird ein verletzbarer Mensch, der die Gewalt zurückweist" (32) [...] „So wird es sein: Da geht einer über die Erde ohne Gewalt. Er geht auf die Menschen zu ohne Angst. Er holt sie aus den Verkrustungen heraus, in denen sie gefangen sind. Er macht frei, er heilt, richtet
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schon sind.85 Er predigt handelnd durch konkret bezeichnete Hilfe86 und eröffnet durch Tätigkeiten, die nahezu umfassend das Spektrum der klassischen Diakonie beschreiben, die Geschichte der Befreiung.87 Leibhaftig helfend heilt er Mängel, die, ebenfalls zu den diakonischen Arbeitsfeldern gehörend, über die materiellen und psychischen Bedürfnisse hinausgehen.88 Auf Jesu Predigt hörend, erschließt sich der Zusammenhang von leiblichen und seelischen Erkrankungen neu, indem Vergebung zugesprochen und Sünde als vergebene Sünde erkennbar wird.89 auf, wo jemand gebeugt ist; er holt in die Gemeinschaft herein, was ausgeschlossen ist. Er öffnet einen weiten Horizont: Er zeigt, dass geteiltes Leben mehr ist als ein Leben, das nur um sich selber kreist" (34). 85 „Die Bergpredigt formuliert kein ,Ihr sollt, sondern ein ,Selig seid ihr'. Die Seligpreisungen sind erst einmal Zuspruch [ . . . ] Mit den Seligpreisungen werden Menschen beglückwünscht zu etwas, was sie bereits sind [ . . . ] Jesus war keiner, der Armut als seligmachend empfand, der Armut glorifizierte, verharmloste, idealisierte. Das ist eher unsere Tendenz [ . . . ] Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament gibt es keine Ausrichtung gegen Wohlstand. Materielle Armut wird nicht generell als etwas Gutes beschrieben. In der Bergpredigt geht es speziell um geistliche Armut [ . . . ] Geistlich arm ist im Verständnis der damaligen Zeit derjenige, der ohne alle irdische Hilfsmittel dasteht und ausschließlich auf Gott vertraut Geisdich arm sind also demütige und hilflose Menschen. Jesu Aussage würde also bedeuten: Selig, wer sich seiner völligen Hilflosigkeit bewusst ist und in allem Gott vertraut [ . . . ] Jesus hat weniger Anspruch erhoben, als Zuspruch gegeben. Seine Botschaft: Gott liebt uns; wir sollen heil sein, die Gnade Gottes ruht auf uns" (252-254). 86 J e s u s nimmt so - mit seinen Fingern - Kontakt, Verbindung, eine Beziehung zu dem Beziehungslosen auf [ . . . ] Nicht irgendwie und irgendwo, sondern an den kritischen Stellen: am O h r des Tauben, an Mund, Lippen und Zunge des Sprachlosen" (220). 87 J e s u Predigt ist sein Handeln. Er macht Gott bekannt, indem er Menschen sättigt. Er lehrt Nächs-/tenliebe, indem er sie praktiziert Er tröstet Menschen, indem er ihnen hilft. E r bringt neue Geschwisterlichkeit ins Spiel, indem er bei den Reichen die Bedürfnisse der Armen einklagt, bei den Etablierten die Rechte der Außenseiter einfordert und bei den Frommen seiner Zeit die Würde jedes Menschen postuliert [ . . . ] Weil Jesus im Tempel dieses große Befreiungsthema aufgreift, darum ist seine Predigt revolutionär: Er fordert nicht nur die Solidarität untereinander, die Wahrung der Menschenwürde und die Einführung gleicher sozialer Chancen für alle, sondern er behauptet vielmehr: Ich bin gekommen, von Gott gesandt worden, damit diese Zusage erfüllt wird. Die Armen sollen aufatmen können, die Gefangenen frei werden, die Blinden wieder sehen können und die Zerschlagenen von ihren Sorgen frei werden [ . . . ] Damit hat die Geschichte einer Befreiung begonnen, die noch nicht beendet ist" (52f). 88 „Es gibt einen Mangel, der nach außen nicht sichtbar ist, der das H e r z umklammert und an der Seele frisst. Es gibt einen unsichtbaren Hunger, der im Verborgenen wächst, einen Hunger nach Anerkennung, nach Geborgenheit, nach Frieden, nach Gerechtigkeit [ . . . ] Jesus weiß, was fehlt. Er weiß, worauf es hier ankommt. Er dankt und teilt aus[,] und niemand kommt zu kurz. Vielleicht ist das der größte Hunger, die größte Angst die, zu kurz zu kommen, im Beruf, im Freundeskreis, im Leben [ . . . ] . Das ist das erste große Wunder, dass Jesus den Hunger stillt, dass er das Leben in seiner Fülle schenkt, ohne Hast, ohne Angst zu kurz zu kommen, dass er satt werden lässt" (S. 200) [ . . . ] „Wer von Jesus beschenkt worden ist, der kann nicht einfach sein H e r z und seine Tasche verschließen. Das geht nicht. Der teilt selbst aus und sammelt und gibt weiter. So ist die erste Brockensammlung ein voller Erfolg" (202). 89 „Habe ich Gott gedankt? Eingesperrt in mein Krankenzimmer entdecke ich, dass ich
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Die Unterscheidung von Heil und Heilung wird überflüssig, über der Heilung wird im Lob Gottes das künftige Heil präsent.90 Gleichwohl
eines seiner großen Geschenke, die Gesundheit, gar nicht recht erkannt habe. Ich bin gedankenlos gesund gewesen und hätte Bäume ausreißen können, aber in mir war etwas in Unordnung geraten, denn ich habe vergessen, dass Gesundheit nicht der Normalfall, sondern genau genommen der Ausnahmefall ist. Ich hatte die Wahrheit verfehlt, ich hatte gesündigt. Denn Sünde ist nicht in erster Linie eine einzelne Verfehlung, sondern eine falsche Grundeinstellung: Ich habe mich von der Wahrheit getrennt und damit von Gott abgesondert [ . . . ] Im Evangelium dieses Sonntags ist es ein kranker Mensch, dem Vergebung geschenkt wird. Zwischen einer Krankheit und einer Unordnung in unserer Seele kann ein Zusammenhang bestehen. Ich sage ,kann', denn es gibt auch Krankheiten, die nicht auf seelische Ursachen zurückgeführt werden können. Unter dieser Einschränkung weise ich auf eine Erkenntnis hin, die heute von vielen Ärzten vertreten wird: Leidet ein Mensch an seelischen Konflikten, liegt er ständig mit sich selber oder mit anderen im Streit, ist er sich seiner Schuld bewusst, überträgt sich in vielen Fällen der innere Unfriede auf die körperlichen Funktionenf,] und es kommt zu der berühmten ,Flucht in die Krankheit'. Das ist ein unbewusster Versuch, sich selbst zu helfen. Es ist besser, an einer Grippe zu erkranken als einen Nervenzusammenbruch zu erleiden. Andererseits: So manche Flucht in die Krankheit wäre nicht nötig, wenn unsere innere Unordnung, Neid, Hass, Ehrgeiz, Undankbarkeit und andere Laster ausgeräumt würden. Dass wir es aber aus eigener Kraft nicht können, weiß jeder, der es versucht hat. Helfen kann nur Christus, er ganz allein. Das ist keine theoretische Feststellung. Wer will, kann - das wäre eine sinnvolle Meditation - das Wort Jesu auf sich selbst beziehen und sagen: ,Ich selbst bin gemeint, wenn er sagt: Deine Sünden sind dir vergeben. Deshalb mache ich das Bibelwort der neuen Woche zu meinem Gebet: Heile du mich, Herr, so werde ich heil; hilf mir, so ist mir geholfen.' [ . . . ] Seit die psychosomatischen, die leib-seelischen Zusammenhänge im Ablauf unsere Lebens bekannt sind, ist es durchaus begreiflich, dass ein Mensch, der sündigt, das heißt, seinem ganzen Leben eine falsche Richtung gegeben hat, körperlich erkrankt. Schon Jesus Sirach scheint das beobachtet zu haben; deshalb sagt er: ,Wer vor seinem Schöpfer sündigt, der müsse dem Arzt in die H ä n d e kommen!'" (248-250). 90 „Das Wunder geschieht: ,Alsbald taten sich die Ohren auf[,] und das lähmende Band seiner Zunge löste sich. Und er redete recht.' Gerade das letzte Sätzchen kann einen nachdenklich machen: ,Er redete recht, er redete richtig.' Was das wohl heißen mag: ,recht reden'? Doch sicher mehr, als dass der vormals Taubstumme jetzt ,korrekt' spricht, die Lippen-, Zungen- und Rachenlaute so bildet, dass jede Logopädin mit ihm zufrieden sein muss. Und sicher ist mehr gemeint, als dass Grammatik, Satzbau und Logik stimmen. Wann kann man von unserem Reden sagen, es sei ,recht'? Die Geschichte von Jesus und dem Mann aus Dekapolis ist jedenfalls zum Ziel gekommen. - Aber noch nicht die Kommunikationsgeschichte mit den anderen Leuten, die am Anfang erwähnt wurden. Auch da gibt es wieder mehrere Überraschungen! Jesus, der dem Stummen den Mund öffnete, scheint den Zeugen des Geschehens den Mund verbieten und verschließen zu wollen: Jesus gebot ihnen, sie sollten niemand etwas sagen.' Auch sie werden jetzt - wie vorher der Taubstumme - ,beiseite' genommen. Das Geheimnis seiner Sendung, seiner Messianität, soll noch nicht aufgedeckt sein. - U n d dennoch reden sie. Was sie mit eigenen Augen gesehen und erlebt haben, lässt sie staunen. ,Sie wunderten sich über die Maßen' - wie das immer sein wird, wenn man ein Stück von Gottes Heil miterlebt. Ihr Staunen mündet in ein Christusbekenntnis: ,Er hat alles wohl gemacht. Die Tauben macht er hören und die Sprachlosen reden.' - Gott sei Dank diskutieren die Zuschauer nicht geschwätzig darüber, wie solch eine Heilung technisch und kunstgerecht durchzuführen ist [ . . . ] Statt dessen das Angemessene: ein Bekenntnis. Vielleicht ist das das ,rechte Reden', von dem der Evangelist sprach: ein Bekenntnis? Es nimmt die Worte des Propheten Jesaja auf, in denen Gottes zukünftiges Heil, die Heilszeit auf wunderbare Weise besungen wird" (221f.).
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drohen Heil und Heilung auseinander zu fallen, wenn nicht das heilende Wort die Lebenszusammenhänge der Sünder heilsam unterbricht, statt dessen helfendes Handeln lediglich angenommen wird als Wiederherstellung ursprünglicher Zustände, während der Glaube fehlt.91 Die oben als notwendig geltend gemachte, in der lebendigen Dynamik des verkündigten Wortes Gottes sich zu vollziehende rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist durchgehend eingehalten.92 Es wird
91 „Die Aussätzigen sind hier repräsentativ für das Elend und die Heillosigkeit der Menschen überhaupt. An ihnen wird sichtbar, wie schlimm Menschen oft dran sind; wie kaputt menschliches Leben sein kann - in vielerlei Hinsicht: physisch, psychisch, sozial. Sie repräsentieren Menschen, die beiseite gedrängt, gemieden und bewusst übersehen werden; die seelisch und leiblich zerstört sind; deren Existenz man keinen Wert zumisst. Angesichts solcher N o t k a n n / m a n - und diese Menschen selbst - nur noch seufzend fragen: Soll das noch Leben sein, menschliches Leben - so kaputt, zerstört? Wir sehen solche Menschen in unserer Zeit in den Elendsgestalten der Notstandsgebiete der Erde. Sie begegnen uns in den - durch eigene oder fremde Schuld - Obdachlosen unserer Wohlstandsgesellschaft, in Suchtkranken, Haftentlassenen, am Leben Gescheiterten. Um wie viele machen wir einen Bogen?! Wie oft verschließen wir uns dem, was andere - oft ganz in unserer Nähe, neben uns - umtreibt?! Und sind wir nicht oft auch verschlossen, wenn wir von einer N o t im eigenen Leben betroffen sind?! In uns selbst verschlossen und nicht offen f ü r den, der helfen kann; zu dem wir rufen dürfen: Kyrie eleison - Herr, erbarme dich! [ . . . ] Indem Jesus die zehn Aussätzigen an die Priester weist, nimmt er ihren Hilferuf an. Sie sollen alle heil werden - an Leib und Seele. Sie sollen alle zehn leben dürfen als Gottes frohe Geschöpfe, befreit zum Lob in der Gemeinschaft derer, die ihn ehren. Hilfe zielt auf das Heilwerden aller zehn. Aber nur bei einem kommt sie zum Ziel. N u r bei einem geht sie unter die Haut. Er hatte nicht nur eine heile H a u t geschenkt bekommen, sondern ein neues H e r z , ein neues Leben. Darum war er eben nicht nur froh: das waren die anderen neun gewiss auch: froh im wahrsten Sinne des Wortes - , mit .heiler Haut' davongekommen zu sein. Sondern er, dieser eine, kehrt um; er will Gott danken [ . . . ] Die Umkehr ist die Wende seines Lebens. Hier wendet sich einer weg von/seinem eigenen Weg. Er belässt es nicht bei einem - wohl ehrlichen, aber letztlich doch unverbindlichen - , Danke schön'. Sicher haben die andern, die neun, auch gemeint, bei ihnen finge nun ein neues Leben an. Und gewiss: Es war auch neu. Als Gesunde in die Gemeinschaft der Menschen zurückzukehren, wieder Kontakt mit ihnen zu haben; wieder ein Zuhause zu finden - das war schon ein neues Leben. Aber bei Lichte besehen ist es doch das alte Leben. Gesund sind sie - alle zehn; aber nur der eine ist heil. Dem wurden nicht nur H a u t und Glieder wieder in Ordnung gebracht, sondern der ganze Mensch [ . . . ] Der letzte Satz dieser Geschichte sagt es deutlich, was mit dem einen neu geworden ist: ,Steh auf! Gehe hin! Dein Glaube hat dir geholfen.' Nun hat nicht mehr das eigene Ich in seinem Leben das Kommando. Mit diesem ,Stehe auf! Gehe hin!' hat ein anderer, hat Jesus, die Leitung seines Lebens übernommen" (228-230). 92 „Die Bergpredigt formuliert kein ,Ihr sollt', sondern ein ,Selig seid ihr'. Die Seligpreisungen sind erst einmal Zuspruch [ . . . ] Mit den Seligpreisungen werden Menschen beglückwünscht zu etwas, was sie bereits sind" (252). - „Wer immer sich d a f ü r entscheidet, pflegerischen Einsatz auf andere zu übertragen, ist vielen Vorwürfen ausgesetzt: ,Du als Christ, du musst doch da sein für andere, f ü r dein behindertes Kind, f ü r deinen im Koma liegenden Ehepartner, für deinen gebrechlichen Vater. Du musst dich f ü r den anderen einsetzen. Nächstenliebe ist doch deine Pflicht. Das steht so in der Bibel. Jesus hat schon gesagt: ,Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir.' Sich verleugnen, das heißt, sich selbst nicht mehr kennen. Du darfst nicht an dich denken, an die Verwirklichung deiner Wünsche und Träume.' H a t Jesus das
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deutlich, dass helfendes Handeln nicht der Selbstrechtfertigung dienen kann. 93 Wie die iustificatio impii sola gratia widerfährt, so bleibt Gottes schöpferisches, heilendes, helfendes, tröstendes Handeln an ihn als Subjekt gebunden. 94 Seiner bedarf der Mensch, um leben, handeln und Gutes tun zu können. 95 Jesus Christus behebt Mängel, die über die selbsterkannten Defi-
so gemeint, wenn er sagt: ,Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein'? Hat er uns die christliche Pistole auf die Brust gesetzt: Du musst, auch wenn du nicht willst? [...] Wir sollten uns von diesem Missverständnis der Worte Jesu freimachen. Jesus hat nie von einem Menschen mehr verlangt, als der zu leisten imstande ist. Das Wort vom Dienen ist eingebettet in Jesu Leidensankündigung, in die Voraussage seines Sterbens. Deshalb ist das Wort vom Dienen zunächst ein deutliches Zeichen gegen alle, die den Sinn des Lebens darin sehen, dem Leid auszuweichen, dem Leben nur das Beste abzugewinnen und nur an sich zu denken, ohne einen Blick auf die anderen Menschen zu verschwenden. Aber man darf auch an sich selbst denken. Denn Dienen meint nicht die Aufgabe der eigenen Lebensmöglichkeiten, sondern eine Haltung, nach besten Kräften mitzuhelfen, auch anderen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen" (114). 93 „Wohl immer wird es in unserer Gemeinschaft, wenn sie eine Gemeinschaft von Menschen mit Verantwortung füreinander sein will, nötig sein, dass wir es lernen, nicht selbstgerecht, sondern bereit zur Verantwortung für die Rechte aller nach dem Maße unserer Kräfte und Möglichkeiten zu leben" (214). - „Bei Gott gelten andere Regeln. Die Geschichte erzählt den Selbstgerechten von einem Maßstab, der ihren Horizont um einiges übersteigt. Jesus frustriert mit dieser Geschichte die vermeintlich Gerechten [ . . . ] Wozu all die Mühe mit dem richtigen Lebenswandel? Wozu all der Aufwand mit den Spenden und dem Einhalten der Regeln? Heute nennt man das, was er hier betreibt, Demotivation. Er demoti-/viert die Gerechten. Er nimmt ihre Motivation, ihren Antrieb für frommes und, wie sie meinen, für ein richtiges Handeln [...] Warum sollte ich mir dann überhaupt noch Mühe geben? Vielleicht ist das die eigentliche Frage, die uns hier gestellt wird: Was ist unsere Motivation für unser Handeln? Warum geben wir uns Mühe mit unserem Leben? Diese Frage ist umfassend, und ich schlage vor, wir nehmen sie mit in die kommende Woche. Vielleicht gibt es die eine oder andere Gelegenheit, allein oder im Gespräch, dieser Frage nachzugehen: Warum lebe ich mein Leben so, wie ich es tue? Was treibt mich? Was ist meine Motivation?" (217f). 94 „Nach christlichem Verständnis war er schon immer dabei, der schöpferische, heilende, helfende und tröstende Geist [...] als Kraft des ewigen Gottes, die Leben schafft, Menschen bewegt und Leben heilsam begleitet [...] Dieser Geist ist [...] klar und eindeutig in seiner Gestalt. Er ist der Geist der Gerechtigkeit, der den Bedrängten beisteht, der Geist des Friedens, so dass Entscheidendes nicht,durch Heer oder Kraft' geschieht [...] In Jesus Christus geht Gottes Geist seiner helfenden und heilenden Profession nach. Nicht für die Gesunden, sondern für die Kranken ist er da. Er tröstet die Verzagten, vergibt den schuldig Gewordenen, ermöglicht Umkehr und Neuanfang, heilt Kranke und Behinderte, erweckt von den Toten. Jesus Christus ist der heilende Helfer menschlichen Lebens, der Paraklet [...] Der Geist Gottes braucht Menschen, die helfen, ihn unter die Leute zu bringen" (159f und 162). 95 „Es verhält sich mit dem Zusammenhang von Glaube und Tat anders: Ich weiß, daß ich oftmals zu träge bin, das Gute zu tun. Ich sehe nicht hin, ich will meine Ruhe haben, ich weiß manchmal auch nicht, wie ich es anfangen soll. Ich brauche immer wieder Ermutigung und Hilfe und Wegweisung, das Gute zu tun. Und darum brauche ich alle Gottesdienste und alles Gebet und alles Bibellesen. Nicht als Selbstzweck, nicht als gutes Werk, um es vor dem Weltenrichter vorweisen zu können. Schon gar nicht, um es vor dem Nichtchristen als meinen Vorteil und Verdienst hervorzuheben. Aber als Hilfe zum Leben
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zite hinausgehen.96 Das helfende Handeln der Menschen ist eingebunden in das rettende Werk Jesu Christi, welches Tätern und Opfern in gleicher Weise gilt.97 Weil die Gabe nicht vom Geber zu trennen ist, wird von Christus gesagt, dass er die Glaubenden, ihnen teilgebend an seiner Macht, in die Handlungs- wie in die Schicksalsgemeinschaft mit ihm einbezieht.98 Das Dienen schließt Leid, Schmerz, Missverstehen sowie Demütigung ein und wird verstanden als Partizipation an Jesu Kreuz,99 welches gleichwohl zeigt, dass das Leiden nicht das letzte Wort hat, weshalb der Einschränkung eigenen Leids auf Kosten anderer zu widerraten ist.100
und Hilfe zum Tun des Guten brauche ich das alles. Brauche ich zum Beispiel diese Geschichte, damit ich erfahre, was wichtig ist für mich und mein Leben" (266). 96 „Es gibt einen Mangel, der nach außen nicht sichtbar ist, der das H e r z umklammert und an der Seele frisst. Es gibt einen unsichtbaren Hunger, der im Verborgenen wächst, einen Hunger nach Anerkennung, nach Geborgenheit, nach Frieden, nach Gerechtigkeit [ . . . ] Jesus weiß, was fehlt. Er weiß, worauf es hier ankommt. Er dankt und teilt aus[,] und niemand kommt zu kurz. Vielleicht ist das der größte Hunger, die größte Angst die, zu kurz zu kommen, im Beruf, im Freundeskreis, im Leben. [ . . . ] . Das ist das erste große Wunder, dass Jesus den Hunger stillt, dass er das Leben in seiner Fülle schenkt, ohne Hast, ohne Angst zu kurz zu kommen, dass er satt werden l ä s s t . / . . . Wer von Jesus beschenkt worden ist, der kann nicht einfach sein H e r z und seine Tasche verschließen. Das geht nicht. Der teilt selbst aus und sammelt und gibt weiter. So ist die erste Brockensammlung ein voller Erfolg" (200 und 202). 97 „Er [Jesus Christus] will die, die auf der Seite des Todes sind, herausziehen: die Gefolterten und die Peiniger, die Gehassten und die Hassenden, die Verfolgten und die Verfolger. Er will sie hinausführen zum Leben. Wo geliebt und verziehen wird, wo Wunden verbunden werden. W o das Evangelium gehört und ernst genommen wird. Wo um Frieden und die Einhaltung der Menschenrechte gerungen wird. Wo Feindschaft und Misstrauen im Großen wie im Kleinen überwunden werden. W o die Zerstörung der Schöpfung gestoppt wird und der Mensch Arbeit bekommt. W o Verzweifelte den Sinn ihres Lebens entdecken" (129). 98 „Klar, dass dieser Glaube nicht bloß ein Gedanke ist, sondern eine Macht, wie Johannes schreibt; und wie Matthäus berichtet: dass er seinen Schülern die Macht gibt, Kranke zu heilen, böse Geister auszutreiben, sogar Tote zu erwecken, aber auch die Macht, zu verzeihen, die Kraft, Armut und Hunger und Verachtung, Schmerzen und sogar den T o d zu ertragen. Ihr könnt mehr als ihr denkt, lehrt er. ,Ihr könnt die Werke auch tun, die ich tue und größere als die.' Denn ihr seid Gottes Kinder, die ganze Schöpfung ist euer, alle Dinge müssen euch zum Besten dienen. Seid nicht bange! Da merken wir schon: So viel trauen wir uns nicht zu, wir sind noch nicht so weit, da gibt es noch viel zu üben, zu ermutigen, zu lernen, damit wir uns nicht bloß Kinder Gottes nennen, sondern uns auch so verhalten. Unser Christenglaube will uns ja noch weiter bringen. Zwei Dinge allerdings sind gleich jetzt an der Reihe: Das Erste ist, dass wir barmherzig miteinander umgehen, einander helfen, Schuld vergeben, Frieden stiften. Das Zweite ist, dass wir unser Kreuz auf uns nehmen, wie er es getan hat, jeder das seine. Das kommt von selber, wir brauchen es nicht zu beschaffen" (42). 99 „Da ist die Rede vom Leiden, nämlich den Kelch trinken und mit Jesu Taufe getauft werden, also einzutauchen in Leid und Schmerz, in Missverstehen und Demütigungen, in alles, was man in dem Wort , Kreuz' zusammenfassen kann. Jesu Lebensentwurf ist genau entgegengesetzt zu den menschlichen Wünschen: nicht herrschen, sondern dienen" (113). 100 „Das Kreuz zeigt, dass Leiden und Schmerz nicht das letzte Wort behalten werden
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Ich fasse zusammen: Bei der Durchsicht von 66 Predigten ist das sie versammelnde Buch für mich zu einem Text geworden, welcher abgefasst ist unter dem im vorigen Abschnitt notierten Vorverständnis eines evangelischen Predigthörers, der hier die Wahrnehmung des Textes hinsichtlich seiner Aussagen zur Diakonie schärft und insofern, einen dem Text in seiner Intention neuen Akzent setzend, in den hermeneutischen Prozess eingreift, weil Aussagen zur Diakonie zu machen dem Text selbst nicht als Absicht unterstellt werden darf. Es ist offenkundig, dass die diesen Text lesend gehörte Predigt kein Interesse daran hat, der Gemeinde Erläuterungen zur Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche zu bieten, zumal von der Diakonie explizit nur einmal die Rede ist. Wenn gleichwohl der Text auf die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche hin befragt wird, geschieht dies, weil das gepredigte Wort Gottes als medium salutis einerseits die Kirche, deren Wesens- und Lebensäußerung die Diakonie ist, konstituiert und andererseits diese als „congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur", gilt. Wenn die Diakonie eine Wesens- und Lebensäußerung der Kirche ist, muss auch dieser Text sie als solche zur Sprache bringen. Das tut er, auf explizites Reden sowohl von der Diakonie als auch von der Kirche weitgehend verzichtend, auf verborgene Weise. Dass Menschen Menschen helfen, ist nach Aussage des Textes der Hilfe Gottes für die Menschen zu danken, die über jede menschliche Hilfe hinausgeht, diese zugleich begründet und ermöglicht. Durchgehend begegnet eine soteriologisch bestimmte Anthropologie, die in eschatologischer Spannung vor dem Horizont des zukünftigen, in Jesus Christus angebrochenen Reiches Gottes das Leben der Geschöpfe sola gratia als simul iusti et peccatores zur Sprache bringt und die Erfahrung von Heil und Heilung beieinander hält, und zwar so, dass helfendes Handeln als die Selbstrechtfertigung ausschließende Weitergabe empfangener Hilfe den Lebenszusammenhang des Sünders heilsam unterbricht und so zum Zeichen des angebrochenen Gottesreiches wird. Das sich Gott verdankende und ihm sowie den bedürftigen Menschen geschuldete helfende Handeln hat demnach seinen theologischen Ort in des Menschen Dankbarkeit. Helfendes Handeln ist Gabe wie Aufgabe zugleich sowohl des einzelnen Menschen wie der ganzen Gemeinde bzw. Kirche.101 Es muss als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche bezeichnet werden, weil es das Leben der Kirche, weil ihres Herrn, wesentlich ausmacht und nicht nur dazugehört. Insofern erinnert der Text die Gemeinde zu Recht an helfendes Handeln. Zugleich aber wird und dass Jesus die Menschen in ihrem Leiden und in ihrem Einsatz für Gerechtigkeit und/Liebe nicht allein lässt [ . . . ] Da dreht sich nicht länger alles um das eigene Wohlbefinden [ . . . ] Die eigenen Bedürfnisse nicht über alles andere zu stellen, das eigene Leben nicht auf Kosten anderer zu lieben, dazu fordert Jesus uns auf" (108-110). 101 Die Begriffe „Gemeinde" und „Kirche" sind im Text durchgehend synonym gebraucht.
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es außerhalb der communio sanctorum ebenfalls als Handeln Gottes bezeichnet, so dass von einer Diakonie außerhalb der Kirche zu reden Berechtigung besteht, die dann, es sei denn, die Kirche werde anders bestimmt, nicht als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche gilt. So führt der Text zum einen an, dass die Gemeinde auch auf außerhalb ihrer laut werdende Stimmen, die Gutes zu tun gebieten, hören soll, und lässt zum anderen gelten, dass Christenmenschen auch aus anderen Gründen denn der Dankbarkeit Gutes tun können. Aufgrund der vom Jüngsten Richter überraschend festgestellten, für das gegenwärtige Handeln bedeutend gemachten Identität von Gottes- und Nächstenliebe verliert die Rede von der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche den Anspruch auf Exklusivität. Zur Wahrnehmung helfenden Handelns - so ist zu hören - genügt ein offenes Auge; zur Wahrnehmung der Gegenwart Gottes im helfenden Handeln indessen bedarf es eines christlichen Verständnisses, welches mit dem Hören auf das Wort Gottes beginnt. Insofern entscheidet sich nach der Auffassung des Textes an der Art der Wahrnehmung helfenden Handelns sowie am Reden von ihm und nicht am Handeln selbst, weil dieses stets auch deutbares Handeln ist, ob es als Diakonie oder gar als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche zu gelten hat. Ich habe die Autorinnen und Autoren der durchgesehenen Predigten nicht nach ihren Verständnissen der Rede von der Diakonie als Wesensund Lebensäußerung der Kirche gefragt; wenn ich das getan hätte, hätte ich vermutlich differenzierte Antworten bekommen. Ich habe vielmehr danach gefragt, wie in Sonn- und Festtagspredigten die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche zur Geltung kommt, und zu diesem Zweck aus 66 Predigten einen neuen Text gemacht. Dieser Text gibt zu bedenken, dass die Kirche wohl die Diakonie, die Diakonie aber nicht die Kirche braucht, dass die Rede von der Diakonie als Wesensund Lebensäußerung der Kirche axiomatisch wohl für die Kirche, nicht aber für die Diakonie gilt, und zeigt an, dass sie in den Sonn- und Festtagspredigten wohl inhaltlich ausgeführt, nicht aber als Axiom zur Sprache gebracht wird. Für den Satz, dass die Kirche wohl die Diakonie, die Diakonie indessen nicht die Kirche brauche, liefert der Text die Herkunftsbegründung; die Sachbegründung für den Satz ist nach seiner Aussage Gott. 2.2.1.2.2 Die Predigt aus der Diakonie Nachdem Sonn- und Festtagspredigten für Ortsgemeinden aus dem ganzen Kirchenjahr umfassend Aufschluss über das helfende Handeln gegeben haben, ohne den Terminus von der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche zu bedienen, werden nun Predigten, die zu diakonischen Anlässen in zu diesen Anlässen zusammengetretenen Ge69
meinden gehalten wurden,102 auf unsere Fragestellung hin untersucht. Ich behandle im Folgenden in einem Band versammelte „Predigten aus der rheinischen Diakonie"103. Ihr Herausgeber lässt mit ihnen „Prediger, die in der rheinischen Diakonie arbeiten oder mit ihr besonders verbunden sind"104, den Direktor des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche im Rheinland zu seinem sechzigsten Geburtstag grüßen. Dieser „hat sich für die Verkündigung des Wortes Gottes in guter und verständlicher Sprache immer besonders eingesetzt [ . . . ] Für ihn gehört es zur Diakonie, daß Menschen Gottes Wort verstehen können. Darüber hinaus ist es ihm wichtig, daß Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie, die in verschiedenen Fachgebieten arbeiten, sich untereinander verständigen können."105 Zur Wahrnehmung dieses Bandes und seiner Inhalte bieten sich zunächst drei Weisen an, nämlich die, sie als Geburtstagsgeschenk des empfangenden Jubilars, sodann die, sie mit den Ohren der die Predigten hörenden Gemeinden und schließlich die, sie als die das Buch im Handel Kaufenden wahrzunehmen. Zum einen liegt hier ein Geburtstagsgeschenk für den Direktor eines landeskirchlichen Diakonischen Werkes vor. Es besteht aus Predigten, die für den Jubilar gesammelt, nicht aber für ihn geschrieben und gehalten wurden; die Gabe des Predigtbandes ist unmittelbar, die der Predigten ist mittelbar. Nachdem der Herausgeber einleitend feststellt: „In der Diakonie der Evangelischen Kirche im Rheinland wird geholfen, gepflegt, geheilt, beraten, begleitet, getröstet. Und es wird gepredigt Sonntag für Sonntag und an vielen Werktagen"106, erstellt er als Geburtstagsgeschenk einen Predigtband. Es hätte ζ. B. auch eine Zusammenstellung von Hilfeangeboten der Diakonie, von Fortbildungsprospekten, von Personalplanungskonzeptionen, eine Sammlung von Haushaltsplänen bzw. Bilanzen, von Pflegedokumentationen, von Protokollen über Pflegesatzverhandlungen sein können oder gar eine Anthologie von Dienstanweisungen und Abmahnungen; die prägen gleichfalls die Alltage der Diakonie. Nun ist es ein Predigtband geworden. Das mag darin begründet sein, dass die Verstehbarkeit des Wortes Gottes und die Verständigung der Mitarbeitenden für den Jubilar zur Diakonie gehören, oder darin, dass der Herausgeber dem Wort und der Tat gegenseitig eine
102 Vgl. dazu die in dem in der folgenden Fußnote angegebenen Band über jeder Predigt stehenden Angaben und dort 8. 103 Fröhlich, Wolfram (Hg.): Mit Wort und Tat. Predigten aus der rheinischen Diakonie. Karl-Wilhelm Gattwinkel, Kirchenrat, Direktor des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche im Rheinland, gewidmet zum 60. Geburtstag, Düsseldorf 1988. - Die beiden in dem Band enthaltenen auf der Landessynode der EKiR gehaltenen Bibelarbeiten werden hier, weil sie keine Predigten sind, nicht berücksichtigt 104 Bei ihnen handelt es sich, für die Arbeit der Diakonie untypisch, ausschließlich um Männer. 105 Fröhlich, Wolfram: Vorwort, in: Ders.: Mit Wort und Tat, 7. 106 Ebd.
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hermeneutische Funktion zuweist,107 oder darin, dass beide, die Predigt wie die Diakonie, als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche gelten. Es tritt hier zum einen die rheinische Diakonie an die Öffentlichkeit mit einem Geburtstagsgeschenk für ihren Direktor, welches bekundet, dass in der rheinischen Diakonie gepredigt wird. Zum anderen liegen hier Predigten vor, die bereits vor ihrer Sammlung gemeinsam hatten, dass sie von Männern gehalten wurden, „die in der rheinischen Diakonie arbeiten oder mit ihr besonders verbunden sind"108. Wie in der Intention des Bandes, so ist zugleich in dieser Gemeinsamkeit die Auswahl für meine Untersuchung begründet, weil diese erwarten lässt, dass die Predigten weitere Aufschlüsse über die Diakonie geben. Die Predigten beziehen sich auf verschiedene Bibeltexte, deren Auswahlkriterien nicht erkennbar sind; sie haben bei der oben genannten Gemeinsamkeit gleichwohl verschiedene Kontexte. Diese weisen wiederum eine weitere Gemeinsamkeit auf, und zwar hinsichtlich der sie hörenden Personen: Das jeweilige Spektrum der Gottesdienst feiernden Gemeinde reicht von der Ruhestandsdiakonisse bis zum staatlich geprüften Sozialpädagogen ohne kirchliche Zusatzausbildung. Zum anderen also sind hier Einzelbeiträge versammelt, die jeder für sich erkennen lassen, was wie zu einer gemischten Adressatengruppe über die Diakonie gesagt wird. Schließlich handelt es sich um ein im Handel zu erwerbendes Buch, welches der Öffentlichkeit die rheinische Diakonie „mit Wort und Tat" vorstellt. Wenngleich die Predigten im Einzelnen sowie ihre jeweiligen Uberschriften und die Angaben zu den Autoren unterschiedlich präzise Rückschlüsse auf ihre Kontexte zulassen, werden diese Daten im Folgenden nicht berücksichtigt. Wie im vorigen Abschnitt interessiert mich auch hier allein das, was ich jetzt höre. Und ich höre, indem ich lese und was ich lese. Wie oben lese ich hier die einzelnen Texte als den einen Text eines Buches und unterscheide nicht zwischen den verschiedenen Wahrnehmungsebenen und den drei Adressaten, welche vorher nach der Reihenfolge der Wahrnehmung, nicht nach der Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte des Bandes vorgeführt wurden. Ich praktiziere eine weitere Wahrnehmungsweise, indem ich mich in den hermeneutischen Prozess wiederum mit der Suche nach Aussagen über die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche hinein begebe. Die Beobachtungen hierzu werden den weiteren Weg der Untersuchung bestimmen. In fünf der 18 durchgesehenen Predigten aus der rheinischen Diakonie kommen das Wort „Diakonie" und seine Derivate nicht vor.109 Die Rede von der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung begegnet nie, allein 107 „Wort und Tat gehören in der Diakonie untrennbar zusammen. Das Wort gehört zur Tat, damit die Tat unverwechselbar als Zeugnis der Liebe Jesu Christi zu erkennen ist. Die Tat gehört zum Wort, damit das Wort glaubwürdig ist" (Ebd.). 108 Ebd. 109 9-11, 27-31, 77-79, 85-88, 101-106.
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einmal ist die Diakonie als Lebensäußerung der Kirche, ohne welche die Kirche nicht Kirche sei,110 bezeugt. An dieser für unsere Frage hervorragenden Stelle findet der Einstieg in den Text des Bandes statt. Hier wird die Diakonie streng von der Sozialarbeit unterschieden,111 indem sie gegenüber jener, die allein Ausdruck geschuldeter Verantwortung und Solidarität einer humanen Gesellschaft gegenüber ihren Gliedern ist, ein Zusätzliches, ein Weiteres aufzuweisen hat, welches mangelndes Genügen kompensieren soll. Dieses Zusätzliche, Weitere sind „die Kraft und der Auftrag des Evangeliums", die die diakonische Arbeit erst zur diakonischen Arbeit und die Diakonie selbst zum gelebten Evangelium machen. Die Kraft widerfährt als Geschenk;112 dessen Gabecharakter wird hier jedoch eingeschränkt durch die Bedingung des Bekenntnisses.113 Drei Vorgaben für die Bestimmung der Diakonie als Lebensäußerung der Kirche nehme ich hier wahr. Erstens: Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie eine diakonische Kirche ist. Zweitens: Die Diakonie ist nur Diakonie, wenn zum Auffangen gesellschaftlicher Missstände und zum Beitrag zum inneren Frieden eines Gemeinwesens als Aufgaben allgemeiner Sozialarbeit hinaus die Kraft und der 110 „Sie [die Diakonie] ist nicht staatliche Auftragsarbeit in kirchlicher Trägerschaft, sondern Lebensäußerung der Kirche selbst; denn Kirche ist entweder diakonische Kirche oder überhaupt/nicht Kirche. Und darum kann diakonische Arbeit nur dann wirklich diakonische Arbeit sein, wenn sie aus der Kraft und aus dem Auftrag des Evangeliums geschieht, wenn sie selbst gelebtes Evangelium ist" (89f). 111 „Darin unterscheidet sich Diakonie doch von allgemeiner Sozialarbeit, daß es ihr nicht genug sein kann, gesellschaftliche Mißstände aufzufangen und so zum inneren Frieden eines Gemeinwesens beizutragen. Ja, es genügt ihr nicht, gestrandete und belastete Menschen wieder in die Gesellschaft eingliedern zu helfen. Das alles sind wichtige Aufgaben, die ein moderner Sozialstaat nicht ungestraft vernachlässigt; hoch achtenswerte Dienste an denen, die auf die Schattenseite des Lebens geraten sind, mögen sie durch eigene Schuld in N o t geraten sein oder durch Umstände, die sie selbst nicht zu verantworten haben. Dennoch bleibt Sozialarbeit, was sie ist und was sie sein soll: ein Ausdruck der Verantwortung und Solidarität, die eine humane Gesellschaft ihren Gliedern schuldet. Aber Diakonie ist ihrem Wesen nach etwas anderes" (89). 112 „Eine Kraft, die stark genug ist, mir andere Menschen aufzuladen und ihnen Gefährte und Helfer zu sein. Hier ist der Punkt, an dem empfangene Liebe umschlägt in dienende Liebe. Nirgendwo sonst ist der Geburtsort der Diakonie. Denn Diakonie ist nichts anderes als die Weitergabe dessen, was ich selbst empfangen habe. Sie ist Verkündigung der Liebe Gottes mit anderen Mitteln [ . . . ] Darum ist Diakonie auch keine Überforderung menschlicher Möglichkeiten. Sie lebt überhaupt nicht aus dem, was ich zustande bringe [ . . . ] Damit weitet sich der Auftrag der Diakonie aber aus einer bloßen Nothilfe zur wahren Lebenshilfe, zum glaubhaften und erlebbaren Zeugnis von/dem, der sich durch mich an die Menschen wendet, die er sucht und retten will" (92f). 113 „"Wohin sollen wir gehen! Du hast Worte des ewigen Lebens, und wir haben geglaubt und erkannt, d a ß du bist der Heilige Gottes." Wer zu Jesus kommt, der muß dieses Bekenntnis sagen. Dem hat der Vater selbst das H e r z aufgetan [ . . . ] „Wer so [!] zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen. Den hat der Vater mir selbst gegeben. Er ist mein geliebtes Eigentum." [ . . . ] „Und jetzt, aber wirklich erst jetzt, gilt das andere: Wer so zu Jesus gekommen und wer bei ihm geblieben ist, der ist nicht mehr er selber. Er ist ein neuer Mensch geworden, ein Glied am Leibe C h r i s t i . / [ . . . ] Was für eine Kraft strömt hier in mein Leben!" (91f).
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Auftrag des Evangeliums hinzukommen und die Diakonie sich „aus einer bloßen Nothilfe zur wahren Lebenshilfe, zum glaubhaften und erlebbaren Zeugnis von/dem, der sich durch mich an die Menschen wendet, die er sucht und retten will", ausweitet.114 Damit bekommt das Individuum eine Schlüsselrolle für die Geltung der Diakonie als Lebensäußerung der Kirche. Drittens: Das Geschenk der Kraft zum helfenden Handeln ist an das wiederum vom Geber der Kraft ermöglichte Bekenntnis des die Kraft Empfangenden zu ihm gebunden: „Wer zu Jesus kommt, der muß dieses Bekenntnis sagen. Dem hat der Vater selbst das Herz aufgetan."115 Damit ist darauf abgestellt, dass die Kraft zur Diakonie, welche „Verkündigung des Evangeliums mit anderen Mitteln"116 ist, aus der - nicht näher kenntlich gemachten - Begegnung mit Jesus resultiert und an das Bekenntnis zu ihm gebunden ist, weiter, dass die Kirche nicht ohne die Diakonie sein kann, und ist unterstellt, dass die Kirche deren ausschließliche Agentin ist, während es sich bei helfendem Handeln, das nicht mit dem Bekenntnis zu Jesus verbunden ist, nicht um Diakonie, sondern nur um „wichtige Aufgaben", „hoch achtenswerte Dienste", um „Ausdruck der Verantwortung und Solidarität"117 handelt. Die Begegnung mit diesen Vorgaben bestimmt das weitere Vorgehen der Untersuchung, wie die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche in diesem Text zur Sprache kommt Zunächst ist zu ermitteln, in welcher Weise „die Kraft und der Auftrag des Evangeliums" helfendes Handeln zur Diakonie, zum gelebten Evangelium, zur Verkündigung des Evangeliums mit anderen Mitteln werden lassen. Die hier beobachtete Rede von der Diakonie als Lebensäußerung der Kirche verliert ihre apodiktische Note, wo das Evangelium differenziert als tröstendes und mahnendes Zeugnis für das ganze Leben eingeführt und für helfendes Handeln sowohl bei den Gebenden als auch bei den Nehmenden geltend gemacht wird.118 Ohne den Blick und das Denken auf scheinbar nicht diakonisches Handeln außerhalb der Kirche, auf
114 Ebd. 115 90. 116 Ebd. 117 89. 118 „Wir spüren, daß diese Botschaft [ . . . ] als tröstendes und mahnendes Zeugnis von dem verstanden werden will, was unser christliches Leben in Kirche und Diakonie, als diakonische Gemeinde zu jeder Zeit trägt und bestimmt: ,Christus als Mitte und Achse unseres Lebens' [ . . . ] Daß Christus verherrlicht werde, daß Christus groß werde, darauf allein kommt es an in all der unterschiedlichen Predigtarbeit der Verkündiger - ich füge hinzu, in der mannigfaltigen und unterschiedlichen Art der diakonischen Aufgaben und überhaupt in unserem ganzen christlichen Leben - als Gesunde und Fröhliche, als Leidende und Traurige oder auch einmal als Sterbende [ . . . ] Die Kraft des Wortes Gottes, das sich mächtig erweist, ist ihm wichtiger und größer als die Motive der Prediger [ . . . ] Darum gibt er Freude und Zuversicht ewigen Lebens, die uns motivieren, das wahre Leben der Liebe zum Nächsten, des Last-Tragens, der schenkenden Güte [ . . . ] als Kirche und Diakonie in dieser Welt zu bezeugen, auf daß Christus groß werde durch unser Leibes-Leben" (115-118).
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helfendes Handeln, das sich nicht des Glaubens gewiss ist, fixieren zu müssen, ohne dieses disqualifizieren und es gar zum Gegenstand der Sorge machen zu müssen, wird Gottes Hoffnung stiftendes Handeln an jedem Menschen, an „Hinz und Kunz", in Gottes Selbstopfer begründet und als Begründung jeglichen helfenden Handelns, so unter anderem auch als des der Gemeinden und der Diakonie, aufgeführt.119 Darum kann, anders als oben ausgeführt, auch die Sozialarbeit, ohne dass dies per se ihre Eigenschaft wäre, wie das Abendmahl, wenn auch anders als es in ihm geschieht, in die Begegnung mit Jesus Christus führen; denn Christus lässt durch die Begegnung mit den Hilfe Empfangenden Vergebung erfahren, Mut zuwachsen und Enttäuschung verkraften;120 dies muss nicht wörtlich zur Sprache kommen, wenngleich die Gnade Gottes und seine Vergebung Grund allen helfenden Handelns sind.121 So wenig das helfende Handeln des gepredigten Wortes Gottes bedarf, um Diakonie sein zu können, so sehr ist jeder Mensch, auch der außerhalb der verfassten Diakonie und Kirche, mit diakonischem Handeln begabt.122 Auf diese Weise wird die Diakonie zur Verkündigung des 119 „Indem Gott sich selbst zum Opfer macht für jedermann, indem er stirbt für jedermann, f ü r Hinz und Kunz, indem er den Opfern den Namen zurückgibt, wird deutlich, daß bei Gott kein Mensch unwichtig ist. Im Kreuz richtet er mit seinem T o d das Recht eines jeden Menschen auf ein heiliges Leben auf [ . . . ] Dieser H o f f n u n g haben Menschen immer wieder vertraut [ . . . ] Das hat Wichern in die Elendshütten seiner Zeit gehen lassen, Bodelschwingh gestärkt, den Nazis zu widerstehen, das hat Gemeinden frei gemacht, sich um Senioren zu kümmern, der Ausländerfeindlichkeit zu widerstehen, Jugendliche in ihre Häuser zu lassen. Diese H o f f n u n g hat sozialstaatliches Denken ermöglicht. Diese H o f f n u n g hat auch Einrichtungen und Werke entstehen lassen, auch das Diakonische Werk, zu dessen Mitarbeitern ich nun auch zähle. Das hat die Mitarbeiter in diesem Werk aushalten lassen und lässt sie aushalten in ihrem mühsamen Kampf f ü r die Schwachen und Unbedeutenden" (99f). 120 „Wir sollen helfen, zu resozialisieren und in vielen Fällen überhaupt erst einmal zu sozialisieren, da wo Menschen zu kurz gekommen sind. So verstehe ich in diesem Zusammenhang auch/Vers 14: Jaget nach dem Frieden gegen jedermann. Shalom ist im Hebräischen auch der soziale Friede, das mitmenschliche Helfen, um soziale Nachteile aufzufangen. D e r Hebräerbrief verbindet die Arbeit für diesen Frieden mit einer Verheißung: Wer dem Frieden nachjagt, wird den Herrn sehen. Und ich meine, wir sollten ruhig unterstreichen, daß wir in der sozialen Arbeit die Gemeinschaft des Herrn schon erleben, so wie wir ihn anders gleich im Abendmahl erleben können. Wir erleben es, d a ß er uns das Richtige sagen läßt, wenn wir mit im Leben Benachteiligten zu tun haben. Wir erleben auch, daß er uns aus unseren Fehlern lernen lässt. Wir erleben es, daß er uns beschämt, wenn wir bei einem Klienten zu ängstlich waren, und wir erleben, daß er uns Enttäuschungen verkraften lässt" (121f). 121 „Wie jeder einzelne Mensch vor Gott, so ist auch K I N D E R N O T H I L F E angewiesen auf die Gnade Gottes, angewiesen darauf, sich in ihrem Ungenügen, ihrem Versagen und in der Versuchung von Selbstgerechtigkeit durch die Vergebung täglich neu einen Anfang schenken zu lassen" (68). - „Wer nicht vergeben kann, redet sich das Recht auf Selbstjustiz ein. Andererseits wer die Gefangenen allein läßt, denkt oft ähnlich, weil er ihnen nicht vergeben kann. Wenn wir Christus verkünden, dann bekennen wir: Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir leben sollen" (121). 122 „Nicht nur einem, nicht nur diesem Jesus, der den Gelähmten wieder ans Laufen
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Evangeliums mit anderen Mitteln, hier zur Verkündigung sogar an den Handelnden und nicht nur an den Empfangenden; die Diakonie ist nicht Monopol der Kirche. Der im diakonischen Handeln begegnenden Verkündigung entspricht die in Wort und Sakrament geschehende Verkündigung insofern, als diese, einladend und auffordernd zugleich, den Egoismus und die Selbstrechtfertigung als Handlungsmotive ausschließt.123 Gleichwohl sind die von diakonischem Handeln geforderte „Übereinstimmung von Glauben und Leben", „die Durchdringung des einen mit dem andern", die „Identität", die „Echtheit" und „Glaubwürdigkeit"124 im Handeln wie im Handelnden verborgen und nicht öffentlich zu erkennen. Insofern ist helfendes Handeln, das aus dem Glauben kommt, mit solchem, bei dem das nicht der Fall ist, verwechselbar.125 gebracht hat; nicht nur den Zwölfen, den Jüngern dieses Jesus; nicht nur den Funktionsträgern, haupt- und neben- und ehrenamtlichen Mitarbeitern in unserer Kirche und unseren diakonischen Arbeitsfeldern, ist solche Macht gegeben. Den Menschen, allen, ist diese Macht zugesagt. Ohne Vorbedingung oder bestimmte Qualifikation" (46). 123 „Brot und alle Lebens,mittel' teilen, genauso auch Wissen, Erfahrungen, Kenntnisse, Know-how und wohl auch Macht [ . . . ] Und das ist schon alles? Nur zwischenmenschliches und also innerweltliches Sozialverhalten? Keine geistliche Fundamentierung oder Überhöhung? Kein Gott und kein Glaube? Doch. Nicht ohne! Aber auch nicht nur so zur Verzierung obendrauf oder nebenbei. Beide ineinander verschlungen und voneinander durchdrungen, verknüpft und vernetzt: praktische Solidarität aus Gott, mit Mensch und Gott, in Verantwortung vor ihm. N u r so können praktische Solidarität oder Nächstenliebe von uns überhaupt erfüllt werden, daß Gott in unserem menschlichen Handeln und Verhalten zur Geltung kommt. Erst dann wird das Einzel- und das Zusammenleben der Menschen frei. Ohne Gott käme doch nur wieder Egoismus und Unheil heraus - und auch Nächstenliebe kann rasch purer Egoismus sein. Wir erleben und praktizieren das zur Genüge [ . . . ] Was der Prophet in seiner Fastenpredigt verheißt, [ . . . ] will selbstverständliche und gegenwärtige Folge eines Lebens mit Gott werden. Ich betone es noch anders: Wir trennen viel zu schnell die Verantwortung f ü r die Welt oder unser diakonisches Handeln (sozialer Auftrag, Frieden, praktische Solidarität, politisches Tun und so weiter) von dem Leben mit Gott, vom Glauben oder von Religion. Selbst in der Formel .Glaube und Liebe' ist das ,und' schon fast zuviel, es stellt beide nebeneinander oder auch - je nach Herkunft und Grundeinstellung - eins über das andere. Der Prophet trennt nicht, ordnet nicht über oder unter [ . . . ] Er erinnert, daß praktisches Handeln und alltäglich konkretes Verhalten den Gottesdienst, den Glauben und also Gott selbst nicht Lügen strafen/dürfen. Insofern geht es ihm um Ubereinstimmung von Glauben und Leben, um die Durchdringung des einen mit dem andern, um Identität, um Echtheit und um Glaubwürdigkeit. Oder: Gott und sein Heil sind uns nur so nah, wie wir einander nah kommen und nah sein lassen [ . . . ] Das wäre dann, wenn wir hier zu Recht sitzen, unsere gemeinsame Aufgabe gleich nach dieser Andacht [ . . . ] von wegen der Echtheit und Perspektiven unserer Diakonie - und auch von wegen der Glaubwürdigkeit und der praktischen Solidarität in diesem Hause" (40-42). 124 42. 125 Vgl. z.B. diese „kleine Ethik": „Ich will einige wichtige Züge aus dieser Erzählung noch einmal besonders beleuchten und dabei wird so etwas wie eine kleine Ethik, ein knapper Leitfaden f ü r unser Tun herauskommen [ . . . ] Wir können nicht auf Teufel heraus nur alles verbrauchen und benutzen wollen. Wir müssen im Interesse unserer Kinder die Kräfte der Bewahrung und Förderung stärken. Für Menschen, die es beruflich mit kranken und alten Menschen zu tun haben, kann dies, so paradox es klingt, bedeuten, Abschied zu nehmen von den hektischen Bemühungen um verschiedene Arten von Lebensverlänge-
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Ich halte fest, dass helfendes Handeln innerhalb und außerhalb der verfassten Kirche und der diakonischen Einrichtungen Diakonie ist, sofern sowohl im Empfangen als auch im Gewähren von Hilfe „die K r a f t und der Auftrag des Evangeliums" wortlos zur Sprache kommen können; damit ist jenes geforderte „Zusätzliche, Weitere", auf das wir oben aufmerksam wurden, im diakonischen Handeln selbst, ob gebend oder nehmend erlebt, aufgehoben. Wie die Motivation des Helfenden für den der Hilfe Bedürftigen letzten Endes irrelevant ist, 126 so ist es auch im Blick auf den Helfer ohne Belang, ob dieser sein Handeln als im Glauben begründet versteht, zumal der Glaube nicht ein Status ist, sondern in einer dynamischen Beziehung wächst; diese aber wird nicht vom Glaubenden konstituiert. 127 Wenn die Rede davon ist, dass Jesus „Glauben findet" und er ein bestimmtes Tun „Glauben nennt" 128 , ist mit diesem Finden ein Wahrnehmungsakt bezeichnet, der nicht auf Vorhandenes zurückgreift, um dieses aus sich heraus zu interpretieren, sondern ein Akt, der ein bestimmtes Handeln als Glauben konstituiert, ein actus sui ipsius generis, ein kreativer Akt. Weil der Glaube im Handeln wie im Empfangen entsteht und wächst und im Empfangen wie im Handeln als
rung [ . . . ] Uns ist das Leben, uns ist diese Welt nur unter Vorbehalt anvertraut. Der Auftrag kann entzogen werden, wir sind kündbar. ,Du kannst hinfort nicht Verwalter sein.' Wir sind also nicht die, die über eigenes und fremdes Leben herrschen, es nach Belieben manipulieren dürfen. Wir/müssen unsere Sozial- und Pflegetechniken daraufhin überprüfen, ob sie diesem Anspruch auch tatsächlich entsprechen [ . . . ] Unsere Gesellschaft kann gelingen, wenn wir bestimmte Gesetzmäßigkeiten, die wir für unveränderbar halten, durchbrechen. Stehen wir unter Druck, so muß es nicht sein, daß wir diesen Druck weitergeben. Leben wir in Angst, so müssen wir den anderen nicht zum Resonanzboden für unsere Angst machen. Fühlen wir uns ungerecht behandelt, müssen wir andere nicht zwangsläufig auch ungerecht behandeln. Der Glaube macht frei dazu, hier die Kette zu durchbrechen, Unerwartetes zu tun. Das trägt bei zur Vermenschlichung in aller Unmenschlichkeit [ . . . ] Im Zwielicht und in der Ausweglosigkeit von verfahrenen Situationen fällt Gottes Blick auf das, was dennoch gelingt. Und wo Gott hinsieht, dürfen wir auch hinsehen. Unsere Berufung liegt also nicht darin, als Christen zu der Zunft der Schwarzmaler zu gehören. Wir müssen weder Perfektionisten noch Zyniker sein, wir können in der Spannung zwischen dieser Welt und dem Licht Gottes mutige Mitarbeiter Gottes sein" (87f). 126 „Die Motive des Helfenden sind unwichtig für den, der Hilfe braucht. Jedoch kann dieser Bittende seine Notlage präzise darstellen. Und darauf will Jesus seine Jünger hinweisen [ . . . ] Er hat schon gelernt: auf das ,was' der Bitte kommt es an, und daß ich bitte. Dann ist die Art und Weise, wie ich es vorbringe, ziemlich egal [ . . . ] Darum gilt, sagt Jesus: Ihr kennt die Motive Gottes nicht, warum er Eure Bitten hört und Euch erhört. Spart Euch die Motivforschung. Bittet, so wird Euch gegeben" (77f). 127 J e s u s findet Glauben bei denen, die ihn fragen, die Lasten heranschleppen, die Not und Lähmungserscheinungen beim Namen nennen, die alles, was in ihrer Macht steht, tun, um diese schlimmen Erscheinungen ins Licht der Güte Gottes zu rücken. Dieses wortlose Tun der Krankenträger nennt Jesus Glaube. Und Glaube fängt für ihn offenbar schon dort an, wo es einer wagt, erbärmliches Leben und das Reden von der Güte Gottes z u s a m menzupacken' [ . . . ] Daß es möglicherweise zunächst einmal gar nicht um unseren Glauben geht und um unsere fix und fertige Antwort, ist für mich so erstaunlich wie tröstlich" (44). 128 Ebd.
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solcher bestimmt wird, kann dem Individuum und dessen Bekenntnis zu Jesus, anders als es sich oben nahe legte, keine Schlüsselrolle für die Wahrnehmung der Diakonie als Diakonie oder gar als Lebensäußerung der Kirche zugetraut und zugemutet werden. Wodurch aber, wenn nicht durch eine Entscheidung der Hilfe Gebenden oder Nehmenden, und wie erfährt dann helfendes Handeln seine Bestimmung als Diakonie? Das Selbstverständnis des helfenden Subjektes aufnehmend fragt der Text nach dessen Fähigkeit, den Diakonieauftrag Jesu Christi zu erfüllen.129 Die positive, möglicherweise aus fachlichen und geistlichen Qualifikationen des Subjektes schöpfende Antwort wird mit dem Hinweis darauf zurückgewiesen, dass es für die Diakonie keinerlei Eignung gibt, welche dem Subjekt zueigen wäre.130 Dieser Hinweis - so der Text - , der für die Diakonie mindestens ebenso bedeutend ist wie die gelegentlich als Magna Charta der Diakonie bezeichnete Rede vom Weltgericht, stimmt froh, ist realistisch und nutzt aller Diakonie. Er holt Insider und Outsider wie Helfende und Empfangende in gleicher Weise auf den Teppich herunter und versetzt sie in ein gemeinsames Boot; er öffnet die Diakonie über die Grenzen ihrer und der kirchlichen Verfasstheit hinaus,
129 „Können wir den Diakonieauftrag Jesu Christi überhaupt erfüllen? Können wir den Weg der Diakonie, den wir alle ja gehen wollen [ . . . ] , können wir diesen Weg überhaupt gehen? Und wenn ja, wie können wir ihn gehen? [ . . . ] Ist nicht das alles - die klare Entscheidung für die Nachfolge und die verbindliche Jüngerschaft und Bruderschaft, wir würden heute sagen: die hohe diakonische Motivation und das große diakonische Engagement - ist das nicht genug und mehr als genug f ü r ein klares Ja: J a , wir können den Weg der Diakonie gehen?' Aber die Antwort, zu der wir genötigt werden, heißt: Nein. Nein, das ist nicht genug, das reicht nicht aus. Das alles kann, so notwendig und richtig es ist, dennoch sehr fragwürdig und zweideutig werden. Und genau diesen Dienst, den mühevollen Dienst einer Warnung und Klärung, tut uns Jesus, um uns vor Abwegen und Irrwegen der Diakonie zu bewahren [ . . . ] ,Könnt ihr [ . . . ] ' , so seine unerbittliche Frage, ,könnt ihr denn den Weg gehen, den ich gehe? Den Weg meiner Diakonie, den Weg der Bergpredigt, den Weg, der unweigerlich zu den Leidenden und in das Leiden hineinführt, den Weg ans Kreuz? Könnt ihr den Kelch (des Leidens) trinken, den ich trinken werde? Könnt ihr mit der Taufe (meines Todes) euch taufen lassen, mit der ich getauft werde?* Und nun folgt diese Antwort der beiden Urapostel, die zu den pausbäckigsten und anmaßendsten Sätzen gehört, die man in der Bibel finden kann, die auch die schlimmsten Befürchtungen der anderen nur bestätigt: J a klar, das können wir.'" (55-58). 130 „Man hat Matthäus 20,25-28, die bekannten Schlusssätze unseres Abschnitts, gelegentlich die Magna Charta der Diakonie genannt. Aber mir erscheint es mindestens ebenso wichtig, dass dieser Gesprächsgang zwischen Jesus und seinen Jüngern festgehalten wurde und damit der Diakonie aller Zeiten ins Stammbuch geschrieben ist. Ich bin von Herzen froh, d a ß diese Szene überliefert ist nicht etwa zur Schande der beiden Jünger und Urapostel, sondern uns zum Realismus und zum Nutzen aller Diakonie. Denn wir werden damit auf den Teppich heruntergeholt oder besser noch: in das eine gemeinsame Boot hineinversetzt, in dem wir alle - Diakone und Nichtdiakone, Mitglieder der Bruderschaft und Nichtmitglieder, Hilfebedürftige und Helfer, Behinderte und Nichtbehinderte - sitzen und nur schreien können: ,Herr, erbarme dich unser.' [ . . . ] Dahin will Jesus uns bringen, d a ß wir erkennen: ,Nein, wir können das nicht. Wir können nicht den einzigartigen Weg der Diakonie Jesu gehen' (58).
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indem er Jesus Christus als ihre Wurzel, ihr Fundament, ihre Ermöglichung und die Begründung ihrer Notwendigkeit bestimmt. 131 Der Unfähigkeit der Menschen zur Diakonie wird Jesus Christus als der sie zur Diakonie berufende, befähigende und verpflichtende Diakon gegenübergestellt. 132 An die Stelle einer anthropologischen Engführung, die die Möglichkeit der Diakonie an das Hinzukommen von etwas Z u sätzlichem, Weiteren' zum helfenden Handeln band, ist durch die Rede von dem ,Diakon Jesus Christus, der sich nicht bedienen lassen wollte, sondern andern diente bis zur letzten Konsequenz, bis zum Tod am Kreuz, zur Erlösung für die vielen"133, eine christologische Öffnung getreten, die allen Menschen in der möglichen und notwendigen Diakonie „als menschliche(s)[m] Unternehmen, aber als Unternehmen von begnadigten Sündern im Namen und in der Kraft der fortwirkenden Diakonie Jesu Christi"134, Platz einräumt. War zu Anfang noch die Fähigkeit zur Diakonie an das Bekenntnis zu Jesus als deren Bedingung gebunden, begegnete sodann jenes „Zusätzliche, Weitere" als im Geben wie im Nehmen von Hilfe selbst aufgehoben, so ist nun, nachdem das simul iustus et peccator - in dieser Reihenfolge - für alle Menschen zur Geltung gebracht wurde, davon auszugehen, dass helfendes Handeln, ermöglicht durch Christi Angebot seines Dienstes, 135 wie auch immer begründet, Diakonie ist. Wer wie auch immer hilft, wer wie auch immer Hilfe erfährt: Eigene geistliche Armut, eigene Angewiesenheit, eigenes Behindertsein bilden die Gemeinsamkeit aller an der Diakonie Beteilig131 „Das letzte W o r t in der Jüngerrede Jesu ist das entscheidende [ . . . ] : ,Der Menschensohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für die vielen.' Hier, wo das hohepriesterliche Amt und das diakonische Amt Jesu zusammengebunden sind - in der späteren kirchlichen Lehre fiel beides leider auseinander - , hier ist auch die Wurzel und das Fundament aller menschlichen Diakonie. Denn es gilt: Diakonie ist dennoch möglich und notwendig - und sogar eine Glaubens- und Dienstgemeinschaft ist möglich, ja selbst eine Bruderschaft ist möglich und notwendig - als menschliches Unternehmen, aber als Unternehmen von begnadigten Sündern im Namen und in der Kraft der fortwirkenden Diakonie Jesu Christi. In der Einladung zur Diakonenausbildung haben wir das einmal so formuliert: ,Diakon - das war nur einer, der Diakon Jesus Christus, der sich nicht bedienen lassen wollte, sondern andern diente bis zur letzten Konsequenz, bis zum Tod am Kreuz, zur Erlösung f ü r die vielen'" (59). 132 „Wir sind in all unserem diakonischen Tun darauf angewiesen, daß Jesus Christus Diakon nicht nur war, sondern auch ist und bleibt und bleiben wird [ . . . ] Je näher wir Jesus Christus kommen, desto näher erfahren wir nicht nur die Gemeinschaft untereinander, sondern auch die Gemeinschaft mit denen, zu denen sich Jesus besonders gesandt wusste: mit den gesellschaftlich Entrechteten und Benachteiligten, mit den Behinderten, mit den Opfern der sozialen und sonstigen Umweltzerstörung. Dorthin müssen wir: an diesen Ort unserer eigenen geistlichen Armut, unserer eigenen Angewiesenheit, unseres eigenen Behindertseins; das ist der O r t der Diakonie und der Ort einer diakonischen Bruderschaft" (60). 133 59. 134 Ebd. 135 „Diakon und Diakonin kann jeder werden, der/diesen Dienst Jesu f ü r sich selbst und andere annimmt und bezeugt in der Hinwendung zu Menschen in sozialer, leiblicher und seelischer Not" (59f).
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ten, welche ausschließlich sich definiert aus dem Gegenüber und in die Gemeinsamkeit der Begabung überführt wird durch das Gegenüber zu dem ersten, dem gegenwärtigen und zukünftigen Diakon Jesus Christus, der helfendes Handeln zur Diakonie gemacht hat, macht und machen wird.136 Somit ist alles helfende Handeln Diakonie des Diakons Jesus Christus und insofern dessen Wesens- und Lebensäußerung. Dann aber findet Diakonie auch außerhalb der Kirche statt, es sei wiederum, die Kirche werde anders bestimmt. Insofern entscheidet sich nach der Auffassung auch dieses Textes an der Art der Wahrnehmung helfenden Handelns sowie am Reden von ihm und nicht am Handeln selbst, weil es stets auch deutbares Handeln ist, ob es als Diakonie oder gar als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche zu gelten hat. Die Diakonie der Kirche betreffend widmet der Text dem Wachstum und den Grenzen helfenden Handelns besondere Aufmerksamkeit Vor dem „Wachstum an sich"137 warnend, bindet er es an die Aneignung des uns in Jesus geschenkten Lebens als dankbare Konsequenz aus Gottes Dienst und als „quasi natürliche Frucht des Lebens der Kirche"138. Die Qualität diakonischen Handelns setzt seiner Quantität Grenzen.139 Das fruchtbringende 136 „Diakon - das war nur einer, der Diakon Jesus Christus" (59). 137 „Wachstum an sich, das ist die Ideologie, die an diesem Gleichnis als tödlich dargestellt wird. D a wo es um Wachstum an sich geht, da ist der Weg zum T o d e beschritten. Auf Wachstum an sich liegt kein Segen. Wachstum an sich zieht den Zorn Gottes nach sich" (81). 138 „Die Kirche hat sich in ihrer diakonischen Arbeit von Anfang an darum bemüht, aus dem Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum zu lernen. Diakoniearbeit - das sollte immer fruchtbringende Arbeit sein. Sie will beides miteinander verbinden: die existentielle Aneignung dessen, daß in Jesus von Nazareth Leben für uns geschenkt ist und daß in der Nachfolge dieses Jesus von Nazareth die Armen, Witwen und Waisen, die sozial Benachteiligten und an den Rand Gedrängten für uns als Schwestern und Brüder erkennbar werden. Deshalb ist Diakonie auch keine sich herablassende Hilfeleistung. Sie ist notwendige Konsequenz aus der Erkenntnis, daß Dank für Gottes Dienst an uns im Kreuz Jesu und gelebte Gemeinschaft mit den Menschen, in denen uns der H e r r heute begegnet, die quasi natürliche Frucht des Lebens der Kirche ist [ . . . ] So feiern wir Gottesdienst am Sonntag [ . . . ] und im Alltag durch den immer neuen Versuch, mit unseren begrenzten Möglichkeiten diakonische Nachfolge zu üben. Unsere H o f f n u n g ist dabei, daß der Baum ,Kirche und ihrer Diakonie' nicht ohne Früchte sei" (83). 139 „Das Lob gilt Gott und seinem Wirken, nicht Petrus, dem Kraftmenschen und Wundertäter. Er handelt (in)[im] Namen seines Herrn. Was bedeutet das für unsere Arbeit als Kindernothilfe? Es genügt nicht, Mitleid zu wecken, den Spendeneingang zu maximieren, viele Paten zu gewinnen und die Erwartungen der Paten möglichst gut zu befriedigen [ . . . ] Die Geschichte zeigt uns, daß es richtige und falsche, christliche und nicht christliche Formen von Patenschaft gibt./Im Blick auf die Kinder bedeutet das, daß sie auf eigene Füße gestellt und dazu befähigt werden, ihre eigene Persönlichkeit zu entfalten und frei zu sein von jeder Abhängigkeit, auch manchmal sehr gut gemeinter Abhängigkeit der Paten. Im Blick auf die Paten bedeutet das, daß wir das Geld, das sie uns geben, nicht zum Maßstab machen, ja, in dem Falle sogar darauf verzichten, wenn das Geld, wie hoch die Summe auch sei, zum Gradmesser diakonischen Wirkens im Namen Jesu Christi gemacht wird. Wir haben sie dahin zu führen, daß sie lernen, vom Kind her zu denken und die Entwicklung des Kindes und jungen Menschen über die eigenen Vorstellungen und Wünsche
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Wachstum bewährt sich in der Mündigkeit dessen, dem geholfen wird, und im Lob Gottes; „der Erfolg einer Heilung ist für sich nicht Kriterium für diakonisches Handeln"140. Mit der Vollmacht diakonischen Handelns begabt, hat die Kirche aus ihr gleichwohl keinen Anspruch auf Problemlösungen oder anerkannte Zuständigkeiten abzuleiten.141 Des Christen in der Anfechtung des Glaubens erfahrene Gewissheit, dass Gott hilft, befreit nicht aus der Anfechtung, sondern bringt sie erst hervor, indem sie den Helfenden gegenüber dem Hilfe Empfangenden bindet insoweit, als jener diesem den Sinn des Leidens nicht einmal erklären kann.142 Anfechtung begleitet darüber hinaus das diakonische Handeln der Kirche, indem es zum einen Anstoß erregen kann143 sowie deshalb und außerdem zum andern nicht zwingend Dank, geschweige zu stellen. Wir haben sie dahin zu führen, daß sie die Ursachen der N o t sehen, die eine Patenschaft überhaupt erforderlich machen, und dabei erkennen, daß sie selber, wie wir alle, Mitverursacher der N o t jener Kinder in Indien, Brasilien und anderswo sind" (11 Of). 140 109. 141 „Diese Macht, diese Vollmacht auszuprobieren und einzubringen, hat mit diakonischem Handeln zu tun. Diese Vollmacht [ . . . ] ist keine Garantie [ . . . ] , als Kirche und Diakonie auf alles und jedes jeweils die passende Antwort parat zu haben. Wir sollten aus dieser Vollmacht auch nicht die Verpflichtung herleiten, auf alles und jedes jeweils eine angemessene Antwort (und Hilfeleistung) parat haben zu müssen. Hüten wir uns schließlich vor der Illusion, als gäbe uns diese Vollmacht das selbstverständliche Recht, davon ausgehen zu können, als müßten es ausgerechnet immer wir sein, die gefragt wären oder gefragt werden sollten. Unsere Fähigkeiten sind nicht immer und auf jeden Fall die richtigen!" (47). 142 „Gott hält uns. Wir spüren: Gott ist da. Gott handelt an und mit uns, und wir wissen, daß wir uns ihm überlassen können. Ja, wir wissen es eigentlich nicht. Wir fühlen es nur, spüren, erfahren es. Es scheint absurd: Gott hält uns dort, wo alles gegen seine Anwesenheit spricht. Es scheint sinnlos, und es ist doch so. Dieses Wissen bindet mich als Christen: es ist mir durch dieses Wissen verboten, von meinem Nächsten zu erwarten, daß er den Sinn seines Leidens erkennen muß oder ihn gar in seiner Verzweiflung ungeduldig zu begleiten. Denn Sinn kann man nicht erzwingen, wir Christen können ihn uns aber schenken lassen"
(И).
143 „Diakonie hat es in der Regel ja mit den weniger schönen Seiten des Lebens zu tun [ . . . ] Wenn ich richtig beobachtet habe, dann gehört zum diakonischen Auftrag dazu, solche schlimmen Wirklichkeiten beim Namen zu nennen. Und zwar auf die Gefahr hin, als Gotteslästerer abgetan zu werden, als Ruhestörer beschimpft oder als Aufwiegler verdächtigt zu werden. Diesen Läster-Vorwurf kann und wird sich Diakonie einhandeln, das sollte uns nicht schrecken. Viel eher und viel mehr sollte es uns schrecken, wenn dieser Vorwurf ausbleibt, wenn keiner uns etwas vorzuwerfen hat. Dann müßten eigentlich alle Warnlampen aufleuchten! [ . . . ] Aber: auch das andere muß festgehalten werden: Es geht nicht schon automatisch und garantiert um Nachfolge, wenn wir zu hören kriegen:/ , [ . . . ] diese lästern Gott!' ,Die stören unsere Ruhe und Ordnung!' Mir scheint: Es gehört zu unseren Aufgaben, da nachzuhaken, wo uns andere den Vorwurf machen, was wir da anfingen, was wir eigentlich wollten, das ginge ihnen gegen den Strich, das sollten wir besser bleiben lassen. [ . . . ] Es geht uns allerdings um die Menschen, die der Gefahr ausgesetzt werden, ver-rückt, auf einen anderen Platz geschoben zu werden - dorthin, wo sie den Boden unter den Füßen verlieren, nicht mehr klar kommen, sich aufgeben, weil sie nicht mehr leben können. An dieser Stelle, denke ich, hat Kirche und Diakonie [ . . . ] mehr als genug zu tun" (45f).
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denn Glauben zur Folge hat.144 Solche dem Erfolgsdenken widersprechende Merkmale sind der Diakonie eigen, weil sie zu dem Diakon selbst, zu Christus, nicht nur hinzugehören, sondern seines Wesens sind.145 Christi Ort in der Welt ist das Kreuz146, - im Bilde des Textes - nicht der feste Grund, sondern das bewegte Wasser147. So wie das diakonische Handeln der Kirche dem Leiden Einzelner und der Welt zugewandt ist, so wird es, unabhängig von seinem sichtbaren Erfolg, „bestenfalls Zeugnis des kommenden Reiches sein; das aber kann es sein"148. Der Text bringt die Diakonie als Lebensäußerung der Kirche so zur Sprache, dass er nicht die Kirche, sondern Gottes Reich und sein Recht als die vorrangigen Themen der Diakonie erkennen lässt.149 Allein weil die Kirche nicht sich selbst, sondern das Reich Gottes und Gottes Dienst an den Menschen zu verkündigen hat,150 konnte ein144 „Der Gelähmte nimmt sein Bett und geht - wortlos, ohne danke zu sagen, ohne Gott zu loben, ohne von Jesus f ü r die Zukunft verpflichtet zu werden, ohne sich für eine Nachfolge Jesu zu entscheiden oder entscheiden zu müssen, nach Hause und verschwindet (für Matthäus) völlig von der Bildfläche. So verhalten sich in den übrigen Heilungsgeschichten auch andere" (46). 145 Der mit fünf Broten und zwei Fischen fünftausend Menschen gesättigt hatte, „das war der, auf den sie bisher vergeblich gewartet hatten. Es hatte sich gelohnt, zu ihm zu gehen. Sie meinten zu wissen, wie sie mit ihm dran waren [ . . . ] . Aber Jesus verweigert sich diesem Anspruch. Wer so zu ihm kommt, der jagt einem Trugbild nach, das Jesus nicht erfüllt" (90). 146 „ [ . . . , ] sondern andern diente bis zur letzten Konsequenz, bis zum T o d am Kreuz, zur Erlösung für die vielen" (59). 147 „Nach dem Willen Jesu ist der Platz für die Gemeinde Jesu mitten auf dem Wasser [ . . . ] Wir haben genug vernünftige und auch fromme Gründe, uns den unbequemen Befehlen Jesu zu entziehen. Jesus aber steht da, wo es ungemütlich ist und wo Menschen Schiffbruch erleiden und sagt zu uns als Kirche und zu uns Mitarbeitern in der Diakonie: ,Kommt!' Du brauchst kein Held zu werden. Wenn dein Vertrauen sinkt und das Wasser dir bis zum Hals steht, ist jemand da, der dich hält und trägt. Das ist eine gute Botschaft! Unter dieser Verheißung und unter diesem Befehl Jesu möchte ich meine Arbeit hier beginnen" (50 und 53). 148 „Der Weg der Diakonie ist ein Weg jenseits der Alternative von Resignation und Revolution [ . . . ] : Wir brauchen nicht zu resignieren, nicht an uns selbst, nicht an den andern, nicht an den Herrschaftsverhältnissen dieser Welt, die zweifellos auch in die Kirche hineinwirken, nicht an den Leiden dieser Zeit, sondern wir dürfen tatsächlich handeln in den kleinen Schritten der Diakonie. Und sei es nur dadurch, daß wir die Leiden anderer lindem und teilen. Wir werden aber mit unserem Handeln die Welt gewiß nicht verändern und etwa das Leiden überhaupt abschaffen. Sondern unser Handeln wird bestenfalls Zeugnis des kommenden Reiches sein; das aber kann es sein" (61). 149 „Im Einsatz für Kinder in der N o t der Völker Asiens, Afrikas, Lateinamerikas wird Gottes Recht beispielhaft verwirklicht, wird sein Reich, Mensch für Mensch, aufgebaut [ . . . ] Dieser Zukunft Gottes dienen wir, wenn einem Kind Zukunft eröffnet wird. Mit ihrer diakonisch-missionarischen Aufgabe kann K I N D E R N O T H I L F E auch nur einen begrenzten Dienst tun [ . . . ] Wir sind dankbar, daß Gott uns in die Verwirklichung seines Rechts miteinbeziehen möchte, mit dem Mittel der Liebe und dem Ziel des Shalom für sein Reich tätig zu sein. Wir sind dankbar, d a ß Er uns durch Jesus Christus dazu stets neu aufruft, auch heute" (68f). 150 „[Der] Dank f ü r Gottes Dienst an uns im Kreuz Jesu und gelebte Gemeinschaft mit
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gangs gesagt werden: „Kirche ist entweder diakonische Kirche oder überhaupt/nicht Kirche."151 Aus meiner Wahrnehmung des Buches „Mit Wort und Tat. Predigten aus der rheinischen Diakonie" als eines Textes ist ein weiterer Text geworden. Ich habe hier wie im vorigen Abschnitt nicht Rezensionen einzelner Predigten vorgenommen. Diese hätten den Aussagen der Autoren auf andere Weise gerecht werden und Tendenzen einzelner Predigten miteinander in ein mitunter kontroverses Gespräch bringen müssen, welches seinerseits einer Würdigung bedurft hätte. Stattdessen habe ich eine vierte Wahrnehmungsebene eröffnet und, wiederum auf den Text des Buches als auf eine Predigt hörend, einen Text über die dortige Wahrnehmung der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche verfasst. So sind die Predigten als Einzelstücke in den Hintergrund getreten und auszugsweise hier wie die im vorigen Abschnitt in Fußnoten erschienen. Diese Forschungsmethode ergab sich aus dem Gegenstand insofern, als ich, die einzelnen Texte miteinander ins Gespräch bringend, innerhalb des Buches als Text nach logischen und theologischen Anschlüssen gefragt habe. Ausgangspunkt der Untersuchung war die nur einmal vorkommende, hier axiomatisch vorgetragene Feststellung der Diakonie als Lebensäußerung der Kirche, ohne die die Kirche nicht Kirche und die streng von der Sozialarbeit zu unterscheiden sei. Bei der Untersuchung der Rede von der Sozialarbeit stellte sich jedoch heraus, dass Sozialarbeit sehr wohl Diakonie ist, weil Jesus Christus als der lebendige Diakon alle Menschen mit der Diakonie als Begabung und Beauftragung versieht, sowohl die Hilfe Empfangenden als auch die Hilfe Gewährenden. Konstitutiv für die Diakonie sind nicht die aus welchen Gründen auch immer diakonisch Handelnden oder deren Handeln, sondern der das Handeln ermöglichende und in ihm wirkende Christus, so dass von der Sozialarbeit als von der Verkündigung des Evangeliums mit anderen Mitteln geredet werden kann und eine Monopolisierung der Diakonie durch die Kirche auszuschließen ist. Weil Jesus Christus der Realgrund und der Erkenntnisgrund der Diakonie ist, kann Sozialarbeit bzw. Diakonie als Diakonie nur von ihm her definiert werden. Aufgrund der nun christologisch erfolgten Bestimmung der Diakonie hat der Satz von der Diakonie als einer Wesens- und Lebensäußerung der Kirche wohl Geltung
den Menschen, in denen uns der Herr heute begegnet, [ist] die quasi natürliche Frucht des Lebens der Kirche" (83). „Die Christenheit ist beauftragt, das Kommen der Gottesherrschaft in der Welt zu verkündigen, zu helfen und zu heilen. Ihre Sendung gründet in dem Glauben, der die Welt als Gottes Schöpfung bezeugt, in der Liebe, die in dem entrechteten und armen Nächsten ihrem Herrn begegnet, und in der Hoffnung, die in der Gewissheit der kommenden neuen Schöpfung handelt. Darum bilden die Verkündigung, die zum Glauben führt, und der Dienst, in dem die Liebe tätig ist, eine Einheit" (69). 151 89f.
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bezüglich der Kirche, nicht aber bezüglich der Diakonie: Die Kirche braucht die Diakonie um ihres Wesens und Lebens, weil um Jesu Christi willen; die Diakonie braucht um Christi willen die Kirche nicht. Für diese Feststellung ist auch dieser Text die Herkunftsbegründung; der sachliche Grund für das helfende Handeln als Diakonie liegt in Gott selbst. 2.2.1.2.3 Die Festpredigt zur Diakonie Nachdem die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche in der Predigt des Kirchenjahres explizit gar nicht und in der Predigt aus der Diakonie nur marginal zur Sprache kam, erwarte ich hinsichtlich unserer Fragestellung deutliche Auskünfte aus Predigten, welche von Inhabern kirchlicher Leitungsämter bei besonderen Anlässen, die die Diakonie bietet, gehalten wurden. Wenn ζ. B. zum Jubiläum einer diakonischen Einrichtung der Bischof einer Landeskirche als Prediger eingeladen wird, wird dieser - so unterstelle ich - etwas zur Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche zu sagen haben. Bei meiner Recherche nach „Prominentenpredigten" zu Diakoniejubiläen oder ähnlichen Anlässen habe ich keinen entsprechenden Predigtband gefunden. Es fällt auf, dass ins Internet nur zwei solcher Predigten aus der Zeit von 1997 bis 2004 eingestellt sind.152 Diesen Predigten wende ich mich nun zu, und zwar auf die gleiche Weise wie denen in den vorigen Abschnitten. Ich behandle sie als einen Text nach der oben angewandten Methode. Auch dieser Text widmet der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche keine Ausführungen, 153 wenngleich die Diakonie und die Kirche seine hervorragenden Themen sind. Die Kirche erscheint hier zunächst nicht als Subjekt der Diakonie, sondern als Subjekt des Jubeins, des Lobes, des Preises, des Dankes;154 der Prediger ist so des Lobes 152 Huber, Wolfgang: Predigt im Festgottesdienst „155 Jahre Evangelisches Diakoniewerk Königin Elisabeth" am 14.Juni 1998, in: http:/www.ekd.de/Leben Sc Glauben - Predigten, Zugriff 23.02.04, hier zitiert als PI. - Kock, Manfred: Predigt zum Diakonie-Kirchentag im Eröffnungsgottesdienst in der Schloßkirche Wittenberg am 25. September 1998, in: http:/www.ekd.de/Leben & Glauben - Predigten, Zugriff 23.02.04, hier zitiert als PII. 153 Das ist umso bemerkenswerter, als die Predigten in zeitlicher Nähe zum bzw. am 150. Jahrestag des Wittenberger Kirchentages von 1848 und zum Erscheinen von „Herz und Mund und Tat und Leben. Grundlagen, Aufgaben und Zukunftsperspektiven der Diakonie. Eine evangelische Denkschrift", welche aktuellen Anlass zur Befassung mit der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche hätten geben können, gehalten worden sind. 154 „Ein Lob-Psalm zum Jubiläumsfest - wie gut ist das. Wir wollen Gottes Güte preisen, der seiner Kirche durch Wichems Impuls eine Reform geschenkt hat, die reichen Segen ausstrahlt bis heute [ . . . ] Nicht die eigenen Leistungen, nicht die diakonischen Heldentaten - schon gar nicht die Bilanzsummen und Spendenerfolge sind der Grund des Lobens. Es sind Gottes Wohltaten, die gepriesen werden. Das ist angemessen am Diakoniejubiläum. 83
Gottes voll, dass er auf der Kanzel sogar zu einem Sologesang anzuheben scheint.155 „Ein bewußtes Innehalten, ein strahlender Dank, eine Bewegung, die auf die Zukunft ausgerichtet ist"156, das sind die drei Töne, welche die Kirche, in der Gott „das Senfkorn [hat] wachsen lassen wollen, die rettende Macht Gottes für unser ganzes Volk" 157 , anzustimmen hat, nachdem sie durch Wicherns Impuls mit einer reichen Segen ausstrahlenden Reform beschenkt worden ist. Im Innehalten zur Besinnung, zum Lob und zum Dank widerfahren die Erkenntnis, dass Gottes Handeln menschlichem Handeln vorausgegangen ist, und die Befreiung von Hektik. 158 Zum Innehalten auffordernd führt der Text verhalten Leistungen der Diakonie auf, 159 ohne deren und der Kirche Versagen und Schuld zu verschweigen.160 Von Leistungen, die die Diakonie über die Kirche hinaus für das Gemeinwohl, für die Gesellschaft und für den Staat erbracht hat und erbringt, gibt der Text nur bescheiden Notiz. 161 In der Erinnerung
Das entspricht dem Verständnis J. H. Wicherns. Er hat kein neues Leistungsdenken in die Kirche bringen wollen. Er hat vielmehr den Schatz der Kirche, das Senfkorn, wachsen lassen wollen, die rettende Macht Gottes für unser ganzes Volk" (PII, 1). 155 „Manch einer mag die Vertonung im Ohr haben, die Felix Mendelssohn-Bartholdy diesem Psalm gegeben hat - mit seinem strahlenden: Jauchzet dem Herrn, alle Welt!' und seinem bewegten, auf die Zukunft ausgerichteten, alle Melancholie und Resignation abstreifenden: ,Dienet dem Herrn mit Freuden.' Haben Sie keine Angst, ich werde nicht weiter singen" (PI, 1). 156 Ebd. 157 PII, 1. 158 „Der Psalmbeter hat es nicht so eilig, uns Menschen zum Kampf um Gerechtigkeit auf dieser Erde zu mobilisieren./Er hält inne, besinnt sich. Aber vor aller Besinnung auf die eigenen Kräfte nimmt er sich zunächst die Zeit, Gott zu loben und dankend an das zu denken, was schon da ist, bevor die menschliche Kraft etwas dazutun kann" (PII, l f ) . 159 „Niemand hätte vorauszusagen gewagt, welche neuen Herausforderungen vor der Diakonie [ . . . ] liegen würden [ . . . ] Welche Schritte aufeinander zu mußten da gewagt und unternommen werden. Wie viel hat sich schon bewegt - und wie viel bleibt noch zu bewegen?" (PI, 2). - „Natürlich ist die Diakonie ein Aktivposten in unserer Gesellschaft" (PII, 4). - „Mehr als alle politischen ,Rettungsprogramme' hat der Aufruf zur Diakonie Menschen in Bewegung gebracht. Das hat viel bewirkt in der Kirche und darüber hinaus. Zahlreiche große Werke der Diakonie wurden gegründet; viele Gemeinden gestalteten ihre Arbeit neu, bezogen diakonische Angebote in ihre Lebensformen ein" (PII, 5). 160 „All das hat die Kirche nicht perfekt gemacht. In finsterer Nazizeit [ . . . ] war der Widerstand zu schwach gegen Rassenwahn und Euthanasie. Und mancherorts ließen sich in der Diakonie Verantwortliche auch zu Helfershelfern der Unmenschlichkeit machen. Diese Schuld wird heute nicht verdrängt und nicht vergessen. Sie gehört zu unserer Diakoniegeschichte hinzu. Im Angesicht dieser Geschichte sind wir sensibel und wachsam, wenn heute das Leben behinderter, chronisch kranker und sterbender Menschen als unnütze Last erklärt wird, gar wieder in der Maske einer humanitären, gnädigen Gesinnung" (PII, 5)· 161 In anderem Zusammenhang findet sich ein einziger, aber kritischer Verweis darauf, „was Kirche im diakonischen Bereich leistet [ . . . ] Natürlich ist die Diakonie ein Aktivposten in unserer Gesellschaft Aber wir sollten doch zurückweisen, wenn oberflächliche Kritik nur die speziell sozialen Aufgabenfelder für gesellschaftlich relevant erklärt" (PII, 4).
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an diakonische Aktivitäten leitet er über zum Dank. Der gilt den in der Diakonie Arbeitenden; 162 zugleich gilt er Gott, 1 6 3 dem für das zu danken, was sie - in der Diakonie und über sie hinaus - erlebt haben und erleben, alle die Predigt Hörenden eingeladen sind. 164 Geradezu lärmend hinausgeschmettert 165 ist dem Dank eine ideologiekritische Funktion zu eigen. 166 Angesichts des Grundes zur Dankbarkeit scheinen Anfechtungen und Zweifel 167 minimiert auf eine „Scheu in Glaubensfragen" 1 6 8 . Der Dank an 162 „Heute und in den nächsten Tagen wird noch auf mancherlei Weise der Dank zur Sprache kommen, der Menschen für das gebührt, was sie auf diesem Wege geleistet haben"
(PI. 2).
163 „Aber jetzt, in diesem Gottesdienst, wollen wir innehalten: wir wollen die Innenseite dieser Vorgänge beleuchten [ . . . ] Aber jetzt, in diesem Gottesdienst, wollen wir dem Dank gegenüber Gott Raum geben, dessen Gnade wir an diesem Ort so deutlich spüren können" (PI, 2). - „Nicht die eigenen Leistungen, nicht die diakonischen Heldentaten - schon gar nicht die Bilanzsummen und Spendenerfolge sind der Grund des Lobens. Es sind Gottes Wohltaten, die gepriesen werden" (PII, 1). - „Der Diakonie kann man zum Jubiläum zu ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gratulieren und Gott danken für alles, was sie in ihren Dienst einbringen" (PII, 2). 164 „Jauchzet dem Herrn alle Welt.' Alle werden eingeladen, in dem, was wir erlebt haben und erleben, ein Zeichen für das Wirken Gottes zu sehen" (PI, 3). 165 „Jauchzet dem Herrn, alle Welt.' Mir gefällt die englische Ubersetzung dieses Psalmworts besonders gut: ,Make a joyful noise unto the Lord.' ,Veranstaltet dem Herrn einen fröhlichen Lärm' - diese Übersetzung ist dem hebräischen Wortlaut des Psalms besonders nahe: ,Schmettert ihm zu!' - so hat Martin Buber diese Worte wiedergegeben" (PI, 2). 166 „Verordneter öffentlicher Jubel ist vielen von uns ohnehin ein Greuel; manche sind durch einschlägige Erfahrungen langfristig geschädigt Diktaturen sehr unterschiedlicher Art haben ihn gefordert, mindestens einmal im Jahr, manchmal auch häufiger. Wenn man sich daran erinnert, möchte man niemals mehr zu öffentlichem Jubel auffordern. Oder gerade doch? Vielleicht ist das die Alternative: Wer aufgehört hat, dem lebendigen Gott zuzujubeln, steht in der Gefahr, selbsternannten Götzen zuzujubeln - und sei es auch nur heimlich, zum Beispiel zu Hause allein vor dem Femseher. Jauchzet dem Herrn, alle Welt.' Wir werden aufgefordert/zu prüfen, wem unser Jubel tatsächlich gebührt. Wer Gott allein die Ehre gibt, ist dagegen gefeit, Mächte dieser Welt zu Götzen zu machen. Das ist der radikale Sinn des Glaubens. In diesem Sinn ist er eine konsequente Ideologiekritik" (PI, 167 „Ich weiß schon: Nicht immer ist uns zum Jubeln zumute. Konflikte und Enttäuschungen stopfen uns oft den Mund. Unbegreifliche Geschehnisse und Schicksalsschläge machen uns manchmal sprachlos. Das Eisenbahnunglück in Eschede hat uns das gerade wieder gezeigt. Aber umso mehr strecken wir uns nach denjenigen Erfahrungen aus, an denen uns der Sinn unseres Lebens und Arbeitens, die Schönheit der Welt, die Güte Gottes deutlich wird. Wir wüßten sonst gar nicht, woher die Kraft zum Neuanfang kommt, wenn es nicht immer wieder Grund zum Danken und zum Hoffen gäbe" (PI, 3). 168 „Ich weiß von der Scheu in Glaubensfragen, die in einem Haus mit dieser Geschichte und in einer Mitarbeiterschaft dieser besonderen Prägung vorhanden ist. Sie läßt sich nicht wie mit einem Federstrich beseitigen. Aber an einem solchen T a g muß es deutlich gesagt werden: Der Dank für Gottes Gnade ist die Grundlage, auf der dieses Haus steht und auch in Zukunft stehen soll. Christen, die in diesem Haus arbeiten, tun gut daran, ihren Glauben erkennbar zu machen und ihn weiterzugeben, so gut sie das können. Die Einladung, sich für die Wirklichkeit Gottes zu öffnen, gilt allen Menschen, die hier arbeiten, die als Patienten hier Aufnahme finden, die als Gäste in diesem Werk aus- und eingehen" (PI, 3). 85
Gott und die Rede von ihm bewahren die Kirche davor, als Subjekt der Diakonie missverstanden zu werden, und davor, statt sich die Botschaft von der Rechtfertigung sagen zu lassen, sich die diakonischen Werke selbst als gute Werke zuzurechnen;169 sie halten die Priorität des Handelns Gottes fest und bestimmen die Diakonie als Verweis auf dieses.170 Wie der „strahlende Dank" mit dem „bewussten Innehalten" eng verbunden ist, so ergibt sich aus dem Dank schlüssig „eine Bewegung, die auf die Zukunft ausgerichtet ist"171. Das Gotteslob und das Ende der Vergesslichkeit172 münden ein in die Zukunftsperspektive, die der Diakon Jesus Christus eröffnet. Dessen Bedeutung für die Menschen wird deutlich über die Diakonie hinaus geltend gemacht.173 Den Bedingungen
169 „Heute wird die Frage ,Gott und Kirche' schnell mit dem Verweis darauf beantwortet, was Kirche im diakonischen Bereich leistet. Anstatt sich selbst die Botschaft von der Rechtfertigung sagen zu lassen, rechtfertigt sich die Kirche selbst. Ihr gutes Werk, mit dem sie Gnade in der Gesellschaft finden möchte, ist die Diakonie" (PII, 4). 170 „Wir tun gut daran, uns auf unsere Stärken zu besinnen und dabei unsere Grenzen realistisch zu bedenken. Aber Gott loben und nicht vergessen, was er mir Gutes getan hat, heißt, mich auf eine Stärke zu besinnen, die nicht die meine ist. Woher bezieht mein Leben, mein Machen und mein Denken seine Kraft? Meine Stärke ist die von fremder Hand gewährte Kraft. So ist das auch mit unserer Diakonie. Wir verweisen mit ihr nicht auf uns selbst, auf unsere Bedeutsamkeit und Unentbehrlichkeit im Sozialstaat, auf unser Organisationsgeschick und unsere humanitäre Größe. Die Stärke der Diakonie sind die Geschenke Gottes, nämlich die Begabungen, die Fähigkeit und der Glaube, die Fähigkeit und der Glaube ihrer ehrenamtlich und hauptamdich Mitarbeitenden" (PII, 2). 171 PI, 1. 172 „Alle werden eingeladen, die Selbstverschlossenheit zu überwinden und die Gottvergessenheit hinter sich zu lassen. Niemand braucht sich zu schämen, in diesen Jubel mit einzustimmen: Jauchzet dem Herrn, alle Welt'" (PI, 3). - „Gefragt ist die aufrechte Geradlinigkeit, die nicht vergißt, daß wir all unsere Gaben Gott verdanken und deshalb diese Gaben ganz in den Dienst einer Aufgabe, ganz in den Dienst des Nächsten stellt" (PI, 4). - „Vergiß nicht, was Gott dir Gutes getan hat. Wir kranken an Vergeßlichkeit. Nicht erst Alterserscheinungen, das Alzheimer Syndrom oder andere dramatische Krankheitsprozesse quälen uns. Im Kern macht uns Gottvergessenheit zu schaffen" (PII, 2). „Wicherns Ruf an die Kirche war ein Ruf gegen die Vergeßlichkeit. [...], vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat [...]" Erstaunlicherweise klingt der Eigenappell des Psalmbeters gar nicht verzweifelt, sondern gelassen und fröhlich: Er genießt geradezu die Erinnerung an etwas, was schon längst für ihn geschehen ist und sich bis jetzt durchhält. Er erinnert sich an den, der „alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit [...]" (PII, 3). „Vergiß nicht, was Gott dir Gutes getan hat. Gottvergessenheit beklagte Wichern vor 150 Jahren und predigte das erlösende Wort: Das Entscheidende ist schon geschehen, bevor wir uns mit unserer Kraft daranmachen, etwas zu verändern und zu verbessern: ,Der Glaube gehört mir wie die Liebe -', und zwar als Geschenk. Die Kirche hat das damals gehört"