Verortet: Kirche und Liturgie im Wandel: Eine empirisch-theologische Studie zur Liturgie als Formwandlerin der Kirche [1 ed.] 9783666600128, 9783525600122


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Verortet: Kirche und Liturgie im Wandel: Eine empirisch-theologische Studie zur Liturgie als Formwandlerin der Kirche [1 ed.]
 9783666600128, 9783525600122

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Carsten Schuerhoff

Verortet: Kirche und Liturgie im Wandel Eine empirisch-theologische Studie zur Liturgie als Formwandlerin der Kirche

Research in Contemporary Religion

Herausgegeben von Hans-Günter Heimbrock, Stefanie Knauss, Daria Pezzoli-Olgiati, Hans-Joachim Sander, Trygve Wyller In Kooperation mit Hanan Alexander (Haifa), Carla Danani (Macerata), Wanda Deifelt (Decorah), Siebren Miedema (Amsterdam), Bonnie J. Miller-McLemore (Nashville), Garbi Schmidt (Roskilde), Claire Wolfteich (Boston) Band 29

Vandenhoeck & Ruprecht

Carsten Schuerhoff

Verortet: Kirche und Liturgie im Wandel Eine empirisch-theologische Studie zur Liturgie als Formwandlerin der Kirche

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.de abrufbar.  2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung von Tove Haugland Udon Satz: 3w+p, Rimpar

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-1145 ISBN 978-3-666-60012-8

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Eröffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Entstehung und Entwicklung der Studie 2.1 Der Kontext . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das methodische Interesse . . . . . 2.3 Methodenpluralismus . . . . . . . . 2.4 Forschungsethik . . . . . . . . . . . 2.5 Die Fragestellung und der Aufbau .

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3 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Empirische Liturgiewissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Theorien des Ortes und des Raumes . . . . . . . . . . . . . . .

31 31 63

4 Der erste historisch-systematische Problemhorizont: Kultur (im Wandel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Einführende Hinweise: Stadt als Thema in der Theologie . . 4.2 Graham Ward: Cities of God . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Harvey Cox: Stadt ohne Gott? . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Seppo Kjellberg: Urban Ecotheology . . . . . . . . . . . . . 4.5 Wolfgang Grünberg: Die Sprache der Stadt . . . . . . . . . . 4.6 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5 Der zweite historisch-systematische Problemhorizont: (Volks-)Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Einführende Hinweise: Neuere norwegische Konzeptionen von Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Dag Myhre-Nielsen: Eine heilige und ziemlich allgemeine Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Sevat Lappegard: Volkskirchentheologie . . . . . . . . . . 5.4 Harald Hegstad: Gemeindeentwicklung in der Volkskirche 5.5 Beiträge aus der deutschsprachigen Kirchentheorie . . . . 5.6 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. 81 . 81 . 85 . 94 . 100 . 107 . 112

. . . 115 . . . 115 . . . . .

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119 128 133 151 173

6

Inhalt

6 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die Reform des gottesdienstlichen Lebens . . . . . . . . . . 6.2 Die leitende Idee der Grundstruktur . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die zentralen methodischen Begriffe . . . . . . . . . . . . . 6.4 Die große – und doch unsichtbare – Rolle der involvierten Subjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Kurze Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Kontrastierungen: Das Evangelische Gottesdienstbuch der Evangelischen Kirche in Deutschland . . . . . . . . . . . . . 6.7 (Kritische) Verknüpfungen und Impulse zur Weiterarbeit . . 7 Fokussierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Groruddalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Methodologische und methodische Orientierung auf den Ort 7.3 Analysen und empirische Arbeit im engeren Sinn . . . . . .

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177 177 191 193

. . 211 . . 215 . . 216 . . 224 . . . .

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8 Impulse zu erneuerter Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 8.1 Die Uneindeutigkeit des Ortes und die reflektierte Rolle der involvierten Subjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 8.2 Verortete Kirche als Volkskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409

Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2019 unter dem Titel „Ortseigene und ver-ortete Kirche im Groruddal. Eine empirisch-theologische Studie im multikulturellen und verschiedenartig-vielfältigen Nordosten Oslos“ vom Fachbereich Evangelische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen. Sie wird hier in gekürzter und überarbeiteter Fassung präsentiert. Neben den Verpflichtungen des Pfarramtes hat sich der Forschungsprozess über mehrere Jahre gestreckt. Es ist schon daher, aber nicht nur deswegen, vielerlei Dank zu sagen. Zu allererst möchte ich Prof. em. Dr. Hans-Günter Heimbrock danken. Er hat meine Reisen über die Grenzen hinweg seit vielen Jahren mitverfolgt und über die Maßen gefördert, hat immer wieder zur (Mit-)Arbeit eingeladen und stetig inspiriert, war stets interessiert. Er hat so die Entstehung dieser Studie über Jahre engagiert betreut und unterstützt. Sodann steht der Dank an alle, die sich auf ein Gespräch und ein Interview mit mir eingelassen haben, die ihr Engagement, ihre Einschätzungen und ihre Erzählungen geteilt haben. Dann möchte ich meiner Gemeinde, Østre Aker und Haugerud, meinen Dank aussprechen. Stellvertretend seien Eli Solberg und Sigmund Gulliksrud genannt, sie stehen für eine Vielzahl von Menschen, Kollegen, Kolleginnen, Ehrenamtlichen, Gemeindegliedern, die mir immer wieder neu gezeigt haben, was es heißt, Kirche und gottesdienstfeiernde Gemeinde im Groruddal zu sein. Auf Propsteiebene ist zunächst meine ehemalige Pröpstin Anne Hilde Laland zu nennen, die mich in die strategische Arbeit in der Propstei eingeladen und eingebunden hat, sodann Propst Øyvind Stabrun, der die letzten Jahre diese strategische Arbeit weiterentwickelt hat. Darüber hinaus bin ich meinen Kollegen und Kolleginnen dankbar. Ich möchte für gemeinsame Gespräche und Diskussionen danken, in denen zu spüren war, dass ,unser‘ Groruddal und seine Menschen im Fokus standen. Bischof em. Ole Christian M. Kvarme danke ich für Studienbeurlaubungen sowohl 2012 als auch 2013 und der Christopher Bruun-Stiftung im Bistum Hamar sage ich Dank für finanzielle Unterstützung in einer frühen Phase. Den Mitgliedern der Forschungswerkstatt Empirische Theologie in Frankfurt am Main, es seien Erna Zonne-Gätjens, Silke Leonhard, Peter Meyer und Christopher Scholtz ausdrücklich genannt, bin ich zu Dank verpflichtet: für die gemeinsame Zeit, gemeinsame Projekte, gemeinsames und unterstützendes Mitdenken, dafür, dass mir die Tür immer offenstand. Der Osloer Forschungsgruppe Espace will ich für freundliche Aufnahme

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Vorwort

und die Involvierung in ein neues Projekt danken, zudem durfte ich mit Rosemarie van den Breemer und Adelheid H. Hillestad ein Teilstück der Zielgeraden teilen. Frau Prof. Dr. Ursula Roth will ich für die Bereitschaft danken, das Zweitgutachten zu übernehmen, bei Herrn Prof. Dr. Trygve Wyller bedanke ich mich für ein Votum aus einer norwegischen Forschungsperspektive. Vielen Dank für alle konstruktive und weiterführende Kritik, für inhaltliche Anregung und Wertschätzung. Den Herausgeberinnen und Herausgebern, Prof. em. Dr. Hans-Günter Heimbrock, Prof. Dr. Stefanie Knauss, Prof. Dr. Daria Pezzoli-Olgiati, Prof. Dr. Hans-Joachim Sander und Prof. Dr. Trygve Wyller, danke ich für die Aufnahme in die Reihe Research in Contemporary Religion. Dem Verlag, Miriam Espenhain und Renate Rehkopf will ich für die kompetente und effektive Begleitung danken. Ohne meine Zeit in der Reformierten Gemeinde in Hohenlimburg wäre ich wohl nicht zur Theologie gekommen; Hanna und Walter Adams haben meinen Weg nun mehr als dreißig Jahre lang begleitet. Schließlich seien Wegbegleiter aus meiner Zeit am Fachbereich in Marburg, Wegbegleiterinnen aus meiner Zeit an der Osloer Fakultät und gute Freundinnen und Freunde aus Tynset und Oslo genannt, die ermutigend und aufmunternd, aus der Ferne und aus der Nähe, auf ganz unterschiedliche Weise, die Entstehung der Studie begleitet haben: Friederike Harbordt, Thomas Braun, Berge R. Furre, Tone Marie und Trygve Falch, Toril Bull-Njaa Larsen, Marion und Florian Walter, Therese und Ole Albert Dalen, Veronika Stecker und Alexander Steger, Elisabeth Moss-Fongen, Hanne Kristin Bondevik Sørlid und Sophie Panknin. Und zu erwähnen sind, last, but not least, meine Eltern, meine Mutter und meine Oma, meine Familie, die Hohenlimburger wie die Schmachtendorfer, und besonders Silke, Jacob Herman und Johanne Linnea. Ihnen sei dieses Buch gewidmet. Lindeberg, im April 2020

1 Eröffnung Menschen machen mit verschiedenen Formangeboten der Kirche unterschiedliche und vielfältige Erfahrungen. Diese stehen im Mittelpunkt der folgenden empirisch-theologischen Studie, die Kirche und Gottesdienst als soziale und sozialökologische Räume begreift. So ist das Herzstück der Studie die Arbeit mit zwölf Leitfadeninterviews, die konsequent ,von unten‘ her, am Erleben der Subjekte orientiert, untersucht und analysiert werden. Zielpunkt ist es, die Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Erfahrungen genau wahrzunehmen und kirchentheoretisch fruchtbar zu machen. Theoretisch ermöglicht und angegangen werden die Analysen zum einen durch die Beschäftigung mit einer empirisch orientierten Liturgiewissenschaft und zum anderen durch die Bearbeitung von Theorien des Ortes und des Raumes. Diese Ausgangspunkte ermöglichen der Studie eine gedankliche Bewegung, die das Lokale mit dem Prinzipiellen, Übergeordnetem verbindet. Intendiert die Studie zunächst eine empirisch-theologische Analyse der Rezeption der Reform des gottesdienstlichen Lebens in einem bestimmten urbanen Setting, so führt sie doch darüber hinaus. Wurden in der Reform, die 2011 von der Generalsynode der Norwegischen Kirche beschlossen wurde, die drei Begriffe Flexibilität, Involvierung und Ortseigenheit/Ver-Ortung als zentrale methodische Begriffe gefasst, geben sowohl die Ausgangspunkte der Analysen als auch die Analysen größeres Potenzial zu erkennen. Gerade die (ebenfalls von den Analysen angeleitete) Reflexion und Neuformatierung des Begriffs der Ortseigenheit/Ver-Ortung ermöglicht es, diesen Begriff nicht nur auf den konkreten Kontext hin zu sehen und zu verstehen, sondern vielmehr Verortung als theoretische Herausforderung für das Begreifen von Gottesdienst und Kirche überhaupt zu fassen. „Die Grenze ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis.“1 Mit diesem Satz soll eine kurze biografische Einordnung der Studie charakterisiert sein; die vorliegende Studie ist ohne meine Reise von Deutschland nach Norwegen nicht zu denken. Seit 2003 arbeite ich als Pastor und Pfarrer in der Norwegischen Kirche. Ich bin in Deutschland, im Ruhrgebiet, geboren, in Hohenlimburg, an der Grenze zwischen Ruhrgebiet und Sauerland, aufgewachsen, in einer evangelisch-reformierten Gemeinde groß geworden, habe in Marburg Theologie studiert. 1 Tillich, Paul, Auf der Grenze, in: Tillich, Paul, Auf der Grenze. Aus dem Lebenswerk Paul Tillichs, Stuttgart 1962, 13–69, 13.

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Eröffnung

Dieses Studium habe ich an der Universität Oslo weitergeführt und abgeschlossen. Nach meiner Ordination in der Norwegischen Kirche war ich von 2003 bis 2009 Pastor und Pfarrer in Mittelnorwegen, in vier Gemeinden in Tynset. Mit meiner Rückkehr nach Oslo kam ich nach Haugerud, in eine der Trabantenstädte im Nordosten Oslos. Seit Herbst 2010 war ich Mitglied der Forschungswerkstatt Empirische Theologie in Frankfurt. Eingebunden in dieses Netzwerk, eingebunden aber vor allem in meinen Alltag, in dessen Fragen, Suchbewegungen und Antworten, ist eine Studie entstanden, die sich außerdem dem Forschungsprojekt Den anderen wahrnehmen verbunden weiß.2 Durch die Reform des gottesdienstlichen Lebens wurde die Idee eines ortseigenen/ver-orteten Gottesdienstes an die Gemeinden im multikulturellen und verschiedenartig-vielfältigen Nordosten Oslos herangetragen – und war Initial für mein Interesse und Ausgangspunkt meiner Suchbewegungen im Tal. Es waren zunächst Fragen ganz praktischer Art, die mich beschäftigten: Wie kann es gelingen in diesem Umfeld Gottesdienste zu feiern, die sich an den Begriffen Flexibilität, Involvierung und Ortseigenheit/Ver-Ortung orientieren? Wie kann die Norwegische Kirche, auch nach der Trennung vom Staat 2012, weiterhin – der Formulierung des Grundgesetzes gemäß – Volkskirche sein? Wie deuten und verstehen die Menschen im Gottesdienst und in der Gottesdienstplanung diese als zentral gedachten Begriffe? Wie erleben die Menschen im Tal ihr Tal, (ihre) Kirche, ihr Umfeld, ihren Kontext? Welche Ideen, Wünsche und Vorstellungen bringen sie mit – für (ihre) Kirche, für ihren Ort an dem sie leben? Diese Fragen werden in der vorliegenden Studie, im deutlichen Rückgriff auf den empirisch-phänomenologischen Ansatz, gebündelt, strukturiert, angeschärft und, zusammen mit Folgefragen und Phänomenen des Alltags, bearbeitet. Leitend sind dabei eine phänomenologisch interessierte Methodologie und daraus abgeleitete Methoden, ein Erkenntnisinteresse, das, wie Methodologie und Methoden, im steten deutsch-norwegischen Austausch bearbeitet wurde. Dabei wurde der Arbeit mit Leitfadeninterviews, hier als Fallstudien gefasst, und der Wahrnehmung und der Teilhabe an den Phänomenen des Alltags, als entscheidende Faktoren aller Methodologie, ein prominenter Platz zugewiesen. Die vorliegende Studie konzentriert sich im Wesentlichen auf den Zeitraum von Anfang 2011 bis Ende 2016. Als die ersten Leitfadeninterviews vorbereitet und durchgeführt wurden, 2 Vgl. Heimbrock, Hans-Günter/Wyller, Trygve (Hg.), Den anderen wahrnehmen. Fallstudien und Theorien für respektvolles Handeln, unter Mitarbeit von Peter Meyer, Göttingen 2010.

Eröffnung

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war abzusehen, wie die Beschlussgrundlage der norwegischen Generalsynode 2011 zur Reform des gottesdienstlichen Lebens aussehen würde; der für die Trennung von Staat und Norwegischer Kirche entscheidende Parlamentsbeschluss war für Mai 2012 anberaumt. Auf Propsteiniveau hatte eine lokale Strategiegruppe ihren Bericht dem Osloer Bischof im Juni 2010 überreicht und erwartete für das Jahr 2011 gespannt die Umsetzung ihrer Vorschläge. Ende 2016 lief das auf zehn Jahre angelegte staatlich-kommunale Groruddal-Aktionsprojekt aus, die Schlussevaluation lag vor und eine Neuauflage des Projekts war beschlossen. Für die Generalsynode 2017, die erste der Norwegischen Kirche als selbstständiges Rechtssubjekt, wurden Revisionen an der Reform des gottesdienstlichen Lebens erwartet. Dieser Prozess zog sich jedoch dahin, für die Generalsynode 2019 wurden sodann weitere Revisionen angekündigt. All dies konnte nicht mehr sinnvoll in den Blick genommen werden.

2 Entstehung und Entwicklung der Studie 2.1 Der Kontext Die norwegische Hauptstadt Oslo präsentiert sich zum Fjord hin. Der Blick streift vom Mittelalterpark, über das neue Munch-Museum und die schneeweiße Oper, über die neuen, modernen, bald futuristischen Hochhäuser, Barcode genannt, hinüber zur Festung Akershus und das Rathaus; von dort zur Flaniermeile Aker brygge und zum Astrup Fearnley Museum. – Eine selbstbewusste Metropole, die ein nordisch-skandinavisches Image pflegt. Oslo ist gleichzeitig eine westeuropäische Großstadt. Dies wird schnell sichtbar, wenn man das Rathaus und das Schloss im Westen liegen lässt, sich an der Oper vorbei, durch die modernen Häuserschluchten des Barcodes, Richtung Osten begibt. Hier hat Oslo ein anderes Gesicht. Die Merkmale der Gentrifizierung in den alten Arbeiterstadtvierteln des östlichen Zentrums täuschen nicht darüber hinweg. Es zeigt sich ein multikulturelles und multireligiöses Bild: Neben den üblichen Kiosken der großen Ketten sieht man Minarette, eine neuromantische Kirche aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, indische, pakistanische und türkische Restaurants und Modeboutiquen, die Saris ausstellen. Steigt man in die U-Bahn Richtung Westen, so ziehen sich, hinter dem Rathaus und dem Schloss, die Villen und Eigenheime gen Holmenkollen am Berg entlang. Die Fahrt gewährt grandiose Ausblicke. Eine Reise mit der U-Bahn Richtung Nordosten bringt dagegen ganz andere Eindrücke zutage. Nicht viel mehr als eine Viertelstunde und wir sind mitten im Groruddal1, sehen die Häuserblöcke der ausgehenden 50er Jahre am nächsten zum Zentrum hin, dann die Hochhäuser und Plattenbauten der 60er und 70er Jahre und im oberen Tal, kurz vor der Stadtgrenze, die der frühen 80er Jahre. Auffällig ist, dass die Häuser an den Hängen des Tals gebaut wurden, sodass die Nähe zum umliegenden Wald Rekreation sichern konnte. Der Talboden blieb frei und wurde mit Industrie besiedelt. Norwegens größter Umschlagplatz für den Güterverkehr, sowohl für Schienen- wie Straßenverkehr, und drei große Verkehrsadern aus der Stadt hinaus, Richtung Flughafen und Richtung Norden, liegen hier. 1 Die Bezeichnung ist, trotz älteren Belegen, dem heutigen Gebrauch nach, ein Kunstwort, abgeleitet von einer der ältesten Siedlungen – Grorud – und der Lage in einem Tal (norwegisch: dal). Die nord-östlichen Stadtteile Bjerke, Alna, Grorud und Stovner werden unter dieser Bezeichnung zusammengefasst. Vgl. 7.1.

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Entstehung und Entwicklung der Studie

Das Groruddal war Schauplatz für den großen Bevölkerungszuwachs nach dem Zweiten Weltkrieg. Zwischen 1944 und 1946 kamen 21 000 neue Einwohner und Einwohnerinnen und durch die Eingemeindung der Kommune Aker 1948 vergrößerte sich die Fläche Oslos von 16, 9 km2 auf 453, 4 km2. Die Stadt wuchs auf den grünen Wiesen, Bauernhöfe wurden enteignet und Wochenendhäuser der Stadtbevölkerung umfunktioniert. Gerade aus den engen Wohnungen der Innenstadt und aus anderen Teilen des Landes, dem Norden, kamen die Menschen.2 Es war die Zeit des sozialdemokratisch geführten Aufbaus: Von 1950 bis 1970 wurden etwa 725 000 Wohnungen gebaut, im Durchschnitt über 28 000 jährlich. Direkt nach dem Krieg gab es knappe 800 000 Wohnungen, 1970 1, 3 Millionen. Für die Arbeiterpartei war das Recht auf eine eigene Wohnung zum Hauptanliegen geworden. […] Der Verkauf von Wohnungen war einer der am stärksten regulierten Märkte der Gesellschaft, ein Juwel der sozialdemokratischen Ordnung.3

Von Anbeginn an war es keine homogene Bevölkerung, die im Groruddal wohnte, die Art der Bebauung entsprach nicht „der nationalen norwegischen Grammatik für gutes Lokalmilieu“4, es „war nicht notwendig auf vier vorhergehende Generationen zu verweisen, um als Bewohner/Bewohnerin akzeptiert zu werden“5. Doch der sogenannte Stovner-Rapport von 1975 zementiert ein negatives Image.6 Dies prägte die Sicht auf das Groruddal, als ein erneuter Wandel eintrat. Mitte der 80er Jahre wurde der Wohnungsmarkt dereguliert, aufgrund des schlechten Rufes zogen die, die es sich leisten konnten aus, und es kamen Menschen mit Migrationshintergrund, aus den Stadtvierteln im östlichen Zentrum, aus der ganzen Welt – der schlechte Ruf veränderte lediglich seinen Charakter.7 Heute leben im Groruddal beinahe 150 000 Menschen. Für sich genommen wäre das Groruddal die viertgrößte Stadt Norwegens. Der Anteil der Men2 Vgl. Byantikvaren i Oslo (Hg.), Oppdag Groruddalen! En kulturhistorisk guide, Oslo 2010, 12 f. 3 Furre, Berge, Norsk historie 1914–2000. Industrisamfunnet – fr vokstervisse til framtidstvil, Oslo 62012, 243. Wie hier sind alle Zitate aus dem Norwegischen von mir übersetzt und generell gilt, dass alle Hervorhebungen in Zitaten dem jeweiligen Original entnommen sind. 4 Høgmoen, Anders/Eriksen, Thomas Hylland, Et lite stykke Anti-Norge, in: Samtiden (1/2011), 29–38, 37. 5 Høgmoen/Eriksen, Et lite stykke Anti-Norge, 37. 6 Vgl. Høgmoen/Eriksen, Et lite stykke Anti-Norge, 33 f. „Der Stovner-Rapport war in seinem Urteil über Schule, die Verhältnisse in den Familien, die Wohnungen und Spielmöglichkeiten gnadenlos.“ In Høgmoen/Eriksen, Et lite stykke Anti-Norge, 34. Vgl. Eriksen, Thomas Hylland/ Vestel, Viggo, Groruddalen, Alna og det nye Norge, in: Alghasi, Sharam/Eide, Elisabeth/Eriksen, Thomas Hylland (Hg.), Den globale drabantbyen. Groruddalen og det nye Norge, Oslo 2012, 15–32, 17. 7 Vgl. Eriksen/Vestel, Groruddalen, Alna og det nye Norge, 17; Høgmoen/Eriksen, Et lite stykke Anti-Norge, 35; Reisæter, Ingunn Larsen, Min dal, din dal, v rt felles hjemsted. En studie av nordmenns respons p endringsprosesser i Groruddalen, Masterarbeit, Universität Oslo, 2009, 23 f.

Der Kontext

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schen, die entweder selbst oder deren Eltern eingewandert sind, liegt in Stovner und Alna bei über 50 %, in Grorud und Bjerke bei über 40 %. Es werden etwa 200 verschiedene Sprachen gesprochen und gut 170 nationale Abstammungen gezählt. Eine Vielzahl an Religionen ist vertreten, darunter Christentum und Islam als die größten. Viele der hier lebenden Migranten und Migrantinnen sind Flüchtlinge. Zudem liegt das Durchschnittseinkommen deutlich niedriger als in den westlichen Stadtteilen, der Anteil an kommunalen Wohnungsangeboten ist hoch. Die Infrastruktur bedarf der Wartung und Instandhaltung. Der Talboden besteht noch immer aus Industrie und Autobahnen, insgesamt sind es zwanzig Spuren Autobahn, auf diesen fahren im Laufe von 24 Stunden 611 000 Autos. Es gibt acht größere Einkaufszentren, aber kein Kulturhaus, kein Theater, kein Kino.8 In den letzten Jahrzehnten mangelte es nicht an Planvorhaben für das Groruddal, es dauerte aber bis 2006, bevor sich Kommune und Regierung auf ein gemeinsames Programm einigten. Über den Zeitraum von zehn Jahren (2007–2016) wurden im Rahmen des Groruddal-Aktionsprojekts über 1, 4 Milliarden Kronen im Tal investiert.9 Die Norwegische Kirche hat die Wandlungen des Groruddals begleitet und miterlebt. Ab den späten 50er Jahren wurden neue Gemeinden gegründet und die Kirche zeigte Präsenz in den Neubaugebieten. In Kellerlokalen und Sporthallen wurden Gottesdienste gefeiert, nach und nach wurden Kirchen gebaut.10 Die Kirche ist Teil der Veränderungen und will diese mitgestalten. 1994 wurde das Projekt Kirche im Groruddal gegründet, im gleichen Jahr gründete sich das Forum für kontextuelle Theologie im Groruddal.11

8 Zum Vergleich: der Großraum Oslo hat etwa eine Million Einwohner, Oslo selbst gut 650 000. Bergen hat ca. 230 000 Einwohner, Stavanger ca. 130 000. Vgl. Nadim, Marjan, Levek r i Groruddalen, Fafo-rapport 2008:27, Oslo 2008; Eriksen/Vestel, Groruddalen, Alna og det nye Norge, 17 f.29 f.; Holen, Øyvind, Groruddalen. En reiseskildring, Oslo 22016, 101 f. 9 Vgl. Intensjonsavtale mellom staten og Oslo kommune om Groruddalen, https://www.oslo.kom mune.no/politikk-og-administrasjon/slik-bygger-vi-oslo/groruddalssatsingen-2007-2016/do kumenter-groruddalssatsingen/ (abgerufen am 18. 10. 2018); Eriksen/Vestel, Groruddalen, Alna og det nye Norge, 22 f. Mögliche Nachfolgeprogramme wurden im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen 2015 diskutiert und die Stadtregierung, eine Koalition aus Arbeiterpartei, Umweltpartei – Die Grünen und Sozialistischer Linkspartei, schreibt in ihrer Koalitionserklärung vom 19. Oktober 2015: „Der Stadtrat will das Groruddal-Engagement und das Engagement für Oslo-Süd in Zusammenarbeit mit dem Staat um weitere zehn Jahre verlängern und stärken.“ Siehe http://www.sv.no/oslo/wp-content/uploads/sites/2/2015/10/Byraadserklaering-web.pdf (abgerufen am 22. 10. 2015). Die erste Programmbeschreibung einer Fortführung wurde am 12. August 2016 vorgelegt. 10 Vgl. Bergersen, Terje, Kirken Bygger – Stiftelsen som skaffet drabantbyene kirker, http://www.by arkivet.oslo.kommune.no/OBA/tobias/tobiasartikler/t4984.htm (abgerufen am 11. 8. 2012). 11 Vgl. Prosjektet Kirken i Groruddalen og Forum for kontekstuell teologi i Groruddalen (Hg.), Ordet tar bolig i Groruddalen – s korn for asfalt og betong!? Et inspirasjonshefte for bibel- og

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Entstehung und Entwicklung der Studie

Nur wenige Jahre später ergriff der damalige Osloer Bischof Gunnar St lsett die Initiative zu einem bistumsweiten Projekt, Gott in der Großstadt. Dies wurde 2002 angestoßen und verstand sich als Suchprozess, hin zu einem „Verständnis von Kirche in der Großstadtregion Oslo im Jahre 2010“12. Diese Arbeit ging beinahe nahtlos in die Arbeit einer eigenen Strategiegruppe für die Propstei Østre Aker im Jahre 2010 über.13 Leitend und ausschlaggebend war die Beobachtung, dass die Voraussetzungen des KircheSeins sich gewandelt haben und sich stetig wandeln. Das Gefühl der eigenen Selbstverständlichkeit kam abhanden, die finanziellen und personellen Möglichkeiten wurden kleiner, zum Teil aufgrund sinkender Mitgliederzahlen, zum Teil als Folge gekürzter Zuwendungen von Staat und Kommune. Ein weiterer Prozess der Neuorganisierung auf Bistumsebene führte zum Jahreswechsel 2012/2013 dazu, dass Gemeinden fusioniert wurden und eine der Kirchen in der Propstei an das römisch-katholische Bistum abgegeben wurde.14 In diese organisatorischen Veränderungen fallen zwei wichtige Entscheidungen für die Norwegische Kirche, die mir, in meinem professionellen Alltag, zu Stolpersteinen wurden. Diese zeichnen die Interessensrichtungen der grundlegenden Fragestellung der vorliegenden Studie schon ab; auf der einen Seite ein liturgiewissenschaftliches, auf der anderen Seite ein kirchentheoretisches Interesse. Erstens: Nach Jahren der Diskussion und Erprobung wird im April 2011 die Reform des gottesdienstlichen Lebens beschlossen. Führend für die Feier des Gottesdienstes sollen nun die drei zentralen methodischen Begriffe Flexibilität, Involvierung und Ortseigenheit/Ver-Ortung sein.15 Zweitens: Das norwegische Parlament beschließt, nach jahrzehntelanger Diskussion, am 21. Mai 2012 die Trennung von Staat und Kirche und schreibt

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samtalegrupper, ohne Verlag, 1996. Federführend mitgearbeitet haben Hans Arne Akerø, Ingunn Rinde, Paul Skuland und Einar Tjelle. Das Projekt wurde 2002 beschlossen (Protokoll des Osloer Diözesanrates vom 16. 12. 2002, Aktenzeichen 105/02). Das Zitat ist aus der Projektbeschreibung entnommen: Gud i storby. Om kirkelig nærvær, uttrykksformer og tjenestetyper i 2010 i Oslo bispedømme. En prosjektbeskrivelse, 16. desember 2002, 7. Die Propstei Østre Aker deckt das Groruddal ab und seit dem 19. März 2018 heißt es offiziell: Propstei Groruddal. In der folgenden Studie wird der zu dem jeweiligen Zeitpunkt geltende Name benutzt. Vgl. Vestel, Viggo, Pionerer i det nye Norge?, in: Alghasi, Sharam/Eide, Elisabeth/Eriksen, Thomas Hylland (Hg.), Den globale drabantbyen. Groruddalen og det nye Norge, Oslo 2012, 35–57, 47 ff. Alle Dokumente zur Generalsynode 2011 finden sich hier: https://kirken.no/nb-NO/om-kirken/ slik-styres-kirken/kirkemotet/dokumenter_vedtak/kirkemotet-05. 04. 2011–-10. 04. 2011-tons berg/ (abgerufen am 3. 7. 2015). Vgl. Kirker det (Hg.), Gudstjeneste for Den norske kirke, Stavanger 2011, 7.5–7.7.

Das methodische Interesse

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der Norwegischen Kirche im § 16 des Grundgesetzes den Status einer ,Volkskirche‘ zu. Mitten im Groruddal ist die Kirche – als Volkskirche – angehalten, ortseigene/ ver-ortete Gottesdienste zu feiern, in einem multikulturellen und multireligiösen Kontext, in dem die Anzahl der Gemeinden anderer Sprache und Herkunft zunimmt, an dem Ort, von dem Thomas Hylland Eriksen und Viggo Vestel schreiben: „Ortszugehörigkeit kann in einer solchen Umgebung nicht vorausgesetzt werden, sie muss geschaffen werden.“16

2.2 Das methodische Interesse Im Takt mit dem politischen Interesse am Groruddal, den angestoßenen und verworfenen Planvorhaben und, letztendlich, mit dem Beschluss des gemeinsamen Programms (Groruddal-Aktionsprojekt) von Kommune und Regierung 2006 wuchs die Anzahl der Forschungsarbeiten. Dies waren zunächst in aller Hauptsache Rapporte, Berichte und Anhörungen, zum Teil Auftragsforschung, die sowohl Grundlagen für das weitere politische Vorgehen sichern sollte als auch das Ziel der Evaluation hatten.17 Daneben entwickelte sich im Laufe der letzten Jahre soziologisches, sozialanthropologisches und gesellschaftsanalytisches Interesse. Deutlich wird dies an Masterarbeiten und Promotionen, die in den letzten Jahren entstanden sind und die sich ihrem Thema und dem Groruddal mittels qualitativer Methoden nähern.18 16 Eriksen/Vestel, Groruddalen, Alna og det nye Norge, 16. Die Worte und Begriffe multikulturell und multireligiös werden ausdrücklich nicht in dem Sinn gebraucht, dass einzelne Gruppen als sich selbst überlassen oder als nebeneinander und unabhängig voneinander existierend gedacht werden. Es geht zuvorderst darum, Vielfalt zu beschreiben, dazu werden andere, aber eben auch diese Begriffe verwendet. Vgl. Eide, Elisabeth/Eriksen, Thomas Hylland, Innledning: Den flerstemte drabantbyen, in: Alghasi, Sharam/Eide, Elisabeth/Eriksen, Thomas Hylland (Hg.), Den globale drabantbyen. Groruddalen og det nye Norge, Oslo 2012, 7–14, 10 f. 17 Beispielhaft seien genannt: Øia, Tormod/Vestel, Viggo, Møter i det flerkulturelle, NOVA Rapport 21/07, Oslo 2007; Nadim, Marjan, Levek r i Groruddalen, Fafo-rapport 2008:27, Oslo 2008; Dønnum, Helge/Maartmann-Moe, Hilde, Oppstartsdokumentasjon Groruddalssatsningen, PwC, Oslo 2008; Ruud, Marit Ekne/Holm-Hansen, Jørn/Nenseth, Vibeke/Tønnesen, Anders, Midtveisevaluering av Groruddalssatsingen, Samarbeidsrapport NIBR/TØI 2011, Oslo 2011. Drei der Dokumente finden sich hier: https://www.oslo.kommune.no/politikk-og-administras jon/slik-bygger-vi-oslo/groruddalssatsingen-2007-2016/dokumenter-groruddalssatsingen/ (abgerufen am 14. 10. 2018). 18 Vgl. Vestel, Viggo, A community of differences – hybridization, popular culture and the making of social relations among multicultural youngsters in „Rudenga“, East side Oslo, NOVA Report 15/2004, Oslo 2004; Reisæter, Ingunn Larsen, Min dal, din dal, v rt felles hjemsted. En studie av nordmenns respons p endringsprosesser i Groruddalen, Masterarbeit, Universität Oslo, 2009; Eikenes, Ingebjørg, Fritid i fellesskap p Furuset. Ei analyse av organisasjonslivet p Furuset i

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Entstehung und Entwicklung der Studie

Unter der Leitung des Sozialanthropologen Thomas Hylland Eriksen wurde an der Universität Oslo das interdisziplinäre Projekt Inclusion and Exclusion in the Suburb. The centripetal and centrifugal forces of locality and place (2009–2013) durchgeführt. Es überwiegen die qualitativen Methoden und das Themenspektrum ist breit gefächert, es geht um Elternschaft, Schulwahl, Ethnizität, Rollenvorbilder und Jugend, Freiwilligkeit, Medien – und es geht um Religion. Die Theologin Anne Hege Grung und die Religionswissenschaftlerin Beate Solli sind mit Texten im Abschlussband des Projekts vertreten.19 Die vorliegende Studie teilt die qualitative Herangehensweise, spitzt sie aber noch einmal, auf zweierlei Weise, zu. Diese Zuspitzung kommt zum einen durch bewussten Grenzgang zum Ausdruck: Als in Deutschland aufgewachsener Pastor der Norwegischen Kirche forsche ich, mit Verankerung in einem deutschen Kontext, in meinem eigenen Arbeitsfeld. Zum anderen wird diese verdeutlicht durch eine empirisch-phänomenologische Einrichtung der qualitativen Forschungsansätze, die ihrerseits den Grenzgang kennt.20 Entscheidend für die phänomenologische Einrichtung der Studie ist die Aufnahme des Verweises Trygve Wyllers auf die Intentionalität. Immer sind es Subjekte, die aufeinandertreffen, die miteinander ins Gespräch kommen, sich wahrnehmen, und diese sind je ihrer Lebenswelt verhaftet und bringen Erfahrungen dieser Lebenswelt mit in die Begegnung ein.21 Damit ergibt sich, mit Hans-Günter Heimbrock und Peter Meyer, dass das Andere, der Andere, der Fall und das Feld, zunächst grob und beispielhaft umrissen als ,Kirche im Groruddal‘, nicht einfach da ist und als solches empirisch erforscht, katalogisiert und vermessen werden kann, sondern, dass sich als Fall das versteht, „was erst durch den Forschungsprozess mit allen ihm zugehörigen Elementen konstituiert wird“22. Als Bewohner des Tals, als Pastor,

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perioden 1970–2010, Masterarbeit, Universität Oslo, 2011; Gabrielsen, Guro Voss, Groruddalen; Oslos vakreste verkebyll? – problemrepresentasjoner og stedsforst elser i Groruddalssatsingen, Dissertation, The Oslo School of Architecture and Design, 2014. Vgl. Grung, Anne Hege, Fellesskap blant kristne og muslimer p Furuset, in: Alghasi, Sharam/ Eide, Elisabeth/Eriksen, Thomas Hylland (Hg.), Den globale drabantbyen. Groruddalen og det nye Norge, Oslo 2012, 165–179; Solli, Beate, Bait-un-Nasr og ,følelse av sted‘, in: Alghasi, Sharam/Eide, Elisabeth/Eriksen, Thomas Hylland (Hg.), Den globale drabantbyen. Groruddalen og det nye Norge, Oslo 2012, 198–211. Vgl. Heimbrock, Hans-Günter/Wyller, Trygve (Hg.), Den anderen wahrnehmen. Fallstudien und Theorien für respektvolles Handeln, unter Mitarbeit von Peter Meyer, Göttingen 2010. Vgl. Wyller, Trygve, Ethik und Phänomenologie im Kontext von Professionspraxis und Professionstheorie, in: Heimbrock, Hans-Günter/Wyller, Trygve (Hg.), Den anderen wahrnehmen. Fallstudien und Theorien für respektvolles Handeln, unter Mitarbeit von Peter Meyer, Göttingen 2010, 11–22, 16 f.20. Heimbrock, Hans-Günter/Meyer, Peter, Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien:

Das methodische Interesse

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als Subjekt bin ich in das umrissene Feld eingebunden, nehme das wahr, was mir in den Kram passt, und sammele gleichzeitig naiv, was mir im Alltag unterkommt. Ich konstituiere den Fall mit und profitiere davon, dass „Routine durch Reflexion gleichsam ,verlangsamt‘“23 wird. Auf diese Weise soll der Blick für die Betrachtung der mit in die Gesprächssituationen, in den Alltag, in die Begegnungen des Alltags, eingebrachten Erfahrungen, Vorannahmen, Gefühle und für die Phänomene, die zutage treten, wenn sich Subjekte begegnen, geöffnet werden. Dabei gilt, dass die eingebrachten Erfahrungen an leibhaftige Subjekte gebunden und nur interpersonal zu verstehen sind.24 Und schon hier sei angemerkt: Die involvierten Subjekte werden als Experten und Expertinnen ihrer Lebenswelt gesehen und bringen Gelebte Religion ein. Für die methodologische Reflexion bedeutet dies, dass Offenheit für das Unerwartete und Überraschende gewährleistet sein muss. Damit sind gleichzeitig die Grenzen dieser Art der Formulierung des methodischen Interesses angesprochen. Es muss durch die konkrete Methodenwahl gesichert werden, dass mentale Vorbehalte, der Situation, den Gesprächspartnern und -partnerinnen gegenüber, den geäußerten Gedanken und Ideen gegenüber, eigene Kurzschlüsse, eigene Befindlichkeiten und ein möglicherweise übereiltes Einbringen des Forschersubjektes bewusst gemacht, abgefedert und in jedem Fall reflektierbar gemacht werden. Der eigenen Konstitution müssen (notwendige) Grenzen aufgezeigt werden. Vorläufig zusammenfassend: Eigene Vorannahmen müssen zurückgestellt werden, es können nicht Methodenschritte einfach abgearbeitet werden. In der Arbeit mit und an der Studie muss es sich stets um einen zirkulären Prozess zwischen phänomenologischer Fallbeschreibung und vertiefendem Verständnis durch den Bezug auf Theorien, die für die spezifische berufliche Praxis relevant sind25,

handeln.

Empirische Strategien, in: Heimbrock, Hans-Günter/Wyller, Trygve (Hg.), Den anderen wahrnehmen. Fallstudien und Theorien für respektvolles Handeln, unter Mitarbeit von Peter Meyer, Göttingen 2010, 22–40, 35. 23 Heimbrock/Meyer, Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien, 35. 24 Vgl. Heimbrock/Meyer, Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien, 37 f. 25 Heimbrock/Meyer, Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien, 40.

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Entstehung und Entwicklung der Studie

2.3 Methodenpluralismus Will die Verlangsamung der Routine, die Öffnung und Weitung des Blicks, die Rückstellung der Vorannahmen sowie das Wechselspiel in der Bearbeitung gelingen, soll weiter der persönliche Eingang durchgehalten werden, bedarf es einer flexiblen Methodenwahl. Diese muss dem Chaotischen, dem Überraschenden, dem Erfassten und dem Erfassenden, dem sich Aufdrängendem und dem Hin und Her Platz einräumen können. Gleichzeitig muss sie eine Sicherung, Kommunikation und Transparenz der Ergebnisse sichern.26 Im Sinne des skizzierten methodischen Interesses sollen in der vorliegenden Studie, mit dem Ausdruck der phänomenologischen Adaption überschrieben, Methoden „aus dem Bereich der empirischen, insbesondere der qualitativen Forschung als Ausgangspunkt gewählt und den spezifischen Bedürfnissen der Phänomenologie und des Forschungsprojekts entsprechend adaptiert“27 werden. Im Kontext der Reform des gottesdienstlichen Lebens, angegangen und umgesetzt im großstädtisch geprägten Feld des Nordostens Oslos, im Groruddal, soll die Tür in diese Arbeit und Studie hinein zum einen von einer empirischen Liturgiewissenschaft und zum anderen von Betrachtungen und Analysen zu Theorien des Ortes und des Raumes aufgestoßen werden. Durch die Beschäftigung mit einer empirischen Liturgiewissenschaft wird der Impuls gesichert, dass nicht einfach liturgische Formen und deren Entwicklungen abgefragt werden. Mittels einer alltagsnahen Rezeption der Reform des gottesdienstlichen Lebens, so wird zu zeigen sein, gelingt es, den Reaktionen und Erfahrungen, dem Erleben der Menschen Gewicht beizumessen. Ist hier, sowohl durch die Reform des gottesdienstlichen Lebens als auch durch die Entscheidung des norwegischen Parlaments, der Norwegischen Kirche das ,Volkskirche-Sein‘ zuzuschreiben, die Frage nach dem Ort und nach dem Ort der Kirche eingespielt und in den Mittelpunkt gestellt, scheint ein Abstecken eines Theorierahmens, der Raum und Ort konstruktiv und von den involvierten Subjekten her denkt, vielversprechend und weiterführend.

26 Vgl. Heimbrock, Hans-Günter/Meyer, Peter, Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien: Empirische Strategien, in: Heimbrock, Hans-Günter/Wyller, Trygve (Hg.), Den anderen wahrnehmen. Fallstudien und Theorien für respektvolles Handeln, unter Mitarbeit von Peter Meyer, Göttingen 2010, 22–40, 39 f. 27 Heimbrock, Hans-Günter/Scholtz, Christopher P., Von der Verwunderung im Alltag zum Forschungsdesign, in: Dinter, Astrid/Heimbrock, Hans-Günter/Söderblom, Kerstin (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, UTB 2888, Göttingen 2007, 84–100, 93. Vgl. Knecht, Achim, Erlebnis Gottesdienst. Zur Rehabilitierung der Kategorie „Erlebnis“ für Theorie und Praxis des Gottesdienstes, Leipzig 2011, 59.

Methodenpluralismus

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Dabei ist in Erinnerung zu behalten, dass diese Annäherung und Forschungseröffnung, die Einrichtung der Studie – und, wie zu zeigen sein wird, das Drängen der Menschen, der involvierten Subjekte – fordert, dass das Empirische der Komplementarität bedarf.28 Um die Weite des Einstiegs in die Studie nicht zu verspielen, sollen Theorieanalysen und Literaturberichte zu den historisch-systematischen Problemhorizonten, die sich auch aus der Empirie, aus der Wahrnehmung und der Teilhabe an Phänomenen des Alltags ergeben, zwischengeschaltet werden. Dies sichert gleichfalls, dass weiße Flecken und Vorbehalte, auch seitens des Forschersubjekts, eliminiert werden können. Ferner wird die Aufmerksamkeit geschärft, das Drängen der Menschen, ihre Fragen und Kommentare, ernst zu nehmen. Es sollen also diese historisch-systematischen Problemhorizonte so aufgenommen werden, dass (durch ihren Beitrag) eine phänomenologische Adaption weiter vorangetrieben wird. Die empirisch gehobenen Befunde können als Fall konkretisiert werden, werden eben nicht einfach als Veranschaulichungen für vermeintlich größere Zusammenhänge angesehen. Diese Konkretion als Fall soll zuvorderst durch die Methode des Leitfadeninterviews angegangen werden. Diese Form lässt sich „durch das Thema der Untersuchung, einen gemeinsamen Erfahrungszusammenhang und durch die thematische Leitfadengestaltung“29 gut fokussieren und „an der konkreten Gesprächssituation und ihrer Dynamik“30 ausrichten. Werden schon in der qualitativen Sozialforschung „die Befragten als ExpertInnen ihrer Erfahrungen, ihrer Lebensgeschichte und ihrer Lebenswelt“31 ernst genommen, so rückt durch die phänomenologische Erweiterung der Methode das Nonverbale, Emotionen, die Beziehungen, Interaktionen, die Gesprächssituation, das Unvermutete und Überraschende in den Vordergrund.32 Gelingt es, bekannte und eigene Kenntnisse und Vorannahmen sichtbar zu machen und zunächst zurückzustellen, lässt sich unter Zuhilfenahme der Interviews ein exploratives, vielschichtiges und vielstimmiges Bild zeichnen, das Spuren und Pfade im weiten Feld ,Groruddal‘ sichtbar macht.33 Die Leitfadeninterviews können aber – im Sinne eines Methodenpluralismus und einer angestrebten phänomenologisch inspirierten und vielfältigen 28 Vgl. Pickel, Gert/Sammet, Kornelia, Einführung in die Methoden der sozialwissenschaftlichen Religionsforschung, Wiesbaden 2014, 165–171. 29 Söderblom, Kerstin, Leitfadeninterviews, in: Dinter, Astrid/Heimbrock, Hans-Günter/Söderblom, Kerstin (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, UTB 2888, Göttingen 2007, 254–269, 255. 30 Söderblom, Leitfadeninterviews, 255. 31 Söderblom, Leitfadeninterviews, 259. 32 Söderblom, Leitfadeninterviews, 262. 33 Vgl. Söderblom, Leitfadeninterviews, 263.

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Entstehung und Entwicklung der Studie

Annäherung – nicht die einzigen Quellen sein.34 Daher wird, verwoben in die Hektik des Alltags, mitlaufend, teils überraschend und ungeordnet, auf die Teilnehmende Beobachtung zurückgegriffen: Dafür ist maßgeblich, dass für diese Methode eine unspezifische, offene Aufmerksamkeit grundlegend ist, verbunden mit einem reflektierten, subjektbezogenen Verständnis des Wahrnehmungsvorgangs, der von der produktiven Spannung zwischen der Einnahme einer Binnenperspektive bei gleichzeitiger Kultivierung des Beobachters als ,professioneller Fremder‘ (der sein Vorwissen über den Untersuchungsgegenstand zurückstellt) ausgeht.35

Die grundlegende Formatierung des Forschungsprozesses, die die Auswertung und Analyse anleitet, macht Anleihen bei der Grounded Theory, lässt sich von dieser inspirieren, jedoch ohne diese als elaborierte Methode aufzunehmen. Aspekte des methodologischen Interesses aufnehmend ist zu unterstreichen, dass der Forschungsprozess als (spiralförmiger) ,Suchprozess‘ und als ,kreatives Konstruieren‘ aufgefasst wird.36 Der eigene Forscheralltag, Beobachtungen, Wahrnehmungen im und des Alltags und die Leitfadeninterviews sollen, unter dem Vorzeichen der Offenheit, angegangen und aufgebrochen werden. Dies geschieht unter Zuhilfenahme von Orientierungsmarken. Diese verdanken sich mittel- und unmittelbar den alltäglichen Beobachtungen und Wahrnehmungen und werden auf diese hin rückgeführt. Gleichzeitig werden sie, durch die Arbeit mit den historisch-systematischen Problemhorizonten, theoretisch gesichtet und analysiert.37 Auf diese Weise soll, im Sinne der Grounded Theory, „deduktives und induktives Vorgehen miteinander korreliert“38 und ein abduktives Vorgehen angepeilt werden.

2.4 Forschungsethik Das beschriebene Hin und Her, die methodologischen Konnotationen der Konstitution und Intentionalität machen deutlich, „dass jede Bewegung von Forschenden im Feld das Feld selbst beeinflusst und eine neue Wirklichkeit 34 Vgl. Söderblom, Leitfadeninterviews, 260 f.; Flick, Uwe, An Introduction to Qualitative Research, London et al. 32006, 73 f. 35 Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 61. 36 Vgl. Mädler, Inken, Ein Weg zur gegenstandsbegründeten Theoriebildung: Grounded Theory, in: Dinter, Astrid/Heimbrock, Hans-Günter/Söderblom, Kerstin (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, UTB 2888, Göttingen 2007, 242–254, 242. 37 Vgl. Mädler, Grounded Theory, 247. 38 Mädler, Grounded Theory, 249.

Forschungsethik

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schafft“39. Diesen Sachverhalt gilt es nicht auszuschalten und zu eliminieren, sondern zu reflektieren, sodass eine Haltung und Annäherung der respektvollen Neugier kultiviert werden kann. Für diese Haltung gilt: Einerseits gründet sie auf der phänomenologischen Forderung nach Offenheit und der uneingeschränkten Bereitschaft, die Dinge selbst wahrzunehmen und sich überraschen zu lassen, statt sie sofort zu filtern und zu bewerten. Andererseits basiert sie auf der biblisch-theologischen Haltung der Annahme der Fremden und Marginalisierten und dem Schutz der Schwachen.40

Fundamentaltheologisch verweisen Kerstin Söderblom und Astrid Dinter an dieser Stelle auf die Rechtfertigung. Diese soll gewährleisten, „den Anderen in seiner Integrität und Unverfügbarkeit zu achten und ihn nicht für die jeweils eigenen Forschungsstile zu vereinnahmen oder zu manipulieren“41. Der Verweis auf die Rechtfertigung und die Integrität der Anderen ist für die vorliegende Studie von Gewicht, da ich mich an vielen Stellen und bei vielen Gelegenheiten frei, unbemerkt (im Sinne von ,ich falle nicht auf‘, ,meine Anwesenheit löst keine Verwunderung aus‘) bewegen konnte: Ich war einfach dabei.42 Wichtig war, im Laufe des Forschungsprozesses die Stichworte führend sein zu lassen, die Söderblom und Dinter in Anschluss an Carl R. Rogers nennen: „Kongruenz (Ehrlichkeit, Echtheit), Akzeptanz und Empathie“43. So wussten viele Menschen, meine Kolleginnen und Kollegen, um meine Interessen, ich war, obwohl nicht mit einem eigenen strategischen Projekt betraut, die letzten Jahre bei den Treffen der Projektleiter und Projektleiterinnen zugegen.44 Meine Mitarbeit in der Forschungsgruppe Empirische Theologie war bekannt und ich habe von dieser erzählt und diese, im kollegialen Kreis und bei einer Veranstaltung der lokalen Kirchenakademie, vorgestellt. Gerade die Veranstaltung in der Kirchenakademie war wichtig, um Freiwilligen und Gemeindegliedern gegenüber ansprechbar zu bleiben, denn (einigen von) diesen war ich Pastor und Forscher zugleich. 39 Söderblom, Kerstin/Dinter, Astrid, Zur Forschungsethik, in: Dinter, Astrid/Heimbrock, HansGünter/Söderblom, Kerstin (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, UTB 2888, Göttingen 2007, 303–309, 304. 40 Söderblom/Dinter, Zur Forschungsethik, 305. 41 Söderblom/Dinter, Zur Forschungsethik, 305. 42 Achim Knecht führt mit Blick auf die verdeckte Beobachtung in einem Gottesdienst aus: „In der sozialwissenschaftlichen Debatte wird die verdeckte Beobachtung meist als ethisch fragwürdig angesehen. […] Im Blick auf den Gottesdienst gehe ich jedoch davon aus, dass dieser eine öffentliche Veranstaltung ist, die grundsätzlich auch aus anderen Motiven als denen der persönlichen Erbauung besucht werden kann. Deshalb ist es ethisch kein Problem, am Gottesdienst auch verdeckt zu Forschungszwecken teilzunehmen, solange man nicht darauf angesprochen wird und dann seine wahren Motive verschleiert.“ In Knecht, Achim, Erlebnis Gottesdienst. Zur Rehabilitierung der Kategorie „Erlebnis“ für Theorie und Praxis des Gottesdienstes, Leipzig 2011, 85. 43 Söderblom/Dinter, Zur Forschungsethik, 306. 44 Vgl. 7.1.2.5.

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Entstehung und Entwicklung der Studie

Insbesondere der letzte angesprochene Sachverhalt aktualisiert die Herausforderung der „Güterabwägung zwischen Grenzüberschreitung und Grenzachtung […], die nur ausbalanciert, aber nicht beseitigt werden kann“45. Zur Realisierung dieser Balancierung gehört als forschungsethische Forderung, dass das „Spannungsfeld von Nähe und Distanz, von Offenheit, Neugier, annehmender Wertschätzung und verobjektivierender Interpretation“46 abzuschreiten ist. Es ist zu gewährleisten, „dass Menschen im Feld nicht nur Datenlieferanten sind“47. Aufmerksamkeit verdient, dass durch „das Erzählen […] Prozesse ausgelöst [werden können], die über das Forschungsdesign hinausgehen“48. Ferner ist zu sichern, „dass die Gespräche an sicheren und geschützten Räumen stattfinden müssen und genügend Zeit zur Verfügung steht“49. Die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner sollen ermutigt werden, „ihre Erzählung und ihre Erfahrung als ,Experten ihrer Geschichte‘ selbst ernst zu nehmen“50. Um diese Balancierung überhaupt angehen zu können, gelten ganz grundsätzlich die Regeln der Anonymität und des informierten Konsenses.51 Daher sind die Namen meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner anonymisiert, in einigen Fällen sind andere Sachverhalte (zum Beispiel örtliche Gegebenheiten, Anlässe von Treffen oder Ähnlichem) verändert, um Rückschlüsse auf bestimmte Gemeinden und Personen in diesem überschaubaren kirchlichen Setting zu verunmöglichen. Eine besondere Bemerkung verdient zum Schluss die Frage nach dem Zurücktragen der Leitfadeninterviews zu den Gesprächspartnern und Gesprächspartnerinnen. In einem Fall bekam ich am Tag nach dem Gespräch eine E-Mail mit dem Wunsch weiterer Kommentierung und in einem anderen Fall eine SMS, in der eine Aussage vom Gesprächspartner selbst kommentiert und – in seinen Augen – richtiggestellt wurde. In beiden Fällen habe ich meinerseits darauf verzichtet in ein Gespräch über das Gespräch einzusteigen, es erschien mir folgerichtig, was Söderblom und Dinter dazu bemerken: 45 Söderblom/Dinter, Zur Forschungsethik, 308. Vgl. Heimbrock, Hans-Günter/Meyer, Peter/ Wyller, Trygve, Eine bedeutsame Forderung: Forschungsethik, in: Heimbrock, Hans-Günter/ Wyller, Trygve (Hg.), Den anderen wahrnehmen. Fallstudien und Theorien für respektvolles Handeln, unter Mitarbeit von Peter Meyer, Göttingen 2010, 41–43, 42. 46 Söderblom/Dinter, Zur Forschungsethik, 306. 47 Söderblom/Dinter, Zur Forschungsethik, 307. 48 Söderblom/Dinter, Zur Forschungsethik, 307. 49 Söderblom/Dinter, Zur Forschungsethik, 307. 50 Söderblom/Dinter, Zur Forschungsethik, 307. 51 Vgl. Heimbrock/Meyer/Wyller, Eine bedeutsame Forderung: Forschungsethik, 41; Pickel, Gert/ Sammet, Kornelia, Einführung in die Methoden der sozialwissenschaftlichen Religionsforschung, Wiesbaden 2014, 57.

Die Fragestellung und der Aufbau

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Der Nachteil ist, dass die Interviewten dann Gesagtes zurücknehmen oder ganz anders darstellen könnten, so dass ein Ernstnehmen des ursprünglichen Textes und seiner spezifischen und damit aussagekräftigen Gestalt kaum möglich bleiben.52

Das Zurücktragen der vorliegenden Studie besteht aus „der Übertragung […] [meiner] Wahrnehmungen in die (wissenschaftliche) Öffentlichkeit“53. Dabei gilt, dass der letztgenannte Schritt in einen akademischen Diskurs hinein […] auf formalisierten Ergebnisaustausch zurückgreifen [muss] […]. Dieser ,sekundäre‘ Nutzen konkreter Wahrnehmung aus einem sensiblen Handlungsfeld unterliegt allen Voraussetzungen und Begrenzungen, die für diesen Grad der Öffentlichkeit üblich sind.54

2.5 Die Fragestellung und der Aufbau Die vorliegende Studie übernimmt, mit Ausgangspunkt in und angeleitet durch eigene Erfahrungen, den Fokus auf den Ort, auf den Gottesdienst und die Kirche am Ort. Im Zentrum der Erkenntnisbemühungen und des Erkenntnisinteresses steht die Kirche am Ort, angegangen mittels einer alltagsnahen Rezeption und Wahrnehmung der Reform des gottesdienstlichen Lebens. So sollen Menschen, die im multikulturellen und multireligiösen Groruddal leben, die in Kirche und Gottesdienst auf verschiedene Weise aktiv sind, nach ihrem Gottesdiensterleben, ihrem Engagement für, ihren Erwartungen an und ihren Beiträgen zu einer ortseigenen/ver-orteten Kirche im Groruddal gefragt werden. Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie verfolgt also ein ausgesprochen praktisch-theologisches, kirchenleitendes und kirchentheoretisches Interesse an der ,Kirche im Groruddal‘. Im Sinne Friedrich D.E. Schleiermachers wird Kirche als „Instanz der öffentlichen Sinnreflexion“55 wahrgenommen, in dieser sollen sich [die Menschen] mit ihren Lebensfragen […] wiederfinden können. Deshalb muß sie mit Kultur und Wissenschaft, mit dem öffentlichen Leben in lebendiger Verbindung stehen und darf sich nicht in einer Sonderwelt überkommener, 52 53 54 55

Söderblom/Dinter, Zur Forschungsethik, 308. Heimbrock/Meyer/Wyller, Eine bedeutsame Forderung: Forschungsethik, 42. Heimbrock/Meyer/Wyller, Eine bedeutsame Forderung: Forschungsethik, 42 f. Gräb, Wilhelm, Praktische Theologie als Theorie der Kirchenleitung: Friedrich Schleiermacher, in: Grethlein, Christian/Meyer-Blanck, Michael (Hg.), Geschichte der Praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker, Leipzig 2000, 68–110, 85.

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Entstehung und Entwicklung der Studie

aber dem gegenwärtigen Bewußtsein fremd gewordenen Glaubensvorstellungen und Lebenseinstellungen abschotten.56

Für die Theologie gilt in Folge dessen, dass sie „als Ganze durch den Anwendungsbezug konstituiert [wird] und [es wird] […] die Beziehung zu anderen Wissenschaften für alle theologischen Fächer“57 vorausgesetzt. Diese Einsichten, die schon im ersten Paragrafen Schleichermachers Kurzer Darstellung grundgelegt sind, sind für die eigene Studie unhintergehbar. Dabei geht es aber nicht verkürzend darum, „nur auf die funktionale Erfüllung vorgegebener Aufgaben eines gegebenen Zustands bedacht“58 zu sein. Henning Luther erinnert an den, auch für die vorliegende Studie, entscheidenden „kritischen Reflexionszusammenhang“59, der von einem subjektiven Moment abhängig ist: § 259. Jedem besonnen Einwirkenden entstehen seine Aufgaben aus der Art, wie er den jedesmal vorliegenden Zustand nach seinem Begriff von dem Wesen des Christentums und seiner besonderen Kirchengemeinschaft beurteilt.60

In Verlängerung des formulierten methodischen Interesses, das die Rolle der involvierten Subjekte als Experten und Expertinnen ihrer Lebenswelt, die Gelebte Religion einbringen, unterstreicht, geht es gerade nicht darum, das praktisch-theologische Interesse der Studie auf das Forschersubjekt zu beschränken. Vielmehr ist der Anteil der involvierten Subjekte nochmals zu betonen. Die Aufgabe der Studie in kirchenleitender Absicht ist „die Sorge für die Ermöglichung von Verständigung zwischen den Differenzen der Gläubigen“61. Der Zielpunkt ist die Zirkulation, eben in der Ungleichheit der in der Kirche beteiligten und handelnden Personen.62 Nach „Schleiermacher [erhält] damit die Individualität des Einzelnen eine tragende Bedeutung für das Kirchenverständnis“63. 56 Gräb, Praktische Theologie als Theorie der Kirchenleitung, 85. 57 Gräb, Praktische Theologie als Theorie der Kirchenleitung, 88. 58 Luther, Henning, Praktische Theologie als Kunst für alle. Individualität und Kirche in Schleiermachers Verständnis Praktischer Theologie, in: ZThK 84 (1987), 371–393, 374. 59 Luther, Praktische Theologie als Kunst für alle, 374. 60 Schleiermacher, Friedrich D.E., Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, kritische Ausgabe herausgegeben von Heinrich Scholz, Bibliothek klassischer Texte, Nachdruck der dritten kritischen Ausgabe Leipzig 1910, Darmstadt 1993. Vgl. Luther, Praktische Theologie als Kunst für alle, 374 f.; Gräb, Praktische Theologie als Theorie der Kirchenleitung, 97. 61 Luther, Praktische Theologie als Kunst für alle, 381. Vgl. Luther, Praktische Theologie als Kunst für alle, 380; § 5 der Kurzen Darstellung. 62 Vgl. Luther, Praktische Theologie als Kunst für alle, 385. – „§ 312. Da jedes geschichtliche Ganze nur durch dieselben Kräfte fortbestehen kann, durch die es entstanden ist: so besteht das evangelische Kirchenregiment aus zwei Elementen, dem gebundenen, nämlich der Gestaltung des Gegensatzes für den gegeben Komplexus, und dem ungebundenden, nämlich der freien Einwirkung auf das Ganze, welche jedes einzelne Mitglied der Kirche versuchen kann, das sich dazu berufen glaubt.“ 63 Luther, Praktische Theologie als Kunst für alle, 392. Vgl. § 268 der Kurzen Darstellung.

Die Fragestellung und der Aufbau

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Im Sinne dieses Erkenntnisinteresses und dieser praktisch-theologisch motivierten Erkenntnisbemühungen – und gerade vor dem Hintergrund dieser normativen Grundierung – soll die grundlegende Fragestellung in zweifacher Richtung ausgewertet werden. Zum einen sollen Implikationen für Gottesdienst- und Liturgietheorie bedacht werden, die den Gottesdienst deutlich an relationale Wahrnehmungen vor Ort knüpfen. Zum anderen, und zielführend, sollen kirchentheoretische Implikationen gehoben werden, die eine Neuformatierung des (Volks-)Kirchenbegriffs, in den Situationen der gesellschaftlichen Umbrüche und des Wandels, erlauben. Eingang und Sprungbrett in die vorliegende Studie hinein ist zum einen die Beschäftigung mit einer empirisch orientierten Liturgiewissenschaft und zum anderen die Analyse und die Bearbeitung von Theorien des Ortes und des Raumes. Diese stehen im dritten Teil der Studie im Fokus. Einer der, meiner Sichtung nach, ersten, der empirisch interessiert zu Reaktionen, Interaktionen und sich ergebenden und wachsenden Initiativen im weiten Feld von Ritual, Gottesdienst und Stadt gearbeitet hat, war Michael H. Ducey.64 Empirisch orientiert hat er Änderungen in Gottesdienst und Liturgie im Zusammenspiel mit Entwicklungen und Veränderungen in den Kulturwissenschaften, in der Stadt und im Stadtteil gesehen. Seine Studie wird unter dem Vorzeichen der methodologischen und thematischen Sicherung und Vergewisserung analysiert und forschungsgeschichtlich eingeordnet. In Folge dieser Einordnung wird Liturgiewissenschaft als empirische Wissenschaft rekonstruiert und auf den multi- und interkulturellen Ort und Alltag hin fokussiert und konzentriert. Mit dieser Betonung der gegenseitigen Beeinflussung von Liturgie, Gottesdienst, Gottesdienstfeier und kulturellen Veränderungen in der Stadt, und gerade mit der Betonung des Ortes und des Alltags, sind implizit weiterführende kirchentheoretische Dimensionen angesprochen. Es ist gefordert, darüber nachzudenken, wie sich Stadt, wie sich die Orte und Räume der Stadt zur Kirche und zu gottesdienstlichen und kirchlichen Räumen verhalten. Soll Alltag als Alltag der involvierten Subjekte, soll Raum als Raum der involvierten Subjekte ernstgenommen werden, so scheinen Theorien und Konzeptionen des spatial turn, die eine soziale Konstruktivität von Raum voraussetzen, gerade dazu geeignet. Mittels Martina Löws Raumsoziologie gelingt es, dem von ihr konstatierten Fehlen an „Ideen über das Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren: räumliche Strukturen, Handeln, Symbolik etc.“65 produktiv zu begegnen. Ihr 64 Vgl. Ducey, Michael H., Sunday Morning. Aspects of Urban Ritual, New York 1977. 65 Löw, Martina, Raumsoziologie, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1506, Frankfurt am Main 9 2017, 13.

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Entstehung und Entwicklung der Studie

Ansatz hilft, „die einzelnen Aspekte des komplexen sozialen Prozesses, in dessen Folge Räume entstehen oder reproduziert (bisweilen auch verändert) werden,“66 zu erkennen. Es wird, gleichsam aus der Analyse des empirischen Materials heraus, deutlich, dass Löws Ansatz und Konzeption kirchentheoretisch ergiebig und ertragreich in Anschlag gebracht werden kann. Wird dieser Einstieg verfolgt, wird eine offene Annäherung an den Komplex der Reform des gottesdienstlichen Lebens und deren alltagsnahe Rezeption angegangen, wird nicht einfach, beinahe vorformuliert, abgefragt, sondern wird offen angesprochen, so wird bereits in der Vorbereitung, in der (theoretisch gesicherten) Annäherung deutlich, dass die Leute nach mehr drängen. Wird nach der geplanten und umgesetzten Reform vor Ort gefragt, eröffnet die Alltagswahrnehmung den Horizont für andere Sichtweisen, zwingt, größere thematische Kreise zu schlagen, und zeigt, dass eine Beschäftigung mit mehreren grundlegenden Themenkreisen erforderlich ist. Daher werden im vierten, fünften und sechsten Teil drei historisch-systematische Problemhorizonte gesichtet, um systematisiert Kenntnis darüber zu erlangen, was vortheoretisch zutage tritt, als das, was unter den Nägeln brennt. Der erste behandelt das Verhältnis von Theologie und Stadt, fragt, wie sich Theologie mit einer städtischen Kultur (im Wandel) auseinandersetzt und welche Arten und Weisen der gegenseitigen Annäherung aktiviert werden. Ausgangspunkt ist hier Dieter Georgis Forderung nach einem Anknüpfen an das antike Christentum und einer kritischen Auseinandersetzung mit der Tradition. Sodann werden Graham Wards Ansatz, der aus der ,radikalen Orthodoxie‘ stammt und der am offenen Blick von unten her und an der Breite kultureller Phänomene interessiert ist, und der ältere und initialzündende Ansatz von Harvey Cox, der an biblische Traditionen und biblisches Selbstverständnis anknüpfen will, analysiert. Dann folgt die Analyse von Seppo Kjellbergs empirischer Studie zur ökologischen Stadtentwicklung in Finnland und von Texten Wolfgang Grünbergs. Diese verdanken sich langem Engagement, fragen nach dem genius loci und wollen die vielstimmige Stadt mittels ihrer repräsentativen Orte „lesen“.67

66 Löw, Raumsoziologie, 13. 67 Vgl. Georgi, Dieter, Auf dem Weg zu einer urbanen Theologie. Denkanstöße zur Funktion universitär verfasster wissenschaftlicher Theologie in einer Metropole, in: Burfeind, Carsten/ Heimbrock, Hans-Günter/Spory, Anke (Hg.), Religion und Urbanität. Herausforderungen für Kirche und Gesellschaft, Münster et al. 2009, 135–151; Ward, Graham, Cities of God, Radical Orthodoxy, London-New York 2000; Cox, Harvey, Stadt ohne Gott?, ins Deutsche übertragen von Werner Simpfendörfer, Stuttgart-Berlin 51969; Kjellberg, Seppo, Urban Ecotheology, Utrecht 2000; Grünberg, Wolfgang, Die Sprache der Stadt. Skizzen zur Großstadtkirche, Leipzig 2004.

Die Fragestellung und der Aufbau

29

In einem zweiten Schritt werden neuere norwegische Konzeptionen von Kirche untersucht, denen ein Bezug auf den Volkskirchenbegriff gemein ist. So ist Dag Myhre-Nielsen ausdrücklich am Gespräch mit einem gesellschaftswissenschaftlich gegründeten Verständnis von Kirche interessiert, will die Subjekte in der Kirche stark machen und auf diese Weise die Größen ,Volkskirche‘ und ,Gemeinde‘ balancieren. Sevat Lappegard knüpft die Volkskirche eng und unlöslich an das allgemeine Handlungs- und Kommunikationsmuster vor Ort. Harald Hegstad, explizit von der Empirie herkommend, bearbeitet das Verhältnis von ,Volkskirche‘ und ,Glaubensgemeinschaft‘ mit dem Zielpunkt der Gemeindeentwicklung in volkskirchlichen Zusammenhängen.68 In der Analyse werden Fragen nach der Bedeutung des Ortes, der Rolle der involvierten Subjekte, nach dem zugrunde gelegten Religions- und Normativitätsverständnis und nach den pluralen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen wichtig werden. Abschließend werden diese Konzeptionen von Einsichten aus dem deutschen Kontext flankiert, kontrastiert und angereichert.69 Der letzte thematische Kreis beschäftigt sich mit der Reform des gottesdienstlichen Lebens in der Norwegischen Kirche von 2011. Zunächst wird die Reform rekonstruiert, sodann wird auf die zentralen methodischen Begriffe, Flexibilität, Involvierung und Ortseigenheit/Ver-Ortung, eingegangen, die sowohl die Reform als auch deren Rezeption prägen. In einem dritten Schritt soll nach den Handelnden, den Entscheidungsträgern und -trägerinnen und deren Motivationen gefragt werden. Da keine Liturgierevision im Vakuum geschieht, werden die Reform, ihre Entwicklung und der Umgang mit den zentralen Begriffen in einem weiteren Kontext angesiedelt. Norwegische Beiträge verweisen an dieser Stelle häufig auf Impulse, die dem römisch-katholischen Kontext (Vaticanum II) und dem US-amerikanischen Luthertum (Gordon W. Lathrop) entstammen.70 Dieser Kontext wird mittels Beiträgen aus 68 Vgl. Myhre-Nielsen, Dag, En hellig og ganske alminnelig kirke. Teologiske aspekter ved kirkens identitet i samfunnet, KIFO Perspektiv 4, Trondheim 1998; Lappegard, Sevat, Folkekyrkjeteologi, in: Sandvik, Bjørn (Hg.), Folkekirken – Status og strategier, Presteforeningens studiebibliotek 29, Oslo 1988, 107–131; Hegstad, Harald, Folkekirke og trosfellesskap. Et kirkesosiologisk og ekklesiologisk grunnproblem belyst gjennom en undersøkelse av tre norske lokalmenigheter, KIFO Perspektiv 1, Trondheim 1996; Hegstad, Harald, Menighetsutvikling i folkekirken. Grunnlag og form l, in: Birkedal, Erling/Hegstad, Harald/Lannem, Turid Skorpe (Hg.), Menighetsutvikling i folkekirken. Erfaringer og muligheter, Prismet bok 5, Oslo 2012, 9–23. 69 Vgl. u. a. Hermelink, Jan, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens. Eine praktischtheologische Theorie der evangelischen Kirche, Gütersloh 2011; Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014. 70 Vgl. Christoffersen, Jan Terje, Sammen for Guds ansikt. Gudstjenestereform mellom visjon og virkelighet, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 24–45, 26–32.

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Entstehung und Entwicklung der Studie

dem Umfeld der Agendenreform und -diskussionen in der Evangelischen Kirche in Deutschland geweitet.71 Im siebten Teil folgen Fokussierungen. Der Kontext Groruddal wird neu in Angriff genommen und als Feld (re-)konstruiert. Dies geschieht sowohl unter eher allgemein-historischem als auch explizit kirchlich-gemeindlichem Vorzeichen. Leitend ist dabei der Gedanke, dass die Sicht von innen heraus und von unten her entscheidend und maßgeblich ist, wenn, in aller damit möglicherweise verbundenen Unschärfe und Vielstimmigkeit, ein neues Bild, neue Bilder und Mosaike des Ortes und der Orte geborgen und gezeichnet werden sollen. Darauf aufbauend wird die methodologische und methodische Einrichtung der Studie auf das Lokale hin orientiert. Fragen nach dem Sample der Leitfadeninterviews und nach dem Fall münden so in Analysen, in die empirische Arbeit in engerem Sinne, ein. Es werden in diesem Teil erste, fallnahe Konkretionen sichtbar gemacht und festgehalten. Der achte Teil schließt die Studie ab. Es wird – immer im offenen Wechselspiel – herausgearbeitet und untersucht, was sich im Verhältnis zu den eingangs bearbeiteten Theorierahmen, zu den historisch-systematischen Problemhorizonten und zu den Bildern und Mosaiken des Ortes und der Orte gewinnen und profilieren lässt. Mittels der Fokussierungen und der fallnahen Konkretionen, die schon im siebten Teil gehoben wurden, gelingt es abschließend, den Begriff der Ortseigenheit/Ver-Ortung in ein neues Licht zu rücken und diesen als starken kirchentheoretischen Begriff, auf das Konzept einer ,Volkskirche‘ hin, zu etablieren.

71 Vgl. Schwier, Helmut, Die Erneuerung der Agende. Zur Entstehung und Konzeption des „Evangelischen Gottesdienstbuches“, Leiturgia NF 3, Hannover 2000; Stork-Denker, Katharina, Das evangelische Verständnis von „Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienst“, in: JeggleMerz, Birgit/Kranemann, Benedikt (Hg.), Liturgie und Konfession. Grundfragen der Liturgiewissenschaft im interkonfessionellen Gespräch, Freiburg-Basel-Wien 2013, 227–239.

3 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes 3.1 Empirische Liturgiewissenschaft Zielpunkt dieses Kapitels ist es, eine sich als empirisch verstehende Liturgiewissenschaft zu forcieren und deren Voraussetzungen, deren Maß- und Aufgaben im Rahmen der vorliegenden Studie und deren Entwicklungen zu skizzieren. Innerhalb der protestantischen Theologie wurde Liturgiewissenschaft, diese Behauptung dürfte keine Kontroversen auslösen, im 19. Jahrhundert, bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, als historische Wissenschaft betrieben. Die Möglichkeiten, eine empirische Liturgiewissenschaft zu entwickeln, sind in Öffnungen den allgemeinen Kulturwissenschaften gegenüber zu suchen. Diesen Öffnungen soll nachgegangen werden und sie sollen auf die eigene Untersuchung und deren Kontext hin weiter profiliert werden. An prominenter Stelle steht die Studie Michael H. Duceys, Sunday Morning. Aspects of Urban Ritual. An dieser lässt sich konkretisieren, wie eine Öffnung hin zu Kultur- und Gesellschaftswissenschaften, im Rahmen der Großstadt, geprägt von einschneidenden gesellschaftlichen Veränderungen, angegangen werden kann.1 Die Studie Duceys wird als Sprungbrett und Initialzündung verstanden, so geht es in der folgenden Profilierung einer empirischen Liturgiewissenschaft nicht um Vollständigkeit.2 Es werden Überblicke, Sichtungen erster Öffnungen einer historisch arbeitenden Liturgiewissenschaft und kürzere Analysen von Ansätzen, die diese Öffnungen verinnerlicht und weiter vorangetrieben haben, gewagt. Dabei wird immer zweigleisig gefahren, es werden sowohl der deutsche als auch der norwegische Forschungskontext berücksichtigt, immer die Entstehungsvoraussetzungen der eigenen Studie im Auge behaltend. Auf diese Weise werden, von den eigenen Zusammenhängen und Fragestellungen her, Schneisen geschlagen, die im kollektiven (Forschungs-)Rahmen Norwegens, in dem eine deutliche Orientierung auf das Subjekt hin neueren Datums ist, nochmals die Stärken und Schwächen, die Besonderheiten und Möglichkeiten der eigenen Annäherung verdeutlichen.

1 Vgl. Ducey, Michael H., Sunday Morning. Aspects of Urban Ritual, New York 1977. 2 Die römisch-katholische Liturgiewissenschaft kommt nicht in den Blick.

32 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes 3.1.1 Michael H. Ducey: Sunday Morning. Aspects of Urban Ritual Im Lesen und in der Analyse der Studie Michael H. Duceys ist gerade die Tatsache leitend, dass Ducey es wagt, sich auf zwei Größen zu konzentrieren – und er eben keine Gesamt-Theologie der Stadt verfolgt: 1. das Ritual, den Gottesdienst und 2. das Ritual, den Gottesdienst, im bestimmten, abgegrenzten Kontext des Stadtteils, vor Ort. Ducey zeigt, dass diese beiden Größen nie voneinander zu trennen sind. Es ist diese thematische Konzentration und der methodisch angeleitete, fokussierte Blick auf den konzentrierten Ausschnitt im weiteren Feld der Großstadt, die die Motivation ausmachen, Duceys Studie einen so vorgeordneten Platz einzuräumen und diese Studie als Basis und Anhaltspunkt für die eigene empirisch-theologische Arbeit zu nehmen.

3.1.1.1 Zur Studie Der US-amerikanische Soziologe und ehemalige Jesuit Michael H. Ducey legt seine empirisch verankerte Studie, eine bearbeitete Form seiner Dissertation, 1977 vor. Ducey beschäftigt sich mit religiösem Wandel im Kontext soziologischer und gesellschaftlicher Brüche. Sein Hauptaugenmerk liegt dabei auf Gottesdienstordnungen und -feiern in vier Chicagoer Gemeinden in den ausgehenden 60er Jahren. Aus diesen Gemeinden stammt das empirische Material, das seiner Studie zugrunde liegt. Duceys Ausgangspunkt ist, dass sich das religiöse Feld in den USA seit Anfang der 60er Jahre verändert hat. Diesen Veränderungen misst er so viel Gewicht bei wie der protestantischen Reformation.3 Sein Ansatzpunkt zur Untersuchung dieser Veränderungen ist das religiöse Ritual, der Gottesdienst: If we want to understand the basis for current changes in religion and the direction they are taking, it would seem logical to examine religious ritual; for ritual – how a group worships – is the fullest expression of that group’s fundamental religious orientations.4

Dabei macht Ducey auf einen wichtigen Punkt aufmerksam: This change occurred, moreover, in interaction with local and national social events. We have here a case of transition rather than of simple substitution. […] The ritual changed and, with it, the religion. In this case, ritual appears as the expression of the 3 Vgl. Ducey, Michael H., Sunday Morning. Aspects of Urban Ritual, New York 1977, 1. 4 Ducey, Sunday Morning, 1.

Empirische Liturgiewissenschaft

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essence of religion, and such other aspects of religion as stated beliefs, social policies, and political activities appear to be epiphenomenal in comparison.5

Grundlegend für die Beschäftigung mit dem Ritual ist, dass es als soziales Phänomen interpretiert wird, eben nicht unabhängig von anderen Prozessen, es mehr ist als behauptete Überzeugung oder Glaube: „Behaviour has also meaning, and the interpretation of action and gesture is indispensable for the full understanding of any social phenomenon.“6 Will man sich diesem Komplex nähern, bedarf es genauer Observation. Duceys Material ist dreigeteilt, die Hauptquelle stellen direkte Beobachtungen dar. Weiter hat er Interviews mit Pastoren und Gemeindegliedern der vier Gemeinden geführt und er hat drittens Dokumente eingesehen, um die Geschichte der vier Gemeinden nachzeichnen zu können. Methodisch stützt er sich auf die kulturanthropologische Ritualanalyse Victor W. Turners.7 Die Untersuchung der Rituale in den vier Gemeinden lässt Ducey eine Unterscheidung sichtbar werden. Auf der einen Seite beobachtet er Gottesdienste, die er als mass ritual bezeichnet, auf der anderen Seite Gottesdienste, die er als interaction ritual bezeichnet.8 – Warum verändern sich einige Rituale, andere aber nicht, obwohl sie den gleichen gesellschaftlichen Bedingungen unterworfen sind? Ducey antwortet: „This is a complex question, and to answer it we must look at the history of each congregation, its cultural background and organizational traditions.“9 Ausschlaggebend für die beiden rituellen Formen ist „the change in the social location of meaning-giving and moral authority“10. Geben die Autoritäten der Gesellschaft keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage nach gut und richtig, wird diese Frage in die eigene Hand genommen, mit anderen zusammen angegangen: „This is what interaction ritual enables the believer to do.“11 Die vier untersuchten Gemeinden liegen im Stadtteil Lincoln Park, im Norden Chicagos, zusammenfassend schreibt Ducey: Lincoln Park is a community of long-standing ethnic, economic, and ecological diversity. After World War II, what was once a reasonably harmonious cultural mosaic became an area of multigroup conflict. […] The divisions between rich and poor, ethnic majority and ethnic minorities, culture and counterculture, traditional 5 6 7 8 9 10 11

Ducey, Sunday Morning, 2. Ducey, Sunday Morning, 2. Vgl. Ducey, Sunday Morning, 3–6. Vgl. Ducey, Sunday Morning, 6. Ducey, Sunday Morning, 8. Ducey, Sunday Morning, 9. Ducey, Sunday Morning, 9.

34 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes political machine and political radicals, all exist in many other places, but Lincoln Park is one of the few places where they all exist together.12

1965 kommt in Lincoln Park der Term der ,sterbenden Kirchen‘ auf: One form of ‘dying’ is essentially socioeconomic: the loss of market position of churches or decreasing memberships and revenues. The other form of dying is the apparent diminishing effectiveness of the meaning-giving-function of religion, as manifested in unresolved disputes among churchgoers and the claims of exchurchgoers that the church in general and its ritual in particular do not ‘do anything’ for them.13

Bemerkenswert, so Ducey, ist, dass die Anhänger und Anhängerinnen des mass ritual diese Situation als Bedrohung, die Anhänger und Anhängerinnen des interaction ritual diese Situation als Ausdruck von Möglichkeiten erleben.14 Bei der Vorstellung der vier untersuchten Gemeinden scheint eine Vorannahme Duceys bemerkenswert. Kirchen nehmen gesellschaftlich Einfluss, entscheiden sich in politischen Konflikten für die eine oder andere Seite – aber dies, so Ducey, is not the churches’ basic function in the community. […] The existence of churches as ritual-performing groups is logically prior to their participation in political conflict.15

Ohne das Ritual wären Kirchen anderen Organisationen gleichgestellt: „They would lose their specifically religious function of giving global meaning, of relating social life to ultimate meaning.“16 Die Geschichte, die Tradition und das Bekenntnis dieser Gemeinden divergieren: eine hat nahe Verbindungen zur United Methodist Church, eine gehört zur United Church of Christ, eine ist römisch-katholisch und eine lutherisch geprägt. Gemein ist ihnen jedoch, dass sie der Mittelklasse zuzurechnen und ,weiß‘ sind.17 12 Ducey, Sunday Morning, 37 f. 13 Ducey, Sunday Morning, 39. 14 Vgl. Ducey, Sunday Morning, 39. Die damit verbundenen Diskussionen und deren Folgen stellt Ducey, unter Rückgriff auf Jeffrey Hadden, als dreifache Krise dar: „[…] (1) a crisis of meaning and purpose; that is relevance, (2) a crisis of belief itself, as indicated by the ‘death of God’ theologies, and (3) a crisis of authority.“ In Ducey, Sunday Morning, 44. 15 Ducey, Sunday Morning, 57. 16 Ducey, Sunday Morning, 58. Hier ist implizit das Verhältnis von Kontextualität und Universalität angesprochen, dieses Verhältnis gründet in Duceys Verständnis von Religion: „[…] religion is the web of symbols that link humankind to the ground of human existence.“ In Ducey, Sunday Morning, ix. 17 Vgl. Ducey, Sunday Morning, 78. Ducey bezeichnet sie als ,Kirchen der Mitte‘, die zwischen den Kirchen der Mächtigen und den Kirchen der Nicht-Privilegierten stehen. Vgl. Ducey, Sunday Morning, 81.

Empirische Liturgiewissenschaft

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Ducey versteht Rituale als Systeme von religiösen Symbolen, als „products of men’s meaning-giving activity“18. Diese Systeme entstammen dem chaotischen Alltag und liefern gleichzeitig Schemata, diesen zu interpretieren. Wie erwähnt greift Ducey bei der Analyse der Rituale auf Turner zurück, fasst sie als gestaltmäßiges Ganzes auf und unterscheidet drei Niveaus (ein exegetisches, ein operationales und ein positionelles) der Bedeutung des Rituals. Wird dabei berücksichtigt, dass es neben den bewussten Deutungen auch latente und versteckte Deutungen des Rituals gibt, wird die Tür zu einer Fülle von möglichen Interpretationen aufgeschlagen.19 Es ist nach Ducey die interne Struktur, die eine Unterscheidung zwischen mass ritual und interaction ritual rechtfertigt. Dabei gehen die Unterscheidungsmerkmale hinter konfessionelle Trennungen zurück und sind von solcher Qualität, dass sie sich ebenso in anderen Religionen beobachten lassen. Auf dem exegetischen Bedeutungsniveau unterscheidet Ducey zwischen 1. ,esoterischer Exegese‘, verstanden als die Lesart der Experten und Expertinnen, im strengen Sinn Theologie, und 2. ,exoterischer Exegese‘, verstanden als die Lesart der Laiinnen und Laien, der involvierten Teilnehmenden. Im Durchgang durch die Rituale im Sinne der exoterischen Exegese findet Ducey ,objektive‘ und ,egoische‘ Deutungen des Rituals:20 An ‘objective’ interpretation of the Sunday morning service portrays it as a mode of communication between a pre-existing, structured sacred cosmos whose content and structure are independent of the conscious, voluntary activities of the worshiper’s ego.21

Die ,egoische‘ Deutung fasst Ducey wie folgt: „The egoic interpretation sees the worshiper as an actor partly receiving and partly producing the ritual symbols and activities.“22 Das operationale Bedeutungsniveau kennzeichnet eine deckungsgleiche Unterscheidung. Die objektive Deutung geht von einer deutlichen Hierarchie aus und unterscheidet zwischen ,heiliger‘ und ,profaner‘ Aktivität. Dagegen kennt die egoische Deutung eine weichere Rollenverteilung, es werden ,weltliche‘ Elemente ins Ritual eingeschlossen. Zusammenfassend und definierend schreibt Ducey: In rituals of objective exegesis, lay people appear to be culturally passive. They act in unison, as a mass, in response to the initiation and direction of the clergy. Hence we call this form mass ritual. In rituals of egoic interpretation, the participants interact with one another as equals and also interact with their traditional symbols – 18 19 20 21 22

Ducey, Sunday Morning, 82. Vgl. Ducey, Sunday Morning, 82–85. Vgl. Ducey, Sunday Morning, 99 f. Ducey, Sunday Morning, 102. Ducey, Sunday Morning, 104.

36 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes changing them as well as being changed by them. Hence we call this form interaction ritual.23

Positionell deckt sich die Unterscheidung zwischen mass ritual und interaction ritual mit der Unterscheidung zwischen heiligen und profanen Räumen, diese ist für das mass ritual grundlegend, während die Grenzen beim interaction ritual durchlässiger sind.24 Ebenfalls an dieser Linie entlang bewegt sich die institutionelle Unterstützung: Mass ritual is constructed by the more thoroughly socialized participants: clergy, theologians, and ritual experts. […] Interaction ritual opens the process of constructing ritual so that anyone who wishes to construct sacred symbols with the group may do so. […] This ‘wanting to participate’ must only include a respect for all others involved in the production of ritual.25

Ducey beschreibt, anhand von zwei Gemeinden, wie sich der Übergang vom mass ritual zum interaction ritual gestaltet. Er fasst den Durchgang durch diese beiden Fallbeispiele zusammen: The transition from mass ritual to interaction ritual is a process of transferring responsibility for creating global meaning from the authority of traditional and official institutions to the authority of individual persons gathered in an interacting group.26

Dieser Übergang ist von fünf empirischen Kennzeichen begleitet. Zum einen ruft der Übergang Angst und Widerstand hervor, dies ist im Wechsel der Autoritätsherleitung und in Fragen nach der Form begründet. Zum anderen verändert sich der Grund des Zusammenhaltes, es geht um persönliche Beziehungen, es wird nach Beteiligung gesehen. Es ist eben nicht mehr eine objektive, äußere Größe, die den Zusammenhalt sichert.27 Als drittes nennt Ducey das ,Kultivieren von Kontroversen‘, das Kraft kostet, aber unlöslich Teil des Übergangs ist. Darüber hinaus zeigt sich: „Working out meanings is the essential task of religion in this view.“28 Das vierte Kennzeichen berührt die Frage nach den Grenzen der Gemeinde, werden persönliche Beziehungen wichtig, scheint doch entscheidend, dass „certain spheres of independence and privacy“29 gewahrt bleiben. Zum fünften führt Ducey an, dass der Prozess in Etappen vor sich geht: Es wird Unzufriedenheit mit dem Gottesdienst artikuliert, es kommt der Wunsch nach Beteiligung auf (exegetisches Bedeu23 24 25 26 27 28 29

Ducey, Sunday Morning, 107. Vgl. Ducey, Sunday Morning, 122 f. Ducey, Sunday Morning, 144 f. Ducey, Sunday Morning, 175. Vgl. Ducey, Sunday Morning, 176 f. Ducey, Sunday Morning, 178. Ducey, Sunday Morning, 179.

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tungsniveau). Stückchenweise werden Veränderungen vorgenommen (operationales Bedeutungsniveau). Erst dann werden räumliche Veränderungen angegangen (positionales Bedeutungsniveau).30 Dass dies nicht innerkirchliche Spielerei ist, macht Ducey abschließend deutlich: If we accept religious ritual as a specimen of culture […] then we may see in the patterns of the change of a religious ritual a possible paradigm for other forms of cultural change.31

Experimente, Veränderungen und Synkretismus sind dann nicht mehr Verfallsbewegungen, sondern Bewegungen hin zu neuen Synthesen. Das mass ritual will in Zeiten des Umbruchs und des Wandels, durch strenge Grenzen zwischen heilig und profan, durch strenge Hierarchie, Kontinuität und traditionelle Symbole, stabilisierend wirken. Das interaction ritual will, mittels fließender Grenzen, intuitiv und charismatisch, zu neuen Synthesen, die in Situationen des Umbruchs und Wandels sinnstiftend wirken, leiten.32 In Lincoln Park konnten sowohl mass ritual als auch interaction ritual als Blaupausen der Gesellschaft aufgefasst werden. Das Letztere, weil es religiöses Experimentieren, das vom Wunsch nach mehr Beteiligung angetrieben wurde, in eine Form gießen konnte, und damit als Modell sowohl für die Welt als auch für soziales Handeln dienen konnte. Das Erstere, weil es der Sicht, dass die sozialen Probleme auch religiöse Probleme waren, eine Absage erteilte.33 Für Ducey gilt: The transition from mass ritual to interaction ritual expresses a shift from tradition and office to charisma – that is, the personal power (and responsibility) of each participant in the worship – as the source of moral authority. Interaction ritual is an attempt to institutionalize the dispersal, or sharing, of charisma.34

Seine theologische Begründung findet dieser Übergang in der lutherischen Betonung der Lehre vom Allgemeinen Priestertum.35 Der genaue Blick auf das interaction ritual verrät, dass es ein institutionalisiertes Ritual ist, dass es gleichzeitig „a social strategy of we-groups for institutionalizing the authority of shared charisma“36 ist. Diese Strategie wird in einer ,Kultur in der Krise‘ sowohl nötig werden als auch zukunftsweisend sein, und kann sich an Jürgen

30 31 32 33 34 35 36

Vgl. Ducey, Sunday Morning, 178 ff. Ducey, Sunday Morning, 181. Vgl. Ducey, Sunday Morning, 181–184. Vgl. Ducey, Sunday Morning, 184 ff. Ducey, Sunday Morning, 186. Vgl. Ducey, Sunday Morning, 188.191 ff. Ducey, Sunday Morning, 194.

38 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes Habermas’ Idee des offenen und freien Diskurses orientieren, der vielleicht nie erreicht, aber in einer der Gemeinden zumindest angegangen wurde.37

3.1.1.2 Erste Motivationen, Rückfragen und Impulse Michael H. Ducey gebührt Anerkennung dafür, dass er sich früh an eine empirische Annäherung gewagt hat und die Wichtigkeit des Zusammenspiels der Veränderungen des Gottesdienstes, der Feier des Gottesdienstes, mit Veränderungen im übrigen Kontext unterstrichen hat.38 Dies schließt keineswegs aus, dass ein Stolpern und Aufmerken an verschiedenen Aspekten der Studie, motiviert durch das eigene methodische Interesse, zu markieren ist. Ducey unterstreicht die Wichtigkeit des Rituals. Gewiss können am Ritual Veränderungen von Religion sichtbar gemacht werden. Ob aber das Ritual als „fullest expression of that group’s fundamental religious orientations“39 angesehen werden kann, scheint eher unsicher. Die Fokussierung auf die Gruppe lässt den Einzelnen und die Einzelne außer Acht, der/die am Ritual teilnimmt, ohne notwendigerweise allen Aspekten und Inhalten des Rituals zuzustimmen. In Verlängerung wäre zu fragen, ob wirklich andere religiöse Aspekte als epiphänomenal dem Ritual gegenüber anzusehen sind.40 Das Geflecht und Ineinander von (normierter) Liturgie, (normierter) Lehre, Leben und Gelebter Religion ist wohl dichter als hier angenommen. Diese Tendenz zur Idealisierung der Gruppe, der Blick auf die Gemeinde als handhabbares Ganzes, betrifft ebenfalls die ganz zu Schluss eingeführte Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas. Nach Ducey orientierten sich Gespräche und Diskussionen in einer der Gemeinden, ohne die Theorie zu kennen, am Ideal der ,freien Kommunikation‘.41 Es wird zu fragen sein, ob es diese ,reine Form‘ des Gesprächs in einer Gemeinde gibt, ob nicht gerade diese Idealisierung der Kommunikation und des Gesprächs mit der Idee einer empirischen Rekonstruktion letztlich unvereinbar bleibt. Ich nehme von Ducey in meiner Studie den Impuls einer empirischen Grundausrichtung auf Ritual, Gottesdienst und Gottesdienstverständnis auf. Der Kontext von Duceys Studie und seine empirisch hergeleitete Unterscheidung zwischen mass ritual und interaction ritual sind ebenfalls zu nennen. 37 38 39 40 41

Vgl. Ducey, Sunday Morning, 195 ff. Vgl. Ducey, Michael H., Sunday Morning. Aspects of Urban Ritual, New York 1977, 1 f.8. Ducey, Sunday Morning, 1. Vgl. Ducey, Sunday Morning, 2.57. Vgl. Ducey, Sunday Morning, 197.

Empirische Liturgiewissenschaft

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Duceys Studie bestätigt, dass die Fokussierung des Blickwinkels, das genauere Hinsehen ertragreich ist. So liefert die Studie ernsthafte empirische Forschung, angeleitet durch kulturanthropologische Methodologie, die Offenheit für kulturellen Pluralismus kennt. Dies hat Bestand, auch wenn sich die empirische Methodologie weiterentwickelt hat und es bedauernswert erscheint, dass Ducey keine direkten Einblicke in seine empirische Arbeit und sein Material bietet. Hier gilt es sich vor ahistorischen Urteilen zu hüten. Dazu lässt das gesellschaftlich spannende und herausfordernde Umfeld die Beschäftigung mit Duceys Studie als wichtig erscheinen. Keinesfalls entsprechen sich das Chicago der 60er Jahre und das Oslo der ausgehenden 2010er Jahre. Aber das Groruddal ist in einigen Faktoren mit Duceys Chicago vergleichbar. Das Tal ist durch ähnliche sozio-kulturelle Faktoren geprägt und kirchlicherseits wecken der Begriff der ,sterbenden Kirchen‘ und das Zögern zwischen Resignation und Aufbruch Assoziationen und Wiedererkennung. Dass zwei der Gemeinden Spaltungs- und Fusionsprozesse durchlaufen haben, dass eine Gemeinde ihr Gottesdienstgebäude mit einer anderen Gemeinde teilte, soll vermerkt werden.42 So wenig wie der gesellschaftliche Kontext, so wenig ist die Unterscheidung zwischen mass ritual und interaction ritual ins Groruddal und die Gemeinden dort einfach übertragbar, aber als Bezugspunkt und Analysewerkzeug scheint diese Unterscheidung ergiebig. Dies besonders aufgrund der Faktoren, die Ducey mit dem interaction ritual verbindet. Zu nennen sind die gesellschaftliche Situation der Anomie, die Achtung des „latent belief“, die Hervorhebung der Beteiligung und der Befähigung, Ritual zu gestalten, die antihierarchische Ausrichtung und eine Offenheit für religiöse Symbole aus dem Alltag, die ihrerseits gerade diesen Alltag interpretieren.43 Ducey zeigt, dass es sich bei den Fragen nach Ritual, Gottesdienst und Gottesdienstfeier, bei den Fragen nach Veränderung von Ritual, nicht um innerkirchliche Diskussionen handelt. Diese Fragen und Veränderungen sind im Austausch mit sozialen Gruppen zu sehen. Denn diesen eignet ebenfalls der Grundzug, dass Autorität, auf der Basis des gemeinsamen Charismas der Gruppe, immer wieder neu ausgehandelt wird.44

3.1.2 Forschungsgeschichtliche Einordnung Ohne Frage, die Studie Michael H. Duceys entstand nicht im Vakuum, Ducey profitiert von größeren Zusammenhängen und Entwicklungen. Um diese zu verdeutlichen, bedarf es eines breiteren Korridors. Die Etablierung dieses Korridors soll nun, im Sinne einer forschungsgeschichtlichen Kontextuali42 Vgl. Ducey, Sunday Morning, 37 ff.44.59 ff.62.66. 43 Vgl. Ducey, Sunday Morning, 55.79.82.144 f.175. 44 Vgl. Ducey, Sunday Morning, 181.194.

40 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes sierung, angegangen werden. Fernerhin sollen liturgiewissenschaftliche Entwicklungslinien, sowohl im deutschen als auch norwegischen Kontext, nachgezeichnet werden.

3.1.2.1 Liturgiewissenschaftliche Entwicklungen in Deutschland Im Januar 2008 beginnt Michael Meyer-Blanck seinen Überblick zur Evangelischen Gottesdienstlehre heute wie folgt: Der Begriff der ,Gottesdienstlehre‘ ist ein Programmbegriff, unterdes jedoch zunächst ein Kunstwort. Denn zu den klassischen Disziplinen evangelischer Praktischer Theologie zählen die Homiletik und die Liturgik […]. […] Die Liturgik […] war lange Zeit vor allem eine historische Disziplin […]. Die historische Quellenforschung hatte den Vorrang und häufig fand (und findet) sich der implizite oder explizite Schluss vom Alter auf die Geltung bestimmter Formeln, Texte und Formulare. In Analogie zur biblischen Exegese wurde die Liturgik lange Zeit als Textauslegung betrieben.45

Unter dem Stichwort ,Konsolidierung‘ nennt Meyer-Blanck Arbeiten, die in ihrer historischen Einrichtung, ihrer Aktualität und Denkrichtung nicht dem expliziten oder impliziten Schluss von Alter auf Geltung verfallen, sondern die sich neuen Impulsen öffnen, die für das heutige Verstehen und für die Fortentwicklung der vorliegenden Studie wichtige Einsichten und Denkanstöße liefern. 1995 erscheint das umfangreiche Handbuch der Liturgik, herausgegeben von Hans-Christoph Schmidt-Lauber und Karl-Heinrich Bieritz.46 Schon im Vorwort machen die beiden Herausgeber deutlich, dass sie eine Kombination verschiedener Zugänge voraussetzen: Der systematisch-normative und der anthropologisch-analytische Zugang eröffnen unterschiedliche Wege, sich dem Phänomen des Gottesdienstes zu nähern. Sie bedürfen der Ergänzung durch den historisch-genetischen Zugang […].47

Zielpunkt dieser Zugänge ist die Gestaltung des Gottesdienstes, im heute und im hier.48 Unter den grundlegenden Einleitungskapiteln ist es gerade das instruktive Kapitel Bieritz’ zur anthropologischen Grundlegung, das die Frage 45 Meyer-Blanck, Michael, Evangelische Gottesdienstlehre heute. Ein Überblick, in: ThLZ 133 (2008), 3–20, 3. 46 Vgl. Schmidt-Lauber, Hans-Christoph/Bieritz, Karl-Heinrich (Hg.), Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, Leipzig-Göttingen 1995. 47 Schmidt-Lauber, Hans-Christoph/Bieritz, Karl-Heinrich, Vorwort, in: Schmidt-Lauber, HansChristoph/Bieritz, Karl-Heinrich (Hg.), Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, Leipzig-Göttingen 1995, 9–14, 10. 48 Vgl. Schmidt-Lauber/Bieritz, Vorwort, 11.

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nach dem heute und hier aufnimmt. Bieritz fragt nach dem Gottesdienst unter den ,Bedingungen des Menschseins‘, der Gottesdienst wird als Teil der Welt gesehen und es werden wichtige Kategorien (Raum, Zeit, Stoff/Naturelemente und Leib) und kulturelle Aspekte (Kultur, Kulturbruch, Kultursynthesen, Milieufokussierung) eingeführt und bearbeitet.49 – Und unter der Überschrift Die personale Dimension des Gottesdienstes stellt Bieritz fest: Fraglich werden damit theoretische Ansätze, die den Versuch unternehmen, kultisches Handeln gleichsam unter Umgehung der hermeneutischen (tradierenden, symbolisierenden, interpretierenden, kommunizierenden) Tätigkeit selbst-bewußter menschlicher Subjekte zu bestimmen […].50

Dies ist auf dem Hintergrund der vorliegenden Studie ein bemerkenswerter Satz. Dieser geht stimmig mit Schmidt-Laubers Einleitungskapitel und erster Schwerpunktpunktsetzung zusammen: „Gottesdienst ist Versammlung der Gemeinde im Kontext der Zeit und des Alltags.“51 Gleichwohl verbleibt dies in den Texten des Bandes durchaus unkonkret.52 Die Fragen, was Alltag denn ist, wessen Alltag es ist, wer den Alltag wann, warum und wie gestaltet, wie dies sowohl mit der Planung als auch dem Erleben von Gottesdienst zusammenhängt, werden, bei aller Betonung des Subjekts und der Empirie, nicht gestellt. Peter Cornehl fasst schlüssig zusammen: Die methodische Perspektive, unter der das Phänomen Gottesdienst im ,Handbuch‘ betrachtet wird, ist vornehmlich produktionsorientiert. Behandelt werden die liturgischen Ordnungen, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht die Gestaltung. Das ist ein Fortschritt. Aber es ist nur die Hälfte der Sache. Wie steht es mit der Rezeption durch das Kirchenvolk? […] Und wie verhalten sich die Menschen im Gottesdienst? Was denken sie, was erleben sie […]?53

Bieritz legt fast zehn Jahre später, 2004, sein eigenes Lehrbuch zur Liturgik vor. Er sieht, in der Situation des zurückgehenden Wissens vom Christentum, die

49 Vgl. Bieritz, Karl-Heinrich, Anthropologische Grundlegung, in: Schmidt-Lauber, Hans-Christoph/Bieritz, Karl-Heinrich (Hg.), Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, Leipzig-Göttingen 1995, 96–127, 96.98–103.109 f. 50 Bieritz, Anthropologische Grundlegung, 111. 51 Schmidt-Lauber, Hans-Christoph, Begriff, Geschichte und Stand der Forschung, in: SchmidtLauber, Hans-Christoph/Bieritz, Karl-Heinrich (Hg.), Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, Leipzig-Göttingen 1995, 15–39, 35. 52 Hervorgehoben werden soll das Kapitel aus der Feder von Jens Langer, das mit Beobachtungen zum ,Kairos des Herbstes 1989‘ schließt. Vgl. Langer, Jens, Gottesdienst und Kultur, in: SchmidtLauber, Hans-Christoph/Bieritz, Karl-Heinrich (Hg.), Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, Leipzig-Göttingen 1995, 580–595, 592 f. 53 Cornehl, Peter, Liturgiewissenschaft im Aufbruch. Zum neuen ,Handbuch der Liturgik‘, in: ThLZ 121 (1996), 223–240, 239.

42 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes Liturgiewissenschaft gegenüber den Kulturwissenschaften in der Pflicht. Ihre Adressaten sind […] alle, die an der christlichen Zeichenwelt als einem kulturellen Phänomen interessiert sind.54

Für Meyer-Blanck besteht der Verdienst Bieritz’ in der „Integration der klassischen historisch bestimmten und der in den letzten Jahrzehnten kulturtheoretisch aufgebrochenen Liturgiewissenschaft“55. Mit dem einführenden Verweis auf die Zeichenwelt ist Bieritz’ grundlegende Annäherung an den Gottesdienst benannt: Die gottesdienstliche ,Kommunikation des Evangeliums‘ erfolgt durch die Präsentation, die Rezeption, die Interpretation von Zeichen. Gottesdienstliches Handeln kann darum als Zeichenprozess […] bestimmt und beschrieben werden.56

Dies ermöglicht, einer Verengung auf verbale Akte zu entgehen, ermöglicht Vielstimmigkeit, die nicht kulturunabhängig gedacht werden kann: Den Hintergrund für dieses Modell bildet [Umberto] Ecos Vorstellung von der Kultur als Kommunikations- und Signifikationssystem: Die in einer Kultur kommunizierten (und kommunizierbaren) Signifikanten verweisen eben nicht auf kultur- und kommunikationsunabhängige Referente, sondern auf das, was jeweils ,kulturell als Entität definiert und unterschieden wird‘. Kultur segmentiert nämlich das in einer Gesellschaft zuhandene Wissen über Gott, Mensch und Welt in ,kulturellen Einheiten‘, kulturell definierte Bedeutungseinheiten (semantische Entitäten), die in ihrer Gesamtheit, ihrem wechselseitigen interpretatorischen Zusammenhang das semantische Universum der jeweiligen Kultur […] repräsentieren.57

Die Betonung der Abhängigkeit der Liturgik und des Gottesdienstes von der Kultur soll hier positiv vermerkt werden. Dies wird im Interesse und im Verlauf der Entwicklung der eigenen Studie im multikulturellen und verschiedenartig-vielfältigen Groruddal weiter ausgeprägt.

3.1.2.2 Liturgiewissenschaftliche Entwicklungen in Norwegen Michael Meyer-Blancks Feststellung, dass in Deutschland führende Liturgiker keine Praktischen Theologen waren, ist ebenso für den norwegischen Kontext zutreffend.58 54 Bieritz, Karl-Heinrich, Liturgik, de Gruyter Lehrbuch, Berlin-New York 2004, V f. 55 Meyer-Blanck, Michael, Liturgik – quo vadis? Zu den künftigen Perspektiven der evangelischen Liturgiewissenschaft, in: JLH 50 (2011), 41–51, 41. 56 Bieritz, Liturgik, 37. 57 Bieritz, Liturgik, 40 f. Vgl. Bieritz, Liturgik, 37 f. 58 Vgl. Meyer-Blanck, Michael, Evangelische Gottesdienstlehre heute. Ein Überblick, in: ThLZ 133 (2008), 3–20, 3.

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Allen voran ist Helge Fæhn59 zu nennen, der Nestor der norwegischen Literaturwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Fæhn schildert, in drei Perioden geteilt, die Entwicklungen der Liturgien der Kirche von der Reformationszeit an, dabei ist sein Fokus explizit liturgiehistorisch. Seine Arbeit konzentriert sich auf die Geistlichen und die leitenden Kreise der Kirche, das Gewicht liegt auf den liturgischen Texten und auf der Struktur der verschiedenen Ordnungen.60 Nach Fæhn entsprechen die drei Perioden einem sich verändernden Handlungsverständnis: Im Mittelalter stand das Sehen im Vordergrund, in der Zeit von der Reformation bis zur lutherischen Orthodoxie das Hören, erst die letzten Generationen (und deren Reformen) verstehen den Gottesdienst als gemeinsames Handeln. Gleichzeitig wird dieses gemeinsame Handeln in einem liturgisch-restaurativen Kontext gesehen.61 Sich auf der Schwelle zwischen kirchengeschichtlicher und liturgiegeschichtlicher Annäherung bewegend untersucht Lars Flatø die große Liturgiereform der Norwegischen Kirche 1886–1926. Diese wird von vielen als radikalerer Bruch als die Einführung der Reformation bezeichnet und als Ausdruck der restaurierungsliturgischen Bestrebungen der lutherischen Orthodoxie angesehen. Wie Fæhn konzentriert sich Flatø auf die „Arbeit mit den Büchern der Kirche, die zu diesen [untersuchten] Veränderungen führten“62. Im ersten Teil klopft er minutiös Änderungen in den geltenden Liturgien ab, im zweiten Teil wendet er sich den Änderungen in den Gesangbüchern zu. Es ist der dritte – und dezidiert kürzeste – Teil, der kirchengeschichtliche Perspektiven aufzeigt. Interessant ist festzuhalten: Die Revision der Messliturgie kam nicht als Folge des Wunsches darum aus den Gemeinden. […] Die neue Messliturgie wurde auch nicht als angemessene Anpassung an das aktuelle Gemeindeleben lanciert. Sie war eine Initiative, die das zukünftige gottesdienstliche Leben im Fokus hatte.63 59 Fæhn (1918–2008), 1945 Examen an der Universität Oslo, 1946 Studienaufenthalt in Durham, 1956 Promotion, 1959–1974 Pastor und Pfarrer der Norwegischen Kirche, Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät/Universität Oslo bis 1986, Vorsitzender und Sekretär des Liturgieausschusses der Norwegischen Kirche (1965–1984), maßgeblich an der Entstehung des neuen Gottesdienstbuches von 1977/1992 beteiligt. Vgl. Bjørdal, Øystein, Gottesdienst in Norwegen einst und jetzt, in: JLH 35 (1994/1995), 106–109, 106; Schumacher, Jan, Minneord. Helge Fæhn (1918–2008), in: TTK 80 (2009), 238–240, 240. 60 Vgl. Fæhn, Helge, Gudstjenestelivet i Den norske kirke – fra reformasjonstiden til v re dager, Oslo 21994, 15 ff. Vgl. Bjørdal, Gottesdienst in Norwegen, 106 f. 61 Vgl. Fæhn, Helge, Gudstjenestelivet i Den norske kirke, 443. 62 Flatø, Lars, Den store liturgirevisjonen i v r kirke 1886–1926. En kirkehistorisk undersøkelse, Oslo 1982, 11. Vgl. Flatø, Den store liturgirevisjonen, vgl. 12.17 ff.41.51. Flatø macht auf den großen Einfluss aus Süddeutschland, gerade aus Bayern, aufmerksam. 63 Flatø, Den store liturgirevisjonen, 280.

44 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes In dieser Hinsicht fällt Flatøs Urteil durchaus positiv aus, in einer mehr und mehr pluralisierten Gesellschaftssituation „war die [Reform] ohne Zweifel, mit Blick auf die Identität und Funktion der Kirche, nützlich“64. Gleichzeitig ist Flatø kritisch der Revision der Kasualien gegenüber. Er bescheinigt der Reform eine „zum Teil inkonsequente und nicht sehr tiefgehende Anpassung der Kirche an die neue Situation einer pluralistischen Gesellschaft“65. Olav Tveito gibt seine Geschichte des Gottesdienstes 2013 im eigenen Verlag heraus. Er stellt zunächst die Geschichte des Gottesdienstes dar und beschreibt das Kirchenjahr von der Urkirche an. Zum Schluss geht er auf die Entwicklung und Geschichte der Kirchengebäude, der Architektur und des Interieurs ein. Tveito geht ein immenses Themenspektrum an. Unter der Überschrift Liturgiegeschichte als Disziplin wird auf die Maxime ad fontes eingangs hingewiesen – und diese wird im Folgenden nicht verlassen: Liturgiewissenschaft stellt sich als Quellen- und Textarbeit dar.66 Liturgie ist Ausdruck für Kontinuität, Ausdruck für einen Konservatismus, der der kirchlichen Einheit über konfessionelle Grenzen hinweg dient, und der hilft, „Fokus auf den Kern im christlichen Glauben“67 zu halten: „Die traditionelle Liturgie trägt dazu bei, diese geerbte Lehrsubstanz zu beschützen.“68 Die vornehmlich historisch interessierte Liturgiewissenschaft trägt dazu bei, Schätze zu bergen und Entwicklungslinien deutlich zu machen. Gerade eine historische Liturgiewissenschaft, die sich systematisch-normativen und anthropologisch-analytischen Zugängen öffnet, ist so durchaus von Interesse, obwohl sie sich ihrerseits ohne ausgeprägtes und artikuliertes Interesse für die involvierten Menschen zeigt.

64 Flatø, Den store liturgirevisjonen, 288. 65 Flatø, Den store liturgirevisjonen, 290. 66 Vgl. Tveito, Olav, Gudstjenestens historie. Liturgi, kirke r og kirkehus gjennom 2000 r, Lier 2013, 12 ff. 67 Tveito, Gudstjenestens historie, 385. 68 Tveito, Gudstjenestens historie, 385. In seiner Rezension bedauert Sigurd Hareide, dass die thematische Breite der Studie das Präzisionsniveau mindert. Seiner Meinung nach wird außerdem Liturgiegeschichte einseitig als Geschichte des Verfalls von der Alten Kirche bis ins Mittelalter angesehen, obgleich eine beinah ökumenische Kontinuität bis in die heutigen Formen hinein angenommen wird. Vgl. Hareide, Sigurd, Bokomtale: Tveito, Olav, Gudstjenestens historie. Liturgi, kirke r og kirkehus gjennom 2000 r, Oslo 2013, in: Teologisk Tidsskrift 5 (2016), 426–429.

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3.1.2.3 Das aufkommende kulturwissenschaftliche Interesse Sollen diese Aufbrüche, Konsolidierungen und Verhaftungen an einem historischen Paradigma recht eingeordnet werden, ist nochmals ein Schritt zurückzugehen. Für den deutschen Forschungskontext ist wohl festzuhalten, dass die Aufnahme und Einbindung kulturwissenschaftlicher Impulse, die Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre einsetzte, entscheidend war. Auf diese Weise sollte dem Streben nach soziologisch fundiertem Wissen und der Sicherung empirisch fundierter Fakten begegnet werden. Diesen Entwicklungen soll nun nachgegangen werden. Charakteristisch für den norwegischen Forschungskontext ist, dass Harald Hegstad in der Einleitung zu seiner eigenen empirischen Studie noch 1996 schreibt: Systematisch-forschungsbasiertes Wissen der faktischen norwegischen Kirchenwirklichkeit, in ihrer ganzen Breite, ist Mangelware gewesen, sowohl innerhalb der Theologie als auch innerhalb anderer aktueller Fächer. […] Norwegische theologische Forschung hat sich noch weniger mit diesen Typen von Problemstellung beschäftigt.69

Auf die Entwicklungen in Norwegen wird unten zurückzukommen sein. Rainer Volp konstatiert im Interesse eines erneuerten Gottesdienstes Anfang der 70er Jahre:70 Angesichts der aufgezeigten Probleme der liturgischen Praxis und angesichts der atemberaubenden Methodendiskussion in allen Disziplinen, wird man Liturgiewissenschaft weder als einen ,Zweig des kanonischen Rechts‘ noch als bloßes Element der Kirchengeschichte behandeln. Sie muß sich etwa das Verhältnis kirchenrechtlicher und gruppenspezifischer Strukturen oder die Tragfähigkeit religiöser Symbole in kulturellen Veränderungen klarmachen.71

Volp referiert im Folgenden sozialempirische Untersuchungen sowie religionssoziologische und sozialpsychologische Fragestellungen.72 Diese „Untersuchungen belegen […], wie eng die liturgischen Formen mit den persönli-

69 Hegstad, Harald, Folkekirke og trosfellesskap. Et kirkesosiologisk og ekklesiologisk grunnproblem belyst gjennom en undersøkelse av tre norske lokalmenigheter, KIFO Perspektiv 1, Trondheim 1996, 2. 70 Vgl. Volp, Rainer, Perspektiven der Liturgiewissenschaft. Forschungsergebnisse im Interesse eines erneuerten Gottesdienstes, in: JLH 18 (1973/1974), 1–35, 2–17. 71 Volp, Perspektiven der Liturgiewissenschaft, 18 f. 72 Vgl. Volp, Perspektiven der Liturgiewissenschaft, 19–23.

46 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes chen und gesellschaftlichen Krisen verzahnt sind“73, dass Bestimmungen von Religion so weit gefaßt sein [müssen], daß sie die – meist synkretistischen – Subkulturen noch einfangen, [dass] anderseits jedoch […] Abgrenzungen von bloßen Ideologien, Weltanschauungen oder ästhetischer Praxis notwendig74

sind, und dass „das Zusammenspiel von Klein- und Großgruppe im Gottesdienst, deren Schichten und Altersgruppen untereinander und deren Verhältnis zu anderen Gruppen“75 von Interesse bleibt. Abschließend fasst Volp zusammen: Angesichts der neuen Problemlage in Theorie und Praxis des Gottesdienstes dürfen prinzipielle und pragmatische Erörterungen nicht auseinanderklaffen. Die Frage nach der Syntax der Liturgie scheint mir der Schlüssel zu sein, um diese Diskrepanz zu überwinden. Denn mittels der Transparenz der Strukturen, die als Modelle immer zugleich die Probleme allgemein gesellschaftlicher Strukturen in sich tragen, kann eine nicht nur innertheologische, sondern auch interdisziplinäre Arbeit begonnen werden. Als generative, d. h. stets sich neu überprüfende Grammatik gottesdienstlicher Verhaltens- und Kommunikationsweisen würde sie über die eigenen Aufgaben hinaus auch andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu erklären helfen.76

Volp verweist auf Untersuchungen und Befragungen, darunter auf die Meinungsbefragung „Kirchenmitgliedschaft“ von 1972.77 Der Auswertungsband wurde 1974 von Helmut Hild herausgegeben. Ausgangspunkte der Befragung waren der Anstieg der Kirchenaustritte, die Abnahme des Gottesdienstbesuches, Diskussionen um die Kirchensteuer und eine generell beobachtete – und für die Kirche als schwierig und herausfordernd empfundene – Konfrontation mit der Säkularisierungsthese.78 Die „empirische Sozialforschung wurde in der Kirche offenkundig als Instrument zum Krisenmanagement aufgegriffen“79. Für meine eigene Forschungsarbeit ist mir wichtig, dass, aus der Studie abgeleitet, einer Offenheit das Wort geredet wird, dass nicht von der Selbstdefinition der Kirche im Sinn einer theologischen Wesensbestimmung ausgegangen [wird], sondern danach gefragt [wird], wie die Kirche durch ihre Mitglieder definiert wird80. 73 74 75 76 77 78

Volp, Perspektiven der Liturgiewissenschaft, 21. Volp, Perspektiven der Liturgiewissenschaft, 22. Volp, Perspektiven der Liturgiewissenschaft, 22. Volp, Perspektiven der Liturgiewissenschaft, 34. Vgl. Volp, Perspektiven der Liturgiewissenschaft, 19, Anmerkung 62. Vgl. Hild, Helmut (Hg.), Wie stabil ist die Kirche? Bestand und Erneuerung. Ergebnisse einer Meinungsbefragung, Gelnhausen 1974, 7.9.13.23–27.32. 79 Hild, Wie stabil ist die Kirche, 28. 80 Hild, Wie stabil ist die Kirche, 38.

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Diese Offenheit wird in Bezug auf den Gottesdienst, jedenfalls auf quantitativer Basis, versucht durchzuhalten. Soziale Faktoren kommen deutlich in den Blick und ein der Kirche fehlendes Verhältnis zu der individuellen Lebensproblematik ihrer Mitglieder wird angezeigt.81 Es ist Werner Jetter, der den Blick über die Analyse, das Sammeln und Zusammensetzen von Zahlen und Tabellen weitet. Jetter macht zwei empirische Gottesdienstbefragungen zum Ausgangspunkt seines Nachdenkens über Symbol und Ritual.82 Er fragt, „welche Bedeutung dem Rituellen in der kirchlichen und dort natürlich vor allem in der gottesdienstlichen Praxis zukommt“83, und stellt fest, dass man bei der „Beurteilung [der ,rituellen‘ Beziehungen] nicht mehr allein bei der kirchlichen Lehre vom Gottesdienst [wird] einsetzen können“84, dies unter Verweis auf die „mehr und mehr verfeinerten human- und sozialwissenschaftlichen Einsichten in die Rolle der Ritualisierung und in deren Probleme“85. Jetters Fokus auf Kultur und Religion, das Wechselspiel zwischen diesen Größen und seine Beobachtungen und Analysen zum Gottesdienst als Ritual, der unter der Formulierung Ernst Langes von der ,Kommunikation des Evangeliums‘ als Ganzheit aufgefasst wird, sind für die Entwicklung der eigenen Studie interessant. Gewichtig erscheint die Notwendigkeit, den Kontextzusammenhang, das Verhältnis von Klerus und Laien und die Beziehung von heilig und profan in die eigenen Erwägungen einzubeziehen. Überdies sind die Möglichkeit das Ritual als Text ,zu lesen‘ und die Kenntnis vom objektiven Eindruck des Rituals, bei gleichzeitiger Empfindlich- und Verletzlichkeit desselben, zu nennen.86 81 Vgl. Hild, Wie stabil ist die Kirche, 53 ff.259–262.268. Erst mit der dritten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung kommen qualitative Methoden zum Einsatz. Vgl. Hermelink, Jan/Weyel, Birgit, Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. Religions- und kirchentheoretische Akzente in der Konzeption der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, in: Weyel, Birgit/Bubmann, Peter (Hg.), Kirchentheorie. Praktisch-theologische Perspektiven auf die Kirche, VWGTh 41, Leipzig 2014, 115–131, 116 f. 82 Vgl. Jetter, Werner, Symbol und Ritual. Anthropologische Elemente im Gottesdienst, Göttingen 1978, 13–17.17 ff. Jetters Ausführungen behandeln Berichte und Auswertungen der Umfragen zur Gemeinsamen Synode „Zwischen Kirche und Gesellschaft“ und die VELKD-Untersuchung „Gottesdienst in einer rationalen Welt“. Jürg Klemann schreibt: „Ein weitausladendes Gespräch über Gottesdienst: entdeckungsfreudig, dann wieder begründungseifrig; lernwillig im interdisziplinären Feld, empirische Daten sammelnd und dann wieder beratend, warnend und fragend in der praktisch-theologischen Anwendung. Da vollzieht sich die Existenz des Praktischen Theologen heute im Mut zu theologischen Blößen und empirischen Niederlagen.“ In Klemann, Jürg, Symbol und Ritual. Erfahrungen mit einem Buch von Werner Jetter, in JLH 23 (1979), 102–107, 102. 83 Jetter, Symbol und Ritual, 18. 84 Jetter, Symbol und Ritual, 18. 85 Jetter, Symbol und Ritual, 18 f. 86 Vgl. Jetter, Symbol und Ritual, 87.90.93.100 f.110.117.160.188–199.202 f.258. In diesen Zusammenhang gehören auch Jetters Ausführungen zur Unterscheidung von „Lehr-Modell“ (als auf

48 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes Der ,Gottesdienst heute‘ stellt sich, im Wahrnehmen einer „Vielgestalt der Motive und Erwartungen“87, das zur Vorsicht vor Verallgemeinerungen mahnt, für Jetter als „Institution im Übergang“88 dar, die sich unter den Bedingungen von Autoritäts- und Institutionenkritik, gesellschaftlichem Pluralismus und ,Säkularisierung‘ wiederfindet.89 Deutlich wird eine zweiteilige Teilnahmestruktur: Der regelmäßige Teilnehmerstamm versteht sich als die Sammlung der praktizierenden Christen. Man wird sich des Unterschieds von den Gruppen derer bewußt, die bloß fallweise und gelegentlich teilnehmen wollen.90

Ausgehend von der These, dass nicht „die Kirche […] den Gottesdienst hervorgebracht hat, sondern [dass] der Gottesdienst […] die Kirche als Institution hervorgebracht [hat]“91, bearbeitet Lange die Stichworte Identität, Distanz, Feier und Spiel. – Er macht auf sinkende Gottesdienstzahlen aufmerksam, darauf, dass, obwohl die neuen Formen schnell abgenutzt erscheinen, die Menschen nicht aus der Kirche austreten. Lange ,entdeckt‘ eine andere, vielleicht eine neue, Art der Kirchlichkeit, des ,Suchens nach Religion‘, in und neben der Kirche, in und neben kirchlichen Formen, die herausfordert: „Die Kirche soll in ihrer Liturgie den Begegnungscharakter wiedergewinnen.“92 Lange spricht aus seinen Erfahrungen mit der „Ladenkirche“ in BerlinSpandau heraus (1960–1965),93 er ist dann in die Auswertung der Meinungsbefragung „Kirchenmitgliedschaft“ (1972) eingebunden.

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die Welt gerichtetes Bekennen) und „Feier-Modell“ (als auf die Kirche gerichtete Praxis). Vgl. Jetter, Symbol und Ritual, 273 ff. Jetter, Symbol und Ritual, 212. Jetter, Symbol und Ritual, 216. Vgl. Jetter, Symbol und Ritual, 216 f.219 f.249 f. Jetter, Symbol und Ritual, 219. Hegstad macht diese zweiteilige Teilnahmestruktur zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung. Vgl. 5.4. Lange, Ernst, Was nützt uns der Gottesdienst?, in: Beutel, Albrecht/Drehsen, Volker/Müller, Hans M. (Hg.), Homiletisches Lesebuch. Texte zur heutigen Predigtlehre, Tübingen 1986, 332–340, 333. Der Text war ursprünglich ein Referat auf dem Düsseldorfer Kirchentag 1973. Lange, Was nützt uns der Gottesdienst?, 337. 1965 erscheinen Langes Überlegungen zum Gottesdienst, Überlegungen „in einem engen Zusammenhang mit dem, was in den Ladenkirchen […] bedacht und erprobt wird“, sie „entstammen dem Gespräch einer Gemeinde, die sich über ihre Schwierigkeiten und über ihre Chancen in einer großtstädtischen Umwelt klarzuwerden versucht“. Gottesdienst ist schon hier unlöslich an Begegnung und Kommunikation geknüpft: „In der Gemeinschaft mit Jesus und im Gespräch mit ihm werden die Jünger des Anbruchs der Gottesherrschaft gewiß.“ Unter Rückgriff auf Apg 2,42 ff. führt Lange aus: „[…] diese Kommunikation ist nicht eine Folgeerscheinung der Christusherrschaft, womöglich nur eine vorübergehende Besonderheit der ,Zeit der ersten Liebe‘. Sie ist und bleibt vielmehr das Medium, in dem Christus seine Herrschaft ausübt. […] Darum heißt bei der Christusverheißung bleiben: in der Kommunikation mit den anderen Glaubenden bleiben. […] Dem hat die Gestalt der Kirche zu dienen.“ In Lange, Ernst, Chancen des Alltags. Überlegungen zur Funktion des christlichen Gottesdienstes in der Gegenwart, herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter Cornehl, Edition Ernst Lange 4, München 1984, 9.110.111 f.

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Vorläufig summierend: Auf dem Hintergrund eines Gewahrwerdens von gesellschaftlichen und kirchlichen Ausdifferenzierungen und einem aufkommenden Methodenpluralismus gelang es, auch durch quantitative Untersuchungen, „eine Reihe struktureller Faktoren zu unterscheiden, die das Verhalten zum Gottesdienst bestimmen“.94 Manfred Josuttis macht 1991 das Verhalten im Gottesdienst zum Ausgangspunkt seiner Liturgik: Der Gottesdienst, wie ihn die Agende vorschreibt, ist zunächst nichts anderes als eine Verhaltenssequenz, die in regelmäßigen Abständen von bestimmten Menschen vollzogen wird.95

Auf diese Weise will Josuttis sich von einer historisch arbeitenden Liturgik absetzen; er ist an der „Einbettung des gottesdienstlichen Geschehens in den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext“96 interessiert, bestimmt diesen Kontext aber ausschließlich negativ: „Der Gottesdienst heute findet in Trümmern statt […].“97 Dieser Gottesdienst ist mit einer Liturgik, die im Gefolge einer als Handlungswissenschaft definierten Praktischen Theologie auf den Handlungsbegriff abzielt, nicht adäquat zu beschreiben: Gerade rituelle Praxis ist durch archaisches Erbe bestimmt und kann weder in ihrer Genese noch bei ihrem Vollzug durch Bewußtseinsakte vollständig eingeholt werden. Außerdem läßt die normative Fixierung, mit der die Agende die Aktivität der Gottesdienstteilnehmer steuert, ihnen kaum die Chance zu Konsensbildung und kommunikativer Regulation.98

Wissenschaftspraktisch empfiehlt er, die Verhaltenswissenschaften mit in die Arbeit einzubeziehen, und es ist, so Josuttis, deren Verdienst, die kirchliche Isolierung aufzubrechen, für Theologiekritik und gesamtgesellschaftliche Gefüge offen zu sein und gleichzeitig eine Folge von sieben Schritten erkennbar werden zu lassen, aus denen sich der Gottesdienst zusammensetzt.99 94 Cornehl, Peter, Den Gottesdienst erleben – zu Chancen und Grenzen qualitativ-empirischer Studien. Eine Annäherung in fünf Schritten, in: PTh 104 (2015), 285–306, 290. Peter Cornehl nennt den zeitlichen „Rhythmus der Wiederholung […] die soziale Einbindung in einer Primärgruppe […] [und] einen erkennbaren Lebensbezug“. In Cornehl, Den Gottesdienst erleben, 290. 95 Josuttis, Manfred, Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage, München 1991, 11. 96 Josuttis, Der Weg in das Leben, 37. 97 Josuttis, Der Weg in das Leben, 38. 98 Josuttis, Der Weg in das Leben, 46. 99 Vgl. Josuttis, Der Weg in das Leben, 47 f. Josuttis spricht explizit davon, dass „das gottesdienstliche Handeln, wie es durch die Agende programmiert wird, als Verhaltenssequenz zu betrachten“ ist. In Josuttis, Der Weg in das Leben, 46. Daher nimmt es nicht wunder, dass er das kultische Ritual als Technik zur Wirklichkeitserschließung bezeichnen kann. Vgl. Josuttis, Der Weg in das Leben, 35.

50 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes Die Studie Michael H. Duceys, Sunday Morning. Aspects of Urban Ritual, wurde als Demo, Sprungbrett und Initialzündung, mit dem Ziel der Konkretisierung einer Öffnung für kulturanthropologische und empirisch verankerte Methoden im Rahmen der sich verändernden und pluralen Großstadt, eingeführt. Die forschungsgeschichtliche Einordnung, die Beobachtung und die kritisch anerkennende Wertschätzung von verschiedenen kulturwissenschaftlichen Öffnungen (Sozialempirie, Religionssoziologie, Sozialpsychologie, Symbol- und Ritualtheorie, Verhaltenswissenschaft) der Theologie und der Liturgik machen Zusammenhänge gut sichtbar. Es gilt nun, zu bündeln und zu sehen, welche Themen und Felder in der Analyse und Entwicklung einer sich als empirisch verstehenden Liturgiewissenschaft weiterer Bearbeitung und Zuspitzung bedürfen. Ohne Frage, es bleibt der Verdienst Duceys, schon früh verschiedene Aspekte, die im Laufe der letzten Abschnitte deutlich wurden, mittels einer empirisch orientierten Studie ins Gespräch gebracht zu haben. Ducey kann unterstreichen, dass weiterhin Augenmerk auf der Bedeutung des Ortes liegen muss. Damit verbunden, dies erschließt sich sowohl in der Auseinandersetzung mit Duceys Studie als auch durch die gerade vorgenommenen Analysen, muss die Rezeptionsebene stärker fokussiert werden, denn auf dieser kann es gelingen, die Gemengelage von Leben und normierter Lehre/normiertem Gottesdienst adäquater, genauer zu fassen. Auf diese Weise ist es möglich, Phänomene und Öffnungen des Alltags, des Lebens der Menschen, in ihrer Multi- und Interkulturalität, in ihrer erlebten Krisenhaftigkeit wahrzunehmen und innerkirchliche Diskussionen weiter aufzubrechen und deutlicher zu verorten. Die Frage nach dem Gottesdienst vor und am Ort ist zu profilieren. Dabei gilt es zu sehen, welche Konzeptionen den Gottesdienst als Begegnung, als Wahrnehmung des und der Anderen, als (gemeinsame) Feier in Anschlag bringen, welche Beiträge geliefert werden, um althergebrachte Dichotomien (wie heilig–profan, Individuum–Kollektiv, innen–außen) zu überwinden.

3.1.3 Liturgiewissenschaft als empirische Wissenschaft 3.1.3.1 Aktuelle Konzepte und Herausforderungen in Deutschland Das Erleben des Gottesdienstes ist der Ausgangspunkt der empirischen Studie Ute Grümbels, in ihrer Beschäftigung mit Manfred Josuttis macht sie darauf aufmerksam, […] daß auch mit Männern und vor allem auch mit Frauen zu sprechen ist, daß sie, die sogenannten Laiinnen und Laien, mehr als bisher Gehör finden müssen mit ihren Erfahrungen, ihren Gedanken, ihrer Sprache, auch im gottesdienstlichen Leben, im

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Altarraum und auf der Kanzel. Es gilt, Männer und vor allem Frauen als Subjekte wahrzunehmen und nicht so gut wie ausschließlich als Objekte von Verkündigung und Lehre.100

Gegenüber Josuttis’ verhaltenswissenschaftlich begründeter Abfolge von sieben Schritten, deren Höhepunkt das Abendmahl ist, konstatiert Grümbel: Ob dies von all denen, die das Sakrament empfangen, gleichermaßen so gesehen und verstanden, so erlebt wird, ist nicht die Frage, liegt außerhalb des Blickwinkels. […] Die subjektive Erfahrung, die Befindlichkeit der einzelnen, ihre Gedanken, Wünsche, inneren Widerstände, ihre Einstellung und eigenen Vorstellungen sind nicht von Interesse.101

Daher folgert sie: Der religionsphänomenologische Ansatz und die Ausrichtung an überwiegend verhaltenswissenschaftlichen Kriterien beinhalten […] die Gefahr einer Engführung insofern, als zeitenübergreifend, situationsunabhängig, geschichtslos Verhalten, Haltungen und religiöse Symbolisierungen festgeschrieben werden.102

Uta Pohl-Patalong beschreibt für ihre empirische Untersuchung zum Gottesdienst einen ähnlichen Ausgangsimpuls und bemerkt, dass „bislang nur ansatzweise gefragt [wurde], wie Menschen eigentlich den Gottesdienst erleben“103. Es geht ihr dabei um „Wahrnehmung dessen, was eigentlich für die Teilnehmenden im Gottesdienst geschieht“104. Pohl-Patalongs Studie möchte untersuchen, wie die Gottesdienstteilnehmenden das komplexe Geschehen ,Gottesdienst‘ innerlich erleben und nimmt damit die Perspektive der Subjekte konsequent in den Blick.105

Daher wendet sie sich der qualitativen Forschung zu, deren Ziel es ist, „Begründungszusammenhänge zu entdecken, innere Motivlagen aufzuzeigen und 100 Grümbel, Ute, Abendmahl: „Für euch gegeben“? Erfahrungen und Ansichten von Frauen und Männern. Anfragen an Theologie und Kirche, AzTh 85, Stuttgart 1997, 13. 101 Grümbel, Abendmahl, 92 f. 102 Grümbel, Abendmahl, 112 f. Für die vorliegende Studie ist zu vermerken, dass Grümbel Interviews führt. In ihrer Analysearbeit nennt sie nicht die Grounded Theory, ihre Hinweise auf Anselm L. Strauss lassen jedoch eine Nähe zu dieser deutlich werden. Sie schreibt, Strauss zitierend: „Methoden sind ,auf keinen Fall als starre Regeln zu verstehen …, nach denen Datenmaterialien in eine effektive Theorie umgewandelt werden können. Sie sind lediglich Leitlinien … Orientierungshilfen‘.“ In Grümbel, Abendmahl, 171. Vgl. 7.2.2.3. 103 Pohl-Patalong, Uta, „Wenn ich die Seele durchhöre, dann ist alles gut“. „Gottesdienst erleben“ – eine empirische Untersuchung, in: PThI 33 (2013), 159–173, 159. Vgl. Pohl-Patalong, Uta, Gottesdienst erleben. Empirische Einsichten zum Gottesdienst, Stuttgart 2011, 7.52 f. 104 Pohl, Patalong, Gottesdienst erleben, 7. 105 Pohl-Patalong, Gottesdienst erleben, 53.

52 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes lebensweltliche Strukturen zu verstehen“106. Dabei wird vorausgesetzt, dass mit dem induktiven Ansatz […] die Menschen nicht nur als Subjekte ernst genommen [werden], sondern ihnen wird eine zentrale Bedeutung im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess zugesprochen.107

Ihr Datenmaterial gewinnt Pohl-Patalong durch eine „Kombination aus einem Leitfrageninterview und offenen Erzählimpulsen“108. Zielpunkt sind „typische Logiken des Erlebens“109, daher wird das Material mittels der „Kategorienbildung am Material“ (Christiane Schmidt) analysiert, dieser Ansatz […] sortiert das gesamte Material nach Themen und Aspekten, den so genannten Auswertungskategorien. Dabei können die erarbeiteten Theoriediskurse und der Forschungskontext von Anfang an in die Auswertung einfließen110.

Zielpunkt der Analysen der Interviews – und der vorangehenden Analyse des Erlebnisbegriffs in verschiedenen Kontexten – sind „Erlebnislogiken“, die, jenseits jeder Wertung und keineswegs auf kognitive Aspekte begrenzt, Vergleichbarkeit sichern und „eine Strukturierung des vielfältigen Erlebens der Subjekte über eine Einzelfallstudie hinaus“111 ermöglichen. Daher fragt der Leitfaden schematisiert nach den Elementen des Gottesdienstes (zum Beispiel Predigt, Liturgie, Gebete, Segen und Abendmahl).112 Das Interesse am ,Erlebnis Gottesdienst‘ wird von Achim Knecht geteilt, er wählt jedoch eine andere Annäherung. Ihm geht es „um die theologische Gewichtung des Erlebens – vor allem im Gottesdienst – für den christlichen Glauben und für das Verstehen des Evangeliums“113, und er öffnet die Fragen 106 Pohl-Patalong, Gottesdienst erleben, 56. Vgl. 7.2.2.3. 107 Pohl-Patalong, Gottesdienst erleben, 57. 108 Pohl-Patalong, Wenn ich die Seele durchhöre, 161. „Das Sample bestand aus 22 Interviews […]. […] Es sollte hinsichtlich der Merkmale Kirchgangsgewohnheit, Alter, Geschlecht, regionale Verteilung, Stadt-Land-Verteilung, Lebensstil eine möglichst große Bandbreite abgebildet werden.“ In Pohl-Patalong, Wenn ich die Seele durchhöre, 161. Vgl. Pohl-Patalong, Uta, „Eine Stunde für etwas Anderes“. Empirische Einsichten und konzeptionelle Überlegungen zum evangelischen Gottesdienst, in: PTh 101 (2012), 214–230, 218. 109 Pohl-Patalong, Gottesdienst erleben, 76. 110 Pohl-Patalong, Gottesdienst erleben, 76. 111 Pohl-Patalong, Gottesdienst erleben, 94. Vgl. Pohl-Patalong, Gottesdienst erleben, 76 f.93 f.211. Pohl-Patalong spricht in der Analyse des Erlebens im psychologischen Kontext davon, dass nach einem „generalisierten Erleben“ gefragt wird. In Pohl-Patalong, Gottesdienst erleben, 84. 112 Für die eigene Studie bleibt anzumerken, dass der Ort und das Erleben des Ortes und des Gottesdienstes vor Ort nicht explizit angesprochen werden. Pohl-Patalongs Studie ist auf ganz Deutschland angelegt. Vgl. Pohl-Patalong, Gottesdienst erleben, 69 f.225. 113 Knecht, Achim, Erlebnis Gottesdienst. Zur Rehabilitierung der Kategorie „Erlebnis“ für Theorie und Praxis des Gottesdienstes, Leipzig 2011, 48.

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53

nach Methodologie und Methode einer „grundsätzlichen phänomenologischen Orientierung“114, dies geschieht unter Rückgriff auf sozialwissenschaftliche und kulturanthropologische Methoden […], die […] phänomenologisch adaptiert werden. Damit soll exemplarisch und explorativ gezeigt werden, dass das Erleben nicht nur eine notwendige Perspektive auf den Gottesdienst darstellt, sondern auch intersubjektiv nachvollzogen werden kann115.

Knecht ist an einem phänomenologisch orientierten Erlebnisbegriff interessiert und bemüht den Begriff der Intentionalität, die stets an ein Leibsubjekt gebunden ist. – Erlebnis ist in dieser phänomenologischen Sicht ein erkenntnistheoretischer Begriff. So wird der Erlebnisbegriff unter hermeneutischem und religiösem Vorzeichen, unter der Perspektive des Erzählens diskutiert und Knecht grenzt den Begriff ab, gegen die Wahrnehmung, gegen die Erfahrung, gegen das Verhalten und die Begegnung.116 Er kommt zu dem Schluss, dass das Erlebnis als so genannter nichtexakter Begriff zu betrachten [ist], der im Sinne einer ,präzisen Ungenauigkeit‘ Ausdruck einer ,unendlichen Präzisierungsbedürftigkeit‘ ist. […] Das Diffuse des nichtexakten Begriffs ,Erlebnis‘ hängt damit zusammen, dass mit ihm etwas auch für den heutigen Menschen Elementares zur Sprache gebracht wird: Beim Erlebnis geht es in besonderer Weise um das je eigene Leben.117

Kern von Knechts Untersuchung sind 28 von ihm besuchte Gottesdienste, die auf die jeweils von ihm angeführten, analysierten und besprochenen Perspektiven des Erlebens (das Phänomen Erlebnis, Ästhetik/Ästhetisierung, Atmosphäre, Spiel, Ritual) hin ausgewertet werden.118 Eine weitere thematische und methodologische Ausweitung, die für die eigene Arbeit präsumtiv von Bedeutung ist, findet sich bei Andrea Bieler, die das Erleben des ,Gottesdienstes interkulturell‘ im Zwischenraum adressiert. Mit Ausgangspunkt in eigenen Migrationserfahrungen an einer sowohl 114 Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 48. 115 Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 48. Knecht bedient sich einer phänomenologischen Adaption der Methoden der Teilnehmenden Beobachtung und der Dichten Beschreibung. Vgl. Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 65–91.91–111. Vgl. 7.2.1. 116 Vgl. Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 131–149. 117 Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 150. 118 Vgl. Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 48. Auf dem Hintergrund von Pohl-Patalongs Leitfaden, der schematisch nach einzelnen Elementen, darunter nach der Atmosphäre des Raumes, fragt, ist interessant, dass Knecht eingangs zum Stichwort ,Atmosphäre‘ vermerkt: „Als Pfarrer […] stand ich nach dem Gottesdienst gerne am Ausgang […], um die Menschen persönlich zu verabschieden. Erfreulicherweise äußerten sich diese […] oft auch über den Gottesdienst […]. […] in aller Regel bezogen sich die Äußerungen an der Kirchentür nicht auf das Thema von Predigt und Liturgie. Sie bezogen sich fast immer darauf, wie der Gottesdienst als Ganzes erlebt worden war.“ In Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 219 f. Vgl. Pohl-Patalong, Gottesdienst erleben, 225.

54 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes

ökonomisch als auch kulturell und religiös vielfältigen Universität in den USA reflektiert sie eigene Gottesdienstvorbereitungen und -erfahrungen,119 eine liturgische Interkulturalität, in die die Menschen „ihre meist unreflektierten Vorannahmen in Bezug auf heilige Räume und Zeiten, Rhythmus und Flow“120 miteinbringen; es geht Bieler gerade um den Anderen: Wenn christliche Existenz auf das ,in Christus sein‘ ausgerichtet ist, dann erschließt sich Identität im Horizont des christlichen Glaubens nicht selbstreferenziell als ,mit sich identisch sein‘, sondern in Ausrichtung auf Christus und auf die Andere […].121

Theoretisch ist die Verortung im Zwischenraum von Homi K. Bhabhas postkolonialer Theorie beeinflusst.122 Der Gottesdienst im Zwischenraum kommt dabei nicht ohne eine Wahrnehmungsschule aus, die Fragen nach kritischem Geschichtsbewusstsein, nach postkolonialer Theologie, nach ökumenischen Einsichten und impliziten Wertesystemen einschließen muss. Das liturgische Handeln macht, durch das Konzept der „ritualized bodies“ (Catherine Bell) sichtbar, dass unsere ritualisierten Körper Teil des fluiden Traditionszusammenhangs sind, in dem wir uns bewegen und in den unbewusstes und bewusstes, kognitives, taktiles sowie emotionales Wissen eingeschrieben ist123.

3.1.3.2 Aktuelle Konzepte und Herausforderungen in Norwegen Wie oben gesehen verfolgte die norwegische Liturgiewissenschaft lange eine historische Annäherung. Harald Hegstad bescheinigt, dass gerade in einer eher quantitativ orientierten Soziologie das Verständnis der Wirklichkeit, die man untersucht hat, eher eindimensional dargestellt worden ist: Das, was man abwägt, sind primär Gradunterschiede in der Zustimmung und Teilnahme zu und an dem Glauben und der religiösen Praxis, die das offizielle, institutionalisierte Christentum repräsentiert124.

Dieser Sachverhalt änderte sich im Laufe der Jahre. Dies geschah vornehmlich durch ein Anwachsen der quantitativen Religionsforschung. In Regie des KIFO Institute for Church, Religion, and Worldview Research wurde im Jahr 2000 die erste Mitgliederbefragung in der Norwegischen Kirche 119 Vgl. Bieler, Andrea, Gottesdienst interkulturell. Predigen und Gottesdienst feiern im Zwischenraum, Christentum heute 9, Stuttgart 2008, 11 f. 120 Bieler, Gottesdienst interkulturell, 15. 121 Bieler, Gottesdienst interkulturell, 16 f. 122 Vgl. Bieler, Gottesdienst interkulturell, 18 f. 123 Bieler, Gottesdienst interkulturell, 215. Vgl. Bieler, Gottesdienst interkulturell, 189–214. 124 Hegstad, Harald, Folkekirke og trosfellesskap. Et kirkesosiologisk og ekklesiologisk grunnproblem belyst gjennom en undersøkelse av tre norske lokalmenigheter, KIFO Perspektiv 1, Trondheim 1996, 3.

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durchgeführt, der Untersuchungsbogen wurde an 3 000 Kirchenmitglieder versandt und der Rücklauf betrug fast 70 %. Die Einführung besteht aus knappen drei Seiten, die Ergebnisse werden in eng beschriebenen Tabellen auf 35 Seiten präsentiert, aber nicht weiter kommentiert, eingeordnet und ausgewertet.125 Daneben sind andere Studien zu nennen: Knut Lundby untersucht den Einfluss des ,Glaubenskollektivs‘/der ,Glaubensgemeinschaft‘ in der Kleinkirchengemeinde in Tøyen im Zeitraum von 1907 bis 1984, Hegstad untersucht das Verhältnis von ,Glaubensgemeinschaft‘ und ,Volkskirche‘ in drei norwegischen Gemeinden und Bjørn Sandvik untersucht das Absinken der Teilnahme am Abendmahl im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert.126 Auffällig bleibt jedoch, dass die Subjektpositionen, dass die Subjekte, der Gottesdienst und die Gottesdienstfeier (verstanden als Vollzug) kaum in den (empirischen) Fokus geraten. Veränderungen in diesem Feld, auch im Forschungsmilieu des KIFO, kommen erst einige Jahre später auf. Diese nehmen Impulsen der Theaterwissenschaft, der Religionssoziologie sowie feministisch-theologische Interessen und Anliegen auf. An drei Dissertationen wird dies nachgezeichnet, sodann wird auf die weitere Entwicklung eingegangen. Kari Veiteberg beschäftigt sich mit der Taufe, die in Norwegen aller Regel nach im sonntäglichen Gottesdienst gefeiert wird. Sie besucht vier Gottesdienste, drei davon in Begleitung von Theaterfachleuten. In ihrer Analyse lässt sie sich von der Theaterwissenschaft inspirieren: Man kann auch daran interessiert sein, dass jedes Detail der Handlung einer subjektiven Meinung bei jedem der Akteure entspricht. Ich möchte nicht, dass mein Interesse für das Mitwirken und die Teilnahme so verstanden wird. Das Eindeutige oder das Konsistente gibt es weder im Leben noch in der liturgischen Handlung. Wir wollen sehen, welche Rolle der Pfarrer/die Pfarrerin, die Gemeinde, die Taufeltern und der Taufkandidat/die Taufkandidatin zugeteilt bekommt. Was sich bei den Einzelnen im Kopf abspielt, ist in diesem Zusammenhang uninteressant.127

125 Vgl. Høeg, Ida Marie/Hegstad, Harald/Winsnes, Ole Gunnar, ,Folkekirke 2000‘. En spørreundersøkelse blant medlemmer av Den norske kirke, Rapport fra Stiftelsen Kirkeforskning, Oslo 2000, 3 ff.39–74. Die Internetpräsentation der Untersuchung listet sechs auswertende Artikel, die in den Jahren 2000–2004 entstanden sind. Siehe http://www.kifo.no/forskning/individerstro-og-livssyn/medlemsundersokelsen-folkekirke-2000/ (abgerufen am 14. 10. 2018). 126 Vgl. Lundby, Knut, Troskollektivet – teologiske utfordringer, in: Sandvik, Bjørn (Hg.), Folkekirken – Status og strategier, Presteforeningens studiebibliotek 29, Oslo 1988, 135–148; Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap; Sandvik, Bjørn, Det store nattverdfallet. En undersøkelse av avsperring og tilhørighet i norsk kirkeliv, KIFO Perspektiv 2, Trondheim 1998. Vgl. 5.4. 127 Veiteberg, Kari, Kunsten framføre gudstenester. D p i Den norske kyrkja, Acta Theologica 13, Oslo 2006, 10.

56 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes Berücksichtigt Veiteberg soziokulturelle Aspekte, geht sie auf gesellschaftliche Veränderungen (Pluralismus, Familienbild, Individualisierung) ein, rekurriert sie auf direkte Beobachtungen und macht sie Vorschläge für eine Revision der liturgischen Bücher, so verbleibt sie im Grunde dennoch in ihrem eigenen Gespräch mit der Theorie.128 In ihrer religionssoziologischen Dissertation untersucht Ida Marie Høeg Ritualisierungen zum Lebensanfang. Sie vergleicht die Taufe, das human-ethische Namensfest und Ritualisierungen, die entweder innerhalb anderer (neu-)religiöser Gemeinschaften gefeiert oder von den Eltern gestaltet wurden. Ohne auf alle theoretischen Vorannahmen und Modelle der Begriffe Ritual, Feld und Habitus einzugehen, soll doch Høegs Aufmerksamkeit für das handelnde Subjekt festgehalten werden: Legen wir die Erfahrungen und Reflexionen der Taufeltern […] zugrunde, sehen wir, dass deren Haltungen und deren Praxis nicht davon geprägt sind, dass sie sich eine passive Rolle zuschreiben. […] sie sehen sich selbst als handelnde Subjekte.129

Daher warnt Høeg vor einer Überschätzung des Rituals „als Kommunikationswerkzeug für Menschen- und Weltbild“130, da es eine wirkliche Gefahr ist, dass man den Fehlschluss ziehen kann, dass das, was im Ritual gesagt wird, gleichzeitig das ist, was von den Teilnehmenden gemeint und geglaubt wird.131

Merete Thomassens Dissertation aus dem Jahre 2007 nimmt deutlich feministisch-theologische Anliegen auf und untersucht Gottesdienste, die während der Ökumenischen Dekade – Kirchen in Solidarität mit den Frauen (1988–1998) gefeiert wurden. Thomassen konzentriert sich auf den Aspekt der Sprache. Der Fokus liegt auf einem Werkheft zum 8. März 1996. Dies wurde von einer Gruppe Frauen, auf Initiative der Generalsynode, vorbereitet. Nach zum Teil heftiger Kritik, auch von bischöflicher Seite, wurde das Heft schließlich vom Kirchenrat zum Gebrauch in den Gemeinden genehmigt. Im Weiteren analysiert sie sieben Gottesdienste, die Predigten eingeschlossen.132 Thomassen problematisiert die Frage nach dem Entstehungskontext und ihre Mitarbeit an einigen der untersuchten Liturgien. Sie inkludiert daher kürzere, erklärende Narrative in ihre Arbeit, hält aber einleitend fest, dass die notwendige Betonung des Kontextes „gleichwohl nicht untergräbt […], dass der 128 Vgl. Veiteberg, Kunsten framføre gudstenester, 90 ff.99–107.120–151.215 f. 129 Høeg, Ida Marie, „Velkommen til oss“. Ritualisering av livets begynnelse, Dissertation, Universität Bergen, 2008, https://bora.uib.no/handle/1956/3516 (abgerufen am 6. 4. 2017), 350. 130 Høeg, Velkommen til oss, 366. 131 Høeg, Velkommen til oss, 366. 132 Vgl. Thomassen, Merete, Kjønnsinkluderende liturgisk spr k. En analyse av norske gudstjenester under Det økumeniske ti ret 1988–1998, Acta Theologica 25, Oslo 2008, 9.21 f.26.

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liturgische Text allein wichtige Informationen über Geschlecht und Theologie geben kann“133. Zusammen mit dem Philologen Sylfest Lomheim verfolgt sie diese textinteressierten Annäherungen weiter. Besonderes Augenmerk richten die beiden auf die Entwicklung der Gebetssprache im Rahmen der damals noch in der Planung begriffenen Reform des gottesdienstlichen Lebens. Ausgehend von den Vorentwürfen des Jahres 2008 kommentieren sie diese Entwicklungen und nennen als Zielsetzung die Erarbeitung genereller theologischer und sprachlicher Richtlinien zur Formulierung von Fürbittengebeten.134 Sie beobachten in den zur Anhörung gegeben Gebeten, dass diese wortreich sind, auf Gefühle und auf die eigene Verantwortung in der Welt abheben, dass sie oftmals grammatikalisch falsch und sprachlich von schlechter Qualität sind. Die theologische Konsequenz ist, dass Gott ,kleingemacht‘ wird.135 Die Frage nach der betenden Person wird indirekt, aus der Perspektive der für das Gebet Verantwortlichen, bearbeitet: Untersucht man Gebete, kann es nützlich sein, zu versuchen sich vorzustellen, wer betet. […] Das bedeutet aber nicht notwendigerweise, dass wir uns eine einzelne Person oder Versammlungen in konkreten Gemeinden vorstellen müssen, sondern mehr, zu versuchen zu fassen, was die gedachte Gemeinde kennzeichnet, die sich in den Gebeten äußert.136

Versuche, Gebete zu schreiben, die Ausdruck für etwas Eigenes geben, geraten bei Thomassen unter den Verdacht einer Ethik der Authentizität (Charles Taylor) und unter den Verdacht des Versuchs einer Selbstrealisierung, die von der grundlegenden theologischen Idee der Rechtfertigung (hier mit Inge Lønning als Gewährsmann) absieht.137 Die Denkrichtung von denen, die den Gottesdienst verantwortlich vorbereiten und gestalten, auf eine imaginierte Gemeinde hin, findet sich ebenfalls bei Gunnfrid Ljones Øierud. Øierud bedient sich der Figur des ,Modell-Lesers‘ (Umberto Eco): Der Gedanke ist: wenn im Gottesdienst ein/eine Modell-Teilnehmer/Modell-Teilnehmerin, eine Teilnehmerrolle, der ich mich nähern kann, geschaffen wird, dann ,passt‘ der Gottesdienst für mich.138 133 Thomassen, Kjønnsinkluderende liturgisk spr k, 90. Vgl. Thomassen, Kjønnsinkluderende liturgisk spr k, 90 f.95–106. 134 Vgl. Thomassen, Merete/Lomheim, Sylfest, N r dere ber. Om liturgisk spr k og utforming av bønner til gudstjenesten, Oslo 2013, 9. 135 Vgl. Thomassen/Lomheim, N r dere ber, 16.23–28.108. 136 Thomassen/Lomheim, N r dere ber, 118 f. 137 Vgl. Thomassen/Lomheim, N r dere ber, 120 f.130. 138 Øierud, Gunnfrid Ljones, Inkluderende gudstjenestekommunikasjon, in: Hellemo, Geir (Hg.), Gudstjeneste p ny, Oslo 2014, 180–194, 181.

58 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes Präzisierend führt sie aus: Eine Modellteilnahme ist eine gestaltete Teilnahme, aber faktische, physische Gottesdienstteilnehmer/Gottesdienstteilnehmerinnen müssen nicht auf eine solche Weise teilnehmen. […] Modellteilnehmer/Modellteilnehmerinnen sagen also weder etwas darüber aus, was intendiert ist, noch darüber, was physische Teilnehmer/ Teilnehmerinnen notwendigerweise erleben […].139

Sie macht darauf aufmerksam, dass es nicht an einer verantwortlichen Person allein liegt, welche Teilnehmerrollen geschaffen werden, Worte, Handlungen, alle Objekte im Raum […], nicht zuletzt die Anwesenden und wie die Gemeinde als Ganzes handelt […] – all dies beeinflusst, welche Modellteilnehmer/Modellteilnehmerinnen geschaffen werden […]. Aber, das, was nun im Gottesdienst Raum gegeben bekommt, und wie die verschiedenen Teile von denen, die den Gottesdienst leiten, ausgeführt werden, ist trotzdem besonders wichtig.140

Es ist zuerst das Forschungsprojekt Liturgie in Bewegung, das quantitative und qualitative empirische Forschung zur Rezeption der Reform des gottesdienstlichen Lebens von 2011 präsentiert. Eine interdisziplinär zusammengesetzte Forschungsgruppe hat die lokalen Gottesdienstordnungen von 394 Gemeinden in vier Bistümern untersucht und hat 16 lokale Gottesdienstausschüsse interviewt.141 Aus meiner Sicht bleibt auffällig, dass es in den leitenden Forschungsfragen weniger um das Erleben von konkreten Gottesdiensten geht. Vielmehr wird nach dem Gestalten und Erleben des Reformprozesses in den Gemeinden gefragt, wenngleich zu vermerken ist, dass Forscherinnen und Forscher einzelne Gottesdienste besucht und Logbücher geführt haben.142 139 Øierud, Inkluderende gudstjenestekommunikasjon, 182 f. 140 Øierud, Inkluderende gudstjenestekommunikasjon, 193. 141 Vgl. Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson, Innledning. Gudstjenestefornyelse i menighetene, in: Balsnes, Anne Haugland/ Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 13–23, 14.18–21. Lediglich im Vorwort wird erwähnt, dass vier, an zentraler Stelle in die Reform des gottesdienstlichen Lebens eingebundene, Personen – Hans Arne Akerø, ge Haavik, Veiteberg und Finn Wagle – als „sidekicks“ zum Entstehen des Bandes beigetragen haben. Kürzere Interviewausschnitte werden in folgendem Text zitiert: Christoffersen, Jan Terje/Hem, Hans Einar, Gudstjenestereformen – tilfeldighetenes spill?, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 46–66. Das quantitative Material wurde in einem eigenen Rapport vorgestellt. Vgl. Botvar, P l Ketil/Mosdøl, Hallvard Olavson, Noe falt i god jord. Den norske kirkes gudstjenestereform sett fra menighetsniv , KIFO Rapport 2014:2, Oslo 2014. Diese beiden Publikationen wurden im Auftrag des Kirchenrates erarbeitet und als eine erste Evaluation der Reform verstanden. Vgl. „Status der Gottesdienstreform“, Aktenzeichen KR 32/13. 142 Vgl. Balsnes/Christensen/Christoffersen/Mosdøl, Innledning, 18.20. Die Forschungsfragen lauten, in Auswahl: Welche liturgischen Alternativen wurden von den Gemeinden für ihre lokale Gottesdienstordnung gewählt? Wie ist die Implementierung der Reform lokal vor sich

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Weiter ist bemerkenswert, dass von insgesamt 15 Beiträgen lediglich drei als „Case“ bezeichnet werden. Diese drei Beiträge beschäftigen sich mit der Reform des gottesdienstlichen Lebens vom übergeordneten Gesichtspunkt des zentralen Begriffs der Involvierung her, einer der Beiträge greift dabei auf Gottesdienstbeobachtungen zurück.143 In der Summe: Das empirische Material dient zuvorderst als Illustration und als Bestätigung für die Auswahl der untersuchten Gemeinden. Oftmals wirkt es, dass dem quantitativen Material mehr Raum und mehr Tragfähigkeit eingeräumt wird.144 Im Projekt Gottesdienste mit Konfirmandinnen und Konfirmanden wurden drei Gottesdienste in drei verschiedenen Gemeinden besucht. Diese Gemeinden konnten in der großen europäischen Studie zur Konfirmation besondere Zufriedenheit ihrer Konfirmationsgruppen verzeichnen. Gleichzeitig wurden die Gemeinden als distinkt und gut unterscheidbar aufgefasst.145 Elisabeth Tveito Johnsen leitete die fünfköpfige Forschungsgruppe, die gemeinsam diese Gottesdienste besuchte. Die Gottesdienste wurden mit zwei Videokameras und einem Tonband aufgezeichnet, weiter saßen zwei Forscherinnen an verschiedenen Stellen im Kirchenraum und beobachteten das Geschehen. Zusätzlich wurden verschiedene Interviews mit einigen der involvierten Personen, sowohl Pastorinnen und Pastoren als auch Konfirmanden und Konfirmandinnen, geführt.146

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gegangen? Wie beschreiben Pfarrer/Pfarrerinnen, Kantorinnen/Kantoren und zentrale Ehrenamtliche in der Gemeinde ihre Rolle im Prozess und wie werden die neuen Ordnungen bislang beurteilt? Vgl. Balsnes/Christensen/Christoffersen/Mosdøl, Innledning, 17. Die drei Beiträge sind: Mosdøl, Hallvard Olavson, Strategier for involvering i gudstjenesten. En casestudie av to menigheter, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 155–172; Balsnes, Anne Haugland/Henriksen, Jan-Olav, ,Mykere‘ forst else av synd? Om nye syndsbekjennelser i Den norske kirke, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/ Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 173–189; Balsnes, Anne Haugland, Musikk for menigmann? Liturgisk musikk i spenningen mellom folkekirke og trosfellesskap, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 190–209. Vgl. 6.3. Vgl. Tveito Johnsen, Elisabeth, Fem versjoner av samme virkelighet, in: Tveito Johnsen, Elisabeth (Hg.), Gudstjenester med konfirmanter. En praktisk-teologisk dybdestudie med teoretisk bredde, Prismet bok 12, Oslo 2017, 18–24, 18–21; Schweitzer, Friedrich/Ilg, Wolfgang/ Simojoki, Henrik (Hg.), Confirmation Work in Europe. Empirical Results, Experiences and Challenges. A Comparative Study in Seven Countries, Konfirmandenarbeit erforschen und gestalten 4, Gütersloh 2010. Vgl. Tveito Johnsen, Elisabeth, Feltbesøk i tre menigheter, in: Tveito Johnsen, Elisabeth (Hg.), Gudstjenester med konfirmanter. En praktisk-teologisk dybdestudie med teoretisk bredde, Prismet bok 12, Oslo 2017, 26–38, 26–29. Leitend für das Projekt waren zwei Fragen: „Hat die Ausformung der Gottesdienste eine Bedeutung dafür, wie die Konfirmanden/Konfirmandin-

60 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes Die fünf Forscher und Forscherinnen, so die Idee, nähern sich dem gleichen empirischen Material. In theoretischer Vielstimmigkeit wird dies gemeinsam, jedoch aus unterschiedlichen Richtungen analysiert, immer im Wechsel zwischen Empirie und Theorie, hier als Abduktion charakterisiert.147 Es geht an dieser Stelle nicht darum, die einzelnen Beiträge zu würdigen, jedoch ist festzuhalten, dass das Projekt sich explizit empirisch mit dem Gottesdienst und der Gottesdienstfeier beschäftigt. Den drei abschließenden Aufforderungen Tveito Johnsens ist beizupflichten: Erstens wollen wir zu mehr empirisch fundierter praktisch-theologischer Forschung auffordern. […] Zweitens wollen wir dazu auffordern, den Alltag als interessant anzusehen. […] Drittens wollen wir dazu auffordern, Forschung als einen Beitrag dazu zu sehen, dass die Tür für mehrere, verschiedene Idealbilder von guten Gottesdiensten in der Konfirmationszeit geöffnet wird.148

Gerade aber auf dem Hintergrund der ersten beiden Aufforderungen und der eigenen Studie ist es verwunderlich, dass der Ort vollständig außen vor gelassen wird: Wir haben die Gemeinden in unserer Auswahl als Alpha, Beta und Gamma bezeichnet. Diese Bezeichnung sagt nichts über die Geografie oder kirchliche Demografie aus. Die Gottesdienste jeder Gemeinde hätten an einer Vielzahl anderer Orte im Land stattfinden können. Hätten wir den Gemeinden demografische Namen gegeben, hätte dies dazu geführt, die analytische Relevanz unserer Ergebnisse zu schwächen.149

Das eigene Forschungsinteresse, der Ausgangspunkt in der Studie Michael H. Duceys und die folgenden Analysen legen nahe, dass eine Beschäftigung mit dem Alltag vor Ort die Relevanz des Projekts vielmehr unterstrichen hätte. Festzuhalten bleibt, dass in der norwegischen Liturgiewissenschaft ein Interesse für die Position der involvierten Subjekte herangewachsen ist, vielleicht zunächst eher indirekt. Die Kombination von quantitativen und qualitativen Methoden im Forschungsprojekt Liturgie in Bewegung und das nen die Gottesdienste, bei denen sie zugegen sind, erleben? Gibt es Zusammenhänge zwischen dem Wie der Vorbereitung der Konfirmandinnen/Konfirmanden, ihrer Teilnahme und ihrem Erleben der Gottesdienste?“ In Tveito Johnsen, Elisabeth, Vanlig og usedvanlig, in: Tveito Johnsen, Elisabeth (Hg.), Gudstjenester med konfirmanter. En praktisk-teologisk dybdestudie med teoretisk bredde, Prismet bok 12, Oslo 2017, 6–15, 8. 147 Vgl. Tveito Johnsen, Fem versjoner av samme virkelighet, 22 f. 148 Tveito Johnsen, Elisabeth, Sammenhenger mellom utforming og opplevelse, in: Tveito Johnsen, Elisabeth (Hg.), Gudstjenester med konfirmanter. En praktisk-teologisk dybdestudie med teoretisk bredde, Prismet bok 12, Oslo 2017, 232–240, 240. 149 Tveito Johnsen, Fem versjoner av samme virkelighet, 20. In den Leitfäden für die Interviews wird nach der Bedeutung des Ortes nicht gefragt. Vgl. Tveito Johnsen, Gudstjenester med konfirmanter, 242 ff.

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Entdecken neuer Forschungszusammenhänge im Projekt Gottesdienste mit Konfirmandinnen und Konfirmanden weisen darauf hin, dass das Feld in Bewegung ist. Will der weitere Ausbau des Feldes gelingen, so ist – in Verlängerung der Aufforderungen Tveito Johnsens – Peter Cornehls These, die, neben anderen, seine Annäherung an die Chancen und Grenzen qualitativer-empirischer Studien abschließt, zu bedenken: Die enge Verbindung zwischen dem gottesdienstlichen Erleben und den sozialen Kontexten, in die es eingebunden ist, sowie den konkreten Anlässen und Themen, aus denen sich ihr theologischer Sinn speist, sollte bei der Anlage und Auswertung der Gespräche ebenfalls stärker zur Geltung kommen. […] Es empfiehlt sich in jedem Fall für praktisch-theologische Untersuchungen, exemplarisch vorzugehen und nicht zu schnell in Abstraktion und Verallgemeinerung auszuweichen. Die Ergiebigkeit liturgischer Analysen und des Austauschs über sie steigt mit der Konkretion.150

Dies gilt es weiter anzugehen. Es sind die Bedeutung des Ortes, der Praxis am Ort, der pluralen gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Bedingungen und die Rolle der involvierten Subjekte weiter stark zu machen und, auch im Kontrast zu den genannten Studien, weiter zu profilieren.

3.1.3.3 Impulse zur Weiterarbeit Michael H. Ducey steht Pate für das Beobachten des Zusammenhangs von Veränderungen im Gottesdienst und Veränderungen in dessen Kontext, für das genaue Wahrnehmen des Gottesdienstes und seiner involvierten Subjekte am Ort; eines Gottesdienstes, der als ritualmäßig Ganzes aufgefasst wird.151 Auf dem Hintergrund von Duceys Studie und der gerade vorgenommenen Analysen sollen nun Impulse für die Weiterarbeit und Fortentwicklung der eigenen Studie benannt werden. Dabei sind die Bedeutung und die Rolle des Ortes, die Folgen des Religionsund Kulturwandels, des aufkommenden Pluralismus und der beginnenden Ausdifferenzierung sowie der Begriff der Krise und dessen erste Bearbeitungen in der Meinungsbefragung „Kirchenmitgliedschaft“, bei Rainer Volp, Werner Jetter und Ernst Lange, durchaus in Komplementarität zu Ducey, in Erinnerung zu rufen.152 Ein erster Impuls betrifft die Rolle der involvierten Subjekte. Ohne so unterschiedliche Studien und Annäherungen wie die Merete Thomassens und 150 Cornehl, Peter, Den Gottesdienst erleben – zu Chancen und Grenzen qualitativ-empirischer Studien. Eine Annäherung in fünf Schritten, in: PTh 104 (2015), 285–306, 305. 151 Vgl. Ducey, Michael H., Sunday Morning. Aspects of Urban Ritual, New York 1977, 84 f. 152 Vgl. 3.1.2.3.

62 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes Gunnfrid Ljones Øieruds, wie die des Projekts Liturgie in Bewegung, summierend behandeln zu wollen, scheint es doch wichtig, die indirekte Rolle, die den involvierten Subjekten zugeschrieben wird, aufzubrechen. Es gilt – wie etwa bei Ute Grümbel, Uta Pohl-Patalong und Achim Knecht – offener und weiter nach dem Erleben zu fragen, um damit von der Seite der Verantwortlichen, vom Wunsch der Optimierung – und damit auch: von der Praktischen Theologie als planbarer Handlungswissenschaft – wegzukommen, hin zur Wahrnehmung des ganzen Gottesdienstes.153 Gleichwohl Andrea Bielers ,Gottesdienst interkulturell‘ nicht streng empirisch ausgerichtet ist, so liefert der Band mehrere wertvolle Impulse. Agiert Bieler auf der Seite der Verantwortlichen, bleibt sie stärker homiletisch orientiert, bemüht sie sich um eine Offenheit für die involvierten Subjekte, in ihrem Kontext, an ihrem Ort. Diese Offenheit verbindet sie mit einer Offenheit für vielfältige, plurale Kontexte, die diese Subjekte mit an den Ort heranbringen. Sie kann dies theoretisch an den Begriff des ,Zwischenraums‘ (Homi K. Bhabha) rückbinden. Es gelingt ihr, eine Fokussierung auf die Andere zu postulieren, zu zeigen, dass das Eigene nicht automatisch in Selbstrealisierung münden muss. Bieler adressiert, als Einzige, das Phänomen der Interkulturalität, und betont, dass es sich dabei eben nicht um Schönfärberei, sondern um harte Arbeit, die den Konflikt in sich bergen kann, handelt; dies ist für die vorliegende Studie unhintergehbar.154 Mit dem Ort ist ein für die vorliegende Studie entscheidender Begriff genannt. Ortseigenheit/Ver-Ortung ist einer der drei zentralen methodischen Begriffe der Reform des gottesdienstlichen Lebens, dieser Begriff steht im Fokus der eigenen Fragestellung. – Doch der Begriff wird in der norwegischen Liturgiewissenschaft kaum behandelt. Hallvard Olavson Mosdøl schreibt: In mehreren Interviews wird Ambivalenz und Frustration den anderen zentralen Begriffen der Reform gegenüber ausgedrückt: Ver-Ortung und Flexibilität. Wenn es um Involvierung geht, ist dabei der Grundtenor weit aus positiver.155

Diese Bemerkung macht doch eher neugierig, als dass sie eine Nichtbearbeitung rechtfertigt. Stig Lægdene rezensiert den Band Gottesdienst neu, dem Øieruds Text entstammt, und er markiert, dass er etwas vermisst:

153 Vgl. 3.1.3.1; 3.1.3.2. 154 Vgl. Bieler, Andrea, Gottesdienst interkulturell. Predigen und Gottesdienst feiern im Zwischenraum, Christentum heute 9, Stuttgart 2008, 11 f.15 ff.19.188 f. 155 Mosdøl, Hallvard Olavson, Strategier for involvering i gudstjenesten. En casestudie av to menigheter, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 155–172, 155.

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Wie sollen prekäre gesellschaftliche Fragen im Gottesdienst beantwortet werden? Wie Gesellschaft und Gottesdienst gegenseitig aufeinander einwirken, ist nicht Thema, obwohl Ver-Ortung eines der Schlüsselworte der Gottesdienstreform war.156

Diese Kritik trifft auf gleiche Weise Elisabeth Tveito Johnsens Band.157 Die Trias der Wahrnehmung der Subjekte, der Wahrnehmung des Ortes und der Bedeutung des Zwischenraumes ruft das eingangs formulierte methodische Interesse in Erinnerung. Sie ist so, mit Duceys Studie als gewichtige Referenz, Motivation, in den folgenden liturgiewissenschaftlichen Überlegungen und Analysen den Konstruktcharakter der von ihnen entworfenen Wahrnehmungen in Rechnung zu stellen. Es wird dabei nicht in Anspruch genommen, die Wirklichkeit so abzubilden, ,wie sie wirklich ist‘, sondern es wird damit gerechnet, dass es sich um produktive Beschreibungen handelt, die Subjekt, Wirklichkeit und Tradition immer schon miteinander zu vermitteln suchen.158

Eine Wahrnehmung der Menschen, ihrer Praxis, ihrer Verhandlungen und Konstruktionen vor Ort und in praxi, zwingt regelrecht dazu, größere thematische Kreise zu schlagen. Dies soll im folgenden vierten Teil geschehen. In diesem Sinne bleibt Michael Meyer-Blancks These die Aufgabe, vor die sich die vorliegende Studie gestellt sieht: Das empirische Umfeld des Gottesdienstes ist künftig liturgiewissenschaftlich, aber auch in der konkreten Praxis der Gemeinden und Kirchen bei der liturgischen Arbeit stärker zu berücksichtigen.159

3.2 Theorien des Ortes und des Raumes Die Tür zu einer ersten Bearbeitung des Feldes der vorliegenden Studie, wiederum vorläufig bestimmt als ,Kirche im Groruddal‘ oder als ,lebensweltnahe Rezeption der Reform des gottesdienstlichen Lebens im Groruddal‘, wurde durch eine Beschäftigung mit einer empirisch orientierten Liturgiewissenschaft aufgeschlagen. Mit der dort deutlichen Akzentuierung von Größen und Zusammenhängen 156 Lægdene, Stig, Bokmelding: Geir Hellemo (red.), Gudstjeneste p ny, Oslo: Universitetsforlaget 2014, in: Teologisk Tidsskrift 4 (2015), 322–325, 325. 157 Vgl. Tveito Johnsen, Elisabeth (Hg.), Gudstjenester med konfirmanter. En praktisk-teologisk dybdestudie med teoretisk bredde, Prismet bok 12, Oslo 2017. 158 Meyer-Blanck, Michael, Liturgik – quo vadis? Zu den künftigen Perspektiven der evangelischen Liturgiewissenschaft, in: JLH 50 (2011), 41–51, 48. 159 Meyer-Blanck, Michael, Liturgie und Liturgik. Der Evangelische Gottesdienst aus Quellentexten erklärt, Theologische Bücherei 97, Gütersloh 2001, 274.

64 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes wie Gottesdienst im Alltag und Gottesdienst vor/am Ort ist nun gefordert, die Wahrnehmung des Ortes durch die involvierten Subjekte zu sichern. Schon mit der Eröffnung der Studie wurden Kirche und Gottesdienst als soziale und sozialökologische Räume gefasst. Wie aber ist das Verhältnis von Kirche und Gottesdienst und von den in ihnen handelnden Subjekten zu dem je eigenen Ort und zu den alltäglichen, auch als krisenhaft erlebten, Orten (im Groruddal) zu beschreiben? Wie können sowohl Wahrnehmung als auch, darüber hinaus, die Konstitution des Ortes – und der (zugehörigen) Räume – adäquat und im Sinne der Voraussetzungen und der methodologischen Einrichtung der eigenen Studie dargestellt werden? Will die weitere theoretische sowie explizit empirische Arbeit produktiv weitergeführt werden, so sind Theorien des Ortes und des Raumes zu sichten und einzuordnen. In einem ersten Schritt soll eine kurze forschungsgeschichtliche Einordnung auf die vorliegende Studie hin vorgenommen werden. Diese mündet im zweiten Schritt in die Beobachtung, dass die Rezeption von Theorien des Ortes und des Raumes in Überlegungen zum Groruddal kein Novum darstellt, dass aber diese theoretische Arbeit des Ausbaus und der Präzisierung bedarf, will das Potenzial dieser Annäherungen weiter ausgeschöpft werden. Im folgenden dritten Schritt wird daher eine konkrete theoretische Verankerung für die eigenen Arbeits- und Analyseschritte analysiert und expliziert. Kurze Impulse beschließen das Kapitel. 3.2.1 Forschungsgeschichtliche Einordnung In der Eröffnung der Studie und in der Einleitung zu diesem Kapitel werden implizit, durch die Annahme, dass Kirche und Gottesdienst soziale Räume sind, grundlegende Einsichten eines, seit den 90er Jahren erneuerten, theoretischen Interesses am Raum vorausgesetzt. Diese Wendung hin zu Theorien des Ortes und des Raumes wird gemeinhin als spatial turn bezeichnet. Die von dort übernommenen, grundlegenden Einsichten sollen kurz benannt werden: The basic notion of these theories is that space is constructed by social interactions and interrelations. Space is not an empty vessel, but is instead made from processes and practices between human beings, but also by the physical world […]. Naturally, this has consequences for how we see the world and analyze data. […] A place represents a distinctive type of space that is constructed through acts of naming, by activities and imaginings within a wider social space […].160 160 Brömssen, Kerstin von, Socio-spatial theories – a short introduction, in: Rothgangel, Martin/ Brömssen, Kerstin von/Heimbrock, Hans-Günter/Skeie, Geir (Hg.), Location, Space and Place

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Sind Orte und Räume von Handlungen der involvierten Subjekte abhängig, werden diese Handlungen wahrgenommen und beobachtet, gehört bedacht: „These interactions are not neutral, but are imbued with power relations that are contested and worked out in its relational space […].“161 In entsprechender Umkehrung gilt: Socio-spatial theories not only try to answer questions on why and how, but also where and how this where (that is, the place and space) constructs everyday activities, representations, and social life as a whole.162

In diesen Zitaten wird nicht nur die Konstruktivität von Raum unterstrichen. Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass diese Konstruktivität Konsequenzen für die Art der Analyse von empirischen Daten hat und Offenheit für die Phänomene des Alltags voraussetzt. Dies wird im Laufe der Studie immer virulent bleiben.163 An dieser Stelle kann nicht auf die Gesamtheit der vielschichtigen Genese und der verzweigten Diskussionsstränge des spatial turn eingegangen werden, dazu sind die Konzepte dieser Wende und die dazugehörige Literatur viel zu diffizil und weitläufig. Mit Jörg Döring und Tristan Thielmann ist an den ersten Gebrauch des Begriffs durch Edward W. Soja 1989 zu erinnern, an die von Soja geforderte Aktualisierung der Ideen und Konzepte Henri Lefebvres.164 Die beiden verweisen ebenso auf Arbeiten Fredric Jamesons sowie auf einen älteren Gedanken von Michel Foucault von 1967, aus dessen Vortrag „Von anderen Räumen“, konstatieren aber, dass „paradigmatisches Gewicht […] dem Begriff erst 1996 zugesprochen“165 wird, wiederum durch Soja. Insgesamt wird zu konstatieren sein: Mit dem Begriff verbindet sich ein Interesse, dem Raum und der Konstitution von Raum deutliche Beachtung zu schenken.166 Die folgende Entwicklung wird von Daria Pezzoli-Olgiati so festgehalten:

161 162 163 164 165 166

in Religious Education, Religious Diversity and Education in Europe 34, Münster-New York 2017, 15–19, 15. Brömssen, Socio-spatial theories – a short introduction, 15. Brömssen, Socio-spatial theories – a short introduction, 15. Vgl. 7.2.2.3. Vgl. Döring, Jörg/Thielmann, Tristan, Einleitung: Was lesen wir im Raum? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen, in: Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 22009, 7–45, 7. Döring/Thielmann, Einleitung: Was lesen wir im Raum?, 9. Das bekannte Zitat von Foucault wird hier so wiedergegeben: „Die große Obsession des 19. Jahrhunderts war bekanntlich die Geschichte […] Unsere Zeit ließe sich dagegen eher als das Zeitalter des Raumes begreifen.“ Vgl. Döring/Thielman, Einleitung: Was lesen wir im Raum?, 9; Pezzoli-Olgiati, Daria, Difference and Contested Public Places. Spatial Representations of Religion in Contemporary Society, in: Wyller, Trygve/Pezzoli-Olgiati, Daria/Knauss, Stefanie/Heimbrock, Hans-Günter/

66 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes A broad range of approaches to and studies of space have been fostered and produced within the humanities and social sciences, encouraging us to return to the deep pool of space concepts within the histories of philosophy and culture.167

Damit ist ausgeschlossen, dass es den einen spatial turn geben kann, „kaum noch eine Disziplin, die nicht entweder ihren spatial turn eingeläutet hat, den in anderen Fächern ausgerufenen kommentiert oder sich zu ihm positioniert“168 hat. Das ist meines Erachtens keineswegs zu bedauern. Döring und Thielmann schreiben, dass es trotz der vielfach vollmundigen Paradigmenbehauptung sich als schwer erweist, einen common ground dafür auszumachen, was die vielen einzelwissenschaftlichen Begründungen für einen spatial turn gemein haben. Der vorliegende Band versucht, diese Lücke zu schließen – auch auf die Gefahr hin, es könnte sich herausstellen, dass es den einen spatial turn nicht gibt, sondern viele verschiedene.169

Die von Döring und Thielmann beschriebene Gefahr erscheint mir vielmehr eine folgerichtige – und wichtige – Weiterführung der grundlegenden methodologischen Einrichtung der eigenen Studie. Döring und Thielmann unterscheiden den spatial turn als Agenda und als Label. Soll aber der Begriff eben nicht einfach ein Label sein, sondern eine Agenda bezeichnen, einen Forschungsstil, ist dessen Ausdifferenzierung der Sache nach angemessen. Zielpunkt der Agenda muss es sein, den Konstitution(sbedingung)en von Orten und Räumen und den involvierten Subjekten Aufmerksamkeit und Bedeutung zukommen zu lassen. Diese Agenda muss den Forschungsstil pragmatisch und methodologisch anleiten und auf diese Weise die je eigenen Begrifflichkeiten und Aussagerichtungen eines spatial turn – auf Feld und Fall hin – formen.170 In den Religionswissenschaften und einer kulturell offenen Theologie sind die Einsichten des spatial turn vermehrt aufgenommen und weiter entfaltet worden.171 In ihrer vielfach aufgegriffenen Überlegung unterscheidet Kim Knott, mit und ausgehend von Lily Kong, zwei konzeptuelle Richtungen. Verfolgt eine Linie religionswissenschaftlicher Forschung Spuren einer (religions-)phänomenologischen Tradition, entwickelt eine zweite Linie die Einsichten französischsprachiger Theoretiker weiter. Wird auf der ersten Linie gerade der

167 168 169 170 171

Sander, Hans-Joachim/Danani, Carla (Hg.), Religion and Difference. Contested Contemporary Issues, RCR 28, Göttingen 2019, 15–44, 18 f. Pezzoli-Olgiati, Difference and Contested Public Places, 19. Döring/Thielman, Einleitung: Was lesen wir im Raum?, 10. Döring/Thielman, Einleitung: Was lesen wir im Raum?, 11. Vgl. Döring/Thielman, Einleitung: Was lesen wir im Raum?, 12 f. Vgl. Pezzoli-Olgiati, Difference and Contested Public Places, 19; Brömssen, Socio-spatial theories – a short introduction, 17.

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,heilige Ort‘ bearbeitet und als ontologische Qualität (Rudolf Otto, Mircea Eliade) hervorgehoben, werden im Gefolge der zweiten Linie Stichworte wie Produktion, Repräsentation, Macht, Wissen und Relation (Foucault, Lefebvre, Michel de Certeau) zu leitenden theoretischen Begriffen. Beide Traditionslinien teilen aber zum einen die Beobachtung, dass Leben und Erfahrung – über den eigenen Körper – an einen (bekannten) Ort gebunden sind (Edward S. Casey). Zum anderen wird die Einsicht geteilt, dass ein, weil als begrenzend aufgefasst, kartesisches Raumverständnis zu überwinden ist.172 Ferner ist zu bemerken, dass die Terminologie der Begriffe „space“ und „place“ keineswegs eindeutig und einheitlich ist. Die Begriffe werden zum Teil beinahe synonym verwendet und auf verschiedene Weisen einander zugeordnet.173 Beschreibt Knott, dass gerade die letztgenannte Traditionslinie ,Religion‘ oft unter historisierenden Vorzeichen aufgenommen und weitergeführt hat, entspricht ihre aktualisierende Schlussfolgerung den Interessen und der methodologischen Einrichtung meiner Studie: Despite this dismissal, the attention paid by this group to issues of power, development, capital, urban studies, identity, and difference informed the current generation of younger scholars working on the politics of place and space for whom religion is very decidedly on the agenda.174

Religion, die religiösen Subjekte, bei Knott wie im Groruddal, finden sich unweigerlich im „fabric of the secular“175 wieder. Von Knott und ihren Forschungsbemühungen her gilt es, eine Sicht zu stärken, die ermöglicht, Religion and their practical, discursive, and material entailments as co–constructed by religious actors in engagement with their traditions, social relations, and historical, geographical, and political contexts, and as amenable to spatial interrogation176

zu sehen. Knott hat entlang dieser Linien gearbeitet und geforscht, gerade mit Hintergrund im eigenen Forschungsinteresse am Ort, an der Ortseigenheit/VerOrtung, weckt, schon auf semantischer Ebene, vielmehr aber von der Stoß-

172 Vgl. Knott, Kim, Religion, Space, and Place. The Spatial Turn in Research on Religion, in: Religion and Society: Advances in Research (2010), 29–43, 29–33; Pezzoli-Olgiati, Difference and Contested Public Places, 21 f. 173 Vgl. Knott, Religion, Space, and Place, 30, Fußnote 3; Brömssen, Socio-spatial theories – a short introduction, 15. 174 Knott, Religion, Space, and Place, 33. 175 Knott, Religion, Space, and Place, 35. 176 Knott, Religion, Space, and Place, 35.

68 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes richtung ihrer Denkbemühungen her, folgende Behauptung Knotts großes Interesse: „‘Location’ is the key word here.“177 Es ist die folgende Fokusverschiebung, die dazu motiviert Knotts Arbeit genauer zu ergründen: Whilst it was self-evident that religion resided in its places of worship and organisations, in new movements and, arguably, in various ‘spiritual’ beliefs and practices, it was not clear to what extent religion inhered in other, ostensibly secular, places.178

Knott untersucht, wie es gelingen kann, „a theory and method of analysing both places and the socio-spatial process of location“179 zu entwerfen, und dabei Religion eben nicht zuvorderst an ,heiligen Orten‘ zu suchen und zu finden.180 Inspiration erfährt Knott von Theorien des Ortes und des Raumes, die sie mit den Namen Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty, Yi-Fu Tuan, Casey, Christopher Tilley, Gillian Rose, Judy Tobler und Doreen Massey verbindet. Von der letztgenannten übernimmt sie eine Fokusverschiebung von place to space, den sie als „complex, dynamic and relational“181 annimmt. Ihre theoretische Arbeit lässt Knott fünf Elemente benennen, die auf das „problem of locating religion“182 appliziert werden können. Zum Ersten ist an die „foundational role of the body for our experience and representation of space“183 zu erinnern. Zum Zweiten ist dieser Raum, mit Lefebvre, als einheitlicher Raum zu verstehen, in dem der physische, mentale und soziale Raum zusammengedacht sind. Auf diese Weise gelingt es, Religion in die räumlichen Relationen einzubeziehen. Religion, als soziale Größe, schafft Raum und trägt ihren Teil zu Definitionen und Konstruktionen von Räumen bei. Damit ist Raum, drittens, eben nicht leerer Containerraum, sondern wird, angeleitet durch die angesprochene Sozialität und durch Fragen nach Aufbau, Gleichzeitigkeit, Ausdehnung und Macht, als immer offener und zu formender Raum verstanden. Die Offenheit des Raumes gilt es dann sowohl 177 Knott, Kim, Spatial Theory and Method for the Study of Religion, in: Temenos 41 (2005), 153–184, 153. 178 Knott, Spatial Theory and Method, 153. 179 Knott, Spatial Theory and Method, 154. 180 Vgl. Knott, Spatial Theory and Method, 154. Als weitere Forderung nennt Knott eine Konzeptualisierung des Religionsbegriffs, geht aber darauf nicht weiter ein. In der eigenen Studie wird keinesfalls eine solche Konzeptualisierung angegangen, es soll an dieser Stelle gleichwohl an den, durch Offenheit charakterisierten, Begriff der Gelebten Religion erinnert werden. Vgl. 7.2.1. 181 Knott, Spatial Theory and Method, 156. Vgl. Knott, Spatial Theory and Method, 155 f. An dieser Stelle schimmert wieder eine offene, nicht einheitliche Begrifflichkeit durch. Knott unterscheidet „space“ als Konzept und als Phänomen. Vgl. Knott, Spatial Theory and Method, 156, Fußnote 7. 182 Knott, Spatial Theory and Method, 156. 183 Knott, Spatial Theory and Method, 156.

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synchron als auch diachron zu begreifen. Eine Analyse des Raumes gibt verschiedene Schichten zu erkennen, die sich überlagern, sich gegenseitig ausradieren, die sich ergänzen oder miteinander konkurrieren können. Diese Schichten sind dann, viertens, nicht ohne Lefebvres Aspekte der spatial practice (als alltägliches Leben im Raum), der representations of space (als gedachter, geplanter Raum) und der spaces of representation (als durch Bilder und Symbole gelebter Raum) zu denken.184 Es zeigt sich so, fünftens, eine Dynamik des Raumes. Es wird deutlich, dass social and cultural theory has reconceived ‘space’ as dynamic, in terms of its relationship to power, history and time, its condition of simultaneity and the various ways in which it is experienced and represented. […] It is thoroughly enmeshed in embodiment and everyday practice, knowledge and discourse, and in processes of production and reproduction, and consequently it is enmeshed in religion no less than in other areas of social and cultural life.185

Ausführlich geht Knott auf theoretische und methodologische Beiträge der Religionswissenschaften ein. Sie fragt, in welcher Weise diese die Bemühungen raum- und ortssensibler Konzeptionen und Ansätze bereichert haben. Knott kommt zu dem Ergebnis, dass ihren (gerade oben genannten) Elementen ein weiteres, der Dynamik des Raumes zugehöriges, hinzuzufügen ist: „the interfacing of space and sacralization.“186 Diese Elemente nimmt sie, gesammelt, als ,Begriff einer räumlichen Analyse‘ auf. Abschließend benennt sie Konsequenzen für eine räumlich orientierte und interessierte Methodologie: When taken together such terms could be said to constitute a methodology, a system of principles, practices, and procedures applied, in this case, to the study of religion. Rather than a set of practical methods […] this approach is analytical and interpretive.187

Ohne Frage ist dies anschlussfähig an die methodologischen Interessen der eigenen Studie. Ich lese den folgenden Satz Knotts als weitere Bestätigung für eine Methodologie (und daraus folgende Methoden), die sich gerade vom eigenen Feld und den eigenen Fällen her leiten und informieren lassen: A methodology based on the spatial elements or terms listed above requires a series of analyses, thinking about one’s chosen research object or place from the perspective of, first, body, then spatial dimensions, then properties, and so on. […] one needs an awareness of the way in which spatial conceptions have emerged from our 184 185 186 187

Vgl. Knott, Spatial Theory and Method, 159–166. Knott, Spatial Theory and Method, 166. Knott, Spatial Theory and Method, 175. Vgl. Knott, Spatial Theory and Method, 166–175. Knott, Spatial Theory and Method, 176.

70 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes embodiment, of how particular spaces or places are derived from bodies and their location in space […].188

Vorläufig summierend: Eine erste forschungsgeschichtliche Einordnung des spatial turn und die Beiträge Knotts, die die Konstruktivität von Raum und eine Offenheit für die Phänomene des Alltags voraussetzen, zeigen sich als fruchtbar für die Arbeit mit der eigenen Studie. Gerade Knotts Insistieren auf dem Verständnis der Lokalisierung (location) als sozial-räumlichem Prozess, der unlöslich in ein säkulares Gewebe eingewebt ist, ist für jede Beobachtung und Wahrnehmung von Religion, Ort, Kirche und Gottesdienst im vielfältigen Groruddal bedeutungsvoll. Und schließlich gehen ihre methodologischen Konsequenzen mit den methodologischen Gedanken der vorliegenden Studie, auch unter dem Vorzeichen einer phänomenologischen, eben nicht einer streng religionsphänomenologischen, Adaption zusammen.

3.2.2 Orte und Räume im Groruddal Angesichts der breiten Rezeption der Theorien und Entwürfe des spatial turn nimmt es kaum Wunder, dass diese mit Bezug auf das Groruddal und die Orte und Räume dort aufgenommen wurden. Dies geschah ebenfalls mit dezidiert religionswissenschaftlichem Interesse. An dieser Stelle soll kurz auf zwei Forschungsbeiträge eingegangen werden. Im Anschluss daran soll das Fortschreiten mit der Arbeit der eigenen Studie profiliert werden. Guro Voss Gabrielsen untersucht Ideale der Stadtentwicklung im laufenden Groruddal-Aktionsprojekt. Dabei geht sie, unter Bezugnahme auf Yi-Fu Tuan und frühere Arbeiten Doreen Masseys, davon aus, dass der Begriff space von oben her, abstrakt definiert wird, der Begriff place dagegen von unten her gedeutet wird.189 Sie wertet, mit Fokus auf Prozesse und Relationen verschiedener Akteure und Akteurinnen vor Ort, zum einen eine Vielzahl von Dokumenten (z. B. Presseartikel, Pläne, Intentionsverträge, Evaluationen) aus. Zum anderen analysiert sie 45 Interviews, die sie mit Personen, die entweder professionell oder als Politiker oder Politikerin in das Projekt eingebunden waren, geführt hat.190 Dies ermöglicht ihr, der Frage nach einer lokalen Identität nachzugehen. Sie widmet sich der Spannung zwischen lokalen Identitätsbildungsprozessen und einer (von oben und außen proklamierten) 188 Knott, Spatial Theory and Method, 176. 189 Vgl. Gabrielsen, Guro Voss, Groruddalen; Oslos vakreste verkebyll? – problemrepresentasjoner og stedsforst elser i Groruddalssatsingen, Dissertation, The Oslo School of Architecture and Design, 2014, 31–35. Vgl. 7.1.1; 7.2.2.3. 190 Vgl. Gabrielsen, Groruddalen; Oslos vakreste verkebyll?, 57–67.

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Groruddal-Identität, die durch das Groruddal-Aktionsprojekt gestärkt werden soll.191 Sieht Gabrielsen die Idee, eine neue Identität zu schaffen als dem Groruddal-Aktionsprojekt inhärent an, so macht sie gleichzeitig auf eine Diskrepanz aufmerksam: Für das Groruddal-Aktionsprojekt stellt die Restaurierung von Orten und Gebäuden eine Möglichkeit dar, historische Ankerfesten für eine gemeinsame, übergreifende Identität zu schaffen. Die Menschen vor Ort allerdings, so Gabrielsen, sind viel mehr an Diskursen im Lokalmilieu interessiert. Der Fokus der Menschen liegt auf Möglichkeitsorientierungen, die sich ihrer Relativität und Relationalität bewusst sind. So verbleibt die Identifikation von Orten und Gebäuden als historisch-kulturell und kollektiv-identitätsstiftend als von außen gedacht. Dagegen muss die Involvierung der Menschen im Lokalmilieu, die gemeinsam etwas erreichen wollen, in den Blick kommen:192 Die kulturelle Wende in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern bringt mit sich, dass Orte nicht länger ausschließlich als physische und materielle Rahmenbedingungen für soziale Prozesse studiert werden können. Sie müssen dagegen auch als Resultat sozialer, kultureller und mentaler Prozesse verstanden werden.193

Ist bei Gabrielsen das Interesse am vielstimmigen Ort angesprochen, so führt dies zu dem eingangs erwähnten Forschungsprojekt Inclusion and Exclusion in the Suburb. The centripetal and centrifugal forces of locality and place zurück.194 Beate Solli fragt in ihrem Beitrag, der auf ihrer Masterarbeit aufbaut, nach den Reaktionen der Lokalbevölkerung in Furuset auf den Bau der Moschee Bait-un-Nasr, die der Gemeinde Ahmadiyya Muslim Jama’at gehört. Sie fragt, wie sich das Verständnis des lokalen Ortes durch diesen Bau verändert.195 Sollis theoretischer Bezugsrahmen stellt eine Kombination von Richard Jenkins’ social identity, die Identität als Prozess versteht, und von Gillian Roses sense of place dar, den sie ebenfalls prozessual versteht. Weiter geht sie, mit Henri Lefebvre, davon aus, dass der mentale, der soziale und der physische Aspekt im sozialen Raum immer zusammenwirken. Wie also, so fragt Solli, 191 Vgl. Gabrielsen, Groruddalen; Oslos vakreste verkebyll?, 193. Sie hält fest: „Die Informanten/ Informantinnen unterstreichen, dass es schwierig ist, zu definieren was eigentlich die Ortsidentität im Groruddal sein soll. Und es herrscht keine Einigkeit darüber, dass es eine solche überhaupt gibt.“ In Gabrielsen, Groruddalen; Oslos vakreste verkebyll?, 194. 192 Vgl. Gabrielsen, Groruddalen; Oslos vakreste verkebyll?, 196–199.205. 193 Gabrielsen, Groruddalen; Oslos vakreste verkebyll?, 221. 194 Vgl. Alghasi, Sharam/Eide, Elisabeth/Eriksen, Thomas Hylland (Hg.), Den globale drabantbyen. Groruddalen og det nye Norge, Oslo 2012. 195 Solli hat Interviews mit Repräsentanten und Repräsentantinnen der Gemeinde der Norwegischen Kirche, des Stadtteil Alna, der für den Bau verantwortlichen Gemeinde und der lokalen, sunnimuslimischen Gemeinde geführt. Vgl. Solli, Beate, Bait-un-Nasr og ,følelse av sted‘, in: Alghasi, Sharam/Eide, Elisabeth/Eriksen, Thomas Hylland (Hg.), Den globale drabantbyen. Groruddalen og det nye Norge, Oslo 2012, 198–211, 198 f.

72 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes unter Rückgriff auf Kim Knott, wirkt der soziale Raum auf die Identitätsprozesse und Wahrnehmungen der Bewohner und Bewohnerinnen ein?196 Zusammenfassend hält sie fest: Allen [Informanten und Informantinnen] ist gemein, dass sie sich [die Moschee] Bait-un-Nasr ,aneignen‘ und dem Gebäude einen symbolischen Sinn verleihen. […] Dadurch, dass sie an das physische Gebäude denken und es symbolisch bezeichnen, geben die Informanten/Informantinnen einem Teil des sozialen Raumes, in dem sie leben und dessen Teil sie sind, Sinn.197

Diese Forschungsarbeiten stärken meinen anfänglichen Impuls, dass eine lebensweltnahe Rezeption der Reform des gottesdienstlichen Lebens mittels des Begriffs der Ortseigenheit/Ver-Ortung anzugehen ist. Gleichzeitig zeigen die Arbeiten sich als anschlussfähig an Einsichten aus der Analyse der Studie Michael H. Duceys. An Solli anknüpfend, und über ihre Arbeit hinausführend, ist zu nennen, dass die eigene Studie nicht allein nach Wirkungen von Gebäuden auf die Menschen vor Ort und deren Ortskonstruktionen fragt, sondern, wie bei Ducey angelegt, die ,Innenseite‘ des Erlebens und Wahrnehmens mit einbeziehen will, die Wechselwirkungen und das Wechselspiel von ,innen‘ und ,außen‘ akzentuieren und produktiv in Anschlag bringen will. Noch deutlicher als bei Gabrielsen, die ihre Interviews mit Menschen geführt hat, die in das Groruddal-Aktionsprojekt einbezogen waren, sind die Untersuchungen der eigenen Studie ,von unten her‘ voranzutreiben. Es ist explizit die Perspektive des ,Eigenen‘ und des persönlichen Involviertseins, vor Ort und in der Kirche, zu stärken. 3.2.3 Martina Löw: Raumsoziologie Der Ansatz von Martina Löw ist für die eigene Studie interessant und vielversprechend, weil er konsequent auf eine „handlungstheoretische Fundierung“198 aufbaut. Löw verabschiedet die „Vorstellung eines Behälterraumes als vorausgesetzter Umwelt des Handelns“199, und ihr Ansatz vermag eine, für die eigene Studie instruktive, Unterscheidung und Beziehung von Ort und Raum zu beschreiben. Deutlich setzt Löw dabei das „soziale Gemacht-Sein von Räumen“200 voraus. Ist es Ziel der empirischen Analysen im engeren Sinne, die Menschen als 196 Vgl. Solli, Bait-un-Nasr og ,følelse av sted‘, 199 f. 197 Solli, Bait-un-Nasr og ,følelse av sted‘, 211. 198 Döring, Jörg/Thielmann, Tristan, Einleitung: Was lesen wir im Raum? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen, in: Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 22009, 7–45, 25. 199 Döring/Thielmann, Was lesen wir im Raum?, 25. 200 Döring/Thielmann, Was lesen wir im Raum?, 25.

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Experten und Expertinnen ihrer eigenen Geschichte ernst zu nehmen, die Gelebte Religion ins Spiel bringen, scheint dieser Ansatz weiterführend. Und dies gerade, weil er sich, durch den Begriff der Konstruktion/Konstitution und durch die Betonung des Handlungsaspektes, der notwendigerweise auf die involvierten Subjekte abzielen muss, als anschlussfähig an die grundlegende methodologische Einrichtung der vorliegenden Studie ergibt. Ihren Raumbegriff entwickelt Löw ausgehend von einer Unterscheidung zwischen ,absolutistischen‘ und ,relativistischen‘ Vorstellungen von Raum: Erstere „schließt die Annahme ein, daß Raum unabhängig vom Handeln existiert“201, in der zweiten „wird Raum aus der Anordnung der Körper abgeleitet“202. Löw analysiert verschiedene Raumvorstellungen, erinnert daran, dass auch die jüdisch-christlichen Schöpfungsgeschichten Anteil an der Vorstellung eines ,Behälterraums‘ haben, und sie unterscheidet drei absolutistische Vorstellungen von Raum: einen ,ortsbezogenen Raumbegriff‘, einen ,territorialen Raumbegriff‘ und eine „soziologische Anwendung des Kantschen Raumbegriffs“203. Detailliert geht Löw auf den ,ortsbezogenen Raumbegriff‘ in der Konzeptualisierung von Anthony Giddens ein. Für Giddens sind Raum und Zeit ontologische Größen, Handlungen scheinen selbstverständlich lokalisiert zu sein. Er fragt […] nicht, ob Handlungen Raum produzieren können. […] Der Gedanke, daß Raum ein Element der Struktur sein könnte, liegt Giddens fern.204

Zusammengefasst: „Raum ist für Giddens der Ort, an bzw. in dem etwas stattfindet und über dessen Existenz hinaus Strukturen abstrahiert werden können.“205 So verbleibt Raum immer Hintergrund und die Entstehung von Raum kommt nicht in den Blick. Weiter noch: Unberücksichtigt bleibt der räumliche Bezug des Handelns unter nicht routinisierten und institutionalisierten Bedingungen sowie die Entstehung räumlicher Strukturen. […] Undenkbar ist in seiner Konzeptualisierung darüber hinaus, daß an einem Ort mehrere Räume entstehen. Da er weder zwischen Ort und Raum trennt noch Räume als Resultat von Handeln faßt, sind gesellschaftliche Kämpfe um Raumkonstruktionen an einem Ort für ihn undenkbar […].206 201 Löw, Martina, Raumsoziologie, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1506, Frankfurt am Main 9 2017, 18. 202 Löw, Raumsoziologie, 18. 203 Löw, Raumsoziologie, 36. Vgl. Löw, Raumsoziologie, 24–35. 204 Löw, Raumsoziologie, 37. 205 Löw, Raumsoziologie, 38. Zur weiteren Auseinandersetzung mit Giddens vgl. Löw, Raumsoziologie, 167 f. 206 Löw, Raumsoziologie, 43.

74 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes Vor dieser Folie entwickelt Löw ihren ,relationalen Raumbegriff‘, den sie vor der konkreten Ausarbeitung jedoch an empirischen Untersuchungen misst – es sollen die Veränderungen in der Organisation des Räumlichen erfaßt und somit die Phänomene, über die ein soziologischer Raumbegriff (auch) informieren soll, benannt werden.207

In ihrer Zwischenbilanz hält sie fest, dass die Vorstellung in einem Raum zu leben nicht mehr zu halten ist. Durch Vorstellungen, Wahrnehmungen, Verknüpfungen und Fragmentierungen werden immer neue Räume konstituiert und miteinander verknüpft. Dies geschieht gleichzeitig und auf mehreren Ebenen, immer [wieder] trifft man auf mehrdimensionale räumliche Gefüge, die nur erklärt werden können, wenn die Konstitution von Räumen über (institutionalisierte) Verknüpfungen in Handlungsprozessen erklärt wird und nicht Räume dem Handeln vorgängig konzipiert werden208.

Damit sind die Eckpunkte ihres Raumbegriffs benannt. Raum ist an einen Konstitutionsprozess geknüpft, bei dem Handeln und Raum nicht auseinandergerissen werden dürfen. Als Arbeitshypothese formuliert Löw, dass sie Raum „als eine relationale (An)Ordnung von Körpern versteht, welche unaufhörlich in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert“209; auf diese Weise ist auch der Faktor Zeit Teil des Konstitutionsprozesses. Sie elaboriert diese These weiter aus. Sind es zunächst soziale Güter, die relational zu Räumen angeordnet werden, weitet sie dieses noch einmal, indem sie Lebewesen in diese relationale Anordnung mit hineinnimmt – interessant ist folgende Beobachtung Löws: Menschen als Bestandteile einer Raumkonstruktion weisen dabei die Besonderheit auf, daß sie sich selbst plazieren und Plazierungen verlassen. Darüber hinaus beeinflussen sie mit Mimik, Gestik, Sprache etc. die Raumkonstruktionen. Wenngleich Menschen […] aktiver sind als soziale Güter, so wäre es dennoch eine verkürzte Annahme, würde man soziale Güter als passive Objekte den Menschen gegenüber207 Löw, Raumsoziologie, 68. Sie untersucht Phänomene wie Raumveränderungen durch neue Kommunikationswege, virtuelle Räume, Vergesellschaftung, Geschlecht, global cities und mehr. Vgl. Löw, Raumsoziologie, 69–108. 208 Löw, Raumsoziologie, 113. Für jedes Nachdenken über Raum im vielfältigen, multikulturellen Groruddal ist zu bedenken, dass in vielen Wohnzimmern Fernseher und Computer stehen, die ganz andere Orte und Räume in die Raumkonstruktionen einholen. Ebenso sind gefärbte und vorbestimmte Wahrnehmungen und Erinnerungen zu bedenken. 209 Löw, Raumsoziologie, 131. Ihre vollständige und abschließende Definition lautet: „Raum ist eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten. Raum wird konstituiert durch zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse, das Spacing und die Syntheseleistung.“ In Löw, Raumsoziologie, 271.

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stellen. Auch soziale Güter entfalten eine Außenwirkung zum Beispiel in Gerüchen und Geräuschen und beeinflussen in dieser Weise die Möglichkeiten der Raumkonstruktionen.210

In diesem nun skizzierten Prozess der Raumkonstitution unterscheidet Löw 1. das Spacing und 2. eine Syntheseleistung. Das Spacing ist das Bauen, Platzieren, Errichten, Vernetzen, „ein Positionieren in Relation zu anderen Plazierungen“211, es folgt eine Syntheseleistung, „das heißt, über Wahrnehmungsoder Erinnerungsprozesse werden Güter und Menschen zu Räumen zusammengefaßt“212. Im Alltag sind diese Prozesse, aufgrund des zumeist repetitiven Handelns der Menschen, sozusagen nicht zu unterscheiden, sie gehen im Alltag auf. Sie können aber, über Routinen, institutionalisiert werden und institutionalisierte (auch: verallgemeinerbare) Räume hervorbringen, „bei denen die (An)Ordnung über das eigene Handeln hinaus wirksam bleibt und genormte Syntheseleistungen und Spacing nach sich zieht“213. An dieser Stelle wird der Rückgriff auf den Strukturbegriff virulent, denn Institutionen bleiben […] bestehen, selbst wenn gesellschaftliche Teilgruppen sie nicht reproduzieren. Hier spätestens muß nun die Konstitution von Raum im Handeln in Wechselwirkung zu gesellschaftlichen Strukturen gedacht werden.214

Löw kommt – über die Arbeit mit dem Strukturbegriff – zur Dualität von Raum. Räumliche Strukturen bleiben in Institutionen unabhängig von Ort und Zeitpunkt bestehen. So kommt zum Ausdruck, daß Räume nicht einfach nur existieren, sondern daß sie im (in der Regel repetitiven) Handeln geschaffen werden und als räumliche Strukturen, eingelagert in Institutionen, Handeln steuern215.

Damit kommt die Frage nach Abweichung und Veränderung auf. Löw fasst diese unter der Begrifflichkeit der gegenkulturellen Räume, nennt explizit kirchliche Reformbewegungen, und führt aus: Dieses gegen institutionalisierte (An)Ordnungen gerichtete Handeln nenne ich gegenkulturell, die in diesem Prozeß konstituierten Räume, unabhängig davon, ob es sich um einmalige Aktionen oder um regelmäßige Abweichungen handelt, gegenkulturelle Räume.216 210 211 212 213 214 215 216

Löw, Raumsoziologie, 155. Löw, Raumsoziologie, 158. Löw, Raumsoziologie, 159. Löw, Raumsoziologie, 164. Vgl. Löw, Raumsoziologie, 161 ff.178. Löw, Raumsoziologie, 166. Löw, Raumsoziologie, 172. Löw, Raumsoziologie, 185.

76 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes Dabei geht es ihr, gegen Giddens, der nur von Veränderung auf der Basis von Reflexivität redet, darum, stark zu machen, dass im „Begriff der Gegenkultur […] Reflexivität und Körperlichkeit als sich ergänzende Handlungsantriebe“217 berücksichtigt werden. Die Stichworte der Struktur, der Institutionalisierung und der Gegenkultur weisen sodann darauf hin, „daß Räume keineswegs beliebig geschaffen werden, sondern [dass] die (An)Ordnungen in der Regel sozial vorstrukturiert sind“218, dass also die Konstitution von Raum […] immer in Abhängigkeit zu den Bedingungen einer Handlungssituation, die sich aus materiellen und symbolischen Komponenten zusammensetzt219,

steht. Schließlich muss die Frage nach dem Ort gestellt und beantwortet werden. Die Unterscheidung von Ort und Raum ist Löw wichtig, um davon ausgehen zu können, dass an einem Ort mehrere Räume, eben auch gegenkulturelle, denkbar sind. Ist Spacing Platzierung, so „muß es Orte geben, an denen etwas plaziert werden kann“220. Was aber ist gemeint? Orte werden durch die Besetzung mit sozialen Gütern oder Menschen kenntlich gemacht, verschwinden aber nicht mit dem Objekt, sondern stehen dann für andere Besetzungen zur Verfügung. Der Ort ist somit Ziel und Resultat der Plazierung und nicht – wie Menschen und soziale Güter – im Spacing selbst plaziertes Element. […] Die Konstitution von Raum bringt damit systematisch auch Orte hervor, so wie Orte die Entstehung von Raum erst möglich machen.221

Für diesen Prozess der Konstitution unterscheidet Löw drei Formen der Syntheseleistung, des Synthetisierens, „in der Wahrnehmung, das in der Erinnerung und jenes in der abstrahierenden Vorstellung, wenn auch in der Praxis selten eine dieser Formen für sich existiert.“222 Die Bedeutung von Orten hebt Löw auf dreierlei Weise hervor: Erstens wird eine Bezeichnung für die biographisch oder gesellschaftlich einmaligen Lokalisierungen gewonnen, und zweitens können ehemalige Plazierungen bezeichLöw, Raumsoziologie, 186. Löw, Raumsoziologie, 191. Löw, Raumsoziologie, 191. Löw, Raumsoziologie, 198. Löws Formulierungen erinnern an das bekannte Zitat von Michel de Certeau „l’espace est un lieu pratiqu “, dies jedoch ohne, dass Löw Certeau in ihrem Band rezipiert. Gemeinsam ist beiden die Betonung einer Dynamik zwischen Raum und Ort. Vgl. Füssel, Marian, Tote Orte und gelebte Räume: zur Raumtheorie von Michel de Certeau S.J., in: HSR 38 (2013), 22–39, 33 f. 221 Löw, Raumsoziologie, 198. 222 Löw, Raumsoziologie, 199.

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net werden […]. Der Ortsbegriff bringt darüber hinaus noch einen dritten Gewinn […] mit sich, denn nun wird deutlich, daß sich nicht nur das Plazierte, sondern auch der oder die Synthetisierende an einem Ort befindet.223

Die Frage nach dem woher und wie des Ortes ist damit nicht klar beantwortet und wird von Löw auch nicht ausgeführt,224 dessen ungeachtet bleibt die Folgerung Löws für die vorliegende Studie von entscheidender Bedeutung: Als These läßt sich formulieren, daß nicht nur der/die Synthetisierende bzw. sein/ihr Habitus, sondern auch die Lokalisierung des/der Synthetisierenden die Synthese prägt. […] Nicht alle Menschen synthetisieren vom selben Ort aus in gleicher Weise.225

In der Summe gilt, dass Raumkonstruktionen, (An)ordnungen, Platzierungen, Spacing und Syntheseleistungen immer an vorfindliche Bedingungen, an institutionelle, symbolische, materielle und leibliche Ressourcen und Faktoren verwiesen sind. Auf diese Weise sind sie auch, am Ort, an Aushandlungs-, Macht- und Konkurrenzprozesse individueller oder, bei Veränderungen institutioneller Räume, kollektiver Art gebunden.226 3.2.4 Impulse zur Weiterarbeit Die Einsichten der Theorien des Ortes und des Raumes, des spatial turn, bestätigen die eigenen Bemühungen, eine lebensweltnahe Rezeption der Reform des gottesdienstlichen Lebens nicht nur mittels einer empirisch orientierten Liturgiewissenschaft anzugehen, sondern weiterführend, ausdrücklich in kirchentheoretischer Absicht, die Prozesshaftigkeit der Ortseigenheit/VerOrtung (von Religion) in Betracht zu ziehen. 223 Löw, Raumsoziologie, 202. 224 In ihrer Berliner Antrittsvorlesung unterscheidet Löw, mit Verweis auf Karl-Siegbert Rehberg, zwischen einer „Differenzlogik von Räumen“ und „Eigenlogik von Orten“. Ort wird hier mit den Stichworten Einheit, Namen, (Sinn-)Bereich, lokalen Strategien und Strukturen umrissen, Räume mit den Stichworten des Unsteten und der wechselnden Verknüpfungen und Verbindungen. Wer aber definiert den Ort? Oder gibt es den Ort schon? In ähnliche Richtung stellt auch Matthias D. Wüthrich fest, dass „nicht klar wird, ob Orte, sofern sie Raumkonstitution erst möglich machen, als eine ursprüngliche, physische Vorgegebenheit zu denken sind oder immer schon sozial überformt sind“. In Wüthrich, Matthias D., Raum und soziale Gerechtigkeit. Eine raumtheoretische Skizze der Vorrausetzungen ihrer Relationierung, in: ethik und gesellschaft (2013), http://www.ethik-und-gesellschaft.de/mm/EuG-1-2013_Wüthrich.pdf (abgerufen am 1. 7. 2018), 36 Seiten, 20 f. Vgl. Löw, Martina, Space Oddity. Raumtheorien nach dem Spatial Turn, in: sozialraum.de 7 (2015), https://www.sozialraum.de/space-oddity-raum theorie-nach-dem-spatial-turn.php (abgerufen am 1. 7. 2018), 10 Seiten, 7. Entscheidend scheinen mir das, auch von Wüthrich hervorgehobene, reziproke Verhältnis, das den Ort an Konstitutionsprozesse rückbindet, und die Betonung der subjektiven Ortsabhängigkeit jedes (An)Ordnungsprozesses. 225 Löw, Raumsoziologie, 202. 226 Vgl. Löw, Raumsoziologie, 164 f.271 ff.

78 Empirische Liturgiewissenschaft und Theorien des Ortes und des Raumes Ganz grundsätzlich ist die Subjektoffenheit des „socio-spatial process of location“ (Kim Knott) hervorzuheben. Die vielfältigen Bezugnahmen auf place und space, die sich, je auf ihre Weise, dem Einfluss der involvierten Subjekte verpflichtet wissen, sind nicht preiszugeben. Dies gilt auch, obwohl das Verhältnis von place und space keineswegs eindeutig und einheitlich gesehen wird.227 Die Arbeit mit den Studien, die sich explizit mit dem Groruddal beschäftigen, untermauert dies. Es ist angemahnt, dass es im vielfältigen Groruddal einer Theorie bedarf, die die Wahrnehmung sowohl des Ortes als auch von mehreren, gleichzeitigen Räumen an einem Ort sichert. – Der Identitätsbegriff ist nicht im Singular zu haben und die örtlichen Raumkonstruktionen sind keineswegs unumstritten. Der Ansatz Martina Löws sichert, durch die Begriffe des spacing und der Syntheseleistung, nicht nur die Konstitution von gegenkulturellen und institutionalisierten Räumen, sondern gewährleistet auch eine Wahrnehmung der involvierten Subjekte, die – von einem Ort aus – verschiedene Räume synthetisieren.228 Im Groruddal, das seine eigene, signifikante und von (äußeren) Zuschreibungen und Qualifizierungen geprägte Geschichte hat, ist darüber hinaus Löws Interesse am ,Ort‘ von maßgebender Bedeutung. Löw sichert dem Ort theoretisches Gewicht, aber nicht unabhängig von, sondern im Verhältnis zu den Räumen vor Ort. Wollen die lokalen Raumkonstruktionen der involvierten Subjekte wahrgenommen werden, gelingt dies nur, wenn das dynamische Verhältnis zum Ort sowie die ,Eigenlogik‘ des Groruddal und der Orte im Groruddal mitbedacht und reflektiert werden. 227 Vgl. Brömssen, Kerstin von, Socio-spatial theories – a short introduction, in: Rothgangel, Martin/Brömssen, Kerstin von/Heimbrock, Hans-Günter/Skeie, Geir (Hg.), Location, Space and Place in Religious Education, Religious Diversity and Education in Europe 34, MünsterNew York 2017, 15–19, 15; Pezzoli-Olgiati, Daria, Difference and Contested Public Places. Spatial Representations of Religion in Contemporary Society, in: Wyller, Trygve/Pezzoli-Olgiati, Daria/Knauss, Stefanie/Heimbrock, Hans-Günter/Sander, Hans-Joachim/Danani, Carla (Hg.), Religion and Difference. Contested Contemporary Issues, RCR 28, Göttingen 2019, 15–44, 21 f.; Knott, Kim, Religion, Space, and Place. The Spatial Turn in Research on Religion, in: Religion and Society: Advances in Research (2010), 30, Fußnote 3; Knott, Kim, Spatial Theory and Method for the Study of Religion, in: Temenos 41 (2005), 153–184, 156, Fußnote 7; Gabrielsen, Guro Voss, Groruddalen; Oslos vakreste verkebyll? – problemrepresentasjoner og stedsforst elser i Groruddalssatsingen, Dissertation, The Oslo School of Architecture and Design, 2014, 31–35; Füssel, Marian, Tote Orte und gelebte Räume: zur Raumtheorie von Michel de Certeau S.J., in: HSR 38 (2013), 22–39, 33 f. 228 Vgl. Löw, Martina, Raumsoziologie, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1506, Frankfurt am Main 92017, 186.191.198.202. Der Vorwurf des „Raumvoluntarismus“ (Markus Schroer), „so als ob, nur weil jeder Raum sozial erzeugt ist, wir auch jeden Raum sozial erzeugen können“, ist vermerkt. In Döring, Jörg/Thielmann, Tristan, Einleitung: Was lesen wir im Raum? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen, in: Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 22009, 7–45, 26.

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Vor dem Hintergrund des eigenen Forschungsinteresses im Groruddal nehme ich den Ansatz Löws für die Arbeit mit der eigenen Studie zielführend auf. Daher seien, wenn Löw auch phänomenologischen Ansätzen durchaus kritisch gegenübersteht229, weitere Anknüpfungsmöglichkeiten an die Einrichtung der eigenen Studie kurz angeführt. Löw erinnert daran, dass nicht jede Raumerfahrung im euklidischen Denken aufgeht, die Wahrnehmung von Düften oder das Hören der Autogeräusche, sind assoziative, aber keineswegs beliebige Ergänzungen der Wahrnehmung von Räumen. Sie ermöglichen, ausgehend vom eigenen Körper, Räume entstehen zu lassen230.

Auf diesem Wege wird deutlich, wie schon bei Knott und den von ihr beschriebenen Traditionslinien der Forschung, dass jeder handlungstheoretische Bezug auf Raum […] zwangläufig an der Körperlichkeit der Menschen an[setzt]. Diese kann jedoch in keiner Weise als natürliche angenommen werden, sondern der Körper ist immer schon eingeteilter, beschriebener, in Vorstellungen und Bildern geformter.231

Auch die von Löw angeführten methodologischen Konsequenzen, ihre Betonung der Mehrperspektivität der Analyse, ihre Öffnung für qualitative Forschungsverfahren, ihr Augenmerk darauf, dass nicht nur die Gegenstände des Forschungsbereiches, sondern auch die Beziehungen im Forschungsbereich untersucht werden müssen, ihre Annahme, dass Menschen Raumkonstruktionen betreffend auskunftsfähig sind, ihre Beachtung der eigenen, konstruierenden Perspektive im Forschungsverlauf, ihre Offenheit für Überraschendes und Gegenläufiges sowie ihre Verneinung einer naiven Wissenschaft, die Raum (oder eben: Wirklichkeit) einfach abbildet, erweisen sich als anschlussfähig an die vorliegende Studie.232 Dies alles wird in den Analysen und der empirischen Arbeit im engeren Sinne virulent und drängend werden, wird dort, sowohl aus den (eigenen) Vollzügen des professionellen Alltags, aus den Vollzügen der Interviews als auch aus der Analyse der Interviews, gleichsam aus den Interviews heraus, eine große Rolle spielen.233 Mittels des Ansatzes von Löw gelingt es, den Begriff der Ortseigenheit/VerOrtung nicht nur gottesdiensttheoretisch, empirisch liturgiewissenschaftlich, sondern darüber hinaus gerade als kirchentheoretischen Schlüsselbegriff zu etablieren. 229 230 231 232 233

Vgl. Löw, Raumsoziologie, 19 f. Löw, Raumsoziologie, 79. Löw, Raumsoziologie, 128. Vgl. Löw, Raumsoziologie, 218 ff. Vgl. 7.3.

4 Der erste historisch-systematische Problemhorizont: Kultur (im Wandel) 4.1 Einführende Hinweise: Stadt als Thema in der Theologie Ein kurzer Blick in ein einschlägiges Lexikon zeigt zweierlei Sachverhalte. Das Thema Stadt ist zunächst keineswegs ein Novum in der Theologie, zugleich aber bietet sich ein konfliktträchtiges Bild des Verhältnisses von Stadt und Theologie, von Stadt und Kirche.1 Diese konflikthafte Relation, die bis heute nachwirkt, ist geprägt von Erfahrungen mit Industrialisierung und Urbanisierung im 19. Jahrhundert. Im Protestantismus, von Klaus Fitschen an Johann Hinrich Wichern exemplifiziert, war das „Unbehagen an der Stadt, gar ein aggressiver Pessimismus […] deutlich spürbar“2. Die weitere Entwicklung ging damit einher, dass die Größe ,Stadt‘ nicht zu bestimmen war und doch in ihrer Gesamtheit kirchlicher Kritik unterworfen wurde: Im 20. Jh. stellte sich auch immer wieder das Definitionsproblem der Stadt. M. Weber hatte sie nach ökonomischen Kriterien bestimmt, die Stadtgeschichtsforschung fragte nach historisch zu gewinnenden Kriterien. Die Stadt galt als Brennpunkt der Entchristlichung. Kirche und Theologie standen in der Linie der zeitgenössischen Stadtkritik, die von der ,Unwirtlichkeit der Städte‘ […] sprach.3

Erste Impulse zur Neubestimmung des Verhältnisses der Kirche, der Theologie zur Stadt kamen Mitte, Ende der 60er Jahre auf. Es war Harvey Cox’ Studie Stadt ohne Gott4, die als „Anstoß und anstößig“5 wirklich Bewegung in dieses Feld brachte. Dieses Feld soll in der vorliegenden Studie angegangen werden, keineswegs in Anlehnung an ein Gesamtmodell, sondern im Sinne eines gestärkten Blicks von unten. Durch eine empirisch ausgerichtete Annäherung sollen Mosaiksteine zusammengetragen werden, die das Bild an einigen Stellen klar und

1 Vgl. Fitschen, Klaus, Stadt. III. Kirchengeschichte, in: TRE XXXII (2001), 94–104; Grünberg, Wolfgang, Stadt. 2. Praktisch-theologisch, in: EKL3 IV (1996), 475–478. 2 Fitschen, Stadt, 100. 3 Fitschen, Stadt, 101. 4 Vgl. Cox, Harvey, Stadt ohne Gott?, ins Deutsche übertragen von Werner Simpfendörfer, Stuttgart-Berlin 51969. Die Originalausgabe erschien 1965 unter dem Titel The Secular City. Secularization and Urbanization in New York. 5 Fitschen, Stadt, 101.

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deutlich hervortreten lassen und zeigen, dass sich Theologie in der Stadt nur aus dem genauen Blick auf die Praxis gewinnen lässt. Dies ist ein versuchsweises Unterfangen, das die aktuelle Situation historisch verankert und auf diese Weise neue Möglichkeiten eröffnet: Kirchen und Theologie nehmen an den Versuchen teil, die Stadt neu zu sehen und die Theologie der Stadt in die Gegenwart hinein fortzuschreiben. Dabei wird die Stadt immer mehr auch als religiöser Markt erfahren – hierin kann das zeitgenössische Christentum an die Selbstwahrnehmung des antiken anknüpfen.6

Der Neutestamentler Dieter Georgi hat Anfang der 90er Jahre dieses Anknüpfen als einen entscheidenden Punkt aufgezeigt.7 Nach ihm ist die mangelnde kollektive Aufmerksamkeit akademisch verfaßter Theologie gegenüber der Stadt […] kein bloß innerprotestantisches Manko. Diese Blindheit ist schon älter […]. Während […] die frühe Kirche vor allem städtisch orientiert war, ging die Umwandlung des Christentums zur römischen Staatsreligion mit einer Konzentration der Kirche auf das Land und die Kleinstadt einher.8

In dieser Situation braucht es ,den Abschied von Augustin‘. Denn „aufgrund einer verinnerlichenden Exegese von Paulus“9 und seiner „Auseinandersetzung mit heidnischer römischer Theologie“10 kommt es bei Augustin zur Entwicklung eines Negativbildes von der Stadt: Differenzierungen in den Städten und zwischen den Städten, die ungeheure Pluralität der mediterranen Kultur […] waren etwas, das die christliche Religion in Augustins Interpretation überwinden sollte.11

Für die soziale Realität war kein Platz: Vor dem manifesten ökonomischen und sozialen Verfall der Städte des Mittelmeergebiets schließt Augustin seine Augen. Er bestätigte damit nur, was die Kirche schon lang entschieden hatte: nämlich ihr Interesse vor allem auf die Kleinstädte und noch mehr auf das flache Land zu richten.12

Georgi macht dagegen ,Paulus selbst‘ stark, erinnert daran, dass der genuine Kontext des Paulus die Stadt war.13 An der Synode in Gal 2 zeigt Georgi, dass 6 Fitschen, Stadt, 102. 7 Vgl. Georgi, Dieter, Auf dem Weg zu einer urbanen Theologie. Denkanstöße zur Funktion universitär verfasster wissenschaftlicher Theologie in einer Metropole, in: Burfeind, Carsten/ Heimbrock, Hans-Günter/Spory, Anke (Hg.), Religion und Urbanität. Herausforderungen für Kirche und Gesellschaft, Münster et al. 2009, 135–151. Der Text, ursprünglich ein Vortrag, stammt aus dem Jahr 1991. 8 Georgi, Auf dem Weg zu einer urbanen Theologie, 136. 9 Georgi, Auf dem Weg zu einer urbanen Theologie, 137. 10 Georgi, Auf dem Weg zu einer urbanen Theologie, 137. 11 Georgi, Auf dem Weg zu einer urbanen Theologie, 138. 12 Georgi, Auf dem Weg zu einer urbanen Theologie, 139. 13 Vgl. Georgi, Auf dem Weg zu einer urbanen Theologie, 144.

Einführende Hinweise: Stadt als Thema in der Theologie

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„der Entschluß zur Anerkennung der Verschiedenheit in der Gemeinsamkeit des Evangeliums zum Verfassungsprinzip gemacht“14 wurde und er führt aus: „Multikulturalität wurde damit zum konstitutiven Element der frühen Gesamtkirche.“15 Es ergeben sich für Georgi zwei ,Vorschläge für morgen‘. Zum einen gilt es, die paulinische Rechtfertigungslehre als Ereignis, das die Stadt betrifft, wiederzuentdecken. Das neue Jerusalem des Johannes ist eine wirkliche belebte und bewegte Stadt. Ihre Topographie […] ist gar nicht die von Jerusalem, sondern die von Babylon. Das himmlische Jerusalem […] ist ,Babylon rediviva‘, das versöhnte Babylon, die gerechtfertigte große Hure.16

Zum anderen geht es um die Anerkennung der Mobilität als die Inkarnation betreffend und weiterführend: Die in der frühen Jesusbewegung festzustellende Mobilität […] war relativ allgemein. […] Sowohl in den Paulusbriefen wie im Hebräerbrief ist diese Beweglichkeit aber auch orientiert an der Bewegung Gottes zu den Menschen hin […].17

Beide Vorschläge führen dazu, dass eine solidarische Dimension zum Vorschein kommt, die „nicht an den Gemeindegrenzen zu Ende ist“18, sondern die Möglichkeit für ein „kommunales Bewußtsein“19 schafft. Im Folgenden sollen wichtige theologische Entwürfe zu Stadt und Urbanität den Blick für die nachfolgende Untersuchung schärfen.20 Es werden Versuche analysiert, die die Größe ,Stadt‘ neu sehen wollen und Beiträge zu einer Theologie in der Stadt darlegen. Dies geschieht vor dem Hintergrund des Ansatzes von Georgi, denn es gelingt ihm, durch die Anknüpfung an das antike Christentum, sowohl mit dem Negativbild der Tradition zu brechen als auch gegenwärtige Stichworte, wie Multikulturalität, Mobilität, Solidarität 14 15 16 17 18 19 20

Georgi, Auf dem Weg zu einer urbanen Theologie, 145. Georgi, Auf dem Weg zu einer urbanen Theologie, 145. Georgi, Auf dem Weg zu einer urbanen Theologie, 150. Georgi, Auf dem Weg zu einer urbanen Theologie, 150. Georgi, Auf dem Weg zu einer urbanen Theologie, 151. Georgi, Auf dem Weg zu einer urbanen Theologie, 151. Unberücksichtigt bleibt der Band Stadt sucht Seele des norwegischen Theologen Helge S. Kvanvig. Kvanvig betont, dass die Kirche nicht länger einen einheitlichen Deutungsrahmen liefern kann. Er weiß sich befreiungstheologischen Ansätzen verbunden, äußert sich in Wendungen, die Offenheit für die Subjekte und Phänomene der Stadt zeigen. Kvanvig kommentiert den Gottesdienst in der Vorstadt, beklagt dessen Lebensferne und fordert, dass dessen sozialer Kontext als genuin theologische Aufgabe anerkannt wird. Leider verbleibt Kvanvig in pauschalen Formulierungen, es ist deutlich, dass Kvanvig nicht empirisch arbeitet. Im Letztgenannten und darin, dass eine Mehrzahl der Diskussionen als angegangen gelten dürfen, finden sich die Gründe, Kvanvigs Band hier außen vor zu lassen. Vgl. Kvanvig, Helge S., By søker sjel. Byliv og kristen tro, Oslo 1992, 87–90.93.154 f.157.160.163.

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und die Frage nach der Grenze der Gemeinde, in die Debatte einzuspielen. Dabei geht es jedoch nicht darum, dass Georgis Stichworte eins zu eins abgearbeitet werden oder dass ein Gesamtmodell entwickelt werden soll. Vielmehr ist zu sehen, dass Georgis kritische Auseinandersetzung mit der Tradition ein, wenn auch in unterschiedlicher Form, allen Entwürfen gemeinsames Element ist, das das ,neue Sehen‘ fördert. An welchen Stellen sich in Auseinandersetzung mit diesen Entwürfen Fragestellungen und wichtige, kritische Impulse für eine wirklichkeitsbezogene Analyse gewinnen lassen, wird sich im Detail zeigen müssen. Zu Beginn der Analyse soll der in seiner Gesamtkonzeption und dogmatischtheologischen Grundrichtung geschlossenste Beitrag stehen. Graham Ward21 beschäftigt sich, unter dem Label der ,radikalen Orthodoxie‘, mit der Tradition und ist an der Breite kultureller Phänomene interessiert. Lehnt er phänomenologische Diskurse ab und bleibt er dogmatisch bestimmt, so können an seinem Ansatz doch Impulse und Kriterien für die weitere Bearbeitung der zu analysierenden Entwürfe gewonnen werden. Erst dann folgt der Entwurf von Cox, chronologisch auf der anderen Seite der Skala, eine Initialzündung für neues Nachdenken, bemüht an biblische Traditionen und biblisches Selbstverständnis anzuknüpfen, um dies in damalige Diskussionen in den Metropolen einzuspielen. Eine thematische Ausweitung des Grundthemas findet sich beim finnischen Theologen Seppo Kjellberg22, der einen Entwurf einer urbanen Ökotheologie vorlegt. Dieser Entwurf, explizit empirisch verankert, beschäftigt sich mit Deutungen der Stadt in der christlichen Tradition, nimmt diese wahr und bringt sie ins Gespräch mit neueren theologischen Konstruktionen. Aus dem deutschen Kontext stammt der Sammelband von Wolfgang Grünberg23. Es handelt sich nicht um einen in sich geschlossenen Entwurf, sondern Grünberg sammelt Texte, die sich einem andauernden Engagement verdanken. Grünberg denkt über Kirche in der Stadt nach und beleuchtet dieses Verhältnis aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Es sollen hier die Fragen nach Multikulturalität, Kirche, Ort und Gottesdienst besonders hervorgehoben werden.

21 Vgl. Ward, Graham, Cities of God, Radical Orthodoxy, London-New York 2000. 22 Vgl. Kjellberg, Seppo, Urban Ecotheology, Utrecht 2000. 23 Vgl. Grünberg, Wolfgang, Die Sprache der Stadt. Skizzen zur Großstadtkirche, Leipzig 2004.

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4.2 Graham Ward: Cities of God 4.2.1 Zur zugrundeliegenden theologischen Theorie und zum Ansatz Graham Ward folgt Dieter Georgi in dem Sinne, dass ein Rückgriff auf die Tradition der Weg ist, auf dem das Verhältnis von Kirche und Stadt zu bestimmen ist. Gleichzeitig widerspricht er vehement der These, dass der ,Abschied von Augustin‘ gefordert ist. Diametral zu Georgi fordert Ward eine Hinwendung zur Tradition und zu Augustin. Ward, in der anglikanischen Kirche ordiniert, Regius Professor of Divinity in Oxford, zuvor Professor für philosophische Theologie und Ethik in Manchester, präsentiert einen streng dogmatisch verankerten Entwurf zu Stadt und urbanem Leben. Ausgangspunkt ist das Programm der ,Radical Orthodoxy‘, einer ,neuen Theologie‘, die sich, aufgrund ihres Engagements für „credal Christianity and the exemplarity of its patristic matrix“24 sowie aufgrund des Bestrebens, „a richer and more coherent Christianity which gradually lost sight of after the late Middle Ages“25 zu stärken, als orthodox versteht. Diese Theologie sieht sich, durch diesen Rückgriff, als konfessionell übergreifend an, zielt sie doch auf Übereinstimmung mit dem „authentic Christian doctrine“26. Radikal ist diese Theologie in the sense of a return to patristic and medieval roots, and specially to the Augustinian vision of all knowledge as divine illumination–a notion which transcends the modern bastard dualisms of faith and reason, grace and nature27,

radikal „in the sense of seeking to deploy this recovered vision systematically to criticise modern society, culture, politics, art, science and philosophy“28. Zudem ist sie radikal, da sie die Offenheit der Tradition neu durchdenken will, und sie ist schließlich in dem Sinn radikal, dass sie, mit den Kritikern und Kritikerinnen der Aufklärung, ins Bewusstsein ruft, dass die Säkularisierung zerstörte, was sie hochhielt (zum Beispiel Sexualität, ästhetische Erfahrung, humane, politische Gemeinschaft).29 Nur Transzendenz, which ‘suspends’ these things in the sense of interrupting them, ‘suspends’ them also in the other sense of upholding their relative worth over–against the void. Such 24 Milbank, John/Ward, Graham/Pickstock, Catherine, Introduction. Suspending the material: the turn of radical orthodoxy, in: Milbank, John/Ward, Graham/Pickstock, Catherine (Hg.), Radical Orthodoxy. A new Theology, Radical Orthodoxy, London-New York 1999, 1–20, 2. 25 Milbank/Ward/Pickstock, Introduction, 2. 26 Milbank/Ward/Pickstock, Introduction, 2. 27 Milbank/Ward/Pickstock, Introduction, 2. 28 Milbank/Ward/Pickstock, Introduction, 2. 29 Vgl. Milbank/Ward/Pickstock, Introduction, 2 f.

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radicalism indeed refuses the secular, but at the same time it does ‘re-envision’ a Christianity which never sufficiently valued the mediating participatory sphere which alone can lead us to God.30

Partizipation wird so als Schlüsselbegriff eingeführt: The central theological framework of radical orthodoxy is ‘participation’ […] because any alternative configuration perforce reserves a territory independent of God.31

Diese dogmatische Verankerung und Wards Annäherung passen augenscheinlich nicht zum Forschungsfeld der vorliegenden Studie. Gleichzeitig lässt aber die grundsätzliche Offenheit für Phänomene der Stadt es fruchtbar erscheinen, Wards Entwurf einzubeziehen. Diese Offenheit wird zum Beispiel deutlich in seiner Ausgangsfrage, „what kind of theological statement does the city make today“32, und in seiner kollektiv verstandenen Analyse der Stadt, die ihren Ausgangspunkt in den „social and political bodies in which each individual body is implicated“33 hat, und in der der grundsätzlich geschlechtlich bestimmte Körper als Schlüsselmetapher dient.34 Ferner wird diese Offenheit wichtig in Wards Ablehnung gängiger Etikettierungen der Zeit, in der Favorisierung von „analyses of specific cultural tropes“35 und dem Verständnis der Stadt als aller Text36. Dies hat Bestand, obschon Ward der Phänomenologie, als Annäherung an die ,kulturellen Metaphern‘, eine Absage erteilt: Subjects are unstable, because the self does not have immediate consciousness of itself and therefore has no immediate knowledge of itself or its own identity. This instability thwarts a phenomenological approach; since in phenomenology the subject is the origin of meaning.37

Lassen sich, so der Gedanke, nicht hier, am augenscheinlich ganz anders gelagerten, Kriterien und Impulse sowohl für die weitere Analyse anderer Entwürfe zu Theologie und Stadt als auch für die Arbeit mit der eigenen Studie auffinden? 30 Milbank/Ward/Pickstock, Introduction, 3. 31 Milbank/Ward/Pickstock, Introduction, 3. Methodologisch bemerkenswert ist die Konsequenz für die wissenschaftlichen Disziplinen: „Participation, however, refuses any reserve of created territory, while allowing finite things their own integrity. Underpinning the present essays, therefore, is the idea that every discipline must be framed by a theological perspective; otherwise these disciplines will define a zone apart from God, grounded literally in nothing.“ In Milbank/ Ward/Pickstock, Introduction, 3. 32 Ward, Graham, Cities of God, Radical Orthodoxy, London-New York 2000, 1. 33 Ward, Cities of God, 2. 34 Vgl. Ward, Cities of God, 2.23. 35 Ward, Cities of God, 4. 36 Vgl. Ward, Cities of God, 3 f. „It is a text written by all those who walk down its streets […] and, more generally, impact upon its mapped out body.“ In Ward, Cities of God, 4. 37 Ward, Cities of God, 17.

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Ward beginnt seine eigene Annäherung mit dem Bericht Faith in the City von 198538, der eine Verpflichtung der Stadt gegenüber postuliert, aber: „it did not provide the theology it called for“39. Damit tritt Ward einen Schritt zurück. Er geht die Entwicklung historisch ab, konstatiert, dass die Bibel ein uneinheitliches Bild ,der Stadt‘ liefert, und er unterscheidet drei Epochen ,der Stadt‘: die erste der frühen Renaissance, die zweite der industriellen Revolution, die dritte der „Corporate-Monopoly Capitalist City“, in der Markt und Konsum die Stadt bestimmen und der Glaube privatisiert wird. Ward kommt zu dem Schluss: It was in this age that today’s cities took shape, cities of eternal aspiration which reflected the new confidence in human beings being able to ‘to become what we will’.40

Auch die theologische Entwicklung wird von Ward untersucht. Er analysiert Entwürfe von John S. Dunne, Harvey Cox, Paolo Soleri und Jacques Ellul, alle vier scheitern daran, dass sie die entscheidende und ordnende Grundmetapher nicht beachten: „All of the responses fail to take account of gendered corporeality: of sexual differences and the performance of these differences in civic culture.“41 Damit wird es der Städteplanung unmöglich zu sehen, wer die Marginalisierten in der Stadt sind und es wird einer optimistischen Sicht, die der Bestätigung mangelt, das Wort geredet.42 Wir aber leben in einer vierten Epoche: Cities have gone into what is technically termed ‘overurbanisation’ or ‘overshoot’ – that is, cities can no longer provide sufficient job opportunities, education, welfare or basic public services for their increasing populations.43

Diese vierte Epoche ist die der „Cities of endless desire“, deren Kern ,Simulacra‘ ist, beeinflusst von drei Faktoren: These factors are: the introduction of flexible accumulative or late-capitalism or the onset of post-Fordism; the demise of urban planning in the wake of the sudden mobility of land-use and the dis- and relocation in a post-industrial context; and the new order of simulation in which the proximity of production to reproduction becomes so pronounced the real vanishes behind the sign […].44 38 Im Original lautet der Titel: Faith in the City. A Call for Action by Church and Nation. The Report of the Archbishop of Canterbury’s Commission on Urban Priority Areas. Siehe http://www. churchofengland.org/our-views/home-and-community-affairs/community-urban-affairs/ur ban-affairs/faith-in-the-city.aspx (abgerufen am 6. 6. 2014). 39 Ward, Cities of God, 27. 40 Ward, Cities of God, 38. Vgl. Ward, Cities of God, 34 ff. 41 Ward, Cities of God, 50. 42 Vgl. Ward, Cities of God, 50. 43 Ward, Cities of God, 51. 44 Ward, Cities of God, 53 f.

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Diese Faktoren schaffen eine neue Stadt: „In the cities of eternal aspiration Culture attempted to imitate or translate Nature. In the cities of endless desire Culture imitates Culture.“45 Nominalismus wird zum Ideal, die Stadt wird „a city of profound godlessness; a city wedded to the ruthless pursuit of the present“46. Diese Entwicklung schränkt notwendigerweise den Raum der Kirche ein, sie fordert neue Antworten, die aber nicht von innerhalb des Postmodernismus kommen können.47 Der Glaube muss sich als von außerhalb kommend bewähren und er ruht auf drei Voraussetzungen: „the belief in authority; the belief in foundational, demonstrable surety than can be atomistically accounted for; the belief in the transparency of representation“48. Für Ward bleibt eine externe Legitimation des Glaubens unerlässlich und er umreißt seine eigene Zielsetzung wie folgt: Eine christliche Antwort muss eine Partizipation stark machen, die auf analogischen Relationen beruht. Dem Körper kommt dabei eine Schlüsselstelle zu, gerade im Zusammenspiel mit der Tradition. Denn diese spielt das Stichwort der Inkarnation ein, erinnert daran, dass Begehren weit mehr als Lust ist, die in unserer Zeit nie befriedigt werden kann. Christliches Begehren geht einer Erfüllung entgegen, diese Bewegung beginnt lokal und weitet sich dann ins kosmologische aus.49 Zunächst wendet sich Ward der Partizipation, dem Körper und der Inkarnation zu, nimmt Ausgangspunkt in den Einsetzungsworten, ,Dies ist mein Leib‘, und fragt, wie auf diesem Hintergrund ,Körper‘ zu verstehen ist. Er lässt sich von Gregorius von Nyssa inspirieren, so geht es nicht um das „object of the moment, but the skopos“50, also um Einsicht in die Totalität der Möglichkeiten und „accordance with the telos of divine blessedness which animates, maintains and perfects creation“51. Ward führt weiter aus: „This is the ontological scandal announced by the Eucharistic phrase – bodies are never simply there (or here).“52 Das ist ,transcorporeality‘: „The body is fractured endlessly, by the Spirit, and yet also, simultaneously, gathered into the

45 Ward, Cities of God, 54. 46 Ward, Cities of God, 61. 47 Vgl. Ward, Cities of God, 61 f.68 ff. Zur römisch-katholischen, zur evangelikalen/pfingstlerischen Antwort und zu Antworten eines ,postmodernen neo-darwinistischen Theismus‘ und einer ,liberal-humanistischen Annäherung‘ schreibt Ward: „Each of them are responses from within postmodernism: atomistic, individualistic, neo-tribal fortress faiths, generating virtual realities of their own. […] They do not weave today’s urban culture into the fabric of Christian tradition, a tradition that can offer a critical perspective […].“ In Ward, Cities of God, 70. 48 Ward, Cities of God, 72 f. 49 Vgl. Ward, Cities of God, 75 ff. 50 Ward, Cities of God, 90. 51 Ward, Cities of God, 90. 52 Ward, Cities of God, 91.

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unity of the Word and the unity of the Word with the triune God […].“53 Schlussendlich: While refusing the full, self-realised presence of the body, we must also refuse its endless dissemination. With transcorporeality […] the body does not dissolve or absolve, it expands en Christo.54

Schließlich tritt die Kirche an die Stelle des Körpers: The body of Christ crucified and risen, gives birth to the ecclesial corpus, to the history and transformations of that ecclesial body, and each of these bodies can only materialise in, through and with language.55

Als vorläufige Konklusion und weiterer Ausgangspunkt bleibt stehen: The body of Jesus Christ, the body of God, is permeable, transcorporeal, transpositional. Within it all other bodies are situated and given their significance. We are all permeable, transcorporeal and transpositional.56

Gerade im Geschehen des Abendmahls gründet Ward seinen Gedanken der „Church as the erotic community“, als Gegenpol zum Cyberspace, „the realisation of the postmodern sublime: surrender to the flux“57. Ausgehend von einer Sequenz der Abendmahlsliturgie setzt Ward das Verhältnis von Präsens und Präsenz als entscheidend,58 er wendet sich wieder Augustin zu: Augustine’s understanding of time is essential here: the present is not a distinct entity. […] In modernity time is an endless series of distinctive nows, nows which because they are valued as such have to be grasped as such in order to get the most out of them.59

Und weiter: the eucharist participates in a temporal plenitude that gathers up and rehearses the past, while drawing upon the futural expectations and significations of the act in the present.60 53 54 55 56 57 58

Ward, Cities of God, 92. Ward, Cities of God, 95. Ward, Cities of God, 110. Ward, Cities of God, 113. Ward, Cities of God, 149. Vgl. Ward, Cities of God, 152. Hier schreibt er: „The priest holds the wafer over the chalice of wine and breaks it into two saying: ‘We break this bread to share in the Body of Christ.’ The congregation responds with: ‘Though we are many we are one body because we all share in one bread.’“ 59 Ward, Cities of God, 170. Vgl. Ward, Cities of God, 90.157 ff. 60 Ward, Cities of God, 171. Vgl. Ward, Cities of God, 157.159.164–169.

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Diesen Aspekt der Partizipation leitet Ward von Augustins Term des appetitus ab, der es, mit Hintergrund in den innertrinitarischen Beziehungen, vermeidet, den Anderen zum Objekt zu machen. Die Andere kann vielmehr als Geschenk – und nicht zur Befriedigung eines Mangels – angenommen werden,61 „because the other is closer to me than I am to myself“62. Noch grundsätzlicher: „our bodies occupy a space in Christ’s body“63. Als institutionalisierte Größe eröffnet die Kirche ein geschlossenes System, das an gewisse rationale Voraussetzungen gebunden ist, die Kirche öffnet einen liturgischen Raum:64 Within these places, organized by them, desire for God and God’s desire for us opens a liturgical space which distends over all the other bodies which participate and produce it. The body of Christ desiring its consummation opens itself to what is outside the institutional Church […].65

Es ist eine ,theology of desire‘ gefordert, die auf diesem doppelten Begehren aufbaut, und die die sexuelle, ontologische und trinitarische Differenz mitbedenkt.66 Sein eigenes Modell beschreibt Ward wie folgt: What is loved in love is difference. Such love of difference […] operates according the economies of both kenotic and erotic desire. In fact, agape and eros can be seen as two perspectives within in the same dynamic […]. They are both creaturely names given to processes that enfold creaturely existence, and therefore, exceed our ability to grasp their essence and operations such that distinctions can be clearly drawn with respect to divine operations.67

Diese (relationalen) Differenzen finden sich in der Kirche wieder. Be- und gegründet im Abendmahl vergewissern sie die Kirche, dass sie sich für Beziehungen der Menschen untereinander einsetzen muss.68 61 62 63 64

65 66

67 68

Vgl. Ward, Cities of God, 171–174. Ward, Cities of God, 173. Ward, Cities of God, 173. Vgl. Ward, Cities of God, 174–181. Ward setzt sich an dieser Stelle kritisch mit Henri Lefebvre und Michel de Certeau auseinander: „Liturgical activity opens up spatial possibilities, spatial complexities. Space, while not separating itself from dualistically opposing place, is no longer co-extensive with it; it is excessive to location. In fact, as Certeau himself states: ‘space (here) is a practised place’ […], and this place escapes all rationalist topologies.“ In Ward, Cities of God, 177. Ward, Cities of God, 180. Vgl. Ward, Cities of God, 187 f. Bemerkenswert ist, dass die Theologie durch die sexuelle Differenz an die Analogie gebunden wird: „Sexual difference, in its endorsement of both separation and relation, constitutes human creatures as imago dei. In attraction-in-difference is reflected the difference-in-relation in the trinitarian God. In the character of that reflection lies a whole doctrine of analogy. There can be no analogical world-view without difference. It is a world-view constituted from above […].“ In Ward, Cities of God, 188. Ward, Cities of God, 201. Vgl. Ward, Cities of God, 202.

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Wie aber kann sich dies in der Stadt von heute bewähren, im Alltag, der nach Ward von drei Spielarten des Übermenschen in der Prägung Friedrich Nietzsches gekennzeichnet ist, vom Vampir, vom Cyborg/Klon und vom Engel? Diese kulturellen Metaphern sind ,neue städtische Mythologien‘:69 In the culture of the death of God, we replaced him. […] all three […] enjoin us to celebrate the ambivalence itself. They are upbeat and doxological in their acts of persuasion. To return to Lefebvre, the ambivalent, it seems, offers new spacing. It offers space for the sacral.70

Dennoch bleiben, theologisch gesehen, die Diskurse über diese ,Mythologien‘ ohne Inhalt, sind sie auch mit theologischem Vokabular gefüllt, bleiben sie virtuell: The theological rhetoric is evacuated of the analogical vision that provides, most profoundly, mysteriously and concretely, a theological account of creation and human being as part of that creation.71

Bewähren kann sich die Stadt nur als ,Erlösung vom cyberspace‘. Die Stadt Gottes, verstanden als Gottes Geschenk, so wusste Augustin, aber das vergaß Martin Luther, macht die säkulare Stadt erst möglich. Außerdem: Augustin ist, aufgrund seiner historischen Situation, die unserer heutigen ähnelt, so Ward in einer Fußnote, wieder aktuell.72 In Folge dessen nimmt er Augustins Konzeption von der himmlischen und irdischen Stadt auf. Die Erste wird von der amor dei, die Zweite von der amor sui gesteuert, wobei beide immer als permixtum vorliegen. Dies ist nicht dualistisch aufzufassen, in beiden Städten ist Gott am Werk. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer analogischen Sicht, die Relation sichert.73 Mit der Betonung einer analogischen Sichtweise ist die Idee eines Pluralismus, als westlich-kulturelle und kolonialisierende Idee, „that recognised different faiths as species of the one generic religion“74, abzulehnen. Es ist nur ein Miteinander von verschiedenen analogischen Anschauungen möglich: Other accounts of the relationship between the divine, the human and the created order […] will construct their own analogical world-views. […] Because of the nature of analogical world-views, there can be no tight […] boundaries around any of them.75

Damit hat im Miteinander der Stadt christliche Hegemonie keinen Platz, es braucht Aufmerksamkeit für postkoloniale Kritik, wie sie Homi K. Bhabhas 69 70 71 72 73 74 75

Vgl. Ward, Cities of God, 205 f.212–219.223. Ward, Cities of God, 223. Ward, Cities of God, 224. Vgl. Ward, Cities of God, 226 f.227, Fußnote 2. Vgl. Ward, Cities of God, 227 ff. Ward, Cities of God, 237. Ward, Cities of God, 257.

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Orte des ,in-between‘ präsentieren. Das letzte Urteil ist Sache Gottes76 – aber es geht hier und heute um „the recognition that I only belong to myself insofar as I belong to everyone else“77.

4.2.2 Kritische Rückfragen und Impulse zur Weiterarbeit Die Kirche und die Stadt als Beziehungsgeflechte, Körper, die allesamt – durch Begehren – in Verbindung zu- und miteinander treten, inmitten verschiedener kultureller Tropen und Metaphern. Dabei fungiert der geschlechtlich bestimmte Körper als ordnende Grundmetapher dieser Geflechte. Diese Körper sind recht verstanden, wenn sie sich von dem gebrochenen Körper Jesu leiten lassen, die Beziehungen zwischen diesen sind recht verstanden, wenn sie sich aus den innertrinitarischen Beziehungen und dem Begehren Gottes ableiten lassen, denn es zeigt sich, dass alle diese Körper am gebrochenen Körper Jesu, der sich über sie legt, Anteil haben, dass sie auf diese Weise Kirche und Stadt formen. Dieser Versuch einer verkürzenden Gesamtschau zeigt zunächst die Attraktivität von Graham Wards Band, nämlich eine stimmige Geschlossenheit, die eine Vielzahl von unterschiedlichsten Diskursen aus verschiedenen Disziplinen berücksichtigt – Theologie, Theorien des Raumes und des Ortes, Liturgie, Film, Architektur, allesamt sind in der Stadt der Gegenwart virulent. Ward weitet den Fokus, nimmt mit dem Begriff der Partizipation, dem Schlüsselbegriff der Analogie und der radikalen Orthodoxie, einen Begriff auf, der in den Umbrüchen der heutigen Städte Widerhall findet. Gleichwohl: Die Frage nach Subjekt, Perspektive, Erfahrung und Deutung scheint bei Ward in der Schwebe. – Wer handelt, erfährt sich, andere oder etwas, auf wessen Erfahrungen – sprachliche, vorsprachliche, reflektierte, lebensweltliche – wird Bezug genommen?78 Unbestreitbar sind Wards Besprechungen und Betrachtungen theoretisch gesichert. Dennoch laufen sie Gefahr, abstrakt zu bleiben, zur Illustration einer vorweg aufgestellten Theorie zu werden. Ward beschreibt zum Beispiel

76 Vgl. Ward, Cities of God, 257 f. 77 Ward, Cities of God, 260. 78 Es kann nicht darum gehen, Wards Ablehnung der Phänomenologie in ihrer Breite zu begegnen, seine Ablehnung gründet in der Abwehr eines Perspektivismus und in der Annahme eines starken Subjekts. In aller fraglichen Kürze sei auf Bernhard Waldenfels verwiesen, der bemerkt: „[…] eine intentional und differentiell angelegte Erfahrung vollführt eine Vielzahl horizontaler und vertikaler Vermittlungen, ohne sich auf eine fertige Vernunft bzw. auf ein steuerndes Subjekt zu verlassen.“ In: Waldenfels, Bernhard, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main 42012, 36.

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die Diskurse über den Engel als inhaltsleer, aber wer spricht denn? Würden die Sprechenden oder die Besprochenen dem Urteil ,inhaltsleer‘ zustimmen?79 Dies fällt ebenfalls im Zusammenhang mit der Frage nach der multireligiösen, multikulturellen Stadt auf, deren Herausforderungen Ward auffällig wenig, stärker erst zum Ende hin, behandelt. Die Theologie bekommt die Aufgabe zugeschrieben, eine analogische Sicht auf die Welt stark zu machen.80 Aber wer sind die Subjekte dieser Theologie und wie gestaltet sich deren Alltag? Ward verweist im Verlauf seines Bandes mehrfach auf den Alltag, und schreibt: The real questions about the relation of different faith communities and traditions only emerge as we learn to live together without fear. We cannot presuppose the outcome, as liberal Christian pluralism did in their neo-Kantian espousal of different symbolic takes on the one ultimate reality. We cannot solve the complexity of the relation before the real questions have emerged. And the real questions only emerge in the practices of our everyday living alongside each other.81

Hier sind also die Subjekte selbst gefragt, denn Ward gebraucht den Begriff des Netzwerks, in dem er – in der Stadt – zusammen mit anderen lebt. Müssen aber die Subjekte nicht mehr als Repräsentantinnen und Repräsentanten einer bestimmten religiös-analogischen Sicht auf die Welt sein, mehr als ein Kollektiv von Teilnehmerinnen und Teilnehmern einer liturgischen Sequenz, die durch ihre Teilnahme ihr Einverständnis in die Deutung der Sequenz, die von ,oben‘ kommt, geben?82 Es scheint ertragreicher, die Spur zu verfolgen, die Ward selbst legt, wenn er der Liturgie zugesteht, einen Raum innerhalb der institutionalisierten Kirche zu schaffen, der die institutionalisierte Kirche zu öffnen vermag, wenn er feststellt, dass Ambivalenzen Räume öffnen – hier werden die Unterschiede zur eigenen Studie handfest greifbar.83 Eingangs wurde die Frage gestellt, ob sich an Wards Entwurf Kriterien und Impulse sowohl für die weitere Analyse anderer Entwürfe zu Theologie und Stadt als auch für die Arbeit mit der eigenen Untersuchung auffinden lassen. Als Aufgabe bleibt stehen, dass die Fragen nach Subjekt, Perspektive, Erfahrung und Deutung in der weiteren Analyse und in der eigenen Untersuchung reflektiert und bearbeitet werden müssen, dies berührt in der Folge Fragen der (theologischen) Normativität. Impulse gewinnen die folgende Analyse und die eigene Arbeit aus Wards 79 Vgl. Ward, Graham, Cities of God, Radical-Orthodoxy, London-New York 2000, 212 ff.224. 80 Vgl. Ward, Cities of God, 256. 81 Ward, Cities of God, 258. Vgl. Ward, Cities of God, 3.53 f. Ward postuliert, dass der liberale Pluralismus von einer ,generischen Religion‘ hinter allen Religionen ausgeht, diskutiert wird diese Sicht aber nicht. Vgl. Ward, Cities of God, 237. 82 Vgl. Ward, Cities of God, 153.196.257. 83 Vgl. Ward, Cities of God, 180.223. Vgl. 3.2.1; 3.2.4.

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Betonung der Offenheit kulturellen Phänomenen gegenüber, aus seiner Unterstreichung von Partizipation und Gemeinschaft und aus seinen Reflexionen über Grenzen und Offenheit dieser Gemeinschaft.

4.3 Harvey Cox: Stadt ohne Gott? 4.3.1 Zum Ansatz Harvey Cox legt 1965 sein Buch The Secular City. Secularization and Urbanization im Kontext der ersten theologischen Rezeption von Säkularisierungstheorien (Friedrich Gogarten) vor. Mit dem Titel sind die beiden programmatischen Worte benannt, auf denen Cox’ Studie ruht: Säkularisierung und Urbanisierung. Das Kennzeichen seines Konzeptes der Säkularisierung ist Befreiung: „Alle geschlossenen Weltanschauungen werden gesprengt, alle supranaturalen Mythen und geheiligten Symbole zerbrechen.“84 Theologisch wird diese Sicht mit Dietrich Bonhoeffers Diktum vom „Mündigwerden des Menschen“85 gestützt, das „Zeitalter der völligen ,Religionslosigkeit‘“86 ist im Anbruch: „Für immer weniger Menschen […] ist sie [sc. die Religion] ein schlüssiges und beherrschendes System persönlicher, allgemeiner Werte und Wahrheiten.“87 Mit Bonhoeffer ist „von Gott säkular (,weltlich‘) zu reden“88. Urbanisierung ist der Kontext, „in dem sich diese Mündigwerdung vollzieht“89. Cox gibt folgende weiterführende Definition: Urbanisierung bezeichnet die Struktur eines Gemeinschaftslebens, für das Widersprüchlichkeit und Unterschiedlichkeit der Traditionen wesentlich sind. Sie bezeichnet eine Unpersönlichkeit, in dem sich die funktionalen Beziehungen vervielfachen. […] Zentrum des urbanen Lebens ist menschliche Kontrolle, rationale Planung, bürokratische Organisation, und dieses Zentrum […] ist allgegenwärtig.90

In der „Technopolis“, der letzten Entwicklungsstufe menschlicher Gesellschaftsform nach Stamm und Stadt, denen je „verschiedene religiöse oder 84 Cox, Harvey, Stadt ohne Gott?, ins Deutsche übertragen von Werner Simpfendörfer, StuttgartBerlin 51969, 11. 85 Cox, Stadt ohne Gott, 11. 86 Cox, Stadt ohne Gott, 13. 87 Cox, Stadt ohne Gott, 13. 88 Cox, Stadt ohne Gott, 13. 89 Cox, Stadt ohne Gott, 14. 90 Cox, Stadt ohne Gott, 14.

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glaubensmäßige Systeme“91 zugeordnet werden, entfaltet sich das menschliche Leben – kontrolliert und rationalisiert. Cox führt für sein Verständnis von Säkularisierung als Befreiung biblische Begründungen an, bezieht sich auf Gogarten, der Säkularisierung, so Cox, als „legitime Konsequenz des Einbruchs des biblischen Glaubens in der Geschichte“92 bezeichnet hat. Die drei biblischen Konzepte Schöpfung (Mensch vs. Natur), Exodus (der Mensch im sozialen und politischen Zusammenhang) und Sinai (keine Anbetung des Selbstgeschaffenen) exemplifizieren die biblische Grundlegung der Säkularisierung.93 Die Bilder der Schalttafel und des Autobahnkleeblatts beschreiben nach Cox die soziale Gestalt der Stadt, sie stehen als Illustration für Anonymität und Mobilität, die diese Gestalt maßgeblich beeinflussen. Theologisch erinnert Cox daran, dass die Anonymität Privatsphäre sichert, sich daher die Möglichkeit ergibt, kommunikativ vernetzt wählen zu können, also Anonymität für die Freiheit des Evangeliums steht.94 Desgleichen wird der Gedanke der Mobilität biblisch rückgebunden, „die ganze hebräische Gottesanschauung [entstand] im sozialen Zusammenhang eines Nomadenvolkes“95. Diese Linie lässt sich bis ins Christentum ausziehen: „Der Glaube der alten Kirche an die Himmelfahrt ist als die Weigerung zu interpretieren, den Herrn örtlich oder räumlich zu binden.“96 Den Stil der Stadt macht Cox an ihrem Pragmatismus und ihrer Profanität fest. Ausgangspunkt ist „das Interesse des säkularen Menschen an der Frage, ob eine Sache funktioniert“97 und „die absolut irdische Orientierung des säkularen Menschen“98. Biblisch wird Letzteres mittels der verantwortlichen Rolle des Menschen in der Schöpfung (Gen 2,19) gedeutet. Der Mensch ist Mitschöpfer dadurch, dass er den Tieren ihre Namen gibt, und dieser Vorgang der Ordnung und (Mit-)Schöpfung dauert noch heute an.99 Cox zeichnet auf wenigen Seiten kompakte Bilder von Neu-Delhi, Rom, Prag und Boston, geleitet von der Maxime, die Unterschiede zwischen den Städten anerkennen zu wollen. Es ist sein Unterfangen, Entwicklungen in der Welt stellvertretend an diesen Metropolen aufzuzeigen.100

91 92 93 94 95 96 97 98 99 100

Cox, Stadt ohne Gott, 18. Cox, Stadt ohne Gott, 27. Vgl. Cox, Stadt ohne Gott, 34–44. Vgl. Cox, Stadt ohne Gott, 50.52 f.59 f.65 f. Cox, Stadt ohne Gott, 68. Cox, Stadt ohne Gott, 71. Cox, Stadt ohne Gott, 73. Cox, Stadt ohne Gott, 74. Vgl. Cox, Stadt ohne Gott, 87.90. Vgl. Cox, Stadt ohne Gott, 99–116.

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Auf dem Hintergrund seiner Ausführungen scheint es folgerichtig, dass Theologie in der Stadt „eine Theologie des sozialen Wandels“101 sein muss. Die Kirche „muß sich zerbrechen lassen, muß ständig durch Gottes fortwährendes Handeln umgestaltet werden“102. Cox entwirft die „Anatomie einer Revolutionstheologie“103. Deren entscheidendes Merkmal ist es, den Begriff der Katastrophe so zu begreifen, dass diese verstanden wird als „das soziale Ereignis, welches einen Wandel bei denen möglich macht, die selbst nicht in der Lage sind, sich zu wandeln“104. Die säkulare Stadt bricht als Katastrophe herein, fordert neue und andere Antworten und erinnert zugleich daran, dass dieser Prozess nie abgeschlossen ist.105 In diesem Kontext hat die Kirche, dem Vorbild Jesu Christi entsprechend, eine dreifache Verantwortung: eine verkündigende (Kerygma), eine versöhnende (Diakonie) und eine vergemeinschaftende (Koinonia). Die Kirche verkündigt den Ruf in die Freiheit. Gleichzeitig mahnt sie, in der Katastrophe, Verantwortung für die Stadt zu übernehmen.106 Mit Gerhard Ebeling werden die Kennzeichen der Kirche über CA VII hinausgehend bestimmt, Kirche erscheint, „wo ihre Funktionen (Kerygma, Diakonia, Koinonia) zutage treten“107. Der Brennpunkt dieser drei Verantwortungen ist, gemäß Jesu Christi Vorbild, der Exorzismus.108 Dieser ist Befreiung dazu, die „Welt in ihrer Tatsächlichkeit ins Auge zu fassen.“109 Die Kirche muss Verbündete finden und sehen, dass die Stadt differenzierte, spezialisierte, flexible und verfügbare Formen kirchlichen Lebens fordert.110 Zum Ende hin wendet sich Cox wieder Bonhoeffer zu, will die Forderung nach der ,säkularen Rede‘ von Gott einlösen. Bonhoeffer, so Cox, gibt selbst eine Vorgehensweise an, dieser Herausforderung zu begegnen. Der Gebrauch des Wortes ,Gott‘ wird, biblisch begründet, als soziologische, politische und theologische Namensgebung verstanden.111 Soziologisch muss die Namensgebung, weil sie der, durch historischen Wandel und soziologische Differenzierung bedingten, Mehrdeutigkeit des Wortes ,Gott‘ ausgesetzt ist, jenseits von erwarteten und zugeschriebenen Rollen geschehen.112 Zudem muss die Kirche, durch ihre Vertreter und Ver101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112

Cox, Stadt ohne Gott, 119. Cox, Stadt ohne Gott, 119. Cox, Stadt ohne Gott, 128. Cox, Stadt ohne Gott, 129. Vgl. Cox, Stadt ohne Gott, 136 f. Vgl. Cox, Stadt ohne Gott, 142–147. Cox, Stadt ohne Gott, 162. Vgl. Cox, Stadt ohne Gott, 166. Cox, Stadt ohne Gott, 171. Vgl. Cox, Stadt ohne Gott, 172.175. Vgl. Cox, Stadt ohne Gott, 259 f. Vgl. Cox, Stadt ohne Gott, 264 f.

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treterinnen, „damit Schluß machen, kulturelle Rollen zu spielen“113 und die „subkulturelle Enklave“114 verlassen. Ist die Kirche von diesen Rollen befreit, kann sie sich reflexiv – auch im Sinne von politisch – in die Gesellschaft einbringen, kann die Kirche dem „Nächsten die Möglichkeit eröffnen, der verantwortliche, mündig Handelnde zu sein“115. Auf diese Weise kann die Kirche dann „den Menschen als seinen [sc. Gottes] Mitarbeiter anerkennen, als den, der mit der Aufgabe betraut ist, Sinn und Ordnung in die menschliche Geschichte zu bringen“116. Dieses Mündigwerden des Menschen betrifft das theologische Reden von Gott: „Der Mensch muß, um frei und verantwortlich zu sein – und das heißt Mensch sein –, dem antworten, das nicht Mensch ist.“117 4.3.2 Kritische Rückfragen und Impulse zur Weiterarbeit Dass Harvey Cox’ Buch als „Anstoß und anstößig“ (Klaus Fitschen) wahrgenommen wurde, vermag, auch mehr als fünfzig Jahre nach dem Erscheinen, nicht zu überraschen. Die Herausforderungen der Stadt anzugehen, Kirche und Theologie etwas abzufordern, aber auch etwas zuzutrauen, Kirche als Bündnispartnerin für andere soziale Bewegungen anzuempfehlen, den Menschen als Mit-Schöpfer zu sehen, all dies hat aufweckenden Charakter, obwohl Details in der Analyse und in den Schlussfolgerungen heute befremdlich wirken. Es gilt sich vor ahistorischen Urteilen zu hüten. Generell betrifft das die Rezeption von theologischen Entwürfen, zum Beispiel bei Dietrich Bonhoeffer. In einem Gespräch mit dem norwegischen Theologen Carl Petter Opsahl hat Cox selbst ausgeführt: Es sieht so aus, als ob Bonhoeffer wirklich glaubte, dass wir einer post-religiösen Zeit entgegengehen, einer post-religiösen Ära, sodass wir einer nicht-religiösen Interpretation des Evangeliums bedürften. So ist es nicht gekommen. […] Ich wäre wohl heute vorsichtig, diesem Gedanken folgend zu schreiben.118

Auf dem Hintergrund des eigenen Interesses an Gelebter Religion scheint es geboten, Cox’ Religionsbegriff zu problematisieren. Religion wird auf individuellem Niveau als „schlüssiges und beherrschendes System persönlicher,

113 114 115 116 117 118

Cox, Stadt ohne Gott, 267. Cox, Stadt ohne Gott, 267. Cox, Stadt ohne Gott, 274. Cox, Stadt ohne Gott, 275. Cox, Stadt ohne Gott, 278. Opsahl, Carl Petter, Byens teologi. Et møte med teologen og musikeren Harvey Cox, in: KiKul 109 (2004), 455–462, 458.

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allgemeiner Werte und Wahrheiten“119 begriffen, dies findet sich skaliert auf gesellschaftlicher Ebene wieder, wo Religion ein individübergreifendes, geschlossenes System darstellt, das sich streng auf die jeweilige Gemeinschaftsform, Cox nennt Stamm und Stadt, bezieht.120 Methodologisch ist diese Beobachtung wichtig, denn sie lässt schärfer sehen, dass bei Cox kaum Raum für empirisch oder lebensweltlich gewonnene Einsichten bleibt. Die – positiv zu würdigende – Darstellung der Metropolen der Welt, der deutliche Bezug auf biblische Konzeptionen und Beobachtungen zu Stil und sozialer Gestalt der Stadt engen, aufgrund ihrer Konzeptualisierungen, den Raum der Empirie und der Subjektorientierung schnell ein – dies ist auch im großen Teil der Streifzüge des urbanen Exorzismus deutlich.121 Dies geht einher mit einer weiteren Beobachtung: alles ist planbar. Cox führt aus: „Wie alles in der säkularen Stadt muß auch die Vielfalt geplant werden, oder sie entsteht gar nicht.“122 Doch in dieser Vielfalt wird der einzelne Mensch unsichtbar. Der Mensch aus Fleisch und Blut, auch in seinen Beziehungen und als Teil einer gesellschaftlichen Bewegung, verschwindet – obwohl als „Kommunikator“123 bezeichnet – hinter der Schalttafel. Der Mensch agiert allein, kennt keine Geheimnisse mehr, ist an religiösen Fragen sozusagen nicht mehr interessiert, und das, obwohl Cox eine „Revolutionstheologie“ fordert.124 Eingedenk des Vorsatzes, keine ahistorischen Urteile zu fällen, bleibt dennoch die Frage, ob nicht Cox zwangsläufig zu dem Schluss kommen musste, „daß das Wort ,Gott‘ dem modernen säkularen Menschen fast nichts mehr sagt“125. Abschließend soll eine Leerstelle benannt werden, die für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung ist. Die Funktionen der Kirche werden von Cox mit folgenden Begriffen definiert: Kerygma, Diakonia und Koinonia.126 Keine dieser Funktionen aber bezieht Cox auf Gottesdienst und Liturgie. Er fragt nicht, wie die von ihm bestimmte kerygmatische, diakonische und vergemeinschaftende Funktion in einer Wechselwirkung zu den Gottesdiensten steht, die in der Kirche gefeiert werden. Hans-Richard Reuter macht darauf aufmerksam, dass die „Schwäche, verschiedene Handlungsfelder ohne Rücksicht auf ihren inneren Zusam119 Cox, Harvey, Stadt ohne Gott?, ins Deutsche übertragen von Werner Simpfendörfer, StuttgartBerlin 51969, 13. 120 Vgl. Cox, Stadt ohne Gott, 18. 121 Vgl. Cox, Stadt ohne Gott, 181–256. 122 Cox, Stadt ohne Gott, 99. Cox’ Sicht entspricht dem Ideal der zeitgleichen Städteplanung. Vgl. Gabrielsen, Guro Voss, Groruddalen; Oslos vakreste verkebyll? – problemrepresentasjoner og stedsforst elser i Groruddalssatsingen, Dissertation, The Oslo School of Architecture and Design, 2014, 79 ff. 123 Cox, Stadt ohne Gott, 52. 124 Vgl. Cox, Stadt ohne Gott, 53.76 f.128. 125 Cox, Stadt ohne Gott, 259. 126 Vgl. Cox, Stadt ohne Gott, 142.162.

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menhang nebeneinanderzustellen“127, charakteristisch für die tria-muneraLehre verbleibt und angegangen werden muss, und zwar so, dass „die ekklesialen Grundvollzüge von vornherein unter dem Aspekt ihres Handlungscharakters zu bestimmen“128 sind, wobei „zwischen darstellendem und wirksamen Handeln […] zu unterscheiden ist“129. Hier will die vorliegende Studie produktiv anknüpfen. Ein rückblickendes Intermezzo als Ausblick und Überleitung: Bei Cox dominieren Ideen und Begriffe wie Befreiung, Planung, Kontrolle, Verantwortung und Freiheit und die „Technopolis“ ist die letzte der gesellschaftlichen Entwicklungsstufen. Es kommt darauf an, dass eine Sache funktioniert und der Mensch ist an Geheimnissen und an religiösen Fragen im Grunde nicht mehr interessiert. Schon 1928, fast vierzig Jahre früher, beschäftigt sich Paul Tillich mit der technischen Stadt als Symbol. Er unterscheidet Sache, als die Frage nach dem Zweck, und Symbol, als Frage nach dem Sein, nach dem Sinn. Tillich fragt, „inwiefern die technische Stadt Symbol ist für unsere Seelenlage, für unser Lebensgefühl, für unseren Gestaltungswillen“130. Ausgehend davon, dass das Sein in der Welt dem Menschen unheimlich ist, deutet er das Haus und, in dessen Verlängerung, die Stadt als Möglichkeiten, diese Unheimlichkeit zu bändigen. – Welterkennen ist immer auch Heimisch-Werden in der Welt, und die Geschichte der Wissenschaft ist auch eine Geschichte des Sieges über das Unheimliche. Zur Vollendung kommt dieser Sieg aber erst in der Technik.131

Die technische Stadt wird so zum „Symbol von Entdämonisierung der Welt“132. Auch Tillich kann dies mit Begriffen wie ,Befreiung‘ und ,Erfüllung von Utopie‘ beschreiben, aber anders als Cox bleibt er nicht dabei stehen, sondern konstatiert ebenso: Das technische Haus, die technische Stadt bleiben fremd. Dem Ding ist sein Eigenleben genommen, und darum kann kein Eros es verbinden mit unserem Eigenleben. 127 Reuter, Hans-Richard, Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht, in: Reuter, Hans-Richard, Botschaft und Ordnung. Beiträge zur Kirchentheorie, Öffentliche Theologie 22, Leipzig 2009, 13–55, 42. 128 Reuter, Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht, 42. 129 Reuter, Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht, 42. Denn: „Im darstellenden Handeln drückt sich das Selbst- und Weltverständnis einer Gemeinschaft aus; Wirkhandlungen hingegen greifen durch effektive Mittelwahl Zwecke realisierend in die Wirklichkeit ein.“ In Reuter, Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht, 42. 130 Tillich, Paul, Die technische Stadt als Symbol, in: Tillich, Paul, Auf der Grenze. Aus dem Lebenswerk Paul Tillichs, Stuttgart 1962, 220–225, 220. Das Original erschien 1928 in: Dresdner Neueste Nachrichten, Nr. 115. 131 Tillich, Die technische Stadt als Symbol, 222. 132 Tillich, Die technische Stadt als Symbol, 223.

100 Der erste historisch-systematische Problemhorizont: Kultur (im Wandel) Es ist erstarrt, und es bringt uns zum Erstarren. Der Boden, die Verbindung mit der lebendigen Erde, ist genommen. […] Das Wasser ist in Röhren, das Feuer in Drähte gebannt. Die Tiere sind ausgeschlossen oder ihrer vitalen Kräfte beraubt. Bäume und Pflanzen sind eingeordnet in den technischen Zusammenhang […]. Die Fremdheit bleibt trotz aller Aneignung, und sie steigert sich ins Unüberwindliche, alles Beherrschende in der Großstadt. Mit der Fremdheit der technisierten Dingwelt aber erhebt sich eine neue Unheimlichkeit, ein Grauen vor der erstarrten Welt, die uns dient und die nicht reden kann als Lebendiges zu Lebendigem.133

Angesichts dessen stellt Tillich die Seinsfrage: „Wenn aber das Leben, unser ganzes Leben, im Dienste […] der technischen Stadt steht: wozu dann dieses Leben?“134 Ohne zu viel, gar ein ökologisches Bewusstsein, in diesen kleinen Text hineinlegen zu wollen, so lassen sich an dieser Stelle vielleicht doch Diskussionsstränge erkennen, die Seppo Kjellberg, etwa siebzig Jahre später, in seiner Urban Ecotheology bearbeitet.

4.4 Seppo Kjellberg: Urban Ecotheology 4.4.1 Zur Studie Der finnische Lutheraner Seppo Kjellberg gewinnt sein empirisches Material, indem er auf Dialogerfahrungen im Zusammenhang mit Stadtentwicklung zurückgreift, zum einen in vier verschiedenen finnischen Kommunen, zum anderen in der Kommune Tampere.135 Als theoretischen Ausgangspunkt bemüht er den Dualismus zwischen Anthropozentrismus und Ökozentrismus, der nach Kjellberg sowohl Christentum, Judentum und Islam zu eigen ist und den er in den Dialogen als Dualismus zwischen ,kosmologischem Holismus‘ und ,anthropologischer Tragfähigkeit‘ abgebildet findet.136 Auf dem Hintergrund dieser beiden Dualismen, Arbeiten Sallie McFagues und der Tatsache, dass die meisten Städte einem anthropozentrischen Wachstumsmuster folgen, fragt Kjellberg: „What would a Christian alternative to the anthropocentric city be like?“137 133 Tillich, Die technische Stadt als Symbol, 224. 134 Tillich, Die technische Stadt als Symbol, 225. 135 Dargestellt werden diese Dialoge nicht, ein Einblick findet sich hier: Kjellberg, Seppo, Urban Ecotheology, Utrecht 2000, 17.30.45–51. Kontext von Kjellbergs Studie ist ein interdisziplinäres Forschungsprojekt der Finnischen Akademie mit dem Titel The Ecological City – An Option for the Future (1993–1996). 136 Vgl. Kjellberg, Urban Ecotheology, 7. 137 Kjellberg, Urban Ecotheology, 11.

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Diese Frage ist nicht allein von der Theologie zu beantworten, daher wird zum Dialog geladen.138 Theoretisch verankert wird der Dialog in Entwürfen kontextueller Theologien (Tage Kurt n, Stephen B. Bevans, Leonardo Boff), in denen der Praxis Gewicht beigemessen wird: „The content of this action, the praxis, also alters the situation to be studied in the next round of this continuing study process.“139 Der Dialog wird außerdem durch die Korrelationsmethode (Paul Tillich, David Tracy), die ermöglicht, die Frage nach Universalismus und Kontext anzugehen, gesichert. Theologie kann sich so als „science of reconciliation“ bewähren: „In this context this means reconciling the Creation, including mankind, with its origin, the Creator. The common origin thus also suggests common goals, a meaning, or telos.“140 Dieses Unterfangen darf nicht abgleiten oder Realismus vermissen lassen: The aim is to find a new way to live together despite the differences, but also to find new solutions to the conflicts. Theology has a relevance here partly because it admits raadollisuus (a Finnish religious word that has been taken into secular use), which in this context means ‘the wretchedness, mortality, partiality and evil of all human life’. This protects a realism that is extremely necessary […].141

Daher müssen Dialoge beachtet werden, in denen nicht explizit theologische Werte oder Argumente auftauchen: They have an important role in revealing the ecological themes and values that are relevant for the local people, as well as in showing the kind of language that can be used in discussing the issues. The interrelatedness of the empirical studies, even if they are modest, with the theoretical constructs, is also a means of keeping raadollisuus – the mortality, partiality and evil of life – in mind.142

Der genannte Realismus betrifft außerdem die empirische Methode, zunächst auf der Ebene der Ethik: However, ethics cannot be calculated or simply decided about (by voting for instance). The very nature of morality implies that values are given and relatively stable. The reason people cannot simply choose values is because they already have values.143

138 139 140 141 142 143

Vgl. Kjellberg, Urban Ecotheology, 19 ff. Kjellberg, Urban Ecotheology, 21. Kjellberg, Urban Ecotheology, 26. Kjellberg, Urban Ecotheology, 27. Kjellberg, Urban Ecotheology, 31. Kjellberg, Urban Ecotheology, 33.

102 Der erste historisch-systematische Problemhorizont: Kultur (im Wandel) Für die vorliegende Studie ist die direkte Fortsetzung wichtig: Discourse ethics is not a matter of theoretically establishing norms from some basic principle, be it history, reason, utility or beauty. Nor is pragmatic applicability its basic principle. All of these principles can be used as arguments when discussing ethical views, but they are not the starting point of morals. The basic feature of morals is universality. That means, as Immanuel Kant pointed out, that you should wish your moral rules to be everyone’s moral rules. This holds true even though a plurality of moral value systems has replaced an integrated culture which has its self-evident morals.144

Sodann betrifft der angeführte Realismus die praktische Umsetzung: „Dialogues have to be arranged.“145 Und obschon mit dem Term des telos der Stadt eine Richtung angegeben wird, gilt: „Dialogues are processes that cannot be foreseen or directet.“146 Daher, beinahe als Erinnerung: „The results of the dialogue study […] tell about real people, their will to cooperate, and also their sense of raadollisuus.“147 Gleichzeitig gehört die andere Seite dazu: The difficulties which the people in Tampere had in listening to each other is a warning to anyone who takes part in a dialogue about ecological city planning. But it is also a warning to me trying to bring into the discussion theological interpretations which are barely present in people’s everyday reasoning.148

Zur Untersuchung und Analyse der Dialoge möchte Kjellberg ein Kriterium entwickeln, welchem Offenheit eignen muss, denn „the fact remains that theology works with religious ideas, sentiments and traditions that are present everywhere in human communities“149. Auf dem Hintergrund der neueren Theologiegeschichte – Kjellberg beschäftigt sich mit Harvey Cox und Boff – kann Kjellberg sein Kriterium vorstellen, das folgendes Aufgabenpaket aufgeschnürt bekommt: Such a criterion, a ‘value of values’ or a ‘correlation key’ would guide the formulation of detailed goals and values of urban ecotheology, so as to correlate it with an acceptable understanding of ecotheology […]. I have tried to give a name to such a common criterion based upon interpretations where: theological traditions and environmental contexts are correlated in a dialogue process; the perfection of the whole of Creation, and not only the salvation of spiritual humans, is the goal; Creation and reconciliation are seen as dynamics of a theocentric cosmology which has ‘deep ecology’ effects; the stewardship of man is seen in the context of the battle between good and evil under the conditions of Creation; the City is part of the Creation, and human beings are 144 145 146 147 148 149

Kjellberg, Urban Ecotheology, 33 f. Kjellberg, Urban Ecotheology, 39. Kjellberg, Urban Ecotheology, 41. Kjellberg, Urban Ecotheology, 52. Kjellberg, Urban Ecotheology, 52. Kjellberg, Urban Ecotheology, 55.

Seppo Kjellberg: Urban Ecotheology

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co–creators together with all other beings; a holistic understanding of reality serves the liberation of all oppressed beings. All of this is included in the criterion or principle which I call the process of emancipatory koinonia.150

Im Sinne seines Kriteriums macht Kjellberg den Lösungsansatz der ,totalen Ökonomie‘ stark, die Gemeinschaft, im Kleinen wie im Großen, sichert, die mit dem Wachstumsideal bricht und die sich des aristotelischen metron und Martin Luthers Warnung vor dem Mammon erinnert. Die gerechte und nachhaltige Stadt bildet sich pluralistisch aus, weiß um die Notwendigkeit des Dialogs und darum, dass Ökonomie dem globalen Kontext verpflichtet sein muss.151 Unter Rückgriff auf McFague findet das Bemühen Beifall, sowohl jedweden Dualismus zu destabilisieren als auch, mit der Idee vom Reiche Gottes, Verantwortung für den gesamten Kosmos zu behaupten. Inspiriert von ,Säkularisierungstheologien‘ (Friedrich Gogarten, Dietrich Bonhoeffer, Knud E. Løgstrup) postuliert Kjellberg, dass es nicht um inner-theologische Spitzfindigkeiten, sondern um Existenz und um Offenheit für aktuelle religiöse Traditionen geht.152 Spuren hin zu diesen Tendenzen und Entwicklungen findet Kjellberg in seinem eigenen Material: Already in the empirical studies the borderline in the basic dualism between speciesist anthropocentrism and holistic cosmocentrism was often crossed when the so-called ‘soft values’ concerning ethics, aesthetics or religion were discussed.153

Dabei ist es auf dem Gebiet der Ethik nicht möglich, ein moralisches System für das Ganze der Stadt zu konstruieren. Mit Blick auf sein Kriterium schreibt Kjellberg: Actually, I do not mean this criterion to be a universalistic principle, but rather an interpretation of the Christian ecotheological tradition and the basis for one contribution in a dialogue between various kinds of environmental theories.154

Dieses redet nicht einem ,moralischem Relativismus‘ das Wort, sondern es läuft auf einen ,kontextuellen Universalismus‘ zu: Being an autonomous member of this greater whole does not only mean individual freedom of choice, but also implies freedom of pluralistic behaviour for various ‘subcultures’ within the city totality, be they human, natural or a mixture.155

Für Religion ist dabei transzendente Realität entscheidend, eine aus dieser stammenden Heiligkeit, die verehrt werden soll und die Quelle der Hoffnung ist: 150 151 152 153 154 155

Kjellberg, Urban Ecotheology, 66 f. Vgl. Kjellberg, Urban Ecotheology, 92 f.97. Vgl. Kjellberg, Urban Ecotheology, 101–104. Kjellberg, Urban Ecotheology, 119. Kjellberg, Urban Ecotheology, 126. Kjellberg, Urban Ecotheology, 129.

104 Der erste historisch-systematische Problemhorizont: Kultur (im Wandel) Consequently, in urban theology this leads to a view of a life-liberating task, where emancipation is seen as a reconciliation with the original meaning of life. It means emancipation from deification of both nature and man.156

Wie ist aber dann das Kriterium auf die Frage nach der religiösen Existenz in der Stadt hin auszumünzen? Kjellberg antwortet so: It is an alternative where religion is taking seriously as the meaning of immanent life. A theology that uses everyday experiences only as a means to understanding the transcendent divine is blasphemous against the Creator. Local, personal, everyday life gains its sanctity from the fact that it is ultimately dependent upon what has been created.157

Die Stadt versteht Kjellberg als Prozess, als sich verändernd und pluralistisch, als Schöpfung Gottes als auch der Menschen, und das Ziel, durchaus inspiriert von panentheistischer Kosmologie, ist eine ökozentrische Stadt. Stabilität ist nicht mehr per se als Zielsetzung zu fordern, sondern als Rahmen für eine „emancipated instability, or better yet, for continuing creation“158. Dabei gibt, in der Situation des raadollisuus (hier verstanden als Luthers homo incurvatus in se), telos die Richtung – nicht das letzte Ziel – der Entwicklung an.159 Die biblischen Bilder und Augustins Konzeptionen müssen im Licht der ökologischen Herausforderungen neu durchdacht werden: […] the goal is a city which practices emancipatory koinonia in its total life process, where non-compulsive dialogue forms the basis of decision-making, where an interconnectedness of all beings is accepted, where maximal pluralism is promoted, where a moderate and just division of the total economic resources is the ideal, where shalom describes the contract between nature and man, and where aesthetics, ethics and religion are integrated in an existential understanding of what being a city implies.160

Lutherisch angereichert macht dieses Konzept deutlich, dass wir Berufene und ,co-creators‘ sind. Die Sicht, dass zur Autonomie der Andere, die Andere, dazugehört, wird bestärkt, und sie wird in den Bahnen einer vielfältigen, diskursiven und sich des raadollisuus bewussten Gemeinschaft gedacht.161

156 157 158 159 160 161

Kjellberg, Urban Ecotheology, 131. Kjellberg, Urban Ecotheology, 136. Kjellberg, Urban Ecotheology, 140. Vgl. Kjellberg, Urban Ecotheology, 139–141. Kjellberg, Urban Ecotheology, 142. Vgl. Kjellberg, Urban Ecotheology, 143.150–156.

Seppo Kjellberg: Urban Ecotheology

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4.4.2 Kritische Rückfragen und Impulse zur Weiterarbeit Seppo Kjellberg legt eine spannende und herausfordernde Studie vor, er wagt sich an ein großes und dringliches Thema heran. Seine empirische Annäherung, sein Rekurrieren auf Dialoge im Rahmen der Stadtentwicklung und seine methodischen Schritte geben der eigenen Studie wertvolle Impulse. Zunächst sollen einige Anfragen formuliert werden. Das Kriterium der emancipatory koinonia fußt auf vielen theoretischen Vorannahmen, sodass am Ende nicht mehr ersichtlich wird, wo das Kriterium und die Studie empirisch fundiert sind. Kjellberg bietet keine tieferen Einblicke in sein empirisches Material und seine Studie redet so schnell mit sich selbst, der Tradition und theologischen Entwürfen. Dies betrifft auf ähnliche Weise die Orientierung an diskursethischen Modellen; diese wirkt theoretisch solide, gleichzeitig aber artifiziell, als dass dieses diskursethische Ideal in der empirischen Praxis weder gewonnen noch aufgefunden werden kann. Kjellberg ist keineswegs blind für dieses Faktum: But this experience [sc. seine Dialoge] also tells us that there is still a long way to go before local dialogues can produce ethically-relevant results […].162

Die Anfrage ist, ob nicht die Dialoge, die geführt wurden, die beste Quelle für ethische Relevanz sind, in all ihrer Unzulänglichkeit mit Blick auf theoretische Ideale.163 Kjellberg spannt einen weiten Bogen, von lokalen Dialogen zu einer urbanen Ökotheologie. Dabei schreibt er der Theologie eine vielschichtige Rolle zu: Sie bringt Religion ins Spiel, als Stärke der Schwachen, als Wissen jenseits menschlicher Vernunft, als unlöslicher Teil menschlicher Existenz, als Garant für einen ,kontextuellen Universalismus‘. Auch werden die Kirche und Religionen, als soziale Bewegungen, für wichtig erachtet. Können aber die Dialoge all dies leisten? Kann (und will und soll) die (lokale) Kirche sich auf Städteplanung einlassen? Bedarf die Beobachtung, dass die Theologie nicht nachgefragt wird, sich selbst einladen muss, nicht gründlicherer Bearbeitung als festzustellen, dass diese in den interdisziplinären Rahmen der Städteplanung passt?164 Und: ähnliches gälte doch wohl für andere Religionen. Aber weder diese noch das Phänomen des religiösen Pluralismus kommen wirklich in den Blick, obwohl Kjellberg die Notwendigkeit des Pluralismus unterstreicht. Kjellberg nennt Respekt vor ,dem Heiligen‘ als typisches Merkmal von Religion, beschäftigt sich aber ausschließlich mit ökotheologischen Fragen innerhalb des 162 Kjellberg, Seppo, Urban Ecotheology, Utrecht 2000, 51. 163 Vgl., Kjellberg, Urban Ecotheology, 17.33.52.66 f.156 f. 164 Vgl. Kjellberg, Urban Ecotheology, 24 ff.

106 Der erste historisch-systematische Problemhorizont: Kultur (im Wandel) Christentums. Dies führt dazu, dass nicht-christliche religiöse Erfahrungen ausgeblendet und übersehen werden, dass anders gelagerte religiöse Erfahrungen gar nicht erst in den Blick kommen.165 Mehr grundsätzlich: stehen sich bei Kjellberg nicht letztlich ,Staatslutheraner‘ und ,die Säkularisierten‘ gegenüber, wobei die ersten ,die Religion‘ repräsentieren? Sodann aber verdienen Hinweise, die auf den ersten Blick lapidar wirken können, Beachtung. So etwa, dass Dialoge arrangiert werden müssen, dass sie nicht voraussagbar oder steuerbar sind, auch wenn mit dem Begriff des telos eine grundlegende Richtung angeben wird. Interessant ist dies, da auf diese Weise der Weg vom Dialog zur Entscheidung deutlich gemacht wird. Sind Dialoge direkt an Entscheidungen geknüpft, so Kjellberg, dominieren Information und Überredungskunst.166 Methodologisch bemerkenswert ist die Beschreibung seiner eigenen Rolle. Kjellberg konstatiert, dass er sich in den Dialogen ganz zurückgehalten hat, obwohl er im Sinne einer kontextuellen Theologie davon ausgeht, dass die Forschungspraxis das zu beforschende Feld verändert. Theologie, mit David Tracy, ist eben nicht nur Deutung von Tradition, sondern ist Teil der Situation, ist in sich Begegnung, ,Konversation‘ und zielt auf Veränderung.167 Von dort aus versteht sich die Betonung der Beiträge der nicht-theologischen Dialoge, denn diese gestatten einen Blick auf die vorfindlichen Werte und auf die Sprache, mit der diese Werte kommuniziert werden können. Dabei soll die Beobachtung des raadollisuus sowohl Öffnung als auch die Zielrichtung der praktischen Anwendung/Anwendbarkeit sichern. Entscheidend ist mir, dass Kjellberg den Raum öffnen will, zum einen für nicht-menschliche Lebens- und Seinsformen, zum anderen für ,die Stummen‘, exemplifiziert an den Kindern und den kommenden Generationen. In beinahe phänomenologischer Öffnung und Absicht erinnert Kjellberg daran, dass es der Diskursethik nicht darum geht, Normen aus grundlegenden Prinzipien herzuleiten, dass die grundlegenden Prinzipien nicht Ausgangspunkt für Moral sind. In Verlängerung dessen ist die Offenheit und Weite seines Kriteriums der emancipatory koinonia, seine Betonung des raadollisuus und das ausgesprochene Interesse an ,religiösen Ideen‘ an vielen, auch unscheinbaren, Orten in der Gesellschaft, zu würdigen.168 Diese methodologischen Herausforderungen, Erinnerungen und Impulse

165 Vgl. Kjellberg, Urban Ecotheology, 34.129–136. Kjellberg engt seinen Blick auf religiöse Phänomene doch sehr ein, wenn er fragt: „Is there a conscious ecotheology in cities?“ In Kjellberg, Urban Ecotheology, 130. 166 Vgl. Kjellberg, Urban Ecotheology, 42 ff.85. 167 Vgl. Kjellberg, Urban Ecotheology, 21.23 f.45.51 f. Es kann daran erinnert werden, dass Kjellbergs Dialoge in Tampere in zwei Runden geführt wurden, dass Ergebnisse der ersten Runde, auch durch die Teilnehmenden selbst, in die zweite Runde eingebracht wurden. 168 Vgl. Kjellberg, Urban Ecotheology, 31–34.50.55.86 f.

Wolfgang Grünberg: Die Sprache der Stadt

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werden in der eigenen Studie, auf dem Hintergrund einer phänomenologischen Grundierung, reflektiert und neu gewichtet.

4.5 Wolfgang Grünberg: Die Sprache der Stadt 4.5.1 Zum Ansatz Anders akzentuiert als die vorhergehende empirische Studie und doch aus eigener Erfahrung und aus Beheimatung vor Ort und in praxi schöpfend, geht der Hamburger Theologe Wolfgang Grünberg zu Werk. Er beschäftigt sich mit Stadt, Stadtkirchenarbeit und der Ortsgemeinde. In seinem Band versammelt der Initiator der Arbeitsstelle Kirche und Stadt an der Universität Hamburg Texte, die sich einem längeren Engagement verdanken. Es prägt die Texte, dass „nicht gemessene Distanz und neutrale Analyse“169 führend sind. Grünberg wünscht, „teilnehmend zu beobachten und trotzdem die gegebene Distanz des Besuchers möglichst projektiv und so produktiv zu wenden“170. Grünberg formuliert seine Ausgangsfrage wie folgt: Was haucht einem Ort Geist, Seele und Leben ein und welche Seele, welcher Geist und welches Leben sind hier gemeint? Worin drückt sich der Geist eines Ortes aus, worin spiegelt sich sein genius loci?171

Dabei liegt zugrunde, dass Identität „ein Prozess andauernder Dechiffrierung und neuer Codierungen, Kontinuität und Diskontinuität“172 ist. Daher gleichen seine Überlegungen „Mosaiksteinen, die Muster, aber kein fertiges Bild“173 ergeben; es bedarf der Interdisziplinarität, und es geht nicht darum, auf die Dominanz einer zentralen und zur Norm erklärten Perspektive zu setzen. […] Darum muss auch methodisch der Pluralität möglicher Erklärungsansätze Rechnung getragen werden.174

Grünberg erteilt der Idee, „Stadtphänomene additiv nebeneinander zu stellen“175, eine Absage und charakterisiert seine Überlegungen als

169 170 171 172 173 174 175

Grünberg, Wolfgang, Die Sprache der Stadt. Skizzen zur Großstadtkirche, Leipzig 2004, 5. Grünberg, Sprache der Stadt, 5. Grünberg, Sprache der Stadt, 12. Grünberg, Sprache der Stadt, 14. Grünberg, Sprache der Stadt, 15. Grünberg, Sprache der Stadt, 15. Grünberg, Sprache der Stadt, 15.

108 Der erste historisch-systematische Problemhorizont: Kultur (im Wandel) in dem Zwischenraum angesiedelt, der sich ergibt, wenn man die Zufälligkeit von Einzelbeobachtungen zu überwinden trachtet und zugleich Abschied nimmt von der Verabsolutierung einer stadtanalytischen Zentralperspektive176.

Grünberg ruft die Stadtentwicklung seit dem 19. Jahrhundert ins Gedächtnis, erinnert an die positive Sicht auf die Säkularisierung bei Friedrich Gogarten und Harvey Cox und er erklärt das Scheitern dieser Sicht angesichts von Kirchenreformbewegung, Ökumene und Kritischer Theorie.177 Er bedauert, dass in den Entwürfen „das Nebeneinander einer sozialwissenschaftlichen und davon unabhängigen theologischen Argumentation unbefriedigend“178 bleibt. Dagegen will Grünberg Praktische Theologie nicht nur als Handlungs-, sondern auch als Wahrnehmungswissenschaft verstehen. Er öffnet sich dezidiert „phänomenologisch argumentierende[n] Entwürfe[n]“179 und beschreibt die Aufgabe der Praktischen Theologie als Spurensuche.180 Leitend in diesem Unterfangen ist Grünbergs grundlegende These: „Die Stadt ist Text, sie erzählt.“181 Es gilt, Spuren in diesem Text zu entdecken und es wird deutlich: „Der Text einer Stadt ist […] nicht eindeutig, auch nicht nur doppeldeutig, sondern vielstimmig.“182 In dieser Vielstimmigkeit sind es die exemplarischen Orte und Gebäude, die eine notwendige Lesehilfe bieten.183 Aber diese Orte stehen nicht allein. Neben den Orten kommt dem Ritual eine wichtige Aufgabe zu: Es kommt darauf an, die Verstrickungen in Rituale und Symbolwelten, die immer schon gesellschaftlich stattfinden und die zu Diffusionen führen müssen, zu durchschauen und selbst seitens der Kirche in großer Klarheit und Selbstverständlichkeit die eigenen Rituale/Liturgien öffentlich zu vollziehen und in den eigenen Symbolwelten zu leben in der Hoffnung, so gesellschaftlich auch purgatorisch wirken zu können.184

Grünberg führt also einen weiteren, mit der Idee der exemplarischen Orte korrespondierenden, Bezugspunkt ein. In der Situation des religiösen Markts erinnert Grünberg, mit Pierre Bourdieu, daran, „dass Bildung und soziale Kompetenz auch als Kapital aufzufassen sind“185, dass „weder Stadtflucht noch Tempelreinigungsstrategien 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185

Grünberg, Sprache der Stadt, 16. Vgl. Grünberg, Sprache der Stadt, 19–22. Grünberg, Sprache der Stadt, 22. Grünberg, Sprache der Stadt, 22. Vgl. Grünberg, Sprache der Stadt, 23. Grünberg, Sprache der Stadt, 31. Grünberg, Sprache der Stadt, 33. Vgl. Grünberg, Sprache der Stadt, 33. Grünberg, Sprache der Stadt, 42. Grünberg, Sprache der Stadt, 54.

Wolfgang Grünberg: Die Sprache der Stadt

109

angemessen sind, um auf die gegenwärtige Situation der Stadt zu reagieren“186. Die Aufgabe der Kirche, gerade an den exemplarischen Orten, ist es, mit Johann Baptist Metz, Religion als ,heilsame Unterbrechung‘ und ,gefährliche Erinnerung‘ in die Stadt einzubringen.187 Soll eine Identifikation mit der Stadt gelingen, braucht es ein ,Wir-Bewußtsein‘, braucht es das Bewusstsein dafür, dass die klassischen Elemente Wasser, Feuer, Erde, Luft, mit ihren Pflanzen und Tieren, […] eben etwas anderes als käufliche Güter [sind]. Sie sind auch nicht nur Umwelt, sondern Mitwelt, Geschöpfe wie wir.188

Der genius loci weitet sich. Aktualisierend wird festgestellt, dass das ,Wir-Bewußtsein‘ geschwächt wird, wenn Minderheiten nicht die Möglichkeit haben, sich durch eigene Stadtsymbole darzustellen.189 Grünberg bemerkt, dass das Christentum selbst […] allen Anlass [hat], neben ökumenischen auch interreligiöse Dialoge aufzunehmen und eine Kultur der ,Konvivenz‘ (Sundermeier) einzuüben, der dann hoffentlich eine bauliche Entsprechung folgen wird190.

Folgerichtig wird einer offenen und sich öffnenden Kirche das Wort geredet,191 einer Kirche, die sich fragen lassen muss: „Nehmen wir Christen wahr, wie die Gegenwart des Geistes, der ,weht, wo er will‘, Gestalt findet in den kulturellen Expressionen der Gegenwart?“192 In diesem Sinne haben Religionen „nur noch miteinander, im Gespräch […] eine gemeinsame Zukunft“193. Und dieses Gespräch muss nicht mehr auf Konferenzen und Meetings, sondern vor Ort, geführt werden.194 Der Stadtkirche kommt im Gefüge der Stadt eine besondere Rolle zu. Grünberg geht die Entwicklung historisch ab. Er beginnt bei der Kirche als Symbol für die Stadt, nennt die Reformation, die der Stadtkirche „ihren exklusiven Anspruch, Repräsentanzort der allein dort verfügbaren Heilsmitte zu sein“195, nimmt; „Stadtmitte wird als Prozess ausgelegt, der als Verständigungsbemühung autonomer Subjekte zu verstehen ist“196. Und er verfolgt dies bis zur 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196

Grünberg, Sprache der Stadt, 55. Vgl. Grünberg, Sprache der Stadt, 50–58. Grünberg, Sprache der Stadt, 70. Vgl. Grünberg, Sprache der Stadt, 79 f. Grünberg, Sprache der Stadt, 85. Vgl. Grünberg, Sprache der Stadt, 102 f.106.110. Grünberg, Sprache der Stadt, 105. Grünberg, Sprache der Stadt, 120. Vgl. Grünberg, Sprache der Stadt, 121. Grünberg, Sprache der Stadt, 146. Grünberg, Sprache der Stadt, 148.

110 Der erste historisch-systematische Problemhorizont: Kultur (im Wandel) Stadtentwicklung im ausgehenden 19. Jahrhundert, hin zu einer Renaissance einer Sehnsucht nach baulicher Mitte. Die Herausforderung für die Kirche ist, den durch den Rückzug in die (Orts-)Gemeinde entstandenen Leerraum zu füllen. Dazu braucht es die liberale Kirche, die am Gewissen der Stadt arbeitet, es braucht die konservative Kirche, die Erinnerungsarbeit leistet – und beides ist nur von einer ökumenisch offenen Kirche zu leisten.197 Diese muss ,Religion als Unterbrechung‘ begreifen, als Eröffnung eines Raumes, in dem „die entlastende Lektion bedacht und gefeiert [wird], dass Menschen aufhören dürfen und sollen, für sich selbst und andere Gott zu spielen“198. Dieser Raum unterscheidet die Kulturstufen Dorf und Stadt, trennt diese aber nicht, und vermag, „die Kapelle und die Kathedrale, die Ortsgemeinde als Dorfkirche und die Citykirche“199 gleichzeitig offen zu halten. Der Ebene der Ortsgemeinde nähert sich Grünberg mittels einer Re-Lektüre des „Memorandum[s] zum kirchlichen Gemeindeaufbau in einer Wohnsiedlung Berlins“ von 1968. Er benennt Stärken und Schwächen und formuliert heutige Aufgabenstellungen, mahnt die Einsicht an, dass die „Minorisierung der Kirchen […] auch das Ergebnis der theologisch begründeten Missachtung von religiösen Bedürfnissen des Menschen“200 ist. Ihm bleibt der Gottesdienst „der Herzschlag des kirchlichen und gemeindlichen Lebens“201, es braucht aber eine erneuerte Sakramentstheologie, die den Körper betont: „Gott verleiblicht sich im Abendmahl und macht unseren eigenen Leib zum Tempel des Heiligen Geistes.“202 Dies hat Einfluss auf die Behandlung der Themen Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, denn „plausibel werden sie nur, wenn sie jeder Mensch in der eigenen Lebenspraxis nicht nur als Defiziterfahrung, sondern auch als Segen“203 spürt. Die Kirchen müssen zu Segensräumen werden, ohne Sakralität und Profanität zu trennen, aber anerkennend, dass in den Kirchen beides „schwerpunktmäßig anders präsent“204 ist. Selbstbewusst soll die Kirche sich ihren Platz sichern, immer als grundlegend bedenkend: „Gemein-

197 198 199 200

201 202 203 204

Vgl. Grünberg, Sprache der Stadt, 148 f.155–159. Grünberg, Sprache der Stadt, 170 f. Grünberg, Sprache der Stadt, 176. Grünberg, Sprache der Stadt, 257. Grünberg hat an dem Memorandum mitgearbeitet und er bemängelt, dass „damals die Faktoren ,Individualität‘, ,Charisma‘, ,Ausstrahlung‘ unterschätzt“ wurden, dass die „in der postmodernen Generation geläufige Freude an der Verschiedenheit und Fragmentarität“ fehlt. In Grünberg, Sprache der Stadt, 257 f. Vgl. Grünberg, Sprache der Stadt, 250–258. Grünberg, Sprache der Stadt, 257. Grünberg, Sprache der Stadt, 257. Grünberg, Sprache der Stadt, 258. Grünberg, Sprache der Stadt, 258.

Wolfgang Grünberg: Die Sprache der Stadt

111

deaufbau und Gemeinwesenarbeit bleiben beide nötig. Sie sind aber nicht als Funktion der jeweils anderen Seite zu verstehen.“205 Zusammen mit Peter Cornehl bedenkt Grünberg die „Chancen der Ortsgemeinde“. Die beiden setzen bei den Stichworten der Gemeindefusion und der Regionalisierung ein, und stellen die Frage nach den „besonderen Leistungen, Kompetenzen und Chancen der Parochie“206. Sie weisen auf Ernst Langes ,Plädoyer für den Normalfall‘ (der) Ortsgemeinde und stellen Verbindungen zur heutigen Situation her, zum Beispiel zählen sie die Gruppe der Fremden zum ,Ensemble der Opfer‘.207 Lange bleibt den beiden aktuell, wenn es um die Frage nach Identität geht: Um der Identität des lokalen Bereichs willen werden Identifikation stiftende Symbolträger gebraucht, die das Gedächtnis dieses Ortes repräsentieren können. Die volkskirchlichen Ortsgemeinden mit ihren meist älteren Kirchen stehen hier vor besonderen Aufgaben und Chancen.208

Gleichzeitig gilt: Die Ortsgemeinde kann in einzigartiger Weise den Horizont der einen Welt mit dem Lokalbezug vor Ort symbolisch, aber auch handlungspraktisch vermitteln.209

4.5.2 Impulse zur Weiterarbeit und kritische Rückfragen Wolfgang Grünbergs Ansatz ist wirklichkeitsorientiert und hilft, übersehene Phänomene zu berücksichtigen. Seine Offenheit für phänomenologisch inspirierte Konzeptionen und seine Kritik am Nebeneinander von sozialwissenschaftlicher und theologischer Annäherung führen zu Anschlussmöglichkeiten an die eigene Studie. Drei Aspekte scheinen mir rote Fäden, diese weben die Einzeltexte Grünbergs zusammen. Erstens die Ausgangsthese von der Stadt als Text, zweitens die Idee, dass dieser Text mittels exemplarischer Räume, die als kultur- und religionsoffen angenommen werden, gelesen werden kann, und drittens, dass diese Räume Religion – als ,heilsame Unterbrechung‘ und ,gefährliche Erinnerung‘ – in die Stadt einspielen. Ich übernehme an dieser Stelle die enge Verknüpfung der Phänomene der 205 Grünberg, Sprache der Stadt, 258. 206 Grünberg, Sprache der Stadt, 279. 207 Vgl. Grünberg, Sprache der Stadt, 282. „Lange unterscheidet drei Gruppen, mit denen die Ortsgemeinde es vorrangig zu tun hat, und nennt sie (1) das ,Ensemble der Opfer‘, (2) den ,Sammelplatz der Beunruhigten‘ und (3) die ,Masse der Distanzierten‘.“ In Grünberg, Sprache der Stadt, 282. 208 Grünberg, Sprache der Stadt, 293. 209 Grünberg, Sprache der Stadt, 294.

112 Der erste historisch-systematische Problemhorizont: Kultur (im Wandel) Großstadt mit einer solch verstandenen Kultur- und Religionsoffenheit sowie die Betonung der Wichtigkeit von Kirche, Ritual und Liturgie an der Basis, ,vor Ort‘.210 Gleichzeitig bietet sich die Möglichkeit zu Anfragen, die, bei aller Sympathie Grünbergs für phänomenologische Ansätze, auch methodologischer Art sind. Grünberg erwähnt die Funktion von Kirche, Ritual und Liturgie, kommt dabei aber über ,Überschriften‘, von einigen Stellen, die von eigenen Erfahrungen geprägt sind, abgesehen, kaum hinaus. Kirche ist liberal, konservativ, wichtig sowohl als Stadt- wie als Gemeindekirche, der Gottesdienst hat fortdauernde Bedeutung als Herzschlag der Gemeinde, der Zusammenhalt von Lokalem und Globalem, sich in weiten Teilen auf Ernst Lange beziehend, ist entscheidend. Eingedenk dessen bleiben die erwähnte Unterschätzung des Charismas und der mangelnden Freude an Verschiedenheit und Fragmentarität spannende Gedanken, die nicht über Bord geworfen werden sollen.211 Hier soll tiefer angesetzt werden, indem empirische Einsichten zu Kirche, Gottesdienst, Liturgie und Ritual beigesteuert werden. Dies unter dem Vorzeichen, dass die, die in die Umbrüche vor Ort eingebunden sind, diese beschreiben und deuten können. Und damit Zweifel hegend ob Grünberg recht hat, wenn er schreibt: Das Gefühl, in einer Wendezeit zu leben, an einer Epochenschwelle zu stehen, ist weit verbreitet. Es ist ebenfalls nichts Neues, dass diejenigen, die unmittelbar von Umbrüchen und tiefgreifenden Veränderungen betroffen sind, dies zwar wahrnehmen, aber in der Tiefe nicht beschreiben können. Dazu bedarf es der Distanz.212

4.6 Zwischenbilanz Die Prämisse der Analyse der verschiedenen Konzeptionen, Studien und Beiträge zu einer Theologie der Stadt war durch das Unterfangen motiviert, einen gestärkten Blick von unten leitend sein zu lassen. Es sollte der genaue Blick auf die Praxis als Ort anerkannt werden, an dem sich eine Theologie (in) der Stadt gewinnen lässt. Dieter Georgis Ansatz diente als Hintergrund der Analysen; hervorgehoben wurde, dass es Georgi, im Anknüpfen an das antike Selbstverständnis des 210 Vgl. Grünberg, Wolfgang, Sprache der Stadt. Skizzen zur Großstadtkirche, Leipzig 2004, 22 f.31–34.42 f.115.121.245 f.295. 211 Vgl. Grünberg, Sprache der Stadt, 43.50.95.155–160.176.256 f.293 ff.341–353. Das Verhältnis von Stadt- und Gemeindekirche wurde auch im Osloer Projekt Gott in der Großstadt virulent. Vgl. 7.1.2.5. 212 Grünberg, Sprache der Stadt, 116.

Zwischenbilanz

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Christentums, gelingt, die Rechtfertigungslehre als Ereignis wiederzuentdecken, das die Stadt betrifft, und die Inkarnation als Bedingung einer Öffnung der Gemeindegrenzen zu bestimmen. Die eigene Untersuchung erfährt, ohne dass einer Harmonisierung das Wort geredet werden soll, Bestätigung dafür, dass der Blick von unten, der Blick vor Ort und in praxi, in all seiner Unsteuerbarkeit, in all seiner Offenheit für Überraschendes, eine wichtige und gewichtige Ambition darstellt. Dazu zweierlei: Dies gilt sowohl aufseiten der involvierten Subjekte als auch aufseiten des Forschersubjekts. Und: Dieser Blick ist sich seiner Beschränktheit und seiner Mosaikhaftigkeit bewusst. Eine weitere aus den Analysen gewonnene Einsicht ist, dass es des Zusammenspiels mit anderen Fächern und einer Methodenvielfalt bedarf. So kann es gelingen, innertheologische und innerkirchliche Zusammenhänge aufzubrechen und sich der wechselseitigen Partizipationen und Relationen zu erinnern und immer neu bewusst zu werden. Auf diese Weise bestärken die Analysen, dass es um Wahrnehmung der involvierten Subjekte, die die Phänomene der Stadt erfahren und deuten, die sich je ihrer Perspektive nach zu diesen Phänomenen verhalten und die ihre Erfahrungen und Deutungen von Ort, Religion, Ritual und Kirche einspielen, geht. Eine solche Wahrnehmung, und dies wird als Bestätigung für die Anlage der eigenen Studie gewertet, profitiert von der Einengung des Blicks auf bestimmte Situationen, exemplarische Orte oder den Gottesdienst. Es zeigt sich in aller Klarheit, dass keine der involvierten und genannten Größen als geschlossene Systeme gesehen werden können, die subjektunabhängig definiert und in die Wahrnehmung eingespielt werden können. Weiter wird deutlich, dass ein ordnendes, theoretisch erarbeitetes Element, das dieser Wahrnehmung vorgeschoben wird, in Bestimmtheit und Abgeschlossenheit resultiert und den offenen Blick blockiert. Am Ende der Analysen bleibt die Frage nach den involvierten Subjekten der springende Punkt, an dem sich vieles bricht. Erfahrung, Deutung und Perspektive entscheiden nicht nur das Sein und das Wie von Stadt, Religion, Gottesdienst und Ritual, sondern auch wie sich Kirche, in der Gesellschaft, als Teil einer Kultur im Wandel, versteht – eine Kirche, die sich, durch die in ihr versammelnden und aktiven Subjekte, immer vielstimmig zur ,Tradition‘ und zu Traditionsabbrüchen verhält. Dass eine subjektunabhängige Annäherung, die Normativität und normativ definierte Religion als Regel, als externe Forderung einführt, beinahe zwangsläufig zu einem geschlosseneren System führt, wird auch im folgenden Teil, in dem es um neuere norwegische Konzeptionen von Kirche geht, deutlich. Wieder zeigt sich, dass dadurch zwar eine schablonenhafte Ganzheit des Bildes erreicht wird, das Bild aber dennoch ungenau wird, denn die Konturen und Tiefen und Risse werden unsichtbar gemacht.

5 Der zweite historisch-systematische Problemhorizont: (Volks-)Kirche 5.1 Einführende Hinweise: Neuere norwegische Konzeptionen von Kirche Es prägte die Diskussion über die Kirche in Norwegen, dass die Begriffe Volkskirche und Staatskirche beinahe synonym verwendet wurden. Ausschlaggebend dafür war die rasche Einführung der Reformation in DänemarkNorwegen, die von oben her geschah. Die Kirche wurde im Sinne und zum Zweck der Staatsstabilität instrumentalisiert; ebenso wurde dem Einfluss des Pietismus durch Integration in die Staatsmacht und in die Kirche die Spitze genommen. Das norwegische Grundgesetz von 1814 führte diese Linie fort, welche erst, durch den Bruch des kirchlichen Monopols und der Einführung des Parlamentarismus, unter dem wachsenden Einfluss der Laienbewegung durchkreuzt wurde.1 Dag Thorkildsen hält fest: Während man in anderen europäischen Ländern im 19. Jahrhundert die Religionsfreiheit durch die Trennung von Staat und Kirche realisierte, wurden die nordischen lutherischen Kirchen zu modernen Staatskirchen umgeformt. Gleichzeitig wurde die Religionsfreiheit eingeführt, als Freiheit innerhalb des staatskirchlichen Rahmens und als Freiheit, außerhalb dieses Rahmens stehen zu können.2

In dieser Parallelität der Demokratisierung des Staats und der Kirche lag ein weiterer Grund für die beinahe Deckungsgleichheit der Begriffe Staatskirche und Volkskirche, wobei „die Staatskirchenordnung als Garant für die Offenheit der Kirche, für die Vielfalt, fungierte“3. In der Konsequenz bedeutete dies, dass

1 Vgl. Thorkildsen, Dag, Stat og kirke i historisk og nordisk perspektiv, in: NTT 103 (2002), 113–124, 114–118; Gilje, Nils/Rasmussen, Tarald, Tankeliv i den lutherske stat. 1537–1814, Norsk id historie II, Oslo 2002, 26 f.40–50.119 ff. Zur wichtigen Person Hans Nielsen Hauges und dem Schwinden des kirchlichen Monopols vgl. Gilje/Rasmussen, Tankeliv i den lutherske stat, 415–438. 2 Thorkildsen, Stat og kirke, 119. 3 Thorkildsen, Stat og kirke, 120. Die Demokratisierung der Kirche zeigt sich in der Einführung von Gemeinderäten 1920, von Diözesanräten 1933, der Bischofskonferenz 1934, des Kirchenrates 1969 und der Generalsynode 1984. Vgl. Thorkildsen, Stat og kirke, 121 f.

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Der zweite historisch-systematische Problemhorizont: (Volks-)Kirche

die staatskirchliche Volkskirche gern als äußerer Rahmen, in dem alle Getauften Mitglieder sind, gesehen wurde, während der Kern die Bekehrten sind, dass gerade diese die Kirche mittels eigener, gewählter Organe leiten sollen.4

Dies ist die historische Folie erneuter Diskussionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.5 1975 sprach sich eine öffentliche Kommission für die Trennung von Staat und Kirche aus, aber die Anhörung zeigte großen Widerstand. Die Regierung garantierte 1981 die Staatskirche, gleichzeitig wurde den kirchlichen Gremien 1984 mehr Selbstständigkeit übertragen.6 Überdies zeigte sich, dass „die Identität von Kirchenmitgliedschaft und Staatsbürgerschaft der Geschichte angehörte“7. Daher gingen die Diskussionen weiter. Eine vom Kirchenrat 1998 eingesetzte Kirche/Staat-Kommission arbeitete vier Jahre lang. Wieder war das Ergebnis, dass es einer Neuordnung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat bedarf, anders gelagert war allerdings die Argumentation: Wahrung der Religionsfreiheit bei gleichzeitiger Rücksichtnahme auf die historisch gewachsene Situation. Unter dem Vorzeichen der gesellschaftlichen Pluralisierung stellt die Staatskirche eine Einschränkung der Religionsfreiheit aller Nicht-Mitglieder dar, da aber die jetzige Ausgangslage der Diskussion historisch erwachsen ist, ist wohl eine Gleichstellung der Norwegischen Kirche mit anderen Religions- und Lebensanschauungsgemeinschaften, nicht aber die Gleichbehandlung aller Akteure, im Speziellen nicht der Kirche, gefordert.8 Reaktionen entzündeten sich an der Beobachtung, dass zwei historisch gegensätzliche Strömungen im Argument der Wahrung der Religionsfreiheit zusammenfanden. Der damalige Bischof Gunnar St lsett konstatierte: Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass das Prinzip der Religionsfreiheit und die Forderung nach gleicher Behandlung aller Kirchen und Religionen ein Ersatz-Motiv ist, dass es für einen Teil der Mehrheit in der Kommission gar nicht um die Rücksicht auf andere Kirchen und Religionsgemeinschaften geht. […] Vielmehr liegt es nahe, 4 Thorkildsen, Stat og kirken, 121. 5 Die Diskussion verstummte im Grunde nie, wenn sie auch mit unterschiedlicher Intensität geführt wurde und die Situation des Zweiten Weltkriegs noch einmal eine Ausnahme darstellt. Vgl. Haanes, Vidar L., Bidrag til forst else av folkekirkebegrepet i Norge, in: Dietrich, Stephanie/ Elstad, Hallgeir/Fagerli, Beate/Haanes, Vidar L. (Hg.), Folkekirke n , Oslo 2015, 34–47, 42 ff. 6 Vgl. Furre, Berge, Norsk historie 1914–2000. Industrisamfunnet – fr vokstervisse til framtidstvil, Oslo 62012, 298 f.; Furre, Berge, Jaglands kyrkje, in: Furre, Berge, Sant og visst. Artiklar, foredrag og preiker, herausgegeben von Ottar Grepstad, Oslo 1997, 244–248. 7 Furre, Norsk historie, 299. Zur Entfremdung von Bevölkerung und Kirche, sichtbar gerade in sozial-ethischen Fragestellungen, vgl. Eriksen, Trond Berg/Hompland, Andreas/Tjønneland, Eivind, Et lite land i verden. 1950–2000, Norsk id historie VI, Oslo 2003, 235–239.264 f. 8 Vgl. Kirker det (Hg.), Samme kirke – ny ordning. Om ny ordning av Den norske kirke, med særlig vekt p forholdet mellom kirke og stat. Innstilling fra Kirker dets kirke/stat-utvalg 2002, Oslo 2002, 13 f.17–21.61–69. Den Vorsitz der Kommission hatte Trond Bakkevig, ehemaliger Propst in der Propstei Vestre Aker, ein engagierter und streitbarer Kopf in der Norwegischen Kirche, inne.

Einführende Hinweise: Neuere norwegische Konzeptionen von Kirche

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anzunehmen, dass das Prinzip der Religionsfreiheit gebraucht wird, um die Forderung nach dem ,Herr-im-eigenen-Haus-werden‘ zu stärken.9

Trygve Wyller argumentierte, dass die grundlegende Frage nicht die nach dem Wortlaut des Grundgesetzes ist, sondern wie dessen Intention, die ,schwachGlaubenden‘ als Teil der Kirchenleitung zu fassen, gewahrt werden kann: […] gegen Diskriminierung zu sein ist an sich nicht besonders imponierend. Vielleicht hört Diskriminierung erst auf, wenn man Macht an die abgibt, die man nicht so gut ertragen kann. […] Das spezifisch Kirchliche […] muss sein, dass die ,starkGlaubenden‘ zum Vorteil der ,schwach-Glaubenden‘ abdizieren.10

Diese Reaktionen trafen einen der profiliertesten Vorkämpfer für die innere Selbstständigkeit der Kirche, St lsetts Amtsvorgänger Andreas Aarflot.11 Seit Anfang der 60er Jahre prägte er die kirchliche Reformbewegung mit dem Ziel, die Kirche in ihrem Charakter als selbstständige Glaubensgemeinschaft zu stärken.12 In einem Vortrag von 1994 kritisiert Aarflot die Arbeiterpartei: es ist notwendig, mit dem Bild einer sozialdemokratischen Wohlfahrtskirche, in der alle Trends und Strömungen der Zeit einen gleichberechtigten Platz haben sollen, abzurechnen.13

Aarflot formuliert vier Zielvorgaben auf dem Weg in das neue Jahrtausend. Es bedarf deutlicherer biblischer Verankerung: Wir brauchen reife und sich der Lehre bewusste Laien/Laiinnen, die sich den Wetterlagen wechselnder Lehrmeinungen, die in der heutigen pluralistischen Gesellschaft über unsere Gemeinden hinwegziehen, entgegenstellen können.14

Sodann „muss eine Brücke von der Kasualgemeinde zur Gottesdienstgemeinde gebaut werden“15, „um das Bewusstsein hin zu einer stärkeren Zustimmung zu einem genuin christlichen Glaubensinhalt zu bewegen“16. 9 St lsett, Gunnar, Til velsignelse for folk og kirke?, in: NTT 103 (2002), 156–165, 160. 10 Wyller, Trygve, Aggiornamento p norsk? Om det paradoksale behov for de svakt-troende som kirkestyre, in: NTT 103 (2002), 140–151, 143. 11 Aarflots Ideen und Konzeptionen werden in der Norwegischen Kirche bis heute an prominenter Stelle rezipiert, vgl. Johnsen, Jens-Petter, Gud vil ha folk! Folkekirke og trossamfunn i fremtidens norske kirke, in: Dietrich, Stephanie/Elstad, Hallgeir/Fagerli, Beate/Haanes, Vidar L. (Hg.), Folkekirke n , Oslo 2015, 12–20. 12 Vgl. Austad, Torleiv, ,Kirkens kjernestruktur er den lokale menighet.‘ Trekk ved Andreas Aarflots kirketenkning, in: Gullaksen, Per-Otto/Austad, Torleiv/Fougner, Even/Skarsaune, Oskar (Hg.), Reform og embete, Festskrift til Andreas Aarflot p 65- rsdagen den 1. Juli 1993, Oslo 1993, 21–38, 22 f.31 f. 13 Aarflot, Andreas, Samtidsspeil eller fyrt rn? Folkekirke og bekjennelseskirke i et nytt rtusen, in: Aarflot, Andreas, Samtidsspeil eller fyrt rn?, Bergen 2008, 49–60, 50. Vgl. Austad, Trekk ved Aarflots kirketenkning, 33. 14 Aarflot, Samtidsspeil eller fyrt rn, 53. 15 Aarflot, Samtidsspeil eller fyrt rn, 54. 16 Aarflot, Samtidsspeil eller fyrt rn, 55.

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Der zweite historisch-systematische Problemhorizont: (Volks-)Kirche

Drittens muss „ein größeres Bewusstsein für die grundlegende Bedeutung der Lokalgemeinde für die Zukunft der Volkskirche geschaffen werden“17, hier kann lebendiger Glaube wachsen; Glaubenserziehung und ,Jüngerinnen/ Jünger-Gemeinschaft‘ sind entscheidende Kennzeichen der Kirche. Letztlich fordert Aarflot, dass die Norwegische Kirche hin zur äußersten Grenze der Staatskirchenordnung geführt wird, hin zu einer konsistenten und einheitlichen Organisation mit größerer kirchlicher Selbstverwaltung.18

Am 21. Mai 2012, nach weiterer staatlicher Kommissionsarbeit in den Jahren 2003–2006, nach einer zwischen allen im Parlament vertretenen Parteien 2008 geschlossenen Vereinbarung, beschloss das Parlament folgenden Wortlaut für § 16 des Grundgesetzes: Alle Einwohner/Einwohnerinnen des Reiches haben das Recht auf freie Religionsausübung. Die Norwegische Kirche, eine evangelisch-lutherische Kirche, verbleibt Norwegens Volkskirche und wird als solche vom Staat unterstützt. […] Alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften werden gleichberechtigt unterstützt.19

In einem weiteren Schritt sollen Modelle von Kirche analysiert werden, denen gemeinsam ist, dass sie sich auf den Begriff der Volkskirche beziehen und dessen Tragfähigkeit unter veränderten Bedingungen annehmen. In der Analyse werden Fragen nach der Bedeutung des Ortes, nach der Bedeutung und Rolle der involvierten Subjekte, nach dem zugrunde gelegten Religionsund Normativitätsverständnis und nach den pluralen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen wichtig sein. An erster Stelle sollen die Arbeit und das Modell von Dag Myhre-Nielsen20 stehen. Er liefert eine breite Beschäftigung mit theologiegeschichtlichen, soziologischen und dogmatisch-ekklesiologischen Konzeptionen und er arbeitet als Grundherausforderung für neue Kirchenmodelle die explizite Offenheit für die Subjekte in der Kirche heraus. Sein Ellipsen-Modell soll gewährleisten, dass weder die ,Volkskirche‘ noch die ,Gemeinde‘ sich als Mitte der Kirche etablieren können. Es folgt der Entwurf Sevat Lappegards21, der explizit den Volkskirchenbegriff bemüht und in dessen Mitte die Idee der Integration am Ort und das Netzwerk am Ort stehen; dabei geht Lappegard auf empirische Beobachtungen ein. 17 Aarflot, Samtidsspeil eller fyrt rn, 55. Vgl. Austad, Trekk ved Aarflots kirketenkning, 24. 18 Aarflot, Samtidsspeil eller fyrt rn, 57. 19 In Det livssyns pne samfunn. En helhetlig tros- og livssynspolitikk, NOU 2013:1, 63. Vgl. Det livssyns pne samfunn, 17.63–66. 20 Vgl. Myhre-Nielsen, Dag, En hellig og ganske alminnelig kirke. Teologiske aspekter ved kirkens identitet i samfunnet, KIFO Perspektiv 4, Trondheim 1998. 21 Vgl. Lappegard, Sevat, Folkekyrkjeteologi, in: Sandvik, Bjørn (Hg.), Folkekirken – Status og strategier, Presteforeningens studiebibliotek 29, Oslo 1988, 107–131.

Dag Myhre-Nielsen: Eine heilige und ziemlich allgemeine Kirche

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Zuletzt soll Harald Hegstads Programm der „Gemeindeentwicklung in der Volkskirche“22 untersucht werden. Als Ausgangspunkt dienen Hegstads Arbeiten zur Ekklesiologie, das in ihnen empirisch untersuchte Gegenüber von ,Volkskirche‘ und ,Glaubensgemeinschaft‘. Wird auch im Programm zur Gemeindeentwicklung explizit empirisch gearbeitet, so scheint der zugrunde gelegte Religions- und Normativitätsbegriff und die Frage nach dessen Tragfähigkeit – mit Blick auf eine empirische Begründung und Weiterentwicklung der Kirche – der Untersuchung wert.

5.2 Dag Myhre-Nielsen: Eine heilige und ziemlich allgemeine Kirche 5.2.1 Zum Modell Dag Myhre-Nielsen gibt seine Dissertation 1998 heraus, diese ist Resultat eines längeren Entstehungsprozesses, der seinen Anfang als Teil des Programms des Norwegischen Forschungsrats „Kirche, Religion und Gesellschaft“ nahm und der an der Theologischen Fakultät der Universität Oslo zu Ende geführt wurde. Der Fakultät ist Myhre-Nielsen in allen Jahren verbunden gewesen, er war viele Jahren deren Direktor. Seine Arbeit siedelt Myhre-Nielsen im Grenzland zwischen Theologie, Religionswissenschaft und Gesellschaftswissenschaften an. Dabei sieht er die Kirche ausdrücklich als Teil der Gesellschaft, als in der Gesellschaft, nicht der Gesellschaft gegenüber, stehend.23 Seine Aufgabe fasst er folgendermaßen: Das historische und theologische Selbstverständnis der Kirche soll an einem unter gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive entwickelten Verständnis gebrochen werden.24

Gerade das Gegenüber von dem, ,wie Kirche eigentlich sein soll‘, und dem, ,wie Kirche sich darstellt‘, kann von der Auseinandersetzung profitieren. In diesem Auseinandersetzungsprozess unterscheidet Myhre-Nielsen die beiden Größen ,Volkskirche‘ und ,Gemeinde‘. Die erste Größe hebt mehr auf die Beziehung zwischen Kirche und Volk/Bevölkerung ab, die zweite wird auf der 22 Vgl. Hegstad, Harald, Menighetsutvikling i folkekirken. Grunnlag og form l, in: Birkedal, Erling/Hegstad, Harald/Lannem, Turid Skorpe (Hg.), Menighetsutvikling i folkekirken. Erfaringer og muligheter, Oslo 2012, 9–23. 23 Vgl. Myhre-Nielsen, Dag, En hellig og ganske alminnelig kirke. Teologiske aspekter ved kirkens identitet i samfunnet, KIFO Perspektiv 4, Trondheim 1998, 2. 24 Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 3.

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Ebene von „konkreten Gemeinschaften und Strukturen“25 verankert, die – einem lutherischen Verständnis nach – „das primäre Niveau für ein theologisches Verständnis der Identität der Kirche“26 darstellt. Das Aufkommen der ,Klein-Kirchen‘ war eine kirchliche Reaktion auf Entwicklungen in den Städten im 19. Jahrhundert und zugleich eine Antwort auf die Frage nach neuen ,Lebensformen‘ in der Kirche. Festgehalten werden soll, dass Myhre-Nielsen sich auf eine Begriffsdefinition Hans Raun Iversens stützt, die Anklänge an einen phänomenologisch verstandenen Lebensweltbegriff hören lässt: Eine Lebensform ist persönlich, aber nicht selbst geschaffen, sie ist grundsätzlich vorfindlich, damit auch kollektiv, verbindet eine Alltagspraxis und ein dazugehörendes theoretisches Konstrukt; die gesamte Identität wird mit der Lebensform verbunden.27 Der historische Hintergrund des Aufkommens der ,Klein-Kirchen‘ wird nachgezeichnet, genannt werden unter anderem Gisle Christian Johnson (1822–1894)28, die Kirchenkommission von 1908 und die ,Klein-Kirchen-Bewegung‘ in Kopenhagen.29 Gerade die Letztere war impulsgebend: Dadurch, dass lebendige Gemeinschaften im Rahmen der volkskirchlichen Gemeinden geschaffen werden, soll die geistliche Not vertrieben werden und das Evangelium die gesamte Bevölkerung erreichen. […] die Etablierung und das Pflegen einer Gemeindegemeinschaft setzt die Abgrenzung von der Lokalbevölkerung voraus, diese ist primär Gegenstand für Mission und Diakonie.30

Dies traf sich mit Gustav Jensens Vision der ,lebendigen und arbeitenden Gemeinden‘, so versuchte man auch in Oslo, die Arbeit an sozialen Brennpunkten zu beginnen, und hatte eine im Ausgangspunkt volkskirchliche Strategie, das Leben der Kirche sollte nach den Lebensbedingungen und den Bedürfnissen der Menschen geformt werden. Gleichzeitig war im Anfang die Strategie für die Form und den Charakter des Gemeindelebens offen und ungeklärt.31 25 26 27 28

Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 3. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 3. Vgl. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 5, Fußnote 1. Berge Furre zeichnet ein eindrückliches Bild der Theologischen Fakutät unter dem Einfluss Johnsons und dessen Programm eines Pietismus, der keinen Platz für Grundtvigianismus und ,traditionellen staatskirchlichen Kultus‘ ließ. Vgl. Furre, Berge, Soga om Lars Oftedal, Band 1, Oslo 21990, 37–41. 29 Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 10–24. 30 Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 31. 31 Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 33. Für die vorliegende Studie, angesiedelt im Groruddal, dessen Arbeitskirchen Mitte der 70er Jahre und Anfang der 80er Jahre erbaut wurden, ist folgende These bedenkenswert: „[…] die Impulse der ,Klein-Kirchen-Bewegung‘ haben große Wirkung auf die Ausformung des Gemeindelebens in unserem Jahrhundert gehabt, nicht zuletzt durch die Entwicklung der Arbeitskirche, und die damit verbundenen Vorstel-

Dag Myhre-Nielsen: Eine heilige und ziemlich allgemeine Kirche

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Pioniere der norwegischen Klein-Kirchen-Bewegung waren Jensen (1845–1922)32, Mikael Hertzberg (1874–1927)33 und Gabriel Skagestad (1879–1952)34. Diese befragt Myhre-Nielsen nach deren Verhältnis von Kirche und Volk/Bevölkerung, nach deren Idee von Volkskirche, nach deren Anthropologie und nach deren Verständnis von Gemeindeidentität.35 Bei Jensen steht der Gottesdienst an zentraler Stelle. In der Ordnung des Gottesdienstes zeigt sich eine Abfolge von festen Schritten, auf diese Weise ist der Gottesdienst „Die Übung der Gemeinde Christi in ihrem unmittelbaren Gemeinschaftsleben mit Gott“36. Damit geht es für den Einzelnen und die Einzelne im Grunde nur noch „um freiwilligen Einschluss in eine fertig definierte Gemeinschaft, sowohl was die dogmatischen, ethischen als auch die sozialen Seiten der Gemeinschaft angeht.“37 Will Jensen zwischen volkskirchlicher und vereinsmäßig organisierter Gemeinde vermitteln, so führt dies doch dazu, dass die Gemeinde sich mehr und mehr von der Gesellschaft absondert, das Volk/die Bevölkerung wird zum Objekt. Für Volkskirche bleibt kein Platz, ihre Berechtigung hat sie letztlich nur als Missionsstrategie.38 Hertzberg stellt die Gemeinde – als ,Aktivitätskollektiv‘ – der Bevölkerung gegenüber. Diese Gemeinde wird von der bürgerlichen Gesellschaft geprägt, wird als deren Vollendung definiert. Hertzberg ist sich der religiösen Gesinnung und der ,kirchlichen Kompetenz‘ der Bevölkerung sicher, diese schaffen eine ,freie Volkskirche‘. Die Kirche verbleibt das Religionswesen des Staates, jedoch immer in lokaler Ausformung, denn nur so kann die Kirche den Lebensformen der Bevölkerung entsprechend funktionieren.39 Gegen Jensen, so

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lungen von einem Gemeindekern, der diese kennzeichnet.“ In Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 33. Vgl. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 270. Studium der Theologie 1863–1868, Praktisch-theologisches Examen 1871, Lehrer am Praktischtheologischen Seminar 1881–1888 und 1895–1902, Stiftspropst in Oslo 1902–1911. Aktiv in der Inneren Mission, federführend bei der Revision der gottesdienstlichen Liturgie und des Gesangbuches. Vgl. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 35 f. Theologisches Examen 1898, Pfarrer und Pastor 1899–1904, Arbeiter in einer mechanischen Werkstatt 1905, Pfarrer in der Klein-Kirche in Tøyen 1907–1918, krankgeschrieben 1918–1921, Pfarrer in der Klein-Kirche in Majorstuen 1926. Hertzberg war der ökumenischen Bewegung verbunden und starb während der ersten Weltkonferenz für Glaube und Kirchenverfassung 1927 in Lausanne. Vgl. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 97 f. Studium der Theologie 1899–1903, Pfarrer in der Klein-Kirche in Pipervigen 1913–1922, Lehrer am – da neuen – Praktisch-theologischen Seminar an der Theologischen Gemeindefakultät 1926–1940, Bischof in Stavanger 1940–1949. Vgl. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 174 f. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 3.33 f. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 75. Die Entwicklung des Glaubens der Einzelnen verläuft in einer ebenso festen Abfolge von Schritten, wie sich auch der Charakter der Gottesdienstfeier, je nach Entwicklungs- und Reifungsstufe der Gemeinde, ändert. Vgl. MyhreNielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 57–60.78–81; Flatø, Lars, Den store liturgirevisjonen i v r kirke 1886–1926. En kirkehistorisk undersøkelse, Oslo 1982, 262–270. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 75. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 41.77.93.95.217 ff.222. Vgl. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 100–106.108 f.141.163.167.219.

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Myhre-Nielsen, ist festzuhalten, dass es bei Hertzberg nicht ein „fertiges, religiös-liturgisches System ist, sondern es die Besonderheiten und Bedürfnisse in der Gemeinde sind, die in letzter Instanz die Lebensformen normieren“40, „das Volk tritt mit einer Subjektrolle auf“41. Skagestad, der sich selbst als mit Johnson auf einer Linie stehend sieht, geht von einer kirchlichen Tradition aus, die in Stadien geordnet ist. Die Staatskirche „gehört einem vorbereitenden Stadium im christlichen Leben an“42. Wie bei Jensen ist Bewusstseinsschaffung entscheidend, denn die „Gemeinde ist ,die heilige Bruderschaft‘, die entsteht, wenn die bekehrten Christen zusammenkommen und sich dadurch von der Umgebung abgrenzen.“43 Daher spielt das Allgemeine keinerlei Rolle, gewichtig ist allein die Authentizität der Bekehrten, mehr noch, die voranschreitende Säkularisierung dient der Kirche, da sie das Volk, geprägt von Materialismus und Diesseitigkeit und grundsätzlich als Objekt verstanden, in die bewusste Entscheidung ruft.44 Knut Lundbys soziologische Untersuchung der Kleinkirchengemeinde in Tøyen wird eingeführt, um eine Alternative zu einer normativ theologischen Sicht „auf den Zusammenhang und den Konflikt zwischen Gemeindekollektivität und Volkskirchlichkeit etablieren zu können“45. Für Myhre-Nielsen bleibt, auf dem Hintergrund von Lundbys Analyse, folgendes entscheidend: Eine Gemeinde lebt von allgemeinen Zugehörigkeitsprozessen. Die Gemeinde hat eben nicht die Wahl zwischen religiöser und allgemeiner Gemeinschaft, sondern muss sich fragen, in welcher allgemeinen Gemeinschaft das evangelische Zusammenspiel geschehen soll.46

Daher kritisiert Myhre-Nielsen Lundbys Analyse der ,Volkskirche‘, denn diese wird unter den Prämissen des ,Glaubenskollektivs‘ wahrgenommen: Lundbys Religionsverständnis ist glaubenskollektivistisch. Und dies, weil die Phänomene Volk und Kultur als Teil seiner Perspektive nicht allgemein und anthropologisch, sondern christlich-religiös und institutionell definiert werden.47

Lundby konstatiert zwar, dass die beiden kirchlichen Formen sich gegenseitig bedingen, urteilt aber, „dass die Konsequenzen des Glaubenskollektivs negativ 40 41 42 43 44 45 46 47

Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 168. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 223. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 177. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 180. Vgl. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 186.188.192 ff.203.212 ff.222. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 225. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 252. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 277. Myhre-Nielsen rekurriert auf P l Repstad und Ole Gunnar Winsnes. Vgl. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 267–277.

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sind“48, eben aufgrund „der sozialen Funktion des Kollektivs in der Kirche. […] die soziale Abgrenzung ist auch ein Aspekt einer Theologie […].“49 Der Soziologe steht am Übergang zur Theologie. Diesen Übergang findet Myhre-Nielsen ebenfalls in Harald Hegstads Untersuchung des Verhältnisses von ,Volkskirche‘ und ,Glaubensgemeinschaft‘ vor. Hegstad geht, wie Lundby, mit der Annahme der Vorfindlichkeit dieser beiden Größen in eine empirische Untersuchung hinein. Sein Ziel ist es, Empirie und theologische Aussagen zusammenzuhalten, er konstatiert, wie Lundby, die gegenseitige Abhängigkeit dieser Größen, urteilt theologisch, indem er, mittels der Begriffe ,Manifestation‘ und ,Repräsentation‘, die Einheit der Kirche, trotz der Unterscheidung der beiden genannten Größen, sichern will.50 MyhreNielsen kritisiert die ,Einbahnstraße‘ dieses Gedankens: Wenn die Glaubensgemeinschaft die volkskirchliche Gemeinschaft manifestieren oder repräsentieren soll, muss die letztgenannte Gemeinschaft in reeller Weise in der Glaubensgemeinschaft zum Ausdruck kommen.51

Theologisch sichert sich Myhre-Nielsen mit Inge Lønning ab, um zu zeigen, dass es lutherischem Denken entspricht, die Allgemeinheit der Kirche anzunehmen und zu postulieren: Es ist von entscheidender Bedeutung, dass das Verständnis von der Kirche nicht auf der Basis einer Trennung von Kirche und Welt etabliert wird. […] Das Verständnis der Kirche muss an das Wirken des Geistes durch Wort und Sakrament geknüpft werden. Die Grenzen der Kirchen werden daher auf der Außenseite gezogen, durch die Zurückweisung des Evangeliums durch den Nicht-Glauben.52

Die Idee einer verborgenen Kirche wird von Lønning nicht verlassen: „Weil Gottes Nähe in der Welt verborgen bleibt, bleibt auch die wahre Kirche in der Welt verborgen.“53 Aber die Kirche ist eben auch wirklich, theologisch entscheidend für diese Kirchenwirklichkeit ist, nach Lønning, „der bleibende Wille des Evangeliums, der aber nicht ein für alle Mal bestimmt werden kann, sondern nur in der konkreten Situation“54. Mit dem Abschlusskapitel wendet sich Myhre-Nielsen der Frage nach „dem Verständnis der Identität der Kirche in der norwegischen Gesellschaft“55 zu. Es 48 49 50 51 52 53 54 55

Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 283. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 284. Vgl. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 284–288. Vgl. 5.4. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 287. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 335. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 335. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 335. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 339.

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ist zu prüfen, ob „das Verständnis der Kirche als Volkskirche wesentliche Punkte dieser [Identität] auffangen und ausdrücken kann“56. Theologisch bleibt Lønning entscheidende Stütze, ihm folgend hält MyhreNielsen fest: „Die soziale Basis kann nicht auf normative Weise das soziale Selbstverständnis mit Inhalt versehen.“57 Findet sich also die Qualifizierung der Kirche allein in CA VII, in Wort und Sakrament, so bleibt doch „die Verbindung einer allgemein-menschlichen, naturgegeben Gemeinschaft und einer Gemeinschaft des Glaubensbekenntnisses“58 der springende Punkt. Diese Verbindung zeigt sich als lokale Gemeinde, die sich aber nicht als ,Kirche selbst‘ verstehen darf. Mit Dietrich Bonhoeffer muss die Gemeinde sehen, dass sie, so Lønning selbst, „,ein Stück sozialer Wirklichkeit hier und jetzt ist‘“59. Begriffsgeschichtlich rekurriert Myhre-Nielsen auf Wolfgang Hubers Kategorisierungen des Volkskirchenbegriffs. Er kristallisiert zwei Modelltypen heraus, der erste sieht das Volk in einer Subjektrolle, der zweite in einer Objektrolle.60 Nach Myhre-Nielsen gilt es, die Bedeutung der ,schleiermacheschen‘ Tradition im Verständnis von Volkskirche hervorzuheben. Die primäre Herausforderung für eine Volkskirchentheologie liegt gerade in der Reflexion der Allgemeinheit der Kirche. Wie soll die Subjektrolle des Volkes und des Allgemeinen in der Kirche reflektiert werden, in einer Zeit, die sich von einer kulturellen und gesellschaftlichen Integration hin zu religiöser und organisatorischer Sektorenbildung bewegt?61

Die Aufgabe Myhre-Nielsens besteht „in einer theologischen Reflexion über die Allgemeinheit der Kirche, dies mit Basis in der Identität der Kirche und mit Richtung auf Kirche als Gemeinde“62. Sein Ausgangspunkt liegt also nicht in der Empirie. Mit Ausgangspunkt in Friedrich D.E. Schleiermacher und Johann Hinrich Wichern eröffnet er zwei Traditionslinien, die eine führt von Schleiermacher, über Hertzberg und Per Juvkam zu Lønning, die andere von Wichern, über Johnson, Jensen, Skagestad zu Olav Skjevesland und Asle Dingstad. Das Desiderat der Letztgenannten ist, wieder mit Lønning, „ein qualitatives Ver-

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Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 339. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 341. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 342. In Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 345. Vgl. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 349–352. Beachtenswert bleibt folgende Beobachtung: „Aus einer nordischen Perspektive ist es interessant zu sehen, welches Modell der Volkskirche Huber nicht erwähnt, nämlich die Volkskirche als demokratische Kirche.“ In Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 351. Vgl. Thorkildsen, Dag, Stat og kirke i historisk og nordisk perspektiv, in: NTT 103 (2002), 113–124, 119. 61 Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 354. 62 Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 383.

Dag Myhre-Nielsen: Eine heilige und ziemlich allgemeine Kirche

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ständnis von Allgemeinheit“63, das in der Leiblichkeit des Wortes und des Menschen über den Raum der Kirche hinausweist.64 Um diesem Desiderat begegnen zu können, greift Myhre-Nielsen wieder auf Iversen und den Lebensformbegriff zurück: Das Zusammenspiel zwischen (dem heiligen) Geist und (den allgemeinen) Lebensformen im christlichen Leben, das ist Iversens Gebot für die der Kirche eigenen Allgemeinheit.65

Dieser Begriff „weist auf das lokale Niveau, ist gebunden an ein Verständnis der faktischen Lebensformen, in denen die Menschen heute leben“66. Damit ist die Gemeinde als Fokus der Ekklesiologie bestätigt. Daraus folgt dann, dass Myhre-Nielsen das Gemeindemodell der zwei konzentrischen Kreise, das er zum Beispiel bei Skagestad, Asheim und Skjevesland, aber auch bei Andreas Aarflot, findet, kritisieren muss: Das Problem mit dem Zwei-Kreismodell ist […], dass es ein konzentrisches Verhältnis zwischen den beiden Kreisen postuliert, aber in der Realität die beiden Kreise in einen inneren und äußeren Sektor teilt, wobei die Zentrierung auf eine eigentümliche Weise mit dem Abstand zum Zentrum abnimmt. Damit wird Verdichtung zum ekklesiologischen Ziel des Modells. […] Das Modell setzt eigentlich ein Denken von Wirklichkeit in zwei Räumen, einem kirchlichen und einem allgemeinen, voraus.67

Folgerichtig ist von daher ebenfalls die Kritik an Sevat Lappegards Modell des Netzwerkes, dem eine „schmale ekklesiologische Basis“68 bescheinigt wird. Zeigt diese sich zunächst in der Engführung auf die Schöpfungstheologie, findet sich eine weitere Engführung in der Annahme, dass sich das lokale kontinuierliche Element im Kirchengebäude und im Amtsverständnis zeigt.69 Myhre-Nielsens eigenes Modell trägt die Form einer Ellipse. Er will umgehen, dass entweder das Allgemeine/die Schöpfungstheologie oder das spezifisch Christliche/die Soteriologie überbewertet wird. Daher ist es wichtig, „das Verständnis der Identität der Kirche nicht von einem Zentrum her zu entwickeln“70, sondern zu sehen, dass „die Offenbarung und die Leiblichkeit zwei gleichwertig notwendige Aspekte der Identität der Kirche sind“71. 63 Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 385. 64 Vgl. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 354–358.359–365.365–369. 369–373.373 ff.375–378.384–388. 65 Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 397. 66 Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 399. 67 Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 410. 68 Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 412. Vgl. 5.3. 69 Vgl. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 412. 70 Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 415. 71 Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 415.

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Der zweite historisch-systematische Problemhorizont: (Volks-)Kirche

Die Leiblichkeit der Kirche bindet die Kirche an den Ort, dort wo Evangelium und Welt sich begegnen: „Die Leiblichkeit ist Ausdruck für die Sozialität der Kirche und bestimmt diese als allgemein-menschlich.“72 Zunächst verdichtet sich die Leiblichkeit in der Kirche, im Gottesdienst: Die Verdichtung basiert also darauf, dass die beiden Brennpunkte unlöslich miteinander verbunden sind, ohne dass sie miteinander identifiziert werden. Damit wird Verdichtung mit Weite, Eigenart und Offenheit verbunden. Die Sakramente zeigen sowohl das spezifisch Christliche (Offenbarung) als auch das Allgemeine (Wasser, Brot, Wein).73

Im Weiteren verdichtet (oder: ent-dichtet?) sich die Gemeinschaft unter der Perspektive der Berufung, über die Kirche hinaus: „Der Einsatz der Kirche in der Gesellschaft geschieht nicht der Kirche wegen, sondern der Mitmenschlichkeit wegen.“74 Es ist der folgende Appell, den Myhre-Nielsen jedem Nachdenken über die Volkskirche mit auf den Weg gibt: In ihrer Konzentration auf Leiblichkeit und Leibwerdung bewegt sich die Ekklesiologie – mit einem theologischen Wirklichkeitsverständnis – auf dem gleichen Feld wie viele Humanwissenschaftler/Humanwissenschaftlerinnen. Dort kann sie – und muss sie – in einen kritischen und konstruktiven Dialog eintreten, der fragt, wie und auf welche Weise die Kirche ihre Leiblichkeit vom Volk erlangt und wie und auf welche Weise die Kirche in der heutigen Gesellschaft ihre Allgemeinheit leibwerden lässt.75

5.2.2 Kritische Rückfragen und Impulse zur Weiterarbeit Dag Myhre-Nielsen legt eine materialreiche Arbeit vor, sammelt das Feld der norwegischen Diskussionen und überblickt dabei den Verlauf von mehr als hundert Jahren. Er berücksichtigt historische, soziologische und streng dogmatische Positionen und stellt Verbindungen zwischen diesen her. Er liefert, im Rückgriff auf Friedrich D.E. Schleiermacher, ein Plädoyer für eine allgemeine Kirche, die den Menschen eine Subjektrolle sichert. Dies gilt es, gerade in Zeiten der Pluralisierung, zu reflektieren. Eine Nähe zum Interesse der vorliegenden Studie ist unschwer zu erkennen. Gleichwohl sollen einige kritische Rückfragen benannt werden. Angesichts der Aufgabe, der Myhre-Nielsen sich stellt („Das historische und theologische Selbstverständnis der Kirche soll an einem unter gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive entwickelten Verständnis gebrochen wer72 73 74 75

Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 415. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 416. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 416. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 418.

Dag Myhre-Nielsen: Eine heilige und ziemlich allgemeine Kirche

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den.“76), drängt sich im Rückblick die Frage nach Funktion und Stellung von Knut Lundbys soziologischer Untersuchung im Rahmen von Myhre-Nielsens Arbeit auf. Bricht Myhre-Nielsen das Selbstverständnis der Kirche an dieser Untersuchung oder dient sie als Scharnier, als Aufweis der Notwendigkeit von Allgemeinheit und eines weiten Religionsbegriffs? Die Annahme liegt nahe, dass der eigentliche Kontrast, das Sich-Brechen-Lassen, zwischen den verschiedenen ekklesiologischen Modellen gesucht und gefunden wird. So gesehen hat die Einbeziehung der Untersuchung Lundbys eher absichernden Charakter. Der Eindruck, dass Modelle und Ideen, und eben nicht, wie die Einbeziehung Lundbys hätte nahelegen können, soziologisch gewonnene, empirische Einsichten diskutiert werden, wird dadurch verstärkt, dass MyhreNielsen Theorien abfragt und Inge Lønnings Kirchenbild eher dogmatischnormativ als von unten her entwickelt wird – ein Kirchenbild von dem MyhreNielsen sagt, dass es in seiner Abstraktheit Gefahr läuft, inhaltsleer zu werden. Der Rückbezug auf die Subjekte wird nicht deutlich und bleibt als Potenzial unausgeschöpft.77 Bei der Anwendung des Begriffs der ,Lebensform‘, der früh eingeführt, aber kaum systematisch die Analyse durchzieht und im Ellipsenmodell nicht mehr deutlich reflektiert wird, verhält es sich ähnlich. Eine stärkere Verbindung dieses Begriffs, der auf das lokale Niveau verweist, mit dem der Leiblichkeit erscheint aus Sicht der eigenen Untersuchung vielversprechend. Hier ist, mit der Einführung der Leiblichkeit als ein Brennpunkt in der Definition von Kirche, ein Anstoß gegeben. Myhre-Nielsen ist auf dem Weg zur Empirie, er bewegt sich in Richtung Gemeinde und Gesellschaft.78 In die Bewegung zur Empirie, zur Gemeinde als Teil der Gesellschaft, kann Myhre-Nielsen gewichtige Impulse hineingeben. Er erinnert daran, dass der Stadt in Veränderung kirchlicherseits begegnet wurde, dass diese Begegnung ein lohnenswertes Unterfangen ist. Zu diesem größeren Themenkomplex will die eigene Studie beitragen. Dabei hilft die historische Sicht den Hintergrund für kirchliche Initiativen79, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung mit dem Ziel der empirischen Rekonstruktion in den Blick kommen, besser zu erkennen. Es wird so möglich, Verbindungslinien zu entdecken und zu ziehen, eingedenk dessen, dass eine Würdigung des gesellschaftlichen Pluralismus kirchlicherseits nicht selbstverständlich ist. 76 Myhre-Nielsen, Dag, En hellig og ganske alminnelig kirke. Teologiske aspekter ved kirkens identitet i samfunnet, KIFO Perspektiv 4, Trondheim 1998, 3. 77 Vgl. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 166.227.277.289 f.315 ff.333. 335.341.358.415 ff. 78 Vgl. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 2.396–400.406.417 f. Dass aber dann aus der ,Kerngemeinde‘ ,das volkskirchliche Wartungsmilieu‘ wird, scheint sein Anliegen zu unterlaufen, zu leicht ist ein Gefälle konnotiert. Vgl. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 417. 79 Vgl. 7.1.2.5.

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Der zweite historisch-systematische Problemhorizont: (Volks-)Kirche

Myhre-Nielsens Forderung nach einem weiten Religionsbegriff, der nicht unbewusst eine bestimmte Form der Kirchlichkeit voraussetzt, das Allgemeine herabsetzt und eine implizite theologische Urteilsbildung verdeckt, wird als Bestätigung für die methodologische Richtung der eigenen Studie gewertet. Für diese bleibt, auf dem Hintergrund der Bedeutung des Ortes, der primären Bezugsgröße für die Kirche im Sinne des Lebensformbegriffs, die These, dass die Klein-Kirchen-Bewegung direkte Vorläuferin der Arbeitskirche ist, interessant. Dies eben auch deshalb, weil es immer noch, wie in der Klein-Kirchen-Bewegung, wie bei Myhre-Nielsen, darum geht, ortsverbundene, leiblich vermittelte kirchliche Formen des Lebens zu finden, die sich den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen gerecht verhalten. Die Rolle des Subjekts ist in den Zeiten des Übergangs, hin zu einer größeren Selbstständigkeit der Norwegischen Kirche als Volkskirche, zu stärken.80

5.3 Sevat Lappegard: Volkskirchentheologie 5.3.1 Zum Ansatz Sevat Lappegard, zur Zeit der Abfassung seines Textes Stipendiat am Praktisch-theologischen Seminar in Oslo, war von 1992–2018 Propst (SørØsterdal/Elverum) und ist bis heute in kirchlichen Debatten aktiv. Ab Ende der 90er Jahre leitete er das Elverumprojekt, das interessierte Pastoren und Pfarrerinnen versammelte und Beiträge zur Erneuerung der Bestattungs- und Trauagende lieferte. Im Bistum Hamar war Lappegard an zentraler Stelle in die Diskussionen um die Reform des gottesdienstlichen Lebens eingebunden. Lappegards Ausgangspunkt ist die Sicht auf Religion als soziales Phänomen und die Beobachtung, dass Volkskirche ein vielen Disziplinen gemeinsames Thema ist. Dem empirischen Material dieser Forschung muss sich jede Annäherung an die ,Volkskirche‘ verpflichtet wissen.81 In Folge dessen wird folgende Problemstellung formuliert: Die Volkskirche zeigt sich soziologisch als ein Muster von sozialer Handlung und Kommunikation. Zur Debatte steht der Umfang dieses Musters und die Frage, wie dieses zu verstehen ist.82

Nach Lappegard gibt es in Norwegen keine Tradition des Faches Praktische Theologie und eine Beschäftigung mit der Volkskirche findet sich nur spär80 Vgl. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske alminnelig kirke, 2.33.270.277.283 f.353 f.415. 81 Vgl. Lappegard, Sevat, Folkekyrkjeteologi, in: Sandvik, Bjørn (Hg.), Folkekirken – Status og strategier, Presteforeningens studiebibliotek 29, Oslo 1988, 107–131, 107 f. 82 Lappegard, Folkekyrkjeteologi, 108.

Sevat Lappegard: Volkskirchentheologie

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lich. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts lehren Svend B. Hersleb und Stener J. Stenersen an der Theologischen Fakultät, beide waren von Nikolaj F.S. Grundtvig inspiriert. Den Gegenpol gibt Lappegard mit Gisle Christian Johnson an, der, etwa ab 1850, beeinflusst durch Friedrich D.E. Schleiermacher und Søren Kierkegaard, sein eigenes Gemeindeparadigma formt. Die eigentliche Gemeinde, vereinsgleich organisiert, stellt den Kern dar. Um diesen Kern herum findet sich die weitere Gemeinde, Menschen, die dem Kern näher oder ferner stehen. Die Peripherie, die Volkskirche, wird zum Missionsfeld.83 Im ausgehenden 19. Jahrhundert spielte zudem die große Gottesdienstreform Gustav Jensens diesem neuen Gemeindeideal zu und verstärkte dessen Auswirkungen, sodass es sich in Kirche und Theologie durchsetzen konnte. Die Volkskirche wurde daneben, durch (lokale) Traditionen, Schule, Riten im Lebenslauf und Gottesdienst gelebt.84 Dieses Muster ist für Lappegard entscheidend, sodass er, auch aufgrund von empirischen Arbeiten zur Volkskunde/Folkloristik, schlussfolgert: In der Begegnung mit Lebensbedingungen, wie sie in der lokalen Gesellschaft gegeben sind, wurde das Evangelium gedeutet, hat es sich in Gewohnheiten und Traditionen des gelebten Lebens materialisiert. […] Diese volkskirchliche Form des Christentums ist durch das Rituelle, das Kollektive und durch soziale Integration geprägt. Diese Form des Christentums etabliert keine eigenen Handlungsstrukturen, sondern lebt durch die sozialen Ordnungen des Lokalmilieus.85

Ein Desiderat der heutigen Situation ist, dass ,Volkskirche‘ noch immer als quantitativer Begriff gefasst wird. Soll aber das qualitative Moment gestärkt werden, muss die Bedeutung des Ortes theologisch anerkannt werden, wobei aber der Ort eben nicht der geografische Ort der Kirche ist, sondern der Ort die Stellung der Kirche im Netzwerk der Menschen bezeichnet.86 Lappegard beschreibt dieses Netzwerk als Muster von Verbindungslinien, die sich zwischen Institutionen der Gesellschaft (Ökonomie, Ausbildung, Politik und Familie) und zentralen Dimensionen des religiösen Systems (Kirchengebäude, Gottesdienst, Riten) ausbilden und die den Grad der Integration

83 Vgl. Lappegard, Folkekyrkjeteologi, 109–113. 84 Vgl. Lappegard, Folkekyrkjeteologi, 114 ff. Lappegard zeigt, dass unter dem Einfluss des neuen Gemeindeideals die Teilnahme am Abendmahl rasant abnahm. In seiner ehemaligen Gemeinde Dovre fiel die Teilnahme von etwa 90 % (um 1870) auf 7 % (1905). Das Abendmahl wurde zum Zeichen der Ernsthaftigkeit der Zugehörigkeit zum Gemeindekern. 85 Lappegard, Folkekyrkjeteologi, 118. 86 Vgl. Lappegard, Folkekyrkjeteologi, 120 f. Lappegard zitiert (ohne genauen Verweis) aus Ökumenischer Rat der Kirchen (Hg.), In each place. Towards a fellowship of churches truly united, Genf 1977.

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Der zweite historisch-systematische Problemhorizont: (Volks-)Kirche

abzeichnen. Da sich im Laufe der Zeit die Verbindungslinien verändern, kann das Modell sowohl deskriptiv als auch strategisch genutzt werden.87 Wird diese Analyse verfolgt, zeigt sich, dass die Volkskirche als Religion der Gesellschaft standhält, Strukturveränderungen, Säkularisierung, Pluralismus und gegenläufig-innerkirchlichen Strömungen zum Trotz. Dies bestätigt die Sicht auf Religion als soziales Phänomen, als gemeinsames Handeln – wie eben die Begriffe, die das Wirken Christi beschreiben, Relationsbegriffe sind, die „in der Begegnung mit dem Mitmenschen entstehen und erst in der Begegnung mit dem Mitmenschen gepflegt werden können“88. Daher gilt: „Religion ist mehr als Überzeugung und geäußerte Meinung. Religion ist gleichfalls ein Dazugehören.“89 Mit Verweis auf Robert N. Bellah (civil religion) kann Lappegard Religion als relational, als allgemein und als an die nahen Handlungsmuster gebunden annehmen, sodass es möglich ist, an das Allgemeinreligiöse anzuknüpfen. Herausfordernd sind die modernen, von Differenzierung gekennzeichneten Städte; doch auch hier handeln die Menschen noch immer gemeinsam.90 So verbleibt die Volkskirche eine Möglichkeit, die vier Kriterien bedenken muss: 1) Es bedarf der Einsicht, dass die Zeit der Einheitskultur, verstanden als Kultur des gesellschaftlichen Makroniveaus, vorbei ist. 2) Gleichzeitig bleibt auf dem gesellschaftlichen Mikroniveau die Möglichkeit des gemeinsamen Handelns gegeben, wenn auch auf begrenztem Raum. 3) Es bedarf der Offenheit dafür, dass die gesellschaftlichen Institutionen, gerade in der Situation der Differenzierung, Verbindung zum religiösen System suchen, da dieses Garant für Gesamtheit ist. 4) Es bedarf der Einsicht, dass die Volkskirche sich als Gesprächspartnerin in die Deutungen des Lebens einbringen kann, denn durch Tradition und vor allem durch die Riten im Lebenslauf [besitzt sie] immer noch allgemeine Relevanz für die Menschen […]. […] Durch die Riten im Lebenslauf erscheint die Volkskirche als der wesentlichste Faktor, der Zugehörigkeit in der lokalen Gesellschaft schafft.91

5.3.2 Kritische Rückfragen und Impulse zur Weiterarbeit Ohne Frage war Sevat Lappegards Text ein frischer Wind in der Diskussion, eine Stimme, die noch heute wahrgenommen wird. Bevor aber Impulse benannt werden, die dem vorliegenden Projekt zu Gute kommen, sollen einige kritische Fragen gestellt werden. 87 88 89 90 91

Vgl. Lappegard, Folkekyrkjeteologi, 123 ff. Lappegard, Folkekyrkjeteologi, 126 f. Lappegard, Folkekyrkjeteologi, 127. Vgl. Lappegard, Folkekyrkjeteologi, 127 f. Lappegard, Folkekyrkjeteologi, 130.

Sevat Lappegard: Volkskirchentheologie

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Lappegards Verständnis von Volkskirche lebt vom Gegenüber von gesellschaftlichen Institutionen und religiösem System. Anzumerken wäre, dass das religiöse System sich kaum als einheitliche Größe beschreiben lässt. Lappegard nimmt dies, zumindest ansatzweise, zur Kenntnis, gleichwohl läuft seine grundlegende Herangehensweise Gefahr, exklusiv zu werden: „Soziologisch erscheint die Volkskirche als die religiöse Dimension der Gesellschaft.“92 Im weiteren Umgang mit dem Phänomen des Pluralismus scheint Lappegard eben diesen, in der Unterscheidung von Makro- und Mikroniveau, unterlaufen zu wollen: Der Pluralismus in der Gesellschaft ist Realität. Aber der Pluralismus, der sich auf dem Makroniveau findet, ist für Religion, verstanden als Phänomen, nicht so sehr entscheidend. Die Religion ist sehr an die Lebensdeutung gebunden, die von den primären Relationen und den lokalen Strukturen des Zusammenlebens abhängt.93

Für das Mikroniveau gilt weiterhin: „Das erzählt uns ganz bestimmt, dass die Volkskirche eine Funktion als Religion des Volkes hat.“94 Seine Spitze ist ohne Frage die Argumentation für die Möglichkeit, an das Allgemeine/Allgemeinreligiöse anknüpfen zu können. Dennoch bleibt die Schlussfolgerung ungeschützt stehen: In der Kraft von Tradition und Geschichte ist es die Volkskirche, die an jedem Ort das religiöse System darstellt, innerhalb dessen das Volk seine Lebensdeutung bearbeitet.95

Es kommt die größere Herausforderung zum Vorschein, dass Lappegard einen Ganzheitsansatz verfolgt, der als Zielvorstellung unmöglich ist; es ist wohl kaum mehr möglich anzunehmen, dass zuvorderst die Riten der Volkskirche Ganzheit und Anteilnahme in den sozialen Strukturen sichern.96 Die Reaktionen nach den Anschlägen vom 22. Juli 2011 zeigen: Es ist keine Selbstverständlichkeit (mehr), dass der Platz vor der Domkirche in Oslo zum Ort der ,Spontan-Ritualisierung‘ wird, gerade gegen die Öffnung und öffentliche Profilierung der Domkirche gab es kritische Stimmen.97 Andere Akteure, andere religiöse Akteure, die sowohl Einfluss auf den Alltag der Menschen und auf die Kirche nehmen, als auch selbst danach streben, an den Alltag der Menschen anzuknüpfen, tauchen bei Lappegard erst ganz am Ende und versteckt auf: 92 Lappegard, Sevat, Folkekyrkjeteologi, in: Sandvik, Bjørn (Hg.), Folkekirken – Status og strategier, Presteforeningens studiebibliotek 29, Oslo 1988, 107–131, 123. 93 Lappegard, Folkekyrkjeteologi, 127. 94 Lappegard, Folkekyrkjeteologi, 127. 95 Lappegard, Folkekyrkjeteologi, 127. 96 Vgl. Lappegard, Folkekyrkjeteologi, 130. 97 Vgl. Opsahl, Carl Petter, En by fylt av blomster. Spontanritualisering etter 22. juli, in: KiKul 117 (2012), 5–21.

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Der zweite historisch-systematische Problemhorizont: (Volks-)Kirche

Das etablierte, alltägliche Handlungsmuster ist heute extrem arm an Relationen, die in der Lage sein könnten, Symbole zu entwickeln, die die grundlegenden Zusammenhänge im menschlichen Miteinander umgreifen. Dazu kann die Volkskirche beitragen, sie kann, aus ihrer eigenen Tradition, aus den allgemeinen Lebenserfahrungen und aus anderen Segmenten des Handlungsprozesses, Elemente einholen, interpretieren, neu-interpretieren und Kritik an den sinntragenden Symbolen im aktuellen Prozess des gemeinsamen Handelns üben, sodass die Sinnkonstruktion vollständiger wird.98

Es sei auf einen jüngeren Text Lappegards hingewiesen, der nicht die genannten Rückfragen ausräumt, aber doch eine Entwicklung erkennen lässt.99 Lappegard nähert sich der Kirche ausgehend von Tor Aukrusts100 Theologie; entscheidend ist die Verkündigung: Wenn das Christus-Ereignis (,Geschichte‘) verkündigt wird, wird eine Christus-Gegenwart (,Realpräsenz‘) etabliert, in der Jesus Christus reell anwesend (,persönlich‘), wiedererkennbar und neu ist. Das Evangelium ereignet sich von Neuem (,Ereignis‘).101

Damit ergibt sich: Dies gibt ein Bild von der Kirche als einer Größe, die immer im Prozess, immer in Bewegung, immer im Geschaffen-Werden ist, die niemals fertig geformt oder abgeschlossen ist, sondern sich immer in einem von innen her, von der Verkündigung des Evangeliums her, gesteuerten Prozess befindet.102

Mit den Begriffen ,persönlich‘ und ,Ereignis‘ ist implizit die Person des Zuhörers und der Zuhörerin erwähnt, diese ist entscheidend durch ihre Zugehörigkeit zu einem Ort bestimmt. Darum ist der Ort als Größe zu berücksichtigen:103 Diese [sc. die Kirche] ist Religion an ihrem Ort, und die Relationen zwischen Kirche und Ort sind Fragen der Zugehörigkeit. Besonders deutlich wird dies im nordischen Kontext mit seinen Volkskirchen, wo die Kirche weiterhin die dominierende Institution der Lebensdeutung ist, die Institution ist, die die Riten verwaltet. Es sind die allgemeinen Lebenserfahrungen, die in den Riten und Symbolen der Kirche Le98 Lappegard, Folkekyrkjeteologi, 131. 99 Vgl. Lappegard, Sevat, ,Kristi realpresens‘. Tor Aukrust som forkynner, in: Hjelde, Sigurd/ Krogseth, Otto/Larsen, Lars Frode (Hg.), Mennesket, kulturen, samfunnet, Festskrift til Tor Aukrust p 80- rsdagen, 8. november 2001, Det praktisk-teologiske seminars skriftserie 6, Oslo 2001, 167–188. 100 Tor Aukrust (1921–2007), Theologisches Examen 1949, Praktisch-theologisches Examen 1950, Studienaufenthalte in Kopenhagen, Göttingen und Basel 1950–1959, Promotion 1958, Ordination 1963, Pastor in Hamar, Dozent für Religionsgeschichte 1971, Rektor am Praktischtheologischen Seminar 1978–1988. 101 Lappegard, Kristi realpresens, 176. 102 Lappegard, Kristi realpresens, 182. 103 Vgl. Lappegard, Kristi realpresens, 184 f.

Harald Hegstad: Gemeindeentwicklung in der Volkskirche

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bensdeutung suchen. In einem volkskirchlichen Kontext sind es die allgemeinen Lebenserfahrungen, die die soziale Grundlage der Kirche ausmachen. […] Das Allgemeine ist zweideutig. Es fragt nach seiner Interpretation. Die Zweideutigkeit des Allgemeinen sucht im Evangelium Eindeutigkeit zum Glauben.104

Lappegard, das ist wichtig festzuhalten, formuliert weniger exklusiv, wenngleich die Majoritätsposition der Kirche zur Begründung einer Vorrangstellung herangezogen wird und der Eindeutigkeitsanspruch mit der Idee einer Gesamtheit zu korrelieren scheint. Ebenso wichtig ist aber, dass dieser spätere Text Impulse unterstreicht, die die vorliegende Studie aus der Beschäftigung mit Lappegard mitnehmen kann. Der grundlegende Impuls, der hier aufgenommen werden soll, ist der Wille, den Ort als entscheidenden Faktor zu sehen. Lappegard schafft Bewusstsein dafür, dass das qualitative Element der Kirche vor Ort zutage tritt und dass empirisches Material wichtige Quellen zur Bestimmung des Selbstverständnisses der Kirche liefern kann. Seine Bewegung zu den Menschen vor Ort hin, sein Denken im Netzwerk, sein Auffinden der Grundlage der Kirche im Allgemeinen, auch in den Symbolen und Riten (der Kirche), sein Wille, die Kirche nicht neben die Gesellschaft zu stellen oder sie als Sonderform der Gesellschaft zu sehen, sind wichtige Erinnerungen. Denn: Es geht um mehr und anderes als Meinung, Überzeugung oder Bekenntnis. Es geht um Zugehörigkeit, die ,persönlich‘ erfahren wird. Jenseits des Ideals der Ganzheit und Eindeutigkeit werden mir gerade die Faktoren der Zugehörigkeit zum Ort, der Deutung dieses Ortes und der Deutung der Zugehörigkeit im Gottesdienst wichtig werden.105

5.4 Harald Hegstad: Gemeindeentwicklung in der Volkskirche 5.4.1 Zum Programm Harald Hegstad ist seit 2001 Professor an der Norwegian School of Theology, Religion and Society106, zunächst im Fachgebiet Praktische Theologie, seit 2010 vertritt er das Fach Systematische Theologie (Dogmatik und praktische Ekklesiologie). Daneben hat Hegstad kirchliches Engagement gepflegt, als Mitglied der vom Kirchenrat 1998 eingesetzten Kirche/Staat-Kommission und seit 2010 als Mitglied – und zeitweise Vorsitzender – des Diözesanrates im 104 Lappegard, Kristi realpresens, 185 f. 105 Vgl. Lappegard, Folkekyrkjeteologi, 114.118–122.123–126.127 f.; Lappegard, Kristi realpresens, 184. 106 So der heutige Name, es handelt sich um die schon genannte Theologische Gemeindefakultät, gegründet 1907. Im Folgenden wird einheitlich der aktuelle Name verwendet.

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Der zweite historisch-systematische Problemhorizont: (Volks-)Kirche

Bistum Oslo, damit gehört er seit 2010 ebenfalls der Generalsynode der Norwegischen Kirche an. Ohne Zweifel ist Hegstad ein in der Kirche bekannter und anerkannter Theologe, der in verschiedene Diskussionen gut eingebunden ist und diese zum Teil maßgeblich prägt. Bevor auf das Programm Gemeindeentwicklung in der Volkskirche eingegangen wird, soll die ekklesiologische und methodologische Grundierung analysiert werden, die Hegstads fachliche Produktion mit in das Programm hineinträgt. 1996 legt Hegstad seine umfangreiche empirische Studie zum Verhältnis von ,Volkskirche‘ und ,Glaubensgemeinschaft‘ in drei Gemeinden der Norwegischen Kirche vor. Der Blick auf „christlichen Glauben und Praxis, wie sie in drei lokalen Gemeinden der Norwegischen Kirche zum Ausdruck kommen“107, zeigt, bei aller Unterschiedlichkeit, Gemeinsamkeiten: Ein Problem, das an zentraler Stelle steht, ist das Verhältnis zwischen der Kirche als Ort religiöser Anknüpfung für eine Majorität der Bevölkerung und der Kirche als Arena für eine kleinere Gruppe, die der religiös sehr Aktiven.108

Diese Doppelung sieht Hegstad als Ausschlag der Modernisierung und er unterscheidet zwei Herangehensweisen an dieses Thema: eine soziologische/ kirchensoziologische und eine theologische/ekklesiologische. Innerhalb der ersten „geht es darum, auf empirischer Grundlage zu beschreiben, wie sich das religiöse Leben auf lokalem Niveau darstellt“109. Innerhalb der zweiten ist es für die Theologie notwendig, sich dieser Doppelung der faktischen Wirklichkeit der Kirche gegenüber zu verhalten, wenn die Systematische Theologie auf normative Weise über das Wesen der Kirche sprechen und die Praktische Theologie die kirchliche Praxis in der heutigen Situation reflektieren soll110.

Mit seiner Studie sucht Hegstad eine Lücke zu schließen, denn „auf Forschung basierendes Wissen über die faktische norwegische Kirchenwirklichkeit in ihrer ganzen Bandbreite ist Mangelware“111. Hegstad scheint eine „mehr quantitativ orientierte Soziologie“112

107 Hegstad, Harald, Folkekirke og trosfellesskap. Et kirkesosiologisk og ekklesiologisk grunnproblem belyst gjennom en undersøkelse av tre norske lokalmenigheter, KIFO Perspektiv 1, Trondheim 1996, 1. 108 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 1. 109 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 2. 110 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 2. 111 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 2. 112 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 3.

Harald Hegstad: Gemeindeentwicklung in der Volkskirche

135

in geringem Maß geeignet, den inneren Zusammenhang zwischen religiösem Glauben und religiöser Praxis bei denen, die nicht dem inneren Kreis der christlich und kirchlich Aktiven angehören, herauszustellen113.

Seine eigene Untersuchung „baut auf mehreren methodischen Vorbildern einer qualitativ orientierten gesellschaftswissenschaftlichen Forschung auf“114, in diesem Sinne gibt es keine der Theologie spezifischen Methoden. Entscheidend ist zum einen der thematische Zusammenhang, in dem diese Methoden gebraucht werden, zum anderen die Voraussetzung im Glauben, die den Gebrauch dieser Methoden steuert, dies „bedeutet, dass die [Theologie] nicht nur eine deskriptive Aufgabe hat, sondern auch eine normative“115. Hegstads Gewicht liegt zunächst auf der deskriptiven Aufgabe, er hat zum Ziel, nach der ,Theologie‘ zu fragen, die sich im zu untersuchenden Feld vorfindet. Denn auch wenn dies selten Theologie in qualifiziert fachlichem Sinne ist, so ist sie doch Ausdruck der gleichen kontinuierlichen kirchlichen Reflexion, der auch die Fachtheologie angehört.116

Die beiden eingangs erwähnten Größen definiert Hegstad wie folgt: Mit ,Glaubensgemeinschaft‘ ziele ich auf die verschiedenen Formen von Gruppenwerdung, die aufgrund eines gemeinsamen religiösen Selbstverständnisses, eines gemeinsamen Engagements derer, die zur Gemeinschaft gehören, zustande kommen. Das Kennzeichen der Glaubensgemeinschaft ist, dass das Religiöse (,der Glaube‘) das konstituierende Element der Gruppenwerdung ist. […] Mit ,volkskirchlich‘ meine ich in dieser Untersuchung die Form kirchlicher Zugehörigkeit, die Teil der allgemeinen Kultur in der Gesellschaft ist – sowohl auf lokalem als auch nationalem Niveau. […] Diese wird also weiterhin als ,normal‘ angesehen, als etwas, ,was die meisten‘ machen, und sie beinhaltet daher Elemente von Tradition und Konvention.117

Die Untersuchung von drei Gemeinden, die je einen Landesteil repräsentieren, nimmt den Hauptteil der Studie ein. Die erste Gemeinde ist volkskirchlich geprägt, ohne deutliche Trennung zwischen ,Gemeindekern‘ und ,Peripherie‘, die zweite ist durch eine aktive Erweckungsbewegung und christliche Organisationen gekennzeichnet; diese organisieren sich, auch durch ein eigenes Missionshaus, als gegensätzlich zur Gemeinde. Die dritte Gemeinde lebt von aktiver Gemeindearbeit innerhalb der kirchlichen Strukturen. Sein Material 113 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 3. 114 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 11. Hegstads Methoden zur Datenerhebung sind Interviews, Teilnehmende Beobachtung, Gespräche und schriftliches, zumeist nicht veröffentlichtes, Material (Kirchenbücher, Sitzungsprotokolle). Vgl. Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 8 ff. 115 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 13. 116 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 13. 117 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 15.16 f.

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Der zweite historisch-systematische Problemhorizont: (Volks-)Kirche

fasst Hegstad abschließend in drei Schritten, 1) die Volkskirche, 2) die Glaubensgemeinschaft und 3) die Gemeinde als Institution, zusammen.118 Volkskirchlichkeit/Teilhabe an der Volkskirchengemeinschaft „ist immer noch die konventionelle Form der Kirchenzugehörigkeit“119, „dies bedeutet auch, dass diese, als Element der allgemeinen Kultur der örtlichen Gemeinschaft, sozialen Sinn stiftet“120, wobei man offenbar nicht denkt, dass es einen notwendigen Zusammenhang zwischen der Kirchenmitgliedschaft und der Zustimmung zu offiziellen kirchlichen Standpunkten in ethischen Kontroversen gibt121.

Gleichzeitig versteht sich diese Form von Kirchenzugehörigkeit im Verhältnis zur Glaubensgemeinschaft, wenn man seinen eigenen religiösen und kirchlichen Status definieren soll, tut man dies gerne unter dem Verweis auf ein religiöses und christliches ,Mehr‘.122

Volkskirchlichkeit „kann nicht ohne Weiteres als eine selbstständige und alternative Form des Christentums gefasst werden, die sich mittels eigener Prämissen begründet“123. Dies gilt, obwohl es Ansätze gibt, die diese Form stärker anerkennen möchten oder auch der Wunsch eingetragen wird, „dass die Menschen sich ihrer kirchlichen Zugehörigkeit bewusster werden und in größerem Umfang Konsequenzen daraus ziehen“124. Da aber dies den Wunsch sowohl nach einem neuen Selbstverständnis als auch nach einer neuen Praxis repräsentiert, kann eine solche Art der Volkskirchentheologie sich nicht darauf berufen, das faktische volkskirchliche Selbstverständnis zu reflektieren.125

Aufseiten der Glaubensgemeinschaft hebt Hegstad deren Wurzeln in der Erweckungsbewegung und in den christlichen Organisationen hervor, dabei bleibt die Betonung der individuellen Entscheidung und einer daraus resultierenden Lebensführung grundlegend wichtig. Wo diese Gemeinschaft sich in kirchliche Strukturen integriert, wird sie zur ,Kerngemeinde‘. An die Stelle der Bekehrungserfahrung tritt das

118 Vgl. Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 383 f. Hegstad betont, dass die Berücksichtigung anderer soziologischer Faktoren, zum Beispiel in einer Stadt, dazu führen könnte, dass sich andere Prozesse geltend machen. 119 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 384. 120 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 384. 121 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 386. 122 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 388. 123 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 391. 124 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 391. 125 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 391.

Harald Hegstad: Gemeindeentwicklung in der Volkskirche

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operative Kriterium […]. Auch wenn die Gemeinschaft sich selbst primär als Glaubensgemeinschaft sieht, stellt sie sich in der Praxis als eine Arbeits- und Aktivitätsgemeinschaft dar.126

Diese ,Verkirchlichung‘ führt dazu, dass der sonntägliche Gottesdienst mehr oder weniger dieser Gruppe zufällt. Dies korrespondiert damit, dass „die Volkskirchlichkeit in einer ,weniger als‘-Perspektive interpretiert wird“127. Es sind die Möglichkeiten des Kontaktschaffens und des Werbens um Nachwuchs, die das Interesse an der Volkskirche nicht einschlafen lassen.128 An der Person des Pfarrers oder der Pastorin wurde traditionell die institutionelle Seite der Gemeinde sichtbar. Unter den sich verändernden Bedingungen der modernen Gesellschaft übernimmt die Kerngemeinde Teile dieser formellen Position, diese tritt in ein Verhältnis zur Volkskirchlichkeit, das früher dem Pastor oder der Pfarrerin vorbehalten war, sie repräsentiert die institutionalisierte Religion.129 Der Gottesdienst ist der institutionalisierte Ort, an dem sich ,Volkskirche‘ und ,Glaubensgemeinschaft‘ begegnen.130 Charakterisiert Hegstad seine Studie soweit als vornehmlich deskriptiv, soll abschließend das Verhältnis von ,Volkskirche‘ und ,Glaubensgemeinschaft‘ theologisch kommentiert werden. Zunächst systematisch theologisch, ekklesiologisch, „verankert und begründet in der biblischen Offenbarung […] und in Relation zur faktisch vorfindlichen Kirche und den Bedingungen, unter denen diese lebt“131. Sodann praktisch theologisch: Als handlungswissenschaftliche Disziplin der Theologie, ist es die Aufgabe der Praktischen Theologie die (in weitem Sinn verstandene) Praxis, die die konkrete kirchliche Wirklichkeit formt, zu reflektieren. Eine solche Reflexion muss sich auf der einen Seite zu einer systematisch-theologischen Definition des Wesens und des Auftrags der Kirche verhalten. Dies ist notwendig, wenn Praktische Theologie mehr sein soll als die Frage danach, was ,funktioniert‘, wenn sie stattdessen eine praktische Antwort auf die Frage geben soll, was es heute heißt, Kirche und lokale christliche 126 127 128 129

Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 394. Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 397. Vgl. Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 391 ff.396 f. Vgl. Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 401 f. Hinzu kommt eine Ausdifferenzierung kirchlicher Berufe, die dem Pfarramt das Alleinstellungsmerkmal nehmen. Vgl. Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 404. 130 Vgl. Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 405. Hegstad führt aus: „Vonseiten der Glaubensgemeinschaft kann man erleben, dass die Verkündigung zu oberflächlich und die liturgische Form zu unpersönlich wird, dass in zu wenigem Maße Raum für andere als für die professionellen Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen gegeben wird. Vonseiten der Volkskirchlichkeit kann man es dagegen als problematisch erleben, wenn der Gottesdienst sich zu eindeutig als Gottesdienst der Glaubensgemeinschaft darstellt. Ohne Zweifel würde auch ein Gottesdienst mit deutlicherer persönlicher Ausprägung und mit mehr Raum für spontane religiöse Äußerungen von einem mehr volkskirchlichen Publikum als problematisch erlebt. Man kann faktisch fragen, ob nicht die geltende Form des Gottesdienstes die am besten geeignete ist, die Interessen beider Gruppen zu wahren.“ 131 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 407.

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Der zweite historisch-systematische Problemhorizont: (Volks-)Kirche

Gemeinde zu sein. Auf der anderen Seite muss die praktisch theologische Reflexion auf der Basis von empirischem Wissen über die faktisch vorfindliche kirchliche, religiöse und kulturelle Wirklichkeit, in der man sich befindet, geschehen.132

Die Herausforderung, die Hegstad, aus seiner soziologisch beobachteten Doppelung in der Kirche heraus, der Theologie aufgibt, ist die Frage nach der Einheit der Kirche: „Die Frage ist, wie am Gedanken, dass die Kirche grundlegend eine Kirche ist, festgehalten werden kann, wenn sie sich doch in gespaltener Gestalt zeigt.“133 Ekklesiologisch kann nicht eine Seite der anderen Seite vorgezogen werden: Ein Hauptfund dieser Studie ist, dass Volkskirche und Glaubensgemeinschaft nicht allein in einem gegensätzlichen Verhältnis zueinanderstehen, sondern auch einander voraussetzen, als zwei Seiten einer Gesamtheit, an der beide Anteil haben.134

Dies kann gleichwohl nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Volkskirche „eine Reihe ekklesiologischer Mängel repräsentiert“135. Zu den Qualitäten der Glaubensgemeinschaft zählen „zum Beispiel der Charakter einer christlichen Gemeinde als Abendmahlsgemeinschaft, als regelmäßige Gottesdienstgemeinschaft und als Gemeinschaft in Glauben und Bekenntnis“136. Es geht Hegstad nicht darum, beide Größen gleichzustellen: Die Perspektive auf die Glaubensgemeinschaft als ein […] religiöses und christliches ,Mehr-Als‘, das wir im Material gefunden haben, kann in diesem Zusammenhang Ausdruck für eine berechtigte Beschreibung sein.137

Die Schlussfolgerung ist daher, dass das Verhältnis der beiden Größen als ,Manifestation‘ und ,Repräsentation‘ zu sehen ist: In der Glaubensgemeinschaft manifestiert sich die geistige Gemeinschaft, in die jedes Kirchenmitglied hineingetauft ist. Damit repräsentiert die Glaubensgemeinschaft auch die volkskirchliche Gemeinschaft, sowohl durch Gottesdienst und andere Treffen als auch durch praktisches Engagement für das kirchliche Leben auf verschiedenen Niveaus.138

Institutionell muss der Pfarrer oder die Pastorin, aufgrund des repräsentativen Charakters dieser Funktion der Volkskirche gegenüber, der Glaubensgemeinschaft zugerechnet werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass die repräsentative Funktion desgleichen der Glaubensgemeinschaft zukommt. Dieser Wirklichkeit muss sich mit dem Ziel ,des Gemeindeaufbaus in der 132 133 134 135 136 137 138

Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 408. Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 409. Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 410. Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 411. Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 411. Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 412. Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 413 f.

Harald Hegstad: Gemeindeentwicklung in der Volkskirche

139

Volkskirche‘ und mittels einer „kirchlichen ,Doppelstrategie‘“139 genähert werden, „verankert […] in der faktischen kirchlichen Wirklichkeit – in ihren lokalen Variationen“140. Einen summierenden Zwischenschritt legt Hegstad mit dem Band Kirche in Veränderung. Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Vielfalt in der Norwegischen Kirche 1999 ein. Hegstad hebt den Aspekt der koinonia hervor; im Aufeinandertreffen mit den sozialen Formen der Kirche ist es die Aufgabe der Theologie, „zu fragen, wie diese sozialen Formen als Ausdruck der christlichen koinonia interpretiert werden können“141. – In umgekehrter Richtung ist zu untersuchen, wie „die Kirche auf best mögliche Weise Verwirklichung der geistigen Gemeinschaft, derer man durch Taufe und Glaube teilhaftig wird, sein kann“142. Im Rückgriff auf die Begriffe koinonia, Repräsentation und Manifestation bekräftigt Hegstad: Die primäre Verankerung der Kirche als Institution muss also nicht ,von oben‘ her geschehen […], auch nicht ,von unten‘ her, in allgemein demokratischem Verstand […], sondern in der Kirche, wie sie durch Menschen, die in Wort und Tat die lokale kirchliche Gemeinschaft repräsentieren und manifestieren, zum Ausdruck kommt.143

Gerade dort, wo die örtliche Gemeinschaft sozusagen von Grund auf geschaffen werden sollte, wie in den Vorstädten oder Trabantenstädten der schnell wachsenden Städte144,

nimmt die ,Glaubensgemeinschaft‘ mehr und mehr die Form der ,Kerngemeinde‘ an, die in der Arbeitskirche ihre bauliche Entsprechung findet. Seitens der Kirche wird sie als der Normalfall gesehen. Gemeindeaufbau ist nicht mehr von außen motiviert, sondern ist per se das Ziel.145 Es geht darum, den Menschen „zu helfen, aktivere Christen/Christinnen zu werden“146. 139 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 414. Hegstad nimmt, bis in die Formulierungen hinein, Michael Herbst auf. Er verweist auf Herbst, Michael, Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche, AzTh 76, Stuttgart 31993. 140 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 414. 141 Hegstad, Harald, Kirke i forandring. Fellesskap, tilhørighet og mangfold i Den norske kirke, Oslo 1999, 21. 142 Hegstad, Kirke i forandring, 21. 143 Hegstad, Kirke i forandring, 72. Zu den Grenzen der Differenzierung in ,Volkskirche‘ und ,Glaubensgemeinschaft‘ schreibt Hegstad: „Auf Dauer ist es aus Sicht der Kirche auch unhaltbar, wenn der Abstand zwischen dem kirchlichen Verständnis der Riten und dem, was die Menschen da hineinlegen, zu groß wird. […] Letztendlich kann die Frage nach der Zukunft der Volkskirche daher nicht von der Frage nach dem faktischen Wissen über und von der Zustimmung zum Glauben der Kirche in der Bevölkerung getrennt werden.“ In Hegstad, Kirke i forandring, 46 f. 144 Hegstad, Kirke i forandring, 102. 145 Vgl. Hegstad, Kirke i forandring, 104–107.109 f. Die historischen Wurzeln sieht Hegstad in der Klein-Kirchen-Bewegung. Vgl. Hegstad, Kirke i forandring, 103. 146 Hegstad, Kirke i forandring, 115.

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Hegstads abschließende Herausforderung, „zwischen der legitimen und bereichernden Vielfalt und der problematischen und kirchentrennenden Vielfalt unterscheiden zu können“147, wird schlussendlich durch die Voranstellung der Kerngemeinde eingeholt: „Will die Volkskirche mehr sein als ein religiöser Serviceapparat, sind solche Gemeinschaften entscheidend.“148 In seiner Ekklesiologie von 2009, Die wirkliche Kirche. Beiträge zur Ekklesiologie, ist es, auf dem Hintergrund seines bisherigen Engagements, Hegstads Anliegen, das Verhältnis zwischen einer traditionellen theologischen Ekklesiologie und der Form von Wissen über die Kirche, die eine empirische Kirchenforschung repräsentiert149,

zu bedenken. Grundlegend wendet sich Hegstad gegen die klassische Vorstellung einer unsichtbaren Kirche: „Meine These ist, dass es nur eine Kirche gibt, nämlich die Kirche, die konkret und erfahrbar in der Welt vorfindlich ist.“150 Damit ergibt sich als Konsequenz für die Ekklesiologie, dass „der Abstand zwischen einem theologischen Verständnis der Kirche und der Kirche, wie sie sich aus der Sicht anderer Fächer präsentiert, geringer wird“151 und dass die Theologie sich nicht mehr damit begnügen kann, über die Kirche als Thema der Lehre und Dogmatik zu reden […]. Ekklesiologie ist nicht allein die Lehre von der Kirche als prinzipielle und theoretische Größe, sondern auch eine Lehre von der konkreten und erfahrbaren Kirche.152

Unter Rückgriff auf das ,Praxis–Theorie–Praxis–Modell‘ (Don S. Browning) wird unterstrichen, dass diese beiden Lehren zusammengehören. In deskriptiver Absicht wird auf die singuläre Kirche oder Gemeinde abgezielt, dogmatisch auf die Einheit der Kirche: Eine entscheidende Bedingung von sachlichem Charakter ist […], dass man das Objekt für sowohl die dogmatische als auch die praktische Ekklesiologie auf eine solche Weise definiert, dass klar wird, dass es dasselbe Objekt ist, von dem die Ekklesiologie in beiden Fällen handelt.153 147 Hegstad, Kirke i forandring, 145. 148 Hegstad, Kirke i forandring, 147. 149 Hegstad, Harald, Den virkelige kirke. Bidrag til ekklesiologien, KIFO Perspektiv 19, Trondheim 2009, 5. 150 Hegstad, Den virkelige kirke, 10. Er beantwortet seine eigene Frage nach der Einheit der Kirche. Vgl. Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 409. 151 Hegstad, Den virkelige kirke, 10. 152 Hegstad, Den virkelige kirke, 11. 153 Hegstad, Den virkelige kirke, 13. Vgl. Hegstad, Den virkelige kirke, 59.

Harald Hegstad: Gemeindeentwicklung in der Volkskirche

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Diese eine, wirkliche Kirche, verstanden als „eine bestimmte Gruppe von Menschen“154, wie es in CAVII (congregatio sanctorum) und im Apostolikum (sanctorum communio) zum Ausdruck kommt, begründet Hegstad, mit Miroslav Volf, von Mt 18,20 her155: „An die Kirche zu glauben heißt, an das Versprechen von Jesu Gegenwart zu glauben, wenn Menschen sich in seinem Namen versammeln.“156 Als solche ist die Kirche als ,Zeichen‘ und als ,Vorgriff‘ auf das kommende Gottesreich zu verstehen. Es tritt ein eschatologisches Verständnis an die Stelle der Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche, „bietet […] ein alternatives Modell, die Unstimmigkeit zwischen den […] Attributen der Kirche und der konkreten Erfahrung zu verstehen“157. Diese Fokussierung auf die wirkliche Kirche, auf die Erfahrung, eröffnet einen, zumindest indirekten, Zugriff auf den Glauben, nämlich „durch die Aussagen der/des Glaubenden über ihren/seinen Glauben und durch die Implikationen, die der Glaube in Wort und Tat mit sich bringt.“158 Ferner wird die Kirche sichtbar und konkret in den Sakramenten: Jesu Gegenwart ist nicht darauf begrenzt, eine Botschaft aufzufassen und zu verstehen, sondern wird auch durch konkrete physische Elemente vermittelt. Seine Gegenwart gilt nicht nur unserem Verstand, sondern auch unserem Körper.159

Dieser Rückgriff auf das Konkrete, Erfahrbare wird Hegstad durch die Beschäftigung mit soziologischen Perspektiven möglich, denn dass „die Kirche

154 Hegstad, Den virkelige kirke, 17. 155 „Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Mt 18,20) Vgl. Hegstad, Den virkelige kirke, 19. Die Gefahr, dass die ,eigentliche Kirche‘ überempirisch gefasst wird, und eine Begründung der Kirche von Mt 18,20 her beschreibt Hegstad schon 2002. Vgl. Hegstad, Harald, Ekklesiologi mellom teori og praksis, in: Henriksen, Jon-Olav/Heiene, Gunnar/Thorbjørnsen, Svein Olaf (Hg.), Teologi for kirken, FS Torleiv Austad, Oslo 2002, 171–180, 177. Notiert werden soll, dass Hegstad die Begriffe communio und congregatio synonym verwendet. Erhellend sind die Ausführungen Hans-Richard Reuters, hier nur in verkürzt-konstatierender Zusammenfassung: „Der Leitbegriff der congregatio akzentuiert die primäre Verborgenheit der wahren Kirche, ihr Wesen als Geschöpf des Wortes, ihre Einheit in der unverfügbaren Subjektivität der Glaubenden. Als congregatio ist die Kirche Gegenstand des Glaubens, Thema der Lehre von der Rechtfertigung. Der Leitbegriff communio dagegen akzentuiert die Erfahrbarkeit der Kirche, ihr gottesdienstliches Zentrum im Herrenmahl als sakramentale Teilhabe am Leib Christi, die im sichtbaren Zeichengebrauch verbundene und daran erkennbare Gemeinschaft. Als communio könnte man die Kirche unter dem Aspekt der sie konstituierenden Handlungen betrachten.“ In Reuter, Hans-Richard, Communio und congregatio. Zwei Aspekte des Kirchenbegriffs, in: Reuter, Hans-Richard, Botschaft und Ordnung. Beiträge zur Kirchentheorie, Öffentliche Theologie 22, Leipzig 2009, 56–72, 69. 156 Hegstad, Den virkelige kirke, 21. 157 Hegstad, Den virkelige kirke, 33. 158 Hegstad, Den virkelige kirke, 40. 159 Hegstad, Den virkelige kirke, 50.

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Der zweite historisch-systematische Problemhorizont: (Volks-)Kirche

in gewisser Weise ,unsichtbar‘ ist, gilt nicht nur für sie, sondern für alle menschlichen Gesellschaften“160. Gleichwohl ist das Konkrete und Erfahrbare nicht unmittelbar zu verstehen. Mit Johannes van der Ven konstatiert Hegstad, dass Soziologie und Theologie das gleiche materiale Objekt, aber verschiedene formale Objekte haben, indem die Theologie die Kirche von ihrer Zukunft her, aus der Perspektive des Evangeliums versteht.161

Mit Eberhard Jüngel spricht Hegstad von der Möglichkeit der „Erfahrung mit der Erfahrung“, die aber fordert, dass die Theologie „von Kriterien, aus der biblischen Offenbarung definiert, abhängig ist, um Gottes rettendes Handeln“162 von anderem menschlichen Handeln zu unterscheiden: Zu einer solchen Unterscheidung gehört auch, identifizieren zu können, was Kirche qualifiziert theologischem Verständnis nach ist. Zu einer theologischen Perspektive gehört also ein normatives Element schon dann, wenn das Objekt für die Untersuchung eingegrenzt werden soll.163

Wie aber sieht dann das Verhältnis der Kirche zu dem, was nicht Kirche ist, was gewöhnlich als ,Welt‘ bezeichnet wird, aus? Wie gestaltet sich das Verhältnis von Kirche und Kultur?164 – Wenn das prinzipielle Verhältnis zwischen Christentum und Kultur geklärt werden soll, ist es notwendig, auf den transkulturellen Charakter des christlichen Glaubens hinzuweisen. […] Das bedeutet sowohl, dass sich der christliche Glaube in verschiedenen Kulturen finden lässt, als auch, dass der christliche Glaube selbst unterschiedliche kulturelle Ausdrücke annimmt. […] Eine solche Interaktion mit anderen Teilen der Kultur wird notwendigerweise auch größere oder kleinere Elemente von Konflikt aufweisen. […] Wo die Grenzen zwischen dem transkulturellen Inhalt und den verschiedenen kontextuellen und kulturellen Ausdrucksformen zu ziehen sind, ist jedoch eine Frage, die immer wieder diskutiert werden muss […].165

Soziologisch und theologisch ist die Kirche Teil menschlicher Kultur und der geschaffenen Wirklichkeit, das, was die Kirche zu etwas anderem als die Welt macht, ist, dass sie das Stück Welt ist, das Gott auserwählt hat, seine Gegenwart auf besondere Weise zu tragen und der Ort seines Vorgriffs auf seine neuschöpfende Tat mit dem Menschen und der Welt zu sein166. 160 161 162 163 164 165 166

Hegstad, Den virkelige kirke, 55. Hegstad, Den virkelige kirke, 58, Fußnote 16. Hegstad, Den virkelige kirke, 59. Hegstad, Den virkelige kirke, 59. Vgl. Hegstad, Den virkelige kirke, 61.64 f.69 f. Hegstad, Den virkelige kirke, 71 f. Hegstad, Den virkelige kirke, 72.

Harald Hegstad: Gemeindeentwicklung in der Volkskirche

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Mit Ausgangspunkt in der Schöpfungstheologie gilt für die Kirche: Wie die Schöpfung vielfältig war, so ist damit zu rechnen, dass auch die neu geschaffene Welt dies sein wird. Als Trägerin der Wirklichkeit der Neuschöpfung muss daher auch die Kirche eine vielfältige Gemeinschaft sein.167

In Verlängerung gilt dann: Die Verankerung der Kirche – sowohl im Schöpfungswerk als auch in Gottes Auftrag – fordert eine grundlegende Offenheit der Kirche in Richtung Welt.168 Hegstad referiert die ökumenische Arbeit, die dazu geführt hat, die Kirche als moralische Gemeinschaft zu stärken; gegen Stanley Hauerwas’ Idee der Kirche als ,Kolonie‘ oder ,Polis‘ hält Hegstad fest, „dass die Kirche eine eigene Gemeinschaft und gleichzeitig auf komplexe Weise in andere soziale Strukturen der Gesellschaft verwoben ist“169. So kommt er auf seine eigene Unterscheidung von ,Volkskirche‘ und ,Glaubensgemeinschaft‘ zurück und erinnert an die gegenseitige Abhängigkeit dieser beiden Größen voneinander. Hegstad konstatiert, dass das Faktum, dass sich die kirchliche Gemeinschaft nicht eindeutig abgrenzen lässt, gut auf die eschatologische Perspektive der Theologie antwortet, als eine Gemeinschaft, die unterwegs ist170

und er bedient sich Paul G. Hieberts ,centered sets‘:171 Das zentrale Anliegen einer kirchlichen Strategie ist damit, das eigene Zentrum zu stärken und dafür zu arbeiten, dass Menschen sich auf dieses Zentrum hinbewegen. […] Selbst wenn die Grenzen der kirchlichen Gemeinschaft in dieser Perspektive schwierig zu ziehen sind, stellt sich die kirchliche Gemeinschaft […] doch mit einer klaren Struktur dar.172

Die Herausforderung, die bleibt, ist das Verhältnis der Gemeinschaft zum Einzelnen und zur Einzelnen: Im Namen der Religionsfreiheit hat man behauptet, dass verschiedene Formen von Glauben oder Unglauben ihren Platz in der Kirche haben sollten. Eine solche Argumentation nimmt aber den Charakter der Kirche als Glaubensgemeinschaft nicht ernst, eine Gemeinschaft von Menschen mit dem gleichen Glauben zu sein. Dass es innerhalb der Kirche Raum geben muss, diesen Glauben auf verschiedene Weise zu formulieren, dafür kann man vom Selbstverständnis der Kirche her argumentieren. Das verhindert nicht, dass die Kirche Grenzen für die Formen von Glauben und 167 Hegstad, Den virkelige kirke, 73. 168 Vgl. Hegstad, Den virkelige kirke, 73. Damit ist die Kirche grundlegend als missionarisch bestimmt. Vgl. Hegstad, Den virkelige kirke, 73–77. 169 Hegstad, Den virkelige kirke, 96. 170 Hegstad, Den virkelige kirke, 101. 171 Vgl. Hegstad, Den virkelige kirke, 94–97.99.103 ff. 172 Hegstad, Den virkelige kirke, 102.

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Der zweite historisch-systematische Problemhorizont: (Volks-)Kirche

Praxis setzen kann, die in der Kirche akzeptiert werden […]. Die Religionsfreiheit wird in einem solchen Zusammenhang zuerst dadurch gewährleistet, dass […] die Zugehörigkeit zur Kirche […] etwas ist, was man freiwillig tut.173

Im Sinne seiner Definition der Kirche nähert sich Hegstad dem Gottesdienst: Das, was im Gottesdienst geschieht, ist grundlegend gesehen an allen Orten und zu allen Zeiten das Gleiche, nämlich das Jesus mitten unter den Menschen ist, die in seinem Namen versammelt sind.174

Daraus folgert er: Wenn die Kirche als Zeichen und Vorgriff zu verstehen ist, dann gilt das in mindestens genauso großem Maße dem Gottesdienst, verstanden als Kirche ,in verdichteter Form‘.175

Gottesdienst ist „etwas zusammen zu machen“176, „ist etwas, was in Relation zwischen allen denen geschieht, die zugegen sind“177, „setzt eine Gemeinschaft vor dem Gottesdienst und eine Gemeinschaft in dessen Verlängerung voraus“178, der Gottesdienst muss dem Fremden und dem Gast offen stehen.179 Gleichwohl kennt der Gottesdienst Grenzen: Wenn die Versammlung in einem anderen Namen, nicht in Jesu Namen, geschieht, handelt es sich offenbar um etwas anderes als um einen christlichen Gottesdienst. Dies passiert, wenn Gebet und Anbetung andere Adressaten haben als Gott in Christus […]. Es ist auch unmöglich christliches Gebet mit anderem Gebet zu kombinieren […].180

Hervorgehoben werden kontextabhängige Variationen und ein Verständnis des Gottesdienstes als Ritual, denn dies sichert „ein Korrektiv einem Denken gegenüber, dass davon ausgeht, dass nur das, was unmittelbar verstanden wird, Sinn ergibt“181. Hegstad endet, wie schon zuvor, mit einem Ausblick auf die Notwendigkeit der Gemeindeentwicklung: Das eigentliche Subjekt in diesem Prozess ist Gott selbst. […] Das schließt menschliche Mitwirkung nicht aus, sondern setzt diese voraus […]. Für die Ekklesiologie bedeutet dies, dass die dogmatische Ekklesiologie zu einer praktischen 173 174 175 176 177 178 179 180 181

Hegstad, Den virkelige kirke, 108. Hegstad, Den virkelige kirke, 154. Hegstad, Den virkelige kirke, 156. Hegstad, Den virkelige kirke, 157. „Das handelnde Subjekt im Gottesdienst ist theologisch verstanden die Gemeinde.“ In Hegstad, Den virkelige kirke, 174. Hegstad, Den virkelige kirke, 158. Hegstad, Den virkelige kirke, 158. Vgl. Hegstad, Den virkelige kirke, 158. Hegstad, Den virkelige kirke, 160. Hegstad, Den virkelige kirke, 172. Vgl. Hegstad, Den virkelige kirke, 169.

Harald Hegstad: Gemeindeentwicklung in der Volkskirche

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Ekklesiologie beiträgt, die mit dem Leben und der Entwicklung der konkreten Gemeinde arbeitet. Man kann daher für Gemeindeentwicklung als ein grundlegendes praktisch theologisches Thema argumentieren.182

Im November 2007 legt Hegstad seine Projektbeschreibung zur Gemeindeentwicklung in der Volkskirche vor.183 Die Relevanz des Projekts leitet er aus verschiedenen kirchlichen Initiativen und laufenden Reformen in der Kirche ab, es ist wichtig, dass nicht verschiedene Seiten des kirchlichen Handelns auseinanderbrechen oder dass man einseitig auf organisatorische Fragen abhebt. In einer solchen Situation ist es im Gegenteil entscheidend, dass man vereinigende Perspektiven und Aktivitäten im lokalen Gemeindeleben etabliert. Eine solch sammelnde, konstruktive Herangehensweise wird mit dem Begriff Gemeindeentwicklung ausgedrückt184.

Hegstads Definition des Begriffs lautet: „Gemeindeentwicklung ist eine zielgerichtete Arbeit, die die Gemeinde stärker befähigen will, in ihrem Sein und Tun ihrer Berufung zu entsprechen.“185 Einen kurzen Überblick über die aktuelle Forschungssituation kommentiert Hegstad wie folgt: Der schwache Punkt an den vorliegenden Konzepten ist auf der einen Seite, dass sie keine genügende fachliche und forschungsbezogene Verankerung aufweisen. Dort wo sie zur Anwendung kommen, antworten sie zumeist auf die Bedürfnisse des inneren Gemeindekerns. […] auf der anderen Seite wird man sagen können, dass sie nicht zur Genüge in einer norwegischen, volkskirchlichen Wirklichkeit kontextualisiert sind.186

Theologisch liegt Hegstads Ausgangspunkt in einer ,missionarischen Ekklesiologie‘.187 Dies führt auf Gemeindeebene dazu, dass „ein Hauptanliegen ist, dass Kontext, Theologie und Praxis sich gegenseitig beeinflussen“188. So formuliert Hegstad für sein Gemeindeentwicklungsprojekt drei Ziele: a. Es sollen die theologischen und organisationsfachlichen Prämissen einer Gemeindeentwicklung in einem volkskirchlichen Kontext analysiert werden. b. Es soll ein Instrument einer Gemeindeanalyse entwickelt werden. c. Es soll untersucht 182 Hegstad, Den virkelige kirke, 198. Vgl. Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 414. 183 Vgl. Hegstad, Harald, Menighetsutvikling i folkekirken. Premisser og metoder for menighetsutvikling i norske folkekirkemenigheter, med vekt p utvikling av et analyseverktøy, prosjektbeskrivelse, november 2007, 1–10, https://www.mf.no/sites/mf/files/users/Dokumen ter/Forskning/MUV/2014/menighetsutvikling_prosjektbeskrivelse_nov_07b.pdf (abgerufen am 15. 10. 2018). 184 Hegstad, Prosjektbeskrivelse 2007, 1. 185 Hegstad, Prosjektbeskrivelse 2007, 1. 186 Hegstad, Prosjektbeskrivelse 2007, 2 f. 187 Vgl. Hegstad, Prosjektbeskrivelse 2007, 3. 188 Hegstad, Prosjektbeskrivelse 2007, 4.

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werden, wie eine durchgeführte Gemeindeanalyse den Ausgangspunkt für einen Entwicklungsprozess in der Gemeinde darstellen kann.189

Das Projekt Gemeindeentwicklung in der Volkskirche wird in den Jahren 2008–2011 durchgeführt, weiterführend beschreibt Hegstad in einem Text aus dem Jahre 2012 Hintergrund und Forschungsdesign. Er unterstreicht die Rolle der Forschenden, definiert das Projekt als ,Aktionsforschung‘ und konstatiert, dass sich, gleichwohl es sich um Projekte in zehn Gemeinden handelt, eine Art Überbau im Gesamtprojekt ausmachen lässt.190 Methodisch fasst er Brownings ,deskriptive Theologie‘ als ,empirische Theologie‘, dabei bleibt entscheidend, „dass die praktische Theologie nicht über das Verhältnis zur historischen und systematischen Theologie hinwegspringt“191, sondern, dass das Verständnis der Situation und der Erfordernisse der Kirche gegen ein ganzheitliches Verständnis der grundlegenden Identität und des grundlegenden Auftrags der Kirche, wie es im Glauben an den dreieinigen Gott gegeben ist, aufgewogen wird192.

Auf der Linie der Projektbeschreibung von 2007 hebt Hegstad hervor, dass der Fokus auf die grundlegende Identität eine ,Totalperspektive‘ sichert; dies steht einer gemeindlichen Autonomie nicht entgegen, denn „Entwicklungsprozesse müssen in der lokalen Gemeinde verankert sein, mit der Gemeinde selbst als dem eigentlichen Subjekt“193. Damit ist erneut die Frage nach Normativität gestellt. Im Feld, so Hegstad, findet sich diese im Glauben und in der konfessionellen Tradition, gleichzeitig ist die Praktische Theologie zu fragen: Soll sie sich damit zufriedengeben, im Verhältnis zur kirchlichen Praxis rein deskriptiv zu sein, oder soll sie der Praxis, die untersucht wird, gegenüber Stellung beziehen?194

Hegstad introduziert sein Modell einer ,weichen Normativität‘: Dies bedeutet auf der einen Seite, dass das Projekt kein Fazit oder Rezepte für die Frage, wie sich die Gemeindeentwicklung in der lokalen Gemeinde gestalten soll, 189 Hegstad, Prosjektbeskrivelse 2007, 4. 190 Vgl. Hegstad, Harald, Menighetsutvikling i folkekirken. Grunnlag og form l, in: Birkedal, Erling/Hegstad, Harald/Lannem, Turid Skorpe (Hg.), Menighetsutvikling i folkekirken. Erfaringer og muligheter, Prismet bok 5, Oslo 2012, 9–23, 9 f.; Birkedal, Erling, Menighetsutvikling i et folkekirkeperspektiv. Hvorfor og hvordan drive systematisk utviklingsarbeid i Den norske kirke, in: Dietrich, Stephanie/Elstad, Hallgeir/Fagerli, Beate/Haanes, Vidar L. (Hg.), Folkekirke n , Oslo 2015, 155–165. 191 Hegstad, Menighetsutvikling i folkekirken, 11. 192 Hegstad, Menighetsutvikling i folkekirken, 11 f. 193 Hegstad, Menighetsutvikling i folkekirken, 15. Vgl. Hegstad, Menighetsutvikling i folkekirken, 14 f. 194 Hegstad, Menighetsutvikling i folkekirken, 17.

Harald Hegstad: Gemeindeentwicklung in der Volkskirche

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geliefert hat. […] Auf der anderen Seite ist klar, dass das Projekt von bestimmten normativen Ausgangspunkten und Anliegen geprägt war. […] Neben der mehr generellen Normengrundlage in Bibel und Bekenntnis war es natürlich, auch das Verständnis und die Zielformulierungen zugrunde zu legen, wie sie in Beschlüssen der Generalsynode, als dem obersten repräsentativen Organ der Norwegischen Kirche, zum Ausdruck kommen.195

Die Art und Weise, wie diese Normativität ins Feld geführt wurde, bezeichnet Hegstad als „diskursiv, als ein Gespräch in einem gemeinsamen Rahmen“.196 In diesem Rahmen war es die Zielsetzung des Projekts, hinter die Unterscheidung von ,Glaubensgemeinschaft‘ und ,Volkskirche‘, die Hegstad selbst bearbeitet hat, zu kommen. Durch ,Verdichtung‘ wird ein Milieu geschaffen, das für gemeinsame christliche Praxis und Sozialisierung Sorge trägt […] [und] eine solche Verdichtung kann wichtiges Werkzeug sein, um die volkskirchliche Breite zu erreichen197.

In den Jahren 2011–2014 wurde das Projekt wiederholt durchgeführt und im September 2014 kam eine erneute Einladung zur Teilnahme. Ganz konkret wird das Projekt in jeder Gemeinde von einer Steuerungsgruppe geleitet, die sich sowohl mit Gruppen anderer Gemeinden austauscht als auch extern begleitet wird. Das Projekt wird als „geistlicher Prozess“ und als „ortseigener Prozess“ verstanden, Gemeindeentwicklung ist demnach ein „offener und kontinuierlicher Prozess“. Dieser Prozess teilt sich in drei Phasen: Die erste Phase dient der (statistischen) Erforschung der Gemeinde und der lokalen Gesellschaft. Die zweite Phase vertieft das Verständnis der Kirche vor Ort, es werden quantitative Umfragen initiiert und Interviews mit einigen Gemeindegliedern geführt. In der dritten Phase geht es um gegenseitige Herausforderung zum Handeln, es sollen Pläne, Visionen und Ziele für die Gemeinde formuliert und ein Gemeindeprofil erstellt werden.198 5.4.2 Kritische Rückfragen und Impulse zu Weiterarbeit Harald Hegstad verfolgt und gestaltet die Diskussionen in der Norwegischen Kirche seit gut dreißig Jahren aktiv mit. Dabei durchläuft seine Beteiligung eine Entwicklung, er bewegt sich von einer mehr deskriptiv verstandenen 195 Hegstad, Menighetsutvikling i folkekirken, 18. Hegstad verweist auf seinen Band Die wirkliche Kirche und schreibt: „Für mich selbst habe ich mein ekklesiologisches Grundlagendenken dargelegt […], ohne dass dies gemeinsame Prämisse für das Projekt und die anderen Mitarbeitenden im Projekt war.“ In Hegstad, Menighetsutvikling i folkekirken, 18, Fußnote 12. 196 Hegstad, Menighetsutvikling i folkekirken, 19. 197 Hegstad, Menighetsutvikling i folkekirken, 21. 198 Vgl. Invitasjon til Menighetsutvikling i folkekirken – MUV. Notat til menigheter som vurderer bli med i et utviklingsprosjekt, https://www.mf.no/sites/mf/files/users/Dokumenter/Forsk ning/MUV/2014/trearig_reise.pdf (abgerufen am 15. 10. 2018).

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Theologie hin zu einer systematischen Theologie. Er entwirft sein Bild von der Kirche auf dem Hintergrund empirisch fundierter Beobachtungen, will diese Kirche formen und er lädt ein, an dieser Kirche, die ihm in weiten Teilen als definiert gilt, mitzubauen – der rote Faden ist meines Erachtens kaum zu übersehen.199 Mit seiner empirischen Studie hat Hegstad Mitte der 90er Jahre Neuland urbar gemacht, es war nicht an der Tagesordnung, andere gesellschaftswissenschaftliche Disziplinen in dieser Breite in die theologische Arbeit einzubeziehen. Für die vorliegende Studie ist diese angestrebte Weite interessant. Hegstads Ziel, nicht nur den aktiven Kern zu berücksichtigen, ist geteiltes Anliegen, desgleichen die Einbeziehung von (qualitativen) Methoden, die in anderen gesellschaftswissenschaftlichen Zusammenhängen entstanden sind, ebenso der Wunsch genau zu beschreiben und ,von innen her‘ wahrzunehmen und zu beobachten.200 Es nimmt kaum Wunder, dass dennoch kritische Anfragen im Raum stehen, die sich aus der phänomenologischen Grundhaltung der eigenen Untersuchung, die an Gelebter Religion interessiert ist, ergeben. Eine erste Anfrage betrifft Hegstads Normativitätsbegriff. Will er sich deskriptiv (mit Don S. Browning: empirisch) der faktischen Kirche nähern, so scheint Hegstad nicht zur Genüge zu beachten, dass er diese Kirche ebenfalls schafft. Thomas A. Lotz erinnert an den Begriff der Konstitution: Für jeden wissenschaftlichen Umgang mit Wirklichkeit muss gelten, dass Wirklichkeit nicht einfach ,da‘ ist, sondern in irgendeiner […] Weise einerseits gegeben ist 199 Vgl. Hegstad, Harald, Folkekirke og trosfellesskap. Et kirkesosiologisk og ekklesiologisk grunnproblem belyst gjennom en undersøkelse av tre norske lokalmenigheter, KIFO Perspektiv 1, Trondheim 1996, 13; Hegstad, Harald, Den virkelige kirke. Bidrag til ekklesiologien, KIFO Perspektiv 19, Trondheim 2009, 13; Hegstad, Harald, Menighetsutvikling i folkekirken. Grunnlag og form l, in: Birkedal, Erling/Hegstad, Harald/Lannem, Turid Skorpe (Hg.), Menighetsutvikling i folkekirken. Erfaringer og muligheter, Prismet bok 5, Oslo 2012, 9–23, 18, Fußnote 12. 200 Vgl. Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 2 f.8 ff.13; Hegstad, Harald, Ekklesiologi mellom teori og praksis, in: Henriksen, Jon-Olav/Heiene, Gunnar/Thorbjørnsen, Svein Olaf (Hg.), Teologi for kirken, FS Torleiv Austad, Oslo 2002, 171–180, 179; Hegstad, Harald, Menighetsutvikling i folkekirken. Premisser og metoder for menighetsutvikling i norske folkekirkemenigheter, med vekt p utvikling av et analyseverktøy, prosjektbeskrivelse, november 2007, 1–10, https://www.mf.no/sites/mf/files/users/Dokumenter/Forskning/MUV/2014/menighet sutvikling_prosjektbeskrivelse_nov_07b.pdf (abgerufen am 15. 10. 2018), 2.5; Hegstad, Den virkelige kirke, 10; Hegstad, Harald, Normativity and empirical data in practical theology, in: Henriksen, Jon-Olav (Hg.), Difficult Normativity. Normative Dimensions in Reseach on Religion and Theology, Frankfurt 2011, 77–93, 90 f.; Hegstad, Menighetsutvikling i folkekirken, 9.16.20; Invitasjon til Menighetsutvikling i folkekirken – MUV. Notat til menigheter som vurderer bli med i et utviklingsprosjekt, https://www.mf.no/sites/mf/files/users/Dokumen ter/Forskning/MUV/2014/trearig_reise.pdf (abgerufen am 15. 10. 2018).

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und zugleich im Umgang mit ihr erst als Wirklichkeit entsteht und zum Thema werden kann.201

Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass Hegstad, durchaus in diesem Sinne, Kirche (zumindest mit-)konstituiert, denn seine Definition des zu untersuchenden Objekts, der Kirche, ist normativ hoch aufgeladen. In der Diskussion mit der Soziologie wird deutlich, dass die Kirche, die untersucht wird, als „Kirche in qualifiziert theologischem Verstand“202 identifiziert worden sein muss. Im Programm der Gemeindeentwicklung in der Volkskirche wird die Kirche durch eine ,weiche Normativität‘ weiter gesichert.203 Schon in früheren Arbeiten aber lassen sich Spuren dieser Normativität finden: Ein Element von mehr explizit religiösem Charakter, das sich in vielen Familien findet, ist das abendliche Gebet auf der Bettkante. Ansonsten scheint die religiöse Erziehung in den Familien in der Regel nicht sehr explizit zu sein. Die Vermittlung von religiösem und kirchlichem Selbstverständnis geschieht primär auf einem impliziten Niveau, dadurch, dass die Kinder das Selbstverständnis der Eltern, Haltungen und Praxis übernehmen.204

Die Vermutung ist, dass Hegstad einer qualitativen Abstufung zwischen implizit und explizit das Wort redet; dass Kirche/Gemeinschaft/Glaubensgemeinschaft/Volkskirche von den involvierten Subjekten, unter Umständen gerade durch das Implizite, etwas erwarten kann, kommt nicht in den Blick. Damit wird Hegstads eigenes Anliegen, Glaube als sichtbar zu behandeln, unterlaufen, da letztlich doch nur der kirchlich normierte Glaube Interesse erweckt. Zu fragen wäre, mit Helmut Peukert, ob nicht die Abgrenzung und die Normierung des zu untersuchenden Gegenstandes gerade dessen Beherrschbarkeit sichert oder sichern soll.205 Von einer subjektorientierten Annäherung ist Hegstad weit entfernt, daher ist sein Religionsbegriff zu problematisieren: Dieser läuft auf die Zustimmung zu kirchlich normierter Religion heraus. Religion findet ihren Ort in der Kirche, verstanden als koinonia, die gerade durch Ablehnung oder NichtWissen gefährdet ist, darum wird die Kirche mittels Repräsentation und 201 Lotz, Thomas A., Phänomenologie als Grundlage für empirische Praktische Theologie, in: Dinter, Astrid/Heimbrock, Hans-Günter/Söderblom, Kerstin (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, UTB 2888, Göttingen 2007, 60–72, 61. 202 Hegstad, Den virkelige kirke, 59. Vgl. Hegstad, Den virkelige kirke, 12 ff. 203 Vgl. Hegstad, Menighetsutvikling i folkekirken, 18. Kritisch zu Hegstads Normativitätsbegriff äußert sich auch Halvard Johannessen. Vgl. Johannessen, Halvard, Bokmelding: Erling Birkedal, Harald Hegstad og Turid Skorpe Lannem (red.): Menighetsutvikling i folkekirken. Erfaringer og muligheter. Oslo: IKO-forlaget (Prismet bok) 2012, in: Teologisk Tidsskrift 2 (2013), 438–442, 442. 204 Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 386. 205 Vgl. Hegstad, Den virkelige kirke, 40.108; Heimbrock, Hans-Günter, Welches Interesse hat Theologie an der Wirklichkeit? Von der Handlungstheorie zur Wahrnehmungswissenschaft, in: Failing, Wolf-Eckart/Heimbrock, Hans-Günter, Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt – Alltagskultur – Religionspraxis, Stuttgart et al. 1998, 11–36, 26.

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Manifestation verankert. Das Ziel ist, Menschen in diese Gemeinschaft einzuschließen, Ziel des Programms der Gemeindeentwicklung in der Volkskirche ist die Verdichtung dieser koinonia.206 Das formulierte Anliegen einer Doppelstrategie scheint durch das Aufgehen der Volkskirche in der Glaubensgemeinschaft angestrebt zu werden. Dem Subjekt bleiben nur Zustimmung, also Eingehen in die Gemeinschaft, oder Abkehr von der Gemeinschaft als Handlungsoptionen. Verdeutlicht werden kann dies am Gottesdienst, der Kirche ,in verdichteter Form‘. Hegstad unterstreicht, dass der Gottesdienst etwas Gemeinsames ist, alle sind beteiligt. Gleichzeitig werden klare Regeln aufgestellt: Was darf dabei sein, was gehört nicht dazu – und als handelndes Subjekt wird die Gemeinschaft gesetzt.207 Für Überraschungen, Störendes, Aufweckendes, für das, was die einzelnen Subjekte mitbringen, ist kein Raum. Strukturell gleich verhält es sich in den vielfältigen Prozessen, die das Projekt der Gemeindeentwicklung in der Volkskirche in einzelnen Gemeinden anstoßen will, denn hier wird von der Gemeinde als Subjekt ausgegangen.208 Die, wenn auch diskursiv eingebrachte, ,weiche Normativität‘, kann Gelebte Religion innerhalb der Kirche hart treffen. Die ,weiche Normativität‘ führt dazu, dass Praktische Theologie kirchlich fixierte Handlungswissenschaft bleiben muss, denn alle Reflexionen haben verbesserte, optimierte Praxis zum Ziel.209 Ohne Frage, Hegstad hat ein Gespräch in Gang gebracht und über Jahre in Gang gehalten, hat die Aufmerksamkeit auf Kontext, Lokalmilieu und Got206 Vgl. Hegstad, Kirke i forandring, 46 f.72.115.147.155; Hegstad, Den virkelige kirke, 87.95 ff.102.157; Hegstad, Menighetsutvikling i folkekirken, 21. 207 Vgl. Hegstad, Den virkelige kirke, 156 ff.160.174. 208 Vgl. Hegstad, Menighetsutvikling i folkekirken, 15. Dass Hegstad im Epilog des Bandes Die wirkliche Kirche Gott als Subjekt des Bauens der wirklichen Kirche setzt, soll hier nur kurz wiederholt werden. Vgl. Hegstad, Den virkelige kirke, 198. 209 Vgl. Hegstad, Folkekirke og trosfellesskap, 13.414; Hegstad, Ekklesiologi mellom teori og praksis, 179; Hegstad, Den virkelige kirke, 11 ff.198. In den Jahren 2000–2003 wurde an der Norwegian School of Theology, Religion and Society ein Projekt zur Ekklesiologie durchgeführt, Hegstad war Teil der Projektgruppe und im Rahmen des Projekts erschienen drei kleinere Bände. Ohne einer simplifizierenden Einheitlich- oder Gleichförmigkeit der Beiträge des ersten und des dritten Bandes das Wort zu reden, scheint doch deutlich, dass Hegstads Unterscheidung zwischen ,Glaubensgemeinschaft‘ und ,Volkskirche‘ die Annäherung an das empirische Material bestimmt. Dass die Erfahrungen, die mit und in den Veränderungen von Kultur und Gesellschaft gemacht werden, mehr als nur neuer Kontext für die Kirche sind, dass hier unter Umständen Schätze zur Selbstreflexion, Veränderung und Erneuerung des biblischen Grundes und der biblischen Lehre zu bergen sind, kommt wohl in diesem Projekt nicht in den Blick. Vgl. Engedal, Leif Gunnar/Haanes, Vidar L. (Hg.), Kirke i oppbrudd og forandring. Aktuelle perspektiver p norsk kirkevirkelighet, Bind 1 i Ekklesiologi-prosjektet ved Det teologiske menighetsfakultet 2000–2003, Trondheim 2003, 5–9.15.48.58.83.86.97.120 f.; Engelsviken, Tormod/Sannes, Kjell Olav (Hg.), Hva vil det si være kirke? Kirkens vesen og oppdrag, Bind 3 i Ekklesiologi-prosjektet ved Det teologiske menighetsfakultet 2000–2003, Trondheim 2004, 9.32 f.47.57 f.111.113.118.124.133.181.188 f.

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tesdienst gestärkt und zur Fokussierung angesichts einer Vielzahl von kirchlichen Reformen aufgerufen. Weiter hat er auf das Zusammenspiel von Kirche und Kultur hingewiesen und Vielfalt hervorgehoben – und durch sein Programm Gemeinden aktiv beteiligt.210 Gleichwohl kritisiert Roger Jensen Hegstads Band Die wirkliche Kirche dafür, dass die Herausforderungen, die die Gegenwart repräsentiert, nicht zur Genüge bedacht werden: Im Aufeinandertreffen mit der eigenen Gegenwart ist es in viel zu großem Maße die introvertierte Bewegung, die gewählt wird211.

Diese Kritik katalysiert Erinnerung und Impuls, sich an dem von Hegstad initiierten Gespräch zu beteiligen. So sollen die oben genannten Anfragen an den Normativitäts-, Religions- und Subjektivitätsbegriff weiter, und ausdrücklich unter empirisch-phänomenologischem Vorzeichen, bearbeitet werden.

5.5 Beiträge aus der deutschsprachigen Kirchentheorie Die Konzeptionen neuerer norwegischer kirchentheoretischer Überlegungen, wie sie oben dargestellt und analysiert wurden, sollen in einem weiteren Schritt von Einsichten und Entwicklungen aus deutsch(sprachig)en Forschungskontexten flankiert werden. Dies geschieht mit dem Ziel der Anreicherung und Vergewisserung, der Vertiefung und Kontrastierung. Es geht dabei keineswegs um eine erschöpfende Darstellung, sondern wiederholt darum, Linien auszuziehen und nachzuzeichnen. Im Folgenden soll gesehen werden, ob und wo Beschreibungen von Kirche auf empirische Untersuchungen zurückgreifen und welche Rolle den involvierten Subjekten in der Kirche eingeräumt wird. Dies schließt Fragen nach dem Umgang der Kirche mit religiöser und kultureller Pluralität und Diversität am Ort ein. Es soll, zumindest ansatzweise, gesehen werden, welche Beiträge der Kirche in dieser Situation stark gemacht werden: Ist es die Konzeption der Kirche als Volkskirche, ist es ihr spezifischer Bildungsauftrag? Ihre Fähigkeit zu Öffentlichkeit, ihre Möglichkeit in der Vielstimmigkeit inszenierend und selbstreflexiv über sich selbst hinauszuweisen? Oder kommt ganz anders Gelagertes zum Vorschein?

210 Vgl. Hegstad, Den virkelige kirke, 71 ff. 211 Jensen, Roger, Kirke som fellesskap, in: NTT 112 (2011), 132–139, 139.

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5.5.1 Reiner Preul: Die Kirche wird durch die Auslegung ihrer Lehre geleitet Seinen 2008 vorgelegten Aufsatzband charakterisiert Reiner Preul als Weiterführung seiner 1997 erschienen Kirchentheorie. Er möchte „dabei nicht zuletzt die Orientierungskraft der reformatorischen Grundlagen unter gegenwärtigen Bedingungen unter Beweis stellen“212 und konstatiert, dass ohne „kirchentheoretische Fundierung […] der Praktischen Theologie ihr einheitliches reflexions- und handlungsorientierendes Interesse abhanden[käme]“213. Mit der Nennung der reformatorischen Grundlagen ist ein für Preul entscheidendes Stichwort gefallen und anhand einer These aus seiner Kirchentheorie – „Die Kirche wird durch die Auslegung ihrer Lehre geleitet.“214 – soll das Grundanliegen Preuls aufgezeigt werden. Preul leitet aus CA VII und VIII ab, dass die Kirche Gottes Geschöpf ist. Unter Rückgriff auf die Lehre vom Allgemeinen Priestertum schließt er, dass die Subjekte „nicht nur […] Teilhabe […] an der Verkündigungsaufgabe der Kirche, sondern auch am Kirchenregiment“215 haben. Die Aufgabe dieser Kirchenleitung fasst Preul als eine zweifache: „Es geht darum, die Kirche selbst zu gestalten […]. Und es geht darum, den Auftrag der Kirche wahrzunehmen.“216 In seiner Terminologie entspricht dies einem ,disponierenden Handeln‘ auf der einen Seite und einem ,kommunikativen Handeln‘ auf der anderen Seite. Die Kybernetik schlägt Preul dem disponierenden Handeln zu, wobei die Lehre der Kirche unabdingbar ist: Soll die Kirche nicht ein Blatt im Winde sein, soll sie nicht durch ein beständiges Gerangel, durch Druck und Gegendruck gesteuert bzw. hin- und hergeworfen werden, dann muss es einen festen Bezugspunkt in ihrer Vergangenheit, genauer seit ihrer Gründung als diese bestimmte Kirche, geben, der nicht zur Disposition steht und zu dem man sich ins Verhältnis setzen muss.217

Auf dem Hintergrund der eigenen Studie und des immer mitbedachten und analysierten kirchlichen Nachdenkens, in der Gemeinde, auf der Ebene der Propstei und des Bistums, ist es wichtig, dass gesehen wird, auf welche Weise 212 Preul, Reiner, Vorwort, in: Preul, Reiner, Die soziale Gestalt des Glaubens. Aufsätze zur Kirchentheorie, MThSt 102, Leipzig 2008, IX–XI, X. 213 Preul, Vorwort, X. 214 Preul, Reiner, Was bedeutet die kirchentheoretische These: Die Kirche wird durch die Auslegung ihrer Lehre geleitet?, in: Preul, Reiner, Die soziale Gestalt des Glaubens. Aufsätze zur Kirchentheorie, MThSt 102, Leipzig 2008, 18–35, 18. 215 Preul, Die Kirche wird durch die Auslegung ihrer Lehre geleitet, 19. Vgl. Preul, Die Kirche wird durch die Auslegung ihrer Lehre geleitet, 18 ff. 216 Preul, Die Kirche wird durch die Auslegung ihrer Lehre geleitet, 20. 217 Preul, Die Kirche wird durch die Auslegung ihrer Lehre geleitet, 23.

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Preul den hier anvisierten Lehrbegriff differenziert. Er verwirft die Lehrmeinung Einzelner als zu berücksichtigende Form kirchlicher Lehre, für Preul bleiben als „Lehre der Kirche […] die Heilige Schrift, der Kanon, über dessen Perikopen wir ja auch predigen, und die Bekenntnisschriften“218 stehen. Dieser Rückbezug, gerade auf CAV, VII, VIII und XIV, sichert „eine fast unbegrenzte Gestaltungsfreiheit“219, dabei fungiert der Rückbezug auf die Rechtfertigung gleichzeitig als Maßstab für die Reinheit der Lehre.220 Abschließend fragt Preul nach der Bewährung der These, verstanden als deren orientierende Kraft, die Grenzziehungen einschließt. Ein aktuelles Feld der Bewährung ist die Frage nach der Volkskirche, Preul beantwortet die Frage auf diese Weise: Ich denke, dass die These ein eindeutiges Ja zur Volkskirche verlangt. Volkskirche ist in erster Linie nicht eine Frage der Quantität, sie ist ein Konzept qualitativer Gestaltung kirchlichen Lebens. Volkskirche heißt nicht, dass alle in der Kirche sind, sondern dass Kirche so gestaltet wird, dass alle in ihr sein könnten, sofern sie nur mit der Botschaft der Kirche etwas anfangen können. […] Volkskirche muss infolgedessen ein differenziertes Angebot entwickeln und zugleich die Mitte stärken: den Gottesdienst für das ganze christliche Volk.221

Der Norwegischen Kirche ist Volkskirche-Sein durch das Grundgesetz vorgegeben, daher ist kurz darzustellen, wie Preul das Ja zur Volkskirche entfaltet. Von Wolfgang Huber übernimmt Preul die programmatischen Unterscheidungen der Volkskirche als Kirche durch das Volk, als Kirche für das Volk und als öffentliche Kirche.222 Kirche durch das Volk sichert, auf der Grundlage der reformatorischen Einsichten, die Mitwirkung aller auf allen Ebenen, und erinnert daran, dass „Volkskirche […] sich nicht einfach konstruieren und nach Plan realisieren [lässt]; sie ist immer etwas lebendig Gewachsenes“223. In dieser Situation des Wachsens gilt: Die reformatorischen Prinzipien […] wirken […] einerseits limitierend, was heute im Blick auf manche Spiritualitätsangebote und grob synkretistische Einschläge durchzubuchstabieren wäre, andererseits aber auch akzentsetzend: der Gottesdienst im reformatorisch-evangelischen Sinne muss die Mitte des kirchlichen Lebens sein und bleiben.224

218 219 220 221 222

Preul, Die Kirche wird durch die Auslegung ihrer Lehre geleitet, 26. Preul, Die Kirche wird durch die Auslegung ihrer Lehre geleitet, 28. Vgl. Preul, Die Kirche wird durch die Auslegung ihrer Lehre geleitet, 29. Preul, Die Kirche wird durch die Auslegung ihrer Lehre geleitet, 34 f. Vgl. Preul, Reiner, Was heißt „Volkskirche“?, in: Preul, Reiner, Die soziale Gestalt des Glaubens. Aufsätze zur Kirchentheorie, MThSt 102, Leipzig 2008, 36–51, 37.40. 223 Preul, Was heißt „Volkskirche“?, 41 f. 224 Preul, Was heißt „Volkskirche“?, 42.

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Gleichzeitig zwingt die Idee der Kirche für das Volk, dass Kirche sich in ihren Angeboten ausdifferenziert, jedoch so, dass diese Differenzierung durch Integration in den Gottesdienst als Mittelpunkt ergänzt wird. Diese Kirche für das Volk ist eine öffentliche Kirche, die unter anderem als Institution für das Thema Religion verantwortlich ist, die sich in öffentliche Diskurse einbringt und in den Medien und im kulturellen Leben präsent ist.225 Es ist gerade das Sein der Kirche als Bildungsinstitution, welches Öffentlichkeit fordert und fördert.226 Kirche als Bildungsinstitution ist dabei nicht nur ein Terminus der soziologischen und pädagogischen Außenperspektive, sondern qualifiziert auch das theologische Selbstverständnis der Kirche […]. ,Kirche als Bildungsinstitution‘ ist ja zunächst einmal unmittelbar anschlussfähig an das reformatorische Kirchenverständnis. Die Kirche konstituiert sich in der Wahrnehmung ihrer Grundfunktion: doctrina evangelii. […] Ferner eignet der Bezeichnung […] eine […] kritische ekklesiologische Funktion: Sie entkräftet alle Tendenzen zur Selbstüberhöhung […]. Die Kirche ist keine Heilsanstalt und kein Gnadeninstitut, sondern sie dient der Bildung des christlichen Lebens in seiner ganzen Breite und Fülle.227 225 Vgl. Preul, Was heißt „Volkskirche“?, 43 ff.48 ff. Vgl. Preul, Die Kirche wird durch die Auslegung ihrer Lehre geleitet, 34 f. 226 Vgl. Preul, Was heißt „Volkskirche“?, 48 f.; Preul, Reiner, Die Zukunftsfähigkeit der Kirche, in: Preul, Reiner, Die soziale Gestalt des Glaubens. Aufsätze zur Kirchentheorie, MThSt 102, Leipzig 2008, 306–320, 313. 227 Preul, Reiner, Kirche als Bildungsinstitution, in: Preul, Reiner, Die soziale Gestalt des Glaubens. Aufsätze zur Kirchentheorie, MThSt 102, Leipzig 2008, 130–149, 138. Preul unterscheidet zwischen Bildung als Qualität einer Person (Handlungsfähigkeit in Interaktionen), Bildung als Prozess (Erlangen der Handlungsfähigkeit durch Interaktion) und Bildung als planvolle Tätigkeit (Befähigung zur Handlungsfähigkeit) und definiert wie folgt: „[…] Bildung [bedeutet] als Qualitätsbestimmung […] gesteigerte und über sich selbst aufgeklärte Handlungsfähigkeit in allen eine Person betreffenden Interaktionszusammenhängen.“ In Preul, Kirche als Bildungsinstitution, 134. In der Norwegischen Kirche weckt die Reform der Glaubenserziehung Assoziationen zum Bildungsbegriff. Im Dokument des Kirchen-, Ausbildungs- und Forschungskomitees des norwegischen Parlaments (8. Mai 2003) zur Vorbereitung des Parlamentsbeschlusses vom 27. Mai 2003 wird Bildung unter der Prämisse des Wegfalls des kirchlichen Religionsunterrichtes gesehen. Für diesen Wegfall soll kompensiert werden. Als Begründung wird auf das christliche Erbe, das aufgrund der Majoritätsposition der Norwegischen Kirche noch immer wichtig ist, hingewiesen. In einer neuen gesellschaftlichen Situation, die durch Pluralität gekennzeichnet ist, werden gerade dem Erlernen der eigenen Tradition pluralitätsfördernde Potenziale zugesprochen: die, die das Eigene kennen, können Anderen offen begegnen. Bildung ist Ermöglichung von Toleranz und Vielstimmigkeit, ist so indirekt Bildung der Gesellschaft. Im Plan für Glaubenserziehung (2009) findet sich diese Perspektive nur am Rande wieder, das Erlernen des Eigenen wird zum einen rein binnenkirchlich mit Mt 28,18 ff. begründet, zum anderen wird der Wegfall des kirchlichen Religionsunterrichtes in der Schule als Begründung für die Notwendigkeit der Kompensation angeführt, der gesamtgesellschaftliche Bezug droht zu verschwinden. 2017 kam die Reform zu einem vorläufigen Abschluss, alle Gemeinden der Norwegischen Kirche haben einen eigenen Plan zur lokalen Glaubenserziehung erarbeitet. Im Dokument des Kirchenrates („Glaubens-

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In zusammenfassender und kritisch-würdigender Absicht: Ohne Frage, durch den Rückgriff auf Einsichten der Reformation gelingt es Preul, einen Kern und Gravitationspunkt der Volkskirche anzunehmen, der im Gottesdienst, der Mitte der Kirche, zur Darstellung kommt. Um diesen legt sich eine offene und differenzierte Kirche, die als Grenzziehung die Zustimmung zur Botschaft und Lehre der Kirche kennt. Preul kann so den Einfluss der Subjekte einfordern, deren Gestaltungsmöglichkeiten sichern und die Frage nach der Volkskirche als eine Frage nach der Qualität der Kirche fassen.228 Gleichzeitig bleibt auffällig, dass es letztlich keine Rolle spielt, wer und wo auf welche Weise handelt. Bei Preul herrscht schnell der breite Pinsel vor, mit Jean-Paul Sartre „zur Freiheit gefordert oder ,verurteilt‘ […], ist der Mensch aber auch zumindest tendenziell überfordert“229. Der Mensch kann in dieser Situation den religiösen Fundamentalismus wählen, als Flucht aus der Freiheit, kann den religiösen Individualismus wählen, „die sogenannte religiöse Patchworkidentität“230. Beide Möglichkeiten kann die Kirche nicht gutheißen, aber „sie muss die Konsequenz ziehen, dass ihre Lehre und Verkündigung jedenfalls Auslegung von Freiheit zu sein hat, wenn sie zeitgemäß sein will“231. Wie aber dies gelingen kann, wenn gleichzeitig beinahe jede Krisenwahrnehmung als ,Krisenrhetorik‘ abgetan wird, wenn einer individualisierten Religiosität Inkonsequenz vorgeworfen wird, da sie neben Eigenem auf Vorformuliertes der Kirche zugreift, wenn diese der Verkümmerung der religiösen Reflexion beschuldigt wird,232 und sie, aufgrund der ihr als innewohnend

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erziehung in der Norwegischen Kirche – Status 2017“, Aktenzeichen KR 41/17) werden wieder fortschreitende Pluralisierung und Säkularisierung sowie das Engagement der Kirche auf dem Feld des Religionsdialogs, auch im Zusammenhang mit der Glaubenserziehung, genannt. Formal gesehen verbleibt die Argumentation jedoch in der Binnenperspektive: Bildung ist das Erlernen des Eigenen, um dem vermeintlich Fremden begegnen zu können. Der Bildungsbegriff läuft Gefahr auf Bildungsinhalte, die erworben werden sollen, reduziert zu werden. Dies liegt sicher mit an der, im Gegensatz zu Preul, engeren Begründung des kirchlichen Bildungshandelns im Tauf- und Missionsbefehl (Mt 28,18 ff.), die zugleich eine (nach innen gerichtete) Zielformulierung forciert. Dagegen Preul: „Wenn Bildung als entwickelte und über sich selbst aufgeklärte Handlungsfähigkeit verstanden werden kann, dann dürfte Bildung in diesem Sinne nur gelingen, wenn diese Handlungsfähigkeit durch ein Wirklichkeitsverständnis interpretiert und strukturiert wird, welches Aussagen über den Ursprung und die Bestimmung des Menschen als handlungsfähige Person macht […]. Da die Rechtfertigungslehre […] genau darüber Auskunft gibt, hat die Kirche etwas zu sagen, das als Fundierung und Formgebung aller Bildung und aller organisierten Bildungsarbeit in Betracht kommt.“ In Preul, Kirche als Bildungsinstitution, 147. Vgl. Preul, Die Kirche wird durch die Auslegung ihrer Lehre geleitet, 19.23.28 f.34; Preul, Was heißt „Volkskirche“?, 48 ff. Preul, Reiner, Religion und Kirche in der modernen Gesellschaft, in: Preul, Reiner, Die soziale Gestalt des Glaubens. Aufsätze zur Kirchentheorie, MThSt 102, Leipzig 2008, 289–305, 301. Preul, Religion und Kirche in der modernen Gesellschaft, 302. Preul, Religion und Kirche in der modernen Gesellschaft, 302. Vgl. Preul, Die Zukunftsfähigkeit der Kirche, 306 ff.310.

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behaupteten Abgrenzung von der Kirche, als „mehr oder weniger parasitäres Phänomen“233 bezeichnet wird, will nicht so recht einleuchten. Dabei verwehrt Preul sich nicht empirischen Einsichten, doch wird dies im Interesse eines „größeren Ganzen“ (Friedrich D.E. Schleiermacher) immer wieder eingeschränkt.234 Preul stellt fest, dass die Frage nach der Unterscheidung von Religion und Pseudoreligion, Glaube und Aberglaube, nach dem, was ein gleichwertiger Konkurrent zur christlichen Position wäre und was nicht – ob z. B. ein alle Lebensbereich umfassendes Ethos begründet oder ob nur ein neues Feeling geboten wird – für jeden, der über die pluralistische Situation nachdenkt, immer wichtiger235

wird. Wer mit welchem Interesse und Ziel über welche Religion und welche christliche Position nachdenkt, kann nicht recht in den Blick genommen werden und liegt außerhalb des artikulierten Interesses. Preuls Konzept und seine Ausführungen erinnern – in ihrer Konsequenz, nicht in den detaillierten und fundierten Hinführungen und Begründungen – an Harald Hegstads Überlegungen, an die in seinem Programm Gemeindeentwicklung in der Volkskirche eingeführte ,weiche Normativität‘, die, durch den Rückbezug auf einen der Kirche gemeinsamen Kern von Bekenntnis und Synodenbeschlüssen, den Gottesdienst als Mitte sichert. Bei Preul, wie bei Hegstad, ist das Ziel letztlich optimierte Praxis, Praktische Theologie verbleibt handlungsorientiert und Handlungswissenschaft. Der Fokus bleibt, bei aller Betonung des öffentlichen Charakters der Kirche, doch tendenziell nach innen gerichtet und Religion wird, hochaufgeladen, als umfassendes Ethos vom oberflächlichen Gefühl abgegrenzt und schlussendlich als Zustimmung der Mitglieder zum Kern definiert.236

233 Preul, Die Zukunftsfähigkeit der Kirche, 310. 234 Vgl. Preul, Reiner, Der gegenwärtige kirchliche Wandel in kirchentheoretischer Perspektive, in: Preul, Reiner, Die soziale Gestalt des Glaubens. Aufsätze zur Kirchentheorie, MThSt 102, Leipzig 2008, 321–341, 321 f. 235 Preul, Der gegenwärtige kirchliche Wandel, 328. 236 Dies gilt, auch wenn Preul schreibt: „Bejahen muss man schließlich auf dieser Linie auch die Intensivierung von Subjektivität, die die Individuen auf eigenem Urteil auf der Grundlage eigener Evidenzerfahrung bestehen lässt und sie resistent gegen institutionelle Bevormundung macht. Auch das entspricht der Reformation […]. Diese Fähigkeit ist also kirchlicherseits zu fördern, auch wenn das zu mehr Kritik an der Kirche führen sollte.“ In Preul, Der gegenwärtige kirchliche Wandel, 340. Von einem bewussten und gewollten Anknüpfen an die allgemeinen Lebenserfahrungen vor Ort, wie bei Sevat Lappegard formuliert, kann, jedenfalls ungebrochen und direkt, nicht die Rede sein. Nur angedeutet werden kann die Frage, ob nicht gleichzeitig Preuls Bildungsbegriff, in seiner Differenziertheit und in seinem Abheben auf Handlungsfähigkeit, über Hegstads Konzept von Verdichtung hinausgeht, ob nicht Preul, mit seinem Konzept der Kirche als Bildungsinstitution, Lappegards Konzept des Netzwerkes am Ort in dem Sinne inspirieren könnte, dass dies adäquater und genauer gefasst und dargestellt werden könnte.

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5.5.2 Hans-Richard Reuter: Kirche in theologischer Sicht Das Anliegen Reiner Preuls, die reformatorischen Einsichten fruchtbar zu machen, ist ohne Frage zu würdigen, wird von Hans-Richard Reuter geteilt und liefert den Analysen der vorliegenden Studie gewichtige Einsichten. Wie Preul unterstreicht Reuter, dass den Grundeinsichten des reformatorischen Kirchenverständnisses genügend Disktinktions-, Erschließungs- und Transformationspotential innewohnt, um auch für gegenwärtige Ordnungsprobleme der verfassten protestantischen Kirche(n) orientierungskräftig zu sein237.

Reuter entwirft seinen Kirchenbegriff im Rahmen Systematischer Theologie, auf das Kirchenrecht konzentriert, und er arbeitet auf einen dreischichtigen Kirchenbegriff hin, der die Kirche als Glaubens-, Handlungs- und Rechtsgemeinschaft profiliert. Er unterscheidet so einen dogmatischen, ethischen und juridischen Begriff der Kirche. Bei der Analyse des Ansatzes von Harvey Cox und der Analyse der Konzeptionen von Harald Hegstad wurde auf Reuter verwiesen. Auch im Folgenden, bei der Beschäftigung mit der Kirche im Groruddal, wird auf Reuter verwiesen. Daher sollen kurze Gedankensplitter aus den Feldern der ersten beiden Begriffe benannt werden.238 In dogmatischer Absicht stellt Reuter fest: Die Kirche ist immer Gemeinschaft leibhaft kommunizierender Menschen und unverfügbare Wirkung des Geistes; darum ist für das evangelische Kirchenverständnis die Dialektik von leibhaft-äußerer Sichtbarkeit und geistlicher Verborgenheit der Kirche unaufgebbar.239

Und weiter: Eine undifferenzierte Einheit von geistlichem Wesen und äußerer Gestalt der Kirche ist schon deshalb unvollziehbar, weil die Glaubensgemeinschaft ihren Grund und damit ihre Einheit nicht in sich selbst, sondern einzig und allein ,extra se‘ in Jesus Christus hat.240

Damit ist Hegstads Idee der einen, wirklichen Kirche scharf kritisiert.241 237 Reuter, Hans-Richard, Vorwort, in: Reuter, Hans-Richard, Botschaft und Ordnung. Beiträge zur Kirchentheorie, Öffentliche Theologie 22, Leipzig 2009, 11 f., 12. 238 Vgl. Reuter, Hans-Richard, Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht, in: Reuter, HansRichard, Botschaft und Ordnung. Beiträge zur Kirchentheorie, Öffentliche Theologie 22, Leipzig 2009, 13–55, 13 f.33.40.45. Vgl. 4.3.2; 5.4.1; 7.1.3. 239 Reuter, Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht, 34. 240 Reuter, Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht, 36. 241 Eine Unterscheidung von communio und congregatio, wie Reuter sie durchexerziert, bringt

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Der zweite historisch-systematische Problemhorizont: (Volks-)Kirche

Den ethischen, handlungsorientierten Aspekt betreffend zwei Bemerkungen. Cox bemüht die tria-munera-Lehre, auf die Schwierigkeiten ist oben bereits hingewiesen. Es sei ergänzt, dass Reuter zeigt, dass dem Dreierschema (Martyria, Leiturgia, Diakonia) und dem Viererschema (zusätzlich: Koinonia) unterschiedliche Akzentsetzungen zugrunde liegen, die Begrifflichkeiten daher ungenau werden.242 Seine Forderung, „die ekklesialen Grundvollzüge von vornherein unter dem Aspekt ihres Handlungscharakters zu bestimmen“243, dabei zwischen darstellendem und wirksamen Handeln zu unterscheiden und vom Gottesdienst, als darstellendem Handeln, auszugehen, sichert Weite und Offenheit der Kirche: Wortverkündigung und Feier der Sakramentsdarbietung sind die expliziten, aber nicht exklusiv zu verstehenden Kennzeichen der Kirche als darstellender Handlungsgemeinschaft. Die in CAVII genannten Kennzeichen der Kirche dürfen nicht als abschließende Definition der Kirche aufgefasst werden; sie haben im Rahmen des ethischen Begriffs der Kirche die primär signifikative Funktion von Kriterien, auf Grund deren man darauf trauen darf, im Kontext äußerer menschlicher Interaktionen auf die Gemeinschaft der Glaubenden zu treffen.244

Nach Reuter gibt es einen „unauflöslichen Zusammenhang von besonderem Gottesdienst und Gottesdienst im Alltag der Welt“245, daher erscheint es unter den heutigen Bedingungen einer differenzierten Gesellschaft […] angemessener, auch die unverzichtbaren impliziten Kennzeichen der Kirche, die auf die wirksame Sozialgestaltung abzielen, in den darstellenden Grundvollzügen der Glaubensgemeinschaft verankert zu sehen246.

Die Kirche ist gefordert an Bildungsprozessen, am Gerechtigkeitshandeln und am Hilfehandeln der Gesellschaft teilzunehmen.247 Reuters Ausführungen sind, wie bei Preul, zunächst Programmerklärungen, theoretische Korrektive, die kein direktes empirisches Interesse verraten, nicht empirischer Arbeit entspringen, die sich gleichwohl – und auf andere Weise als bei Preul248 – als anschlussfähig an den Weg dieser Studie zum Ort und an die Wege vor Ort zeigen.

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weitere Klarheit in das Bild und die Schwierigkeiten, die sich aus Hegstads Idee ergeben. Vgl. Reuter, Hans-Richard, Communio und congregatio. Zwei Aspekte des Kirchenbegriffs, in: Reuter, Hans-Richard, Botschaft und Ordnung. Beiträge zur Kirchentheorie, Öffentliche Theologie 22, Leipzig 2009, 56–72. Vgl. 5.4.1. Vgl. Reuter, Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht, 41 f. Vgl. 4.3.2. Reuter, Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht, 42. Reuter, Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht, 43. Reuter, Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht, 43 f. Reuter, Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht, 44. Vgl. Reuter, Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht, 44. Dies gelingt vielleicht bei Reuter einfach deswegen besser, da er sich Reformdiskussionen nicht

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5.5.3 Jan Hermelink: Kirche als Organisation zur öffentlichen Inszenierung des Glaubens Jan Hermelink legt seine Kirchentheorie 2011 vor. Im Rahmen der vorliegenden Studie, ihrer Einrichtung und ihres Interesses ist bemerkenswert, dass Hermelink eingangs beklagt, dass eine „Verbindung theologisch-theoretischer Reflexion mit empirischer Detailwahrnehmung der gegenwärtigen Verhältnisse […] bisher nur selten gelungen“249 ist, seine „Überlegungen zielen auf eine solche Gesamtschau, auf eine systematische Theorie der gegenwärtigen kirchlichen Situation“250. Ausgangspunkt für seine Überlegungen sind drei ,Achsenzeiten‘ (Ralph Kunz), Zeiten „struktureller wie theoretischer Reorganisation, die die gegenwärtige Lage zutiefst prägen“251. In den einleitenden Ausführungen knüpft Hermelink, im Rückgriff auf die Diskussionen nach 1918 und in den 20er und 30er Jahren, den Begriff der Organisation an den Begriff der Volkskirche. Die Kirche ist weder Staatskirche noch ,Sekte‘ (Ernst Troeltsch), der Öffentlichkeitscharakter gewinnt, in einer Situation der inneren Spannungen und des äußeren Drucks, an Bedeutung und bedarf der deutlichen Leitung der Kirche.252 Von Ernst Lange her kommt der Begriff der Institution ins Spiel, aus einer Situation des Gewahrwerdens eines innerkirchlichen Pluralismus heraus. Lange begreift Kirchenleitung, gerade auf Gemeindeebene, als Leitung im Konflikt. Damit ist Kirche eine Institution des Widerspruchs, in Kirche und Gesellschaft.253 Dabei zielt eine konziliar verstandene Kirche „nicht auf die Herstellung von Konsens, sondern auf die Darstellung von Dissens“254. Bei Friedrich D.E. Schleiermacher steht die wechselseitige Interaktion im Vordergrund, Religion ist ein wesentlich kommunikatives, auf subjektiver Expression und freier Aneignung beruhendes Phänomen wechselseitiger ,Mitteilung‘ und ,Darstellung.‘255

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verschließt, sondern sich in diese, doch ohne weitergehende Charakterisierungen von Verhalten und Meinungen, einbringt. Zugegebenermaßen ein noch breiterer Pinsel, der aber Missverständnisse und Wertungen umgeht. Vgl. Reuter, Hans-Richard, Kirche und „Gemeinde“, in: Reuter, Hans-Richard, Botschaft und Ordnung. Beiträge zur Kirchentheorie, Öffentliche Theologie 22, Leipzig 2009, 92–98, 94–97. Hermelink, Jan, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens. Eine praktischtheologische Theorie der evangelischen Kirche, Gütersloh 2011, 15. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 15. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 15. Vgl. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 16–19. Vgl. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 20 ff. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 23. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 26.

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Mit dem Begriff der Darstellung ist die vierte Dimension angepeilt und angesprochen, die Inszenierung256: Als ,Inszenierung‘ ist die Kirche insofern zu beschreiben, als sie den christlichen Glauben, seine inhaltlichen Gründe wie sein gemeinschaftliches Leben ausdrücklich, aber auch beiläufig zu öffentlicher Darstellung bringt. Im Ganzen hat die praktischtheologische Kirchentheorie die evangelische Kirche daher als eine Organisation zu beschreiben, die den christlichen Glauben gerade darin zur Wirkung und zum Ausdruck bringt, dass sie sich offen hält für die Manifestationen des Glaubens jenseits der Organisation.257

Systematisch-theologische Einsichten gewinnt Hermelink aus der Beschäftigung mit Konzeptionen der Reformation,258 des neuzeitlichen Protestantismus,259 des Vaticanum II260 und der aktuellen Dogmatik.261 Im Folgenden ist für das eigene Projekt seine Aufnahme soziologischer Gesellschaftstheorie interessant. Hermelink greift, ausgehend von Beobachtungen einer ,funktionalen Differenzierung‘, einer ,kulturellen Pluralisierung‘ und einer ,strukturellen Individualisierung‘, die eben nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Kirche betreffen, auf die soziologische Systemtheorie (Armin Nassehi) zurück. Es wird deutlich, so Hermelink, dass „nach der Vermittlung der verschiedenen Systemlogiken in konkreten Interaktionen, aber auch auf der Ebene institutioneller Regelung gefragt werden“262 muss. Diese Vermittlung gewährleisten Organisationen, denn diese „sorgen in der differenzierten Gesellschaft ,für verdichtete Operationen von Funktionssystemen‘“263. In der Organisation – weiterhin unter Verweis auf Nassehi – gilt, dass sich „formale, rekursive Entscheidungsstrukturen und informelle Kommunikationsvollzüge wechsel256 Hermelink gewinnt den Begriff der Inszenierung von Schleiermachers Begriff der Darstellung her: „Die Gestalt der Kirche bringt – wie gebrochen auch immer – den Christusbezug des Glaubens und seine daraus resultierende Freiheit zum Ausdruck.“ In Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 116. Bei der Form dieses Ausdrucks unterscheidet Hermelink eine explizite Form (Gottesdienst, in dessen Folge die Organisationsformen von Kirche) und eine implizite Form des Ausdrucks (hier verweist die Ordnung der Kirche auf den Gottesdienst, macht diesen öffentlich und, für das Interesses der vorliegenden Studie entscheidend, verweist ebenfalls auf Lebensformen des Glaubens im Alltag). Der Begriff der Inszenierung sichert der Kirche die Möglichkeit, ihre Formen der Organisation, ihre Interaktionen und institutionellen Elemente zu beobachten, zu reflektieren und offenzuhalten. Vgl. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 116–122. 257 Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 29. 258 Vgl. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 32–51. 259 Vgl. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 51–62. Im Fokus stehen Troeltsch und die Barmer Theologische Erklärung (Karl Barth). 260 Vgl. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 63–70. 261 Vgl. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 71–82. Im Fokus stehen Eilert Herms und Wolfgang Huber. 262 Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 86. 263 Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 92.

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seitig bedingen und bestärken“264. Entscheidend ist dabei für Hermelink: „Allererst durch die Organisation sozialer Praxis wird diese selbst in ihrer spezifischen Logik für sich und andere sichtbar, prägnant und anschlussfähig.“265 Dies gilt ebenso für die Kirche, beschreibt sie aber nicht umfassend. Es bedarf der Reflexion der Begriffe der Interaktion (der Gemeinde) und der Institution, im Sinne von: das Selbstverständliche, Allgemeine. Diese liegen der kirchlichen Organisation immer schon voraus; freilich werden sie nur im Gegenüber zu den Entscheidungen, Reflexionen und Leitungsinstanzen der Organisation sichtbar.266

Es ist gerade die Reflexion dieser Dialektik, die die Dimension der Inszenierung aufscheinen lässt, die dazu führt, dass die Kirche sich darstellen und gleichzeitig selbst beobachten kann, so „muss die evangelische Kirche also wesentlich als eine reflexive Sozialität verstanden werden“267. Die Kirche bestätigt sich als „Organisation zur öffentlichen Inszenierung des Glaubens“268. Hermelinks große Analysen, in systematisch-theologischer Absicht im zweiten Teil seiner Kirchentheorie, in historischer Absicht, wenn er im dritten Teil verschiedene Typen der Organisation von Kirche behandelt, und in empirischer Absicht, bei der Aufnahme empirischer Bestandsbedingungen im vierten Teil, dienen ihm sowohl als Nährboden, als Spielfeld sowie als Lackmustest für seinen vierfachen Kirchenbegriff.269 Dabei schwingen gegenwärtige kirchliche Reformdiskurse immer mit, werden von Hermelink in die Diskussionen miteinbezogen, auch die gesell264 265 266 267

Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 95. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 96. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 103. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 123. Vgl. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 103. 268 Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 86. 269 Vgl. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 31–123. 125–173.175–218. Schon innerhalb dieser Teile ließen sich viele Querverbindungen, Ergänzungen und Kontraste zu den oben analysierten norwegischen Modellen aufzeigen. Das kann und soll hier nicht geleistet werden. Nur so viel: Von Erkenntnisgewinn ist Hermelinks Erinnerung an Troeltsch, an dessen Unterscheidung von ,Kirche‘, ,Sekte‘ und ,Mystik‘, daran, dass die „,Zukunftsaufgaben‘ […] in ,der gegenseitigen Durchdringung der drei soziologischen Grundformen‘“ liegen. Ferner die Beobachtung, dass „in der gegenwärtigen evangelischen Großkirche mindestens fünf Organisationstypen wirksam […] [sind], nämlich eine parochiale, eine landeskirchliche, eine vereinskirchliche, eine konvents- und eine funktionskirchliche Grundstruktur“. In Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 54.169. Der dezidiert empirisch interessierte Harald Hegstad nimmt, eingeschränkt durch seinen Fokus auf zwei als vorfindlich angenommene Größen (,Volkskirche‘ und ,Glaubensgemeinschaft‘), weniger wahr als der eher historisch arbeitende Hermelink. Auch könnte gefragt werden, wie Sevat Lappegards Netzwerk sich zu den Größen Interaktion und Institution, aber auch zur Größe der Inszenierung, verhält. In ähnlicher Richtung könnte Dag Myhre-Nielsens Ellipsenmodell befragt werden. Vgl. 5.2; 5.3; 5.4.

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schaftliche Lage gerät nicht aus dem Blick. Gleichwohl wirken die Formulierungen, die auf den gesellschaftlichen Wandel und die gesellschaftlichen Herausforderungen eingehen, in der Tendenz doch eher blass und unbestimmt, wie die schon oben angeführten Stichwörter der Differenzierung, Pluralisierung und Individualisierung270 oder die Frage, wie die Konziliarität als „Grundform kirchlicher Leitung mit tief greifendem sozialen Wandel und mit ggfs. raschem Reaktionsbedarf umgehen“271 kann, zeigen. Ähnliches gilt wohl für die Frage nach den involvierten Subjekten. Wird die Lehre vom Allgemeinen Priestertum in kirchenleitendem Interesse gewürdigt, verbleibt Hermelink doch eher bei allgemeinen Formulierungen. Deutlicher allerdings treten die involvierten Subjekte im Gottesdienst, verstanden als symbolische Strukturierung und symbolische Leitung, die eng an den Inszenierungsbegriff gekoppelt wird, hervor.272 In seinen abschließenden Bemerkungen wendet sich Hermelink religiösen Formen und theologischer Reflexion zu, es scheint die gerade angesprochene Öffnung aus dem Blick zu geraten. Hermelink verbleibt binnenkirchlich, Leitung ist Auslegung, Moderation und Vermittlung von Konflikten, die „auf einen (erneuten) Konsens, um (wieder) eine zusammenstimmende kirchliche Praxis zu erreichen“273, zielen. Die angeführten Anmerkungen sollen den Gewinn der Kirchentheorie Hermelinks keineswegs schmälern. Eher fügen sich die obigen Anmerkungen in einen Diskussionsstrang ein, der durch die Rezension der Kirchentheorie durch David Plüss angegangen und von Hermelink selbst aufgenommen wurde. Plüss fragt, ganz im Sinne der vorliegenden Studie und angesichts der historischen Ausrichtung von Hermelinks Entwurf, ob sich die Verhältnisse nicht in Kürze in einer Weise und einem Umfang ändern werden und schon geändert haben, dass andere, flexiblere, visionäre, vielleicht auch pluralismusaffinere Modelle von Kirche zu konzipieren wären274.

Hermelink antwortet darauf direkt: Mit der Vielfalt, auch der Dynamik der kirchlichen (und gesellschaftlichen) Gegenwart vermag doch nur angemessen umzugehen, wer sich in dieser Vielfalt orientie-

270 271 272 273 274

Vgl. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 84. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 290. Vgl. Hermelink, Kirchliche Organisation und das jenseits des Glaubens, 75.202 ff.250.296 ff. Hermelink, Kirchliche Organisation und des Glaubens, 301. Plüss, David, Eine Kybernetik im weiteren und im engeren Sinne. Eine öffentliche Buchrezension, in: Weyel, Birgit/Bubmann, Peter (Hg.), Kirchentheorie. Praktisch-theologische Perspektiven auf die Kirche, VWGTh 41, Leipzig 2014, 246–253, 252.

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ren, wer diese Pluralität auf ihre Gründe (oder wenigstens einige ihrer Gründe) durchschauen kann.275

Gleichzeitig bezeichnet Hermelink seine Arbeit als stärker kategorial, „dort, wo einzelne kirchliche Handlungsfelder oder Akteure thematisiert werden, bin ich eher an Grundformen und -dimensionen interessiert“276. Diesen Antworten zum Trotz bleibt aus Sicht der vorliegenden Studie das Interesse an den Motivationen und Beweggründen der kirchlichen Akteure, an der Gelebten Religion, die die Subjekte einspielen, und das Interesse am konkreten Ort zu wenig berücksichtigt, und ich lese Hermelinks eigene Charakteristik seines letzten Kapitels als Bestätigung für diese Einschätzung: Im Rückblick wird mir deutlicher, dass ich die Leitungsaufgabe vielleicht doch zu sehr deduktiv aufgefasst habe – so als sei die reale Leitungspraxis im Wesentlichen charakterisiert durch die konsequente und reflektierte ,Anwendung‘ der kybernetischen Einsichten, die in den vorhergehenden Kapiteln entwickelt werden.277

Hermelinks eigene Schlussfolgerung verbleibt der eigenen Studie eine Aufgabe, die es anzugehen gilt: Die Wirklichkeit der kirchlichen Leitung, nicht zuletzt die Wirklichkeit der pastoralen Leitungspraxis muss noch deutlicher […] empirisch wahrgenommen und – erst dann – theologisch rekonstruiert werden.278

Inspiration dazu kommt von Hermelinks grundlegender Thesenformulierung her: ,Kirche‘ ist weder empirisch noch theologisch eindimensional, eindeutig zu beschreiben – und zwar deswegen, weil der christliche Glaube selbst ein dynamisches Geschehen ist, das in einer einzigen ,Ausdrucksgestalt‘ nicht aufgeht, das mehr als eine ,Außenseite‘ hat (Plüss).279

Ausgehend von dieser These rückt noch einmal der Begriff der Inszenierung ins Blickfeld, als der meines Erachtens spannendste und schillerndste Begriff der kirchentheoretischen Überlegungen Hermelinks. Auf diesen Begriff zielt meine Analyse, eingebettet in das deutsch-norwegische Gespräch, ab. Gerade durch diesen Begriff lässt sich das norwegische Material deutlicher in den Blick bekommen: Die Einführung und Betonung des Inszenierungsbegriffs weitet das norwegische Material auf produktive Weise.280 275 Hermelink, Jan, Zu komplex? Zu historisch? Zu theoretisch? Selbstklärungen im Spiegel einer öffentlichen Rezension, in: Weyel, Birgit/Bubmann, Peter (Hg.), Kirchentheorie. Praktischtheologische Perspektiven auf die Kirche, VWGTh 41, Leipzig 2014, 254–258, 255. 276 Hermelink, Zu komplex? Zu historisch? Zu theoretisch?, 256. 277 Hermelink, Zu komplex? Zu historisch? Zu theoretisch?, 257. 278 Hermelink, Zu komplex? Zu historisch? Zu theoretisch?, 258. 279 Hermelink, Zu komplex? Zu historisch? Zu theoretisch?, 255. 280 Vgl. Plüss, Eine Kybernetik im weiteren und im engeren Sinne, 252.

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Hermelink leitet diesen Begriff primär vom Gottesdienst und von Schleiermachers Kategorie des darstellenden Handelns ab, der Gottesdienst „kennzeichnet die Kirche insgesamt als eine Inszenierung des Glaubens“281. Dies verweist gleichsam seitenverkehrt auf die Lebensformen eines Glaubens, der sich eben nicht nur in den liturgischen, den katechetischen oder diakonischen Strukturen der Kirche vollzieht, sondern sich wesentlich im Alltag der individuellen Lebensführung zu bewähren hat282.

Diese Richtung der Bewegung entspricht dem Interesse der vorliegenden Studie, das vom Gottesdienst und von der empirischen Wahrnehmung des Gottesdienstes im vielfältigen Groruddal ausgeht, das nach Alltag und Gelebter Religion fragt und sich in der doppelten Funktion, die Hermelink dem kirchlichen Rahmen zuschreibt, direkt wieder erkennt: Die Kodifikation grundlegender Texte, der Unterhalt von Gebäuden und die Qualifikation von Leitungspersonen bilden nicht nur den Bedingungszusammenhang, gleichsam die Bühne und das Personal der gottesdienstlichen Darstellung, sondern die Organisation der Kirche macht jene Darstellung für die Beteiligten wie für die interessierte Öffentlichkeit allererst erkennbar und anschlussfähig.283

Die Organisation im engeren Sinne wird überschritten: Das christliche Leben wird im Kontext vielfältiger Ordnungsvorgaben inszeniert – jedoch so, dass diese Vorgaben auf je individuelle Weise angeeignet und überschritten werden. Auch die […] einmaligen, flüchtigen Inszenierungen des Glaubens sind praktisch-theologisch zur Gestalt der Kirche zu rechnen.284

In der weiteren Entwicklung meiner Studie ist diese Öffnung für die Subjekte stark zu machen und „das religiöse ,Jenseits‘“285 ist offenzuhalten. 5.5.4 Ralph Kunz und Thomas Schlag: Kirchen- und Gemeindeentwicklung Das Ziel ihres umfangreichen Handbuches, an dem über fünfzig Autoren und Autorinnen mitgearbeitet haben, ist, so die Herausgeber Ralph Kunz und Thomas Schlag, angesichts einer sich dynamisch verändernden Kirchen- und Gemeindewirklichkeit zentrale Problemstellungen protestantischer Ekklesiologie zu identifizieren, gegenwärtige thematische Forschungseinsichten zu präsentieren und auf diesem Hinter281 282 283 284 285

Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 117. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 117. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 118 f. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 122. Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 122.

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grund Entwicklungsperspektiven für verschiedene Handlungsfelder von Kirche und Gemeinde aufzuzeigen. […] Es sollen insofern gerade Einsichten in die Diskurslandschaften gegenwärtiger Kirchen- und Gemeindeentwicklung geboten werden.286

Dabei liegt auf der Hand, dass für eine eingehende Analyse der einzelnen und distinkten Beiträge hier nicht der Raum ist. Die folgende Analyse wählt, explizit und durchweg auf dem Hintergrund des eigenen Forschungsinteresses, einige Texte aus, um Tendenzen deutlich zu machen und Profilierungen des eigenen Ansatzes voranzutreiben. Die Herausgeber stellen eingangs fest, dass die Einsicht und Zuversicht, dass eine Verständigung möglich ist, […] von einem Paradox begleitet [wird]. Eine funktionierende Kirchen- und Gemeindepraxis setzt zwar voraus, dass Akteure, die sich um die Entwicklung ihrer Organisationseinheiten bemühen, wissen, wovon sie reden und was sie tun. Was aber ,Entwicklung‘ jeweils meint und welche Steuerungs- und Leitungsziele sich daraus für die jeweilige Ebene von Kirche und Gemeinde ergeben, ist im kybernetischen Akt nicht immer explizit benennbar. […] Je prägnanter ,Entwicklung‘ […] gedacht wird, desto deutlicher treten divergierende Leitinteressen zutage.287

Ist Einstimmigkeit als Ziel ausgeschlossen, so muss gewährleistet sein, dass die Rede über ,Entwicklung‘ in ihrer Vielstimmigkeit ermöglicht wird. Eine diskursanalytische Annäherung an den Begriff macht deutlich, dass sich vielerorts, oftmals unausgesprochen, normative Setzungen Bahn brechen.288 Die Pluralität des Entwicklungsbegriffs wahrend macht Albrecht Grözinger darauf aufmerksam, dass Entwicklung als Ars verstanden werden kann: Praktische Theologie ist diejenige Ars, die die kirchliche Entwicklung normativpraktisch vorantreibt. […] Da die Ars keine mechanische Regeln kennt, werden diese immer auch durch die individuellen Talente der Handelnden bestimmt sein.289

Des Weiteren ist Entwicklung in der Praktischen Theologie als ,empirisch fundiertes Handeln‘ aufgefasst worden. Diese Sicht wurde zunächst durch die Dialektische Theologie kritisiert („Alleiniges Subjekt der Kirchen- und Gemeindeentwicklung ist Gott selbst.“290). Außerdem wurde der Wahrnehmungsbegriff stark gemacht. An der Phänomenologie (Bernhard Waldenfels) orientiert wird festgestellt, dass es nicht so sehr darum geht die Kirche zu 286 Kunz, Ralph/Schlag, Thomas, Diskurslandschaften gegenwärtiger Kirchen- und Gemeindeentwicklung, in: Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 9–27, 9. 287 Kunz/Schlag, Diskurslandschaften, 10. 288 Vgl. Kunz/Schlag, Diskurslandschaften, 11. 289 Grözinger, Albrecht, Praktisch-theologische Perspektiven, in: Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 57–64, 59. 290 Grözinger, Praktisch-theologische Perspektiven, 61.

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entwickeln, „sondern sie [sc. die Kirche] entwickelt sich im Zusammenhang sorgfältiger und reflektierter Wahrnehmung der Vielgestaltigkeit religiöser Erfahrung.“291 Grözinger spielt diese verschiedenen Paradigmen nicht gegeneinander aus, spricht jedem sein begrenztes Recht zu und erklärt sie als einander ergänzend.292 Die terminologische Unklarheit, die Vielstimmigkeit, das Angewiesensein auf eben diese, wird von Kunz und Schlag produktiv gewendet, denn so gelingt es, dass in ihrer Sichtung der im Band versammelten Beiträge zunächst Leitdifferenzen, dann aber Leitmotive kenntlich gemacht werden können.293 Die Diskussion um die beiden Größen Gemeinde und Ekklesia (Leitdifferenz: Gemeinde und Ekklesia) nimmt, wie gesehen, in den norwegischen Konzeptionen von Kirche breiten Raum ein. Auf diesem Hintergrund – und im Sinne der Kontrastierung und Ergänzung – scheint es ertragreich, auf die Differenzen den Begriff der Gemeindeentwicklung/des Gemeindeaufbaus betreffend einzugehen, dies soll anhand zweier Beiträge geschehen. In seinem Beitrag zum Gemeindeaufbau gibt Kunz den biblischen Ausgangspunkt mit Mt 18,20 an, welcher eine „integrale Sicht von Gemeindeaufbau als Interaktions- und Beziehungsgeschehen“294 sichert: Wenn zwei oder drei, die sich im Namen des Herrn versammeln, ubi et quando visum deo est Gemeinde Gottes sind (Mt 18,20), ruht der Aufbau dieser Gemeinschaft auf einem realen Fundament und ist zugleich aktuales Geschehen. Gemeinde ereignet sich und findet sich zugleich als Geschöpf des Wortes Gottes immer in der sichtbaren Gestalt eines bewohnten, sozial und kulturell codierten Raums vor.295

In der pluralen und hybriden Kirche hat dabei das biblische Gemeindeideal als Bezugspunkt und die Kritik an der Teilhabe der Kirche an der allgemeinen Kultur, getragen von der Idee einer ,Ekklesia‘, keinen Platz mehr, vielmehr tritt an ihre Stelle eine 291 Grözinger, Praktisch-theologische Perspektiven, 62. 292 Vgl. Grözinger, Praktisch-theologische Perspektiven, 63. Für das eigene Forschungsprojekt soll als Erinnerung festgehalten werden: „Vielleicht können das Wahrnehmungsparadigma und das empirisch-orientierte Paradigma zusammengehalten werden durch das radikale Paradigma der Dialektischen Theologie, das uns daran erinnert, dass es in aller menschlichen Wahrnehmung und aller empirisch fundierten Praxis einen Überschuss gibt, den wir nicht mehr in der Hand haben.“ In Grözinger, Praktisch-theologische Perspektiven, 63 f. 293 Vgl. Kunz/Schlag, Diskurslandschaften, 14 f.22. 294 Kunz, Ralph, Gemeindeaufbau, in: Schlag, Thomas, Öffentliche Kirche, in: Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 269–277, 270. Kunz und Harald Hegstad teilen den Ausgangspunkt, nicht aber Fassung des Ausgangspunktes, Implikationen, Konsequenzen und Weiterführungen. Vgl. 5.4. 295 Kunz, Gemeindeaufbau, 270.

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pluralitätssensible Gemeindeaufbautheologie […] die Leitdifferenzen, die der Kirchenentwicklung immer eingeschrieben sind, in die Diskussionen einspeisen [wird]. Gemeindeaufbau steht also weniger für ein bestimmtes Leitbild oder Programm, das – wenn es durchgesetzt würde – die Diskussion über die Vielfalt beendete, als vielmehr für ein theologisches Verfahren, das hilft, die Differenzen zwischen divergierenden Programmen profilierter wahrzunehmen […].296

Anders liest sich der Beitrag von Michael Herbst, dieser erinnert an die Anfänge der Diskussionen um die Gemeindeentwicklung und zitiert die Definition von Fritz und Christian Schwarz: „Gemeindeaufbau ist alles Handeln, das auf das Ereignis- und Gestaltwerden von Ekklesia zielt.“297 Herbst macht auf Entwicklungslinien und Gesprächsstränge aufmerksam, erinnert an Konzeptionen, die die Kirche als Hybrid fassen (Kunz, Eberhard Hauschildt), und zeigt, dass die dualistische Sicht (Kirche vs. Ekklesia) sich nicht durchgesetzt hat.298 Gleichwohl mahnt die Aufgabe der Mission, zu sehen, dass ein Rekurrieren auf „eine stabile Kirchlichkeit auch bei distanziertem Teilnahmeverhalten“299 nicht tragfähig ist, dass ein „geordneter Rückbau“300 nicht offensiv genug ist und dass gerade ein erweiterter Missionsbegriff, „Mission als entschiedene Verwurzelung in diversen sozialen und kulturellen Kontexten“301, neue Kräfte freisetzt. So scheint es dennoch bei einer Hierarchie zu bleiben, denn es wird grundlegend davon ausgegangen, „dass dauerhafte, intensive Partizipation an Versammlungen unter Wort und Sakrament konstitutiv für den christlichen Glauben“302 ist. Ein weiterer Begriff, der in den norwegischen Konzeptionen diskutiert wird, ist der der Volkskirche. Mit diesem Begriff sind Spannungen (Leitdifferenz: Kybernetische Spannungen) angesprochen, die unter anderem das Verhältnis von zielgruppenorientierter Profilierung und wiedererkennbarem Profil und von Identität und Öffentlichkeit berühren.303 Die erste Spannung betreffend soll mit einem Blick auf Kristian Fechtners

296 Kunz, Gemeindeaufbau, 271 f. 297 Herbst, Michael, Missionarische Gemeindeentwicklung, in: Schlag, Thomas, Öffentliche Kirche, in: Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 317–326, 317. Dieser Beitrag ist von Interesse, da Herbst der einzige deutschsprachige Theologe ist, auf den sich Hegstad schon 1996 beruft. Vgl. Hegstad, Harald, Folkekirke og trosfellesskap. Et kirkesosiologisk og ekklesiologisk grunnproblem belyst gjennom en undersøkelse av tre norske lokalmenigheter, KIFO Perspektiv 1, Trondheim 1996, 414. 298 Vgl. Herbst, Missionarische Gemeindeentwicklung, 319 f. 299 Herbst, Missionarische Gemeindeentwicklung, 321. 300 Herbst, Missionarische Gemeindeentwicklung, 321. 301 Herbst, Missionarische Gemeindeentwicklung, 321. 302 Herbst, Missionarische Gemeindeentwicklung, 322. 303 Vgl. Kunz/Schlag, Diskurslandschaften, 17.19 f.

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Beitrag304 die Frage nach der Rolle der Subjekte in der Kirche ausgeleuchtet werden. Schlags Text305 soll auf die zweite Spannung hin abgeklopft werden, sodass Bedingungen für eine öffentliche Kirche eruiert werden können. Es ist unschwer zu erkennen, dass Fechtners kirchentheoretische Überlegungen – gerade über den Begriff der Wahrnehmung – eine Nähe zu Kunz306 aufweisen, nach Fechtner ist es deutlich, dass heute die Rede von der Volkskirche nicht eine Feststellung ist, sondern eine bestimmte Wahrnehmungsweise des kirchlichen Christentums in der Lebenswelt der Spätmoderne darstellt.307

Mit Dietrich Rössler unterscheidet Fechtner eine gesellschaftliche, eine kirchliche und eine individuelle Gestalt des Christentums: In gesellschaftlicher Hinsicht „brauchen und finden die je unterschiedlichen öffentlichen Orte auch unterhalb gesamtgesellschaftlich wahrgenommener Ereignisse Aufmerksamkeit“308, ist in einer sich mehr und mehr als multireligiös wahrnehmenden Gesellschaft das integrative Anliegen volkskirchlicher Praxis nicht mehr nur exklusiv-stellvertretend einzulösen, sondern [es] bedarf kooperativ-interreligiöser Weitungen309.

Aus kirchlicher Perspektive ist an den Begriff der Gemeindepflege zu erinnern, diese ist – weniger strategisch-planerisch wie ein ,Aufbau‘ – eher ein kultivierendes Handeln, das dafür Sorge trägt, die Kräfte und Möglichkeiten des konkreten gemeindlichen Lebens vor Ort sich entfalten zu lassen310.

Und schließlich hilft der Fokus auf das individuelle Niveau zu sehen, dass Religion „– auch in ihrer kirchlichen Gestalt – subjektiv bestimmt und lebensgeschichtlich verwoben“311 ist. Fordert Fechtner Aufmerksamkeit für die unterschiedlichen öffentlichen Orte und kooperativ-interreligiöse Weitungen, so ist die Frage nach der Öffent304 Vgl. Fechtner, Kristian, Volkskirche, in: Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 161–168. 305 Vgl. Schlag, Thomas, Öffentliche Kirche, in: Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 179–188. 306 Vgl. Kunz, Gemeindeaufbau, 269–277. 307 Fechtner, Kristian, Volkskirche, 161. 308 Fechtner, Volkskirche, 165. 309 Fechtner, Volkskirche, 165. 310 Fechtner, Volkskirche, 166. 311 Fechtner, Volkskirche, 166. Ausführend schreibt Fechtner: „Die Kommunikation des Evangeliums impliziert, dass die an ihr Beteiligten als Subjekte ihrer religiösen Praxis anerkannt werden, auch und gerade im Blick auf manchmal sehr eigensinnig oder eigenwillig gelebte individuelle Religion.“ In Fechtner, Volkskirche, 166.

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lichkeit der Kirche nicht zu umgehen, und sie wird auch durch das bekundete Interesse an Jan Hermelinks Begriff der Inszenierung gestellt.312 In seinem Beitrag geht Schlag den Bedingungen und den Formen der öffentlichen Kirche nach und bindet dies an die Entwicklung einer „public theology“, die darauf aus ist, die politischen, ökonomischen, sozialen und individuellen Sachverhalte bewusst in ihrer Komplexität theologisch-sozialethisch wahrzunehmen und zu bearbeiten; […] Kirche wird selbst als zivilgesellschaftlicher Akteur und als intermediäre Institution verstanden.313

Als deren vordersten Merkmale bestimmt Schlag, auf der Grundlage zweier Praxisbeispiele, Transparenz und Diskursivität. Für eine Kirche, die öffentlich sein will, geht damit einher, dass es Kompetenz und Vernetzung mit anderen Öffentlichkeiten, den Mut zur Artikulation von Konflikt und des Unangenehmen und eines Bewusstseins der eigenen Grenzen (eingezeichnet in der Rede von der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche) bedarf, was letztlich bedeutet […], dass sich ein öffentliches kirchliches Handeln eben auch über die festgesetzten institutionellen Gegebenheiten hinaus […] manifestieren kann […]. […] Öffentliche Kirche lebt insofern auch davon, dass sie die Grundlagen dafür legt, dass sich neue und innovative Bewegungen auch gerade immer wieder – im doppelten Sinn des Wortes – aus ihr heraus entwickeln können.314

Kunz und Schlag machen ebenfalls auf Leitmotive aufmerksam, die ihrer Beobachtung nach mehr oder weniger die Gesamtheit der Diskurslandschaften durchziehen. Sie nennen die Leitmotive Raum, Diversität und Bildung.315 Für eine Studie, die am Ort, an Orten im multikulturellen, vielfältigen und multireligiösen Groruddal interessiert ist, an und in der Kirche am Ort ihren Ausgangspunkt hat, scheint ein Blick auf diese Begriffe gewinnversprechend und klärendes Potenzial zu besitzen. Christoph Sigrist beginnt seinen Text mit einer Herausforderung: Was ,Gemeinde‘ heißt, ist genauso unklar wie die Bedeutung des ,sozialen Nahraums‘. Die Unschärfe der Erfahrung sozialen Lebens verbietet scharfe Grenzziehungen gemeindlicher Strukturen.316

Im Hin und Her der Gemeinde, zwischen pluraler Ausformung und theologischer und kirchenrechtlicher Normierung, zwischen eigenen Impulsen in 312 313 314 315 316

Vgl. 5.5.3. Schlag, Öffentliche Kirche, 181. Schlag, Öffentliche Kirche, 186. Vgl. Schlag, Öffentliche Kirche, 184 ff. Vgl. Kunz/Schlag, Diskurslandschaften, 22 ff. Sigrist, Christoph, Gemeinde im sozialen Nahraum, in: Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 327–335, 328.

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den Nahraum hinein und von dort empfangenen Inspirationen und Prägungen, im Erleben des Verlustes der Situation ,mitten im Dorf‘ wird festgestellt: „Der Ort der Kirche ist Dazwischen.“317 Das führt dazu, dass Gemeinde im sozialen Nahraum […] unter den Bedingungen der modernen, pluralen Gesellschaft immer weniger ein homogenes Gebilde [ist] […], das dank einer sich klar abzeichnenden Identität lesbar ist.318

Gemeinde entsteht auch ad hoc, als „Mixtur unterschiedlicher Stimmen“319, ist ,community living‘, in dieser werden Subjektivität und Unterschiedlichkeit gewürdigt und Anerkennungsverhältnisse forciert.320 Johannes Eurich behandelt die Kirchenentwicklung in diakonischer Perspektive und konstatiert, dass Kirchenentwicklung „auf die geistlichen Bedürfnisse und sozialen Nöte von Menschen innerhalb und außerhalb des eigenen Glaubens bezogen“321 sein muss. Für eine Gemeinde „bedeutet dies die Erschließung und Aneignung des Sozialraums“322. Diese Erschließung und Aneignung führt über die Parochie hinaus und ist in Netzwerken und „Gelegenheitsstrukturen“323 an pluralen Orten weiterzuentwickeln.324 Dabei ist zu beachten, dass Räume „nicht nur durch Wahrnehmung oder Nutzung hervorgebracht und subjektiv angeeignet, sondern auch gestaltet oder verändert“325 werden. Damit aber gibt es weder einen Stadtteil noch institutionelle Verfahren an sich; vielmehr liegen komplexe, teils von außen undurchschaubar miteinander verflochtene Interessen, Problemlagen und Ausdrucksformen von Alltagskultur vor, die als Bindeglied der Lebenswelt zu Institutionen und Bürokratie intermediärer Instanzen bedürfen326.

Theologisch gesprochen geht es dann nicht nur um Fragen der angemessenen institutionellen Form der Kirche als Teil der Zivilgesellschaft, sondern umfassender um das Einlassen auf die Präsenz Gottes in der konkreten Räumlichkeit seiner Schöpfung327. 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327

Sigrist, Gemeinde im sozialen Nahraum, 330. Sigrist, Gemeinde im sozialen Nahraum, 333. Sigrist, Gemeinde im sozialen Nahraum, 333. Vgl. Sigrist, Gemeinde im sozialen Nahraum, 334. Eurich, Johannes, Diakonie als kirchlicher Ort in der Gesellschaft, in: Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 261–268, 262. Eurich, Diakonie als kirchlicher Ort in der Gesellschaft, 262. Eurich, Diakonie als kirchlicher Ort in der Gesellschaft, 263. Vgl. Eurich, Diakonie als kirchlicher Ort in der Gesellschaft, 262 ff. Eurich, Diakonie als kirchlicher Ort in der Gesellschaft, 266. Eurich, Diakonie als kirchlicher Ort in der Gesellschaft, 266. Eurich, Diakonie als kirchlicher Ort in der Gesellschaft, 267.

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Claudia Schulz widmet sich der Wahrnehmung von Diversität (Leitmotiv: Diversität). Sie geht dabei von einer Sozialstrukturanalyse aus, diese meint zunächst allgemein die Analyse und Kategorisierung der Gesellschaft […] mit Blick auf Faktoren, die als wirkmächtig für soziale Prozesse erkannt worden sind328.

Die so gewonnenen Cluster bestimmter Merkmale sind, diese Einschränkung ist wichtig, „Idealtypen, nicht als Abbilder der Wirklichkeit, sondern als soziale Strukturmuster zu verstehen“329. Deutlich wird in diesen Analysen ein Auseinanderdriften von Kirchen- und Gemeindeentwicklung und es stellt sich die Frage nach der „Aufgabe der Ortsgemeinde im Gefüge kirchlichen Handelns“330, theologisch gewendet die Frage nach der Einheit der Kirche.331 Diese Frage nach der Einheit wird theologisch-normativ auch auf Gemeindeniveau gestellt: Wie ist das Nebeneinander verschiedener Interessengruppen in den Gruppen in der christlichen Gemeinde zu bewerten? Ist es akzeptabel, wenn Überschneidungen von Milieuzugehörigkeit die Ausnahme bleiben?332

Wilhelm Gräb bemüht das Bild von der Kirche als lernende Gemeinschaft (Leitmotiv: Bildung), das Bild von der Kirche als Ort der Religionsbildung, dazu müssen, so Gräb, Kirchen und Gemeinden […] zu Orten der Religion und erfahrungsnaher Kommunikation ausgebaut werden. […] Von der Religion mit persönlicher Überzeugung gälte es so zu reden, dass deutlich wird: Es geht nicht darum, eine kirchliche Lehre akzeptieren zu müssen, etwas glauben zu müssen, was nicht subjektiv einleuchtet.333 328 Schulz, Claudia, Sozialstrukturelle Vielfalt, Lebensstile und Milieus. Wahrnehmung von Diversität als Leitkategorie der Kirchen- und Gemeindeentwicklung, in: Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 117–124, 117. 329 Schulz, Sozialstrukturelle Vielfalt, Lebensstile und Milieus, 118. 330 Schulz, Sozialstrukturelle Vielfalt, Lebensstile und Milieus, 118. 331 Vgl. Schulz, Sozialstrukturelle Vielfalt, Lebensstile und Milieus, 118 f. 332 Schulz, Sozialstrukturelle Vielfalt, Lebensstile und Milieus, 122. Mit Blick auf Sevat Lappegard und Hegstad, die beide an der Stellung der Gemeinde im Netzwerk der Gesellschaft interessiert sind, und mit Blick auf Hegstads Bemühungen für eine Gemeindeanalyse, sind die weiterführenden Fragen von Schulz instruktiv: „Ist die zentrale Aufgabe der Gemeinde angesichts der sozialstrukturellen Vielfalt die Arbeit am Gemeinsamen […]? Oder muss die Gemeinde auf verschiedene Interessen […] so reagieren, dass sie die sozialstrukturelle Verschiedenheit […] abbildet? Ist die christliche Gemeinschaft der Spiegel sozialstruktureller Vielfalt oder ihr Korrektiv […]? Und auf einer höheren Ebene stellt sich dahinter die Frage nach dem konkreten Bezug zwischen empirischen Daten über die sozialstrukturelle Vielfalt einerseits und der Theologie und normativen Setzungen andererseits.“ In Schulz, Sozialstrukturelle Vielfalt, Lebensstile und Milieus, 122. Vgl. 5.3; 5.4. 333 Gräb, Wilhelm, Kirche als Ort der Religion, in: Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 189–197, 191.

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Der zweite historisch-systematische Problemhorizont: (Volks-)Kirche

Gerade in den Kasualien zeigt sich, dass das Evangelium […] nur dann die Chance [hat], als Evangelium – im Sinn eines befreienden religiösen Lebensdeutungsangebotes – gehört zu werden, wenn sich die Auslegung der Überlieferung mit der Wahrnehmung und Interpretation der Gegenwart, also der Gefühle und Bedürftigkeiten, Lebensansichten und Intentionen der Zeitgenossen verschränkt334.

Diese Kommunikation muss weiter um sich greifen und formatierend sein, mit dem Ziel, dass die Konzeption kirchlicher Arbeit […] in der Kommunikation zwischen den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern, in der Kommunikation mit den Kirchenmitgliedern, auch den distanzierten Kasual- und Feiertagschristen, ermittelt335

wird. Summierend: Die im Handbuch versammelten theoretischen Annäherungen, Konzeptionen und Klärungen sind wichtige Wegmarken, bieten sowohl Wiedererkennung als auch Sperriges, Einsichten, die nicht direkt aufgehen. Dieser Befund soll stehengelassen werden. Gleichzeitig fordern und fördern die weiten Diskurslandschaften den offenen Blick. So wird festgehalten, dass diese vor Vereinfachungen und Eindimensionalitäten in den kommenden Analysen warnen und Erinnerung daran sind, sowohl die Leitdifferenzen als auch die Leitmotive, die Kunz und Schlag eruieren, in diesen Analysen immer mitzudenken. Dies gerade, weil einige der, in den Differenzen und Motiven immer wiederkehrenden, Betonungen der Wahrnehmung, der Subjektivität und der Heterogenität Anschlussfähigkeit an das Interesse des vorliegenden Projekts versprechen. Auffällig bleibt, dass das Handbuch viel Theorie bietet, freilich angereichert durch instruktive Praxisbeispiele, dass der Blick geweitet wird, dass im Groruddal wichtige Themen, wie Diakonie, Sozialstrukturanalyse und Migrationskirchen336, in den Fokus geraten, dass aber, bei aller Betonung der Pluralität und der Diversität, interreligiöse Kontakte oder Dialoge keine explizite Beachtung erfahren. Auf diesem Hintergrund ist das Potenzial der eigenen Studie die in einigen Beiträgen und Texten artikulierte Forderung nach mehr empirischer Forschung. Carsten Ramsel spricht sich für einen verstärkten Einsatz qualitativer 334 Gräb, Kirche als Ort der Religion, 195. Auch Lappegard hebt auf die Bedeutung der Riten ab, unterstreicht, dass diese Orte der Deutung sind, gleichwohl denkt er weniger von den Subjekten als von ,der Kirche‘ – als Verwalterin der Riten – her. Vgl. 5.3. 335 Gräb, Kirche als Ort der Religion, 196. 336 Vgl. Schubert, Benedict, Migrationskirchen, in: Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 432–440.

Zwischenbilanz

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Forschung, für ein ,mixed-method‘-Design aus, und schlägt vor, evaluativ und lokal zu forschen,337 ebenso stellt Schlag fest, dass die empirische Erforschung der kirchlichen und gemeindlichen Praxis hinsichtlich ihre [sic!] Ausformungen und Wirkungen auf die inner- und außerkirchliche Öffentlichkeit bisher noch wenig etabliert338

ist. Die sich in dieser Feststellung verbergende Aufforderung soll im Folgenden weiterbearbeitet werden.

5.6 Zwischenbilanz Durch die Neufassung des norwegischen Grundgesetzes wird der Norwegischen Kirche der Volkskirchenbegriff zu- und eingeschrieben. Die Annahme der Tragfähigkeit dieses Begriffs, auch unter den sich verändernden gesellschaftlich-pluralen Bedingungen, war Ausgangspunkt der Analyse neuerer norwegischer Konzeptionen von Kirche. Diese Analyse sollte besonderes Augenmerk auf die Rolle des Ortes, der Subjekte, von Religion und Normativität legen. Die Analyse zeigt, und wieder soll dem Versuch einer Harmonisierung widerstanden werden, dass das Unterfangen, die Perspektive der Subjekte stark zu machen, sowohl unter dem Vorzeichen einer theoretischen Annäherung als auch unter dem Vorzeichen einer empirisch verankerten Annäherung, weitgehend geteilt wird, die eigene Studie somit Unterstützung erfährt. Dieser Befund gilt wohl aufs Ganze gesehen ebenfalls für die kontrastierende Analyse von Beiträgen aus der deutschsprachigen Kirchentheorie, wie sie im Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung zu finden sind und die sich auf verschiedene kirchliche Felder beziehen (Albrecht Grözinger, Claudia Schulz, Kristian Fechtner, Thomas Schlag, Wilhelm Gräb, Johannes Eurich, Ralph Kunz, Christoph Sigrist). Dieser Befund gilt im Ansatz und der Zielsetzung nach, vielmehr aber der an weitere Forschung gestellten Aufgabe nach, auch für die Kirchentheorie Jan Hermelinks. Daher – und gleichwohl – verbirgt sich an dieser Stelle gleichzeitig eine Herausforderung, die im weiteren Verlauf der eigenen Studie aufgegriffen werden soll, nämlich den Blick von unten her, von den Subjekten her, durchweg explizit zu machen und leitend für das Verständnis von Kirche sein zu lassen. Dies vor dem Hintergrund, dass die Analyse zeigt, dass die Rolle der Subjekte 337 Vgl. Ramsel, Carsten, Teilhabeverhalten, Engagement und Distanz, in: Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 125–131, 130 f. 338 Schlag, Öffentliche Kirche, 187. Vgl. Kunz, Gemeindeaufbau, 276.

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Der zweite historisch-systematische Problemhorizont: (Volks-)Kirche

zwar gesehen, eingefordert und zum Teil berücksichtigt wird, aber im Interesse einer Ganzheit und Modellhaftigkeit leicht unterlaufen wird, gar ins Schwimmen kommt und nicht immer deutlich bleibt, wer die Subjekte sind – die Einzelnen, das Lokalmilieu, die (Teil-)Gemeinde, Gott? –, und dass dies mit einer Tendenz der Unsichtbarmachung des Ortes zusammenläuft. Die Erinnerung an das Leitmotiv des Raumes, wie es Kunz und Schlag erarbeiten, und die Erinnerung an die Unklarheit der Begriffe ,sozialer Nahraum‘ und ,Gemeinde‘, wie Sigrist sie konstatiert, bleiben essenziell. Aufgabe der eigenen Studie verbleibt es, die Sicht der Subjekte zu stärken, gerade in dem – deutlich an die Einsichten der verschiedenen Analysen anknüpfend und über sie hinausführend – die Bedeutung des pluralen und vielfältigen Ortes hervorgehoben wird, im Sinne des Leitmotivs der Diversität (Kunz, Schlag). Aus der Perspektive des eigenen methodischen Interesses wird deutlich, dass die Vernachlässigung des Ortes die Rolle der Subjekte am Ort einschränkt. Diese und deren Handeln dienen in erster Linie zur Bestätigung eines Prototyps von Ort, Kirche und Kirchlichkeit. Nuancen verschwinden, das Bild wird großflächiger, aber in Bezug auf Praxis und Praxis von Religion ungenauer. Religion wird als Zustimmung zu oder Ablehnung von Kirchlichkeit und kirchlicher Praxis, der dem Ort sinngebenden Institution, enggeführt.339 In der Schlussfolge wird eine Idee von Kirche favorisiert, die modellhaft ist (Glaubensgemeinschaft, Volkskirche, Kerngemeinde), wird Gemeindeentwicklung gerade auf Modelle hin entwickelt,340 und die Kirche bedarf der konkreten Verortung nicht mehr. Vielmehr sollen sich im Umkehrschluss Subjekte an ähnlich modellhaft verstandenen Orten ähnlich (kirchlich) normiert orientieren. Dort wo die untersuchten Konzeptionen die Gefahr bergen, dass das angenommene Allgemeine die Diversität zurückdrängt (Lappegard), dass der Ort seinen Charakter als ,exemplarischen Ort‘ verliert, als Stütze einer eingeführten Theorie dient und des Aspektes der Konstitution (Thomas A. Lotz) entbehrt, sollen in der Verlängerung Spuren aufgegriffen werden, die die Analyse in den verschiedenen Entwürfen zutage fördert, wie zum Beispiel den Willen, sich dem Lokalmilieu produktiv zuzuwenden, und einer Betonung des

339 Dies geschieht bei Sevat Lappegard mit einem anderen Ausgangspunkt und Ziel als bei Harald Hegstad, wieder anders bei Reiner Preul, darüber darf die summierend und vereinfachend klingende Formulierung nicht hinwegtäuschen. 340 Bei Hegstad scheint – tendenziell anders als bei Michael Herbst – das Gegenüber von Ekklesia und Volkskirche intakt und Hegstads Definition der Gemeindeentwicklung ähnelt der von Fritz und Christian Schwarz: „Gemeindeaufbau ist alles Handeln, das auf das Ereignis- und Gestaltwerden von Ekklesia zielt.“ Hegstad: „Gemeindeentwicklung ist eine zielgerichtete Arbeit, die die Gemeinde stärker befähigen will, in ihrem Sein und Tun ihrer Berufung zu entsprechen.“ Gleichzeitig geht es sowohl bei Herbst als auch bei Hegstad um Verdichtung und Annahme von Kirchlichkeit.

Zwischenbilanz

175

Bedarfs an ortsverbundenen, vielstimmigen und leiblich vermittelten Lebensformen von Kirche. Abschließend und weiterführend: Bei allen entscheidenden und entschiedenen Schritten auf Empirie und empirische Verankerung hin, liegt hier ein Desiderat, das die vorliegende Studie angehen will: den Ort als Ort leibhaftiger Subjekte anzuerkennen und als solchen wahrzunehmen und diese Wahrnehmung jedweder Handlungsmaxime konsequent vorzuordnen. Unaufgebbar scheint es das Wechselspiel, dass sich der Ort an den Subjekten entscheidet – und sich die Subjekte am Ort entscheiden, in Gang zu halten, um zu sehen, ob sich nicht doch die Kirche am Ort und an den Subjekten entscheidet, genauer: an der Art der ,pluralitätssensiblen‘ (Kunz) Wahrnehmung der Subjekte und Orte, an der Art der Wahrnehmung und der Rückbindung an den Gottesdienst, an der Art der Wahrnehmung der „einmaligen, flüchtigen Inszenierungen des Glaubens“ (Hermelink).

6 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form In den folgenden Ausführungen soll eine Rekonstruktion der Reform des gottesdienstlichen Lebens in der Norwegischen Kirche, von ihren Anfängen 2003 bis zu ihrer Einführung 2011 und einer ersten Evaluation 2014, angegangen werden. Wieder zeigt sich, ganz im Sinne des eingangs skizzierten methodischen Interesses, dass nicht eine Vollständigkeit historischer Daten, kein lückenloses Aufspüren und keine alles umfassende Darstellung theoretischer und liturgiehistorischer Quellen angestrebt werden kann. Es soll vielmehr gefragt werden, wo im Reformprozess, in den Entscheidungen, in den Gesprächen und Diskussionen Überraschendes und Unerwartetes – wie Erwartetes! – auftaucht, das Interesse erregt und Beiträge zu einem facettenreichen Bild von unten, aus der Perspektive der involvierten Menschen, liefert. Diesen Ausführungen, die auf die involvierten Subjekte in den Prozessen der Reform abzielen, die so dezidiert das Interesse an und die Suchbewegung hin zu empirischer Forschung aufnehmen, soll eine Scharnierfunktion auf die Fokussierungen, auf den Ort und die (in den Leitfadeninterviews) involvierten Subjekte hin zukommen. Dabei nehmen sie Impulse einer sich als empirisch verstehenden Liturgiewissenschaft auf. Ferner stützen sie sich auf das Interesse, den Blick auf den Ort zu schärfen und den Ort und dessen Voraussetzungen als entscheidend, auch für den Forschungsprozess entscheidend, anzunehmen. Dies wurde in der Bearbeitung der beiden historisch-systematischen Problemhorizonte Kultur im Wandel und (Volks-)Kirche weiterverfolgt und vorangetrieben.

6.1 Die Reform des gottesdienstlichen Lebens 6.1.1 Finn Wagle auf der Generalsynode 2003 Bischof Finn Wagle1 (Bistum Nidaros), Vertreter der Bischofskonferenz im Kirchenrat, hielt am 19. November 2003, gut zwei Monate nachdem der Kir1 Wagle, geboren 1941, cand. theol. 1968, Pfarrer 1970–1975, Lektor am Praktisch-theologischen Seminar der Norwegian School of Theology, Religion and Society 1975–1981, Leiter des christlichen Instituts IKO – Church Educational Centre 1981–1988, Dompropst in Nidaros (Trondheim) 1988–1991, Bischof in Nidaros (Trondheim) 1991–2008, Mitglied des Kirchenrates

178 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form chenrat auf seiner Tagung (11.–12. September) überraschend eine umfassende Reform des gottesdienstlichen Lebens beschlossen hatte, eine Rede vor der Generalsynode. Diese war deutlich von den Diskussionen und Beschlüssen der Jugendgeneralsynode im selben Jahr inspiriert. Im Anschluss wurde die Synode zu einer offenen Diskussion eingeladen, die Tagesordnung enthielt weder einen Vorschlag zur Abstimmung noch zu einem weiterführenden Beschluss. Auffällig ist dies, da es laut Kirchenordnung die Generalsynode ist, die überhaupt einen Beschluss zur Reform hätte fassen können. Im Nachhinein ist die Tatsache, dass die Generalsynode das Unterfangen einer Reform nicht gestoppt hat, als Bestätigung aufgefasst und interpretiert worden. Das macht deutlich, dass diese Option durchaus im Raum stand, als Wagle die Synode ansprach, Wagle war sich dessen bewusst.2 Wagle beginnt, rhetorisch geschickt, mit einer allgemeinen Beobachtung zum Gottesdienst, die einerseits ein großes positives Bild aufzeigt, die andererseits einräumt, dass der Gottesdienst kritisiert wird. Diese Kritik wird direkt positiv gedeutet: Ganz gewiss wird aus dem Abstand heraus kritisiert. Aber viel Kritik kommt auch von innen her. Eine Kritik, die mit viel Schmerz einhergehen kann. Und es sind nicht nur die jungen Menschen, die eine solche Kritik anführen. Menschen jeden Alters tun dies. Eine solche Kritik artikuliert ein Engagement für den Gottesdienst und eine Sehnsucht danach, dass, wenn wir zusammenkommen, alle unsere starken theologischen Aussagen über den Gottesdienst in erfahrene Wirklichkeit umsetzbar sind. Ja, vielleicht handelt es sich gerade um Sehnsucht. In den Gesprächen, die wir während der Bischofsvisitationen in Nidaros über den Gottesdienst führen, findet sich viel Sehnsucht. Und so ist es bei Bischofsvisitationen in unserer ganzen Kirche.3

Die Jugendgeneralsynode und deren Beschäftigung mit dem Gottesdienst wird als gutes Beispiel für eine solche positive, engagierte Kritik von innen herangezogen. Wagle greift, der Sache nach, die drei späteren zentralen methodischen Begriffe der Reform des gottesdienstlichen Lebens heraus, und er macht die Idee der Struktur stark. 2002–2008, Leiter des Ausschusses für Gottesdienstliches Leben 2004–2010, in der Folgezeit im zentralen Kirchenamt in die Arbeit mit der Reform des gottesdienstliches Leben eingebunden. 2 Vgl. Christoffersen, Jan Terje, Sammen for Guds ansikt. Gudstjenestereform mellom visjon og virkelighet, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 24–45, 33; Wagle, Finn, Etterord: … liv fra kilder utenfor oss selv, in: Balsnes, Anne Haugland/ Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 283–293, 283; „Was für einen Gottesdient wünschen wir?“, Aktenzeichen UKM 05/03; „Jugendgeneralsynode 2003 und die Reform der Ordnung des Hauptgottesdienstes“, Aktenzeichen KR 54/03. 3 Wagle, Finn, Høymesse under endring. Innledning til samtale om reform av høymessen. Kirkemøtet 19. 11. 2003, 1.

Die Reform des gottesdienstlichen Lebens

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Der weitere Reformprozess wird an ein Prozesspapier gebunden, das der Kirchenrat für seine nächste Sitzung im März 2004 erbeten hat. Die Rolle der Generalsynode wird eher bescheiden definiert: Durch unser heutiges Gespräch werden Leitimpulse für das Prozesspapier gegeben, nicht so, dass heute ein Beschluss gefasst werden soll, aber doch so, dass die Gesichtspunkte, die heute durch unser Gespräch deutlich werden, wichtig für die Ausformung des Prozesspapiers sein werden.4

Damit ist im Grunde alles gesagt. Es ist ein ,Wir‘ etabliert, das sich der Wichtigkeit des Gottesdienstes und der Kritik – aus diesem ,Wir‘ heraus – am Gottesdienst bewusst ist. Ein ,Wir‘, das vor einer Reform steht, deren Grundzüge benannt sind. Die Fortsetzung der Rede ist Imprägnierung und Sicherung der präsentierten Sicht und des schon gefassten Reformbeschlusses und Hinführung zu und Betonung seiner Zielformulierung: „Es geht um ein gottesdienstliches Leben, das dem allgemeinen, gelebten Leben gegenüber offen ist.“5 Ohne Frage, Wagle hat einen Nerv getroffen, er katalysiert Stimmungen, er ergreift die Situation. Es ist festzuhalten, dass er zum Gottesdienst nichts sagt, das nicht irgendwie und auf irgendeine Weise von allen geteilt werden konnte. Dabei wird das ,Ob‘ der Reform von Wagle gar nicht erst zur Diskussion gestellt, wie er auch die Frage nach dem ,Wie‘ direkt selbst beantwortet. Geschickt knüpft er an die von der Jugend eingebrachten Impulse zur Reformarbeit an und spannt dabei die Arbeit mit der letzten Gottesdienstreform, die in sich geschlossen und von oben gesteuert wurde, als schwarze Hintergrundfolie aus.6 6.1.2 Voraussetzungen Finn Wagle setzt in seiner Rede liturgische und liturgiehistorische Einsichten voraus, die in der Norwegischen Kirche 2003 keine Überraschung mehr bergen konnten und über längere Zeit rezipiert wurden.7 Die liturgiehistorischen Linien ließen sich weit ausziehen, es soll eine kurze Erinnerung an zwei Größen genügen, die gleichzeitig einer Erneuerung der überkommenen liturgischen Praxis der Norwegischen Kirche die Tür öffneten. 4 5 6 7

Wagle, Høymesse under endring, 2. Wagle, Høymesse under endring, 5. Vgl. Wagle, Høymesse under endring, 3. Vgl. Christoffersen, Jan Terje/Hem, Hans Einar, Gudstjenestereformen – tilfeldighetenes spill?, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 46–66, 48–51; Veiteberg, Kari, Kunsten framføre gudstenester. D p i Den norske kyrkja, Acta Theologica 13, Oslo 2006, 38 ff.

180 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form Die erste wichtige Inspiration für die liturgische Arbeit wird in der Liturgischen Bewegung mit Ausgangspunkt in der römisch-katholischen Kirche (Vaticanum II) gefunden. Jan Terje Christoffersen hält fest: Die volle, aktive Teilnahme (Involvierung) und Adaption/Inkulturation/Kontextualisierung (Ver-Ortung) wurden als zwei Seiten einer Medaille gesehen. Dies gab Grundlage für einen mehr variierten gottesdienstlichen Ausdruck, auf der Linie des Gottesdienstlebens der ersten Jahre der Kirche (Flexibilität) […].8

Die späteren zentralen methodischen Begriffe werden hier benannt.9 Die zweite wichtige Inspiration kommt aus der liturgischen Theologie; als entscheidend darf die Aufnahme der liturgischen Theologie US-amerikanischer Provenienz gelten: Die Rezeption des Gedankens des Ordo, wie er bei Gordon W. Lathrop formuliert ist. Ordo wird verstanden als sinngebende und spannungsvolle Struktur, die durch gegensätzliche Positionen (juxtapositions) getragen wird und trägt. Die liturgische Theologie hilft das Ziel, in sich schon ,Ruf zur Reform‘, zu den Quellen und den Geheimnissen hinter den Tiefenstrukturen des Gottesdienstes (ad fontes) zurückzukehren, um Ursprung zu neuem Leben zu finden10,

nicht aus den Augen zu verlieren. Der Gottesdienst wird für Lathrop zur theologia prima, im Sinne des Schlagwortes lex orandi, lex credendi, jedwede fachliche, wissenschaftliche Reflexion ist – als sekundäre Theologie – dem Handlungsvollzug im Gottesdienst nachgeordnet und findet ihren Niederschlag auch in der Pastoraltheologie, wenn Gottesdienste, der Bedürfnisse der theologia prima nach, verändert und reformiert werden.11 Diese zwei Inspirationen führen zum Bruch mit dem liturgischen Ideal der Norwegischen Kirche, wie es seit der großen Reform 1886–1926, initiiert und begleitet durch Gustav Jensen, ausformuliert und beschlossen war: Ein ver8 Christoffersen, Jan Terje, Sammen for Guds ansikt. Gudstjenestereform mellom visjon og virkelighet, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 24–45, 30. Der Begriff der Ortseigenheit/Ver-Ortung ist nicht einfach zu übersetzen und geht nicht in den genannten Begriffen Adaption, Inkulturation und Kontextualisierung auf. Vgl. 6.3.3. 9 Im Reformprozess ist durchgehend von „zentralen Begriffen“ die Rede, es ist erst mit Abschluss der Reform so, dass von „zentralen methodischen Begriffen“ die Rede ist. Vgl. 6.3. 10 Christoffersen, Sammen for Guds ansikt. Gudstjenestereform mellom visjon og virkelighet, 32. 11 Vgl. Thomassen, Merete, Den liturgiske bønnen: Dogmatikk, poesi og erfaring, in: Hellemo, Geir (Hg.), Gudstjeneste p ny, Oslo 2014, 32–49, 34 f.; Veiteberg, Kari, Gudstenesta som ei hending med handlingar, in: Hellemo, Geir (Hg.), Gudstjeneste p ny, Oslo 2014, 73–88, 75. Zugänglich gemacht wurde diese Art der Theologie durch das nordisch-liturgische Netzwerk Leitourgia. Martin Mod us’ Konzept des Gottesdienstes als Ort der Begegnung fand in der Reformarbeit der Norwegischen Kirche regen Zuspruch. Vgl. Christoffersen, Sammen for Guds ansikt. Gudstjenestereform mellom visjon og virkelighet, 30–34. Vgl. 6.1.3; 6.2.

Die Reform des gottesdienstlichen Lebens

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ordneter Gottesdienst, der am Sonntag um 11 Uhr in allen Kirchen des Landes gleich gefeiert wurde. An diesem Grundsatz änderte die 1965 angestoßene und 1977 zu einem vorläufigen Abschluss gebrachte Reform, die seit 1992 die Liturgien der Kirche in Buchform sammelte, nichts. Die Liturgie des Hauptgottesdienstes von 1977/1992 kannte zwei Abendmahlsgebete, vier Fürbittengebete und drei musikalische, mit den Kirchenjahreszeiten wechselnde, Serien für die gesungenen Teile des Ordinariums. Die Pastorin brauchte nur das Buch aufzuschlagen, um den Gottesdienst zu leiten. Der rechtliche Hintergrund lag in der Staatskirchenverfassung. Bis zur Trennung von Staat und Norwegischer Kirche im Mai 2012 war die Anordnung aller öffentlichen Gottesdienste staatskirchenrechtlich gesehen Sache des Königs. Auf dem Weg dorthin, als Schritt zur größeren Selbstständigkeit der Kirche in internen Angelegenheiten, wurde 1990 die Befugnis, Liturgien für die Norwegische Kirche festzulegen, durch Resolution des Kronprinzregenten an die Generalsynode, und damit auch an den Kirchenrat, überführt.12 Dies ist der aktuelle liturgische Kontext der Rede Wagles und es ist gleichzeitig bemerkenswert, dass dieser Komplex der Liturgien und des gottesdienstlichen Lebens seit 1990, also schon bevor die Gottesdienstreform von 1977 durch die Publikation der Gottesdienstbücher 1992 vollendet wurde, wieder in Bewegung gekommen war.13 Im Rahmen der folgenden liturgischen Versuchsordnungen meldet sich zehn Jahre später ,die Jugend‘ in der Diskussion, es kommt zum Ringen zwischen verschiedenen kirchenleitenden Gremien.14 Mit der Jugendgeneralsynode 2003 kommt der Ball ins Rollen, die Synode gibt dem Kirchenrat zu bedenken: Die Jugendgeneralsynode bittet den Kirchenrat, für eine flexiblere (Haupt-)Gottesdienstordnung zu arbeiten. Wir schlagen vor, dass man Ausgangspunkt in einer Grundstruktur nehmen kann, die für alle Gottesdienste gleich ist. Zusätzlich sollte eine Sammlung von Kernkriterien angestrebt werden. Im Weiteren können die Ausdrucksformen verschiedener Teile des Gottesdienstes lokalen Bedürfnissen und Ressourcen usw. angepasst werden.15

Im Beschluss heißt es: 12 Vgl. Christoffersen/Hem, Gudstjenestereformen – tilfeldighetenes spill?, 46. 13 Vgl. Kirker det (Hg.), Reform av kirkens gudstjenesteliv. Orientering om høringsdokumentene. Ny ordning for hovedgudstjeneste i Den norske kirke. Ny tekstbok i Den norske kirke. Ny norsk salmebok. Høringsbrev, Bergen 2008, 12 f.; „Gottesdiensterneuerung in der Norwegischen Kirche“, Aktenzeichen KM 12/90; „Versuchsringbuch für Gottesdienst und Liturgie“, Aktenzeichen KM 20/91. 1990 werden die Begriffe Flexibilität und ,ortseigen‘ gebraucht. 14 Vgl. „Neue Richtlinien für die Ordnung des Hauptgottesdienstes“, Aktenzeichen KR 33/01; „Evaluation der Ordnung liturgischer Versuchsordnungen“, Aktenzeichen KR 08/02; „Neue Richtlinien für den Gottesdienst“, Aktenzeichen NFG 31/02; „Flexibilität im Hauptgottesdienst“, Aktenzeichen NfUng 02/03. 15 Zitiert nach „Reform des Hauptgottesdienstes“, Aktenzeichen KR 10/04 Anlage 1: „Was für einen Gottesdienst wünschen wir?“, Aktenzeichen UKM 05/03.

182 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form Die Jugendgeneralsynode bittet den Kirchenrat, die Vorbereitung einer Reform der Gottesdienstordnung, während eine Behandlung auf der Generalsynode erwartet wird, zu beginnen.16

Damit war der Kirchenrat gefordert – und ging in seinem Beschluss weiter, als die Jugendgeneralsynode voraussetzen konnte, als die Kirchenordnung zuließ: Der Kirchenrat beschließt, dass die Arbeit einer Reform des Hauptgottesdienstes in Gang gesetzt wird, und bittet darum, dass für das Treffen des Kirchenrates im März 2004 ein Prozesspapier vorgelegt wird.17

6.1.3 Die Reformarbeit18 Die Reformarbeit kommt im März 2004 in Gang, Sachbearbeiter ist ge Haavik19, der im folgenden Sekretär für den neu eingesetzten Ausschuss für Gottesdienstliches Leben wird. In seinem vorbereitenden Dokument, das in Teilen eine Variation von Finn Wagles Rede vor der Generalsynode 2003 darstellt, empfiehlt Haavik, dass die Reform ihren Ausgangspunkt von unten her haben muss: Eine richtige Behandlung erfordert eine so präzise Diagnose wie möglich. Daher ist es klug auf diese Weise zu beginnen, die schmerzenden Probleme im heutigen Hauptgottesdienst zu finden.20

Haavik führt die Sprache der Gebete und den Gemeindegesang an, schreibt aber in Verlängerung dessen: 16 Zitiert nach „Reform des Hauptgottesdienstes“, Aktenzeichen KR 10/04 Anlage 1: „Was für einen Gottesdienst wünschen wir?“, Aktenzeichen UKM 05/03. 17 Zitiert nach „Reform des Hauptgottesdienstes“, Aktenzeichen KR 10/04. 18 Vgl. Christoffersen, Jan Terje, Sammen for Guds ansikt. Gudstjenestereform mellom visjon og virkelighet, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 24–45; Christoffersen, Jan Terje/Hem, Hans Einar, Gudstjenestereformen – tilfeldighetenes spill?, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 46–66. 19 Haavik, geboren 1947, cand. theol., war 1976–1983 Redakteur bei der Norwegischen Bibelgesellschaft und viele Jahre (1993–2016) im zentralen Kirchenamt beschäftigt. Haavik war an zentralen Punkten in die Arbeit mit Liturgie und gottesdienstlichen Fragen eingebunden. Er arbeitete im Komitee für das Gesangbuch von 1985 mit und er nahm gewichtige Aufgaben in der Arbeit mit dem Zusatzband zum Gesangbuch (1997) und mit dem neuen Gesangbuch (2013) wahr. 20 Zitiert nach „Reform des Hauptgottesdienstes“, Aktenzeichen KR 10/04. Die Teile, die mit der Rede Wagles wortwörtlich übereinstimmen, sind nicht als Zitat gekennzeichnet. Im gesamten Dokument wird nicht auf die Rede verwiesen. Wer wen zitiert, ist nicht zu entscheiden.

Die Reform des gottesdienstlichen Lebens

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Eine gründliche und sinnoffene/sinnesbewusste Arbeit wird ganz sicher andere Dinge aufdecken. Aber es kann mit gutem Grund angenommen werden, dass die Konzeption der schmerzenden Probleme eine dienliche Methode der Analyse sein kann.21

Der Reformarbeit gibt Haavik schließlich, als richtunggebendes Kriterium, die Idee der zentralen Begriffe mit auf den Weg: „Dies ist ein guter Terminus, weil er eine positive und fordernde, und keine begrenzende und regulierende, Richtung hat.“22 Der Kirchenrat setzt, entsprechend der Vorlage Haaviks, einen neuen Ausschuss für Gottesdienstliches Leben ein, diesem sollen fünf Unterausschüsse zugeteilt werden (1. Sammlung, Fürbitte und Sendung, 2. Das Wort, 3. Die Taufe, 4. Das Abendmahl und 5. Die Lieder). Dieser Ausschuss bekommt deutliche Aufgaben: Der Kirchenrat ernennt einen Ausschuss, der die Arbeit mit einer Reform des gottesdienstlichen Lebens der Kirche – mit dem Ziel der größeren Flexibilität, Involvierung und Ver-Ortung – leiten soll. Für das Treffen des Kirchenrates im September wird der Ausschuss gebeten, ein Dokument mit einer grundlegenden Vision für das gottesdienstliche Leben, in der Spannung zwischen Kontinuität und Erneuerung, vorzulegen.23

Ferner kommt im Beschluss des Kirchenrates die Ebene der Gemeinde wieder deutlich in den Blick: Der Reformprozess soll offen und erfahrungsbasiert sein. Der Ausschuss für Gottesdienstliches Leben formt seine Strategien für die Kommunikation mit den Gemeinden und für das Einholen von Erfahrungsmaterial selbstständig. Dies gilt auch in ökumenischer Perspektive.24

Der eigens für die Reformarbeit neu formierte Ausschuss für Gottesdienstliches Leben (der kurzzeitig Reformausschuss für das Gottesdienstleben der Kirche hieß) hatte seine erste Sitzung am 7. Mai 2004. Wagle, ausdrücklich als Fachmann und nicht als Bischof in dieses Gremium berufen, übernimmt den Vorsitz, Kari Veiteberg25 wird zweite Vorsitzende, im 21 Zitiert nach „Reform des Hauptgottesdienstes“, Aktenzeichen KR 10/04. 22 Zitiert nach „Reform des Hauptgottesdienstes“, Aktenzeichen KR 10/04. 23 Zitiert nach „Reform des Hauptgottesdienstes“, Aktenzeichen KR 10/04. An dieser Stelle tauchen die drei zentralen Begriffe zum ersten Mal gemeinsam auf. Vgl. Christoffersen, Jan Terje/ Hem, Hans Einar, Gudstjenestereformen – tilfeldighetenes spill?, in: Balsnes, Anne Haugland/ Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 46–66, 62. 24 Zitiert nach „Reform des Hauptgottesdienstes“, Aktenzeichen KR 10/04. 25 Veiteberg, geboren 1961, cand. theol. 1988, seit 1995 Mitglied der Societas Liturgica, Dr. theol. 2006, Rektorin des Liturgischen Zentrums der Norwegischen Kirche 2009–2012, Pastorin, zunächst in der Bergener, dann in der Osloer Stadtmission, 2013–2017, seit Dezember 2017 Bischöfin in Oslo. Vgl. 3.3.2.

184 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form weiteren Verlauf fungiert sie zeitweise, im Laufe des Jahres 2006, während des krankheitsbedingten Ausfalls Wagles, als Vorsitzende, Haavik hat in allen Jahren die Funktion des Sekretärs inne. Zu Beginn der eigentlichen Reformarbeit tauscht der Ausschuss eigene Gottesdiensterfahrungen aus, sammelt Momente für das geforderte Visionsdokument und versucht, die Reform im Zusammenhang mit anderen Reformen in der Kirche zu sehen.26 Am 2. September kommt der Ausschuss wieder zusammen, es liegen das Protokoll des letzten Treffens sowie einige weitere Visionen und Ideen, von Mitgliedern des Ausschusses verfasst, vor. Aber die Ausformulierung des Visionsdokuments, das „als tentativ aufgefasst wird, mit Möglichkeit zur Veränderung im Laufe des Prozesses“27, wird dem Arbeitsausschuss überlassen. Der Kirchenrat erhält ein zweigeteiltes Dokument zur Behandlung, der erste Teil besteht aus sieben Visionen, die in sich zweigeteilt sind – Vision/Wunsch und Erläuterungen. Der zweite Teil des Dokuments erläutert drei zentrale Begriffe für das gottesdienstliche Leben.28 Die sieben Visionen lauten, in Auszügen, wie folgt: 1. Wir wünschen einen Gottesdienst, der mit der Schwerkraft der Individualität bricht. Der gute Gottesdienst schafft bei uns Gemeinschaft […]. 2. Wir wünschen einen Gottesdienst, der die ,ewige Präsenz‘ der Liturgie bewusst und erfahrbar macht. […] 3. Wir wünschen einen Gottesdienst, der die langen historischen Linien achtet. […] 4. Wir wünschen einen Gottesdienst, der die Andersartigkeit achtet. […] 5. Wir wünschen einen Gottesdienst, mit dem die Gemeinde arbeitet […]. Wir wünschen einen Gottesdienst, den mehrere in der Gemeinde zusammen vorbereitet haben, dass sich dies in der Art der Gottesdienstfeier spiegelt. […]

26 Vgl. „Präsentation und offene Runde mit Erfahrungen und Erwartungen“, Aktenzeichen NFG 02/04; „Momente für ein Visionsdokument an den Kirchenrat“, Aktenzeichen NFG 06/04; „Das Verhältnis zwischen den laufenden Reformprozessen“, Aktenzeichen NFG 07/04. Folgende Reformen und Planprozesse sollen kurz erwähnt werden, da sie immer wieder, direkt und indirekt, mit der Reform des gottesdienstlichen Lebens zusammenspielen: Die Kulturmeldung der Kirche (Die Kunst, Kirche zu sein, verabschiedet 2005), Plan für Diakonie (verabschiedet 2007), Plan für Kirchenmusik (verabschiedet 2008), Plan für Glaubenserziehung (die Reform wurde 2003 beschlossen, der Plan wurde 2009 verabschiedet), Plan für das samische Kirchenleben (verabschiedet 2011, revidiert und erneuert 2019). 27 Zitiert nach „Visionsdokument an den Kirchenrat“, Aktenzeichen RKG 12/04. 28 Vgl. „Reform des gottesdienstlichen Lebens – Visionsdokument“, Aktenzeichen KR 48/04.

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6. Wir wünschen einen Gottesdienst, der viele künstlerische Kräfte in Gebrauch nimmt. Wir brauchen einen Gottesdienst, der viele Sprachen beherrscht und den ganzen Menschen anspricht. […] 7. Wir wünschen einen Gottesdienst, in dem alle in der Gemeinde ihr Leben wiedererkennen. Wenn wir an Ortseigenheit denken, ist es wichtig, an die große Gemeinde zu denken, auch über den Kreis der Getauften hinaus. […]29

Die drei zentralen Begriffe werden auf diese Weise entfaltet: Flexibilität Was wollen wir durch Flexibilität erreichen? – Die Einheit der Kirche bewahren – Eine große Variation in Material und Form bieten – Ein ausgesprochener Wunsch ist die größere Mitwirkung durch die Gemeindeglieder, sowohl in der Planung als auch der Durchführung des Gottesdienstes, weil heute die Kirchen weltweit den Gottesdienst als gemeinsame Handlung unterstreichen – Eine flexible Kirche, in der Vielfalt und Variation zum Ausdruck kommen Involvierung Was führt dazu, dass wir uns involviert fühlen? – Alle sollen größeren Anteil am Gottesdienst erleben, gerade Kinder und Jugendliche – Dass die Gemeinde der Getauften ein Körper ist, Christi Körper, an diesem sind alle Glieder gleich wichtig, das eine Glied ist von den anderen ganz abhängig – Dass alle sich inkludiert fühlen – Dass wir für einander sichtbar/zu sehen sind – Dass die Kirche solche Veränderungen vornimmt, die dazu führen, dass Menschen mit Behinderung/Beeinträchtigung mit ihren Wünschen, Voraussetzungen und Bedürfnissen dabei sein können. – Beteiligung/Teilnahme sind ähnliche Begriffe. Hier ist der Wunsch herauszustellen, dass das Subjekt teilnimmt. Aber es ist die Relation des Subjekts, die Involvierung schafft, egal von welcher Art Gemeinschaft die Rede ist. Beteiligung/ Teilnahme wird oftmals in Relation zum Machtbegriff gebraucht; in welchem Maß 29 Zitiert nach „Reform des gottesdienstlichen Lebens – Visionsdokument“, Aktenzeichen KR 48/ 04.

186 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form ist die Möglichkeit zur Beteiligung/Teilnahme auf allen gesellschaftlichen Niveaus gegeben. Dies ist auch hier wichtig. Involvierung ist Beteiligung/Teilnahme auf gleichwertiger Grundlage. Wir sind inkludiert und wir nehmen an der Gemeinschaft als vollwertige Menschen teil. Wir dürfen in Christus eins sein und werden durch unsere Gnadengaben für einander sichtbar. Ver-Ortung Wie erreichen wir Ver-Ortung? – Indem wir uns der Inkarnation Christi bewusst sind, dass Gott uns, als Mensch, in einem gegebenen, historischen Kontext entgegenkommt. – Indem wir dem Heiligen durch uns selbst begegnen, in unserem Kontext, in unserer Kultur. Wir geben unsere Ausdrücke für den christlichen Glauben und das christliche Leben durch Sprache, soziales Leben, Bildersprache, Symbole usw. zurück.30 – Indem wir in einer (zwischenmenschlichen) Interaktion stehen, zwischen Tradition und Erneuerung, dort wo unsere Kultur/unser Kontext Inhalt/Teil eines Veränderungsprozesses ist. – Indem das Wissen über Unterschiede, und wie diese sich zeigen, in der weltweiten Kirche entwickelt wird. – Indem das Wissen über die samischen Verhältnisse in der Kirche entwickelt wird. Ver-Ortung lädt uns ein, sowohl unser kulturelles Erbe wertzuschätzen als auch aufmerksam zuzuhören, wenn die jetzige Kultur und Kunst den Aufbruch aus der Vergangenheit als einzigen Weg in die Zukunft verlangt. Ver-Ortung bedeutet, die Inkarnation in Christus ernst zu nehmen, dass Gott, in einem historisch gegebenen Kontext, Mensch wurde. Ver-Ortung geschieht, wenn wir dem Heiligen in uns selbst begegnen können, und unsere Kultur Ausdruck für Leben und Beteiligung sein kann und Veränderungen dort verankert werden können. (Annemarie Kjeldsø)31

Die Visionen und die zentralen Begriffe werden vom Kirchenrat angenommen und der Kirchenrat „äußert Zufriedenheit über die Richtung, die die Arbeit genommen hat“32. 30 Schon bei den Begriffen der Flexibilität und Involvierung sind die erläuternden Stichworte knapp und sicherlich intern, daher wohl auf den Entstehungszusammenhang angewiesen. Was mit diesem letzten Satz und dem Zurückgeben gemeint ist, erschließt sich an dieser Stelle nicht. 31 Zitiert nach „Reform des gottesdienstlichen Lebens – Visionsdokument“, Aktenzeichen KR 48/ 04. 32 Zitiert nach „Reform des gottesdienstlichen Lebens – Visionsdokument“, Aktenzeichen KR 48/ 04. Auf die Visionen wird im Reformprozess nicht zurückgegriffen, sie werden nicht weiter-

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Damit ist die Reformarbeit in Gang gebracht; die Unterausschüsse nehmen ihre Arbeit auf. Gleichwohl stellte sich schon früh die Frage, wie der Grundsatz einer erfahrungsbasierten Reform durchgehalten werden kann.33 Überhaupt drängte die Zeit, gerade zum Abschluss der Arbeit hin, Veiteberg und Wagle verleihen in der Evaluation ihrem Unmut Ausdruck und Wagle schreibt: Der Ausschuss für Gottesdienstliches Leben schloss seine Arbeit, dem Zeitplan gemäß, im Frühjahr 2008 ab. Als Vorsitzender des Ausschusses für Gottesdienstliches Leben muss ich sagen, dass Teile des Materials, das wir abgaben, unfertig wirkten. […] Dort, wo der Ausschuss seine Arbeit beenden musste, übernahmen die Verantwortlichen im Kirchenrat, die das Sekretariat für den Ausschuss gebildet hatten, die Verantwortung, in erster Linie ging es darum, die Anhörung vorzubereiten. Es ist wichtig zu unterstreichen, dass die administrative Leitung des Kirchenrates für das zur Anhörung ausgesendete Material verantwortlich war und den weiteren Prozess geleitet hat, wie es das Regelwerk des Kirchenrates vorsieht.34

Dies ist Teil des Hintergrundes für die Anhörung, die 2008 in die Wege geleitet wird. Und diese enthielt wirklich Neues, denn es handelt sich bei dem Liturgievorschlag von 2008, so die Orientierung, um eine Reform auf zwei Ebenen: Die erste Ebene betrifft das konkrete liturgische Material, das gehört werden soll. Die zweite Ebene, weit einschneidender, weil es mit der überkommenen Praxis bricht, betrifft eine neue Definition von Zuständigkeit. Die Verabentwickelt oder diskutiert. Der Grund dafür könnte in der Ungenauigkeit der Begrifflichkeiten zu finden sein, diese macht sich von Anbeginn an bemerkbar. Vgl. „Visionsdokument an den Kirchenrat“, Aktenzeichen RKG 12/04. Der Sache nach lassen sich die Visionen im Gottesdienstbuch der Norwegischen Kirche von 2011, gerade im grundlegenden sechsten Kapitel, wiederfinden, es ist nur die fünfte Vision, die es, mit dem zentralen methodischen Begriff der Involvierung, in die Allgemeinen Bestimmungen geschafft hat: „Vorbereitung und Durchführung des Hauptgottesdienstes sollten unter breiter Teilnahme der Mitglieder der Gemeinde geschehen.“ In Kirker det (Hg.), Gudstjeneste for Den norske kirke, Stavanger 2011, 5.4. Vgl. 6.3.2; 6.6.2. 33 Vgl. „Startsignal an die Unterausschüsse“, Aktenzeichen NFG 18/04; „Nachgeordnete Reflexionen“, Aktenzeichen NFG 5/05; „Konkretisierung: ,Offen und erfahrungsbasierter Prozess‘“, Aktenzeichen NFG 26/05; „,Offen und erfahrungsbasiert‘ – Präsentation von Websites“, Aktenzeichen NFG 36/05; Kirker det (Hg.), Reform av kirkens gudstjenesteliv. Orientering om høringsdokumentene. Ny ordning for hovedgudstjeneste i Den norske kirke. Ny tekstbok i Den norske kirke. Ny norsk salmebok. Høringsbrev, Bergen 2008, 7–11. 34 Wagle, Finn, Etterord: … liv fra kilder utenfor oss selv, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 283–293, 290 f. Veiteberg beklagt, dass dem Prozess mehr Zeit hätte eingeräumt werden müssen, sie erkennt sich im Resultat nicht wieder. Vgl. Christoffersen, Jan Terje/Hem, Hans Einar, Gudstjenestereformen – tilfeldighetenes spill?, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 46–66, 60. Leider wird nicht erwähnt, in welchen Teilen Veiteberg sich nicht wiedererkennt oder welche Einschätzungen dazu führen, dass sie das Resultat nicht als gelungen ansehen kann.

188 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form schiedung einer lokalen Grundordnung für die Gottesdienste einer Gemeinde wird dem Kirchenvorstand, der einen Gottesdienstausschuss berufen kann, überlassen.35 Im Sinne der Offenheit und der Verankerung in der Erfahrung wird das liturgische Material 2008/2009 in 100 Gemeinden getestet und ausprobiert. Diese Gemeinden, daneben aber auch eine Vielzahl anderer Akteure (zum Beispiel kirchliche Instanzen, Fakultäten, Hochschulen, Gewerkschaften, Organisationen, andere Kirchen), werden 2009 in die Anhörung mit einbezogen. So kommt es erst auf der Generalsynode 2010, ein Jahr später als vorgesehen, zu einer ersten umfassenden Behandlung der Reform des gottesdienstlichen Lebens. Sindre Eide36, der dem Unterausschuss für Sammlung, Fürbitte und Sendung als Sekretär zugeteilt war, war nun Referent im Kirchenrat und für das Dokument zur Generalsynode verantwortlich. Er schreibt: Die Antworten auf die Anhörung wurden bearbeitet, unter anderem in Zusammenarbeit mit einem Anhörungsausschuss und in zwei Konsultationen mit den Bischöfen/Bischöfinnen.37

Wer diesem Anhörungsausschuss angehörte, schreibt Eide nicht. Eide gibt einen kurzgefasssten Überblick über die Kritikpunkte, die in der Anhörung zutage getreten sind, einige leitende Kritikpunkte sollen hier aus anderen Texten erhoben werden. Margareth Glad leitete die Arbeit mit der Anhörung an der Norwegian School of Theology, Religion and Society. Sie bemerkt, dass das Ziel der Involvierung liturgische Kompetenz voraussetzt und dafür gesorgt sein muss, dass genügend Arbeitszeit zur Verfügung gestellt wird, beides scheint ihr unsicher. Ferner erinnert sie daran, dass die Norwegische Kirche, als nationale Kirche, eine Tradition zu verwalten hat – an dieser Stelle ist der Aspekt der Wiedererkennung nicht zur Genüge beachtet, die Idee des Ordo als Grundstruktur sichert diese Wiedererkennbarkeit nicht. Sie charakterisiert die drei zentralen Begriffe als nicht robust genug und, so behauptet Glad, sie treffen auf ein 35 Vgl. Kirker det, Reform av kirkens gudstjenesteliv. Orientering om høringsdokumentene, 24 ff. Dies wird durchaus auf der Linie der drei zentralen Begriffe gedacht, die Orientierung erinnert ebenfalls an den Ordo-Begriff, als Reglementierung verstanden. 36 Eide, geboren 1942, cand. theol., war beim christlichen Institut IKO – Church Educational Centre tätig. Er wurde zunächst in einen der oben genannten Unterausschüsse berufen, kam dann zum zentralen Kirchenamt und hat von dort die Reform des gottesdienstlichen Lebens mitverfolgt und geprägt. Die letzten Jahre hat Eide beim Verlag Eide gearbeitet, dieser bekam den Zuschlag, die liturgischen Bücher und das neue Gesangbuch der Norwegischen Kirche zu verlegen. 37 Zitiert nach „Gottesdienstreform – Der Hauptgottesdienst“, Aktenzeichen KM 04.1/10.

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ungeklärtes Verständnis von Gottesdienst. Dies wird ebenfalls daran deutlich, dass der Aspekt der Begegnung zu sehr anthropologisch (horizontal) gedeutet wird, welches durch die Bevorzugung des Prinzips der Gottesdienstrichtung versus populum noch unterstrichen wird.38 Harald Hegstad, Professor an der Norwegian School of Theology, Religion and Society, äußert, in seiner Rolle als Redakteur der Luthersk Kirketidende, ähnliche Kritik. Er fragt, ob es wirklich gegeben ist, dass eine gemeinsame Reihenfolge (,Ordo‘) ausreichend ist, um das gottesdienstliche Leben in der Norwegischen Kirche zusammenzuhalten39.

Und schließlich stellt auch er fest: „Von sowohl Pastoren/Pastorinnen als auch von Gemeinden wird nach der Reform eine ganz andere liturgische Kompetenz gefordert!“40 Hans Arne Akerø41 ist 2009 Rektor der größten Pfarrergewerkschaft Norwegens und maßgeblich an deren Antwort auf die Anhörung beteiligt. In dieser Antwort können, neben vielen anderen, ähnliche Kritikpunkte gehoben werden. Der Vorschlag zielt, so die Kritik, zu sehr auf die Begegnung zwischen Menschen, das Konzept des Gottesdienstes als „Ort der Begegnung“ verleitet zu Einseitigkeiten. Dies wird mit der Kritik am Prinzip des versus populum, welches das eschatologische und transzendente Moment schwächt, zusammengebracht. Die erwartete Variationsbreite der Gottesdienste wird als zu groß angesehen und die zentralen Begriffe, gerade die Ortseigenheit/VerOrtung und die Flexibilität, werden als zu weitreichend berücksichtigt charakterisiert. Schließlich erinnert der Begriff der Involvierung an die Forderung größerer Kompetenz und an die Notwendigkeit eines ausreichenden Zeitbudgets für die erforderlichen Vorbereitungen.42 Auf der Generalsynode 2010 wird die Reform des gottesdienstlichen Lebens in erster Lesung behandelt. Die Kritik war bekannt, wurde gehört und in der 38 Vgl. Glad, Margareth, En reform for behovene eller behov for en reform?, in: Ung Teologi (1/ 2010), 13–22, 16.17.18.19.20. 39 Hegstad, Harald, Krevende liturgireform, in: Luthersk Kirketidende 144 (2009), 109 ff., 109. 40 Hegstad, Krevende liturgireform, 110. 41 Akerø, geboren 1949, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Norwegian School of Theology, Religion and Society 1975–1977, ordiniert 1980, von 1983 an in der Gemeinde Fossum tätig, zunächst als Pastor, dann als Pfarrer, 1995 Studienurlaub, 1999–2001 Abteilungsleiter der Kirchenfachlichen Abteilung im Bistum Oslo, 2001–2009 Rektor in The Church of Norway’s Clergy Association, Ph.D. 2009, 2010–2019 Leiter der Sektion für Gottesdienstliches Leben und Kultur im zentralen Kirchenamt der Norwegischen Kirche. 2014 war Akerø Kandidat für das Amt des Bischofs in Nord-H logaland (Tromsø). 42 Vgl. Presteforeningens høringsuttalelse om Forslag til ordning for hovedgudstjenesten, 15. 9. 2009.

190 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form Vorbereitung auf die Generalsynode bearbeitet, von Eide – und vom neuen Leiter der Sektion für Gottesdienstliches Leben und Kultur im zentralen Kirchenamt der Norwegischen Kirche, Akerø. Akerø bleibt sich – und der Kritik am Vorschlag von 2008 – treu. Er referiert die Idee, den Gottesdienst als Ort der Begegnung zu verstehen, hält an dieser fest und stärkt gleichzeitig das kultische, das himmlische Element, verweist auf Manfred Josuttis und den ,Weg in das Leben‘. Er erinnert daran, dass die Reform eine neue Art des Arbeitens mit dem Gottesdienst darstellt und unterstreicht die Wichtigkeit der Kompetenz, die Pastoren, Pastorinnen, Pfarrer, Pfarrerinnen, Kirchenmusiker und Kirchenmusikerinnen besitzen. Diese ist vonnöten, denn das ambitiöse Ziel ist die Involvierung, gerade in Form der lokalen Grundordnung.43 Akerø hebt dieses hervor, betont, dass man in einer Reihe von zentralen Punkten das, was gemeinsam sein soll, gestärkt hat, sowohl den theologischen Inhalt als auch die liturgische Form betreffend44.

Die Aufgabe der Generalsynode wird sein, „das Verhältnis zwischen Ortseigenheit und Wiedererkennbarkeit zu beurteilen“45. Auf der Generalsynode 2011 kommt es zum Beschluss der Reform des gottesdienstlichen Lebens.46 Merete Thomassen kommentiert den Beschluss, auch auf dem Hintergrund eigener Arbeit mit den Antworten und Reaktionen auf die Anhörung 2009, wie folgt: Nun zeigt ein gründliches Lesen der Antworten auf die Anhörung, dass das Bild nicht so eindeutig ist, wie es in den Medien dargestellt wurde. […] [es waren] faktisch weit mehr […], die einer geschlechtergerechten Sprache positiv gegenüberstanden […] und es fand sich eine weit größere Akzeptanz für die liturgische und theologische Erneuerung, die im Vorschlag zum Ausdruck kam. Trotzdem war die endgültige Ausformung des Gottesdienstes für die Norwegische Kirche 2011 weit mehr moderat, als die Gottesdienstreform ursprünglich gedacht war. Die Wahlfreiheit wurde kleiner und die Liturgie zog sich in Richtung der Gottesdienstordnung zurück, die die Norwegische Kirche seit 1977 kannte. Das, was von den Intentionen der Reform behalten wurde, war das Recht der lokalen Gemeinde, eine lokale Grundordnung zu 43 Vgl. Akerø, Hans Arne, N r jord og himmel møtes. Noen helhetsperspektiver p Kirkemøtets liturgisaker, 2010, 1 ff. 44 Akerø, N r jord og himmel møtes, 4. 45 Akerø, N r jord og himmel møtes, 4. 46 Vgl. „Gottesdienstreform. Der Hauptgottesdienst mit Abendmahl“, Aktenzeichen KM 4/11. Offen blieb bei den Beschlüssen die Frage nach der liturgischen Musik. 2011 wurde ein dicker Ordner herausgegeben, insgesamt 708 Seiten mit Vorschlägen für liturgische Musik, gregorianisches Material, bekanntes Material, aber auch neue Musik ist hier zu finden. Die Arbeit mit der liturgischen Musik wurde in einem eigenen Prozess weiter vorangetrieben, dieser wurde auf der Generalsynode 2017, wieder mit delegierter Verantwortung an den Kirchenrat, vorerst abgeschlossen. Vgl. „Beschluss der liturgischen Musik“, Aktenzeichen KM 04/17.

Die leitende Idee der Grundstruktur

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beschließen und als Freiwillige teilnehmen zu können, waren mehrere Wahlmöglichkeiten bei den liturgischen Gebeten, unter anderem bei den Abendmahlsgebeten, sowie die Möglichkeit, Eingangsgebet, Sündenbekenntnis und Fürbittengebet lokal zu formulieren. […] Die übrigen liturgischen Texte im Gottesdienst für die Norwegische Kirche 2011 brechen auf vielerlei Weise mit dem sprachlichen und theologischen Inhalt der Gebete im Vorschlag von 2008. […] dies deutet auf Unsicherheit hin, welche Richtung die sprachliche Erneuerung theologisch und liturgisch verfolgen soll, darauf, dass die Norwegische Kirche daher zu älteren sprachlichen Ausdrucksformen, die den Liturgien von 1977 und 1920 ähneln, zurückgekehrt ist.47

Im Weiteren werden die theologische und liturgische Einrichtung der Reform des gottesdienstlichen Lebens dargestellt und analysiert. Es sollen Inspirationen und Quellen für die gewählte Einrichtung aufgezeigt und weitere Entwicklungen nachgezeichnet werden. Das Gewicht liegt im Folgenden auf der Entwicklung der theologischen und liturgischen Konzepte im Rahmen der Reform. Dies betrifft zunächst die leitende Idee der Grundstruktur (Ordo) und in einem weiteren Schritt die zentralen Begriffe Flexibilität, Involvierung und Ortseigenheit/Ver-Ortung, die schließlich, balanciert mit dem Begriff der Wiederkennung, als zentrale methodische Begriffe ihren Eingang in das Gottesdienstbuch der Norwegischen Kirche finden.

6.2 Die leitende Idee der Grundstruktur Es ist die Jugendgeneralsynode, die den Begriff der Grundstruktur in den liturgischen Debatten der Norwegischen Kirche ankommen lässt, dieser wird vom Kirchenrat aufgenommen und auch von Finn Wagle ins Feld geführt. Gleichwohl macht sich schon verhältnismäßig früh im Reformprozess Klärungsbedarf bemerkbar, Kari Veiteberg orientiert im Ausschuss für Gottesdienstliches Leben über den Begriff Ordo und dessen Provenienz und Gebrauch, und der Ausschuss fasst folgenden Beschluss: Der Ausschuss für Gottesdienstliches Leben sieht es als dienlich an, den Begriff Grundstruktur zu verwenden. Der Ansatz einer Grundstruktur, auf die hin variiert werden kann, scheint sehr nützlich. Der Ausschuss möchte dies in der Arbeit so nutzen, dass dem Hauptgottesdienst eine Form in der Spannung zwischen Festigkeit und Freiheit gegeben wird.48 47 Thomassen, Merete, Den liturgiske bønnen: dogmatikk, poesi og erfaring, in: Hellemo, Geir (Hg.), Gudstjeneste p ny, Oslo 2014, 32–49, 45 f. 48 Zitiert nach „Ordo als Begriff und Prinzip liturgischer Theologie“, Aktenzeichen NFG 20/04. Vgl. „Struktur (Ordo) – vorläufige Behandlung“, Aktenzeichen NFG 15/05; „Der Verlauf der Arbeit in den Unterausschüssen“, Aktenzeichen NFG 16/05.

192 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form Doch im Orientierungsdokument, das der Anhörung von 2008 beigegeben war, taucht der Begriff Ordo wieder auf. Es werden hier Ordo und CA VII miteinander verknüpft: Der Ordo sichert sowohl die Einheit der Kirche als auch die lokale Freiheit, theologisch als Inkarnation vor Ort verstanden.49 Aber im Gottesdienstbuch der Norwegischen Kirche von 2011 wird der Begriff nicht mehr verwendet, es ist ausschließlich von Grundstruktur die Rede. Diese Grundstruktur wird in den Allgemeinen Bestimmungen des Gottesdienstbuches knapp definiert: I Sammlung, II Das Wort, III Fürbitte, IV Abendmahl und V Sendung.50 Die Funktion dieser Grundstruktur wird dann zuerst in der Vermittlung zwischen Tradition und Erneuerung gesehen: Der Gottesdienst ist eine Tradition, die uns gleich in die älteste Zeit der Kirche zurückführt […]. In der allerältesten Zeit der Kirche war die Gottesdienstfeier von Vielfalt geprägt. Aber in dieser Vielfalt finden wir eine gemeinsame Grundstruktur, mit dem Wort und der Mahlzeit als Hauptelemente, und mit dem Sonntag als Feier von Christi Auferstehung und Gegenwart. […] Struktur im Gottesdienst handelt daher von mehr als von einem äußeren Rahmen. In der Grundstruktur sind wichtige Inhaltselemente zu Hause, gerade an ihrem festen Ort im Gottesdienst. […] Gleichzeitig müssen wir uns davor hüten, von dieser Tradition statisch zu denken. Zu allen Zeiten ist diese von Erneuerung geprägt […]. Aber die Erneuerung liegt nicht notwendigerweise in einem Aufbruch von der Tradition. Im Gegenteil, in der Tradition gibt es viel an Erneuerung zu bergen […].51

Sodann, auf die konkrete Ausformung des jeweiligen Gottesdienstes bezogen, wird die Funktion der Grundstruktur zum einen in der Sicherung von „Möglichkeiten für Variation und Vielfalt in den Hauptgottesdiensten der Gemeinde“52 gesehen. Die Struktur des vollständigen Hauptgottesdienstes als Messfeier (gekennzeichnet durch Wort- und Abendmahlsteil) „dient als 49 Vgl. Kirker det (Hg.), Reform av kirkens gudstjenesteliv. Orientering om høringsdokumentene. Ny ordning for hovedgudstjeneste i Den norske kirke. Ny tekstbok i Den norske kirke. Ny norsk salmebok. Høringsbrev, Bergen 2008, 17.19 f. 50 Vgl. Kirker det (Hg.), Gudstjeneste for Den norske kirke, Stavanger 2011, 5.6. Sortiert das Evangelische Gottesdienstbuch der Evangelischen Kirche in Deutschland in Nuancen unterschiedlich (I Eröffnung und Anrufung, II Verkündigung und Bekenntnis, III Abendmahl und IV Sendung), so sind Parallelen im bipolaren Verständnis und der funktionalen Bestimmung der Struktur und ihrer Teile nicht zu übersehen. Vgl. Ratzmann, Wolfgang, Struktur des Gottesdienstes, in: Grethlein, Christian/Ruddat, Günter (Hg.), Liturgisches Kompendium, Göttingen 2003, 419–436, 427 ff. 51 Kirker det, Gudstjeneste for Den norske kirke, 6.6. In diesen Sätzen wird wieder deutlich, dass Wagle an den Texten des Gottesdienstbuches mitgeschrieben hat. Nicht nur die Gedanken, ganze Sätze, bis ins Wort hinein, finden sich in seinem Nachwort zum Projekt Liturgie in Bewegung. Vgl. Wagle, Finn, Etterord: … liv fra kilder utenfor oss selv, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 283–293, 286. 52 Kirker det, Gudstjeneste for Den norske kirke, 7.3.

Die zentralen methodischen Begriffe

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Ausgangspunkt für alle anderen Typen Hauptgottesdienst in der lokalen Gemeinde“53. Zum anderen, im Sinne der Abwägung zwischen Tradition und Erneuerung und in Verlängerung der Reflexion des zentralen Begriffs Flexibilität, wird der Strukturbegriff als Regulativ – auf das Ziel der Wiedererkennung hin – verstanden: Die Ordnung legt daher großes Gewicht auf das, was den Gemeinden in der Norwegischen Kirche und in der weltweiten Kirche gemein ist. Hier findet man eine gemeinsame Hauptstruktur und viele der zentralen Elemente im Gottesdienst sind von Ort zu Ort dieselben. Dies gewährleistet sowohl nationale Wiedererkennung als auch Zusammengehörigkeit mit der ökumenischen, weltweiten Kirche.54

6.3 Die zentralen methodischen Begriffe Wie gesehen, so tauchen die Begriffe Flexibilität, Involvierung und Ortseigenheit/Ver-Ortung in loser Nennung seit Anfang der 90er Jahre in den Diskussionen der Norwegischen Kirche auf, sie werden vom Kirchenrat zum ersten Mal 2004 gesammelt und als Zielvorgabe für die anstehende Reform des gottesdienstlichen Lebens benannt. Der Ausschuss für Gottesdienstliches Leben beschäftigt sich wiederholt mit diesen Begriffen. Aber die Arbeit verläuft schleppend, wird immer wieder angemahnt und doch nicht zu Ende geführt.55 Jan Terje Christoffersen referiert die letzte Behandlung der Begriffe durch den Ausschuss. Diese Behandlung nahm ihren Ausgangspunkt in der Sammlung von mehreren Arbeitsdokumenten, die von einzelnen Mitgliedern verantwortet wurden. Der Beschluss lautet: Der Vorsitzende des Ausschusses für Gottesdienstliches Leben wird aufgefordert, dieses Dokument weiter zu bearbeiten und einen Vorschlag für die Einleitung der Anhörung auszuarbeiten. Frist: Das Treffen des Ausschusses im August.56 53 Kirker det, Gudstjeneste for Den norske kirke, 7.3. Mit Hauptgottesdienst ist hier ganz grundlegend der vom Bischof/von der Bischöfin verordnete Gottesdienst gemeint, dieser kann in verschiedenen Typen (Familiengottesdienst, Messgottesdienst) ausgestaltet werden. Diese Anordnung ist in der Dienstordnung geregelt: „Der Bischof/die Bischöfin verordnet die Gottesdienste in den Gemeinden des Bistums und beschließt, wie viele Gottesdienste in der jeweiligen Kirche oder an anderen Gottesdienstorten gehalten werden sollen.“ In Tjenesteordning for biskoper, § 3, siehe https://lovdata.no/dokument/INS/forskrift/2016–04–11–1812/KAPIT TEL_1#KAPITTEL_1 (abgerufen am 14. 10. 2017). 54 Kirker det, Gudstjeneste for Den norske kirke, 7.7. 55 Vgl. „Präsentation auf der Generalsynode 2006“, Aktenzeichen NFG 13/06; „Eventuelles“, Aktenzeichen NFG 36/06; „Die zentralen Begriffe der Gottesdienstreform“, Aktenzeichen NFG 40/ 06; „Die zentralen Begriffe des Gottesdienstes“, Aktenzeichen NFG 5/07. 56 Zitiert nach „Die zentralen Begriffe der Gottesdienstreform“, Aktenzeichen NFG 30/07.

194 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form Christoffersen konstatiert ganz klar: „Eine solche fachliche Bearbeitung ist nicht protokolliert.“57 In seinem Nachwort schreibt Finn Wagle: Die Stichworte Flexibilität, Involvierung und Ver-Ortung haben sich als zentrale Begriffe der Reform gefestigt, obwohl sie im Prozess nie wirklich inhaltlich gefüllt und bestimmt wurden. Meiner Meinung nach weit ernsthafter: die zentralen Begriffe gaben kein vollwertiges Steuerungsinstrument für eine umfassende Gottesdienstreform. […] Erst mit dem Gottesdienstbuch kann gesagt werden, dass die zentralen Begriffe der Gottesdienstreform ihre inhaltliche Bestimmung erhalten haben. Gleichzeitig ist es wichtig, dass das, was hier über die zentralen Begriffe gesagt wird, in einen Zusammenhang gestellt ist, der eine klar notwendige Balance schafft: Die Kirche ist nicht nur ortseigen, sondern auch ,eine heilige, allgemeine Kirche‘. Und das gottesdienstliche Leben soll auch, mitten in der Flexibilität, eine ,nationale Wiederkennung‘ gewährleisten.58

Damit sind der grundlegende Tenor und der Entwicklungsweg der zentralen methodischen Begriffe genannt. Dieser Weg soll nun nachgezeichnet und kritisch begleitet werden. 6.3.1 Flexibilität Flexibilität ist der erste von drei zentralen Begriffen, die dem Kirchenrat 2004 übermittelt werden. Dabei wird Flexibilität direkt mit dem Gedanken der Einheit der Kirche in Verbindung gebracht. Auffällig bleibt: War es 2004 gerade die Flexibilität, die die Einheit der Kirche bewahren konnte, ändert sich diese Auffassung im weiteren Reformverlauf entscheidend.59 In der Vorbereitung der Anhörung des Vorschlages von 2008 wird der Begriff der Flexibilität zuerst als folgerichtige Fortführung der faktischen liturgischen Vielfalt angesehen, sodann wird, in dieser Vielfalt, das Streben nach mehr Dialog und Beteiligung hervorgehoben.60 Das von Sindre Eide nach der Anhörung verfasste Dokument, das der Generalsynode 2010 vorlag, bringt deutlicher eine Hierarchisierung der drei zentralen Begriffe ins Spiel: „Flexibilität ist notwendig, damit die ersten beiden zentralen Begriffe [sc. Involvierung und Ortseigenheit/Ver-Ortung] rea57 Christoffersen, Jan Terje, P hvert et sted. Inn til kjernen av gudstjenestereformen, in: Tidsskrift for praktisk teologi 31 (2014), 4–15, 9. 58 Wagle, Finn, Etterord: … liv fra kilder utenfor oss selv, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 283–293, 286 f. 59 Vgl. „Reform des gottesdienstlichen Lebens – Visionsdokument“, Aktenzeichen KR 48/04. 60 Vgl. Kirker det (Hg.), Reform av kirkens gudstjenesteliv. Orientering om høringsdokumentene. Ny ordning for hovedgudstjeneste i Den norske kirke. Ny tekstbok i Den norske kirke. Ny norsk salmebok. Høringsbrev, Bergen 2008, 13.

Die zentralen methodischen Begriffe

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lisiert werden können.“61 Außerdem wird im Dokument das Begriffspaar Tradition und Erneuerung bemüht, dies mit dem deutlichen Ziel, die zentralen Begriffe zu balancieren.62 Das Gottesdienstbuch von 2011 interpretiert zunächst einmal neu. Der ,zentrale Begriff‘, dem 2004 bescheinigt wurde: „Dies ist ein guter Terminus, weil er eine positive und fordernde, und keine begrenzende und regulierende, Richtung hat.“63, wird nun aufgegeben. Aus den zentralen Begriffen werden zentrale methodische Begriffe. Diese „können zur Hilfe sein, wenn es um die Arbeitsweise und Methodik geht“64. Dies ist unschwer anders als eine Schwächung der Begriffe zu lesen. Sodann werden die zentralen methodischen Begriffe neu sortiert, der Begriff der Ver-Ortung steht nun an erster Stelle, gefolgt von Involvierung und Flexibilität. Noch deutlicher als bei Eide kommt dem Flexibilitätsbegriff Werkzeugcharakter zu: Flexibilität ist eine natürliche Konsequenz der ersten beiden zentralen Begriffe. Wenn Involvierung gelingen soll, bei der Vorbereitung und Feier des lokalen Gottesdienstes, muss eine Reihe von Wahlmöglichkeiten geboten werden, sowohl mit Blick auf die Texte und Handlungen als auch auf andere Ausdrucksformen. Das lokale Leben und Engagement müssen zum Ausdruck kommen können […]. Die Gottesdienstordnung legt dafür zurecht […] [und] ermöglicht große Flexibilität in der Arbeit, den lokalen Gottesdienst ortseigen zu machen.65

Und wieder, dies ist allen zentralen Begriffen gemein, wird die Grundstruktur als regulatives Element angeführt, sodass Einheit nicht mehr durch Flexibilität, sondern durch Balancierung von Flexibilität, erreicht wird.66 Das Forschungsprojekt Liturgie in Bewegung bemerkt in der Auswertung des qualitativen Materials eine geteilte Reaktion auf den Begriff der Flexibilität. Auf der positiven Seite fällt auf, dass Flexibilität „Praxis, die über eine Zeit gewachsen ist, legitimiert“67. Dies entspricht der Intention der Anhörung von 2008/2009. Weiter wird als positive Folge angeführt, dass Flexibilität Vielfalt und Involvierung fördert, dies entspricht den Erwartungen Eides, die er der Generalsynode 2010 mit auf den Weg gibt. Auf der negativen Seite wird ein Gefühl von Unsicherheit angeführt, die Vielfalt gefährdet die Wiedererkennung.68 61 62 63 64 65 66 67

Zitiert nach „Gottesdienstreform – Der Hauptgottesdienst“, Aktenzeichen KM 04.1/10. Vgl. Gottesdienstreform – Der Hauptgottesdienst“, Aktenzeichen KM 04.1/10. Zitiert nach „Reform des Hauptgottesdienstes“, Aktenzeichen KR 10/04. Kirker det (Hg.), Gudstjeneste for Den norske kirke, Stavanger 2011, 7.5. Kirker det, Gudstjeneste for Den norske kirke, 7.6. Vgl. Kirker det, Gudstjeneste for Den norske kirke, 7.7. Botvar, P l Ketil/Mosdøl, Hallvard Olavson, Noe falt i god jord. Den norske kirkes gudstjenestereform sett fra menighetsniv , KIFO Rapport 2014:2, Oslo 2014, 49. 68 Vgl. Botvar/Mosdøl, Noe falt i god jord, 49.

196 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form Die deutlichste Kritik an der Reform des gottesdienstlichen Lebens, gerade am Begriff der Flexibilität festgemacht, formuliert, unter Rückgriff auf Richard Sennett, dne Nj : Die Liturgiereform ist weitgehend auf den drei zentralen Begriffen Flexibilität, Ortseigenheit und Involvierung aufgebaut. Im ersten Vorschlag [von 2008] hörten sich diese Worte bald wie ein Echo der neukapitalistischen Ideologie an – als ob die Kirche nicht Gottes universelle Familie, sondern ein lokales Unternehmen von Gründern, für kreative Unternehmensleitungen, sei. Im neuesten Vorschlag [von 2010] sind diese Begriffe in einen größeren Rahmen eingepasst […]. Diese Entwicklung ist gut, aber im Lichte der lutherischen Theologie, in der das Flexibilitätsmoment nicht nur mit dem Traditionsmoment Seite an Seite gestellt, sondern diesem untergeordnet wird, nicht radikal genug. Der Mensch ist zunächst und allererst empfangend und danach eventuell produktiv. Weil die Kirche das universelle und gebrechliche Gottesvolk ist, kann die liturgische Flexibilität nicht im gleichen Tempo laufen, nicht so ohne Verwurzelung sein, wie die Flexibilität, die im Neukapitalismus verehrt wird.69

Mit diesem Zitat ist die Richtung seiner Kritik angegeben. Der Zielpunkt gestaltet sich entsprechend: Es ist nicht der Gottesdienst, der erneuert werden soll, es sind die Herzen. Es ist diese Erneuerung, die jeder Liturgie tiefstes Ziel und tiefster Sinn ist.70

6.3.2 Involvierung Im Visionsdokument von 2004 wird Involvierung theologisch in der Taufe gegründet. Die Getauften haben Anteil an Christi Körper, es werden die Rolle der Subjekte und die Relationen der Subjekte untereinander unterstrichen, daran schließt sich, folgerichtig, eine kurze Reflexion des Machtbegriffs an.71 Der Ausschuss für Gottesdienstliches Leben beschäftigt sich, durchaus ausführlich, mit dem Begriff. Es geht um arbeitsrechtliche Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um die Ausformung der liturgischen Sprache und um Li69 Nj , dne, Gudstjenesten i en evangelisk-luthersk kirke, in: Dietrich, Stephanie/Dokka, Trond Skard/Hegstad, Harald (Hg.), Kirke n . Den norske kirke som evangelisk-luthersk kirke, Trondheim 2011, 115–133, 128. 70 Nj , Gudstjenesten i en evangelisk-luthersk kirke, 132. Es geht nicht darum Nj s Kritik, die verschiedene fundamentaltheologische loci berührt, zu diskutieren. Einem Hinweis Matthias von Kriegsteins folgend: Kann Flexibilität nicht auch als Ausdruck für egalitäre Gesellschaftszusammenhänge gesehen werden? Also: Wie managt man Prozesse in einer Gruppe, wie geht man mit Hierarchie um? Kirchenleitendes Handeln von unten, flexibel, gefährdet Stabilität und Denkmuster, ist aber nicht per se als un-lutherisch abzulehnen, sondern spricht vielleicht andere wichtige Themen an, zum Beispiel das der Subjektivität und der Rolle des Subjektes. 71 Vgl. „Reform des gottesdienstlichen Lebens – Visionsdokument“, Aktenzeichen KR 48/04.

Die zentralen methodischen Begriffe

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turgie als Rollenspiel und Dialog – und doch lässt sich keine deutliche Profilierung des Begriffs gewinnen.72 Im Vorschlag von 2008 werden die ersten Gedanken des Visionsdokumentes von 2004 und die Idee des Gottesdienstes als Ort der Begegnung zusammengebracht.73 Es wird auf Gemeinschaft im Gottesdienst abgehoben: Im Gottesdienst wird ein ,Wir‘ geschaffen […]. In diesem Wir ist es jedoch trotzdem wichtig, dass der/die Einzelne Freiheit erfährt, mit seinem/ihrem eigenen Leben zugegen zu sein. […] Eine grundlegende Zielsetzung der Involvierung ist es, eine größtmögliche Erfahrung des Subjekt-Seins zu etablieren.74

Der weitere Reformverlauf gibt eine ambivalente Hochschätzung des Begriffs zu erkennen. Sindre Eide nennt Impulse zur Arbeit mit Involvierung und VerOrtung „das Kühnste an der Reform“75. Hans Arne Akerø nennt Involvierung das „ehrgeizigste/ambitiöseste an der Reform“76 – gleichzeitig sind beide an Balancierung durch das Motiv der Wiedererkennung interessiert. In Bezug auf das Gottesdienstbuch der Norwegischen Kirche von 2011 bleibt zu bemerken, dass der Begriff der Involvierung der einzige ist, der, wenn auch implizit, in den Allgemeinen Bestimmungen zum Gottesdienst angeführt wird: Vorbereitung und Durchführung des Hauptgottesdienstes sollten unter breiter Teilnahme durch die Mitglieder der Gemeinde geschehen. Im Gottesdienst wird auf universelle Ausformung Wert gelegt.77

An zwei weiteren Stellen kommt das Gottesdienstbuch auf die Involvierung zurück. Die Beteiligung der Gemeinde wird als reformatorisches Element gewürdigt, sodann wird Involvierung eng an die Ver-Ortung geknüpft, gleichzeitig ist es nicht mehr die Taufe, sondern das Abendmahl, das die Gemeinschaft sichert.78 72 Vgl. „Was ist Involvierung?“, Aktenzeichen NFG 31/05. 73 Vgl. Kirker det (Hg.), Reform av kirkens gudstjenesteliv. Orientering om høringsdokumentene. Ny ordning for hovedgudstjeneste i Den norske kirke. Ny tekstbok i Den norske kirke. Ny norsk salmebok. Høringsbrev, Bergen 2008, 17. 74 Kirker det, Reform av kirkens gudstjenesteliv. Orientering om høringsdokumentene, 18. 75 Zitiert nach „Gottesdienstreform – Der Hauptgottesdienst“, Aktenzeichen KM 04.1/10. 76 Akerø, Hans Arne, N r jord og himmel møtes. Noen helhetsperspektiver p Kirkemøtets liturgisaker, 2010, 3. 77 Kirker det (Hg.), Gudstjeneste for Den norske kirke, Stavanger 2011, 5.4. 78 Vgl. Kirker det, Gudstjeneste for Den norske kirke, 6.6 f.7.6. Vor dem Hintergrund, dass das Abendmahl in der Norwegischen Kirche lange Zeit auch als Ausgrenzungsmechanismus fungierte, während die Taufe erst die letzten Jahre ihre Selbstverständlichkeit, gerade in den großen Städten, einbüßt, überrascht diese Veränderung. Sie lässt die Gemeinschaft ,enger‘ erscheinen. Dies gilt, obwohl die Teilnahme am Abendmahl in den letzten Jahren kontinuierlich steigt. Vgl. Sandvik, Bjørn, Det store nattverdfallet. En undersøkelse av avsperring og tilhørighet i norsk kirkeliv, KIFO Perspektiv 2, Trondheim 1998.

198 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form Im norwegischen Reformprozess wird, wie oben gezeigt, dieser Begriff als aus den Impulsen des Vaticanum II erwachsen angesehen, dies zeigt die Aufnahme in die Allgemeinen Bestimmungen. Mit Hintergrund in den deutschen Diskussionen wäre zu fragen, das kann hier nur schlaglichtartig geschehen, ob die gleichzeitige Bewertung der Involvierung als zentraler methodischer Begriff nicht diesen in Teilen konterkariert. Karl-Heinrich Bieritz und Hans-Christoph Schmidt-Lauber schreiben dazu: Als ,plena atque actuosa participatio‘ (Liturgiekonstitution, SC 14) gehört sie [sc. die Beteiligung der Gemeinde] zu den unterscheidenden Kennzeichen rechten christlichen Gottesdienstes und besitzt keineswegs nur ,methodischen‘ Rang.79

Der Evaluationsrapport des Projekts Liturgie in Bewegung entnimmt dem analysierten Material, dass „viele Gemeinden sich haben inspirieren lassen, systematisch mit Involvierung zu arbeiten“80, dass gleichzeitig die Deutung des Begriffs und der Umgang mit dem Begriff variiert. Entweder ist es gerade „das Bekannte, das zu weitgehendster Involvierung (,dass die Gemeinde ihr Unser Vater kann‘) beiträgt“81 oder „Involvierung wird an praktische Teilnahme geknüpft“82. Der Rapport nennt auch den Zusammenhang zwischen Involvierung und Wiedererkennbarkeit. Ein Informant bemerkt, dass die Teilnahmemöglichkeiten derer, die nicht regelmäßig zum Gottesdienst kommen, durch stetige Änderungen eingeschränkt werden, es wird als Moment die Gefährdung der Volkskirche angeführt.83 Ein weiterer Aspekt berührt die Involvierung, nämlich die Erarbeitung einer lokalen Grundordnung durch einen Gottesdienstausschuss: Einzelne Informantinnen/Informanten verleihen großer Freude darüber Ausdruck, dass ,mehr [Leute] als die Angestellten‘ in die Arbeit mit dem Gottesdienst eingebunden wurden. Andere stehen ,der ewiglichen Demokratisierung der Kirche‘ kritisch gegenüber. Sowohl unter den Kantoren/Kantorinnen als auch unter den Pas79 Bieritz Karl-Heinrich/Schmidt-Lauber, Hans-Christoph, Vorwort, in: Bieritz Karl-Heinrich/ Schmidt-Lauber, Hans-Christoph (Hg.), Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, Leipzig et al. 1995, 9–14, 11 f. Christian Grethlein und Günter Ruddat holen weiter aus: „Durch diesen konstitutiven Personen- und Situationsbezug wird aber Liturgie dynamisiert, ja zu einem ständigen Reformvorhaben. Theologisch ist dies – wie SC 14 zeigt – durch den Bezug auf das Konzept des Priestertums aller Gläubigen (1 Petr 2,9), also eine Zentralstelle reformatorischer Ekklesiologie begründet. Handlungsorientierend bedeutet dies die notwendige Einbeziehung sozialwissenschaftlicher empirischer Methoden für die liturgiewissenschaftliche Forschung.“ In Grethlein, Christian/Ruddat, Günter, Gottesdienst – ein Reformprojekt, in: Grethlein, Christian/Ruddat, Günter (Hg.), Liturgisches Kompendium, Göttingen 2003, 13–41, 25. 80 Botvar, P l Ketil/Mosdøl, Hallvard Olavson, Noe falt i god jord. Den norske kirkes gudstjenestereform sett fra menighetsniv , KIFO Rapport 2014:2, Oslo 2014, 48. 81 Botvar/Mosdøl, Noe falt i god jord, 48. 82 Botvar/Mosdøl, Noe falt i god jord, 48. 83 Vgl. Botvar/Mosdøl, Noe falt i god jord, 48.

Die zentralen methodischen Begriffe

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torinnen/Pastoren sind mehrere der Ansicht, dass die Reform dazu beigetragen hat, die fachliche Kompetenz in der Norwegischen Kirche zu entthronen.84

Im Rahmen des gleichen Projekts untersucht Hallvard Olavson Mosdøl die Arbeit mit dem Ziel der Involvierung in zwei Gemeinden. Die von ihm untersuchten Gemeinden wurden als ,Modelltyp‘ ausgewählt, die eine als ,Volkskirche‘, die andere als ,Glaubensgemeinschaft‘. Sein empirisches Material besteht aus den lokalen Grundordnungen der Gemeinden, Fokusgruppeninterviews mit der Pfarrerin, dem Kirchenmusiker und einem Mitglied des Gottesdienstausschusses, sowie aus Gottesdienstbeobachtungen. Dieses Material analysiert er mittels Martin Mod us’ Unterscheidung zwischen praktischer, repräsentativer, dialogischer, perspektivischer und macht-beobachtender Teilnahme.85 Mosdøl beschreibt die beiden Gottesdienste, unterscheidet die beiden Gemeinden den angesprochenen Kategorien gemäß und konstatiert gleichzeitig, dass beiden Gemeinden gemein ist, dass die Volkskirche als in einer kritischen Phase befindlich gesehen wird, dass die Gemeinden auf viele Ressourcen zurückgreifen können und dass der Gottesdienstbesuch steigt. Erst dann folgt seine eigentliche Analyse mittels der Aspekte der Teilnahme, wobei schwierig bleibt, dass immer mitschwingt, dass die Gemeinden nach einem bestimmten Muster ausgewählt wurden. Dies engt den Blick ein. So zielt die Beobachtung der konkreten Gottesdienste auf allgemeine, sonntägliche Punkte ab, eben nicht auf den beobachteten Gottesdienst. In gleicher Weise beziehen sich die aus den Interviews eingestreuten Kommentare doch sehr auf reglementierte, den Grundordnungen gemäße Praxis, nicht auf die konkreten Gottesdienste. Der Zielpunkt ist, stringent mit der so gearteten Analyse, die (offene) Frage, ob sich in der Norwegischen Kirche unterschiedliche liturgische Traditionen herausbilden werden.86 Insgesamt birgt das Projekt Liturgie in Bewegung eine positivere Sicht auf den Begriff der Involvierung als auf den Begriff der Flexibilität und, wie eben jetzt aufzuzeigen und zu erarbeiten ist, auf den Begriff der Ortseigenheit/VerOrtung. Gleichwohl bleibt es bei der Abwägung des Begriffs gegenüber einer Idee des wiedererkennbaren Gleichen, das unter zu starker Involvierung leidet.87

84 Botvar/Mosdøl, Noe falt i god jord, 49. 85 Vgl. Mosdøl, Hallvard Olavson, Strategier for involvering i gudstjenesten. En casestudie av to menigheter, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 155–172, 157 ff. Mosdøl übernimmt die Definition seiner Modelltypen von Harald Hegstad. Vgl. 5.4. 86 Vgl. Mosdøl, Strategier for involvering i gudstjenesten, 164 f.166–172. 87 Vgl. Botvar/Mosdøl, Noe falt i god jord, 49.

200 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form 6.3.3 Ortseigenheit/Ver-Ortung Das Visionsdokument vom September 2004 legt beim zentralen Begriff der Ver-Ortung Gewicht auf die Idee der Inkarnation, sie ist der theologische Schlüssel den Begriff zu verstehen. Aber schon die Doppelung der Übersetzung spiegelt die Schwierigkeit, den Begriff zu fassen. Im Norwegischen werden zwei eng miteinander verwandte Wörter verwendet, die Begriffe werden keineswegs stringent verwendet und sind auch durch die Übersetzung nicht einfach in den Griff zu bekommen. Dieser Unschärfe soll in den folgenden Rekonstruktionen und in der Darstellung der Leitfadeninterviews, so weit es irgend geht, nachgegangen werden, denn sie ist, so werden die späteren Analyse- und Interpretationsschritte zeigen, produktiv zu wenden.88 Im Juni 2005 beschäftigt sich der Ausschuss für Gottesdienstliches Leben mit dem zentralen Begriff der Involvierung, hier findet sich eine instrumentelle Hierarchisierung: „Wenn es uns gelingt, die Flexibilität zur Involvierung hin zu nutzen, dann wird der Gottesdienst ortseigen.“89 Aber der zentrale Begriff der Ortseigenheit/Ver-Ortung verbleibt sperrig, ein Jahr später wird vorgeschlagen, diesen auszutauschen, auch die weitere Bearbeitung verbleibt dem Begriff gegenüber kritisch.90 Im Vorschlag von 2008 wird der Gottesdienst zwischen dem Universellen und dem Lokalen angesiedelt, es wird eine Perspektive auf den Ort eröffnet: [Leitend war] eine veränderte Zielsetzung für die Gottesdienstordnung, von einer Ordnung, die im Großen und Ganzen für das ganze Land gleich ist, hin zu einer Ordnung, bei der die Lokalgemeinde entscheidet, welche Ordnung man haben will, auf der Grundlage des Ordo[.]91

Im Weiteren werden Ordo und Inkarnation direkt aufeinander bezogen, der Ordo sichert das Universelle, als allgemein-kirchliches Prinzip, das von Ort zu Ort anders entfaltet wird. So wird das Neue des Vorschlages wieder deutlich. Der Ort ist nicht mehr die Norwegische Kirche und ihre sonntäglichen Gottesdienste, sondern die lokale Gemeinde.92 Der in diesem Dokument betonten Variationsbreite, die sich der Inkarna88 Vgl. „Reform des Gottesdienstlichen Lebens – Visionsdokument“, Aktenzeichen KR 48/04. Vgl. 7.3.2; 8.2.1. 89 Zitiert nach „Was ist Involvierung?“, Aktenzeichen NFG 31/05. 90 Vgl. „Eventuelles“, Aktenzeichen NFG 36/06; „Die zentralen Begriffe der Gottesdienstreform“, Aktenzeichen NFG 40/06. 91 Kirker det (Hg.), Reform av kirkens gudstjenesteliv. Orientering om høringsdokumentene. Ny ordning for hovedgudstjeneste i Den norske kirke. Ny tekstbok i Den norske kirke. Ny norsk salmebok. Høringsbrev, Bergen 2008, 17. 92 Vgl. Kirker det, Reform av kirkens gudstjenesteliv. Orientering om høringsdokumentene, 20.

Die zentralen methodischen Begriffe

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tion verdankt, setzt Paul Erik Wirgenes, Abteilungsleiter der Abteilung für Gemeindeentwicklung im zentralen Kirchenamt, vor der Generalsynode 2009, als er die Ergebnisse der Anhörung präsentiert, eine andere Bilanz entgegen: Die zentralen Begriffe (Flexibilität, Involvierung und Ver-Ortung) erhalten gute Unterstützung, aber es wird der Bedarf an Balancierung […] im Verhältnis zu Begriffen wie Wiedererkennung und Ähnlichem unterstrichen […].93

Als eine der Hauptherausforderungen gilt: „In welchem Ausmaß sollen die Gottesdienste wiedererkennbar sein?“94 In der Vorbereitung auf die Generalsynode 2010 ruft Sindre Eide die leitenden Ideen der Reform in Erinnerung und liefert folgende Definition: „Ortseigenheit bedeutet, dass das Evangelium am Ort Wurzeln schlägt und von diesem Erdboden gefärbt wird.“95 Auf dem Hintergrund der Auswertung der Anhörung des Vorschlages von 2008 greift Eide die bekannte und oben genannte Hierarchisierung auf und expliziert sie: Außerdem wird, im Verhältnis zu Involvierung und Flexibilität, der zentrale Begriff der Ver-Ortung als primär betrachtet. Das bedeutet, dass die zentralen Begriffe Flexibilität und Involvierung dazu beitragen sollen, dass der lokale Gottesdienst als ortseigen erlebt wird, verankert in lokaler Kultur, Sprache und lokalen Ausdrucksformen.96

Gleichzeitig: Die zentralen Begriffe werden nicht mehr nur im Verhältnis zur Kirche als lokale und globale Größe gesehen, sondern auch als nationale Größe […]. Im Vorschlag, der nun der Generalsynode vorgelegt wird, wird auf größere nationale Wiedererkennbarkeit Wert gelegt.97

Das Gottesdienstbuch der Norwegischen Kirche formuliert ganz ähnlich: Das Evangelium von Jesus Christus ist und verbleibt bis in die ewige Zeit dasselbe (Hebr 13,8). Aber es schlägt immer in einem bestimmten Erdboden Wurzeln und nimmt die Farbe dieses Erdbodens an: Es wird ortseigen gemacht, sowohl dadurch, dass es von der Kultur an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten geprägt wird, als auch dadurch, dass es diese selbst prägt. […] Aber das Evangelium kann auch ein Urteil über die Kultur der Kirche und der Gegenwart einschließen. Dies gilt, wenn diese Kultur sich nicht länger für Gottes Anrede öffnet […].98 93 94 95 96 97 98

Zitiert nach „Die Gottesdienstreform“, Aktenzeichen KM 3.1/09. Zitiert nach „Die Gottesdienstreform“, Aktenzeichen KM 3.1/09. Zitiert nach „Gottesdienstreform – Der Hauptgottesdienst“, Aktenzeichen KM 04.1/10. Zitiert nach „Gottesdienstreform – Der Hauptgottesdienst“, Aktenzeichen KM 04.1/10. Zitiert nach „Gottesdienstreform – Der Hauptgottesdienst“, Aktenzeichen KM 04.1/10. Kirker det (Hg.), Gudstjeneste for Den norske kirke, Stavanger 2011, 6.7.

202 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form Die Definition lautet: Dieser zentrale Begriff unterstreicht, dass der Gottesdienst in einer lokalen Gemeinde gefeiert wird und notwendigerweise vom lokalen Zusammenhang geprägt sein muss, damit dass Evangelium am Ort Raum gewinnen und das Lokalmilieu prägen kann. Dies fordert die Kirche an jedem Ort auf, den lokalen Kontext, die lokale Kultur, wie sie durch Sprache und Gemeinschaftsformen, Musik, Bildersprache und andere Kunstund Kulturformen ausgedrückt wird, den Gottesdienst prägen zu lassen und selbst durch die christliche Botschaft geprägt zu werden. Es muss eine spannungsreiche und fruchtbare Begegnung zwischen dem Evangelium und dem Ort geschaffen werden.99

Angesichts der vielen Diskussionen, die die Anhörung und die Auswertung der Anhörung hervorbrachten, ist die Stringenz dieser Annäherungen bemerkenswert, man wollte an dem Begriff, wenn auch balanciert, festhalten. Gleichwohl fällt auf, dass im Gottesdienstbuch die Singularformen dominieren: Das (ewig gleiche) Evangelium, der Gottesdienst, die Kultur, der Ort. Die Frage, die sich vor dem Hintergrund der vorliegenden Studie aufdrängt, ist, ob dies alles im Singular, als, wenn auch aus mehreren Teilen zusammengesetzte, handtierbare Größe zu haben ist. Das Ringen um den Begriff der Ortseigenheit/Ver-Ortung endet nicht mit den Formulierungen und Definitionen des Gottesdienstbuches, der Begriff bleibt umstritten. Jan Terje Christoffersen nähert sich dem Begriff auf dem Hintergrund eigener Gottesdiensterfahrung und über den Begriff der Kontextualität. Auf wenigen Seiten behandelt er eine Vielzahl von Themen und Entwicklungen, klärt die Begriffe Ordo, Aggiornamento und ad fontes im Rahmen der liturgischen Bewegung, setzt die normierende (und konservierende) Kraft der Gottesdienstordnungen von 1889 und 1977 dagegen und referiert die Reformarbeit von 2003 an, bevor er zur Frage nach dem Kontext zurückkehrt.100 Für die vorliegende Studie erscheint es erhellend, Christoffersens Betonung des Kontextes als Gewebe und der Körperlichkeit als Ort der essenziellen und ästhetischen Möglichkeit der Wiedererkennung aufzugreifen. Von Geir Afdal übernimmt Christoffersen die Unterscheidung zwischen Kontext als Umgebung, der „substanzielle Inhalt nimmt seiner Umgebung nach Form an, verbleibt aber seinem Wesen nach gleich“101, Kontext als Praxis, „religiöser Sinn wird durch Handlung gebildet“102, und drittens Kontext als Gewebe, dieser berücksichtigt, dass wir alle gleichzeitig in eine Reihe verschiedener Kontexte eingehen und diese zusammenhalten. Der Kontext […] hat sowohl kognitive wie af99 Kirker det, Gudstjeneste for Den norske kirke, 7.6. 100 Vgl. Christoffersen, Jan Terje, P hvert et sted. Inn til kjernen av gudstjenestereformen, in: Tidsskrift for praktisk teologi 31 (2014), 4–15, 5–11. 101 Christoffersen, P hvert et sted, 11. 102 Christoffersen, P hvert et sted, 11.

Die zentralen methodischen Begriffe

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fektive Aspekte. Der Sinn des Gottesdienstes wird in jedem Einzelnen/jeder Einzelnen zusammengeflochten und stellt sich mehr als ein Potenzial der Praxis dar, an der wir teilnehmen, denn als etwas, das sich formulieren lässt, bevor es sich ereignet.103

Behandelt das Gottesdienstbuch die Spannung zwischen Evangelium und dem Ort,104 so gibt es aber keine „Anleitung/Beratung, um innerhalb der eigentlichen Ordnung zwischen den verschiedenen kontextuellen und strukturellen Niveaus zu sondieren“105. Das aber muss geleistet werden. Es ist gerade die kulturkontextuelle Seite, die „[…] auf die Erfahrungen, die wir körperlich mit uns tragen [aufmerksam]“106 macht. In der engen Verbindung von CAVII und Ordotheologie wird verkannt, dass die Gemeinschaft nicht von ,systematischtheologischen Prinzipien‘ lebt, sondern „sich in unseren Körpern etablieren“107 muss. Sollen Körper zusammenklingen, so Christoffersens Folgerung, muss die Musik den Gottesdiensten der Kirche gemeinsam sein, es hängt davon das Sein als Volkskirche, im Sinne und mit dem Ziel ,maximaler Beteiligung‘, ab.108 Mit diesem Ziel und der Betonung, dass Teilnahme am und Sinn des Gottesdienstes von der Beherrschung desselben abhängen, sieht es aus, als ob Christoffersen das Potenzial seiner eigenen Annäherungen und Überlegungen unterlaufe. Denn bei allen offen Fragen zum weiteren Vorgehen und der Forderung nach Rekontextualisierung, scheint er schlussendlich doch einer Stärkung und Vereinheitlichung der als essenziell angenommenen Elemente, darunter der liturgischen Musik, das Wort zu reden.109 Ein Insistieren auf dem Kontext als Gewebe und der zwangsläufig körperlichen Wahrnehmung des Gottesdienstes hätte vielleicht andere Aspekte ans Licht treten lassen können. Eine Vereinfachung und Abkürzung, wie Christoffersen sie hier vornimmt, dient jedenfalls dem Begriff der Ortseigenheit/Ver-Ortung nicht. Im Rahmen des Projekts Liturgie in Bewegung wird einleitend festgestellt, dass „mehrere Informanten/Informantinnen behaupten, dass Flexibilität und Ver-Ortung auf Kosten der liturgischen Wiedererkennung gehen“110, es „scheint der Begriff zu sein, der am schwierigsten zu fassen war“111. Dieser Fund soll nicht bezweifelt werden, gleichzeitig stellt sich die Frage, 103 104 105 106 107 108 109

Christoffersen, P hvert et sted, 11. Vgl. Kirker det, Gudstjeneste for Den norske kirke, 7.6. Christoffersen, P hvert et sted, 12. Christoffersen, P hvert et sted, 12. Christoffersen, P hvert et sted, 13. Vgl. Christoffersen, P hvert et sted, 13 f. Vgl. Christoffersen, P hvert et sted, 14. In einer gewagt vereinfachenden Definition schreibt Christoffersen: „Ein Gottesdienst ist in erster Linie eine Sammlung ritueller Praktiken und Sinn wird durch Vertrautheit mit diesen etabliert.“ In Christoffersen, P hvert et sted, 14. 110 Botvar, P l Ketil/Mosdøl, Hallvard Olavson, Noe falt i god jord. Den norske kirkes gudstjenestereform sett fra menighetsniv , KIFO Rapport 2014:2, Oslo 2014, 6. 111 Botvar/Mosdøl, Noe falt i god jord, 47.

204 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form ob nicht das Projekt aufs Ganze gesehen, in seiner methodologischen Einrichtung, dieser Erkenntnis die Bahn bricht, eben dadurch, dass das empirische Material, und damit der Begriff der Ortseigenheit/Ver-Ortung, konsequent mittels des Dualismus von ,Volkskirche‘ und ,Glaubensgemeinschaft‘ angegangen und interpretiert wird.112 Im Projekt wird die Diskussion um die Wiedererkennung gerade an der Musik im Gottesdienst festgemacht. Anne Haugland Balsnes untersucht in ihrer Fallstudie welche liturgische Musik in den Gemeinden gewählt wurde und welche Motivationen für die Auswahl angeführt werden. Ihr Einfallswinkel ist das Gegenüber von ,Volkskirche‘ und ,Glaubensgemeinschaft‘, mittels dieser Größen sortiert sie das quantitative Material des Rapports. Sie wendet sich dann dem qualitativen Material zu, unterstreicht aber, dass die Gemeinden, bei aller internen Vielstimmigkeit, als Typologien zu verstehen sind. Letztlich behandelt sie die verschiedenen Gemeinden und die in diesen Gemeinden geführten Interviews summierend. So gelingt es ihr nicht, mit den Gemeinden, den in ihr Handelnden und deren Motivationen bekannt zu werden, es werden zu sehr Stichworte, die sich am eingangs genannten Dualismus orientieren, abgearbeitet.113 Die Beschäftigung mit dem Ort bleibt ebenfalls kurz: In den Interviews wird deutlich, dass dieser sogenannte zentrale Begriff [der Ortseigenheit/Ver-Ortung] problematisch war, es war schwierig, sich diesem gegenüber zu verhalten. Was ist der Ort? Die Gemeinde, die Stadt/das Dorf, die Region, Norwegen?114

Zum Schluss hin wird die Frage nach dem Ort wieder an die Frage nach Wiedererkennung gekoppelt, in Richtung Involvierung hin ausgemünzt und endet in der Frage nach Einheit und dem Gemeinkirchlichen.115 Die Schwierigkeit, den Begriff der Ortseigenheit/Ver-Ortung zu fassen, scheint also nicht allein im empirischen Material zu liegen, sondern, vielleicht sogar vielmehr, in der Annäherung an diesen Begriff, die von vornherein kategorisiert und damit einengt, die Wahrnehmung einschränkt und es verunmöglicht, (unerwartete) Überschüsse des Begriffs anzunehmen. Deutlich wird dies meines Erachtens an Solveig Christensens Text, der die Frage nach der Ausbildung und der Profession von Kirchenmusikerinnen und 112 Vgl. Botvar/Mosdøl, Noe falt i god jord,11 f. Hier findet sich, unter Rückgriff auf Olaf Aagedal, eine Ausweitung auf drei Gruppen, die Ritual- und Volkskirchengemeinde, die Gottesdienstund Abendmahlsgemeinde und die Arrangements- und Aktivitätsgemeinde. 113 Vgl. Balsnes, Anne Haugland, Musikk for menigmann? Liturgisk musikk i spenningen mellom folkekirke og trosfellesskap, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 190–209, 190–195. 114 Balsnes, Musikk for menigmann?, 197. 115 Vgl. Balsnes, Musikk for menigmann?, 198 ff.206 f.

Die zentralen methodischen Begriffe

205

Kirchenmusikern behandelt und in diesem Zusammenhang auf die Frage nach der Ortseigenheit/Ver-Ortung zu sprechen kommt: Ortseigenheit ist ein konstruiertes Wort. […] Aber wenn wir das Wort ein wenig herumdrehen, verstehen wir, was gemeint ist. Es ist das, was etwas zu dem ,Eigenen‘ des Ortes macht. Es ist die Signatur der lokalen Gemeinde. Der Gewinn der Ortseigenheit soll Wiedererkennung sein. Mittels Wiedererkennung soll man das Ziel der erhöhten Teilnahme erreichen. Aber was ist das Ortseigene in einer Gemeinde im inneren östlichen Zentrum von Oslo, wo die Fluktuation der Menschen so groß ist, dass die, die getauft werden, es selten schaffen das 4-Jahres-Buch zu bekommen, bevor sie umgezogen sind, und weit weniger, dass sie dort konfirmiert werden? Um gar nicht von der Beerdigung zu reden, weil alle die Adresse gewechselt haben, bevor sie vierzig geworden sind? Alle Großstadtgemeinden treffen in größerem oder kleinerem Ausmaß auf solche Herausforderungen, wie auch das empirische Material zeigt. Ver-Ortung als zentraler Wert für die Reform ist für viele Gemeinden nicht reell. Die zentralen Begriffe der Reform referieren auf die Geografie der lokalen Gemeinde, nicht auf deren Demografie. […] Die Vielfalt der Großstadtgemeinden repräsentiert in vielerlei Hinsicht ein Norwegen in Miniatur, weil es ein Ort ist, wo man im Leben auf Durchreise ist. Stellt man sich nicht selbst ein Bein, wenn man in diesen Gemeinden lokal denkt? Der Kirchenmusiker/die Kirchenmusikerin wird zum lokalen Joker, der die Demografie der lokalen Gemeinde kurzfristig zufriedenstellen soll, gleichzeitig damit, dass er/sie sowohl neue als auch traditionelle kirchenmusikalische Werte in der nationalen Institution, in der Norwegischen Kirche […] verwalten soll.116

Schade, dass die hier implizit angesprochenen Fragen und Herausforderungen einfach vom Tisch gewischt werden. – In meiner eigenen Studie will ich sie produktiv wenden und aufgreifen.

6.3.4 Wiedererkennung – ein vierter zentraler Begriff ? Der Begriff der Wiedererkennung hat die Reform des gottesdienstlichen Lebens von Anfang an begleitet, verändert aber im Laufe des Reformprozesses seine inhaltliche Ausrichtung und seine Stoßrichtung. Die Jugendgeneralsynode 2003 lehnt die Wiedererkennung stark an die Struktur und an die Unzugänglichkeit der geltenden Ordnung an:

116 Christensen, Solveig, Gammel profesjon søker ny legitimitet, in: Balsnes, Anne Haugland/ Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 249–265, 257.

206 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form Wir wünschen, eine Grundstruktur zu behalten, sodass eine Wiedererkennung des Verlaufes des Gottesdienstes gegeben ist. Wir sehen Wiedererkennung als einen wichtigen sicherheitsschaffenden und inkludierenden Faktor.117

Finn Wagle folgt in seiner Rede vor der Generalsynode 2003 dieser Linie: Wir sehen vor uns eine Ordnung des Hauptgottesdienstes, die weniger regelgesteuert als die heutige Ordnung ist. Dies bedeutet: Mehr Raum für und größeres Gewicht auf die lokale, schöpferische Gottesdienstarbeit. […] Aber gleichzeitig feste Elemente, die den Gottesdienst wiedererkennbar machen […].118

Der Kirchenrat nimmt im März 2004 den Faden wieder auf, wie oben gesehen stellt ge Haaviks vorbereitendes Dokument in Teilen eine Variation und Zitat der Rede Wagles dar. Es wird aber darüber hinaus eine beginnende Problematisierung des Wiedererkennungsbegriffs deutlich: Die Herausforderung wird sein, zu versuchen, die Wünsche nach Wiedererkennbarkeit und Sicherheit in einer festen Form auf der einen Seite mit Flexibilität und Variation in einer offenen Form auf der anderen Seite zu kombinieren.119

Der Ausschuss für Gottesdienstliches Leben beschäftigt sich auf seiner ersten Sitzung mit der Frage nach Wiedererkennung, argumentiert im Sinne Haaviks, führt aber dann aus: Die Einheitskultur ist verschwunden. Der Gottesdienst muss von verschiedenen Menschen an verschiedenen Orten gefärbt und geprägt werden. Dann kann er nicht überall gleich sein. Gleichzeitig ist es eine grundlegende Voraussetzung, dass alle Teilnehmenden eine Sicherheit in der dramatischen Struktur haben.120

Dabei aber wird in der Wiedererkennung anderes gesehen als ein Wiedererkennen von bekannten Texten oder Melodien: „Wenn wir Wiedererkennung als Wert hochhalten, muss dies auch bedeuten, sein eigenes Leben wiedererkennen zu können – im Gottesdienst.“121 Im Reformprozess ist es gerade die Idee der Wiedererkennung des eigenen Lebens, die sich Bahn bricht. In den, vom Ausschuss für Gottesdienstliches Leben erarbeiteten und vom Kirchenrat angenommenen, Visionen für das 117 Zitiert nach „Reform des Hauptgottesdienstes“, Aktenzeichen KR 10/04 Anlage 1: „Was für einen Gottesdienst wünschen wir?“, Aktenzeichen UKM 05/03. 118 Wagle, Finn, Høymesse under endring. Innledning til samtale om reform av høymessen. Kirkemøtet 19. 11. 2003, 2. 119 Zitiert nach „Reform des Hauptgottesdienstes“, Aktenzeichen KR 10/04. 120 Zitiert nach Nemnd for gudstjenesteliv. Protokoll 1, vedlegg 1. Vgl. „Präsentation und offene Runde mit Erfahrungen und Erwartungen“, Aktenzeichen NFG 02/04; „Momente für ein Visionsdokument an den Kirchenrat“, Aktenzeichen NFG 06/04. 121 Zitiert nach Nemnd for gudstjenesteliv. Protokoll 1, vedlegg 1.

Die zentralen methodischen Begriffe

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gottesdienstliche Leben heißt es in Vision 7: „Wir wünschen einen Gottesdienst, in dem alle in der Gemeinde ihr Leben wiedererkennen.“122 Im Dokument zur Anhörung des Liturgievorschlages von 2008 wird dies explizit aufgegriffen, in Formulierungen, die durchaus an Wagles Rede vor der Generalsynode 2003 erinnern. Die Kritik am verordneten Hauptgottesdienst ist demnach getragen und motiviert aus einer Sehnsucht [heraus], […] das eigene Leben im Gottesdienst wiederzuerkennen; sein eigenes Verständnis von Leben, seine eigene Kultur, Umgangsform, Musikstil, dass der Gottesdienst nicht etwas Fremdes wird, etwas, das nicht berührt.123

Gerade der ausdrückliche Wunsch nach Wiedererkennung des eigenen Lebens ist Ausgangspunkt für Merete Thomassens Nachdenken über Wiedererkennung als Kriterium liturgischer Reformarbeit. Ihrer Meinung nach stellt sich die Frage: „Wer soll sich wiedererkennen?“124 – Diese Frage stellt sich auf dem Hintergrund der liturgischen Theologie, denn diese „setzt voraus, dass der Gottesdienst ein Ort der Begegnung von zwei Subjekten ist: Gott und Gemeinde“125; keine dieser beiden Größen ist im Singular zu haben. Ist aber die Gemeinde ein kollektives Subjekt, wie geht dies mit einer Wiedererkennung zusammen, die im Individuum angesiedelt ist, wie geht dies mit einem Verständnis des autonomen Subjekts zusammen? Herausfordernd ist, dass das Subjekt, das in Moderne und Spätmoderne „zur endgültigen Instanz zur Legitimierung von Wahrheit wird“126, nicht nur dem Druck durch Authentizität, in ihrem Begriff: durch Selbstreferenz, ausgesetzt ist, sondern auch dem Druck der Dezentrierung und Dekonstruktion. Vor diesem Hintergrund fragt sie weiter: Wiedererkennung ist eine gute Sache, in dem Sinne, dass sie ein glaubwürdiges Bild vom Leben, von den Menschen und von Gott zeichnet, sodass es möglich ist, das, was man selbst mit sich trägt, in ein offenes, kollektives liturgisches Subjekt zu inkludieren. Aber das Problem mit dem Kriterium der Wiedererkennung ist, dass es unklar ist, ob das individuelle oder das kollektive Subjekt gespiegelt werden soll.127 122 Zitiert nach „Reform des gottesdienstlichen Lebens – Visionsdokument“, Aktenzeichen KR 48/ 04. 123 Kirker det (Hg.), Reform av kirkens gudstjenesteliv. Orientering om høringsdokumentene. Ny ordning for hovedgudstjeneste i Den norske kirke. Ny tekstbok i Den norske kirke. Ny norsk salmebok. Høringsbrev, Bergen 2008, 13 f. 124 Thomassen, Merete, Gudstjenesten som speiling av det individuelle eller kollektive subjekt? Om gjenkjennelseskritieriet i liturgisk reformarbeid, in KiKul 113 (2008), 522–533, 523. 125 Thomassen, Gudstjenesten som speiling av det individuelle eller kollektive subjekt?, 523. Ihre daraus folgende Problemanzeige lautet: „Die liturgische Theologie setzt voraus, dass das liturgische Subjekt kollektiv ist. Die Erfahrungen müssen daher das Kollektiv spiegeln. Aber das Kriterium der Wiedererkennung in der liturgischen Reformarbeit zielt oft auf die Erfahrungen des Individuums ab.“ In Thomassen, Gudstjenesten som speiling av det individuelle eller kollektive subjekt?, 523. 126 Thomassen, Gudstjenesten som speiling av det individuelle eller kollektive subjekt?, 524. 127 Thomassen, Gudstjenesten som speiling av det individuelle eller kollektive subjekt?, 529.

208 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form Die Gefahr der Reformarbeit ist das ,geschlossene Wir‘: Das Subjekt wird zu konkret definiert, sodass es nur zu einer Spiegelung der Individuen kommt, die sich ganz in dem, was gesagt wird, wiedererkennen können.128

Ihr Ansatz greift, es ist angeklungen, den Begriff der Spiegelung auf, diesen prägt Thomassen wie folgt aus: Gespiegelt zu werden ist von außen gesehen zu werden, sodass wir sowohl anerkannt als auch herausgefordert werden. […] Gesehen zu werden und anerkannt, aber auch herausgefordert zu werden, ist die einzig adäquate Weise gesehen zu werden. Letztlich handelt dies davon geliebt zu werden; von der bedingungslosen Liebe, die sowohl unserem Stolz als auch unserer Scham Raum geben kann. […] Desto wichtiger ist es, dass die liturgische Reformarbeit nicht den narzisstischen Bedarf nach individualistischer Sichtbarkeit und Selbstreferenz als Kriterium der Gültigkeit unterstützt. Das Evangelium handelt davon, adäquat gespiegelt zu werden. Das Subjekt, das gespiegelt wird, ist größer als das Individuum. Gott lässt sein Angesicht über uns leuchten und ist uns gnädig. Sie erhebt ihr Angesicht auf uns und gibt uns Frieden. Dies ist die tiefste Spiegelung. Letztlich handelt es daher davon, sich für etwas zu öffnen, das größer ist als wir selbst.129

Thomassens Lösungsvorschlag und seine Prämissen können nicht eingehender diskutiert werden. Es ist an dieser Stelle festzuhalten, dass im Laufe der weiteren Reformarbeit zunächst der Wiedererkennungsbegriff, wie er vom Ausschuss für Gottesdienstliches Leben und in den Visionen formuliert wurde, mehr oder weniger intakt beibehalten wird. Dann aber wendet sich das Blatt. In der Evaluation und in der weiteren Diskussion setzt sich ein sehr viel einfacherer Wiedererkennungsbegriff durch, der augenscheinlich auf das große und offene ,Wir‘ (,Volkskirche‘) fokussiert, aber in seiner Ausrichtung letztlich ganz und gar auf den und die Einzelne abzielt. Wiedererkennung ist schließlich nur das, was die und der Einzelne – aus früheren Gottesdiensterfahrungen oder aus früher Erlerntem – wiedererkennt. Der Begriff wird selbstreferenziell und das ,Wir‘ wird geschlossen. In der Auswertung der Anhörung tritt die Idee der Balancierung der zentralen Begriffe deutlich hervor, im vorbereitenden Dokument zur Generalsynode 2010 hält Sindre Eide an der Idee der Wiedererkennung des eigenen Lebens und an einer inneren Hierarchisierung der zentralen Begriffe fest, zielt aber gleichzeitig auf eine äußere Balancierung ab.130 Diese Balancierung, mit dem Ziel der Wiedererkennung, wird kirchentheoretisch gefüllt und definiert, zum Beispiel in der schon erwähnten Antwort auf die Anhörung, die Hans Arne Akerø mitverantwortet hat: 128 Thomassen, Gudstjenesten som speiling av det individuelle eller kollektive subjekt?, 530. 129 Thomassen, Gudstjenesten som speiling av det individuelle eller kollektive subjekt?, 531. 130 Vgl. „Gottesdienstreform – Der Hauptgottesdienst“, Aktenzeichen KM 04.1/10.

Die zentralen methodischen Begriffe

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Der Gedanke der Norwegischen Kirche als Volkskirche wird geschwächt, wenn das Ortseigene zu weit getrieben wird. Es muss weiterhin etwas Wiedererkennbares auffindbar sein, für Menschen, die umziehen oder sich kurzzeitig an neuen Orten aufhalten.131

Dieses Moment wird die kommende Diskussion und Evaluation in weiten Teilen beherrschen. Im Gottesdienstbuch tauchen beide Aspekte nebeneinander auf. Im grundlegenden Kapitel zum Gottesdienst wird die Wiedererkennung des eigenen Lebens unterstrichen, in der Behandlung der zentralen methodischen Begriffe wird die Struktur als regulierendes Element stark gemacht.132 Aber weder diese Balancierung der Begriffe durch die Struktur noch das Insistieren des Kirchenrates – Wenn der Ordo-Gedanke der Gottesdienstreform sowohl den Gedankengang als auch die Praxis durchsäuert, wird dieser ein gottesdienstliches Leben mit tiefen Wurzeln in einer alten und gemeinkirchlichen Tradition sichern können. Diese Tradition kann die Freiheit zur lokalen Ausformung […] mit dem für den Einzelnen/die Einzelne zur aktiven Teilnahme notwendigen Grad der Wiedererkennung kombinieren.133

– können die Kritik mindern oder abfedern. Das schon oben aufgegriffene Projekt Liturgie in Bewegung lässt sich in seiner Annäherung vom Gegenüber und Miteinander der Größen ,Volkskirche‘ und ,Glaubensgemeinschaft‘ leiten, wobei der Aspekt der Wiedererkennung gerade auf die Größe der ,Volkskirche‘ hin angeschärft wird. Ihre Analyse der Vorschläge zur liturgischen Musik von 2011 beschließt Karin Nelson verlockend kurz: Die Gottesdienstbesuchenden sollten von einem bindenden Ritual und bindender Musik, unabhängig davon, welche Kirche im Land sie besuchen, empfangen werden.134

Anne Haugland Balsnes nimmt, wie oben gesehen, in ihrem Text ebenfalls Ausgangspunkt in der Musik und einer Typologisierung der Gemeinden anhand der Größen ,Volkskirche‘ und ,Glaubensgemeinschaft‘. Sie knüpft dabei die volkskirchliche Gemeinde eng an den Begriff der Wiedererkennung. Der Wunsch nach Wiedererkennung ist das Argument, das alle Gottesdienstausschüsse als Motivation zur Auswahl der liturgischen Musik nennen, gleich131 Presteforeningens høringsuttalelse om Forslag til ordning for hovedgudstjenesten, 15. 9. 2009, 3. 132 Kirker det (Hg.), Gudstjeneste for Den norske kirke, Stavanger 2011, 6.5.7.7. 133 Zitiert nach „Status der Gottesdienstreform“, Aktenzeichen KR 32/13. 134 Nelson, Karin, Ny liturgisk musikk for Den norske kirke – tekstrelatert, sangbar og slitesterk, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 98–115, 112.

210 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form zeitig wird die Freude über die Möglichkeit, eine eigene Musikauswahl zu treffen, beinahe ausschließlich auf der Seite der als glaubensgemeinschaftlich geprägten Gemeinden gefunden.135 In seinem Nachwort ist Wagle in ähnlicher Richtung unterwegs: Ist die Flexibilität zu weit geführt worden? Ich bin geneigt darauf mit Ja zu antworten. Die meisten der alternativen Stücke sind ganz richtig eine Bereicherung des lokalen gottesdienstlichen Lebens. […] Aber es sollte kein Zweifel darüber herrschen, was die Gemeinde – überall in unserer ganzen Kirche – antwortet, wenn Gottes Wort verlesen ist.136

Es sind zwei Fragen, die sich aufdrängen. Steht nicht insgeheim der, wenn auch seltene, regelmäßige Besuch hinter dem hier vertretenen Volkskirchen- und Wiedererkennungsbegriff ? Und wird daher nicht allzu schnell das ,offene Wir‘ in ein ,geschlossenes Wir‘ überführt? Denn letztlich geht es um die in der Wiedererkennung eingeschlossene Zustimmung zum Gemeinkirchlichen. Die, die nichts wiedererkennen, die, die genau das, was gelebt, gebetet und gefeiert wird, nicht wiedererkennen wollen, sind vom ,Wir‘ ausgeschlossen. Thomassens Begriff der Spiegelung und der damit verbundene offene Raum, den sie beschreibt, bringt das wichtige Anliegen der kirchlichen Gemeinschaft zur Sprache, ist aber vielleicht in ihrem Verständnis des Subjekts zu schematisch und ebnet mit ihrem Abzielen auf das große ,Wir‘ schon einem ,geschlossenen Wir‘ die Bahn, nicht aufgrund der Konkretion der Subjekte, sondern aufgrund der Idee der Repräsentation, nämlich dann, wenn unklar wird, ob diese Zustimmung einschließt und/oder voraussetzt. Gerade dies ist die Herausforderung des Volkskirchenbegriffs im Projekt Liturgie in Bewegung. Dieser unterläuft, obwohl er scheinbar auf die Wiedererkennung durch Einzelne setzt, die auf dem Hintergrund des eigenen Forschungsinteresses zu betonende Stärkung der Subjektposition, denn Wiedererkennung wird auf Zustimmung reduziert und einseitig positiv gedeutet. Damit wird schlussendlich die ,Glaubensgemeinschaft‘, als Sammlung der Individuen, die wiedererkennen und wiedererkennen wollen, zum Ideal.

135 Vgl. Balsnes, Anne Haugland, Musikk for menigmann? Liturgisk musikk i spenningen mellom folkekirke og trosfellesskap, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 190–209, 203 ff.206.209; Mosdøl, Hallvard Olavson, Strategier for involvering i gudstjenesten. En casestudie av to menigheter, in: Balsnes, Anne Haugland/ Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 155–172. 136 Wagle, Finn, Etterord: … liv fra kilder utenfor oss selv, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 283–293, 288.

Die große – und doch unsichtbare – Rolle der involvierten Subjekte

211

6.4 Die große – und doch unsichtbare – Rolle der involvierten Subjekte Der Einrichtung und dem methodischen Interesse der eigenen Studie gemäß soll noch deutlicher der Frage nach der Rolle der involvierten Subjekte in den Prozessen und im Verlauf der Reform des gottesdienstlichen Lebens nachgegangen werden. Auffällig bleibt, dass, in Folge der Rede Finn Wagles und wie oben gesehen, ge Haavik durchaus einen Ansatzpunkt der Reformarbeit in den Gemeinden ausmacht. Noch einmal sei Haavik zitiert: Eine richtige Behandlung erfordert eine so präzise Diagnose wie möglich. Daher ist es klug auf diese Weise zu beginnen, die schmerzenden Probleme im heutigen Hauptgottesdienst zu finden.137

Diesen Faden nimmt der Ausschuss für Gottesdienstliches Leben auf, es wird gefragt: Wo brennt es denn im heutigen gottesdienstlichen Leben? Was schafft lebendige Gottesdienste in den Gemeinden, auf dem lokalen Niveau? Wir müssen die Orte finden, wo man es hinbekommt, wir müssen fragen: […] Was ist das Rezept?138

Es ist festzustellen, dass diese Spuren nicht systematisch weiterverfolgt wurden, viel mehr als die Rolle der beteiligten und involvierten Subjekte stark zu machen, von unten her zu fragen, wurde im Reformprozess und in dessen Evaluation die subjektive Seite vernachlässigt. Sie wurde entweder nicht gesucht oder unsichtbar gemacht. Kari Veiteberg wird wie folgt zitiert: Wie beschließt und verabschiedest du ein neues Gemälde? Eine Bewegung? Eine Handlung? Wir hofften und meinten, dass in einem solchen Prozess ein Ausprobieren grundsätzlich notwendig war, aber das alles wurde zu Dokumenten und Papieren umgearbeitet, sodass du das studieren und ausstreichen konntest. Da sitzt du dann nicht länger mit einer Liturgie.139

Schon im Reformprozess wurde deutlich, dass die Rolle der Subjekte nicht gesucht wurde. Paul Erik Wirgenes orientiert, dies ist oben angeführt, vor der 137 Zitiert nach „Reform des Hauptgottesdienstes“, Aktenzeichen KR 10/04. 138 Zitiert nach Nemnd for gudstjenesteliv. Protokoll 1, vedlegg 1. Vgl. „Präsentation und offene Runde mit Erfahrungen und Erwartungen“, Aktenzeichen NFG 02/04; „Momente für ein Visionsdokument an den Kirchenrat“, Aktenzeichen NFG 06/04. 139 In Christoffersen, Jan Terje/Hem, Hans Einar, Gudstjenestereformen – tilfeldighetenes spill?, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 46–66, 64.

212 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form Generalsynode 2009 über den Verlauf der Anhörung des Vorschlages von 2008. Er führt einen Anhörungsausschuss an, der die Rückmeldungen auf den Vorschlag bearbeitet. Wer aber in diesem Ausschuss sitzt, wie dieser konstituiert wurde, wie dieser sich zu den Visionen und Ideen des Reformprozesses verhält, wird nicht erwähnt.140 Diese Tendenz der Unsichtbarmachung der involvierten Subjekte setzt sich in der Evaluation durch das Projekt Liturgie in Bewegung fort. Jan Terje Christoffersen behandelt die in den Gottesdienst einführenden Texte des Gottesdienstbuches der Norwegischen Kirche als wichtigste Quelle, um zu sehen, wie die Leitung der Norwegische Kirche denkt, dass die Vision eines erneuerten gottesdienstlichen Lebens verwirklicht werden kann141.

Er setzt voraus, dass es „die Fachabteilung des zentralen Kirchenamtes ist, die in Gemeinschaft für die Texte verantwortlich ist“142. Wer „die einzelnen Texte verfasst hat, wird nicht gewichtet“143. Auffällig ist dies, weil Christoffersen Wagle, Sindre Eide, Hans Arne Akerø und Haavik explizit nennt und Wagle, Veiteberg, Akerø und Haavik im Rahmen des Projekts interviewt wurden.144 Christoffersen weiß, dass die einzelnen Akteure nicht immer einer Meinung waren.145 Daher wäre es meines Erachtens ganz sicher fruchtbar gewesen, diesen Spannungen genauer nachzugehen – so wie es ganz grundsätzlich Interesse erregt, dass die Jugendgeneralsynode einen erneuerten Gottesdienst wünscht und dieser neue Gottesdienst an entscheidender Stelle von Männern jenseits der fünfzig konzipiert und vorangetrieben wurde. 140 Vgl. „Gottesdienstreform“, Aktenzeichen KM 3.1/09. Unklarheiten über die Art und Weise des Vorgehens werden früh artikuliert, auch steht immer wieder die Frage im Raum, ob die Arbeitsweise und Organisation den Visionen und Ausgangspunkten des Reformprozesses entspricht. Vgl. „Die Unterausschüsse des Reformausschusses für das Gottesdienstleben der Kirche“, Aktenzeichen RKG 11/04; „Ausschuss für Gottesdienstliches Leben und Unterausschüsse, Verhältnis zwischen Ausschuss, dem zentralen Kirchenamt und dem Kirchenrat“, Aktenzeichen NFG 11/05. 141 Christoffersen, Jan Terje, Sammen for Guds ansikt. Gudstjenestereform mellom visjon og virkelighet, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 24–45, 26. 142 Christoffersen, Sammen for Guds ansikt, 34. 143 Christoffersen, Sammen for Guds ansikt, 35. 144 Vgl. Christoffersen, Sammen for Guds ansikt, 34, Fußnote 35; Christoffersen, Jan Terje/Hem, Hans Einar, Gudstjenestereformen – tilfeldighetenes spill?, in: Balsnes, Anne Haugland/ Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 46–66, 46. 145 Vgl. „Die zentralen Begriffe der Gottesdiensreform“, Aktenzeichen NFG 40/06; „Die zentralen Begriffe des Gottesdienstes“, Aktenzeichen NFG 5/07; Christoffersen, Jan Terje, P hvert et sted. Inn til kjernen av gudstjenestereformen, in: Tidsskrift for praktisk teologi 31 (2014), 4–15, 8 f.

Die große – und doch unsichtbare – Rolle der involvierten Subjekte

213

Die Rolle Wagles im Reformprozess wird im Projekt Liturgie in Bewegung gesehen, wird unterstrichen, so steuert Wagle auch das Nachwort bei – und entgeht gleichzeitig in dem gesamten Band jedweder Kritik und übt in seinem Nachwort auch keine substanzielle Selbstkritik. Christoffersen und Hans Einar Hem charakterisieren die Reform als ,Zufallsspiel‘, nähern sich der Reform organisationstheoretisch unter der Annahme, dass die Beschlüsse, die in unterschiedlichen Stadien des Reformprozesses gefasst wurden, nicht nur von den Visionen und Zielvereinbarungen, die hinter den Änderungsvorschlägen standen, gefärbt wurden, sondern in gleichem Maße von den organisationsmäßigen Bedingungen146.

Die grundlegende Veränderung in der Kirche, die sie beobachten, beschreiben sie wie folgt: Die Norwegische Kirche hat ihren Charakter verändert, weg von einer Staatsinstitution, mit eben den organisatorischen Merkmalen der Staatsmacht, hin zu einer gemeinsamen Arena mit weit größerem Spielraum für einzelne Akteure.147

Christoffersen und Hem bedienen sich eines dreigliedrigen organisationstheoretischen Modells, das erstens die rationale Perspektive (Mittel–Zweck–Logik) betont, das zweitens die Kirche als Organisation sieht, die sich zur Institution (die Norwegische Kirche als Staatskirche) weiter entwickelt, und das drittens von einer Organisation ausgeht, die aus lose miteinander verbundenen Teilsystemen besteht; ihrer Meinung nach die aktuelle Norwegische Kirche.148 Hier halten sie fest, dass es innerhalb eines solchen Modells ganz oft doch zufällig ist, wer sich mit wem trifft und was passiert, wenn aber eine genügend große Anzahl Mitglieder zusammentrifft, die gleichzeitig die notwendige Kraft hinter einem Vorschlag mobilisieren, dann wird ein Beschluss gefasst149.

Mit Blick auf die Reform des gottesdienstlichen Lebens konstatieren sie: Einige zentrale Personen haben einen bedeutenden Einfluss auf das endgültige Resultat gehabt. Wir sind nicht der Auffassung, dass dies aufgrund zufälliger Einzelheiten so gekommen ist. Die Zufälle sind strukturell bedingt […].150

Ohne Frage, einige Personen haben großen Einfluss ausgeübt, Wagles Rede vor der Generalsynode wirkt aber durchgeplanter, als dass sie sich allein dem 146 147 148 149 150

Christoffersen/Hem, Gudstjenestereformen – tilfeldighetenes spill?, 46. Christoffersen/Hem, Gudstjenestereformen – tilfeldighetenes spill?, 55. Vgl. Christoffersen/Hem, Gudstjenestereformen – tilfeldighetenes spill?, 56 f. Christoffersen/Hem, Gudstjenestereformen – tilfeldighetenes spill?, 57 f. Christoffersen/Hem, Gudstjenestereformen – tilfeldighetenes spill?, 64.

214 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form strukturellen Zufall verdankt. Mir scheint das subjektive Moment, auch in seinen kirchentheoretischen Konsequenzen, zu wenig beachtet. Der Handlungsraum für Wagle stand wohl nicht nur offen, weil sich die organisationsmäßigen Verhältnisse in der Norwegischen Kirche verändert haben.151 Christoffersen und Hem referieren einen Spaziergang, Wagle und Haavik gehen im September 2003, der Kirchenrat tagt und diskutiert die Beschlüsse der Jugendgeneralsynode 2003, am Morgen spazieren, beratschlagen das weitere Vorgehen. Sie einigen sich darauf, eine Gottesdienstreform anzugehen – und Christoffersen und Hem deuten dies als Bestätigung dafür, dass der Zufall der Organisation mehr als früher zu eigen ist.152 Ein blitzlichtartiger Rückgriff auf einen Beitrag aus der deutschsprachigen Ekklesiologie soll zu kontrastiver Klärung beitragen. Auch Jan Hermelink ist deutlich darin, dass ein Begriff der Organisation, der zwar nicht auf formale Rationalität, Effizienz und Zielorientierung, aber doch auf ein geschlossenes System von Entscheidungsvollzügen abhebt, […] die gegenwärtige Realität von Großorganisationen offenbar noch unzureichend [beschreibt]. Als Summar der systematischen Organisationsforschung hat A. Nassehi darum gelegentlich eine Begriffslage skizziert, der zufolge sich in der ,Organisation‘ formale, rekursive Entscheidungsstrukturen und informelle Kommunikationsvollzüge wechselseitig bedingen und bestärken.153

Das Zusammenspiel von formalen Strukturen, Lobbyarbeit, Treffen, Gesprächen, formulierten Visionen und Zielen ist wohl enger und tiefer als von Christoffersen und Hem angenommen. Hinzu kommt, dass ihr dreigliedriges Schema zu unbeweglich angewendet wird, Kirche ist nicht entweder das eine,

151 Es fallen mir zwei Situationen ein, in denen sich der damalige Osloer Bischof Gunnar St lsett Handlungsraum geschaffen hat, gerade dort wo die Ordnung der Kirche keinen Handlungsraum vorsah. Im Januar 2001 wird der 15 Jahre alte Benjamin L. Hermansen in der Osloer Vorstadt Holmlia ermordet, viele sprechen vom ersten rassistisch motivierten Mord in Norwegen. Weder Hermansen noch seine Mutter gehörten der Kirche an, St lsett wirkt dennoch bei der Trauerfeier in der Kirche Holmlia mit. Am 25. August 2001 traut St lsett Kronprinz Haakon Magnus und Mette Marit Tjessem Høiby in der Osloer Domkirche. Und er verändert die vorgeschriebene, auch für ihn verbindliche, Liturgie. 152 Vgl. Christoffersen/Hem, Gudstjenestereformen – tilfeldighetenes spill?, 52. Die Bedeutung von informellen Gesprächen will auch der damalige Vorsitzende des Kirchenrates, Thor Bjarne Bore, unterstrichen wissen: „Etwas später im Jahr [2003] hatte der Kirchenrat eine Sitzung in Hedalen. Im Minibus saßen wir und sprachen zusammen, Bischof Finn Wagle, der Direktor des Kirchenrates, Erling Pettersen, und der Unterzeichnende (Vorsitzender des Kirchenrates), und wir kamen auf den Beschluss der Jugendgeneralsynode zu sprechen. ,Jetzt muss gehandelt werden!‘ war die einstimmige Konklusion und auf der nächsten Sitzung im Rat 2003 fassten wir den Beschluss, eine Gottesdienstreform anzugehen.“ In http://blogg.aftenbladet.no/boreblog gen/kirkem%C3 %B8tet-reform-viktig-men-ikke-viktigst/ (abgerufen am 30. 10. 2017). 153 Hermelink, Jan, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens. Eine praktischtheologische Theorie der evangelischen Kirche, Gütersloh 2011, 95.

Kurze Zwischenbilanz

215

das andere oder das dritte, sondern immer, und doch nicht gleichzeitig, alles.154 Daher scheint ihre Idee, dass einigen Konsequenzen der Zufälle, die sich aus den fließenden Organisationsstrukturen ergeben, begegnet werden kann, indem einige der institutionellen Merkmale, die die Norwegische Kirche als Staatskirche prägten, weitergeführt werden155,

letztlich und in ihrer Konsequenz den Charakter der Kirche zu verdecken. Dies trüge weiter dazu bei, die Rolle der involvierten Subjekte unsichtbar zu machen und zu schwächen und damit als nicht kritisierbar darzustellen.156

6.5 Kurze Zwischenbilanz Das Erkenntnisinteresse des vorliegenden Projekts hat seinen Ausgangspunkt auf der Ebene der Subjekte. Die vorliegende Studie hat sich zum Ziel gesetzt, eine alltagsnahe Rezeption der Reform des gottesdienstlichen Lebens anzugehen, eine offene Annäherung an die Reform zu verfolgen. Dabei steht eine Verlangsamung von Selbstverständlichkeiten mit dem Ziel des genauen Wahrnehmens an zentraler Stelle. Diese Aspekte dürfen im Folgenden nicht verspielt werden. Vielmehr gilt es kurz innezuhalten und die schon in der Reform und im Reformprozess gelegten Spuren kenntlich zu machen, zu unterstreichen und aufzunehmen. Ausgangspunkt für Finn Wagle ist die Idee eines offenen Prozesses, der die Gemeindeebene nicht aus den Augen verliert. ge Haavik schlägt vor den Prozess von unten her, von den schmerzenden Problemen her, zu beginnen. Der Kirchenrat beschließt auf dieser Linie, den Reformprozess als offenen und erfahrungsbasierten Prozess zu verstehen. Die Erprobung von liturgischem Material in ausgewählten Gemeinden und die breite Anhörung des Vorschlages von 2008 sind Versuche und Ansätze, die intendierte Offen- und Erfahrungsbezogenheit durchzuhalten. Vieles verläuft 154 Vgl. Christoffersen/Hem, Gudstjenestereformen – tilfeldighetenes spill?, 56 f. 155 Christoffersen/Hem, Gudstjenestereformen – tilfeldighetenes spill?, 64. 156 Im Ganzen liest sich der Text eher als ekklesiologisches Programm, das einem Einfluss der Subjekte in der Kirche kritisch gegenübersteht. Unter Berufung auf Akerø schreiben sie: „Akerø illustriert die Unvorhersehbarkeit der Sachbearbeitung damit, dass die Textvariante ,Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd’ der Welt‘ (Präsens) auf der Generalsynode 2011 mit einer Stimme Mehrheit beschlossen wurde. […] Der Beschluss trug den Charakter einer Dogmatik durch Handzeichen.“ In Christoffersen/Hem, Gudstjenestereformen – tilfeldighetenes spill?, 55. Die Frage, was denn eine Alternative zu diesem Vorgehen sein könnte, wird gar nicht erst gestellt.

216 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form aber, sicherlich auch aufgrund von Zeitmangel, im Sand – die Verwaltungsebene übernimmt den Prozess, die Subjekte werden unsichtbar (gemacht). Und doch: Es bleibt dabei, dass der Gemeinde größere Befugnisse eine lokale Grundordnung betreffend eingeräumt werden und die Forderung nach Involvierung in den Allgemeinen Bestimmungen des norwegischen Gottesdienstbuches festgeschrieben wird. In der Evaluation durch das Projekt Liturgie in Bewegung dominiert, obwohl auch auf Fallstudien gesetzt wird, eine schematisch-objektivierende Annäherung von oben. Stichwortartig kann dies an den Größen ,Glaubensgemeinschaft‘ und ,Volkskirche‘, die als analytische Begriffe fungieren, festgemacht werden. Der Ausgangspunkt verbleibt, von der Einleitung an, auf einer beinahe als ,unpersönlich‘ gedachten Leitungsebene. Dagegen sind Jan Terje Christoffersens Ausführungen zu und seine Rezeption von Geir Afdals Überlegungen zum Kontext hervorzuheben.157 Es ist gerade die kurz in Erinnerung gerufene Einrichtung der eigenen Studie, die vermag, sowohl die Öffnungen hin zu einer subjektorientierten Annäherung und Offenheit im Reformprozess und der Evaluation aufzuspüren, wahrzunehmen, als auch zu sehen, wo diese noch nicht weit genug geführt wurde, und sie gerade auf der Ebene der involvierten Subjekte voranzutreiben.

6.6 Kontrastierungen: Das Evangelische Gottesdienstbuch der Evangelischen Kirche in Deutschland Das Evangelische Gottesdienstbuch wird 1999 beschlossen. Es unterscheidet sich ganz grundlegend vom Gottesdienstbuch der Norwegischen Kirche von 2011 dadurch, dass es nicht einer Kirche, sondern mehreren, auch konfessionsverschiedenen, Kirchen gemeinsam ist. Vergleiche in der Entstehungsgeschichte und in den damit verbundenen Diskussionen können also kaum ohne Weiteres angestellt werden und sollen keineswegs im Mittelpunkt stehen. Die folgenden Kontrastierungen zielen auf zwei strukturelle Größen ab, die beide Gottesdienstbücher, auch in ihrem Entstehungsprozess, prägen und die auf vielerlei Weise ein Novum für das Nachdenken über den Gottesdienst und die je situativ zu verantwortende Gottesdienstfeier waren – eine einheitliche 157 Vgl. Christoffersen, Jan Terje, P hvert et sted. Inn til kjernen av gudstjenestereformen, in: Tidsskrift for praktisk teologi 31 (2014), 4–15; Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/ Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson, Innledning. Gudstjenestefornyelse i menighetene, in: Balsnes, Anne Haugland/Christensen, Solveig/Christoffersen, Jan Terje/Mosdøl, Hallvard Olavson (Hg.), Gudstjeneste la carte. Liturgireformen i Den norske kirke, Oslo 2015, 13–23.

Kontrastierungen: Das Evangelische Gottesdienstbuch

217

Grundstruktur und leitende Werte und Kriterien, die die Ausformung und Füllung der Struktur zur jeweiligen Zeit am jeweiligen Ort anleiten sollen.158 Ziel der folgenden Ausführungen sind Flankierung und Kontrastierung, ist der geweitete Blick. Gefragt wird, ob die Beschäftigung mit dem Evangelischen Gottesdienstbuch für Einsichten öffnet, die die norwegischen Diskussionen über Ordo, Struktur und Grundstruktur, über Visionen und zentrale methodische Begriffe in einem nochmals neuen Licht erscheinen lassen. Können auf diese Weise Implikationen für den – von den involvierten Subjekten begangenen und getragenen – Weg zum Gottesdienst vor Ort deutlich gemacht werden? 6.6.1 Struktur und Strukturierung Helmut Schwier rekonstruiert das Entstehen des Evangelischen Gottesdienstbuches von 1999 und er beginnt seine Ausführungen und Analysen mit dem „Strukturpapier“ von 1974.159 Etwa zehn Jahre zuvor hatte Christhard Mahrenholz eine Revisionsarbeit der Agende I der VELKD von 1955 in Angriff genommen und in diesem Zusammenhang zwei Wege vorgeschlagen, zum einen eine vorsichtige Revision der Texte und zum anderen die Ordnungsgestalten der neueren christlichen – also nicht nur der evangelischen – Gottesdienste [zu] sammeln, [zu] klassifizieren und hinsichtlich möglicher Gemeinsamkeiten [zu] überprüfen160.

Frieder Schulz benennt 1971 eine sechsteilige, 1973 eine fünfteilige Grundstruktur, zu dieser Zeit ist er bereits Mitglied des Strukturausschusses der LLK und prägt die Arbeit im Weiteren entscheidend. Sein einleitendes Referat definiert Struktur als „,das sinnvolle Gefüge der Bestandteile der Liturgie‘“161. Diese Struktur zielt auf gesamtkirchliche Konvergenz, es „gewinnt der Gegenwarts-Aspekt Kontur, weil eine rein historische Begründung liturgischer Urteile als unzureichend erkannt wird“162, „als ,Leitmotiv‘ [wird] die 158 Vgl. Meyer-Blanck, Michael, „… dass unser lieber Herr selbst mit uns rede …“. Möglichkeiten des Evangelischen Gottesdienstbuches für die lutherischen und unierten evangelischen Kirchen, in: Meyer-Blanck, Michael, Agenda. Zur Theorie liturgischen Handelns, PThGG 13, Tübingen 2013, 88–110, 90.95 f.98; Meyer-Blanck, Michael, Die Agende als eröffnendes Kunstwerk. Struktur und Werktreue im Evangelischen Gottesdienstbuch, in: Meyer-Blanck, Michael, Agenda. Zur Theorie liturgischen Handelns, PThGG 13, Tübingen 2013, 111–123, 113 f. 159 Der offizielle Titel lautet „Versammelte Gemeinde. Struktur und Elemente des Gottesdienstes. Zur Reform des Gottesdienstes und der Agende“. Vorgelegt wurde das Papier von der Lutherischen Liturgischen Konferenz (LLK). Vgl. Schwier, Helmut, Die Erneuerung der Agende. Zur Entstehung und Konzeption des „Evangelischen Gottesdienstbuches“, Leiturgia NF 3, Hannover 2000, 3. 160 Schwier, Die Erneuerung der Agende, 5 f. 161 In Schwier, Die Erneuerung der Agende, 13. Vgl. Schwier, Die Erneuerung der Agende, 11 f. 162 Schwier, Die Erneuerung der Agende, 14.

218 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form ,schmiegsame Liturgie‘ erkannt“163. Die Struktur macht es ferner möglich, dass „die einzelnen Blöcke eines Gottesdienstes auch in ihren Funktionen benennbar“164 werden und schließlich „lassen sich ebenfalls mögliche Modifikationen einsichtiger machen“165. Während der Arbeit des Strukturausschusses mit den einzelnen Blöcken wird das Herzstück des Konzeptes von Frieder Schulz erkennbar: Nicht die einzelnen Formen dürfen exklusive Verbindlichkeit beanspruchen, sondern die grundlegende Struktur ist es, die gleichförmig und verbindlich sein soll!166

Im Strukturpapier wird „mit den Begriffen ,Grundstruktur‘ und ,Ausformungsvarianten‘ […] die neue zweipolige Konzeption“167 beschrieben. Was aber ist Struktur, jenseits einer „heuristischen Zielsetzung“168, die dem Strukturausschuss eignete? Karl-Heinrich Bieritz hat die Theoriedebatte vorangetrieben, kritisiert, dass das Strukturpapier die Grundstruktur voraussetzt und benennt stattdessen seine prinzipiell entgegengesetzte Voraussetzung: Struktur wird nur im aktuellen Vollzug einer Kommunikation, also als menschlicher Deutungsvorgang, eben als Strukturierung, greifbar169.

Damit zielt „Bieritz’ Programm der situationsgerechten Strukturierung […] nicht auf ,Entdeckung‘, sondern auf ,Produktion‘“170. Schulz begegnet der Kritik durch die Feststellung, dass der Gebrauch des Begriffs in der Sache keine Neuerung darstelle, durch vergleichende Liturgiewissenschaft historisch und ökumenisch begründet sei und im Blick auf die Gemeinde als notwendig und hilfreich erscheinen könne171.

Schwier legt einen Zwischenschritt ein, analysiert Versuche, Grundstrukturen des Gottesdienstes dogmatisch abzusichern (Edmund Schlink, Dietrich Ritschl), wendet sich dann der vergleichenden Liturgiewissenschaft zu (Anton Baumstark, Gregory Dix). Er zeigt, dass Schulz sich der Zweiteilung in 163 164 165 166 167

168 169 170 171

Schwier, Die Erneuerung der Agende, 14. Schwier, Die Erneuerung der Agende, 15. Schwier, Die Erneuerung der Agende, 15. Schwier, Die Erneuerung der Agende, 40. Schwier, Die Erneuerung der Agende, 68. Die Rezensionen und Stellungnahmen zum Strukturpapier können hier nicht in den Blick genommen werden, es soll nur daran erinnert werden, dass eine kritische Stellungnahme aus Norwegen kam. Schwier zitiert Bjørn Sandvik: „U. E. ist das Faktum, daß es eine festgelegte Ordnung gibt, mit der sich eine Gemeinde vertraut machen kann, in bestimmten Fällen wichtiger als die Struktur dieser Ordnung selbst!“ In Schwier, Die Erneuerung der Agende, 86, Fußnote 541. Schwier, Die Erneuerung der Agende, 107. Schwier, Die Erneuerung der Agende, 116. Schwier, Die Erneuerung der Agende, 123. Schwier, Die Erneuerung der Agende, 127.

Kontrastierungen: Das Evangelische Gottesdienstbuch

219

Wortgottesdienst und Eucharistie, als historisch-genetisch verstandener Struktur, elementar verbunden weiß. Schwier verweist auf die Unklarheiten dieser Zweiteilung, widmet sich der römisch-katholischen Liturgie (Vaticanum II) und stellt fest, dass diese die Unterscheidung von Wortgottesdienst und Eucharistie benennt,172 aber die Einheit betont wird. Daß die Vorstellung einer ,Grundstruktur‘ hier zu einem möglicherweise folgenreichen Leitbegriff avancieren könnte, ist nicht erkennbar173.

Letztlich wird die „,Identität‘ des katholischen Gottesdienstes […] nicht strukturell, sondern inhaltlich erfaßt“174, „in der heilsgeschichtlich-christologisch interpretierten Vorstellung des ,Pascha-Mysteriums‘“175. Damit scheinen ebenso Unklarheiten in der norwegischen Rezeption des Ordo-Begriffs angesprochen.176 Schwiers eigener Beitrag ist – auch auf dem Hintergrund der norwegischen Diskussionen und gerade in liturgiedidaktischer Hinsicht – erhellend und weiterführend. Rekapitulierend schreibt er: Bieritz verwendet den Strukturbegriff, zielt aber auf Strukturierung als Planung, was der ,Produktion‘ im ,strukturellen‘ Kontext entspricht; Schulz entfaltet verschiedene Strukturierungsvarianten, zielt aber auf die Deutung und Erschließung vorgegebener Liturgien, was der ,Entdeckung‘ von Strukturen im ,strukturalen‘ Kontext entspricht […].177

Schwier unterscheidet seinerseits, um diese beiden Ansätze zu verbinden, auf der einen Seite ein ,strukturgeleitetes gottesdienstliches Erleben‘ und auf der anderen Seite ein ,strukturbewußtes Handeln‘: Unter strukturgeleitetem Erleben verstehen wir dabei ein gottesdienstliches Erleben und Wahrnehmen, das durch eine Struktur geleitet ist, die allerdings nicht notwendig gewußt zu werden braucht, während strukturbewußtes Handeln ein gewußtes und der jeweiligen gottesdienstlichen Struktur entsprechendes bzw. eine solche Festlegendes liturgisches Agieren meint.178

172 Vgl. Schwier, Die Erneuerung der Agende, 127–135.135 ff.139. 173 Schwier, Die Erneuerung der Agende, 144. Summierend: „Mit der ,Grundstruktur‘ der katholischen Messe wird ausschließlich deren ,Aufbau‘ bestimmt.“ In Schwier, Die Erneuerung der Agende, 144. 174 Schwier, Die Erneuerung der Agende, 146. 175 Schwier, Die Erneuerung der Agende, 147. 176 Vgl. Christoffersen, Jan Terje, P hvert et sted. Inn til kjernen av gudstjenestereformen, in: Tidsskrift for praktisk teologi 31 (2014), 4–15, 11. 177 Schwier, Die Erneuerung der Agende, 151. 178 Schwier, Die Erneuerung der Agende, 152.

220 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form Ersteres verortet Schwier aufseiten der Gemeinde, letzteres aufseiten der Liturgen und Liturginnen. Dieser Differenzierung liegt das Verständnis der Struktur als Hypothese zugrunde, die, regulativ-dialogisch verstanden, für den Praxisbezug des Gottesdienstes öffnet, weil auch hier gilt, daß nicht nur Reflexionen gesteuert werden, sondern vor allem das gottesdienstliche Handeln (und Erleben). […] ist das gesamte Feld sinnlicher Wahrnehmungen im Blick, so wird die Grundfrage nach ,Einheit und Vielfalt‘ im Gottesdienst erneut spannungsreich virulent, wobei sich eine Auflösung zugunsten der ,Einheit‘ in Gestalt verordneter begrifflicher Wesensbestimmungen oder verordneter Struktur ebenso verbietet wie eine Auflösung zugunsten der ,Vielfalt‘ im Sinne postmoderner Beliebigkeit179.

Die Diskussionen um Wiedererkennung und Einheit können mittels Schwiers Ausführungen an den Strukturbegriff gekoppelt werden. Dieser kann, als regulativ-dialogische Größe, diese Diskussionen umfangreicher und tiefgehender prägen, als es der starre Strukturbegriff des Gottesdienstbuches der Norwegischen Kirche vermag. Vielleicht liegt diese Starrheit gerade in der Unklarheit der Begrifflichkeiten, die zwischen Ordo, Struktur und Grundstruktur wechseln, begründet. Stand in den norwegischen Diskussionen die Rezeption Gordon Lathrops ganz am Anfang, kommt Schier erst zum Ende hin auf Lathrop zu sprechen. In der Darstellung findet sich eine interessante Beobachtung: Überraschender Weise erscheint [auf der Konferenz des ÖRK in Ditchingham und im LWB-Projekt ,Gottesdienst und Kultur‘] als ordo zunächst noch nicht die konkrete Gottesdienstordnung samt dem Zusammenhang liturgischer Elemente; damit zu beginnen läge für den deutschen und europäischen Kontext nahe […].180

Schwier verweist als Beispiel für den europäischen Kontext auf das Strukturpapier. Es schließt sich folgende Frage an: War die norwegische Diskussion unklar, nämlich an der Stelle, wo einige den Begriff des Ordo bemühten, sich im Grunde aber ein Verständnis einer inhaltlich bestimmten Struktur durchsetzte181 – würde nicht Schwiers Unterscheidung gerade hier für mehr Klarheit sorgen können? 179 Schwier, Die Erneuerung der Agende, 158 f. 180 Schwier, Die Erneuerung der Agende, 509. 181 Deutet nicht gerade die immer stärkere Betonung der festen Elemente und der Wiedererkennung in die Richtung, dass mit dem Strukturbegriff argumentiert wurde, eben weil damit das ,Justinsche Schema‘ und feste Elemente verbunden wurden? Das Gottesdienstbuch der Norwegischen Kirche liest sich so: „In der allerältesten Zeit der Kirche war die Gottesdienstfeier von Vielfalt geprägt. Aber in dieser Vielfalt finden wir eine gemeinsame Grundstruktur, mit dem Wort und der Mahlzeit als Hauptelemente […]. […] Struktur im Gottesdienst handelt daher von mehr als von einem äußeren Rahmen. In der Grundstruktur sind wichtige Inhaltselemente zu Hause, gerade an ihrem festen Ort im Gottesdienst. Es ist wichtig, diese

Kontrastierungen: Das Evangelische Gottesdienstbuch

221

6.6.2 Die sieben Kriterien des Evangelischen Gottesdienstbuches Helmut Schwier stellt in der Rückschau fest: Das EGb [sc. Evangelische Gottesdienstbuch] bietet nicht nur Gottesdienstordnungen (,Liturgien‘) und Textangebote, sondern es erfordert durch die Konzeption von Grundstruktur und Ausformungsvarianten, dass jeder Gottesdient bewusst und kompetent gestaltet wird. […] Die Gottesdienstfeier ist und bleibt eine konkrete Gestaltungsaufgabe. Diese Aufgabe soll mit den sieben ,maßgeblichen Kriterien‘ geleitet und […] eröffnet werden. […] Zum Wertvollsten des EGb gehören die sieben Kriterien. Sie haben sich während der Arbeit am EGb herausgebildet und sind durch den mehrjährigen Stellungnahmeprozess in den Kirchen ergänzt und bestätigt worden. In ihnen wird die theoretische Basis des EGb praxisnah formuliert.182

Die Genese dieser sieben Kriterien kann an dieser Stelle nicht bearbeitet werden, es soll das Augenmerk auf Schwiers Fassung der Kriterien als „regulativ-dialogische Sätze“ gerichtet werden. Denn es lassen sich daran, so die Idee, produktive Unterschiede zum Vorgehen und zur Diskussion der Visionen und der zentralen methodischen Begriffe in der Norwegischen Kirche festmachen.183 Die Kriterien sollen ganz grundsätzlich den Gottesdienst und die Gottesdienstfeier regulieren und entstammen dabei einem breiten Dialog, der viele Akteure einbezog, der trotzdem sicherlich seine Grenzen hatte. Schwier kritisiert die zu schwache Verbindung zur wissenschaftlichen Theologie und die fehlende Repräsentanz von Gemeindegliedern, die weder Theologen noch Kirchenmusiker sind184.

Gleichzeitig aber implizieren die Kriterien einen weiteren Dialog, gerade auf der Ebene der Gemeinden, denn ihre „Dialogizität belegt die Genese, muß aber Stabilität und Festigkeit in Struktur und Inhalt des Gottesdienstes zu wahren.“ In Kirker det (Hg.), Gudstjeneste for Den norske kirke, Stavanger 2011, 6.6. Eine ähnliche Tendenz referiert Schwier für die Arbeit mit dem Evangelischen Gottesdienstbuch. Vgl. Schwier, Die Erneuerung der Agende, 440.469 f.499. 182 Schwier, Helmut, Gottesdienst mit steter Lust? Zu den gegenwärtigen Agenden in den evangelischen Kirchen in Deutschland, in: Liturgie und Kultur 4 (2013), 22–34, 23. Zusammenfassend: 1. Kriterium: Verantwortung und Beteiligung der ganzen Gemeinde, 2. Kriterium: Grundstruktur und Gestaltungsmöglichkeiten, 3. Kriterium: Die Gleichberechtigung von traditionellen und neuen Texten, 4. Kriterium: Ökumenische Spiritualität, 5. Kriterium: Die „nicht-ausgrenzende“ Sprache, 6. Kriterium: Gottesdienst als ganzheitliches Kommunikationsgeschehen und 7. Kriterium: Die bleibende Verbundenheit mit Israel. Vgl. Schwier, Helmut, Die Erneuerung der Agende. Zur Entstehung und Konzeption des „Evangelischen Gottesdienstbuches“, Leiturgia NF 3, Hannover 2000, 386–408. 183 Vgl. Schwier, Die Erneuerung der Agende, 386–408.470–494. Vgl. 6.1.3. 184 Schwier, Die Erneuerung der Agende, 517 f.

222 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form vor allem durch Impulse zu einem neuen Dialog bewährt werden“185. Dieser Dialog ist theologisch aussichtsreich, insofern der Gottesdienst nicht als unveränderbar bleibender Grund der Kirche zu gelten hat, sondern als Raum, in dem der Grund der Kirche als der Gemeinschaft der Glaubenden wahrnehmbar vergegenwärtigt, gehört und gefeiert wird186.

Es ist – auf dem Hintergrund der Genese und der Arbeit mit den Visionen und den zentralen methodischen Begriffen für den Gottesdienst in der Norwegischen Kirche – ertragreich zu sehen, dass Schwier die sieben Kriterien als auf zwei Ebenen liegend ansieht, die ersten beiden Kriterien legen den Grund für die weitere Entfaltung: Die Verantwortung und Beteiligung der Gemeinde stellt die inhaltliche Grundlegung dar und zeigt darin das erste evangelische Profil: ,Der Gottesdienst wird unter der Verantwortung und Beteiligung der ganzen Gemeinde gefeiert.‘ Durch das basale Axiom des allgemeinen Priestertums gelingt nicht nur eine Konzentration, sondern ebenso eine Öffnung in der Sache; denn die grundlegende Referenz auf die Gemeinde umfaßt nun die ,ganze‘ Gemeinde […]. Damit geschieht also gerade keine Einengung auf bestimmte kerngemeindliche Milieus […]. Den Anfang der regulativen Sätze bestimmt also nicht eine verordnete Einheitsvorstellung der Kirche oder des Gottesdienstes […], sondern der geistgewirkte Reichtum in den Gemeinden, deren Glieder aufgrund der Taufe gleichberechtigt und gleichrangig sind.187

In den Diskussionen um die Reform des gottesdienstlichen Lebens in der Norwegischen Kirche sind die Visionen, die 2004 dem Kirchenrat vorlagen, und die zentralen methodischen Begriffe nicht systematisch bearbeitet worden.188 Auffällig bleibt, dass die von Schwier vorgenommene Sondierung der sieben Kriterien auf zwei Ebenen sich auf ähnliche Weise im Gottesdienstbuch der Norwegischen Kirche von 2011 zeigt, ohne dass ersichtlich wird, wo und von wem dies thematisiert, vorgeschlagen und durchgesetzt wurde, indem nämlich die fünfte Vision und der Begriff der Involvierung Eingang in die Allgemeinen Bestimmungen gefunden hat: „Vorbereitung und Durchführung des Hauptgottesdienstes sollten unter breiter Teilnahme der Mitglieder der Gemeinde geschehen.“189 Daraus darf gefolgert werden, dass die Herausforderung, die Schwier benennt, trotz der Betonung einer Grundstruktur, die Varianten zulässt, einer 185 186 187 188 189

Schwier, Die Erneuerung der Agende, 519. Schwier, Die Erneuerung der Agende, 519. Schwier, Die Erneuerung der Agende, 519 f. Vgl. 6.1.3; 6.3. Kirker det (Hg.), Gudstjeneste for Den norske kirke, Stavanger 2011, 5.4.

Kontrastierungen: Das Evangelische Gottesdienstbuch

223

Regelform zu verfallen, ebenso für die Norwegische Kirche gilt; „der Vielfalt der Gemeinde kann keine ,Einheitsliturgie‘ entsprechen“190. Sowohl Schwiers evaluierender Blick als auch der Rapport Noe falt i god jord deuten darauf hin, dass dies häufig geschieht und eine ständige Herausforderung darstellt. Potenzial bleibt unausgeschöpft und der zugrunde liegende Gemeindebegriff wird zu eng gefasst.191 Produktiv gewendet werden soll dies durch eine Beobachtung, die als Öffnung zur weiteren Bearbeitung der gerade benannten Herausforderung verstanden wird. Katharina Stork-Denker nimmt Ausgangspunkt in einer Rezeptionsstudie zum Evangelischen Gottesdienstbuch und resümiert: „Beteiligung der (ganzen) Gemeinde am Gottesdienst ist also keineswegs selbstverständlich.“192 Wie Schwier führt sie das Allgemeine Priestertum als theologische Begründung an193 und verdeutlicht, in einer Situation der Vielfalt der Gemeindeformen, dass die „vielfältigen Teilnahmelogiken der Gemeindeglieder […] ein differenziertes und plurales Gottesdienstangebot [erfordern]“194: Die differenzierten Formen von Kirchenmitgliedschaft, wie sie in der Volkskirche möglich sind, führen zu einem differenzierten Verständnis von Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienst.195 190 Schwier, Die Erneuerung der Agende, 520. 191 „Die Pluralität der in den Agenden aufgenommenen Gottesdienstordnungen regt nicht zur vielfältigen Gottesdienstgestaltung an, sondern reguliert das Bisherige.“ In Schwier, Gottesdienst mit steter Lust?, 32. Im KIFO-Rapport wird deutlich, dass etwa 55–60 % aller Gemeinden die liturgische Musik von 1977 für Kyrie und Gloria beibehalten haben, beim Sanctus sind es 72 %. Dagegen sind es nur 8 % der Gemeinden, die von der Möglichkeit ein eigenes Eingangsgebet zu formulieren Gebrauch machen, die anderen Gemeinden wählen eines der vorgegebenen Gebete. 62 % der Gemeinden behalten das Sündenbekenntnis im Eingangsteil, ergreifen nicht die Möglichkeit, Elemente innerhalb der Struktur zu verschieben. Vgl. Botvar, P l Ketil/Mosdøl, Hallvard Olavson, Noe falt i god jord. Den norske kirkes gudstjenestereform sett fra menighetsniv , KIFO Rapport 2014:2, Oslo 2014 19 f.31 f. Gleichzeitig wird festgehalten, dass der zentrale methodische Begriff der Involvierung durchaus breite Zustimmung erfährt, „es wird der Freude über größere Involvierung Ausdruck verliehen, dass das gottesdienstliche Leben mit erneuter Stärke auf die Tagesordnung der lokalen Gemeinde gesetzt wurde“. In Botvar/Mosdøl, Noe falt i god jord, 6. Indirekt wird der innergemeindliche Dialog genannt, Involvierung kann also regulativ-dialogisch aufgefasst werden. 192 Stork-Denker, Katharina, Das evangelische Verständnis von „Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienst“, in: Jeggle-Merz, Birgit/Kranemann, Benedikt (Hg.), Liturgie und Konfession. Grundfragen der Liturgiewissenschaft im interkonfessionellen Gespräch, Freiburg-Basel-Wien 2013, 227–239, 228. 193 Vgl. Stork-Denker, Das evangelische Verständnis von „Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienst“, 229 f. 194 Stork-Denker, Das evangelische Verständnis von „Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienst“, 233. 195 Stork-Denker, Das evangelische Verständnis von „Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienst“, 233.

224 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form Insgesamt, unter Berücksichtigung verschiedener Faktoren (Vielfältigkeit der Beteiligung, Differenzierung der Beteiligung (in eine innere und eine äußere), Beachtung der Lebensbezüge), hat sich nach Stork-Denker der Beteiligungsbegriff als ein Leitbegriff evangelischer Liturgik erwiesen – und zwar als ein liturgiehermeneutischer. Denn er erweitert einerseits das theologische Verständnis der gottesdienstlichen Praxis, indem diese reflektiert wird, und hat zugleich den Anspruch diese Praxis selbst zu verändern196.

Es bleibt Aufgabe der eigenen Studie diese Spuren weiterzuverfolgen, diese Bewegungen als Praxis reflektierend und verändernd zu begreifen und dies auch als Anschluss an eine (bereits genannte) Formulierung des Ausschusses für Gottesdienstliches Leben zu verstehen: „Wenn es uns gelingt, die Flexibilität zur Involvierung hin zu nutzen, dann wird der Gottesdienst ortseigen.“197

6.7 (Kritische) Verknüpfungen und Impulse zur Weiterarbeit In aller gebotenen Kürze soll an Michael H. Duceys Studie erinnert werden, an die von ihm herausgearbeitete Unterscheidung von mass ritual und interaction ritual. Ausgangspunkt für Ducey war, dass das Ritual unweigerlich an Prozesse vor Ort gebunden ist, er hat diese Prozesse, Gemeinden und ihre Gottesdienste untersucht und gezeigt, dass Gemeinden, die ihre Gottesdienste einem mass ritual nach, also gekennzeichnet durch Hierarchisierungen und deutliche Grenzziehungen, gestalten, die gegenwärtige plurale Situation als Bedrohung erleben. Unterstützt von den Eliten und den traditionell Sozialisierten zieht man sich auf Bekanntes und Vertrautes zurück. Gemeinden, die ihre Gottesdienste einem interaction ritual nach feiern, kennen weichere Rollenverteilungen, laden dazu ein, dass die Teilnehmenden zu Empfangenden und Produzierenden werden.198 Wiederholt werden soll die Einschränkung, dass diese Art des Arbeitens und der Unterscheidung nicht direkt in das Groruddal von heute und auf die Reform des gottesdienstlichen Lebens zu übertragen ist. Dennoch ist Duceys Studie Erinnerung daran, dass vorgefertigte Modelle den Blick einengen können und dass Synthesen, die in Zeiten des Umbruchs nicht einfach als 196 Stork-Denker, Das evangelische Verständnis von „Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienst“, 239. 197 Zitiert nach „Was ist Involvierung?“, Aktenzeichen NFG 31/05. 198 Vgl. Ducey, Michael H., Sunday Morning. Aspects of Urban Ritual, New York 1977, 2.39.102.104.144 f. Vgl. 3.1.

(Kritische) Verknüpfungen und Impulse zur Weiterarbeit

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Abfallsbewegungen zu charakterisieren sind, beinahe zwangsläufig Prozesse der Involvierung, der Unsicherheit und des Suchens mit sich bringen. Es soll auf diesem Hintergrund und auf dem Hintergrund des Interesses der vorliegenden Studie an Finn Wagles Anfangsimpuls vor der Generalsynode 2003 erinnert werden: „Es geht um ein gottesdienstliches Leben, das dem allgemeinen, gelebten Leben gegenüber offen ist.“199 In diesem Sinne wird die Aufnahme der Idee des Ordo, als Kriterium und steuerndes Element der Reform, als der folgerichtige Versuch gedeutet, Weite und Vielfalt zuzulassen. Die Visionen und die drei zentralen methodischen Begriffe werden als Unterstützung für die Idee der Stärkung des Subjektes im Gottesdienst verstanden. Dies gilt es im weiteren Verlauf zu reflektieren und gerade in der Analyse der Leitfadeninterviews weiter zu untersuchen. Kritische Rezeption wird der Begriff der Wiedererkennung erfahren müssen. Im Laufe der Reform des gottesdienstlichen Lebens und ihrer Evaluation hat dieser wohl dazu beigetragen, die Subjektposition einzuschränken. Er hat einer hierarchisierenden Tendenz, die die Verordnung durch die Kirche favorisiert und sich vom Gemeindeniveau entfernt, das Wort geredet. Damit hat sich das Bild des Gottesdienstes wieder in althergebrachte Bahnen zurückbewegt und es hat sich ein (ver)eng(t)es Kirchenbild durchgesetzt. Der Begriff der Wiedererkennung hat, gerade im Projekt Liturgie in Bewegung, die vermeintliche Weite der Volkskirche zum Ziel und endet doch in (glaubensgemeinschaftlicher) Enge, da er die Bedingungen der vielfältigen, pluralen Situation vor Ort nicht wahrnimmt und die möglichen Lesarten der zentralen methodischen Begriffe einschränkt. Die Frage, die sich aufdrängt, ist, ob nicht die Kritik Michael Meyer-Blancks gerade diesen Teil des Projekts Liturgie in Bewegung trifft: Die empirische Arbeitsweise erbringt vielfach die erwarteten Ergebnisse und führt von daher nicht eigentlich zu innovativen Einsichten, sondern eher zur Konsolidierung von bereits formulierten Handlungsmaximen.200

Der Volkskirchenbegriff wird zur Verteidigung der vermeintlichen Weite, die sich dann mehr oder weniger im Status quo manifestiert, genutzt, jedoch ohne, dass ersichtlich wird, an welcher Stelle sich denn redlich um den Ort und die Bedingungen des Ortes, vor Ort, bemüht wird. Die Annäherung umkehrend, die eine feste Definition der zentralen methodischen Begriffe als erstrebenswert ansieht, soll in Verlängerung und Weiterentwicklung des Verständnisses der Kriterien des Evangelischen Gottesdienstbuches als ,regulativ-dialogische‘ Größen gefragt und weiter analy199 Wagle, Finn, Høymesse under endring. Innledning til samtale om reform av høymessen. Kirkemøtet 19. 11. 2003, 5. 200 Meyer-Blanck, Michael, Liturgik – quo vadis? Zu den künftigen Perspektiven der evangelischen Liturgiewissenschaft, in JLH 50 (2011), 41–51, 46.

226 Der dritte historisch-systematische Problemhorizont: Liturgische Form siert werden, ob nicht gerade die Offenheit dieser Begriffe von Vorteil für die ortseigene/ver-ortete Gottesdienstfeier sein könnte, ob auf diese Weise die Frage nach dem Ort im Spiel gehalten werden kann. Dies werden die weiteren Analysen, die sich dem Unterbau und der Alltagsseite verpflichtet wissen, zeigen müssen.

7 Fokussierungen 7.1 Groruddalen Eingangs wurde die Frage nach dem Ort und der Ortszugehörigkeit als eine der entscheidenden Fragen beschrieben. Wurde dann empirische Liturgiewissenschaft auf den multi- und interkulturellen Ort bezogen, wurden Fragen nach der sozialen Konstruktivität von Orten und Räumen und nach der möglichen Prozesshaftigkeit von Ortseigenheit/Ver-Ortung aufgeworfen, stellt sich nun, in Verlängerung der historisch-systematischen Vergewisserungen, die Aufgabe, das dynamische Verhältnis der involvierten Subjekte zum Ort sowie die ,Eigenlogik‘ der Orte im Groruddal zu reflektieren. Auf diese Weise soll der Blick geschärft werden, sodass neue Bilder des Ortes und der Orte entworfen werden können.

7.1.1 Eine historische Annäherung Der Journalist Øyvind Holen bricht 2005 zu einer Reise auf. Er besucht das Groruddal, fährt mit der U-Bahn von Station zu Station. Unterwegs geht er verschiedensten Spuren nach, besucht Kulturdenkmäler, beschreibt historische und kulturelle Veränderungen, kommentiert Architektur, reflektiert seine Kindheit und Schulzeit, politische Träume und Zielvorgaben für das Tal, und – nicht zuletzt! – er trifft bekannte und weniger bekannte Töchter und Söhne des Tals. Holen inszeniert einen Dialog auf der kleinen Kirmes in Grorud, ein Gespräch, das er mit Jonas Wergeland, einer aus dem Fernsehen bekannte Persönlichkeit, führt. Wergeland ist die fiktive Hauptperson einer als Biografie angelegten Trilogie des Schriftstellers Jan Kjærstad1: Jonas: Weißt du, was ich gemacht habe, als ich Grorud das erste Mal mit Abstand betrachtet habe, aus einem Flugzeug heraus, 3 000 Fuß über der Erde? Øyvind: Nein. Vielleicht doch den großen Zusammenhang entdeckt? 1 Die Trilogie, ihrerseits eine Darstellung Norwegens nach dem Krieg, besteht aus den Büchern Forføreren (1993, auf Deutsch Der Verführer (2001)), Erobreren (1996, auf Deutsch Der Eroberer (2004)) und Oppdageren (1999, auf Deutsch Der Entdecker (2006)). Kjærstad ist in Grorud aufgewachsen. Vgl. Moi, Morten/Norsk Forfattersentrum, Jan Kjærstad, Store norske leksikon, https://snl.no/Jan_Kj%C3 %A6rstad (abgerufen am 5. 7. 2016). Holen verarbeitet hier Motive aus diesen Büchern – in einen ebenfalls fiktiven Dialog hinein.

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Fokussierungen

Jonas: Ich habe mich vor Schreck übergeben, im Schreck darüber, dass mein geliebtes, chaotisches, hügeliges, pulsierendes Grorud zu einem Bild verflacht und vereinfacht wurde. Es war ein Bild, das ich mit einem Blick erfassen konnte, ein Bild, in dem alle die spannenden Details, ja, ganze Universen wie weggewischt waren, als ob es sich um eine Formel handelte, ein Diagramm, ein Märchen. Auf gewisse Weise war dies meine erste Begegnung mit dem Reduktionismus, von diesem Tag an war ich, wahrscheinlich unbewusst, von einer hartnäckigen Skepsis gegenüber jeder Form von Übersicht und Synthesen, Systemen und ganzheitlichen Darstellungen geprägt. Mit anderen Worten, jedweder Totalität gegenüber, die die gegensätzlichen Details überwunden und das einzelne Individuum vergessen hat. […] Øyvind: Du hast auf einen wichtigen Punkt aufmerksam gemacht, weil eben so alle die Möchtegernexperten das Groruddal betrachten. Guck dir nur alle die Statistiken an […], die zeigen doch nur Tendenzen und keine Details. Die Statistik erzählt dir, dass du dümmer bist, kürzer lebst, weniger verdienst und mehr Rauschgift konsumierst.2

Eindrücklich tritt in diesem Dialog der rote Faden zum Vorschein, der sozusagen alle Beschreibungen des Groruddals und seiner Menschen durchzieht: Von Beginn des Ausbaus an gibt es ein eklatantes Gefälle zwischen Innen- und Außensicht. Die Außensicht ist davon bestimmt, das Tal und seine Bewohner und Bewohnerinnen als eine in sich geschlossene Größe zu sehen. Wohl ändern sich Inhalt und Anlass der Kritik und der negativen Sicht, die Form aber verbleibt statisch, die Innensicht spielt keine Rolle (oder wird von außen konstruiert eingebracht).3 Die selbstgesetzte Aufgabe der folgenden Bemerkungen ist es, inspiriert und unterstützt von Holen, aber auch anderen, die Innensicht stark zu machen und ihre Relevanz aufzuzeigen.

7.1.1.1 Die moderne Geschichte des Groruddals Die moderne Geschichte des Groruddals beginnt mit dem 1. Januar 1948, die Kommune Aker wurde nach Oslo eingemeindet. Der Bedarf an Wohnraum nach dem Zweiten Weltkrieg war enorm. Sowohl Staat als auch Kommune waren in diesen Prozessen aktiv, es mangelte nicht an einer Vision, „gute Wohnmilieus für ,Hinz und Kunz‘“4 zu schaffen. Von Anbeginn an wurde in 2 Holen, Øyvind, Groruddalen. En reiseskildring, Oslo 22016, 144 f. 3 Im Vorwort zur hier verwendeten zweiten Auflage seines Buches schreibt Holen: „Die Unwissenheit über die Geografie, die Historie und den Alltag in dieser Gegend, in der mehr als jeder fünfte Oslo-Bürger/jede fünfte Oslo-Bürgerin wohnt, ist im Rest des Landes scheinbar immer noch grenzenlos […].“ In Holen, Groruddalen, 11. 4 Byantikvaren i Oslo (Hg.), Oppdag Groruddalen! En kulturhistorisk guide, Oslo 2010, 13.

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Sektionen geplant, der Wohnungsraum und die Grünflächen an den Talseiten, zum Wald hin, und die Industrie im Tal, das Ziel war deutlich: Die nach Klasse geteilte Stadtgesellschaft mit ihrer Bebauung der Quartale und mit ihren engen Hinterhöfen sollte durch etwas Neues und Besseres erstattet werden, Wohnraum und Industrie sollten voneinander getrennt worden. […] Die neue Stadt sollte von modernen Wohnblöcken geprägt werden, in der Nähe zur Natur, mit reichlich Licht und Luft.5

Diese Ideen manifestierten sich in einer ganz handfesten Norm, die von drei Zimmern, Küche und Bad für eine Familie ausging, wie die Planeten um die Sonne kreisten, so dachte man sich die Trabantenstädte um die Mutterstadt kreisend. Durch effektive Kommunikationsmittel, wie U-Bahn und Bus, sollten die Trabantenstädte und die Mutterstadt zu einer Ganzheit zusammengeknüpft werden6,

„die Vorstellung einer sozialen Gemeinschaft“7 wurde zum vorherrschenden Fokuspunkt. Baulich, architektonisch wurde dieses Denken zum einen dadurch unterstützt, dass es zwischen den Hochhäusern und den niedrigeren Blöcken autofrei blieb, Rasenflächen, Fußballplätze, Kindergärten sollten hier ihren Platz finden, zum anderen dadurch, dass den beiden U-Bahnlinien entlang Zentren geschaffen wurden. Dabei unterschied man Zentren von übergeordnetem Status und Zentren in kleinerem Maßstab, welche die Lokalbevölkerung mit allem Nötigen versorgen sollten.8 Es sollte etwas Neues entstehen, eben nicht nur Wohnungen gebaut werden, es sollte eine Gemeinschaft geschaffen werden. Holen gebraucht, unter Rückgriff auf den Sozialanthropologen Benedict Anderson, den Term der imagined community. Diese imagined community wurde schnell mit dem Kunstwort Groruddal bezeichnet. Wenn diese Bezeichnung doch älter ist, so wird entscheidend gewesen sein, dass Redakteur Hjalmar Kielland seine Lokalzeitung am 16. September 1960 umbenennt, in Akers Avis Groruddalen Budstikke. Das Tal hat(te) in der Zeitung einen gemeinsamen Bezugspunkt.9 5 Byantikvaren, Oppdag Groruddalen, 15. Es wurde keineswegs im Niemandsland gebaut, das Groruddal konnte auf eine reichere Geschichte mit Landwirtschaft, Kleinindustrie an den Wasserläufen und Steinindustrie zurückblicken. Das Groruddal war außerdem beliebter Ort des Rückzugs aus der Stadt, es gab Freizeithäuschen und schon Anfang des 20. Jahrhunderts erste Wohnsiedlungen. Vgl. Byantikvaren, Oppdag Groruddalen, 112.158; Holen, Øyvind, Groruddalen. En reiseskildring, Oslo 22016, 214 f. 6 Byantikvaren, Oppdag Groruddalen, 17. 7 Byantikvaren, Oppdag Groruddalen, 17. 8 Durch den steigenden Autoverkehr und den Ausbau der großen Einkaufszentren (sowohl außerhalb Oslos als auch in den Industriegebieten des Groruddal) sind die lokalen Zentren heute viele ihrer Funktionen beraubt. Vgl. Byantikvaren, Oppdag Groruddalen, 51 f.158.162; Holen, Groruddalen, 80.83.95.263 f. 9 Vgl. Holen, Groruddalen, 36 ff. Kielland ist noch immer Redakteur der Zeitung, die heute Akers Avis Groruddalen heißt.

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Der Ausbau des Tals wurde zügig angegangen, das Enteignungsgesetz wurde 1946 verabschiedet und seit 1949 angewendet, folgend wurden die meisten Gehöfte ohne Streitigkeiten enteignet. Ohne Konflikt aber ging es nicht, es gab Widerstand, zum Teil langjährigen, und es gab Konflikte zwischen den öffentlichen Bauherren und privaten Unternehmern, die sich benachteiligt fühlten. In Rekordfahrt wurde gebaut, zwischen 1960 und 1990 wuchs die Bevölkerung um 70 %. Die Menschen, vom Lande und aus dem Zentrum Oslos kommend, bezogen ihre Wohnungen, lange bevor die Bauarbeiten rings herum abgeschlossen waren, wohnten jahrelang auf einer Baustelle. Soziale und ökonomische Herausforderungen wurden schnell sichtbar. Die Krise am Wohnungsmarkt befeuerte architektonische Experimente und den Gedanken, Hochhäuser im Stile Le Corbusiers zu bauen, gleichzeitig wurden diese als inhuman kritisiert. In den Folgejahren wurden kommunale Jugendklubs eröffnet, es mangelte im Laufe der Jahre dennoch an finanzieller Ausstattung, sodass das Angebot der Klubs begrenzt war – Jugendkriminalität und Gangmilieus wurden Teil des Alltags.10 Daneben gibt es die Erzählungen der Menschen, die Erzählungen aus der Perspektive von innen. Holen trifft auf seiner Reise den Schriftsteller Erik Fosnes Hansen11, und Holen berichtet folgendes: Eriks Mutter wohnte seit 1951 in Grorud, als sie mit Ehemann und dem Ältesten, P l, hierherzog. Die Mutter kam aus Trondheim, arbeitete als Telefonistin, der Vater, ein echter Osloer Junge, hatte Arbeit bei der NSB [sc. Norwegischen Staatsbahn]. Das war der Schlüssel zu einer Wohnung in den fünf Wohnblöcken im Stjerneblokkveien, [die halbkommunale Gesellschaft] OBOS hatte diese im Auftrag eben der NSB gebaut. […] Das Ehepaar Hansen war eine von sehr, sehr vielen jungen Familien, deren Traum in Erfüllung ging, als die Blöcke fertiggestellt waren. Die Familie kam aus einem kümmerlichen Lagerhaus am Bahnhof Kjels s, wo das Wasser am Wasserkran im Wartesaal geholt werden musste und sie die öffentliche Toilette auf dem Bahnsteig benutzen mussten. Eine Wohnung im Block, mit Wohnzimmer, zwei Schlafzimmern, Küche und WC, war wie ein Paradies […]. […] Erik beschreibt das Leben in den 50er Jahren, in den 60er Jahren wie aus einer sozialdemokratischen Reklamebroschüre ausgeschnitten.12

Das Groruddal ermöglichte der ersten Generation seiner Bewohnerinnen und Bewohner eine Klassenreise: Eine ganze Generation Arbeiter/Arbeiterinnen bekam neue Wohnungen, Teilhabe an den Ordnungen des Wohlfahrtsstaats und die Möglichkeit, die eigenen Kinder auf die Schule zu schicken […].13 10 Vgl. Byantikvaren, Oppdag Groruddalen, 14; Holen, Groruddalen, 26.78–85.91 f.121 ff.137 f. 190–194.228 ff.289 ff. 11 In Deutschland wurde Fosnes Hansen durch seinen Roman Choral am Ende der Reise bekannt. 12 Holen, Groruddalen, 105 f. 13 Holen, Groruddalen, 113.

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Für die zweite Generation, der Holen und Fosnes Hansen angehören, sah die Welt anders aus: „Das Groruddal hatte nicht genug zu bieten.“14 – Viele lockte das Zentrum mit seinen Möglichkeiten. Aber, so fragt Holen, ist das in den anderen Stadtteilen anders?15 1969 erschien der Ammerud-Rapport, in dem die neuen Stadtteile als „kinderfeindlich, psychisch destruktiv und leblos“16 bezeichnet wurden: Es war also ganz fundamental etwas falsch in Ammerud, schon nach zwei Jahren. Die Bewohner/Bewohnerinnen hatten kaum Möglichkeit, ihre Wohnungen zu möblieren, bevor die Gegend abgestempelt wurde.17

Es blieb nicht dabei: Dem Ammerud-Rapport wurde schnell nachgegangen. Soziologen/Soziologinnen standen Schlange, um die U-Bahn Richtung Osten zu nehmen, im gleichen Rhythmus wie die neuen Trabantenstädte fertiggestellt wurden.18

1975 erschien der Stovner-Rapport, 1978 der Roms s-Rapport – das negative Image war geschaffen und wurde ohne Frage durch die kriminellen Aktivitäten der Jugendbanden weiter zementiert.19 Doch schon 1984 schrieb der Soziologe Ivar Frønes: Hinter der Fassade der Mythen war die Jugend mit sich beschäftigt, die trafen sich draußen, gingen in den Jugendklub, spielten in einer der vielen Mannschaften Fußball, gingen Skilaufen, striegelten ein Pferd, saßen mit Freundinnen in ihrem Zimmer oder waren im Zentrum, im Kino.20

Nur wenig zeitversetzt trat Anfang, Mitte der 80er Jahre ein erneuter Wandel ein. Norwegen, das sich zunächst von Arbeitseinwanderung abhängig sah, beschloss 1975 einen offiziellen Einwanderungsstopp, aber durch Familienzusammenführung und durch steigende Flüchtlingszahlen dauerte die Einwanderung an. Hatten die eingewanderten Menschen sich zunächst in den alten Arbeitervierteln des inneren östlichen Zentrums etabliert, zogen sie nun ins Groruddal, folgten der Bewegung der (keineswegs homogenen!) norwegischen Bevölkerung nach. – Der Bevölkerungsanteil ,nicht-westlicher‘ Ein14 15 16 17 18 19

Holen, Groruddalen, 113. Vgl. Holen, Groruddalen, 114 f. In Holen, Groruddalen, 124. Holen zitiert aus den Eingangsfragen des Rapports. Holen, Groruddalen, 124 f. Holen, Groruddalen, 125. Vgl. Byantikvaren, Oppdag Groruddalen, 79 f.; Holen, Groruddalen, 124; Eriksen, Thomas Hylland/Vestel, Viggo, Groruddalen, Alna og det nye Norge, in: Alghasi, Sharam/Eide, Elisabeth/ Eriksen, Thomas Hylland (Hg.), Den globale drabantbyen. Groruddalen og det nye Norge, Oslo 2012, 15–32, 17. Eine der bekanntesten Jugendbanden war die Tveita-Bande. Vgl. Berger, Kjell, Politi og røver p Tveita. Fra guttestreker til sjokkbrekk, in: Ved postkassene. Medlemsblad for Hellerud historielag (1/2010), 14 ff.; Holen, Groruddalen, 285–289. 20 In Byantikvaren, Oppdag Groruddalen, 67.

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wanderinnen und Einwanderer liegt heute im Groruddal im Schnitt bei 45 %, in einigen Teilstadtteilen bei über 50 %. Die Inhaltsbestimmung des schlechten Images verändert sich, das schlechte Image aber bleibt:21 Die meisten der Probleme im Groruddal, die Herausforderungen und Sorgen sind 2016 nicht viel anders als in den 70er, 80er und 90er Jahren. Das Neue ist, dass die Sorge der 70er Jahre, über Wohnmaschinerien und Entfremdung, durch die Sorge über die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung und ,white flight‘ erstattet wurde. Aber vieles resultiert aus alltäglichem Nachbarschaftsstreit, fehlendem Verantwortungsbewusstsein der Gemeinschaft/Gesellschaft und großen, örtlich konzentrierten Jahrgängen, gerade im Jugendalter.22

Klar und eindeutig scheint nur eins: Wer auch immer im Groruddal wohnt, es geht weiter wie bisher. Die Industrie im Talboden bleibt und wächst weiter, der größte Umschlagplatz für den Güterverkehr, sowohl für Eisenbahn als auch Lastkraftwagen, wurde jüngst erweitert, und die große Müllverbrennungsanlage ist weiterhin charakteristische Landmarke. Der gesamte nationale Verkehr in den Norden passiert das Tal und es scheint, dass alle Großprojekte, die negative Auswirkungen auf die Wohnqualität haben, im Groruddal platziert werden, sei es ein neuer großer Parkplatz für LKW, eine Schneedeponie oder ein neuer Werkstattbereich für die Busse der Stadt.23 – Holen referiert seine Mutter: „Wäre es möglich, so hätten sie den [neuen Containerhafen] sicher auch ins Groruddal gelegt.“24 21 Vgl. Byantikvaren, Oppdag Groruddalen, 18; Holen, Groruddalen, 12.164 f.174 f.; Høgmoen, Anders/Hylland Eriksen, Thomas, Et lite stykke Anti-Norge, in: Samtiden (1/2011), 29–38, 34 f.; Eriksen, Trond Berg/Hompland, Andreas/Tjønneland, Eivind, Et lite land i verden. 1950–2000, Norsk id historie VI, Oslo 2003, 352.464–471. 22 Holen, Groruddalen, 16. Als ein Beispiel unter anderen sollen Auszüge aus einem Leserbrief von Kent Andersen und Christian Tybring Gjedde, beide Politiker der Fremskrittsparti (Fortschrittspartei), genügen. Die beiden schreiben in der großen Osloer Tageszeitung Aftenposten im August 2010 unter der Überschrift „Der Traum aus Disneyland“: „Wir registrieren die Veränderungen um uns herum […] und wir wollen der Arbeiterpartei, der Gesellschaftsarchitektin der Nachkriegsjahre, gerne einige Fragen stellen: Was war falsch an der norwegischen Kultur, dass ihr sie so unbedingt mit dem, was ihr Multikultur nennt, ersetzen wollt? […] Es ist die Arbeiterpartei, die dafür sorgt, dass norwegisch-kulturelle Menschen aus mehreren Stadtteilen Oslos fliehen, Enklaven hinterlassen, in denen muslimische Einfältigkeit, muslimischer Dogmatismus und muslimische Intoleranz immer bessere Wachstumsmöglichkeiten erlangen.“ Siehe http://www.aftenposten.no/meninger/kronikk/Drom-fra-Disneyland-212763b.html (abgerufen am 9. 7. 2016). Diese Diskussionen, Stimmen für und wider, kochen in regelmäßigen Abständen in der Presse hoch, und genauso schnell verstummen sie wieder, tragen aber dazu bei, dass der schlechte Ruf bleibt. Holen weist in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, dass auch die ,Einwandererbevölkerung‘ keineswegs homogen ist. Vgl. Holen, Groruddalen, 178 f. 23 Vgl. Holen, Groruddalen, 57–61. 24 Holen, Groruddalen, 114. Die Stadt Oslo plant derzeit ein großes Projekt südlich im Groruddal und in zwei angrenzenden Stadtteilen, es trägt den Namen Hovinbyen (Hovin-Stadt). Das zuständige Amt schreibt: „Hovin-Stadt hat Potenzial das innere Zentrum und das Groruddal zu verbinden. Gleichzeitig soll Hovin-Stadt […] als eigenes städtisches Gebiet funktionieren. […]

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7.1.1.2 Das Groruddal-Aktionsprojekt Schon im Laufe der Jahre gab es immer wieder Bestrebungen, der Situation im Groruddal von kommunaler Seite adäquat zu begegnen. Holen beschreibt eine Veranstaltung im Jahr 2005: Als die Stadträtin für Stadtentwicklung, Grethe Horntvedt, von der Partei Høyre, im Januar 2005 die umfassenden Pläne des Stadtrates zur Verbesserung des Tales vorstellte, kam auch der Arbeiterparteipolitiker Ole-Erik Yrvin ins Stadtteilhaus nach Grorud, er hatte einen Koffer bei sich. In diesem befanden sich 38 Pläne für das Groruddal, keiner wurde, aufgrund von Geldmangel, je realisiert. Während die Stadterneuerung den östlichen Teilen der Innenstadt galt, waren die Gemeinschaftsgebiete in den äußeren östlichen Stadtteilen dem Verfall preisgegeben, zu einer Zeit als das Verkehrsaufkommen und die Verschmutzung zunahm.25

Erst in diesen Jahren kam die Planarbeit im Groruddal wirklich ins Rollen. Das Protokoll des Stadtparlaments, das am 21. Juni 2006 den ,Ganzheitlichen Entwicklungsplan für das Groruddal – Strategien für ein verbessertes Milieu bis 2030‘ verabschiedet, nennt nicht weniger als vier größere Vorarbeiten und sieben vertiefende Forschungsprojekte. Auch der Staat schaltete sich ein, die Regierungserklärung von 2005 nennt die Herausforderungen der Großstadt im Allgemeinen und das Groruddal speziell. 2006 einigten sich Stadt und Regierung auf das Groruddal-Aktionsprojekt mit diesen Schwerpunkten: a) Umweltfreundlicher Transport, b) Der Fluss Alna, die Umweltstruktur, Sport und Kultur, c) Wohnungs-, Stadt- und Ortsentwicklung und d) Kinder, Jugend, Ausbildung, Lebensbedingungen, Kulturaktivität und Inklusion/Integration. Über den Zeitraum von zehn Jahren (2007–2016) wurde eine Investition von über 1, 5 Milliarden Kronen getätigt.26 Die drei Zielvorgaben sind: Hovin-Stadt soll zukunftsweisende und klimagerechte Stadtentwicklung sein Hovin-Stadt soll eine Vielfalt an attraktiven Wohngebieten aufweisen, die eng miteinander und mit dem Rest der Stadt verwoben sind Fuß- und Radwege sowie öffentlicher Personennahverkehr sollen die einfachsten und attraktivsten Angebote zur Fortbewegung sein.“ Siehe https://www.oslo.kommune.no/politikk-og-administrasjon/prosjekter/hovinbyen/ (abgerufen am 9. 7. 2016). Über einen Zeitraum von etwa 25–30 Jahren sollen zwischen 30 000 und 40 000 neue Wohnungen entstehen, das entspricht der Einwohnerzahl Drammens heute. Auf der einen Seite als zukunftsweisend und positiv für die generelle Entwicklung im südlichen Groruddal gelobt, bleibt auf der anderen Seite festzuhalten, dass die, um das errechnete Wachstum der Bevölkerung aufzufangen, notwendige Stadtverdichtung wieder im Osten der Stadt angesiedelt wird. Offen ausgesprochen wird die Gefahr, dass Fehler wiederholt werden. 25 Holen, Øyvind, Groruddalen. En reiseskildring, Oslo 22016, 34. 26 Alle Dokumente zum Groruddal-Aktionsprojekt finden sich hier: https://www.oslo.kommune. no/politikk-og-administrasjon/slik-bygger-vi-oslo/groruddalssatsingen-2007-2016/dokumen ter-groruddalssatsingen/ (abgerufen am 14. 10. 2018). Vgl. Gabrielsen, Guro Voss, Groruddalen; Oslos vakreste verkebyll? – problemrepresentasjoner og stedsforst elser i Groruddalssatsingen, Dissertation, The Oslo School of Architecture and Design, 2014, 98–129. *

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Ziel des Groruddal-Aktionsprojekts war es, dass eine lokale und inkludierende Zusammenarbeit mit den Bewohnern/Bewohnerinnen, Bauvereinen, der Wirtschaft, den Stadtteilen und den öffentlichen Institutionen entwickelt wird. Die Identität und der Stolz des Groruddals sollen gestärkt werden.27

Eine der wichtigsten Arbeitsformen des Projekts, so stellt die abschließende Evaluierung fest, war der Fokus auf bestimmte, begrenzte Lokalmilieus/Teilstadtteile (Fokusprogramm), in denen es gerade darum ging, „die Zivilgesellschaft und das Organisationsleben durch Aktivitäten, Arrangements, Mitgestaltungsprozesse und Kurse zu stärken und zu mobilisieren“28. Die Stadtteile beobachten eine Stärkung des sozialen Kapitals und gestärktes Vertrauen innerhalb der (Teil-)Stadtteile.29 Zusammenfassend wird festgehalten: Dass die Verantwortung für die Entwicklung der Projekte bei den Stadtteilen lag, hat zu einer guten Verankerung bei den Bewohnern/Bewohnerinnen und zu einer Herangehensweise an die Projekte geführt, die von einer ,bottom-up‘ Strategie geprägt war […].30

Die Bedeutung des Dialogs mit „lokalen Interessenten/Interessentinnen“31, gerade in den Prozessen der Findung und Definition von Maßnahmen, und die Verankerung in den lokalen Bedürfnissen und Wünschen werden hervorgehoben. Die Wichtigkeit der ,bottom-up‘ Strategie wird ebenfalls in einer möglichen Fortführung des Projekts unterstrichen: Die Fokusprogramme bestehen zu einem großen Teil aus Entwicklungsprozessen, in denen man bis zu einem gewissen Grad einfach probieren und auch Fehler machen muss. Daher ist es wichtig, lokales Wissen zu involvieren, um damit eine so relevante Annäherung wie möglich, von Beginn an, zu sichern.32 27 Sluttevaluering av Groruddalssatsningen. Hovedrapport, 2016, 9, https://www.oslo.kommune. no/politikk-og-administrasjon/slik-bygger-vi-oslo/groruddalssatsingen-2007-2016/dokumen ter-groruddalssatsingen/ (abgerufen am 14. 10. 2018). 28 Sluttevaluering av Groruddalssatsningen, 69. Die Fokusprogramme hatten eine Laufzeit von fünf bis sieben Jahren. Die geplanten und durchgeführten Maßnahmen variieren von neuen Parkbänken, Infotafeln, über Jugendprogramme, Straßenfeste bis hin zu neuen Grün- und Sportanlagen. 29 Vgl. Sluttevaluering av Groruddalssatsningen, 70 f. 30 Sluttevaluering av Groruddalssatsningen, 141. 31 Sluttevaluering av Groruddalssatsningen, 145. 32 Sluttevaluering av Groruddalssatsningen, 165. Vgl. Sluttevaluering av Groruddalssatsningen, 139.152 ff.157.163. Die Fortführung des Projekts ist Ziel der Politik des Stadtrats, vgl. http:// www.sv.no/oslo/wp-content/uploads/sites/2/2015/10/Byraadserklaering-web.pdf (abgerufen am 22. 10. 2015). Ein Intentionsvertrag zwischen Kommune und Staat wurde am 31. August 2015 unterzeichnet und eine erste Programmbeschreibung lag am 12. August 2016 vor, vgl. https:// www.nrk.no/ostlandssendingen/skal-hindre-svenske-gettotilstander-i-groruddalen-1. 13085158 (abgerufen am 14. 8. 2016).

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Es ging, im Sinne der grundlegenden Zielformulierung, auch darum, Zugehörigkeit und Identität zu schaffen, denn diese sind im Groruddal nicht selbstverständlich.33 Die Evaluierung des Groruddal-Aktionsprojekts zeigt deutlich, dass es gerade die aus der Innensicht eines bestimmten Ortes heraus entwickelten Maßnahmen sind, die die Entwicklung im Tal vorantreiben; die Innensicht hat, neben wichtiger Überblicksstatistik, ihre eigene Relevanz. Erste qualitative Forschungen, auch zum Komplex der ,bottom-up‘ Strategie der Fokusprogramme, liefern komplementäre Ergebnisse zur großen Abschlussevaluierung. Monika Rosten untersucht mittels qualitativer Methoden das Fokusprogramm im Teilstadtteil Furuset im Stadtteil Alna und schreibt: Die Finanzierung durch externe Quellen ist gut und schön, aber es sind trotzdem Menschen wie Neela, Vegard und Awale, die das staatliche Prestigeprojekt auf ihren Schultern tragen. Wenn diese sich, über ihre Stellenbeschreibung hinaus, engagieren, dann markieren sie wirklich eine Veränderung für Furuset.34

Die Konklusion, so scheint deutlich, ist, dass sich das Groruddal, verstanden als in sich geschlossene, ganzheitliche Größe, nicht findet – das Groruddal wird konstituiert, von den involvierten Subjekten, immer wieder neu und anders: Das Bild der Herausforderungen im Tal ist facettiert und keineswegs eindeutig. Es gibt viele Arten und Weisen, das Groruddal zu beschreiben, abhängig von Standort und Perspektive. Ergibt es überhaupt Sinn, eine so große, vielfältige und dynamische Gegend wie das Groruddal als Problem zu definieren?35

7.1.2 Die Norwegische Kirche im Groruddal Die ältesten Spuren menschlicher Siedlung im Groruddal sind über 4 000 Jahre alt, aus dem Mittelalter ist der Pilgerweg nach Nidaros (Trondheim), wo das Grab des heiligen Olav, des norwegischen Nationalheiligen, besucht wurde, bekannt. Gehöfte sind im 14. Jahrhundert bezeugt, fielen aber 33 Vgl. Eriksen, Thomas Hylland/Vestel, Viggo, Groruddalen, Alna og det nye Norge, in: Alghasi, Sharam/Eide, Elisabeth/Eriksen, Thomas Hylland (Hg.), Den globale drabantbyen. Groruddalen og det nye Norge, Oslo 2012, 15–32, 16. 34 Rosten, Monika, Om dyrke roser fra betong: Omr deløft p Furuset-vis, in: Alghasi, Sharam/ Eide, Elisabeth/Eriksen, Thomas Hylland (Hg.), Den globale drabantbyen. Groruddalen og det nye Norge, Oslo 2012, 145–161, 160. Die genannten jungen Erwachsenen sind „Furuset-Botschafter“ und „Furuset-Botschafterinnen“, es handelt sich um eine „vielfältige Gruppe von Bewohnern/Bewohnerinnen und anderen engagierten Furuset-Patrioten/Furuset-Patriotinnen unterschiedlichen Jahrgangs, unterschiedlicher Hautfarbe und unterschiedlichen Kalibers.“ In Rosten, Om dyrke roser, 155. 35 Sluttevaluering av Groruddalssatsningen, 151.

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um 1349 der Pest zum Opfer und lagen mehrere Jahrhunderte brach. In seinem Visitations- und Reiseprotokoll von 1591 schreibt Bischof Jens Nilssøn (1538–1600): „In Furuset hat in alter Zeit eine Kirche, aus Holz gebaut, gestanden, diese ist vollständig zerstört und zusammengebrochen […].“36 Die zwischen 1130 und 1160 gebaute Kirche Gamle Aker diente bis zur Weihe der Pfarrkirche Østre Aker 1860 als Pfarrkirche des Tals. Zu dieser Zeit lebten die meisten der 5 000 Einwohner von Østre Aker in Furuset, doch mit der aufkommenden Industrialisierung verschob sich der Bevölkerungsschwerpunkt nach Grorud. Die Kirche dort wurde 1902 geweiht. Dreißig Jahre später kam die Kapelle am Friedhof in Høybr ten hinzu. Gemeindliches und kirchliches Engagement hat es aber auch ohne feste gemeindliche Struktur gegeben. Bemerkbar machte sich der Einfluss Hans Nielsen Hauges37, der 1817 den Hof Bredtvet gekauft hatte, und zumindest mittelbar führte dies auch zur Gründung von Missionsvereinigungen, 1855 war Aker die erste einer ganzen Reihe. In den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts folgten an mehreren Orten des Tals Gemeindeschwestern, Sonntagsschulen und andere Aktivitäten nach. – Es wurde im Kleinen sichtbar, was sich mit dem Ausbau nach dem Krieg deutlich zeigen sollte: Die Gemeindeentwicklung im Groruddal folgte einer Art Teilungsprinzip. Mit dem Ausbau und der wachsenden Bevölkerung gingen nach und nach aus den alten Gemeinden neue Gemeinden hervor.38

Anhand dreier Gemeinden sollen kirchliche Entwicklungen grob nachgezeichnet werden. Dabei geht es nicht um Vollständigkeit, nicht um Einheit36 In Akerø, Hans Arne, Fossum kirke. 25 r i avgrensning og nærhet, ohne Verlag, 2001, 11. Vgl. Furuset menighetsr d (Hg.), Furuset kirke 25 r. 1980–2005, ohne Verlag, 2005, 27 f. In der Kirche Furuset sind heute zwei Schlüssel ausgestellt, die aus der Mittelalterkirche stammen sollen. Die erste urkundliche Erwähnung Furusets wird mit dem Jahr 1345 angegeben. Vgl. Furuset menighetsr d, Furuset kirke, 31 f. 37 Hans Nielsen Hauge (1771–1824) war norwegischer Laienprediger und erlebte seine Erweckung 1796. Er gilt als Initiator einer einflussreichen Erneuerung der Norwegischen Kirche. Hauge kam in Konflikt mit dem Staat, da seine Verkündigung, in Form von Predigtreisen, Büchern und Pamphleten, unter anderem das Monopol der Pfarrerschaft, die hierarchische Ordnung des Absolutismus und die Ordnung der Stände und der Geschlechter herausforderte. Der Grund der heftigen Verfolgung durch den Staat darf mit Berge Furre darin zu suchen sein, dass Hauge eine dem Staat konkurrierende organisierte Gemeinschaft aufzubauen schien. Sein Einsatz war befreiend für die Laien und Laiinnen in der Kirche, er lag den Grundstein für die Bildung von Organisationen in der Kirche, seine Offenheit der Gesellschaft gegenüber und seine Herausforderung, Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen, präg(t)en das Leben in der Norwegischen Kirche. Vgl. Furre, Berge, Hans Nielsen Hauge – kva slags opprør?, in: Furre, Berge, Sant og visst. Artiklar, foredrag og preiker, herausgegeben von Ottar Grepstad, Oslo 1997, 192–203; Gilje, Nils/Rasmussen, Tarald, Tankeliv i den lutherske stat. 1537–1814, Norsk id historie II, Oslo 2002, 415–438. 38 Furuset menighetsr d, Furuset kirke, 33. Vgl. Akerø, Fossum kirke, 11.; Furuset menighetsr d, Furuset kirke, 32 f.

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lichkeit, sondern darum, durch Rückgriff auf gemeindeinternes Material, das Selbstverständnis der Gemeinden, der in den Gemeinden Beteiligten, auszuleuchten. Die in diesem Rückgriff zutage tretenden Ähnlichkeiten und Unterschiede ergeben, so die Annahme, ein facettiertes und doch paradigmatisches Bild, das verschiedene lokale Voraussetzungen berücksichtigt und würdigt. So wenig wie das Groruddal ist die Kirche im Groruddal eine einheitliche, gleichförmige Größe. Bei dem hinzugezogenen Material handelt es sich um drei Hefte unterschiedlichen Umfangs. Hans Arne Akerø hat zum 25-jährigen Jubiläum der Kirche Fossum im Jahr 2001 ein Heft von 64 Seiten vorgelegt, er geht gründlich zu Werk und versteht sein Heft ausdrücklich als Beitrag zur lokalen Kirchengeschichte. Der Kirchenvorstand der Gemeinde Furuset legte 2005, ebenfalls zum 25jährigen Jubiläum der Kirche, ein 51-seitiges Heft vor, ausgearbeitet von einem Redaktionskomitee, dem auch der damalige Pfarrer angehörte. Aus der Gemeinde Ellingsrud stammt das jüngste – erschienen 2009 – und einfachste Heft, geschrieben von zwei Freiwilligen der Gemeinde, ein konkreter Anlass wird nicht erkenntlich.39

7.1.2.1 Das anfängliche Engagement von der Basis her Für die Gemeinde Furuset und die Gemeinde Ellingsrud war das anfängliche Engagement von unten und von der Basis her entscheidend. Die Gemeinde Furuset konnte auf lange kirchliche Aktivität aufbauen, so wurde 1917 der ,Furuset Kinderverein für Mission‘ gegründet, 1923 die Gemeindepflege, 1924 die Sonntagsschule und der Kinderverein ,Der Sonnenstrahl‘. Daran konnte die Norwegische Kirche anknüpfen, sodass ab 1923 in der Schule Furuset jeden zweiten Sonntag, vom Pastor aus Grorud, gottesdienstliche Versammlungen gehalten wurden. Schon 1931 äußerte ein Treffen von Sonntagsschullehrern den Wunsch nach einem Gemeindehaus, und „man war weiterhin bemüht, eine lokale Arbeit, die das interne Gemeindebewusstsein stärken sollte, aufrechtzuerhalten und weiterzuführen“40. Dazu trug die Entsendung des ersten Hilfspredigers 1941 sowie die Gründung weiterer Gemeindegruppen bei, noch bevor in den Jahren des ersten Ausbaus (ab 1955) eine weitere Sonntagsschule gegründet und Anfang der 60er Jahre ein Jugendklub eröffnet wurde. Nach einigen Jahren der Stagnation wurde 1976 auf einem Gemeindeabend wieder die Frage laut: ,Wer plant die Gemeinde Furuset – und wann?‘ In Folge dessen waren dann im März 1977 etwa 30 Interessierte auf einem Wochenendworkshop, welcher Themen und Fragen wie ,Was ist 39 Vgl. Akerø, Fossum kirke; Furuset menighetsr d, Furuset kirke; Engstrøm, Bjørn/Skjollby, Wenche, Historien om Ellingsrud menighet og kirke – perioden 1970–2009, ohne Verlag, 2009. 40 Furuset menighetsr d (Hg.), Furuset kirke 25 r. 1980–2005, ohne Verlag, 2005, 34.

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eine Gemeinde?‘ und ,Wer macht was, wo und wann?‘ aufgriff. Es sollte zwei weitere Jahre dauern, bevor Furuset zur selbstständigen Gemeinde wurde.41 Auch in Ellingsrud war das freiwillige Engagement erheblich, musste sich aber gänzlich anders gestalten, da Ellingsrud sozusagen auf der grünen Wiese und in zwei großen Bauabschnitten gebaut wurde. Zwischen 1970 und 1973 zogen im ersten, östlichen Bauabschnitt über 3 000 Menschen ein. Die Innere Mission Oslo entsandte 1972 den ersten Pastor nach Ellingsrud, Eivind Willoch, und der berichtet: Wir haben die Gemeinde mithilfe einer Art Großfamiliensystem gebaut. Wir haben uns zum Mittagessen getroffen und nach und nach entstanden tiefe Freundschaften. Der Nachteil war, dass wir jedes Mal geweint haben, wenn jemand weggezogen ist.42

Bjørn Engstrøm und Wenche Skjollby erinnern ganz andere Voraussetzungen als in Furuset: Willoch hat die Bewohner/Bewohnerinnen zu einem Seminar eingeladen, da stand die gemeinsame Verantwortung für die Kinder auf dem Programm. Ein Resultat war […] [ein Kinderklub], der in aller Hauptsache von den Eltern geleitet wurde. […] Die wenigsten der Eltern hatten Erfahrung oder Hintergrund in traditioneller Gemeindearbeit, das hat dazu beigetragen, dass man das nach den Bedürfnissen ausrichten konnte, die sich zeigten.43

Für die Gemeinde Fossum zeigt sich in dieser Hinsicht ein nicht so klares Bild. Es gab wohl auch hier seit 1895 eine Missionsvereinigung, aber Hans Arne Akerø konzentriert sich in seiner Darstellung doch sehr auf die Funktionsträger, berichtet eher summarisch von den Gemeindegruppen, die schon Anfang der 70er Jahre aktiv waren: 1972 gab es drei Sonntagsschulen, fünf Kindergruppen, drei Gruppen für ältere Kinder, einen Jugendklub und mehrere Gruppen für Erwachsene. Es kommen sodann die Gemeindepflege, CVJM Pfadfinder und Chorgruppen (Ten Sing) hinzu. Zwischen den Zeilen wird deutlich, dass diese Gruppen auf freiwilliges Engagement angewiesen waren, wenngleich die personelle Ausstattung seitens der Norwegischen Kirche besser war. Die Gemeinde wurde 1972, sieben Jahre früher als Furuset, selbstständige Gemeinde.44

41 Vgl. Furuset menighetsr d, Furuset kirke, 33 ff.37.41. 42 In Engstrøm, Bjørn/Skjollby, Wenche, Historien om Ellingsrud menighet og kirke – perioden 1970–2009, ohne Verlag, 2009, 3. 43 Engstrøm/Skjollby, Historien om Ellingsrud, 3. 44 Die beiden späteren Gemeinden Fossum und Stovner hatten schon 1972 ihre je eigene Pfarrstelle und teilten sich eine weitere Pastorenstelle. Vgl. Akerø, Hans Arne, Fossum kirke. 25 r i avgrensning og nærhet, ohne Verlag, 2001, 11.21.24.32 f.34 f.

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7.1.2.2 Gottesdienst in provisorischen Räumen Auf den ersten Blick scheint sich eine Gemeinsamkeit darin zu zeigen, dass die drei Gemeinden ihre Gottesdienste zunächst in provisorischen Räumen, nicht in einer Kirche, feierten – zu Beginn der Aktivitäten gab es keine Kirche in den Gemeinden. In Fossum wurde, gemeinsam mit der Nachbargemeinde Stovner, von 1971 an die Kantine der Schule in Stovner als Gottesdienstraum genutzt, schon ein Jahr später wechselte die Gemeinde aber in die (da neue) Schule in Vestli, im gleichen Jahr weihte die Gemeinde Lokalitäten auf dem alten Hof Tokerud ein, die als Gemeindelokal, als Räumlichkeiten für die Kinder- und Jugendarbeit und als Büro dienten. Auffällig bleibt: Mit der Einweihung der Kirche 1976 sind diese Räumlichkeiten verlassen, haben in der Gemeinde keine Rolle mehr gespielt, werden zumindest in Akerøs Beschreibungen nicht mehr erwähnt.45 Anders gestaltete sich dies in Furuset. Mit der einsetzenden Bebauung in einem anderen Teil der Gemeinde, in Lindeberg, bot sich die Möglichkeit, am kleineren Zentrum in Lindeberg ein Lokal in einem der anliegenden Blöcke einzurichten. In der Kirchenstube gab es Büros und einen größeren Raum, der als Gottesdienstraum eingerichtet und geweiht wurde. Von Anfang an war klar, dass die Kirchenstube in der Gemeindestrategie ihren Ort hatte, und sie sollte, auch nach der Einweihung der Kirche, Basis für die Kinder- und Jugendarbeit sein. Aber schon 1981, ein Jahr nachdem die Kirche fertiggestellt war, wurde die Kirchenstube aufgegeben. Die finanzielle Belastung wurde zu hoch und die neue Kirche hatte sich als Gemeindezentrum etabliert.46 In Ellingsrud gab es seit 1972/1973 den Kirchenkeller, in der Parterre eines Wohnblocks gelegen. Dieser wurde 1973 zu gottesdienstlichem Gebrauch geweiht. Bjørn Engstrøm und Wenche Skjollby heben hervor, dass die liturgische Einrichtung durch die Kirkelig kulturverksted47 erfolgte und dass die liturgischen Gegenstände, wie zum Beispiel die Taufschale, bis heute in der Kirche, die 1981 geweiht wurde, in Gebrauch sind. Wie das Altarbild des Kirchenkellers wurde das Altarbild der neuen Kirche von der Künstlerin Ingjerd Pettersen-Hagh (1919–2009) gemalt und Engstrøm und Skjollby halten fest:

45 Vgl. Akerø, Hans Arne, Fossum kirke. 25 r i avgrensning og nærhet, ohne Verlag, 2001, 25.31. 46 Vgl. Furuset menighetsr d (Hg.), Furuset kirke 25 r. 1980–2005, ohne Verlag, 2005, 40 f. 47 Kirkelig kulturverksted (auf Deutsch Kirchliche Kulturwerkstatt) ist sowohl Platenlabel als auch Kulturinstitution. Die erste Platte (1974) trug den Titel Lukk opp kirkens dører (auf Deutsch Öffnet die Türen der Kirche) und der Titel war in vielerlei Hinsicht Programm. Siehe http://kkv. no/om-kkv/historien/ (abgerufen am 25. 7. 2016).

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Dadurch, dass die Kirche wieder mithilfe der Kompetenz und der Künstler/Künstlerinnen der Kirchlichen Kulturwerkstatt ausgestattet wurde, prägten die ,Wurzeln‘ der Gemeinde die neue Kirche – das wurde als wichtig erachtet.48

Diese Einschätzung wird nochmals vom Kirchenvorstand unterstrichen. Das Altarbild des Kirchenkellers hing von 1981 an in einem Sitzungszimmer der neuen Kirche. Es wurde aber im Januar 2010, im Zuge der Vorbereitungen zur bevorstehenden Visitation, zusammen mit dem übrigen Inventar des Kirchenkellers als eine Art Nebenaltar in der Kirche installiert. Dieser unterschiedliche Umgang mit den Interimslokalen wird ganz gewiss nicht monokausal zu erklären sein, die Frage danach soll ferner keineswegs überfrachtet werden, gleichwohl, so die Vermutung, geben die Geschehnisse um das Zustandekommen des jeweiligen Kirchenbaus Hinweise auf das Selbstverständnis der Gemeinde.

7.1.2.3 Der unterschiedliche Umgang mit den provisorischen Räumen – der Kirchenbau und das Selbstverständnis der Gemeinden In Fossum wurde man, sozusagen von Anbeginn an, Teil der Diskussionen zwischen denen, die einen Ausbau des Tals in öffentlicher Regie wünschten, und einem der wichtigen privaten Bauunternehmer, dem Diplom-Ingenieur Olav Selvaag. Seit 1966 sah der kommunale Regulierungsplan die Gründung zweier Gemeinden und damit den Bau zweier Kirchen vor, lediglich die Frage der Platzierung blieb unentschieden. In den Folgejahren geschah wenig, und die Prioritäten, die die Kommune den Bau von Kirchen angehend setzte, waren für die Gemeinden, die auf ihre Etablierung und ihre Kirchengebäude warteten, nicht einfach zu durchschauen. Der Pfarrer der Gemeinde Høybr ten, Lorentz Ulrik Pedersen49, wurde 1968 aktiv. Er schlug der Kommune vor, dass Selvaag, der das neue Zentrum in Stovner bauen sollte, doch auch die Kirche bauen könnte. Die Diskussion darüber zog sich einige Jahre hin, 1971 wendete sich Pedersen direkt an Selvaag, der innerhalb weniger Tage antwortete und der Sache positiv gegenüberstand. Aber lokalpolitisch war das nicht einfach durchzusetzen. 1972, nach heftigen Diskussionen über das neue Zentrum, sprach sich die Arbeiterpartei gegen zwei neue Kirchengebäude aus, wollte die Grundstücke für Kinder- und Jugendarbeit nutzen und wollte die 48 Engstrøm, Bjørn/Skjollby, Wenche, Historien om Ellingsrud menighet og kirke – perioden 1970–2009, ohne Verlag, 2009, 9. Vgl. Engstrøm/Skjollby, Historien om Ellingsrud, 3.8. 49 Pedersen kam 1947 als Hilfsprediger in die Gemeinde Grorud, bekam früh die Verantwortung für das Gebiet Høybr ten, wurde dort, als die Gemeinde 1966 etabliert wurde, Pfarrer. Pedersen ging 1972 als Propst nach Lillehammer, blieb dem Groruddal verbunden, kehrte als Pensionär hierher zurück – ohne Frage einer der führenden strategischen Köpfe der Kirche im Tal. Vgl. Akerø, Hans Arne, Fossum kirke. 25 r i avgrensning og nærhet, ohne Verlag, 2001, 20.

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kirchlichen Aktivitäten in bestehende Gebäude integrieren, in Schulen oder auch im neuen Zentrum. Es wurde deutliche Kritik an Selvaag geübt, die Partei forderte Sicherung kommunalen Einflusses über das neue Zentrum, eine Bewohnervereinigung verlangte eine demokratische Leitung. Beides war für Selvaag nicht aktuell, der kommerzielle Bauherr wollte alleine entscheiden können. Hans Arne Akerø schreibt: Das Zentrum in Stovner wurde zum Ort, an dem der Streit zwischen verschiedenen Sichtweisen auf die neue Stadtgesellschaft und an dem die politische Debatte, ob alleine der Markt oder der Markt, die Kommune und das Lokalmilieu im Zusammenspiel das Zentrum prägen sollten, ausgetragen wurden. Von ihrer ersten Stunde an musste sich die Gemeinde dem Zentrum in Stovner gegenüber verhalten, in Abgrenzung und Nähe. In der Hauptsache hat die Kirche das Zentrum unterstützt.50

Selvaag baute die Kirche. Die Baukräne, die das Zentrum errichtet hatten, mussten nur um 180 Grad gedreht werden, sodass die Kirche billig gebaut werden konnte – für die Gemeinde ein wichtiger Schritt, denn es lag ein jahrelanges und zähes Ringen hinter der Gemeinde. War man in der Gemeinde, nachdem die Kirche nun endlich gebaut worden war, vielleicht auch erleichtert? Erleichtert darüber, dass die Interimslokale, die ja im Grunde dem Ideal der Arbeiterpartei entsprachen, aufgegeben werden konnten, weil man wusste, dass die Diskussionen um die Kirche anstrengend genug gewesen waren, dass der Rückhalt in der Lokalbevölkerung nicht von Enthusiasmus geprägt war? Akerø fragt: […] war die enge Verbindung zum Zentrum in Stovner, zur politischen Debatte um das Zentrum, eine Bestärkung des alten Gegensatzes, des alten Gefühls der Fremdheit zwischen der Kirche und der Arbeiterbewegung? Und musste die Kirche diese Debatte nicht als Bestätigung dafür ansehen, dass Sozialdemokraten/Sozialdemokratinnen und Sozialisten/Sozialistinnen Geld für viele andere Dinge ausgeben wollen, aber nicht für die Kirche?51

In Furuset bestimmten zwei Sachverhalte, die eng zusammenhängen, die Diskussion um den Bau der Kirche. Zum einen der lange Atem, der von der Gemeinde von 1931 bis zur Fertigstellung der Kirche 1980 gefordert war, zum anderen gerade das Bestreben die langen historischen Linien wertzuschätzen. Schon 1945 wurde unter freiem Himmel ein Gottesdienst auf dem Grundstück gefeiert, das seit alters Kirchenstück genannt wurde, hier vermutete man den Ort der Mittelalterkirche, hier sollte die neue Kirche stehen. Man kannte, wie in Fossum, die Diskussion um die Nähe zum Zentrum, beharrte aber auf der als historisch richtig angesehenen Platzierung. Vom Kirchenministerium wurde angemerkt: 50 Akerø, Fossum kirke, 27. 51 Akerø, Fossum kirke, 28. Vgl. Akerø, Fossum kirke, 12–15.19.21 f.24.26–30.

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Geografisch liegt das Gebiet gut zentriert. Dies kann auch von der Platzierung in der Wohnungsbebauung gesagt werden, aber verkehrstechnisch ist das Areal nicht gut angebunden. […] Prinzipiell sollte die Kirche im oder am Zentrum in Furuset liegen.52

Ist es von daher nicht gut nachvollziehbar, dass sich die Gemeinde ein Standbein am Zentrum in Lindeberg erhalten wollte, komplementär zur historisch motivierten Platzierung der Kirche? Es war in Ellingsrud gerade die Arbeit der Gemeinde, die im neu (und zuerst) entstandenen östlichen Teil gemeinschaftsstiftend wirkte. Als der Ausbau des westlichen Teils in Gang kam, mit der Kirche und dem neuen U-Bahnbahnhof am Zentrum, bekamen das Kirchenkomitee und der Arbeitsausschuss vom Kirchenvorstand der Gemeinde Høybr ten, der offiziell zuständig war, weite Vollmachten ausgestellt und deren Strategiedokument formulierte die Vision „Eine Kirche für alle“. Bemerkenswert ist Folgendes: [Das] […] Programm […] wurde zum Leitfaden für die vielen lokalen Kooperationen, die sich in Ellingsrud entwickelten. Das waren Kooperationen mit den Schulen, mit lokalen Musikgruppen und Blaskapellen […], mit dem Sportverein […] und nicht zuletzt mit der Arbeiterpartei in Ellingsrud, diese unterstützte aktiv den Kirchenbau. […] Sehr wenige – wenn überhaupt jemand – wünschten sich den Bau einer Kirche, aber die Haltung der lokalen Arbeiterpartei, ihr Standpunkt und die aktive Zusammenarbeit mit der Gemeinde waren wichtige Faktoren, um das Kirchengebäude als eine Kirche des Volkes fest zu ,gründen‘.53

Die Korrelation zum Programm der Kirchlichen Kulturwerkstatt ist unschwer zu erkennen; war ein Merkmal der Gemeinde, zum Gemeinschaftsaufbau beizutragen, sollte dies nach dem Bau der Kirche fortgeführt werden, formuliert in einer Vision, sichtbar und dinglich gemacht im liturgischen Inventar.54 7.1.2.4 Gab es eine Strategie der Norwegischen Kirche? Mit Ausgangspunkt in den geschilderten Situationen und eingedenk der Unabwägbarkeiten und unterschiedlichen Voraussetzungen für die Gemeinden soll kurz innegehalten und gefragt werden: Gab es vonseiten der offiziellen Kirche eine Strategie dem rasanten Ausbau im Groruddal zu begegnen? 52 In Furuset menighetsr d (Hg.), Furuset kirke 25 r. 1980–2005, ohne Verlag, 2005, 42. Vgl. Furuset menighetsr d, Furuset kirke, 37–42. 53 Engstrøm, Bjørn/Skjollby, Wenche, Historien om Ellingsrud menighet og kirke – perioden 1970–2009, ohne Verlag, 2009, 6 f. 54 Es bleibt anzumerken, dass die Zeit des Kirchenkellers nicht einfach Idylle war und die Verschiebung des Zentrums in den westlichen Teil Ellingsruds für den östlichen, sich seiner lokalen Identität sicheren Teil nicht ohne Herausforderung blieb. Vgl. Engstrøm/Skjollby, Historien om Ellingsrud, 5 ff.

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Generell lässt sich festhalten, dass in den Gemeinden vor Ort ein Unsicherheitsgefühl vorherrschend war: Die Kirche hatte seit Langem ein Stadtproblem. Nun hatte sie auch ein Trabantenstadtproblem und ein noch stärkeres Gefühl, in den Urbanisierungs- und Modernisierungsprozessen abgehängt zu werden.55

Hans Arne Akerø beschreibt dies am deutlichsten. Man fühlte in Fossum, dass Teile der Bevölkerung der Kirche gegenüber entfremdet waren, die versprochenen öffentlichen Institutionen waren nicht fertiggestellt und doch sah die Kirche ihre Chance, an den entstehenden lokalen Zentren präsent zu sein.56 Gleichzeitig wusste man, dass die politisch entscheidende Arbeiterpartei die Grundstücke, die zum Kirchenbau vorgesehen waren, gerne genutzt hätte, um Stadtteilhäuser oder Kindergärten zu bauen. Die Kirche betonte, dass die Kirche am Zentrum ein Mehrzweckhaus ist – das Ideal der Arbeitskirche, gut erreichbar und offen, wurde, nicht nur in Fossum, sondern im ganzen Tal, verfochten. Die Kirche, so wurde argumentiert, liefert genau das, was nachgefragt wird: Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und generationsübergreifende Arbeit, die alle anspricht. Der damalige Propst, John Heltne, wies es weit von sich, dass Kirche und Kindergarten sich gegenseitig ausschließende Alternativen sind.57 All dies erscheint gleichwohl vielmehr als Reaktion denn als Aktion. Die drei hinzugezogenen Gemeindechroniken verstärken das Bild, dass die Gemeinden, besser, im engeren Sinne: die Gemeindeleitungen, der Bischof und die kirchliche Bürokratie, die der Kirchenordnung nach zum Teil der kommu55 Akerø, Hans Arne, Folkekirke og hellighet i Groruddalen, in: NTT 97 (1996), 80–93, 80. 56 Wilhelm Dahmberg beschreibt und analysiert Kirchenbau und kirchliche Strategien im Bistum Essen, von den ausgehenden 50er Jahren bis heute. Als Begründung für den Verlust der Kirchenbindung führt er die Mobilität der Bevölkerung und die Konzentration auf Gemeinde als Gottesdienstgemeinde an. Er bemerkt, dass „es wohl fatal [wäre], wenn die Zusammenlegung von Pfarreien [heute] nach denselben Standards betrieben würde, die damals angelegt wurden, d. h. die starke Fixierung auf Kirchenbesucherzahlen, die Bereitstellung von Gottesdiensträumen und zelebrierendem Klerus – nur eben mit umgekehrtem Vorzeichen.“ In Dahmberg, Wilhelm, „Jedem Bergarbeiter seine Kirche neben’s Bett“. Katholiken, Kirchen und Stadtentwicklung in der Geschichte des Ruhrgebiets, in: Brüggerhoff, Stefan/Farrenkopf, Michael/ Geerlings, Wilhelm (Hg.), Montan- und Industriegeschichte. Dokumentation und Forschung. Industriearchäologie und Museum, Paderborn et al. 2006, 261–273, 273. Sicherlich können keine direkten Schlüsse vom römisch-katholischen Ruhrgebiet auf die Verhältnisse einer lutherischen Kirche im Groruddal gezogen werden, die Parallelen sind aber erhellend. 57 Vgl. Akerø, Hans Arne, Fossum kirke. 25 r i avgrensning og nærhet, ohne Verlag, 2001, 16–20.24.27.30; Furuset menighetsr d (Hg.), Furuset kirke 25 r. 1980–2005, ohne Verlag, 2005, 7.12.38 f.42.44. Akerø bemerkt, dass für einen Friedhof um die Kirche herum kein Platz mehr war, der Friedhof wurde im Tal, neben der Industrie, angelegt. Eine Parallele dazu: In den Altenheimen des Tals, die in etwa zeitgleich wie die Kirchen gebaut wurden, ist die Kapelle gerne im Keller untergebracht, neben der Küche und der Wäscherei.

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nalen Verwaltung angehörte, sich durchaus als Spielball in Fragen von kommunaler Vision, Budget und Etat gesehen haben. Deutlich argumentierte man von kirchlicher Seite mit Preiskalkulationen, sah einen strategischen Vorteil in der Zusammenarbeit mit Olav Selvaag. Schließlich wurden mehrere Kirchen als Variationen über die gleiche Planzeichnung konzipiert, man akzeptierte einen durchaus beträchtlichen Eigenanteil der Gemeinden und nahm Abstriche bei der künstlerischen Ausschmückung in Kauf. In diesen verworrenen Zusammenhängen gab es viele, vielschichtige und auch gegenläufige Interessen, vielleicht sogar eine gewisse Konkurrenz – im Sinne von: Wer bekommt seine Kirche zuerst? – Dies eröffnete einen Handlungsraum für Einzelpersonen, wie den oben erwähnten Lorentz Ulrik Pedersen.58 Die Freiwilligen, die sich in den Gemeinden in vielfältigen Angeboten engagierten, waren in ihrem Engagement von diesen Prozessen nur mittelbar berührt – und konnten doch durch zwei übergemeindliche Akteure Unterstützung für ihr Engagement erfahren. Diese beiden Akteure waren die Innere Mission Oslo und Kirken bygger. Knut Lundby schreibt: Der Inneren Mission Oslo gelang es besser als der Kirche, als ganzheitliche Größe gesehen, dem Bevölkerungsstrom ,zu folgen‘. Die Innere Mission Oslo plante evangelisierende Aktionen im Zentrum und stellte Pastoren ein, die nach und nach, als die neuen Vorstädte realisiert wurden, Gemeinden aufbauen konnten.59

Dieser Gemeindeaufbau war keineswegs eine einfache Sache. Lundby beschreibt zum einen eine Situation, die davon geprägt war, dass die Trabantenstädte kein fest gefügtes Milieu aufwiesen, wie die Menschen es vielleicht aus ihrem Dorf, vom Leben auf dem Lande her, kannten. Ein Engagement in und für die Kirche gehörte nicht mehr unbedingt dazu. Zum anderen macht er auf die Streitigkeiten zwischen Kommune und Staat aufmerksam, da ging es darum, wer für die neu einzurichtenden Stellen finanziell aufzukommen hat. Edvard Haugland, der 1968 als ,Trabantenstadtpastor‘ nach Ammerud kam, stellte rasch fest, dass das Engagement im Grunde zwei Jahre zu spät in Gang kam, äußerte sich der Kirchenbürokratie gegenüber kritisch und forderte ein kirchliches Aktionsprogramm. Er wünschte sich, dass die Kirche sich größere Expertise in Sachen der Stadtplanung erarbeitete, und forderte, dass die Kirche sich endlich ernsthaft fragen muss, ob Kirchengebäude wirklich wichtiger als Kindergärten sind. Schlussendlich bezeichnete er alle Ideen von 58 Vgl. Furuset menighetsr d, Furuset kirke, 38 f.46 f.; Akerø, Fossum kirke, 16 f.23 ff.29 f.43; Engstrøm, Bjørn/Skjollby, Wenche, Historien om Ellingsrud menighet og kirke – perioden 1970–2009, ohne Verlag, 2009, 11. 59 Lundby, Knut, Mellom vekkelse og velferd. Bymisjon i opp- og nedgangstider, Oslo 1980, 265.

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Hausgemeinden als Strukturmerkmal der Kirche im Groruddal als illusorisch und nicht durchführbar.60 Auffällig ist, dass Hauglands Beschreibungen sich mit denen aus Ellingsrud treffen: Weder in Ammerud noch in Ellingsrud konnte man auf kirchliche Erfahrung der Menschen bauen. Sowohl in Ammerud als auch in Ellingsrud bedurfte es der genauen Wahrnehmung der Menschen und ihres Lebens. Was war überhaupt möglich, welche Anknüpfungspunkte ergaben sich? Was erwarteten die Menschen von der Kirche? Dies hatte Auswirkungen ins liturgische Feld hinein, war doch in Ellingsrud die Rückmeldung den Familiengottesdiensten gegenüber weit positiver als anderen Gottesdiensten gegenüber. In diese Denkrichtung fügen sich die Gestaltung des Kirchenkellers durch die Kirchliche Kulturwerkstatt und die Fortführung eines Versuchsprojekts mit Fokus auf Gemeindediakonie in Furuset 1977, das die Innere Mission Oslo mit einer ganzen Stelle unterstützte.61 Aus der Klein-Kirchen-Bewegung erwuchs der zweite Akteur, den Lundby nennt, Kirken bygger (Die Kirche baut). 1973 wurde diese Stiftung, getragen vom Osloer Kleinkirchenverein, der Inneren Mission Oslo und dem Bistum Oslo, gegründet. Zu dieser Zeit waren vom Osloer Kleinkirchenverein provisorische Kirchenräume geschaffen worden, auch die Kirchenstube in Lindeberg und der Kirchenkeller in Ellingsrud wurden vom Osloer Kleinkirchenverein unterstützt, aber die Herausforderungen im Groruddal waren für den Verein zu groß, daher folgte ein Schulterschluss mit anderen Akteuren. Lundby schreibt: Die Arbeitsteilung war folgendermaßen: Während der Kleinkirchenverein dafür arbeitete, Kleinkirchen zu bauen und Kleinkirchengemeinden zu etablieren, stellte die Innere Mission Oslo Pastöre ein und trug Sorge für provisorische Kirchenlokale in den neuen Wohngebieten.62

Laut Vertrag zwischen Kirken bygger und der Stadt Oslo vom 18. Oktober 1977 übernahm Kirken bygger die Verantwortung als Bauherr für vier Kirchen; Rødtvet, Stovner, Furuset und Ellingsrud. Um Kosten zu sparen, wurden, wie bereits oben erwähnt, die gleichen Planzeichnungen mehrmals verwendet und lediglich lokale Variationen eingebaut.63

60 Vgl. Lundby, Mellom vekkelse og velferd, 266.268.275–278.285; Akerø, Folkekirke og hellighet i Groruddalen, 81. 61 Vgl. Furuset menighetsr d, Furuset kirke, 35; Engstrøm/Skjollby, Historien om Ellingsrud, 3 ff. 62 Lundby, Mellom vekkelse og velferd, 269. Vgl. 5.2.1. 63 Vgl. Bergersen, Terje, Kirken Bygger – Stiftelsen som skaffet drabantbyene kirker, http://www.by arkivet.oslo.kommune.no/OBA/tobias/tobiasartikler/t4984.htm (abgerufen am 11. 8. 2012); Lundby, Mellom vekkelse og velferd, 278; Akerø, Fossum kirke, 17; Furuset menighetsr d, Furuset kirke, 39; Engstrøm/Skjollby, Historien om Ellingsrud, 3.7.

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Es sind wohl diese beiden Akteure, die, viel mehr als der Bischof oder die offizielle Kirche, den Gemeindeaufbau im Groruddal vorangebracht haben. Die Innere Mission Oslo trug durch ihre Hinwendung zu den Menschen in ihrem Lebensumfeld, allen Widrigkeiten und Herausforderungen zum Trotz, zum Gemeindeaufbau bei. Kirken bygger unterstützte den Gemeindeaufbau durch die Übernahme von Verantwortung und finanziellen Verpflichtungen, und letztlich durch Kirchengebäude, die, weil als Arbeitskirchen konzipiert, sowohl in die politische Stimmungslage hinein durchsetzbar waren, als auch die notwendigen Räumlichkeiten boten, die genannte Hinwendung zu den Menschen in ihrem Lebensumfeld weiterzuführen.64 7.1.2.5 Erneuertes Engagement von unten – Strukturveränderungen von oben 1994 wurde diese Bewegung zu den Menschen und deren Lebensumfeld hin wieder aufgenommen, durch das Projekt Kirche im Groruddal und durch die Gründung des Forums für kontextuelle Theologie im Groruddal, welches programmatisch festhielt: Wir sind besonders an dem engen Zusammenhang zwischen dem Ort, an dem wir leben/dem Alltagsleben und der Bibel/der Theologie interessiert. In einem solchen Prozess von Bewusstmachung nehmen wir es als entscheidend an, auf die Erfahrung, die ganz normale Menschen mit ihrem Leben und dem christlichen Glauben machen, zu hören.65

In ihrem, die gerade genannte Broschüre einleitenden, Text macht Ingunn Rinde, zu der Zeit Pastorin in Ellingsrud, auf die Inspiration aus lateinamerikanischen Befreiungstheologien und südafrikanischer Theologie aufmerksam und sie fragt: „Auf welche Weise ,wohnt das Wort unter uns‘, in Furuset, Rødtvet, im Groruddal?“66 Sie ruft in Erinnerung, dass es im Groruddal, in der 64 Akerøs Kritik ist nicht vergessen: „Arbeitskirchen können so gebaut werden, dass sie einen deutlichen sakralen Ausdruck haben. Aber anstelle davon, dass Gewicht auf den sakralen Ausdruck des Kirchenraumes und des Gebäudes gelegt wurde, anstelle davon, dass ein Rahmen für kirchliche Rituale wie Gottesdienst, Taufe, Trauung und Beerdigung geschaffen wurde, wurden die Kirchen zu aller erst praktische und anwendbare Arbeitswerkzeuge für die Arbeit der Gemeinde mit Freiwilligen und dem Milieu.“ In Akerø, Fossum kirke, 18. 65 Das Zitat ist der Rückseite dieser Broschüre entnommen: Prosjektet Kirken i Groruddalen og Forum for kontekstuell teologi i Groruddalen (Hg.), Ordet tar bolig i Groruddalen – s korn for asfalt og betong!? Et inspirasjonshefte for bibel- og samtalegrupper, ohne Verlag, 1996. Der Jahresbericht der Kirchenakademie im Groruddal für 1995–1996, vorgelegt am 16. April 1997, macht darauf aufmerksam, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der Kirchenakademie und dem Propsteiprojekt gibt: „Die Initiative, eine Kirchenakademie zu gründen, entsprang dem Projekt Kirche im Groruddal. Der Propst der Propstei Østre Aker, Hans Rognstad, hatte eine zentrale Rolle in dieser Arbeit inne.“ 66 Prosjektet Kirken i Groruddalen og Forum for kontekstuell teologi i Groruddalen, Ordet tar bolig i Groruddalen, 5. Vgl. Rinde, Ingunn, Kirke i drabantby. Om de menneskelige og kirkelige faktorer i menighetsbygging, Hausarbeit, Universität Oslo, 1997.

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Person Hans Nielsen Hauges, lokale Inspiration zu aktivieren gibt und stellt fest: Wir brauchen Erneuerung, neuen Anstoß. Und vielleicht müssen wir den Glauben aus der ,Kirchen- und Sonntagsecke‘ herausholen, in Arme und Beine hinein, hinein in konkrete, alltägliche, gute, dumme Situationen.67

Von oben her kam Ende 2002 das Projekt Gott in der Großstadt in Gang, angestoßen vom damaligen Bischof Gunnar St lsett. Dem Selbstverständnis nach ein ,Suchprozess‘; man wollte, so die Projektbeschreibung, sowohl Kirche als auch Großstadt verstehen und man fragte nach weiterführender Organisationsentwicklung, Effektivitätssteigerungen und nach den Funktionen der Parochie.68 Mittels komparativer Studien, Fokusgruppen, die bestimmte thematische Bereiche bearbeiten sollten, konkreter Versuche und institutioneller und organisatorischer Veränderungen wollte man sich zur Kirche im Jahre 2010 vorarbeiten. Es mangelte durchaus nicht an Ambitionen, immerhin zehn Millionen Kronen sollten investiert werden. Die Fokusgruppen (,Trends und Tendenzen der Großstadt‘, ,Die Mission der Kirche und die Formen kirchlicher Nähe‘ und ,Die Struktur und Organisation der Kirche‘) arbeiteten verhältnismäßig zügig und legten ihre Rapporte zwischen Sommer 2005 und Sommer 2006 vor. Diese Texte teilen mit der Projektbeschreibung, dass sie, bei allen Versuchen detailliert vorzugehen, schnell in generellen Beschreibungen enden. Großstadt ist so, diese Stichworte lassen sich allen Rapporten wiederfinden, gekennzeichnet von Gentrifizierung, Individualisierung und Pluralisierung, von neuen Medien und neuen Formen der Sozialisierung. Und die Kirche ist nicht mutig und flexibel genug, sich der (religiösen) Vielfalt zu stellen, vernachlässigt althergebrachte Formen und ist nicht innovativ genug, neue Formen, auch der Kommunikation, zu generieren und für sich zu nutzen. Vielleicht erschließt der Rapport ,Die Mission der Kirche und die Formen kirchlicher Nähe. Vielfalt ist Einheit‘ die grundlegende Herausforderung des Gesamtprojekts schon in der Einleitung: Dieser Rapport enthält, so kann es beim ersten Hinsehen scheinen, Vorschläge für regionalkirchliche Versuchsprojekte. Dies ist wohl gleichzeitig richtig und falsch. Die Vorschläge sind regionalkirchlichen Charakters in dem Sinne, dass sie Zusammenarbeit und koordinierte, gemeinkirchliche Strategien erfordern. Gleichzeitig kann nicht deutlich genug unterstrichen werden, wie und auf welche Weise die Vorschläge auf lokale Verankerung und Initiative hin gedacht sind. Versuche im ,Gott in der Großstadt‘-Projekt werden in aller Hauptsache nicht ohne lokalkirchliches Interesse 67 In Prosjektet Kirken i Groruddalen og Forum for kontekstuell teologi i Groruddalen, Ordet tar bolig i Groruddalen, 6. 68 Das Projekt wurde 2002 beschlossen (Protokoll des Osloer Diözesanrates vom 16. 12. 2002, Aktenzeichen 105/02). Vgl. Gud i storby. Om kirkelig nærvær, uttrykksformer og tjenestetyper i 2010 i Oslo bispedømme. En prosjektbeskrivelse, 16. desember 2002, 10.

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und Profil, ohne lokalkirchliche Verankerung und Durchführung in Gang gebracht. Die Leser/Leserinnen dieses Rapports werden gebeten, dies beim weiteren Lesen vor Augen zu haben.69

Der Fokus verblieb auf dem regionalkirchlichen, dem den lokalen Gemeinden übergeordneten Niveau. Zeitdruck und ökonomische Sachzwänge machten sich bemerkbar70, und die von der Generalsynode angegangene Reform des gottesdienstlichen Lebens führte dazu, dass der, in der Projektbeschreibung als wichtig erachtete, Komplex von Gottesdienst und Liturgie außen vorgelassen wurde. Auffällig bleibt aus Sicht der vorliegenden Studie, dass das Groruddal im Grunde in diesen Rapporten nicht auftaucht – im Zusammenhang mit Migration wird es erwähnt, es wird darauf aufmerksam gemacht, dass die Mehrheitskirche lokal zur Minorität werden kann. Auf die Lebensbedingungen im Tal wird kurz eingegangen und ein diakonisches Projekt ist die direkte Folge im Groruddal. Stadt aber wird als Innenstadt gesehen, und die Stadtkirche, nicht die Gemeindekirche, steht an erster Stelle, wenngleich die thematische Einrichtung der Resultate, sei es die Einrichtung einer Jugendpastorenstelle an der Osloer Domkirche, die Einrichtung eines Zentrums für Religionsbegegnung und -dialog, durchaus mit den Herausforderungen, die das Projekt Kirche im Groruddal adressiert hat, kompatibel ist, und diese in der Folge weiter aktuell blieb. Diese thematische Fokussierung und Richtung war im Groruddal präsent und auf Gemeindeniveau angesprochen.71 Diese wird, aus entgegengesetzter 69 Rapport fra fokusgruppa „Kirkens misjon og nærværsformer. Mangfold er enhet“, 4. 4. 2006, 6. Instruktiv sind Jan Hermelinks kirchentheoretische Analysen zu Projekt- und Steuerungsgruppen als Form neuer Leitungsinstanzen, gerade die Gefahr der Hermetisierung und die Notwendigkeit des volkskirchlichen Rahmens als Zusammenhang werden von ihm angesprochen. Vgl. Hermelink, Jan, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens. Eine praktisch-theologische Theorie der evangelischen Kirche, Gütersloh 2011, 280–285. 70 Das Oslo-Projekt, initiiert vom Kirchlichen Gemeinschaftsrat in Oslo und dem Bistum Oslo, lief von 2007–2010 und überlagerte Gott in der Großstadt. Ziel des Projekts war eine bessere Ressourcennutzung, eine Neuordnung des Personalschlüssels, Spezialisierung von Kirchen, die Freistellung einer Kirche im Groruddal und eine erhebliche Reduktion der Anzahl der Gemeinden. Der Widerstand der Gemeinden war groß, man fürchtete um die Lokaldemokratie und das Selbstverständnis. Das Projekt war – so der Eindruck an der Basis – wieder ein Beispiel für eine Kürzung von Stellen und Ressourcen ,top–down‘. Vgl. Kirkelig fellesr d i Oslo, rsrapport 2007; Kirkelig fellesr d i Oslo, rsrapport 2009; Kirkelig fellesr d i Oslo, rsrapport 2010. 71 Die Gemeindechroniken nennen, unter anderen, die Themen Offenheit der Kirche, multikulturelle und -religiöse Lokalmilieus, eine daraus resultierende Veränderung der Bevölkerungsstruktur, die Erschließung neuer Wohngebiete und die Notwendigkeit, mit Menschen anderen Glaubens ins Gespräch zu kommen, und sie konstatieren eine offenere Gesprächskultur dem Phänomen Religion gegenüber. Vgl. Prosjektet Kirken i Groruddalen og Forum for kontekstuell teologi i Groruddalen, Ordet tar bolig i Groruddalen – s korn for asfalt og betong!?, 11; Akerø, Hans Arne, Fossum kirke. 25 r i avgrensning og nærhet, ohne Verlag, 2001, 62 ff.; Furuset menighetsr d (Hg.), Furuset kirke 25 r. 1980–2005, ohne Verlag, 2005, 49.

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Richtung, von der Basis her, sich beinahe nahtlos an Gott in der Großstadt anschließend, durch das 2010 von Anne Hilde Laland, Pröpstin der Propstei Østre Aker, initiierte Strategieprojekt wieder aufgenommen. Im Januar 2010 lädt der Bischof, Ole Christian M. Kvarme, zur Mitarbeit in der Strategiegruppe für die Propstei Østre Aker ein. Die Gruppe erhält folgendes Mandat: Die Gruppe soll 1) eine kurze Beschreibung der wichtigsten Herausforderungen in den lokalen Gemeinden und in der Propstei Anfang 2010 geben, 2) darstellen, wie die gewünschte, angestrebte kirchliche Arbeit in den lokalen Gemeinden und in der Propstei aussehen soll und 3) Strategien und Maßnahmen empfehlen, die nötig sind, dies zu erreichen.72

Die Gruppe traf sich zu zwei ganztägigen Workshops, zwischen diesen beiden Workshops erhielten die Kirchenvorstände der Propstei Gelegenheit, sich zu den der Gruppe gestellten Aufgaben zu äußern. Bemerkenswert waren die großen Übereinstimmungen zwischen den Ergebnissen der Gruppenarbeit und den Äußerungen der Kirchenvorstände. Die Strategiegruppe antwortete mit vier Herausforderungen auf den ersten Teil des Mandats: 1) Die kirchliche Gemeinschaft weiterzuentwickeln, 2) die Einsicht in Glauben und Lehre zu vergrößern, 3) eine aktive lokale Kraft zu sein und 4) in Medienflächen sichtbar zu sein. Diese Herausforderungen unterteilen sich in weitere Herausforderungen, genannt werden, unter anderem, die Kirche nach den Bedürfnissen der Menschen zu verändern, relevante Gottesdienste zu entwickeln, Religionsdialog zu fördern, die Glaubenserziehung zu stärken, offene Treffpunkte zu schaffen und Diakonie und Kultur zu fördern. Die Kirchenvorstände steuerten hier, über die anderen Herausforderungen hinaus, die Zielsetzung bei, christliche Einwanderinnen und Einwanderer zu erreichen. Den zweiten Teil des Mandats beantwortete die Strategiegruppe so: Die Kirche hat eine deutliche, kontextuelle Vision, ist eine zentrale Vermittlerin von Kultur, ist ein integrierter Teil der Gesellschaft und spielt eine wichtige Rolle im Groruddal-Aktionsprojekt. Die Gruppe erarbeitete folgende Vision: Mit Jesus Christus im Zentrum will die Kirche im vielfältigen und multikulturellen Groruddal Hoffnung säen, für Gerechtigkeit kämpfen und Respekt fördern. Die daraus abgeleitete Ambition lautet: Wir wollen da sein, wo die Menschen sind! Das eigentliche Ergebnis – zum dritten Punkt des Mandats gehörend – der Gruppe war der Vorschlag, drei strategische Projekte zu initiieren: a) Ge72 Oslo biskop, Invitasjon til strategigruppe for Østre Aker prosti, Brief, 14. 1. 2010, 1. In die Gruppe beruft Kvarme die Pröpstin, den Kirchenverwalter der Propstei, zwei Pfarrer, eine Pastorin, einen Pastor, eine Diakonin, eine Gemeindeverwalterin, einen Vorsitzenden eines Kirchenvorstandes, der die Gruppenarbeit leitete, und, aus seinem engeren Stab, eine Referentin für Glaubenserziehung. Es sei darauf aufmerksam gemacht, dass ich in diese Strategiegruppe berufen wurde und in dieser mitgearbeitet habe.

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meinschaftsentwicklung, b) Religionsdialog und c) Zusammenarbeit mit Gemeinden anderer Sprache und Herkunft.73 Konkrete und direkte organisatorische Folgen hatte die Arbeit der Strategiegruppe zunächst nicht, Laland gab vielmehr zu erkennen, dass man Reaktionen und Aktionen des Bistums vermisst hat.74 Dennoch sollte kaum mehr als ein Jahr vergehen, bevor eine neue Gruppe ihre Arbeit aufnahm, dieses Mal auf Bistumsebene. Mandat und Hintergrund gingen in der Formulierung ineinander über: Mit Hintergrund in den Veränderungen der Bevölkerungsentwicklung in Oslo und der Ressourcensituation aufseiten beider Arbeitgeber – dem Diözesanrat Oslo und dem Kirchlichen Gemeinschaftsrat in Oslo (KfiO) – hat die Stiftsdirektorin eine Arbeitsgruppe einberufen, die Vorschläge zu Veränderungen der Struktur und Organisation der Kirche in Oslo beurteilen und unterbreiten soll.75

Der Arbeit der Gruppe wurde folgende Vision zugrunde gelegt: Das Ziel ist, die kirchliche Nähe/Gegenwart bei den Mitgliedern der Kirche, christlichen Einwanderern/Einwanderinnen und Menschen anderen Glaubens zu stärken.76

Zunächst beschreibt die Gruppe die kirchliche Situation in den beiden Propsteien, greift dabei auf statistisches Material (Gottesdienstbesuch, Aktivitäten, Kasualien, Personalschlüssel, Bevölkerungsentwicklung) zurück und schreibt einschränkend: Die Gruppe hat Material, das andere Verhältnisse, die für die Beschreibung der kirchlichen Situation von Bedeutung sind, beschreibt, zum Beispiel […] sozioökonomische und kulturelle Kennzeichen der Stadtteile, in denen die unterschiedlichen Gemeinden liegen, gesichtet. Dieses Material ist in die Grundlage der Prämissen und die Abwägungen der Gruppe eingeflossen, aber nicht weiter systematisch bearbeitet.77 73 Vgl. Rapport fra strategigruppen for Østre Aker prosti, 18. 6. 2010. 74 Vgl. Prosten i Østre Aker prosti, Høringssvar ad endelig rapport, datert 19. 03. 2012: «Organisering av kirken i Oslo», 25. 6. 2012, 1. 75 Oslo bispedømmer d, Organisering av kirken i Oslo. Anbefalinger om endringer i struktur og organisering i Domprostiet og Østre Aker prosti, endelig rapport, 19. 3. 2012, 6. Dieser erste Rapport beschränkte sich auf zwei Propsteien, in denen die Veränderungen als am größten und schwerwiegendsten erachtet wurden. Im Laufe der folgenden Jahre wurden für weitere Propsteien Rapporte erstellt, die in der Methodik diesem ersten entsprachen. 76 Oslo bispedømmer d, Organisering av kirken i Oslo, 6. In der Gruppe arbeiteten Bischof Kvarme, Stiftsdirektorin Elise Sandnes, der Vorsitzende des Diözesanrates Harald Hegstad, Personalchefin Torunn Laupsa und, als externes Mitglied, Otto Hauglin, der die Arbeit der Gruppe leitete. 77 Oslo bispedømmer d, Organisering av kirken i Oslo, 9.

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Aus der Statistik heraus wird dann ein eher niederschlagendes Bild gezeichnet. Die Folgerung ist daher, dass es der Umstrukturierung bedarf. Es bedarf des Religionsdialogs, der Freistellung und Spezialisierung von Kirchen, auch Gemeindefusionen sind notwendig. Bevor aber diese Konklusionen ausgeführt werden, wird eine Reflexion des theologischen Verständnisses von Kirche und Gemeindeleben referiert, angeführt werden, neben 1Kor 12, CAV und VII. Endlich bleibt als formales Kriterium eine Gemeindegröße von mindestens 5 000 Gemeindegliedern stehen, denn so kann eine aktive Gemeinde mit gutem Personalschlüssel und einem Allround-Angebot gesichert werden. Schließlich werden, als strategisch motivierte Projekte, ein Zentrum für die Begegnung mit Gemeinden anderer Sprache und Herkunft, ein Zentrum für Religionsdialog, ein Versuch zur ,Offenen Kirche‘, Unterstützung einer Gemeinde in Bezug auf die kommenden Ausbauprojekte und der Versuch einer Spezialisierung einer Kirche vorgeschlagen.78 In der Folge wurden Gemeinden fusioniert, der Prozess war mit dem ersten Quartal 2013 abgeschlossen, und die Freistellung der Kirche Bredtvet, im Groruddal gelegen, war entschieden. Die Zahl der Gemeinden im Groruddal reduzierte sich von zwölf auf fünf.79 Für die weitere Arbeit mit der eigenen Studie erscheint ein Blick auf Lalands Reaktionen auf den Rapport von Gewinn. Sie kritisiert ganz zu Anfang, dass die systematische Bearbeitung der sozioökonomischen Kennzeichen ausbleibt: Dies sollte gemacht werden, denn es sind gerade diese Dinge, die in großem Maße die Eigenart der kirchlichen Situation und die speziellen Herausforderungen der Gemeinden schaffen […] und die damit für die Organisations- und Strukturentwicklung der Kirche im Groruddal durch das Bistum leitend sein sollten […].80

Auf dieser Linie kritisiert sie die Vision des Rapports, sie fragt, wo bleibt die Nähe/Gegenwart der Kirche nicht nur im Verhältnis zu Menschen, die durch Glauben definiert sind, sondern zur Gesellschaft als solchen? Und was ist eigentlich mit der Nähe/Gegenwart der Kirche konkret gemeint […]?81

Für Laland ist die Vision der Strategiegruppe für die Propstei Østre Aker entscheidend, denn „diese sagt nicht nur etwas zur Begründung der Nähe/ Gegenwart, sondern auch etwas über die Adressaten/Adressatinnen der Nähe/ Gegenwart“82. Die theologische Bestimmung der Kirche, wie sie im Rapport vorgenommen wird, ist in ihren Augen zu schmal: 78 Vgl. Oslo bispedømmer d, Organisering av kirken i Oslo, 9 f.12 f.15.17 ff.22 f.42. 79 Vgl. Protokoll der Sitzung des Osloer Diözesanrates vom 17. 9. 2012; Protokoll der Sitzung des Osloer Diözesanrates vom 17. 12. 2012. 80 Prosten i Østre Aker prosti, Høringssvar, 1. 81 Prosten i Østre Aker prosti, Høringssvar, 2. 82 Prosten i Østre Aker prosti, Høringssvar, 2.

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Hier [im Rapport] wird behauptet, dass ,Struktur, Organisierung und Ressourcenverteilung die Gemeinde als Gemeinschaft der Gläubigen um Wort und Sakrament sichern sollen, dass die Gottesdienstgemeinschaft ein konkreter und sichtbarer Ausdruck dafür ist‘. Hier meine ich, dass das Verständnis von CA V erschwert wird, das einzige und erste, was es erfordert, dass Glaube bei den Menschen entsteht, ist, dass das Evangelium verkündigt wird und die Sakramente verwaltet werden […]. […] dies ist nicht darauf beschränkt, zuerst die Gemeinde, als Gemeinschaft der Gläubigen, zu sichern, sondern [es gilt], dass das Evangelium gelehrt wird und die Sakramente geteilt werden, so weit und so breit wie möglich, im Lokalmilieu und in der Welt.83

Damit war ein Gespräch in Gang gebracht, dessen einzelne Gesprächsgänge hier nicht nachgezeichnet werden sollen, aber nach und nach nahmen die strategischen Projekte der Propstei Form an. Sie gruppieren sich – wie von der Strategiegruppe 2010 vorgeschlagen – um die Themen Gemeinschaftsentwicklung, Religionsdialog und Zusammenarbeit mit Gemeinden anderer Sprache und Herkunft.84

7.1.3 Impulse zur Weiterarbeit und (kritische) Verknüpfungen Ausgangspunkt für den Journalisten Øyvind Holen war, dass der Blick aus der Vogelperspektive nicht ausreicht, soll das Groruddal verstanden werden. Es bedarf des Blicks auf das Detail, des Gesprächs mit den Menschen, die im Tal leben und wohnen. Die Evaluierung des Groruddal-Aktionsprojekts bestätigt Holens Annäherung. Die Fokusprogramme mit ihrer ,bottom-up‘ Strategie, ihrer Betonung des Dialogs mit den Involvierten, ihrer lokalen Verankerung von Maßnahmen zeigen die Relevanz des Ausschnitts, des fokussierten Blicks. Dies steht ebenfalls in Übereinstimmung mit Ergebnissen qualitativer Sozialforschung, und es ist insgesamt eine Bestätigung für das eingangs skizzierte methodische Interesse der vorliegenden Studie zu bergen. Der fokussierte Blick auf die Kirche und einige der Gemeinden im Groruddal bestätigt die Produktivität der Annäherung, die von der Vogelperspektive ablässt. Kirche stellt sich immer anders dar, ist an die Gegebenheiten vor Ort gebunden und dieser Ort ist nicht einfach das große ,Groruddal‘, der 83 Prosten i Østre Aker prosti, Høringssvar, 2 f. 84 Der Kirchliche Gemeinschaftsrat in Oslo finanziert die Stellen zweier Diakoninnen, der Diözesanrat Oslo finanziert drei Pastorenstellen, hier sind es insgesamt sieben Pastorinnen, Pastoren, Pfarrer und Pfarrerinnen, die sich mit je bis zu einer halben Stelle einbringen. Zum Jahreswechsel 2016/2017 wurden seitens des Diözesanrats Stellenkürzungen angekündigt, dies führte zu einer Reaktion der strategischen Projekte. Anstelle von sechs Projekten, verteilt auf sechs halbe Stellen, gab es drei Projekte, verteilt auf drei halbe Stellen.

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Ort, so scheint die Beschäftigung mit den Gemeinden im Groruddal zu zeigen, ist enger zu fassen. In diesem Unterfangen kann auf Impulse zurückgegriffen werden, die oben, in der Beschäftigung mit den Ansätzen Wolfgang Grünbergs und Sevat Lappegards, markiert wurden. Die Erfahrungen aus dem Groruddal bestätigen, dass Kirche – die Gemeinde – an eine Wahrnehmung des Ortes, des genius loci, gewiesen ist, und dass es, will diese Wahrnehmung in ihrer Tiefe gelingen, einer kultur- und religionsoffenen Annäherung bedarf, die den Mut zum Mosaik, zum Ausschnitt, zur Vielstimmigkeit und zur Unterbrechung aufbringt. In dieser Art und Weise der Wahrnehmung ist der Grund gelegt, den Ort als Faktor ernst zu nehmen, an dem sich das Selbstverständnis der Kirche entscheidet, im Allgemeinen, im Lokalmilieu verankert, zum Orte zugehörig, die Geschäftigkeit des Ortes unterbrechend.85 Die vorliegende Studie, die sich einer Wahrnehmung des Ortes und seiner Subjekte verschrieben hat, kommt an dieser Stelle nicht umhin, an die Schwierigkeiten und Unabwägbarkeiten zu erinnern, die Kirche und Gemeinden bei ihren Versuchen der Wahrnehmung und des Sich-Einbringens erlebt haben. Schon früh kritisierte Edvard Haugland, dass die Kirche im Grunde keine Kompetenz in Sachen Stadtplanung vorzuweisen hat und die Bedürfnisse der Menschen vor Ort nicht kennt, daher nicht die richtigen Fragen stellen kann. Die Versuche, Gott in der Großstadt zu fassen, verloren sich schnell in Allgemeinplätzen und noch 2010 war das, da nicht erreichte, Ziel, dass die Kirche eine wichtige Rolle im Groruddal-Aktionsprojekt spielen sollte. Letztlich scheinen Movens der Umstrukturierungen die je zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel, nicht so sehr die Wahrnehmungen der Strategiegruppe vor und am Ort, gewesen zu sein. – Dies ruft Seppo Kjellbergs Erfahrungen in Erinnerung: Sind Dialoge an Entscheidungen geknüpft, verliert das Dialogische und die Überredungskunst gewinnt an Terrain.86 Im Sinne einer kritischen Verknüpfung sollen an dieser Stelle – in Verlängerung der Beiträge Holens und in Verlängerung der Ergebnisse der Evaluation des Groruddal-Aktionprojekts – weitere Impulse Kjellbergs aufgegriffen werden. Kjellberg erinnert daran, dass Religion in den Dialogen 85 Vgl. Grünberg, Wolfgang, Die Sprache der Stadt. Skizzen zur Großstadtkirche, Leipzig 2004, 12.31–34.42 f.115.121.245 f.295; Lappegard, Sevat, Folkekyrkjeteologi, in: Sandvik, Bjørn (Hg.), Folkekirken – Status og strategier, Presteforeningens studiebibliotek 29, Oslo 1988, 107–131, 114.118–122.127. 86 Vgl. Lundby, Knut, Mellom vekkelse og velferd. Bymisjon i opp- og nedgangstider, Oslo 1980, 275–278; Rapport fra strategigruppen for Østre Aker prosti, 18. 6. 2010; Oslo bispedømmer d, Organisering av kirken i Oslo. Anbefalinger om endringer i struktur og organisering i Domprostiet og Østre Aker prosti, endelig rapport, 19. 3. 2012; Kjellberg, Seppo, Urban Ecotheology, Utrecht 2000, 45 ff.85.

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Garant, zumindest Repräsentant, für raadollisuus sein kann, dass daher auch nicht explizit theologische Dialoge von Relevanz sind. Weiter leiten Dialoge, diskursethisch verstanden, nicht einfach Normen aus grundlegenden, vorherbestimmten Prinzipien ab, zugleich können sie helfen, religiöse Ideen an unvorhergesehen Orten aufspüren zu können. Schließlich bleibt beachtenswert, dass der Einstieg in die Dialoge, in das Feld, dieses selbst verändert. Kjellbergs Erfahrungen aktualisieren die Frage, die sich die Strategiegruppe für die Propstei Østre Aker 2010 stellte: Was tun, wenn die Kirche nicht eingeladen wird? Wie kann es Kirche, den in der Kirche Mitarbeitenden, gelingen, sich einzubringen?87 Die Geschichte der Gemeinde Ellingsrud verdeutlicht, dass die Wahrnehmung des Ortes Einfluss auf die liturgischen Entscheidungen hat, dass die Gestaltung des liturgischen Raumes von der Wahrnehmung des Ortes und der Subjekte am Ort abhängig ist. Es ist an Michael H. Duceys Arbeit zu erinnern, gerade die von ihm angelegte Unterscheidung zwischen mass ritual und interaction ritual verweist in eine Richtung, die in Verlängerung Affinitäten zu Hans Arne Akerøs Begriffspaar von Abgrenzung und Nähe erkennen lässt. Das mass ritual und die Abgrenzung erkennen die gesellschaftliche Situation als Bedrohung, es sind die theologischen Experten und Expertinnen, die die Richtung des Handelns bestimmen und die Bereiche des Heiligen und des Profanen werden deutlich unterschieden. Das interaction ritual – im Sinne der Nähe – geht an dieser Stelle von einem offeneren Übergang aus, sieht auch in der Situation der gesellschaftlichen Herausforderungen Möglichkeiten zu etwas Neuem, will neue Ideen fördern und ermöglichen. Für das vorliegende Projekt bleibt die Subjektorientierung, als theologische Grundlinie, der auch Ducey das Wort redet, entscheidend. Es gilt, sehen zu wollen, was vor Ort, auch liturgisch, realisierbar ist.88 Akerøs Begriffspaar gehört ferner auf dem Hintergrund der Beschäftigung mit Harald Hegstads Programm der Gemeindeentwicklung in der Volkskirche thematisiert. Ausgehend von der Beobachtung, dass Akerø schon 1996, ohne Diskussion, Hegstads Unterscheidung von ,Volkskirche‘ und ,Glaubensgemeinschaft‘ übernimmt, ist zu fragen, ob nicht dies dazu führt, dass seine eigenen Begriffe, Nähe und Abgrenzung, sowohl mittels dieser Kategorien entworfen werden als auch diese Kategorien definieren. Gemein ist Akerø und Hegstad, dass sie wohl aus der Empirie kommen, diese aber normativ aufladen und Praktische Theologie als Handlungswissenschaft entwerfen. Bei Hegstad führt dies zu einem engen Kirchen- und, in der Folge, Gottesdienstbegriff, bei 87 Vgl. Kjellberg, Urban Ecotheology, 24.27.31.41 ff.52.55.85.116. 88 Vgl. Akerø, Hans Arne, Fossum kirke. 25 r i avgrensning og nærhet, ohne Verlag, 2001; Ducey, Michael H., Sunday Morning. Aspects of Urban Ritual, New York 1977, 1 f.8 f.37 ff.44.59 ff. 122 f.144 f.183 f.

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Akerø zu einem Begriff des Heiligen und einer Gottesdienstpraxis, die dem Alltag enthoben sind.89 Insofern bleiben die grundsätzlichen Gedanken – Kirche von unten her wahrnehmen zu wollen und Kirche nicht zu eng zu fassen – des Propsteiprojektes aus den Jahren 1994–1996, der Strategiegruppe aus dem Jahr 2010 und Anne Hilde Lalands Reaktionen auf den Rapport des Bistums aus dem Jahre 2012 wichtige Wegmarken, die weiter bedacht werden müssen.90 Mit Laland bleibt daran zu erinnern, dass Kirche sich nicht auf eine glaubende Gemeinschaft im und um den Gottesdienst herum verkürzen lassen darf, sondern als aufmerksame Kirche, in ihren Worten: als „diakonische und dialogische Volkskirche“91, entwickelt werden muss.92 Die Beschäftigung mit dem Groruddal und mit der Kirche im Groruddal bekräftigt, das ist in den nun folgenden methodologischen und methodischen Bemerkungen aufzunehmen, dass sich nicht von oben her, nicht auf abstrakter Basis und nicht vom vermeintlichen Verfall her – und so lesen sich die Rapporte des Projekts Gott in der Großstadt und der Rapport des Bistums von 2012 über weite Strecken – genaue Eindrücke, Bilder und Wahrnehmungen gewinnen lassen.

7.2 Methodologische und methodische Orientierung auf den Ort Einleitend sollen Stichpunkte das methodische Interesse der Studie betreffend aufgenommen und mit den Ergebnissen der vorhergehenden Analysen und Klärungen und einer ersten Fokussierung verzahnt werden. Sodann folgt eine 89 Vgl. Akerø, Hans Arne, Folkekirke og hellighet i Groruddalen, in: NTT 97 (1996), 80–93, 84.89; Hegstad, Harald, Folkekirke og trosfellesskap. Et kirkesosiologisk og ekklesiologisk grunnproblem belyst gjennom en undersøkelse av tre norske lokalmenigheter, KIFO Perspektiv 1, Trondheim 1996, 408; Hegstad, Harald, Kirke i forandring. Fellesskap, tilhørighet og mangfold i Den norske kirke, Oslo 1999, 19.72 Hegstad, Harald, Den virkelige kirke. Bidrag til ekklesiologien, KIFO Perspektiv 19, Trondheim 2009, 15 ff.50.156.174. 90 Vgl. Prosjektet Kirken i Groruddalen og Forum for kontekstuell teologi i Groruddalen (Hg.), Ordet tar bolig i Groruddalen – s korn for asfalt og betong!? Et inspirasjonshefte for bibel- og samtalegrupper, ohne Verlag, 1996; Rapport fra strategigruppen for Østre Aker prosti, 18. 6. 2010; Prosten i Østre Aker prosti, Høringssvar ad endelig rapport, datert 19. 03. 2012: «Organisering av kirken i Oslo», 25. 6. 2012. 91 Folkekirken i endring – p vei mot fremtidens kirke. Rapport fra Groruddalen, fra Østre Aker prosti: Arbeidet med de strategiske satsningene 2015–2016, 2. 92 Vgl. Prosten i Østre Aker prosti, Høringssvar ad endelig rapport, datert 19. 03. 2012: «Organisering av kirken i Oslo», 25. 6. 2012, 2 f. Hier lösen die theoretischen Überlegungen HansRichard Reuters ihr Potenzial ein. Vgl. Reuter, Hans-Richard, Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht, in: Reuter, Hans-Richard, Botschaft und Ordnung. Beiträge zur Kirchentheorie, Öffentliche Theologie 22, Leipzig 2009, 13–55, 43. Vgl. 5.5.1.

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Vertiefung, die das Zusammengetragene hin zum Methodenpluralismus, hin zur konkreten Forschungspraxis expliziert. Ausgangspunkt war, dass das eigene Forschungsinteresse im Feld qualitativer Studien zum Groruddal verortet und das Forschersubjekt im Grenzgang angesiedelt wurde. Dies korrelierte mit dem Grenzgang des Forschungsprojekts Den anderen wahrnehmen und dessen empirisch-theologischer Einrichtung qualitativer Forschungsmethoden. Davon will die eigene Arbeit im Folgenden weiter profitieren, und wird darin, sozusagen mit einem Mal, mit dem entscheidenden Begriff der Intentionalität konfrontiert. Subjekte, je in ihrer Lebenswelt verwoben, treffen aufeinander, sehen und werden gesehen. Es wurde deutlich, dass der Fall nicht etwas sein kann, das einfach da ist, sondern von meinem Wahrnehmen her, von meinem Erleben her mit-konstruiert wird, dass der Fall interpersonal zutage tritt und sich nur unter Berücksichtigung des subjektiven Erlebens, von Vorannahmen, und gerade auch unter Berücksichtigung von Überraschendem, Unerwartetem zeigt. Methodologisch bedeutet dies, dass eigene Vorannahmen kenntlich gemacht und gleichwohl zurückgestellt werden müssen, dass es sich nicht um ein Abarbeiten von Methodenschritten handeln kann, sondern es einer zirkulären, zwischen Fallbeschreibung und Reflexion wechselnden Annäherung bedarf. Sodann bergen die Ergebnisse der Analysen der Entwürfe zur Stadt als Thema in der Theologie, der neueren norwegischen Konzeptionen von Kirche, der Nachgang der Reform des gottesdienstlichen Lebens und die erste Fokussierung eine Bestätigung für das eingangs beschriebene methodische Interesse und den aufgezeichneten Weg, beides greift gut ineinander. Der gestärkte Blick von unten und die erreichte oder angestrebte Teilhabe und Involvierung der Subjekte in kultur- und religionsoffener Perspektive sind hervorzuheben. Gleichfalls sind eine Methodenvielfalt, der es – in all ihrer erlebten Unzulänglich- und Vorläufigkeit – gelingen kann, innerkirchliche und innertheologische Diskussionen und Diskurse aufzubrechen, und die Versuche, das Wechselspiel zwischen Religion, Kirche, Ritual und Gesellschaft produktiv und vielschichtig in den Blick zu bekommen, herauszustreichen. Gleichzeitig zeigen die Analysen, dass die geforderte zirkuläre Annäherung, wie sie eingangs beschrieben wurde, für das Gewahrwerden der involvierten Subjekte – auch des eigenen Forschersubjekts –, der Vielstimmigkeit, des Unabgeschlossenen, des Überraschenden unabdingbar ist. Ernsthafte empirische Forschung, im Aufnehmen der Impulse einer empirisch orientierten Liturgiewissenschaft und in Verlängerung der Analysen, kann sich nicht damit zufriedengeben, vorformulierte Modelle von Religion, Kirche, Ritual und Gesellschaft, fertige Analysen abzufragen oder in die Empirie hineinzutragen. Die Analysen und Beobachtungen zur Kirche im Groruddal und zur Frage nach der Rolle der Subjekte, auch als Ausdruck von Kirchenleitung, machen deutlich, dass die Wahrnehmung von Befindlich-

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keiten, Gefühlen und Stimmungen, von Subjekten an ihren Orten, in ihrer Praxis mit je ihrer Gelebten Religion, an erster Stelle stehen muss, nicht die Formulierung revidierter Modelle und optimierter Handlungsmaximen. Dies gilt es nun in einem weiteren Forschungskontext zu entfalten und zu verorten – hier verstanden als methodologische Überlegungen –, bevor dann die konkrete Forschungspraxis – verstanden als methodische Überlegungen – beschrieben wird.

7.2.1 Methodologische Überlegungen Die methodologischen Wurzeln der vorliegenden Studie finden sich im phänomenologisch informierten und interessierten Fokus auf Gelebte Religion. Ausgehend vom Kontext Schule beschreibt Hans-Günter Heimbrock diesen Fokus wie folgt: Notwendig zur Entdeckung […] [von] Veränderungen der religiösen Landschaft ist allerdings eine veränderte Annäherung an Religion, die weder bei einem allgemeinen Begriff von Religion, noch bei kirchlich normierter, noch bei theologisch-wissenschaftlich fundiertem Begreifen von Religionspraxis einsetzt. Produktiv erscheint mir vielmehr eine Haltung, die zunächst Kategorien kirchlicher, theologischer oder religionswissenschaftlicher Katalogisierung von Wirklichkeit zugunsten einer geschärften Wahrnehmung der Lebenswelt suspendiert, die nicht aus dem Gestus des Wissenden, sondern des Hörenden, Suchenden und Fragenden lebt […]. […] Wahrzunehmen gilt es dabei dasjenige, was dort sichtbar wird, wenn man zunächst gerade nicht auf Kirchenchristentum, Katechismussätze und Lehrbuchweisheiten fixiert ist.93

Dieser Ausgangspunkt ist in den folgenden Jahren zu einer Empirischen Theologie Gelebter Religion weiterentwickelt worden.94 Die vorliegende Studie verdankt sich diesem Forschungskontext und kann sich in den methodologischen Überlegungen, gerade mit dem Ziel, eine phänomenologische Adaption als Struktur zu fassen, zunächst an Achim 93 Heimbrock, Hans-Günter, Gelebte Religion im Klassenzimmer?, in: Failing, Wolf-Eckard/ Heimbrock, Hans-Günter, Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt – Alltagskultur – Religionspraxis, Stuttgart et al. 1998, 233–255, 243. 94 Vgl. Dinter, Astrid/Heimbrock, Hans-Günter/Söderblom, Kerstin (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, UTB 2888, Göttingen 2007; Heimbrock, Hans-Günter, Leben. Praktische Theologie als Theorie „Gelebter Religion“ und der Begriff der Erfahrung, in: Weyel, Birgit/Heimbrock, Hans-Günter/Gräb, Wilhelm, Praktische Theologie und empirische Religionsforschung, VWGTh 39, Leipzig 2013, 120–142.

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Fokussierungen

Knechts Dissertation anlehnen. Ausgangspunkt ist für Knecht die Wahrnehmung, „Ausgangspunkt ist das Staunen über Phänomene im Alltag“95. Schon der von Jürgen Habermas im Zusammenhang des Positivismusstreits in den Sozialwissenschaften in den 1960-er Jahren geprägte Begriff des Erkenntnisinteresses96

verweist darauf, dass der „Gegenstand einer Untersuchung […] maßgeblich von der Perspektive des jeweiligen Forschersubjekts bestimmt“97 wird. Phänomenologisch eingeholt und zugespitzt wird dies durch den Begriff der Konstitution: Der phänomenologische Begriff von Wirklichkeit geht davon aus, dass diese einerseits vorgegeben ist und dass sie zugleich erst durch die Art des Umgangs mit ihr entsteht.98

Phänomenologisch erschließt sich Wirklichkeit von der Lebenswelt (Edmund Husserl) her, die damit auch ein erkenntnistheoretischer Begriff ist, und den Versuch einer Annäherung an eine ursprüngliche, vor-begriffliche, nicht definitorische Begegnung mit der Welt, die in einem grundsätzlichen Sinn ,vor‘ jeder Subjekt-Objekt-Spaltung liegt99,

darstellt. Will diese Annäherung gelingen, bedarf es der genannten Kenntlichmachung und Zurückstellung eigener Vorannahmen, der Epoch , durch die „Suspendierung oder Einklammerung [eigener Vorannahmen] kommt der Modus der gelebten Erfahrung in den Blick“100. Soll diese Erfahrung rekonstruiert werden, Knecht verweist auf Maurice Merleau-Ponty, ist es notwendig, das Subjekt als Leibsubjekt zu denken: Sinnliche Wahrnehmung ist der für das menschliche Erkennen grundlegende Vollzug, noch vor aller subjektiver Reflexion. […] Diese unhintergehbare Perspektivität der leibgebundenen Wahrnehmung wird […] als Intentionalität beschrieben. […] Das Erschließen eines Sachverhaltes von Seiten des Wahrnehmenden und das Er95 Knecht, Achim, Erlebnis Gottesdienst. Zur Rehabilitierung der Kategorie „Erlebnis“ für Theorie und Praxis des Gottesdienstes, Leipzig 2011, 50. 96 Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 51. 97 Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 52. Bernhard Waldenfels erinnert an Folgendes: „Wenn die Eigenart der Phänomenologie darin besteht, das Was des Sachgehalts durchgängig an das Wie einer bestimmten Zugangsweise zu koppeln, so ist jede Methode wörtlich zu nehmen, nämlich als Wegsuche, die sich von den Anforderungen der jeweiligen Sache leiten läßt.“ In Waldenfels, Bernhard, Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2047, Berlin 2012, 170. 98 Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 55. Vgl. Lotz, Thomas A., Phänomenologie als Grundlage für empirische Praktische Theologie, in: Dinter, Astrid/Heimbrock, Hans-Günter/Söderblom, Kerstin (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, UTB 2888, Göttingen 2007, 60–72, 61. Waldenfels formuliert kurz und prägnant: „Beschrieben wird nicht, was der Fall ist, sondern wie etwas sich gibt.“ In Waldenfels, Hyperphänomene, 174. 99 Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 55. Vgl. Lotz, Phänomenologie als Grundlage, 63. 100 Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 56. Vgl. Lotz, Phänomenologie als Grundlage, 64.

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scheinen des Sachverhaltes als Wahrzunehmendes greifen im Vorgang der Wahrnehmung ineinander.101

Interessant und der Notiz wert ist der Verweis Knechts auf Emmanuel L vinas, der die Intentionalität im Sinne dieser Beziehung […] als ein Drittes zwischen Subjekt und Objekt [beschreibt] […], das erst die Respektierung des ,Anderen als Anderen‘ ermöglicht und ihn nicht zum ,Eigenen‘ macht. L vinas akzentuiert damit die aktive Seite des Wahrgenommenen102.

Das beinhaltet, dass notwendigerweise Leerstellen bleiben, denn es „bedeutet, dass mit der Wahrnehmung von Etwas sich zugleich ein Anderes der Wahrnehmung entzieht“103. Das Forschersubjekt rückt in den Fokus, die eigenen gelebten Erfahrungen und ihre Versprachlichung im wissenschaftlichen Diskurs sind allerdings immer ,nur‘ eine Annäherung an das untersuchte Phänomen104.

Entscheidend ist eine „offene phänomenologische Haltung“105, die sich bewusst ist, „dass bei einem phänomenologischen Zugang […] eine vollständige Systematisierung nicht möglich ist“106, dass eine phänomenologische Beschreibung den unauflöslichen Zusammenhang zwischen Beschreiben und Verstehen [gewährleistet] und […] sich durch ein umschreibendes Verfahren immer mehr dem Phänomen an[nähert]107.

101 Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 56. Vgl. Lotz, Phänomenologie als Grundlage, 68 f. 102 Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 57. Knecht sieht das „Dritte“, das „zwischen“ Subjekt und Objekt liegt, als Markör für die Atmosphäre der Gottesdienste, die er untersucht. In diesem Sinne kann das „Dritte“ in der eigenen Untersuchung nicht ausgemünzt werden, gleichzeitig besteht die gute Möglichkeit, dass die Analyse des empirischen Materials von dem Gedanken des „Dritten“ profitieren kann: Zwei Subjekte reden miteinander und nähern sich einem Phänomen, einem Geschehnis, einem Objekt, das eben nicht vereinnahmt werden soll. Was aber ist dann das „Dritte“? Welche Stimmungen, Atmosphären werden von den Subjekten beobachtet und beschrieben? Konkreter: Wie, unter welchem Vorzeichen, in welcher Stimmung und Atmosphäre, gibt sich ,Kirche im Groruddal‘, ,Gottesdienst im Groruddal‘ zu erkennen? Vgl. Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 222–235. 103 Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 57. 104 Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 58. 105 Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 58. 106 Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 58. 107 Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 59. Noch einmal Waldenfels: „[…] das, was als etwas erscheint, ist nicht etwas, das erscheint, es sei denn, wir halten allem, was uns begegnet, vorweg ,das Springseil der Identifizierbarkeit‘ hin […]. […] Was ist es dann? Es ist nicht mehr und nicht weniger als das, wovon wir getroffen oder affiziert sind, wenn wir etwas meinen, und es ist das, worauf wir antworten, wenn wir so oder so darauf eingehen.“ In Waldenfels, Hyperphänomene, 178.

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Fokussierungen

Im Rahmen des Projekts Den anderen wahrnehmen wurden diese methodologischen Überlegungen in deutsch-norwegischer Forschungskooperation weitergeführt. Von der Phänomenologie her kommt der Intentionalität entscheidendes Gewicht zu. Diese macht, in ihrem Aufweis der Verbundenheit der involvierten Subjekte, deutlich, dass es gerade die Praxis ist, die Herausforderungen an professionelles Handeln ins Bewusstsein ruft. Dabei ist die Begegnung der Subjekte sowohl Quelle dieser Herausforderungen als auch der Ort, an dem Ideen und Einsicht zur Herangehensweise an diese Herausforderungen zutage gefördert werden können. Damit liefert, so Trygve Wyller, „die Phänomenologie neue Antworten auf die Frage […], was eine empirisch begründete Studie tatsächlich ist“108, und er hält fest, dass „die traditionelle ,objektive‘ Datensammlung so nicht mehr Geltung beanspruchen kann“109. Unter Verweis auf Michel Foucaults Begriff der Heterotopie ruft Wyller den Begriff der Lebenswelt, gerade in Bezug auf die Frage nach den Quellen von Normativität, in Erinnerung: Anstatt die Lebenswelt für etwas Leeres oder Oberflächliches zu halten, setzt die Phänomenologie in entgegengesetzter Weise an. Die Lebenswelten können sehr wohl Quellen von Normativität sein, nicht leere Papierkörbe, in die wir Normativität einzuschreiben haben.110

Die „universelle Eignung des objektivistischen Forschungsideals für alle Dimensionen komplexer soziale Situationen“111 ist so, mit Heimbrock und Peter Meyer, bestritten. Unter Aufnahme von Entwicklungen und Tendenzen aus der Sozialtheorie und aus den empirisch ausgerichteten Sozialwissenschaften „verliert das Ideal an Attraktivität, an ,großen Zahlen‘ zu forschen“112. Dies hat Konsequenzen für die Rolle,

108 Wyller, Trygve, Ethik und Phänomenologie im Kontext von Professionspraxis und Professionstheorie, in: Heimbrock, Hans-Günter/Wyller, Trygve (Hg.), Den anderen wahrnehmen. Fallstudien und Theorien für respektvolles Handeln, unter Mitarbeit von Peter Meyer, Göttingen 2010, 11–22, 18. Vgl. Wyller, Ethik und Phänomenologie im Kontext von Professionspraxis und Professionstheorie, 12 f.15 f. 109 Wyller, Ethik und Phänomenologie im Kontext von Professionspraxis und Professionstheorie, 18. 110 Wyller, Ethik und Phänomenologie im Kontext von Professionspraxis und Professionstheorie, 20. 111 Heimbrock, Hans-Günter/Meyer, Peter, Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien: Empirische Strategien, in: Heimbrock, Hans-Günter/Wyller, Trygve (Hg.), Den anderen wahrnehmen. Fallstudien und Theorien für respektvolles Handeln, unter Mitarbeit von Peter Meyer, Göttingen 2010, 22–40, 25. 112 Heimbrock/Meyer, Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien, 25. Vgl. Flyvbjerg, Bent, Five Misunderstandings About Case-Study Research, in: Qualitative Inquiry 12 (2006), 219–245.

Methodologische und methodische Orientierung auf den Ort

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die Forscher und Forscherinnen einnehmen: Deren genuine Kompetenz, Bedeutungen zu verstehen und zu repräsentieren, wird zum bestimmenden Faktor für den gesamten Forschungsprozess113.

Ein Forschungsprozess, der von den nun genannten Merkmalen her definiert und formatiert werden soll, lässt sich am besten als Fallstudie organisieren, unter Zuhilfenahme von kontrollierten, gezielt dimensionierten Zugängen zur umfassenden und im Wesentlichen unverstellten Realität einzelner sozialer Handlungsvollzüge an einzelnen Orten114.

Wieder ist auf die Konsequenzen für die Rolle der Forschenden zu verweisen: Wo es um Erforschung professioneller Praxis geht, kann die Kompetenz der Sinnerschließung durch Praktikerinnen und Praktiker zusätzlich enorm gefördert werden, wenn sie zu Forschenden in ihrem eigenen Arbeitsfeld werden.115

Unter Berücksichtigung und phänomenologischer Einrichtung qualitativempirischer sozialwissenschaftlicher Forschung werden zwei Ansätze entwickelt. Der sozialphänomenologische Ansatz nutzt „Phänomenologie […] als in113 Heimbrock/Meyer, Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien, 25. 114 Heimbrock/Meyer, Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien, 25. John Gerring stellt fest, dass Fallstudien in der Forschung weit verbreitet sind. Er listet mehr als fünfzig Arbeiten, sowohl Untersuchungen als auch methodisch orientierte Arbeiten. Es überrascht daher nicht, dass er die Frage nach ,der Fallstudie‘ als einen „definitional morass“ bezeichnet. Den Minimaltypus einer Fallstudie definiert Gerring wie folgt: „[…] the case study approach to research is most usefully defined as an intensive study of a single unit or a small number of units (the cases), for the purpose of understanding a larger class of similar units (a population of cases).“ Von dieser Definition ausgehend untersucht Gerring dann eine Vielzahl von Variablen, verstanden als „methodological affinities flowing from our minimal definition of the concept“. In diesen Zusammenhängen diskutiert Gerring den Faktor der Subjektivität, Fragen zur Forschungspraxis, zum Ausgangspunkt in der eigenen Forschungsfrage und zur Reichweite. Bewegt sich Gerring auf ein Design von Fallstudien zu, das sich, aufgrund der Menge der empirischen Daten/der Fälle und der eher schablonenhaften Interpretationsmuster, nicht direkt mit der vorliegenden Studie vergleichen lässt, so kann die Formatierung des eigenen Forschungsprozesses gleichwohl davon profitieren, dass sie sich in einen aktuellen, allgemeinen und vielstimmigen Forschungstrend einschreiben und sich so am interdisziplinären Gespräch beteiligen kann. In Gerring, John, Case Study Research. Principles and Practices, Cambridge et al. 2007, 2.37 Vgl. Gering, Case Study Research, 17.37–41.71 ff.76 ff.; Flick, Uwe, An Introduction to Qualitative Research, London et al. 32006, 132 f.141. 115 Heimbrock/Meyer, Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien, 26. Dies ist als Bestätigung für den hier eingeschlagenen Weg zu deuten, dieser aber bedarf geschärfter Aufmerksamkeit: „Ein ausgeprägtes Bewusstsein für nötige Rollenwechsel und ihren reflektierten Einsatz ist für professionell Handlende, die zugleich Forschende in ihrem eigenen Handlungsfeld werden, unbedingt erforderlich: Da sie von ergiebigen Vorannahmen über Umfeld und Praxis Gebrauch machen, müssen sie eine Achtsamkeit in Bezug auf eigene Vorurteile entwickeln.“ In Heimbrock/Meyer, Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien: Empirische Strategien, 26.

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Fokussierungen

terpretatives Mittel“116 und es „besteht die zentrale Aufgabe darin, auf die Dimension vorgängiger intersubjektiver Verbundenheit hinzuweisen und ihre Beachtung einzufordern“117. Es wird vorausgesetzt, „dass es sich bei dem ethischen Anspruch und der phänomenologischen Erfahrung um gleichzeitige Gegebenheiten handelt“118. Zusammenfassend ergibt sich: Die Erträge qualitativ-empirischer Analyse eines Falles werden vom Verständnis sozialer Praxis als intersubjektiver Begegnung her rekonstruiert. Dabei kommen relevante Dimensionen menschlicher Erfahrung des Anderen zur Sprache. Somit führt dieser Ansatz ethische Reflexion und eine wirklichkeitsorientierte Analyse zusammen.119

Die vorliegende Studie lässt sich vom empirisch-phänomenologischen Ansatz leiten, der, eingebettet in das deutsch-norwegische Gespräch, die Einsichten der Theorie einer Empirischen Theologie Gelebter Religion aufgreift. Ausgangspunkt ist ein Forschungsprozess, der den Fall konstituiert, dieser ist grundlegend: Weil der Ansatz nicht einfach auf losgelöste, der Erfahrung zu entnehmende ,Ergebnisse‘ baut, wird der Prozess des Erschaffens/Gewahrwerdens/Aufdeckens von Realität selbst entscheidend wichtig, in den der Forscher als Subjekt, das einzelne Erfahrungen macht, verwoben ist.120

Dies verweist darauf, dass Erfahrung unausweichlich an ein endliches, körperliches, lebendes Subjekt gebunden ist, das die Welt in einem speziellen Moment und in einem spezifischen räumlichen Arrangement wahrnimmt121.

Erfahrung ist so an ein Leibsubjekt gebunden und also nur relational zu verstehen. Diese Relation, in ihrer Vermeidung der Objektivierung, eröffnet den Blick auf „Elemente, die spontan, irregulär, fehler- und mangelhaft, unerwartet und sogar fremd sind“122. Soll dies gelingen, so muss der Praktiker als empirischer Forscher […] den Versuch unternehmen, von den sekundären kausalen oder prinzipiellen Erklärungen seiner oder ihrer Praxis zurückzukehren zur primären ,Gegebenheit‘ dessen, was er/sie wahrnimmt123. 116 117 118 119 120 121 122 123

Heimbrock/Meyer, Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien, 29. Heimbrock/Meyer, Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien, 31. Heimbrock/Meyer, Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien, 32. Heimbrock/Meyer, Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien, 33. Heimbrock/Meyer, Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien, 37. Heimbrock/Meyer, Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien, 37. Heimbrock/Meyer, Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien, 38. Heimbrock/Meyer, Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien, 39. Waldenfels erinnert an den Begriff der Reduktion (Husserl): „Bei Husserl bedeutet Reduktion den Rückgang von dem, was sich zeigt und was wir meinen, auf die Art und Weise, wie es sich zeigt und wie wir es meinen.“ In Waldenfels, Hyperhänomene, 180.

Methodologische und methodische Orientierung auf den Ort

263

Indirekt und implizit sind mit diesen Ausführungen zur Subjektivität der forschenden Person und ihrer Einbindung in Relationen und Bedingungen vor Ort die Grenzen der methodologischen Überlegungen benannt. Verstrickungen im Alltag, mögliche mentale Vorbehalte, unbewusste Beeinflussungen, von der forschenden Person ausgehend oder diese treffend, und nicht reflektierte körperliche Reaktionen sind nur einige Faktoren, die Implikationen auf den Forschungsprozess haben können, die sowohl diesen als auch das, was als Resultat festgehalten wird, beeinflussen können. Dies ist nie vollständig auszuschließen. Daher kann am Ende des Forschungsprozesses, am Ende der methodengeleitenden Arbeit nicht ein Rezept, eine Anleitung stehen, wie denn alles zu regeln oder einzurichten oder zu verstehen sei. Es ergeben sich vielmehr Sichtweisen, Blickrichtungen und Skizzen, die das weite Feld ansatzweise kartieren. All dies muss in den nun folgenden methodischen Überlegungen mitschwingen und fortlaufend mitbedacht sein. 7.2.2 Methodische Überlegungen Die methodologischen Überlegungen sollen nun zur konkreten Wahl der Methoden und der konkreten Forschungspraxis anleiten. Dabei ist Achim Knechts Erinnerung im Ohr zu behalten, dass eine ,phänomenologische Adaption‘ empirischer Methoden von den untersuchten Phänomenen her zu erfolgen hat. Knecht beschreibt vier Schritte: 1) eine erste Annäherung an das Phänomen, 2) die Weckung eines Forschungsinteresses, 3) die vorläufige Auswahl von empirischen Methoden, 4) eine offene Haltung gegenüber dem in Blick genommenen Sachverhalt124.

Maßgebend ist dabei: „In einem vielschichtigen, kreativen Prozess wirken diese vier Punkte wechselseitig aufeinander ein. Dieser Prozess kann sich durchaus auch mehrmals wiederholen.“125 Die Wahl der Methoden von den Phänomenen her soll sichern, dass es möglich bleibt, ein detailliertes Bild, Knecht spricht von einem ,fassettenreichen Bild‘, zu zeichnen, es „soll eine offene, theologisch nicht von vornherein festgelegte und neugierige Haltung zum untersuchten Phänomen ermöglicht werden“126. Eine Erinnerung an die Ausgangspunkte der vorliegenden Studie, an die Ergebnisse der ersten Analysen zur Kultur (im Wandel), zur (Volks-)Kirche 124 Knecht, Achim, Erlebnis Gottesdienst. Zur Rehabilitierung der Kategorie „Erlebnis“ für Theorie und Praxis des Gottesdienstes, Leipzig 2011, 59. 125 Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 59. Vgl. Heimbrock, Hans-Günter/Scholtz, Christopher P., Von der Verwunderung im Alltag zum Forschungsdesign, in: Dinter, Astrid/Heimbrock, HansGünter/Söderblom, Kerstin (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, UTB 2888, Göttingen 2007, 84–100, 93 f.96. 126 Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 60.

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Fokussierungen

und zur Liturgischen Form sowie an die ersten Fokussierungen ins Groruddal hinein bestätigt die eingangs präsentierte Methodenwahl als sinnvoll und als dem Forschungshabitus und -prozess angemessen. Dies auch unter der Maßgabe einer Kombination, so sind das eine eher „empirisch-hermeneutisch orientierte[n] Verfahren“127, das andere eher „leibhafte Zugänge zum Feld“128. Diese Methoden sollen nun im Detail vorgestellt werden.

7.2.2.1 Leitfadeninterviews Aus der Vielzahl der verschiedenen Möglichkeiten, die die qualitativ-empirisch verankerte Sozialwissenschaft bietet129, Leitfadeninterviews methodisch einzurichten, wird in der vorliegenden Studie das Modell des Fokussierten Interviews gewählt. Die Möglichkeit der Konzentration und Zuspitzung des Themas, die offene, flexible Handhabung sowie die Ausrichtung an der konkreten Gesprächssituation sind als Motivation dazu schon genannt130. Zur Unterstützung der Konzentration und Zuspitzung werden in der Gesprächsführung Erzählimpulse, „die über persönliche Erfahrungen und konkrete Ereignisse berichten“131, eingesetzt. Ferner finden sich in der konkreten Forschungspraxis der Studie Interviews, die sich der Form des Experten-Interviews annähern, in diesen Interviews „steht weniger die Person der Interviewten im Vordergrund als ihr Expertenwissen in einem bestimmten Handlungsfeld“132. Für die durchgeführten Interviews gelten die in den empirischen Sozialwissenschaften gängigen Standards: Jedes Leitfadeninterview beginnt mit der knappen Abfrage einiger biographischer Daten […], um auf dieser Grundlage ein gewisses Interviewprofil ermitteln zu können. Erst dann wird mit dem eigentlichen Leitfaden begonnen. Die Behandlung der Themen in den Interviews geschieht in Form von offenen Fragen und berichtenden und erzählenden Antworten, die z. T. durch Nachfragen vertieft werden.133 127 Dinter, Astrid/Heimbrock, Hans-Günter/Söderblom, Kerstin, Zur Einführung: Die Struktur der Methodenbeschreibung, in: Dinter, Astrid/Heimbrock, Hans-Günter/Söderblom, Kerstin (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, UTB 2888, Göttingen 2007, 213–214, 214. 128 Dinter/Heimbrock/Söderblom, Die Struktur der Methodenbeschreibung, 214. 129 Vgl. Flick, Uwe, An Introduction to Qualitative Research, London et al. 32006, 149–171. 130 Vgl. Flick, Qualitative Research, 155–161. Vgl. 2.4. 131 Söderblom, Kerstin, Leitfadeninterviews, in: Dinter, Astrid/Heimbrock, Hans-Günter/Söderblom, Kerstin (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, UTB 2888, Göttingen 2007, 254–269, 256. 132 Söderblom, Leitfadeninterviews, 256 f. Vgl. Flick, Qualitative Research, 165. 133 Söderblom, Leitfadeninterviews, 257.

Methodologische und methodische Orientierung auf den Ort

265

Während des Interviews sind vier Grundsätze einzuhalten: Die Fragen dürfen die Befragten nicht suggestiv in ihrer Antwort beeinflussen (Nichtbeeinflussung). […] [Dies] erfordert einen ,weichen‘ nicht-direktiven Interviewstil, der offen ist für neue, unerwartete Einschätzungen und Gedanken der Befragten.134

Gleichzeitig müssen die Fragen konkret genug sein, dass sich die Befragten möglichst konkret auf das anvisierte Themenfeld beziehen (Spezifizierung). Eine Interviewsituation, die sich ,mitten drin‘ im Kontext des Themas befindet, erleichtert diese Konkretion.135

Dies darf aber nicht auf Kosten der explorativen Annäherung gehen: Alle für das Forschungsfeld relevanten Aspekte sollten im Laufe des Interviews angesprochen werden (Erfassung des breiten Spektrums). Der Leitfaden muss einerseits flexibel genug gehandhabt werden, dass die Befragten selbst assoziativ thematische Verknüpfungen vornehmen können […]. […] Andererseits müssen die InterviewerInnen durch gelegentliche Themenimpulse und -wechsel sicherstellen, dass die noch nicht angesprochenen Bereiche des Leitfadens […] vorkommen.136

Viertens kann die Fokussierung auf Gefühle und die Ermutigung zum Erzählen eigener Erfahrungen […] dazu beitragen, dass das Interview persönlich wird und nicht nur mit oberflächlichen Aussagen gefüllt ist (Tiefgründigkeit und personaler Bezugsrahmen).137

Übergeordnet gilt: Der Leitfaden wird aus der Kenntnis der ForscherInnen über das Feld entwickelt und angewendet. Er muss aber auch gelegentlich verlassen werden können, um ohne Verengung spezifische Aussagen der Interviewpartner erhalten zu können. Diese offene Haltung den Interviewpartnern gegenüber ist […] für eine phänomenologische Annäherung […] sehr geeignet.138

Dieser konkreten Forschungspraxis liegt eine methodologische Einrichtung zugrunde, die sich gut mit dem empirisch-phänomenologischen Ansatz verzahnen lässt. Ausgangspunkt ist, dass die

134 135 136 137 138

Söderblom, Leitfadeninterviews, 257. Söderblom, Leitfadeninterviews, 258. Söderblom, Leitfadeninterviews, 258. Söderblom, Leitfadeninterviews, 258. Söderblom, Leitfadeninterviews, 258.

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Fokussierungen

Aussagen der Befragten […] implizit als theoriehaltig angesehen [werden], die durch entsprechendes Theoriewissen und Reflexionsvermögen in der Auswertung rekonstruiert werden können139.

Dabei wird, im Sinne einer entdeckenden, explorativen Vorgehensweise, „Subjektivität […] nicht […] als Nachteil angesehen, sondern offensiv als zentrale Erschließungsperspektive der Wirklichkeit angesehen“140. Im Sinne einer phänomenologischen Adaption bleibt dann zu berücksichtigen, dass Leitfadeninterviews oder Interviews allgemein kaum die einzige Datenerhebungsquelle zur Untersuchung eines Forschungsfeldes darstellen [können]. Denn sie sind zu stark auf die sprachliche und textuelle Ebene fokussiert, um nonverbale, sinnliche und emotional wahrnehmbare Phänomene angemessen erheben zu können141.

Für eine phänomenologische Einrichtung sind, gerade um die letztgenannten Phänomene sichtbar zu machen, der Kontakt zwischen den im Interview beteiligten Personen sowie der Kontext und die Bedingungen des Interviews von Interesse. Die verschiedenen Faktoren (non-)verbaler Kommunikation, alle Gefühle und die spezifische Interaktion, die zwischen InterviewerIn und Befragtem geschieht, stehen aus phänomenologischer Perspektive im Zentrum des Interesses.142

Es bedarf eines guten Interviewprotokolls und ergänzender Feldnotizen, um diese Faktoren sichtbar und für die Auswertung fruchtbar zu machen: So entsteht ein komplexes und mehrperspektivisches Bild eines Interviews, das nicht nur auf textbezogene hermeneutisch nachvollziehbare Daten verkürzt wird.143

Besonderes Augenmerk muss auf Beobachtungen wie zum Beispiel Hektik, Stress, Fremdem, Unverhofftem, Überraschendem, Störendem, Auslassungen, Leerstellen liegen: Wenn phänomenologisch gesprochen davon auszugehen ist, dass ein Untersuchungsgegenstand oder -feld nicht immer von vornherein bestimmbar und ein139 Söderblom, Leitfadeninterviews, 259. 140 Söderblom, Leitfadeninterviews, 260. Unter dem Vorzeichen eines Projekts einer Lebensweltwissenschaft (Edmund Husserl) erinnert Bernhard Waldenfels daran, dass diese „den subjektiven Charakter der Phänomene berücksichtigt, ohne sich in Phantastereien, Spekulationen und Dogmatismen zu verlieren. […] Sie bedarf eines Verfahrens, das zwar die Beteiligtenperspektive berücksichtigt, sich ihr aber nicht ausliefert.“ In Waldenfels, Bernhard, Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2047, Berlin 2012, 356. 141 Söderblom, Leitfadeninterviews, 261. 142 Söderblom, Leitfadeninterviews, 261 f. 143 Söderblom, Leitfadeninterviews, 262.

Methodologische und methodische Orientierung auf den Ort

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grenzbar ist, dann sind unvermutete Spuren und Fährten während eines Interviewverlaufs vor diesem Hintergrund als Wegweiser konkret deutbar.144

Wird hier auf die Interaktion zwischen den involvierten Subjekten im Interview abgehoben, muss in methodologischer Hinsicht an den Begriff der Epoch erinnert werden. Diese ist – gerade angesichts der eigenen Rollenkombination – Voraussetzung dafür, dass „das scheinbar bekannte Forschungsfeld bewusst als ,fremd‘“145 wahrgenommen werden kann. Es wird so möglich, „aus dem alltäglichen Lebenskontext heraus nach der Bedeutung von religiösen Themen in der eigenen Lebensgeschichte zu fragen“146. Dabei wird, auf der Linie einer theologischen Wende zum Subjekt, „Subjektivität […] theologisch nicht als Schwäche, sondern als zentraler Erkenntniszugang zu religiösen Themen und Glaubensfragen angesehen“147, fundamentaltheologisch wäre an das reformatorische pro me zu erinnern. Für seine Untersuchung zum Gottesdienst macht Achim Knecht auf Begrenzungen, die der Interviewform innewohnen, aufmerksam: Es ist […] zu erwarten, dass Interviewte aufgrund theologischer Überzeugungen, lebensgeschichtlicher Erfahrungen oder sozialer Erwartungen ihr eigenes Erleben im Gottesdienst immer schon bewerten und gegebenenfalls auch zensieren.148

Das, was Knecht als ,Störfaktoren‘ aufspürt, soll produktiv in den Blick genommen werden: Zunächst indem davon ausgegangen wird, dass Vorstellungen, Bilder und Ideen von Gottesdienst, vom Groruddal, von der Kirche überhaupt erst im Vollzug des Interviews geschaffen werden. Erst dann wird gefragt, welche Bilder und Ideen aktiviert und hervorgeholt werden, wie eigene Beiträge gesehen, eingeschätzt und bewertet werden. So ist zu eruieren, wo und in welcher Form Kritik geschieht, an welcher Stelle (Selbst-)Zensur auszumachen und zu vermuten ist, und auch zu fragen, wofür diese steht. Es bestätigt sich durch den Einsatz von Leitfadeninterviews die Denkrichtung des empirisch-phänomenologischen Ansatzes, dass der ,Fall‘ im Prozess, durch die involvierten Subjekte (mit-)konstituiert wird. Bei dem, was sich in den Interviews ereignet, handelt es sich nicht (unbedingt) um situationsnahe Deutungen, um das ,was-die-Menschen-wirklich-Denken‘, sondern die Interviews sind Teil des gemeinsamen Nachdenkens und Konstruierens.

144 145 146 147 148

Söderblom, Leitfadeninterviews, 262. Söderblom, Leitfadeninterviews, 263. Söderblom, Leitfadeninterviews, 267. Söderblom, Leitfadeninterviews, 267. Knecht, Achim, Erlebnis Gottesdienst. Zur Rehabilitierung der Kategorie „Erlebnis“ für Theorie und Praxis des Gottesdienstes, Leipzig 2011, 62 f.

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Fokussierungen

7.2.2.2 Teilnehmende Beobachtung Die Teilnehmende Beobachtung149 soll die Leitfadeninterviews, im Sinne eines mehr leibhaften Zugangs zu Feld und Fall, ergänzen, es soll gleichsam versucht werden, noch einmal tiefer anzusetzen, gekennzeichnet davon, dass der Forschende in ein nicht extra für die Untersuchung hergestelltes Feld geht und dort durch ein Mitleben und ohne eine zuvor detailliert festgelegte Untersuchungsstruktur versucht, Erkenntnisse über das Feld zu gewinnen150.

Achim Knecht beschreibt vier Schritte der Teilnehmenden Beobachtung: 1) die Vorbereitung, 2) den Einstieg ins Feld, 3) eine beobachtende Phase, in der die Verschriftlichung der Beobachtungen einen großen Raum einnimmt, und 4) den Ausstieg.151 Dies ist ohne Frage herausfordernd, denn als Pastor, als Ehemann, als Vater, als Nachbar, in der Freizeit, bin ich immer schon Teil des großen Feldes ,Groruddal‘ und die reflektierten Schritte des Ein- und Aussteigens geben sich keineswegs von selbst. Entweder müssen diese bedacht und inszeniert werden, wie ich dies in einigen wenigen Fällen explizit getan habe, oder aber sie entziehen sich einer Inszenierung, weil sie sich einfach ergeben, als Überraschungen im Alltag. Teilnehmende Beobachtung betrifft so nicht nur Beobachtung und Teilnahme am Verhalten anderer, an und in einem bestimmten Setting, sondern ist Beobachtung meiner selbst, im Feld, durch das vermeintlich Alltägliche hindurch, Facetten des Falls und der Fälle ent- und aufdeckend.152 Zur gleichen Zeit habe ich als Pastor in einer Gemeinde der Propstei Zugangsmöglichkeiten, die anderen verschlossen bleiben. In vielen Settings falle ich nicht auf – Menschen in verschiedenen Gemeinden wissen um meine Interessen, um meine Mitarbeit in der Forschungswerkstatt in Frankfurt, sodass Nachfragen oder Gespräche kein Kopfschütteln auslösen. Und: Es muss bedacht werden, dass diese Relationen Einfluss auf den Prozess des Entde149 Vgl. Flick, Uwe, An Introduction to Qualitative Research, London et al. 32006, 219–227. 150 Scholtz, Christopher P., Teilnehmende Beobachtung, in: Dinter, Astrid/Heimbrock, HansGünter/Söderblom, Kerstin (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, UTB 2888, Göttingen 2007, 214–225, 215. Diese Vorgehensweise greift in der Sache eine der Thesen Peter Cornehls auf, die er an den Schluss seiner Überlegungen zu Chancen und Grenzen qualitativ-empirischer Studien stellt: „Geprüft werden sollte auch, ob man in den qualitativen Untersuchungen neben der Form des thematischen Leitfaden-Interviews nicht auch Verfahren teilnehmender Beobachtung oder besser: gemeinsamen Erlebens und anschließender gemeinsamer Besprechung (in einer Gruppe) einbeziehen könnte.“ In Cornehl, Peter, Den Gottesdienst erleben – zu Chancen und Grenzen qualitativ-empirischer Studien. Eine Annäherung in fünf Schritten, in PTh 104 (2015), 285–306, 305. 151 Vgl. Knecht, Achim, Erlebnis Gottesdienst. Zur Rehabilitierung der Kategorie „Erlebnis“ für Theorie und Praxis des Gottesdienstes, Leipzig 2011, 69. 152 Vgl. Scholtz, Teilnehmende Beobachtung, 220 f.; Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 82 f.

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ckens des Fremden und auf die Reaktionen auf das Fremde nehmen. Ferner können sie die Tendenz fördern, Vor-Urteile zu reproduzieren („die sind ja immer so“), sodass das Fremde nicht als fremd wahrgenommen wird.153 Die eigene Subjektivität darf, im Sinne einer phänomenologischen Adaption, nicht ausgeblendet werden, und es gilt zu reflektieren, dass der Forschungsgegenstand überhaupt erst durch die subjektive und auch leibliche Bezugnahme des Forschenden zu einem wissenschaftlich relevanten Objekt wird154.

Es handelt sich wieder um den Aspekt der Konstitution, der fordert, dass Beeinflussungen durch die Präsenz des Forschers minimiert und reflektiert werden. Die Stichworte von der ,Randständigkeit‘ und des ,professionellen Fremden‘ weisen wieder auf die Reflexion der eigenen Rolle, der Epoch .155 Um Sicherung, Nachvollziehbarkeit und Transparenz zu gewährleisten, habe ich Feldtagebücher geführt und Notizen gesammelt. Das in der alltagsethnografischen Forschung übliche Feldtagebuch übernimmt eine doppelte Funktion: Einmal dient es im Sinne einer Gedächtnisstütze zur Dokumentation der Ereignisse und Eindrücke. Zum anderen stößt die Aktivität des Schreibens auf verschiedenen Ebenen Prozesse an: Es kann das weitere methodische Vorgehen geplant werden, erste Analyseversuche finden ihren Platz und die eigene Rolle und Befindlichkeit im Feld werden reflektiert.156

Methodische Anleitungen gehen davon aus, dass im Rahmen einer Studie von diesen Feldtagebüchern herkommend „wissenschaftlichen Standards entsprechende, diskursive und lineare Texte erzeugt“157 werden, bei denen es sich „nicht um Tatsachenberichte […], sondern um eine (Re-)Konstruktion der sozialen und kulturellen Wirklichkeit“158 handelt. Christopher P. Scholtz verweist auf den Begriff der Phänomenologischen Beschreibung, Knecht auf die Methode der Dichten Beschreibung, dabei ist die Klärung einer Methodik, um das als Phänomen Wahrgenommene ,dem vergänglichen Augenblick zu entreißen‘, bzw. wie ein Phänomen so wiedergegeben werden kann, dass man sich darüber verständigen und mit dieser Darstellung weiterarbeiten kann159, 153 „Diese dialektische Spannung zwischen den Perspektiven kann nur durch die Subjektivität des Forschenden vermittelt werden, um produktiv und Erkenntnis gewinnend wirken zu können.“ In Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 75. 154 Scholtz, Teilnehmende Beobachtung, 221. 155 Vgl. Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 71.74 f.84 ff.; Scholtz, Teilnehmende Beobachtung, 222.224 f. 156 Scholtz, Teilnehmende Beobachtung, 216. Vgl. Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 77 f.; Flick, Qualitative Research, 287 f. 157 Scholtz, Teilnehmende Beobachtung, 217. 158 Scholtz, Teilnehmende Beobachtung 217. 159 Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 92. Vgl. Scholtz, Teilnehmende Beobachtung, 217.

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entscheidend. Dies Ideal entspricht nicht meiner Forschungspraxis, in der Teilnehmende Beobachtung oft viel chaotischer ablief, viel mehr mitten drin, internalisierter und verleiblichter – durchaus positiv im Sinne eines ,going native‘ oder des Gewahrwerdens des ,tacit knowledge‘ – und als Teil des alltäglichen Vollzugs.160 Ich würde daher nicht so weit gehen wollen, dass alle Feldtagebücher und die, auf dem Hintergrund von Notizen, Bemerkungen und Einfällen, entstandenen Texte als phänomenologisch adaptierte Dichte Beschreibungen zu verstehen sind. Viele der Beobachtungen sind ungeordneterer Natur, Notizen von Beobachtungen in einem Gespräch, niedergeschrieben, weggelegt, in den Geschäften und der Hektik des Alltags liegen geblieben, dann wieder aufgefunden und bedacht. Daher wird, im Sinne einer methodisch ausgerichteten Forschungsstrategie, der Begriff der Phänomenologischen Beschreibung – „in der Trias von Wahrnehmung, Beschreibung und Interpretation“161 – zugrunde gelegt: Die Beschreibung entsteht als ein zirkuläres Um-Schreiben der gelebten Erfahrung im doppeldeutigen Sinne: Das Phänomen wird umschrieben im Sinne des einkreisenden Annäherns; dabei werden vorläufige Versionen erweitert, verändert, umgeschrieben.162

7.2.2.3 Wahrnehmen, Verstehen und Deuten vom Gegenstand her Zum Schluss stellt sich die Frage nach der Analyse, nach dem Deuten und der Interpretation, die nicht losgelöst von den obigen methodologischen und methodischen Überlegungen beantwortet werden darf. Die wichtigste Inspiration in die Arbeit der Analysen hinein findet sich in der Grounded Theory, immer beachtend, dass sie „von Haus aus […] weniger als eine Methode denn als Methodologie konzipiert“163 wurde. 160 Vgl. Flick, Qualitative Research, 220.223; Knecht, Erlebnis Gottesdienst, 71 ff.; Scholtz, Teilnehmende Beobachtung, 215 f. 161 Heimbrock, Hans-Günter/Scholtz, Christopher P., Von der Verwunderung im Alltag zum Forschungsdesign, in: Dinter, Astrid/Heimbrock, Hans-Günter/Söderblom, Kerstin (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, UTB 2888, Göttingen 2007, 84–100, 98. 162 Heimbrock/Scholtz, Von der Verwunderung im Alltag zum Forschungsdesign, 98 f. Zum Verhältnis von Dichter Beschreibung und Phänomenologischer Beschreibung vgl. Knecht, Achim, Dichte Beschreibung, in: Dinter, Astrid/Heimbrock, Hans-Günter/Söderblom, Kerstin (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, UTB 2888, Göttingen 2007, 226–242, 231 f. 163 Mädler, Inken, Ein Weg zur gegenstandsbegründeten Theoriebildung: Grounded Theory, in: Dinter, Astrid/Heimbrock, Hans-Günter/Söderblom, Kerstin (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, UTB 2888, Göttingen 2007, 242–254, 243. Vgl. Strauss, Anselm/Legewie, Heiner/Schervier-Legewie, Barbara, „Forschung ist harte Arbeit, es ist immer ein Stück Leiden damit verbunden. Deshalb muss es auf der anderen Seite Spaß

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Die Literatur zur Grounded Theory und deren verschiedenen Richtungen ist unüberschaubar. Ein ausführliches Referat kann und soll an dieser Stelle nicht angegangen werden. Ich beschränke mich darauf, wichtige Gesichtspunkte des Ansatzes zu umreißen. Forschungspragmatisch geht es darum, Inspirationen und Folgen für den Forschungs-, Wahrnehmungs-, Verstehensund Deutungsprozess der eigenen Studie kenntlich zu machen.164 Mittels eines Verfahrens, das sich an die Errungenschaften der Grounded Theory anlehnt, kann der gesamte Forschungsprozess, der in der Studie sichtund nachvollziehbar gemacht wird, als ,Suchprozess‘ beschrieben, strukturiert und formatiert werden, als ein ,kreatives Konstruieren im Verlauf‘. Dieser Suchprozess soll in seiner ganzen Breite als ein ,forschender Stil’ aufgefasst werden.165 In phänomenologischer Absicht liegen die Anschlussmöglichkeiten auf der Hand. So geht es, in suchender, aufsuchender Annäherung, um die involvierten Subjekte, die interpersonal, in je ihrer Lebenswelt verwoben, Feld und Fall (mit-)konstruieren, miteinander agieren, deren Intentionalität und deren Sein als Leibsubjekt unbedingt mitbedacht sein müssen, wie eben meine eigene Teilhabe an Feld und Fall. Es geht dabei, daran ist zu erinnern, um mehr als Transkripte der gesprochenen Anteile der Kommunikation. Es geht um Stimmungen, Atmosphären, das Nicht-in-Worte-fassbare, das Selbstverständliche und Unbegreifliche.166 machen.“ Anselm Strauss im Interview mit Heiner Legewie und Barbara Schervier-Legewie, in: Mey, Günter/Mruck, Katja (Hg.), Grounded Theory Reader, HSR Supplement 19 (2007), 69–79, 73 f. 164 Vgl. Glaser, Barney G./Strauss, Anselm L., The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research, Chicago 1967; Flick, Uwe, An Introduction to Qualitative Research, London et al. 32006, 98 ff.125–128.296–313; Truschkat, Inga/Kaiser, Manuela/Reinartz, Vera, Forschen nach Rezept? Anregungen zum praktischen Umgang mit der Grounded Theory in Qualifikationsarbeiten, in: FQS 6 (2/2005), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114fqs0502221 (abgerufen am 4. 7. 2017), 48 Absätze; Mey, Günter/Mruck, Katja, Grounded Theory Methodologie – Bemerkungen zu einem prominenten Forschungsstil, in: Mey, Günter/ Mruck, Katja (Hg.), Grounded Theory Reader, HSR Supplement 19 (2007), 11–39; Muckel, Petra, Die Entwicklung von Kategorien mit der Methode der Grounded Theory, in: Mey, Günter/Mruck, Katja (Hg.), Grounded Theory Reader, HSR Supplement 19 (2007), 211–231. 165 Vgl. Glaser/Strauss, Discovery of Grounded Theory, 6.9.32; Mädler, Grounded Theory, 242 f. Für die vorliegende Studie ergeben sich noch andere Anschlussmöglichkeiten. Guro Voss Gabrielsen beschäftigt sich mit Verständnissen des Ortes im Groruddal. Auch sie greift auf Erbschaften der Grounded Theory zurück, verortet ihre Forschung als reflektierende Forschung und macht stark, dass diese einen Blick auf den Handlungsaspekt freisetzt und ermöglicht, „das, was innerhalb des Groruddal-Aktionsprojekts analysiert wird, als Mikroprozesse zu verstehen […], als Relation zwischen Akteurinnen und Akteuren. Weiter können diese Relationen nicht als reine Ursachenverhältnisse gelesen werden, sondern als Symbole, die interpretiert und verstanden werden.“ In Gabrielsen, Guro Voss, Groruddalen; Oslos vakreste verkebyll? – problemrepresentasjoner og stedsforst elser i Groruddalssatsingen, Dissertation, The Oslo School of Architecture and Design, 2014, 54. 166 Vgl. Glaser/Strauss, Discovery of Grounded Theory, 5 f.46.30.40.43.47.61.67 ff.71. 105–112.161.225 f.251 ff.; Mädler, Grounded Theory, 242 f.251.

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Anselm L. Strauss nennt in einem Interview drei Kennzeichen der Grounded Theory: Erstens die Art des Kodierens. Das Kodieren ist theoretisch, es dient also nicht bloß der Klassifikation oder Beschreibung der Phänomene. […] Das Zweite ist das theoretische Sampling. […] Und das Dritte sind die Vergleiche, die zwischen den Phänomenen und Kontexten gezogen werden und aus denen erst die theoretischen Konzepte erwachsen.167

Streng an diesen Kennzeichen gemessen kann die vorliegende Studie sich nicht auf die Grounded Theory berufen, gleichwohl soll festgehalten werden, dass gewichtige Inspirationen, die die grundlegende Offenheit und Suchbewegungen der Studie sichern und mittragen, von diesen Kennzeichen und Entwicklungen der Grounded Theory ausgehen. Von entscheidender Bedeutung ist, nach Inga Truschkat, Manuela Kaiser und Vera Reinartz, der Eingang in den Forschungsprozess, die Auswahl der ersten zu untersuchenden Fälle (Personen, Situationen, Dokumente usw.) zu Beginn des Forschungsprozesses nach der G[rounded]T[heory]M[ethod] hat Erkundungscharakter. Die aus der Analyse dieser Daten entstandenen relevanten Kategorien für eine Theoriebildung geben Hinweise über das weitere Sampling im Forschungsprozess.168

Dieser Prozess muss von ,theoretischer Sensibilität‘ geprägt sein. Diese setzt sich […] aus Literaturkenntnissen, beruflichen und persönlichen Erfahrungen und aus den Erkenntnissen zusammen, die im Rahmen des laufenden Forschungsprojekts gewonnen werden.169

In diesem Sinne werden die analysierten historisch-systematischen Problemhorizonte, die in Situationen, Begegnungen und Beobachtungen im Alltag des Groruddals ihren Ausgangspunkt haben, als Orientierungsmarken gefasst, eingedenk, dass ein neuralgischer Punkt dabei […] der Umgang mit impliziten Hypothesen [ist], die das angestrebte Prinzip der Offenheit konterkarieren können, wenn sie bereits in der Erhebungsphase der Daten unkontrolliert ,durchschlagen‘.170

Mit Inken Mädler wird festgehalten, „das Prinzip der Offenheit zwar ,auf die Formulierung von Hypothesen, nicht jedoch auf die Festlegung der Fragestellung‘ zu beziehen“171 und gleichzeitig „die zu eruierenden Phänomene aus 167 Strauss/Legewie/Schervier-Legewie, Barbara, Anselm Strauss im Interview, 75. 168 Truschkat/Kaiser/Reinartz, Forschen nach Rezept?, Absatz 8. 169 Truschkat/Kaiser/Reinartz, Forschen nach Rezept?, Absatz 12. Vgl. Mey/Mruck, Grounded Theory, 32. 170 Mädler, Grounded Theory, 247. 171 Mädler, Grounded Theory, 247. Mädler zitiert Uwe Flick. Vgl. Flick, Qualitative Research, 99.

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dem erkenntnisleitenden Interesse der Forschenden und der Konkretisierung der Fragestellung heraus einzugrenzen“172. Eine solche Reduktion sichert, gewisse Phänomene deutlicher wahrnehmen zu können. An diese ersten und offenen Annäherungen, an die Durchführung von ersten Leitfadeninterviews, von Truschkat, Kaiser und Reinartz als ,zufälliges Sampling‘ bezeichnet, schließt sich ein ,gezieltes Sampling‘ an. Dabei ist es gerade die eigene Nähe zum Feld, die ein gezieltes Sampling möglich macht und sehen lässt, wo das Sampling der Ergänzung bedarf.173 Daher sind die Leitfadeninterviews im Laufe von mehreren Jahren entstanden. Es sind im Verlauf des Forschungsprozesses Vergleiche angestellt worden, die sowohl die historisch-systematischen Problemhorizonte und die eigenen Wahrnehmungen und (Teilnehmende) Beobachtungen im Alltag betreffen als auch die Auswahl und Richtung der nächsten Interviews. Es kam zu einer spiralförmigen Bewegung im Forschungsprozess. Mit Ausgangspunkt im eigenen erkenntnisleitenden Interesse wurden eigene Erfahrungen, theoretische Sichtungen und Analysen als „übergreifende Konzepte, in denen das Neben- und Untereinander der Sinnbezüge erkennbar wird“174, verstanden. Die Wechselseitigkeit im Verhältnis zwischen Theorie und Empirie bezieht sich also sowohl auf die Auswertung des erhobenen Datenmaterials (Kodierung) als auch auf die sukzessive Erhebung der Daten175,

das bedeutet gerade für weniger geübte ForscherInnen, dass sie ihr Sampling sowohl auf den aus dem empirischen Material gewonnen Erkenntnissen als auch auf theoretisch ,vorgedachten‘ Hypothesen aufbauen können176.

Bestärkung findet das Postulat der Anschlussfähigkeit an das grundlegende phänomenologische Interesse der Studie, das Offenheit, Subjektivität und das genaue Wahrnehmen betont, nicht allein bei Mädler, sondern ebenso bei David L. Rennie, der die Grounded Theory als „methodische Hermeneutik“ fassen will. Sein Ausgangspunkt ist das Interesse von Barney G. Glaser und Strauss, mittels Kategorisierung strukturell erklären zu wollen.177 Die beiden verkennen aber, bei aller Beachtung der Perspektivität, die Bedeutung der ,doppelten Hermeneutik‘ (Anthony Giddens): 172 Mädler, Grounded Theory, 247. 173 Vgl. Truschkat/Kaiser/Reinartz, Forschen nach Rezept?, Absatz 20 f.; Mey/Mruck, Grounded Theory, 19. 174 Mädler, Grounded Theory, 249 f. 175 Truschkat/Kaiser/Reinartz, Forschen nach Rezept?, Absatz 28. 176 Truschkat/Kaiser/Reinartz, Forschen nach Rezept?, Absatz 32. 177 Vgl. Rennie, David L., Die Methodologie der Grounded Theory als methodische Hermeneutik: Zur Versöhnung von Realismus und Relativismus, in: ZBBS 6 (2005), 85–104, 86 ff.

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Als Handelnde wählen Menschen aus, wie sie ihre Erfahrungen repräsentieren, und optieren entweder dafür, sie auszublenden oder sich ihnen zu öffnen. Ohne Rücksicht auf den Umfang, in dem Personen bereit sind, ihre Erfahrungen nach bestem Wissen und Gewissen zu repräsentieren, ist diese Erfahrung zumindest zum Teil konstituiert und beeinflusst durch Interessen, Werte […]. […] Deshalb ist jedes Verstehen von Äußerungen und Darstellungen einer Person eine Interpretation eines bereits interpretierten Textes.178

Insofern „handelt jede Theorie, die durch Anwendung dieser Methode gewonnen wird, von Verstehen, nicht von Erklären“179. Die ,doppelte Hermeneutik‘ erinnert an den Stellenwert des Kontaktes zwischen den zum Beispiel im Leitfadeninterview involvierten Personen, an den Konstruktionscharakter. Um eine Kategorisierung – als ,Ausdruck des Verstehens‘ – gelingen zu lassen, hat bei Glaser und Strauss, auch wenn sie diese Verbindung niemals bestätigt haben, die phänomenologische Technik der Einklammerung in ihre Methode Eingang gefunden180.

In diesem Prozess der Kategorisierung ist Interpretation und Kreativität gefragt, und für die forschende Person gilt, dass die „Kunst einer guten Interpretation […] im Ineinandergreifen von äußerer und innerer Erfahrung [liegt]“181. Strauss hat, so Rennie, im Weiteren die Frage nach der Hypothesenprüfung durch Kategorisierung vorangetrieben, die Frage nach Verifikation und Validierung aufgebracht, denn diese war allein auf Grundlage von Induktion nicht zu beantworten. Strauss öffnet den Weg für den von Rennie an dieser Stelle eingebrachten Begriff der Abduktion (Charles Sanders Peirce): „In seiner Sicht entsteht neues Wissen nicht aus Deduktionen, sondern durch das Wechselspiel zwischen Abduktion und Induktion.“182 – 178 Rennie, Die Methodologie der Grounded Theory, 88. 179 Rennie, Die Methodologie der Grounded Theory, 88. Rennie stützt sich auf Paul Ricœurs Unterscheidung zwischen semantischen und strukturellen Aspekten von Text. Mag es scheinen, dass Rennie einem engen Verständnis von ,Text‘ das Wort redet, kann er doch festhalten: „Wie oben bereits beschrieben, wurde Hermeneutik traditionell definiert als die Theorie der Interpretation von schwer verständlichem Text und deshalb ist sie, wie die Heideggerianer betont haben, umfassender als das Verstehen von Text. In diesem breiten Rahmen ist der Gegenstand der Grounded Theory hermeneutisch, auch wenn er ohne Berichte über Erfahrungen nicht denkbar ist.“ In Rennie, Die Methodologie der Grounded Theory, 100. Ohne den Begriff der ,doppelten Hermeneutik‘ zu gebrauchen, ist Achim Knecht genau diesem Sachverhalt auf der Spur. Vgl. Knecht, Achim, Erlebnis Gottesdienst. Zur Rehabilitierung der Kategorie „Erlebnis“ für Theorie und Praxis des Gottesdienstes, Leipzig 2011, 62 f. 180 Rennie, Die Methodologie der Grounded Theory, 90. 181 Rennie, Die Methodologie der Grounded Theory, 91. 182 Rennie, Die Methodologie der Grounded Theory, 93. Vgl. Reichertz, Jo, Abduction: The Logic of Discovery of Grounded Theory, in: FQS 11 (2010), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114fqs1001135 (abgerufen am 4. 7. 2017), 39 Absätze, Absatz 4.

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Auf diese Weise schließt der normale Gang der Wissenschaft für Peirce das Sammeln von Fakten ein (Induktion), die Anlass zur Abduktion geben, die dann durch weitere Induktion getestet wird. Die bedeutsame Konsequenz ist, dass Induktion selbstkorrigierend ist […].183

In die Arbeit mit der Grounded Theory übertragen bedeutet dies: Unabhängig von den konkreten Verfahrensweisen, die eingesetzt wurden, um Kategorien zu konzeptualisieren, stellt eine Kategorie tatsächlich eine Abduktion (Hypothese) dar, die auf die Validierung wartet, welche die Grounded Theory-Analyse dann im Weiteren vornimmt.184

Zur Rekapitulation: Es geht in diesen Ausführungen nicht darum, die „Reinheit“ der vorliegenden Studie mit Blick auf die Grounded Theory auszuweisen. Zielpunkt ist vielmehr, deutlich zu machen, dass die Grounded Theory, durchaus in ihren Verzweigungen, Inspirationen bereithält, von denen diese Studie in ihren Deutungs- und Interpretationsprozessen profitieren kann. Dazu zählt eine unentschieden-ungeklärte Offenheit als Grundprämisse für die Haltung der forschenden Person, die gleichzeitig das Einbringen von Theoriediskursen reflektiert und so theoretisch sensibel voranschreiten kann. Dies wird als Suchprozess gefasst, in dem das Verstehen wollen – in meinem Vokabular vielleicht: das genaue Wahrnehmen wollen – im Vordergrund steht, der, in abduktiver Hinsicht, den Einzelfall beachtend, von der Regelhaftigkeit und Typisierung, die bei der qualitativen Induktion im Vordergrund steht, (zunächst) absehen will.185 Die Erinnerung an die doppelte Hermeneutik ist gewichtig, zwingt gerade dazu, genauer zu beobachten. Und sie hilft, sich gerade in den Wetterlagen aufzuhalten, die Peirce für einen ,abduktiven Blitzschlag‘ als wohlgeeignet ansieht, „the presence of genuine doubt or uncertainity or fear or great pres183 Rennie, Die Methodologie der Grounded Theory, 94. 184 Rennie, Die Methodologie der Grounded Theory, 94. Vgl. Reichertz, Abduction: The Logic of Discovery of Grounded Theory, Absatz 16; Heimbrock, Hans-Günter/Dinter, Astrid, Impulse der Empirischen Theologie für die Klärung des Ansatzes von ,Erfahrungswissenschaft‘, in: Dinter, Astrid/Heimbrock, Hans-Günter/Söderblom, Kerstin (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, UTB 2888, Göttingen 2007, 310–318, 316 ff. Auch Elisabeth Tveito Johnsen bemüht in der von ihr herausgegeben Untersuchung zu Gottesdiensten mit Konfirmanden und Konfirmandinnen den Begriff der Abduktion, strukturiert ihn einfacher, in dieser Einfachheit für die vorliegende Studie nicht ohne Interesse: „Im Laufe des analytischen Prozesses haben viele von uns verschiedene theoretische Perspektiven versucht. Einiges davon planten wir, haben wir beibehalten, anderes haben wir verworfen. Diese Art Material zu analysieren, zwischen Empirie und Theorie zu alternieren, wird oft als Abduktion bezeichnet. In einem abduktiven Analyseprozess wird das empirische Material parallel dazu, dass die forschende Person frühere empirische Studien und verschiedene Theorien untersucht, beforscht […].“ In Tveito Johnsen, Elisabeth, Fem versjoner av samme virkelighet, in: Tveito Johnsen, Elisabeth (Hg.), Gudstjenester med konfirmanter. En praktisk-teologisk dybdestudie med teoretisk bredde, Prismet bok 12, Oslo 2017, 18–24, 23. 185 Vgl. Reichertz, Abduction: The Logic of Discovery of Grounded Theory, Absatz 15; Truschkat/ Kaiser/Reinartz, Forschen nach Rezept?, Absatz 9.

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sure to act“186, oder dass die forschende Person „should let his mind wander with no specific goal“187 – wohl auch übersetzbar als ,freischwebende Aufmerksamkeit‘: Abductive inferencing is […] an attitude towards data and towards one’s own knowledge: data are to be taken seriously, and the validity of previously developed knowledge is to queried. It is a state of preparedness for being taken unprepared.188

Das Ausgeführte macht deutlich, dass Uta Pohl-Patalongs empirische Untersuchung auf einer anderen theoretischen Basis ein anderes Ziel verfolgt. Ein „Er-leben“ im Sinne einer phänomenologisch inspirierten Annäherung spielt dabei kaum eine Rolle. Sie verfolgt einen qualitativen Ansatz der Forschung, rekurriert auf Einsichten der Grounded Theory, betont die Bedeutung der Subjekte im Erkenntnisprozess und das Prinzip der Offenheit. Sie macht Gebrauch von Leitfadeninterviews, die sie durch das Einbringen von Theoriediskursen entwickelt, im Vollzug weiterentwickelt und mittels Kategorien interpretiert. Gleichwohl, der Bedeutung des konkreten Ortes, des sozialen Kontextes, des Anlasses des konkreten Gottesdienstes wird im Grunde kaum Wert beigemessen. Der entscheidende Unterschied findet sich in ihrer Definition des Begriffs ,Erleben‘ und der Stoßrichtung ihres Erkenntnisinteresses, das auf ,Ergebnislogiken‘ abzielt. In Verlängerung dessen ist zu sehen, dass Pohl-Patalong nicht jedes Interview für sich analysiert, sie die Interviews nicht allein geführt hat, die Forschungsgruppe, mit ihr als Leiterin, in die Analyse eingebunden ist und Pohl-Patalong die letzte Auswertung für sich beansprucht.189 Bemerkenswert anders verfolgt die vorliegende Studie in den größten Teilen den Weg, den Rennie vorzeichnet: Für gewöhnlich ist der erstrangige Forscher beides: Entdecker des Phänomens, das ihn interessiert und Analytiker von Informationen über es. Diese Taktik hat sich eingebürgert, weil allgemein Übereinstimmung darüber herrscht, dass es keine gute Praxis ist, die Gewinnung eines Textes, auf den Analyseschritte angewandt werden, an jemand anderes zu delegieren. Deshalb verfügt der Analytiker, wenn Interviews als Erhebungsmethode genutzt werden, bereits über ein Verständnis des Textes als 186 187 188 189

Reichertz, Abduction: The Logic of Discovery of Grounded Theory, Absatz 20. Reichertz, Abduction: The Logic of Discovery of Grounded Theory, Absatz 20. Reichertz, Abduction: The Logic of Discovery of Grounded Theory, Absatz 22. Vgl. Pohl-Patalong, Uta, Gottesdienst erleben. Empirische Einsichten zum Gottesdienst, Stuttgart 2011, 56 ff.61.63.67–71.75–80.94 f.225. Pohl-Patalong behauptet ein „emotional geprägtes Erleben, das zwar von bestimmten Situationen oder Ereignissen abhängig ist, jedoch losgelöst von diesen gilt. Diese Erkenntnis ist für die vorliegende Studie wichtig, insofern sie nicht nach einzelnen gottesdienstlichen Erlebnissen fragt […], sondern nach einem generalisierten Erleben der Predigt, der Liturgie etc.“ In Pohl-Patalong, Gottesdienst erleben, 84. Sie beschreitet den Weg der Induktion: „The observed case (token) is an instance of a known order (type).“ In Reichertz, Abduction: The Logic of Discovery of Grounded Theory, Absatz 15. Vgl. Pohl-Patalong, Gottesdienst erleben, 56. Vgl. 3.1.3.1.

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Empfänger, noch bevor er transkribiert wurde. Überdies vertieft der Prozess der Transkription das Verständnis, so dass der Forscher unabhängig davon, ob der Text als ein ganzer gelesen und nochmals gelesen wurde, bereits vor der sequenziellen Analyse der Textbestandteile über ein Gesamtverständnis verfügt.190

Die methodologischen Errungenschaften der Grounded Theory bestätigen sich als die den gesamten Forschungsprozess umgreifende Klammer, die das Zirkuläre zwischen Beschreibung und Reflexion betont, und den Fokus auf Gelebte Religion und die Wahrnehmung der Lebenswelt bestärkt – jenseits vom Ideal objektiver und objektivierender Datensammlung und jenseits vom Ideal, große Datenmengen zu beforschen. Validierung (und Valenz), die Reichweite der vorliegenden Studie, gibt sich nicht primär in jener formalen Verallgemeinerbarkeit […], welche Daten abbildet, sondern darin, dass sie den Daten eine Gestalt zu geben versucht, indem sie die Beziehungen zwischen diesen erfasst und sich dabei als kreatives Konstruieren zu erkennen gibt191.

Dementsprechend sollen nicht nur Theorien und bekannte Vorstellungen abgefragt werden, sondern es soll etwas in den Blick genommen werden, dessen Erscheinungsform man so – als ein zu seiner Erscheinung kommendes phainomenon – noch gar nicht zu kennen behauptet und das man folglich in seinem Erscheinen auch gar nicht als solches erkennen könnte, [dies] gelingt nur dann, wenn diese Suche als eine rückgekoppelte Suchbewegung konzipiert wird192.

Werden in dieser Suche, als rückgekoppelte Suchbewegung, die subjektive Verstrickung der Forscher mit reflektiert, die in der hypothetisch angeleiteten Suchrichtung inhärenten, blinden Flecken der Wahrnehmung mit bedacht und Grade der theoretischen Sättigung zur Diskussion gestellt […], wird die für diesen Stil des Forschens konstitutive Subjektivität intersubjektiv nachvollziehbar […]. […] und die Produktivität des hermeneuein kann sich entfalten193.

7.2.3 Das Sample 7.2.3.1 Die Leitfadeninterviews Die ersten Leitfadeninterviews wurden im Januar 2011 geführt und diese hatten ganz eindeutig und zuallererst Erkundungscharakter. Ziel war es, das anfängliche Forschungsinteresse, mit Ausgangspunkt in der Reform des 190 Rennie, Die Methodologie der Grounded Theory, 88 f. 191 Mädler, Grounded Theory, 250. Vgl. Mädler, Grounded Theory, 244. Vgl. Glaser/Strauss, Discovery of Grounded Theory, 228–232. 192 Mädler, Grounded Theory, 252. 193 Mädler, Grounded Theory, 253.

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gottesdienstlichen Lebens, angegangen im kirchlichen Alltag des Groruddals, deutlicher zu fassen und abzugrenzen, einen Eingang in das weite Feld, immer noch grob umrissen als ,Kirche im Groruddal‘, als ,Gottesdienst im Groruddal‘, zu schaffen. Für diese ersten Interviews war mein, durch Arbeit, Leben und Alltag, persönlicher Zugang entscheidend, durchaus im Sinne eines ,zufälligen Samplings‘. Es war die Frage leitend, wer und was mit den ersten Interviews erreicht werden konnte. Gleichzeitig stand, bei aller Nähe zum Ausgangspunkt, eine gewisse Breite in der Annäherung im Fokus.194 Der weitere Fortgang im Prozess deckt sich mit dem Vorgehen Uta PohlPatalongs in ihrer empirischen Studie zum Erleben im Gottesdienst: Nachdem die ersten Interviews verabredet und geführt worden waren, haben wir die nächsten Interviewpartnerinnen und -partner gesucht und mit diesen die Interviews geführt. Dieses Verfahren hatte zum einen den Vorteil, dass bestimmte für die Auswahl relevante Merkmale manchmal erst während des Interviews deutlich wurden […], so dass mögliche Einseitigkeiten durch die weitere Suche […] korrigiert werden konnten. Zudem konnte dieses Verfahren die sogenannte ,Datensättigung‘ berücksichtigen […].195

Somit musste die Auswahl der Gesprächspartnerinnen und -partner in ein ,gezieltes Sampling‘ übergehen, das entscheidende Kriterium für die Auswahl war zunächst die Mitgliedschaft in einem Gottesdienstausschuss in einer Gemeinde, um Nähe zur Reform des gottesdienstlichen Lebens zu sichern. Diese Nähe musste gleichwohl aufgebrochen werden, dass sie nicht zur Enge würde. Es wurden weitere Freiwillige interviewt, um den Blick zu weiten, und zudem wurden andere Kriterien in Anschlag gebracht, wie etwa Geschlecht, Alter, Herkunft (zwei der interviewten Personen haben einen Migrationshintergrund). Bei den interviewten Pfarrern, der Pastorin und dem Pastor wurde das theologische Profil, die Länge ihrer Dienstzeit im Groruddal sowie deren, durch mich wahrgenommenen, Positionierung und Engagement in kirchlichen Diskussionen berücksichtigt. Außerdem wurde auf eine geografische Verteilung auf die Gemeinden im Tal geachtet, denn die Gemeinden unterscheiden sich doch sehr voneinander.196 Unverkennbar macht das Sample und die Art des Samplings Anleihen so194 Vgl. Truschkat, Inga/Kaiser, Manuela/Reinartz, Vera, Forschen nach Rezept? Anregungen zum praktischen Umgang mit der Grounded Theory in Qualifikationsarbeiten, in: FQS 6 (2005), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0502221 (abgerufen am 4. 7. 2017), 48 Absätze, Absatz 8.19 f. 195 Pohl-Patalong, Uta, Gottesdienst erleben. Empirische Einsichten zum Gottesdienst, Stuttgart 2011, 69. 196 Vgl. Truschkat/Kaiser/Reinartz, Forschen nach Rezept?, Absätze 20 f.; Pohl-Patalong, Gottesdienst erleben, 69 f. Bei der Auswahl, gerade unter Kollegen und Kolleginnen, spielten, bewusst, reflektiert und unreflektiert gleichermaßen, Sympathien und Antipathien hinein. Kollegiale Konstellationen haben in einigen Fällen den Zugang erleichtert, in anderen Fällen ein Interview unmöglich gemacht. In einem so überschaubaren Milieu einer Propstei muss mit zurückbleibenden weißen Flecken gerechnet werden.

Methodologische und methodische Orientierung auf den Ort

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wohl bei qualitativen Forschungsansätzen, die explorativ vorgehen, als auch bei der Grounded Theory. Die Konzepte des theoretical sampling und der theoretischen Sensibilität führten dazu, dass in das Sample Interviews aufgenommen wurden, die sich dem Experten-Interview nähern.197 Mit diesen Interviews, mit einer Mitarbeiterin des zentralen Kirchenamtes, die an profilierter Stelle in die Arbeit mit der Reform des gottesdienstlichen Lebens eingebunden war, mit einer Freiwilligen, die lange Jahre im öffentlichen Gesundheitswesen gearbeitet hat, und mit einem ehemaligen Mitarbeiter in einem großen kirchlichen Reformprozess in Oslo, wurden Zwischenschritte nach ,außen‘ getan. Es sollte versucht werden, Außenperspektiven einzufangen und (allgemeineres, nicht eng kirchliches) Hintergrundwissen zu generieren. Damit wurde aber keineswegs das explorative Moment aufgegeben. Die Richtung ,innen–außen‘ ist weder linear noch temporär zu verstehen, und die Reihenfolge der Interviews entspricht nicht einer solch verstandenen Linie, sondern orientiert sich an dieser spiralförmig, in einer stetigen Bewegung hin und her, auf- und abwärts. Das Konzept der theoretischen Sensibilität machte Pausen im Prozess des Interviewführens notwendig, zur Reflexion, zur Sichtung und Analyse, und ebenfalls, um Raum für flankierende Beobachtungen zu geben, die sich im Forschungsprozess aufdrängten und die Ideen zu neuen Gesprächspartnern und -partnerinnen und zu neuen Zugängen gaben. – Es ist an den ,abduktiven Blitzschlag‘ zu erinnern.198 Im Folgenden wurde die Annäherung und Wahrnehmung nochmals geweitet, neben kirchlich engagierten Menschen wurde eine Bewohnerin des Groruddals interviewt, die dezidiert nicht in der Kirche aktiv ist. Die recht einfache schematische Darstellung unten gibt Aufschlüsse über die Relation der insgesamt 16 Interviews zum Ausgangspunkt des kirchlichen Alltags im Groruddal, zur Reform des gottesdienstlichen Lebens und über die zeitliche Abfolge, die grob periodisiert wurde. Entscheidend ist, dass zwischen den verschiedenen Kategorien von Interviewpartnern und Interviewpartnerinnen gewechselt wurde, im permanenten Vergleich wurde zwischen verschiedenen Interviews und zwischen Empirie und Theorie gewechselt.199 Vereinfacht ergeben sich folgende Kategorisierungen der Interviewpartnerinnen und -partner:

197 Vgl. Merkens, Hans, Auswahlverfahren, Sampling, Fallkonstruktion, in: Flick, Uwe/von Kardorff, Ernst/Steinke, Ines (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek 2000, 286–299, 295 ff.; Truschkat/Kaiser/Reinartz, Forschen nach Rezept?, Absatz 12. 198 Vgl. Reichertz, Jo, Abduction: The Logic of Discovery of Grounded Theory, in: FQS 11 (2010), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1001135 (abgerufen am 4. 7. 2017), 39 Absätze, Absätze 20.22. 199 Vgl. Truschkat/Kaiser/Reinartz, Forschen nach Rezept?, Absatz 28.

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Abbildung 1

Pfarrer/Pfarrerin, Pastor/Pastorin, Mitglied in einem Gottesdienstausschuss – Interviews 1, 4, 8 und 11 Freiwilliger Erwachsener, Mitglied in einem Gottesdienstausschuss – Interview 2 Freiwilliger Jugendlicher, Mitglied in einem Gottesdienstausschuss – Interview 3 Freiwilliger/Freiwillige Erwachsene/r – Interviews 7, 9, 10, 12 und 16 Freiwilliger Jugendlicher – Interview 13 Experte/Expertin – Interviews 5, 6 und 14 Bewohnerin des Groruddals – Interview 15 Der Kontakt zu den Menschen, die als Gesprächspartnerinnen und -partner interessant erschienen, war mir in aller erster Linie aufgrund professioneller Kontakte möglich, durch meine Kenntnis des kirchlichen Milieus in der Propstei und in Oslo. Kollegen und Kolleginnen wurden angefragt und niemand hat eine solche Anfrage abgelehnt. Diese, gerade aber andere Kolleginnen und Kollegen, waren behilflich, Freiwillige in ihren Gemeinden zu identifizieren, die für ein Interview in Betracht kamen, dies bedarf der Erwähnung, da hier ein Moment der Vorauswahl liegt, das außerhalb meiner Kontrolle lag. Wieder andere Kontakte ergaben sich beinahe zufällig. Von den angefragten Personen, die erste Anfrage erfolgte entweder telefonisch oder per E-Mail, hat niemand abgelehnt.

Methodologische und methodische Orientierung auf den Ort

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7.2.3.2 Flankierende Eindrücke und Beobachtungen Das theoretische Sampling und die theoretische Sensibilität wurden durch meinen Alltag, durch mein Pastorensein, durch meinen Familienalltag im Groruddal beeinflusst. Es war eben nicht ein extra für die Untersuchung und Studie aufgesuchtes Feld, in dem sich mein Forschungsprozess entfaltete. Ein Ein- und Aussteigen war daher nicht immer zu regeln, sondern ich war in gewisser Weise immer nah dran, mich selbst beobachtend. Dies geschah mitlaufend, zum Teil chaotisch und ungeordnet – Notizen wurden geschrieben, bedacht, gingen im Alltagsstress unter und wurden wieder hervorgeholt. Unter den Situationen, die flankierende Eindrücke und Beobachtungen zutage gefördert haben, finden sich auf der einen Seite Situationen, die sich aus Verpflichtungen, die der Beruf mit sich brachte, ergeben haben. Auf der anderen Seite stehen Situationen, die ich bewusst, dezidiert aus meinem Forschungsinteresse heraus, aufgesucht habe. Daneben ergaben sich aber auch Situationen, die sich weder der einen noch der anderen Seite zuordnen lassen. Zur Verdeutlichung soll ein kurzer, skizzenartiger Blick auf zwei Situationen genügen. Die erste Situation ist ein Konventstreffen in der Propstei Østre Aker im November 2012. In dieser Zeit wurde die Umsetzung der Vorschläge der Strategiegruppe für die Propstei Østre Aker diskutiert und es ging ganz handfest um die Zuteilung von Stellenanteilen für strategische Arbeit zu den Themenfeldern Gemeinschaftsentwicklung, Religionsdialog und Zusammenarbeit mit Gemeinden anderer Sprache und Herkunft. In diese doch angespannte Situation hinein war der thematische Teil des Konvents geprägt von vier Impulsen, vorgetragen von zwei Pastorinnen, einem Pastor und einem Pfarrer, unter der Überschrift „Mein Traum vom Pfarrdienst im Groruddal“. Ich habe zugehört, mitgedacht, ein Feldtagebuch angelegt, mir die Manuskripte (in all ihrer Einfach- und Unterschiedlichkeit) aushändigen lassen, das Einverständnis eingeholt, damit weiter arbeiten zu dürfen. Diese geben ein eindrückliches Stimmungsbild ab, haben zum weiteren Nachdenken angeregt und für das weitere Vorgehen sensibilisiert. Die zweite Situation zeigt deutlich die Verstrickung in den Pastorenalltag und die unscharfen Grenzen der Pastorenrolle im weiten Geflecht des Groruddals. Durch mein Engagement im Lokalmilieu bekam ich, durch die Verwaltung des Stadtteils, im Dezember 2016 eine Einladung zur großen Abschlusskonferenz des Groruddal-Aktionsprojekts. Ein ganzer Tag mit Rückblick und Ausblick, das Motto war „Zehn Jahre klüger“, nur geladene Gäste, und ich musste feststellen, dass ich unter den etwas über 270 Teilnehmenden der einzige kirchliche Repräsentant war.

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Fokussierungen

Zielpunkt dieser Eindrücke und Beobachtungen ist das Ergänzen und Vertiefen, Neugier und Offenheit jenseits der Textform (Leitfadeninterview) zu fördern, in einer Aus-Zeit, die nicht unbedingt konkreten Fortschritt erwartet und doch Aufmerksamkeit nicht vermissen lässt, die gleichzeitig dazu beiträgt, die Transparenz der eigenen Konstitution zu sichern.200

7.2.4 Die Frage nach dem Fall Jedes Interview im Sample ist ein Einzelfall. Dies bedeutet, dass jedes in der Analyse berücksichtigte Leitfadeninterview im Folgenden als ,Fall für sich‘ zur Darstellung gelangen soll. Gleichzeitig steht jedes Interview innerhalb mehrerer Kreise, bezieht sich auf Erfahrungen im Alltag und des Alltags, auf historisch-systematische Problemhorizonte und auf Fokussierungen. Jedes Interview bringt Erfahrungen anderer, reflektiert und zur Sprache gebracht, mit ein. Damit ist die Frage nach dem Fall, mit Hans Merkens, gleichzeitig als Frage nach der Fallgruppe zu stellen. Soll dies gelingen, und der einzelne Fall und die aus ihm entwickelten theoretischen Annahmen als Konstruktionen nachgezeichnet werden, ist es erforderlich, dass Vorannahmen deutlich gemacht werden, dass das Sampling als ,gezieltes Sampling‘ plausibel gemacht wird. Weiter müssen Entwicklungen in den Konturen der einzelnen Fälle und der Fallgruppe und die Reaktionen darauf angezeigt werden.201 Diese geläufigen Betrachtungen und Anmerkungen zu Fallkonstruktion und Fallstudie innerhalb qualitativer Forschungsansätze spitzt Johannes Süßmann auf eine für die vorliegende Studie konstruktive und instruktive Weise zu. Vorläufig definiert er Fallstudien als Darstellungen, die das Dargestellte als Fall präsentieren. D. h. sie lassen es als ein konkretes Besonderes erscheinen, das über sich selbst hinausweist auf ein abstraktes Allgemeines […]. […] Das gestaltete Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem begegnet also zunächst in darstellerische Mittel eingelassen, implizit. […] Charakteristisch ist jedenfalls der Vorrang der Darstellung; oft ist diese aspektereicher, differenzierter, ambivalenter als die begriffliche Explikation.202

Damit verbleibt die Fallstudie 200 Vgl. Reichertz, Jo, Abduction: The Logic of Discovery of Grounded Theory, in: FQS 11 (2010), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1001135 (abgerufen am 4. 7. 2017), 39 Absätze, Absätze 21 f. 201 Vgl. Merkens, Hans, Auswahlverfahren, Sampling, Fallkonstruktion, in: Flick, Uwe/von Kardorff, Ernst/Steinke, Ines (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek 2000, 286–299, 288 ff.297 f. 202 Süßmann, Johannes, Einleitung: Perspektiven der Fallstudienforschung, in: Süßmann, Johannes/Scholz, Susanne/Engel, Gisela (Hg.), Fallstudien. Theorie – Geschichte – Methode, Frankfurter kulturwissenschaftliche Beiträge 1, Berlin 2007, 7–27, 19.

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eine hybride Aussageform. Sie gibt zugleich Daten und eine (häufig größtenteils implizit bleibende) Interpretation. Sie ist Datenprotokoll und darstellerische Deutung; beides ist in ihr unauflöslich verschränkt.203

Das Stichwort der Interaktion wird virulent: Gegenstand von solchen Fallstudien ist die Interaktion des Darstellers und/oder Datenerhebers mit seinem Gegenstand, die Verstrickung in eine Datenerhebungs-, Deutungs- und Darstellungsarbeit, durch die der Sachverhalt zum Fall erst wird.204

Süßmann rekonstruiert auf diesem Hintergrund drei Typen von Fallstudien, anhand ihres jeweiligen Verhältnisses des Allgemeinen zum Besonderen. Dabei erweist sich sein dritter Typus, der das Stichwort Abduktion wieder aufnimmt, als anschlussfähig an die eigene Studie. Das Augenmerk, die Fallstudie gilt einem Besonderen, das nicht durch Induktion oder Subsumtion in einem Allgemeinen aufgeht, dem das Allgemeine vielmehr so in seine Besonderheit eingewoben ist, daß es nur durch ,abduktives Schließen‘ (C.S. Peirce) sichtbar gemacht werden kann. Das heißt, solche Fälle müssen in ihrer irreduziblen Besonderheit dargestellt werden, damit ihre allgemeine Bedeutung kenntlich wird.205

Mittels Süßmanns Typologie gelingt aber nicht nur die Kongruenz mit der Einrichtung und Terminologie des Wahrnehmens, Verstehens und Deutens vom Gegenstand her, sondern es gelingt der Anschluss an die grundlegend phänomenologische Einrichtung der Studie; Süßmanns Begrifflichkeiten wecken sogleich Erinnerungen an die Begriffe der Intentionalität und der Konstitution. Hans-Günter Heimbrock unterstreicht und ruft in Erinnerung, dass der Fall einen Entstehungszusammenhang [hat], [er] wird in einem Forschungskontext und im Horizont theoretischer Interessen an der Praxis entwickelt. Ein Fall […] wird nicht nur re-konstruiert, diese Arbeit enthält vielmehr immer auch Momente der Konstruktion.206

Heimbrock betont, wie Süßmann, die Darstellung, es soll „ein Lebensprozess zur Sprache gebracht werden, der für sich betrachtet hochgradig vorsprachlich und unstrukturiert abgelaufen ist“207, das „Entscheidende ist die Aktivierung der phänomenologisch offenen Haltung“208, diese ist sich gleichzeitig und von Anfang an ihrer Perspektivität bewusst. Süßmann, Perspektiven der Fallstudienforschung, 20. Süßmann, Perspektiven der Fallstudienforschung, 20. Süßmann, Perspektiven der Fallstudienforschung, 22. Heimbrock, Hans-Günter, Arbeit mit Fallstudien, in: Heimbrock, Hans-Günter/Leonhard, Silke/Meyer, Peter/Plagentz, Achim (Hg.), Religiöse Berufe – kirchlicher Wandel. Empirischtheologische Fallstudien, Berlin 2013, 57–66, 61. 207 Heimbrock, Arbeit mit Fallstudien, 62. 208 Heimbrock, Arbeit mit Fallstudien, 62.

203 204 205 206

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Wird unter diesen Maßgaben Süßmanns und Heimbrocks jedes Interview, in seinem Feld, in seinen Verstrickungen und mit seinen unklaren Rändern, als Fall re-konstruiert und dargestellt, stellt sich unweigerlich die Frage nach der Reichweite, der Zuverlässigkeit, der Gültig-, Vergleichbar- und der Generalisierbarkeit.209 Bent Flyvbjerg führt zwei Erkenntnisse zur Arbeit mit Fallstudien an, die das soeben Ausgeführte grundlegend untermauern und bestätigen. Diese Erkenntnisse, die er aus seiner Beschäftigung mit menschlichen Lernprozessen gewinnt, sind sein Ausgangspunkt mit den in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragen zu arbeiten: First, the case study produces the type of contextdependent knowledge that research in learning shows to be necessary to allow people to develop from rule-based beginners to virtuoso experts. Second, in the study of human affairs, there appears to exist only contextdependent knowledge, which, thus, presently rules out the possibility of epistemic theoretical construction.210

Geht Flyvbjerg also davon aus, dass es nicht um Regeln und Regelbefolgung geht, dass menschliches Lernen und Wissen immer kontextgebunden ist, ist die Frage nach Generalisierbarkeit an die Frage der Auswahl und der Methodenwahl gebunden. Hier wird die Frage nach formaler Generalisierbarkeit oftmals überdehnt, denn „formal generalization is only one of many ways by which people gain and accumulate knowledge“211. – A purely descriptive, phenomenological case study without any attempt to generalize can certainly be of value in this process and has often helped cut a path toward scientific innovation.212

Denn ihre Stärke liegt im genauen Hinsehen und Wahrnehmen.213 Voraussetzung eines Erkenntnisgewinnes ist die strategische Auswahl der Fälle, Flyvbjerg unterscheidet, unter anderen, extreme und kritische Fälle: The extreme case can be well-suited for getting a point across in an especially dramatic way […]. In contrast, a critical case can be defined as having strategic importance in relation to the general problem.214

Als weitere Größe nennt Flyvbjerg die paradigmatischen Fälle, „cases that highlight more general characteristics of the societies in question“215. Dabei 209 Vgl. Flyvbjerg, Bent, Five Misunderstandings About Case-Study Research, in: Qualitative Inquiry 12 (2006), 219–245, 221. 210 Flyvbjerg, Five Misunderstandings About Case-Study Research, 221. 211 Flyvbjerg, Five Misunderstandings About Case-Study Research, 227. Vgl. Flyvbjerg, Five Misunderstandings About Case-Study Research, 225 f. 212 Flyvbjerg, Five Misunderstandings About Case-Study Research, 227. 213 Vgl. Flyvbjerg, Five Misunderstandings About Case-Study Research, 228. 214 Flyvbjerg, Five Misunderstandings About Case-Study Research, 229. 215 Flyvbjerg, Five Misunderstandings About Case-Study Research, 232.

Analysen und empirische Arbeit im engeren Sinn

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handelt es sich keineswegs um wasserdichte Kategorisierungen, denn oftmals ist im Vorfeld gar nicht auszumachen, um welche Art von Fall es sich handelt, the various strategies of selection are not necessary mutually exclusive. For example, a case can be simultaneously extreme, critical, and paradigmatic. The interpretation of such a case can provide a unique wealth of information because one obtains various perspectives and conclusions on the case according to whether it is viewed and interpreted as one or another type of case.216

Angesichts dieser Offenheit und Fülle ist es eben kein Nachteil, dass eine Fallstudie als eigene Erzählung, als ,dichte Beschreibung‘, die sich einer schnellen Zusammenfassung und Generalisierbarkeit entzieht, stehen bleibt, „allowing the story to unfold from the many-sided, complex, and sometimes conflicting stories that the actors in the case have told“217. Dazu gehört, dass die Seite der Leserinnen und Leser einbezogen wird: in addition to the interpretations of case actors and case narrators, readers are invited to decide the meaning of the case and to interrogate actors’ and narrators’ interpretations to answer that categorial question of any case study, ,What is this case a case of ?‘218

Damit verbietet sich sowohl eine schnelle Summierung in einzelne Ergebnispunkte, die jederzeit und überall abrufbar sind,219 als auch eine Summierung aller Interviews zu einem Fall. Festgehalten wird: Jedes Interview ist Teil der (Re-)Konstruktion und Darstellung eines Falls, in und durch Begegnungen, diese Darstellung hat, wie jede Begegnung, unklare Ränder, ist nicht klar und endgültig abgrenzbar, und ist im besten Fall Konkretisierung des Besonderen und immer nur vorläufig abgeschlossen.

7.3 Analysen und empirische Arbeit im engeren Sinn 7.3.1 Rekapitulierende Bemerkungen und eine erneute Fokussierung auf den Ort hin Ausgangspunkt für die eigene Studie war der Fokus auf den Ort, auf Gottesdienst und Kirche am Ort. Das Erkenntnisinteresse wurde auf eine alltagsnahe 216 Flyvbjerg, Five Misunderstandings About Case-Study Research, 233. 217 Flyvbjerg, Five Misunderstandings About Case-Study Research, 238. Der angesprochenen Mehrperspektivigkeit wegen ist es angebracht, den Fall nicht (vorschnell) durch spezifische Theorien zu binden. Vgl. Flyvbjerg, Five Misunderstandings About Case-Study Research, 237 f. 218 Flyvbjerg, Five Misunderstandings About Case-Study Research, 238. 219 Vgl. Flyvbjerg, Five Misunderstandings About Case-Study Research, 238.

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Fokussierungen

Rezeption sowohl der Reform des gottesdienstlichen Lebens als auch der Kirche am Ort enggeführt. Die Produktivität dieser Engführung fand ihre Bestätigung – und die Studie ihren Ansporn – in der Analyse der Studie Michael H. Duceys. Seine frühe empirisch interessierte Liturgiewissenschaft öffnet die Augen für die enge Verquickung von den Gegebenheiten des Ortes, der Kirche, des Kirchenverständnisses und der Liturgischen Form. Positiv vermerkt wurde, dass Ducey, durch die Idee des interaction ritual, eine Offenheit einem kulturellen Pluralismus gegenüber eignet. Er fragt, wie die Rolle der involvierten Subjekte reflektiert wird, sowohl als Teil einer Kultur (im Wandel) als auch in den Strukturen und Hierarchien der (Volks-)Kirche. Ist schon bei Ducey ,der Ort‘ nicht als einfache, abschließend definierbare Größe zu fassen, ist an die Analyse der Theorien des Ortes und des Raumes zu erinnern. Mit Martina Löw sind die Lokalisierung, als sozial-räumlicher Prozess, und die, von den involvierten Subjekten abhängigen, Möglichkeiten verschiedene Räume an einem Ort anzunehmen, gerade in kirchentheoretischer Absicht, hervorzuheben. In Verlängerung dessen bestätigen sich die Impulse aus der Beschäftigung mit dem Problemhorizont Kultur (im Wandel). Es bleibt zu beachten, dass der Ort von den Menschen, die betrachten, denken, handeln, reden, am Ort sind, sich diesen aneignen, diesen ablehnen, die sich auf diese Weise immer neu verorten, konstitutiv abhängig ist. Es bricht sich immer wieder eine Vielschichtigkeit Bahn, die sich auch für die (Volks-)Kirche und die Liturgische Form als elementar erweist. Die (unter dem Problemhorizont (Volks-)Kirche erörterten) norwegischen Konzeptionen von Kirche teilen die Absicht einer Forcierung der Subjektperspektive. Gleichzeitig bleibt bemerkenswert, dass eine weitgehend subjektunabhängige Modellierung der Kirche ein Ganzes des Bildes – sowohl von Kirche als auch dem Ort der Kirche – fördert. Denn eine solche Modellierung läuft Gefahr, formale und formalisierte Kirchlichkeit und ein Verständnis des Ortes absolut zu setzen, letztlich den Ort, als vielschichtigen Ort, gänzlich aus dem Blick zu verlieren. Dagegen ist, unter anderem angeschärft durch die Beschäftigung mit Beiträgen aus der deutschsprachigen Kirchentheorie, wiederholt stark zu machen, dass es die von der vorliegenden Studie angenommene Herausforderung ist, empirisch verankert herauszuarbeiten, dass der Ort immer Ort leibhaftiger Subjekte ist. Deren Reden, Handeln und Sein ist wahrzunehmen und diese Wahrnehmung muss jeder kirchlichen Handlungsmaxime vorauslaufen. Das bis hierher Ausgeführte geht mit dem ganz grundsätzlichen Ausgangsimpuls der Reform des gottesdienstlichen Lebens, die Reform als offenen

Analysen und empirische Arbeit im engeren Sinn

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Prozess von unten, von den Gemeinden her zu bestimmen, zusammen. Es findet Bestätigung in der Vielschichtigkeit und Multi-Perspektivität, wie sie die Fokussierung auf das Groruddal zutage fördert. Dies darf in der Analyse der Leitfadeninterviews nicht verspielt werden. Vielmehr ist immer wieder daran zu erinnern, dass in diesen Zusammenhängen keine Größen subjektunabhängig gedacht werden können. Folglich ergibt sich eine Verpflichtung auf den Blick von unten her, gerade um innerkirchliche Engen und Begrenzungen aufzubrechen und zu überwinden. Soll die (sich aus der Analyse der Problemhorizonte ergebende) Forderung nach mehr empirischer Forschung und einer Stärkung der Subjektrolle am und vor Ort eingelöst werden, birgt dies zugleich eine Bekräftigung der grundlegenden methodologischen Ausrichtung der Studie. Der Forschungsprozess wird als Suchprozess verstanden, der offen für das Überraschende und Unerwartete ist, und grundsätzlich seinen Ausgangspunkt in praxi hat. Die methodologische Ausrichtung bringt einen Fokus auf Gelebte Religion im Alltag mit sich, es bleiben, in empirisch-phänomenologischer Adaption und Zuspitzung, die Begriffe der Konstitution und Intentionalität entscheidend. Aufs Ganze gesehen ist im Forschungsprozess deutlich geworden, dass das Verständnis des Ortes und seiner Subjekte der entscheidende Dreh- und Angelpunkt ist, der im Zentrum der folgenden Analysebemühungen stehen muss, soll eine alltagsnahe Rezeption und Wahrnehmung der Reform des gottesdienstlichen Lebens und der Kirche vor Ort gelingen. An diesem Verständnis können sowohl explizit benannte wie implizit mitlaufende Implikationen und Folgen für das Verständnis von Religion, Ritual und Gottesdienst sichtbar gemacht werden. Es wird hier deutlich, ob und wie (Volks-)Kirche als Teil einer Kultur (im Wandel) verstanden wird, ob und auf welche Art und Weise die Mehr-Perspektivität des Ortes und dessen produktive Uneindeutigkeit in Anschlag gebracht wird, um den Raum der Subjekte zu weiten und so Modellhaftigkeiten sowohl einer Kultur (im Wandel) und der (Volks-)Kirche als auch der Liturgischen Form zu unterlaufen und aufzubrechen. In diesem Sinne soll eine erneute Fokussierung auf den Ort durch die Darstellung der Analyse der Leitfadeninterviews eingeholt werden. Die Darstellung orientiert sich an folgender Frage: Wie stellt sich das Verhältnis zwischen a) der wahrgenommenen Vielstimmigkeit und Uneindeutigkeit des Ortes und b) der reflektierten Rolle der involvierten Subjekte dar? Noch konkreter lässt sich dieses an den folgenden Fragen deutlich machen: Welchen Ort nehmen meine Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen an, welchen Ort wünschen sie, konstituieren sie, wie wird die Rolle der Subjekte reflektiert? Was zeigt sich in den Interpretationen, wie denken meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner über Subjekte im Gottesdienst und am Ort nach?

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Fokussierungen

7.3.2 Darstellung der Analysen der Leitfadeninterviews In der Darstellung der Interviews werden längere Zitate durch eine eigene Formatierung gekennzeichnet. Die Transkription folgt streng dem Wortlaut und verfolgt keine grammatikalische Korrektheit. Auslassungen meinerseits werden wie folgt gekennzeichnet: […], unvollendete Wörter werden so dargestellt: Wört[…], Pausen von deutlicher Länge, die den Gesprächsfluss ins Stocken geraten lassen und ein Nachdenken oder Innehalten anzeigen, werden durch [p] markiert und Einfügungen und erklärende Bemerkungen werden in [eckige Klammern] gesetzt. Alle Interviews sind von mir übersetzt worden, dabei habe ich versucht, so eng wie möglich am Text zu bleiben, um den Duktus und den Sprachstil deutlich zu machen, um auf Stocken, Nachdenken, Verlangsamung aufmerksam zu machen – das sollte nicht verloren gehen. Außerdem wird in den Transkriptionen deutlich, dass meine Gesprächspartnerinnen und -partner und ich uns duzen. Dies ist nicht der Tatsache persönlicher Bekanntschaft geschuldet, es entspricht ganz einfach der Konvention. Die Interviews 10, 11, 12 und 16 werden nicht erschlossen. Diese Interviews liefern Hintergrundinformationen zu heutigen gesellschaftlichen und kirchlichen Verhältnissen und eindrucksvolle Stimmungsbilder von gemeindlichem Engagement vom Ende der 80er Jahre bis Mitte/Ende der 90er Jahre. Meine Gesprächspartner und -partnerinnen haben mir eine Innensicht zugänglich gemacht, die für meinen Forschungsprozess wichtig gewesen ist, die meinen Blick auf meinen professionellen Alltag geschärft und dazu beigetragen hat, mir gängige Interpretationsmuster in Erinnerung zu rufen. Gleichwohl verblieb mir aus den vier Interviews zu wenig Konkretion auf die vorliegende Studie hin, sie förderten kein weiteres Verstehen meinerseits, überraschten mich nicht, forderten mich in meinem Verstehen und in meiner Sicht auf die Dinge nicht heraus. Im Folgenden werden Analysen der Leitfadeninterviews geboten, dabei werden die Interviews nicht in der Reihenfolge ihrer Entstehung bearbeitet, sondern Fokus, Richtung und Reihenfolge dieser Analysen werden durch die oben angeführte Frage nach dem Verhältnis zwischen der wahrgenommenen Vielstimmigkeit und Uneindeutigkeit des Ortes und der reflektierten Rolle der involvierten Subjekte bestimmt. Dabei werden die Interviews aus der konkreten Situation heraus profiliert. Es wird deutlich, dass dem Durchgang durch Begegnungen mit Einzelnen persönliche Einordnungen und Interpretationen, in Form von Fokussierungen, folgen. Diese Arbeit mit dem Interviewmaterial hat ihren Ausgangspunkt in praxi

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und zielt auf Gelebte Religion im Alltag ab. Damit ist diese Arbeit unweigerlich an meine Doppelrolle als Pastor und Forscher gebunden, bestimmte Situationen wurden mir so erst zugänglich, dies muss mitlaufend reflektiert werden. Dazu gehört weiter, dass die gebotenen Fokussierungen nicht als abgeschlossen zu betrachten sind, sondern als (subjektiv-)konstruktive Versprachlichung des Besonderen dargestellt werden, in die der Leser und die Leserin, explizit jenseits des Funktionalen, mit einbezogen werden soll.220 Hier liegt auch der Grund dafür, dass die Analyse nicht bei diesen Fokussierungen stehen bleibt, sondern mehrschrittig aufgebaut ist und weitere Durchgänge durch das empirische Material bietet.

7.3.2.1 Kaja: Kirche als Restauration des Norwegischen Kurze Vorstellung der Gesprächspartnerin und des Gesprächs Mit Kaja werde ich indirekt, über ihre Tante, die regelmäßig am Gottesdienst teilnimmt, bekannt. Mein Ziel war es, unbedingt mit jemandem zu sprechen, der oder die im Groruddal aufgewachsen ist, dabei aber nicht zwangsläufig in der Kirche oder in einer Gemeinde engagiert war oder ist. Kaja ist etwa fünfzig Jahre alt und wohnt seit den 70er Jahren im Groruddal, mit einer Unterbrechung von ungefähr zehn Jahren. In dieser Zeit war Kaja im Ausland verheiratet, ihre Tochter wurde geboren. Kaja war knapp dreißig Jahre alt als sie, zusammen mit ihrer Tochter von ziemlich genau vier Jahren, wieder ins Groruddal kam. Auf meine E-Mail antwortet sie spät und distanziert, „die Kirche macht mir bald Beklemmungen“, wir verabreden uns zu einem Interview. Da Kaja keinesfalls zur Kirche kommen will, findet das Gespräch bei ihr zu Hause statt. Kaja wohnt in einem Reihenhaus der 70er Jahre, direkt am Waldrand gelegen, mit tollem Ausblick über die Stadt und den Fjord, es ist die Wohnlage der Mittelschicht. Das Wohnzimmer offenbart ein selbst gebautes Bücherregal, ein paar Bücher, DVDs, Bilder der Tochter. Kaja serviert Tee und wir steigen sofort in den Leitfaden ein, die Situation ist wohl beiden ein wenig fremd. Der Hauptteil des Gesprächs von einer knappen Stunde (Minuten 6–33) handelt vom Groruddal. Kajas Stichworte sind die der „Graswurzel“, des „Echten“, im Sinne von authentisch, und das Begriffspaar ,Zugehörigkeit–Entfremdung‘. Sie macht dabei verschiedene Ecken (vielleicht: Räume) im Tal aus, die sich in dieser Hinsicht unterscheiden. Die folgende Viertelstunde (Minuten 34–49) berührt die Kirche. Kaja lehnt die Kirche für sich ab, sieht die Kirche, wenn auch vorsichtig formuliert, als 220 Zum Ernstnehmen der jeweiligen Situation gehört auch, nicht in ein Gespräch über das Gespräch einzusteigen; dies ist mehr als nur forschungsethische Anforderung. Vgl. 2.4.

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Fokussierungen

Teil einer norwegischen Kultur, unterstreicht mehrmals, dass sie im Grunde nichts über die Kirche sagen kann, und billigt ihr dann doch eine Rolle im Lokalmilieu zu. Das Gespräch beginnt schleppend und verläuft zum Ende hin etwas im Sande. Immer wieder beschleicht mich das Gefühl, dass etwas Ungesagtes zwischen uns steht, es war insgesamt ein herausforderndes Gespräch. Kultur (im Wandel) Kaja wohnte von ihrem siebten bis zu ihrem 18. Lebensjahr im Groruddal, dem Leitfaden folgend frage ich: CS: was ist das Groruddal K: was ist das Groruddal CS: ja K: ich weiß nicht, ich fühle gleichsam nicht, eigentlich nicht, dass ich ein Verhältnis zu diesem Groruddal habe, das ist etwas da hinten, da drüben CS: ja K: ich fühle mich nicht als Teil davon CS: nein K: äh, ich bin aus dem Osten, ja, dass ich eine aus dem Osten bin, gleichsam CS: ja K: absolut CS: was ist das K: äh, das ist gleichsam, äh, das, das ist mehr so ein Graswurzel-Gefühl, ein wenig mehr, ich weiß nicht, nicht so, [p], ich weiß nicht, ein wenig mehr echt, auf eine Art, das ist der Osten für mich, […], im Westen ist mehr Politur, äh, während, hier im Osten sind wir ein wenig rauer geschnitzt, äh, und ein wenig mehr, ich weiß nicht, ja

Kaja geht es in ihren Definitionen des Groruddals und des Ostens durchweg um Abgrenzung. Der Tenor ist ,anders als‘ und eher von unten her. Das Echte und Authentische findet sich hier, nicht anderswo. Und doch geht es im Westen wie im Osten letztlich um das Gleiche: Zugehörigkeit: selbstverständlich sind wir dieselben, aber es wichtiger zu, also, es gibt einen Stil, der ist wichtig hier, und es gibt einen Stil, der ist wichtig da, wir wollen ja, beide Seiten, Zugehörigkeit zeigen

Analysen und empirische Arbeit im engeren Sinn

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Das Moment der Zugehörigkeit wird von Kaja direkt wieder aufgenommen, als Moment, das durch die Veränderungen der letzten Jahre gestört wurde; wieder steht sie außerhalb des Groruddals: K: weil ich nicht verstehe, was die Leute sagen, äh, ich bin im Supermarkt und die sprechen eine andere Sprache als, äh, unter sich, alle tragen Hidschab, das tue ich nicht, äh, früher, da wohnten wir in einem Hochhaus, äh, meine Tochter und ich, und da waren ja gleichsam, da waren ja nur Ausländer/Ausländerinnen, wir fühlten uns außen vor, das empfand ich als unbehaglich, und das war nicht, nicht mein Groruddal, auf eine Art, das war hier nicht so, als ich hier aufwuchs CS: aber, als du aufwuchst, wie war es denn da K: mh, nein, da waren ja, auf eine Art, also, da waren ja alle norwegisch, das war anders, das war nicht so eine Entfremdung, so wie ich sie jetzt fühle

Der Zugehörigkeit steht die Entfremdung gegenüber, sie ist, im Tal, außen vor. Kaja fühlt sich ,dem Osten‘ zugehörig, der ist aber anders, als von außen gesehen werden kann. Die, die das Groruddal mit dem Osten gleichsetzen, sehen nicht, dass das Groruddal nur einen Teil des Ostens ausmacht. Kaja geht für zehn Jahre ins Ausland, kommt wieder und erlebt einen großen Unterschied: CS: so, als du gingst und dann nach zehn Jahren wiederkamst K: das war ein großer Unterschied CS: und das wegen der Einwanderung K: mh CS: willst du sagen, dass du dich entfremdet fühlst, oder fühlst du dich fremd, wenn du im Supermarkt bist K: wenn ich draußen bin, nicht hier, nicht hier oben in meiner Straße, aber wenn du die Straße hier verlässt, da ist das ja, so, da sind ja fast nur Ausländer/Ausländerinnen […] K: […] ich finde, dass das falsch ist, dass ich mich hier fremd fühlen muss, dass ich das bin, die plötzlich nicht versteht, […], äh, das ist nichts Persönliches, aber es sind viel zu viele an einem Ort, dass du fühlst, dass du denkst, dich fremd fühlst

Kaja wohnt im Osten, aber nicht im Groruddal. Dort oben am Waldrand, da ist sie im Osten, das Groruddal aber ist unten, dort wo die Hochhäuser und die Supermärkte sind, da ist sie fremd. Entscheidend sind, so erklärt Kaja, die Lage ihres Reihenhauses, die Möglichkeit schnell im Wald zu sein und die Nähe zur Familie: aber, es ist nicht das Groruddal, das mich hier hält, das ist es nicht

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Fokussierungen

(Volks-)Kirche Ich wechsele das Thema, indem ich wieder auf einen Satz in einer ihrer E-Mails zurückkomme, dem Leitfaden folgend: CS: da war ja ein Satz, in der E-Mail, der mich sehr neugierig machte K: mh CS: und das war, dort, wo du schreibst: ,die Kirche macht mir bald Beklemmungen‘ K: mh CS: ,aus dem einen oder dem anderen Grund, ist das Vorurteil oder sitzt das tiefer‘ K: ich weiß nicht, nein, ich ahne nicht, ob das nur, also, ich glaube das nicht, ich finde das ganz einfach unbehaglich, und ich finde das unbehaglich CS: die Kirche ist unbehaglich K: mh [p]

Als Schülerin war Kaja bei Schulgottesdiensten dabei, sie ist konfirmiert – sie hat nicht aufbegehrt, es war einfacher, dem Streit mit der Familie aus dem Wege zu gehen. Ich empfinde das als pauschal, ganz sicher der Kirche gegenüber ungerecht, will aber verstehen, was Kaja meint und bewegt. Scheint mir das Gesagte bislang wenig substanziell, so möchte ich doch mehr wissen: CS: [in einem Gottesdienst,] ist es der Raum oder ist es die Stimmung K: mh CS: oder ist es das, was gesagt wird K: ja, ich weiß nicht, so einen Pastor/eine Pastorin, ich verbinde das einfach mit etwas, so ein wenig scheinheilig […] K: mh, ja, ich fühle nicht, dass die offen sind, weil die es besser wissen, und wenn man es besser weiß, so, dann ist man ja in sich geschlossen, weil da hat man sich ja entschieden, das weiß ich, so ist das […] CS: aber, äh, für, offen für, was sollte denn die Kirche oder die Pastoren/Pastorinnen gegenüber offen sein K: [atmet tief ein und aus, bald ein wenig genervt], nein, sag, du was, ich bin ja nie da, das ist ja deswegen, dass ich sage, dass das vielleicht ein Vorurteil ist, dass, vielleicht

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ist es gar nicht mehr so, […], vielleicht bin ich durch Bücher geprägt, die ich gelesen habe, Dinge aus alten Tagen, aber, das was ich meine ist, dass die Kirche als Institution, die finde ich, für die habe ich wenig übrig

Ich finde das noch immer schwierig, mir wird nicht klar, worauf sie hinaus will, merke mir aber, dass sie die Kirche als Institution fasst, versuche an den Gebrauch des Begriffs anzuknüpfen, um so etwas über Kajas Erwartungen an die Kirche in Erfahrung zu bringen. CS: ja, so die Kirche als eine Kulturinstitution, als Trägerin von Kultur, oder K: nein, nein, ich meine nicht, weil, ich finde, dass es sehr schön ist, für alle, die finden, dass es schön ist, in die Kirche zu gehen, daher finde ich es schön, die Kirche zu haben, und ich glaube nicht, äh, ich glaube, ich bin mir sicher, dass die Kirche viel Gutes tut und helfen kann, dass die vielleicht da ist, wenn Leute sie brauchen und so

Es ist wieder eine Abgrenzung, eine Einschränkung, es ist für Kaja gut, die Kirche zu haben, aber nur für die, die sie auch aktiv nutzen oder von ihr Hilfe erfahren. Die Kirche ist Teil der (norwegischen) Kultur, aber keine Kulturinstitution und keine Trägerin der Kultur, es geht um den Nutzen der Kirche, für die, die die Kirche nutzen. Bleibt dann aber nicht (zu) wenig vom Institutionsbegriff übrig? Auffällig bleibt: Die Schließung der Kirche, die ihre Familie frequentiert, würde sie dennoch als traurig erleben: CS: aber, nur um dich ein wenig herauszufordern, bedeutet dir das etwas, du bist ja nicht da, würdest nicht dahin gehen, wenn X Kirche morgen zu gemacht würde K: würde ich das traurig finden CS: jetzt kann ich davon lassen dich zu fragen, für, was denn, oder, was ist der Grund dafür, dass das traurig ist, oder, was ist das Traurige daran K: weil, da fühle ich, also, das ist wie, dass das traurig ist, weil es nur mehr zeigt, dass gleichsam keine Norweger/Norwegerinnen im Groruddal mehr sind, eigentlich daher, glaube ich, weil ich denke, dass die Norweger/Norwegerinnen, die hier wohnen und die Christen/Christinnen sind und faktisch in die Kirche gehen, dass das gleichsam, das ist schade, dass das nicht priorisiert wird, dass die mit ihren Sachen weitermachen können […] K: nicht für mich persönlich CS: nein, nein K: aber, aber ich finde das schön, ich finde das schade, eine Dimension, die auf einmal weg ist, [p], das wird weniger zugänglich, erreichbar, und da wird das auch, und dann denkst du vielleicht nicht daran, wir gehen einfach ins Rathaus, dann ist das, dann ist

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es weg vom Lokalmilieu, da ist, ist etwas daran, dass das nett ist, dass das im Lokalmilieu ist CS: mh K: du willst dein Kind taufen und dann ist das vielleicht nett, dass es Menschen aus, die hier wohnen, die faktisch kommen und da sitzen, genau an dem Tag, ohne dass sie Gäste sind, die du eingeladen hast CS: mh K: aber es sind Menschen aus dem Lokalmilieu, und das denke ich, muss ja nett sein, solche Dinge schaffen ein wenig ein Milieu für die Norweger/Norwegerinnen, die noch da sind, das sind ja nicht nur Norweger/Norwegerinnen, die Christen/Christinnen sind, da können auch einige andere sein, die das sind, also, von den Einwanderern/Einwanderinnen, das

Das kam unerwartet, ich erlebe es bald als eine Aufwertung der Kirche im Lokalmilieu. Kaja gebraucht den unscharfen Begriff der ,Dimension‘, definiert ihn nicht, er steht aber doch wohl in sachlicher Nähe zu den Ritualen im Lebenslauf. Diese Dimension prägt das Lokalmilieu, das sie im Laufe dieses Passus’ dreimal nennt, die Menschen, die hier wohnen nehmen an den Wendepunkten des Lebens, Kaja zielt auf die Taufe ab, teil. Und ganz zum Schluss öffnet sie, wenn auch vorsichtig, den Kreis der Christinnen und Christen – und damit vielleicht sogar ein wenig das Lokalmilieu? Erste Ergebnisse Hervorstechend bleibt mir das wichtige Begriffspaar ,Zugehörigkeit–Entfremdung‘. Es wirkt, als ob es für Kaja Teile des Ostens sind, die ihr zugänglich und sympathisch sind, denn im ,Osten‘, dem Kaja sich zugehörig fühlt, findet sich, beinahe Straße um Straße zu lokalisieren, das ,Groruddal‘, zu dem Kaja Entfremdung verspürt. Der Begriff des ,Ostens‘ erlaubt es ihr, das Groruddal aus der Bestimmung ihres Lokalmilieus herauszunehmen, in dieses sind Migranten und Migrantinnen nicht, zumindest nicht ohne Weiteres, einholbar. Ich verstehe Kaja dahingehend, dass die Kirche für sie ohne Interesse ist. Eine Funktion hat die Kirche jedoch in der Wahrung des Norwegischen, ist somit ein Faktor, der Zugehörigkeit im Lokalmilieu sichert. Dieses Lokalmilieu ist der Osten, kann nicht das Groruddal sein, denn Kajas Fokus liegt auf dem Norwegischen. Kirche taucht in Kajas Bild zunächst als Kirche im Lebenslauf auf, die so ein Milieu von Zugehörigkeit schafft, sie repetiert ein Kirchenbild – in Zügen wohl auch ein Gesellschaftsbild –, das sie aus ihrer eigenen Kindheit und Jugend kennt. Kaja, so meine Deutung, definiert die Kirche funktional und auf ein Milieu hin, ohne dass erkennbar wäre, ob Kirche weiterreichende Implikationen für Andere oder anderes haben sollte.

Analysen und empirische Arbeit im engeren Sinn

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Vorläufige Fokussierung: Kirche als Restauration des Norwegischen In der Situation der Entfremdung sichert die Kirche – als norwegische Kirche und als Kirche im Lebenslauf – Zugehörigkeit zu einem weitgehend exklusiv als norwegisch gefasstem Lokalmilieu.

7.3.2.2 Helga: Gottes-Dienst als (kultur-)stabilisierender Gemeindegottesdienst Kurze Vorstellung der Gesprächspartnerin, des Gesprächs und eine erste Fokussierung Helga ist wohl annähernd 60 Jahre alt, ausgebildete Theologin, hat als Pastorin und Pfarrerin in städtisch geprägten Gemeinden gearbeitet, die der Situation und dem Kontext nach dem Groruddal als ähnlich gelten können. Sie war die letzten Jahre, durch ihre Tätigkeit im zentralen Kirchenamt, in die Arbeit mit der Reform des gottesdienstlichen Lebens eingebunden. So ging es mir darum, eine Innensicht der Reform des gottesdienstlichen Lebens als Außenperspektive auf aktuelle und kommende Entwicklungen im Groruddal wahrzunehmen. Im Laufe der letzten Jahre bin ich Helga auf Konferenzen, Tagungen oder Seminaren begegnet, wodurch es mir schnell deutlich wurde, dass wir andere Schwerpunktsetzungen vornehmen. Es war jedoch, wie erwartet, nicht schwierig Helga um ein Gespräch zu bitten. Sie willigte sofort ein. Unser Gespräch beginnt engagiert und Helga nimmt die Rolle der ,Expertin‘ mit einem Mal an. Die Frage nach prägenden Gottesdienstformen und nach den zentralen methodischen Begriffen der Reform des gottesdienstlichen Lebens sind Ausgangspunkte und thematische Zentrierungen der größten Teile des Interviews (Minuten 16–24 und Minuten 38–42), die je von einem Erzählimpuls meinerseits eingeleitet werden. Diese werden jedoch von Helga nicht als Einladung zur Weitung ihres Blickes auf eine Kultur (im Wandel), nicht als Einladung zu einer Bewegung vom Innerchristlichen zum Interreligiösen angenommen, denn immer wieder kehrt sie zur Liturgischen Form und zur Ordnung des Gottesdienstes zurück. Ihr Fokus liegt auf der nun beschlossenen Ordnung, die Stabilität garantiert und innerchristliches Gespräch ermöglicht, die aber anderen, außerchristlichkulturellen Einflüssen eher hermetisch-geschlossen gegenübersteht. Liturgische Form Helga erzählt von beruflichen Stationen, unter anderem von ihrer ersten Stelle in einer im Wachsen begriffenen Trabantenstadt. Die dortige Feier des Got-

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tesdienstes in einer Turnhalle – die Gemeinde wartete noch auf den Bau einer Kirche – hat sie geprägt: ja, also, einen, zu haben, äh, ein Gottesdienst in einer Turnhalle prägte, denke ich, hat mich geprägt, sowohl die Wichtigkeit dessen, dass man sagt, es geht faktisch an einen Gottesdienst zu feiern, das ist ein reeller Gottesdienst, äh, auch wenn man ihn da feiert, aber gleichzeitig sieht man ja auch, dass man nicht die Hilfe zur Feier eines Gottesdienstes bekommt, weder der Pastor/die Pastorin noch die Gemeinde, die man in einem guten Kirchenraum bekommt, äh, die Konfirmandinnen/Konfirmanden hatten, die waren ja gewöhnt im Sportunterricht herumzulaufen und plötzlich sollten die leise sein, äh, der Schulgong ertönte während der Predigt

Im Idealfall wird der Gottesdienst in einem anderen Raum gefeiert, aber Gottesdienst vermag sich Raum zu schaffen. Der Gottesdienst besetzt die Turnhalle mit etwas anderem, mit Nicht-Alltag, und ist doch vom Alltag bedroht. Dieses Moment durchzieht ebenfalls Helgas Betrachtungen zu den drei zentralen methodischen Begriffen der Reform des gottesdienstlichen Lebens, die sie ganz auf der Linie der geführten Diskussionen des Reformprozesses deutet: CS: hast du, was denkst du von diesen Begriffen, kannst du die füllen H: ja CS: mit Inhalt H: ja, also, das ist nicht, zu aller erst, theologische Begriffe, oder, äh, grundlegende liturgische Prinzipien, äh, wir denken, äh, aber das sind methodische Prinzipien, […], man hat gleichsam überlegt, die mit Ortseigenheit zu balancieren

In Verlängerung dessen spiele ich meinen ersten Erzählimpuls ein: Ein Ehepaar, das nicht aus Norwegen stammt, hat sich nach 25 Jahren neue Eheringe gekauft und hat mich gebeten, diese Ringe in einem Sonntagsgottesdienst zu segnen. Meinen Zielpunkt, eine Weitung des Ortsbegriffs voranzutreiben und die Wiedererkennung der Kultur zu beleuchten, balanciert Helga dann aber gegen ,das Private‘: CS: so, so, habe ich dann einen Vorschlag ausgearbeitet, […], der war ja sehr nahe, also, Trauritual, und dann kamen die zur Kirche, […] […] CS: […] und da wurde ja das Ortseigene herausgefordert […] H: da geht es darum zu, darum, wie man offen für die Bedürfnisse der Menschen nach Bestätigung, Ritual, hier Bestätigung der Ehe, ist, äh, ja, in Norwegen war es ja von alters her Tradition, dass alles an einem Sonntag geschah, Trauung und Beerdigung,

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und da trafen sich alle, […], wir versuchen uns ja ein wenig davon zu befreien, […], wir müssen den Hauptgottesdienst wieder aufrichten, den Gottesdienst, die Messfeier als, als eigene Handlung, äh, und dass die nicht in allen, sozusagen privaten oder kirchlichen Handlungen/Kasualien ertrinkt

Helga greift auf das aus der Turnhalle bekannte Muster zurück, wo der Alltag im Hintergrund immer zugegen ist, prägt, aber nicht Überhand gewinnen darf. Dass es sich um eine interkulturelle und interchristliche Begegnung handelt, wird von Helga nur indirekt kommentiert, sie rekurriert auf norwegische Geschichte und Kultur als Referenzpunkt. Diese, die nicht ohne, dass es Aufmerksamkeit und Veränderungen bedarf, gedacht werden, absorbieren das Vielfältige, sodass das Interkulturelle und Interchristliche am Ende nicht fremder oder herausfordernder als schon Bekanntes ist. Der Herausforderung wird so die Spitze genommen. Die Unsichtbarkeit des Ortes und der involvierten Subjekte wird ebenfalls deutlich, als ich Helga frage, ob sich ihr Denken vom Gottesdienst verändert hat. Sie kommt auf ihre Zeit im Pfarramt einer Vorstadt einer größeren Stadt zu sprechen: H: […] das Wichtigste für mich war da, äh, eine Ministrant-Ordnung, die wir mit Kindern und Jugendlichen durchführten, als Helfer/Helferinnen, mit weißen Kappen und so […] H: das glaube ich war eine sehr wichtige Sache und ich deutete das als ein wenig, dass da, da nehmen wir auf eine Art Kinder mit in das Erwachsene hinein, so dachte ich, äh, die können so bei etwas Ordentlichem dabei sein, etwas, das nicht nur für Kinder ist, […] aber die waren dabei, äh, die macht[…], führten Handlungen aus, die sagten nichts, außer, dass ein oder ein anderer älterer Ministrant/eine oder eine andere ältere Ministrantin die Tauflit[…], äh, Liturgie, einen Bibeltext las, […], das machte was mit dem Ganzen, also, die Teilnahme von Kindern im Gottesdienst als solchem, auch für die, die nicht Ministrant/Ministrantin waren, weil die da vorne repräsentiert waren, […], wir hatten eine Diskussion, ob die Kinder weiße Kappen haben sollten, war das nicht zu hochkirchlich, sollten nicht Kinder mehr sein, wie sie natürlich sind, […], aber es zeigte sich schnell, war da etwas, was die Kinder wirklich wollten, dann waren das die Kappen, und das machte auch was mit denen, äh, gab denen Würde und die, eine Sicherheit und eine deutliche Rolle im Gottesdienst

Helga erzählt von eigenen Erfahrungen, aber der Ort ihrer damaligen Gemeinde kommt nicht vor. Ferner fällt auf, dass Gruppen auftreten, Kinder auf der einen, Erwachsene auf der anderen Seite. Es geht darum, die Kinder in das Erwachsene mit hinein zu nehmen. Was aber bringen diese Kinder mit, warum ist es wichtig, dass die Kinder dabei sind, für wen ist es wichtig? Geht es darum, den Kindern den Gottesdienst näher und beizubringen? Der Begriff

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der Involvierung/Teilnahme wird angeführt, verbleibt aber, ohne die Bindung an die involvierten Subjekte, an den Ort und ohne eine Reflexion des dritten Begriffs, der Flexibilität, erstaunlich blass und oberflächlich. Kultur im Wandel Nach einigen thematischen Suchbewegungen, das Gespräch knickt ein wenig ein, versuche ich, auf das Groruddal und eine Kultur (im Wandel) zu sprechen zu kommen. Ich erwähne gesellschaftliche Veränderungen, benutze das Signalwort Migration. Helga verbleibt beim Innerchristlichen. Ich entscheide mich spontan, einen weiteren Erzählimpuls, der von einer geplanten Lesung aus dem Koran in einem Schulgottesdienst handelt, einzubringen – und Helga antwortet wie folgt: H: ich habe das wohl so aufgefasst, dass, dass, äh, das war, dass der Bischof Unterstützung dafür bekam, dass, äh, dass es kein fahrbarer Weg ist, aus dem Koran, im, im Hauptgottesdienst, für den es ja jetzt eine beschlossene Ordnung gibt, zu lesen, also, es gibt keine Öffnung dafür, eine Lesung aus dem Koran oder aus heiligen Schriften anderer Religionen aufzunehmen, […] CS: willst, willst du sagen, dass man zu weit gehen kann, in H: ja, also CS: mit der Ver-Ortung H: ja, abs[…], absolut, also, und, und, äh, man kann ja, also, viel einführen, man, man kann sich ja denken vieles einzuführen, was eine Bevölkerung oder so trifft, aber, aber die Ordnung für den Hauptgottesdienst folgt der Struktur und den inhaltsmäßigen Elementen der Messe, äh, und, und, und bewahrt eine, sollen wir sagen, eine Tradition, die 2 000 Jahre alt ist, äh,[…], so, so, so die Ver-Ortung ist gleichsam innerhalb des Rahmens, der, äh, einzelnen beschlossenen Elemente, die in der Ordnung für den Hauptgottesdienst liegen, so es, das ist ein Gottesdienst, der, obwohl der Flexibilität in vielen Dingen aufweist, so ist er auch sehr reguliert, äh, und, auch stärker reguliert als es die 2008-Liturgie war, […], weil man das Gemeinsame im Gottesdienst stärker unterstreichen wollte

Der Gottesdienst und eine Kultur (im Wandel) werden im Grunde als Gegensätze konstruiert. Die traditionelle liturgische Form übergeht in ihrer kulturellen Prägekraft alles, was man vor Ort finden kann, Veränderungen an dieser sind mehr oder weniger als Anbiederung an kurzfristige Wünsche abgetan. Liturgische Form Dabei bleibt zu vermerken, dass Helga explizit und ausdrücklich an einer Vitalisierung in den Gemeinden interessiert ist und eine klar formulierte Vision hat:

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dass die jetzige Ordnung zu einem erneuerten Gespräch in der ganzen Gemeinde führen kann, darüber was der Gottesdienst ist, Worte dafür zu finden, was man vorher nicht in Worte gefasst hat, und, und ein Engagement und ein größeres Verständnis für sowohl die Eigenart und, und den Sinn des Gottesdienstes gibt, […], dass das norwegische Volk, die Gemeinden wirklich ihren Gottesdienst liebgewinnen

Helga ist ihr Engagement für die (Re-)Vitalisierung der Prozesse und Gespräche an der Basis nicht abzusprechen, wenngleich der Gottesdienst schon immer als definierte Größe, die erlernt, verstanden, in Teilen variiert und hoffentlich willkommen geheißen werden kann, feststeht. Erinnert Helga explizit daran, dass im Gottesdienst der leibliche Aspekt zu berücksichtigen ist, „es sind Körper in Bewegung“, ist gerade diese Beobachtung ebenso Ausgangspunkt für eine erneute und endgültige Abgrenzung, die kulturell begründet wird: wie kann man auf andere Arten, in jedem Fall ein wenig Bewegung schaffen, und, und dass mehrere Sinne zum Zuge kommen, äh, das glaube ich, ist wichtig in unserer, aber das muss, aber das muss auf eine Weise geschehen, die akzeptabel auch in unserer Kultur ist, wir, wir, äh, sind nicht, können nicht einen solchen Karibi-Gottesdienst in Norwegen planen, wir, wir sind, also, wohnen in Norwegen und haben diese norwegische Kultur, die sagt, dass man ein wenig passiv und vorsichtig im Gottesdienst sein soll

Der Gottesdienst wird wiederholt abgeschirmt. Wieder dient Helgas Kulturbegriff der Konservierung einer Ordnung des Gottesdienstes. Die Wechselwirkung mit dem Ort ist Absicherung des Bestehenden. Im freien Schluss des Gesprächs unterstreicht Helga die theozentrische Begründung des Gottesdienstes, verweist auf die Überschrift der neuen Gottesdienstordnung, „Zusammen vor Gottes Angesicht“, und kommentiert so, in jedem Fall indirekt, die Frage nach dem Subjekt des Gottesdienstes: wir können verschiedene Meinungen davon haben, was [der Gottesdienst] ist, […], aber das wichtigste ist ja nicht, was wir darüber denken, sondern, dass Gott uns zusammenruft

Erste Ergebnisse Helgas Reaktion auf meinen ersten Erzählimpuls ist die Aufnahme des Interkulturellen und Interchristlichen mittels eines Rekurses auf die historische Entwicklung in Norwegen. Der sonntägliche Gottesdienst musste sich vom ,Privaten‘ lösen, dies ist immer noch eine wichtige Richtungsanzeige. Es ist gerade diese ,reine‘ Form des Gottesdienstes, die, so Helgas Reaktion auf meinen zweiten Erzählimpuls, kulturstabilisierend gewirkt hat. Daran gilt es festzuhalten, allen, implizit kurzsichtigen und vielleicht sogar verlockenden, Wünschen und Möglichkeiten der aktuellen Kultur entgegenzukommen zum Trotz. Die norwegische Kultur, zumindest indirekt als christliche Kultur

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aufgefasst, wird durch die überkommene, traditionelle, verordnete Liturgie des Gottesdienstes stabilisiert und trägt ihrerseits zur Stabilisierung des Gottesdienstes bei. Der so verstandene Gottesdienst wird im offenen Abschluss von Helga theozentrisch begründet und damit zum Teil den involvierten Subjekten entzogen. Vorläufige Fokussierung: Gottes-Dienst als (kultur-)stabilisierender Gemeindegottesdienst Helga nimmt den Gottesdienst als offen für interchristliche und interkulturelle Impulse an. In diesem Sinne profitiert der Gottesdienst von einer methodisch gedachten Ortseigenheit/Ver-Ortung. Gleichzeitig ist der Gottesdienst, als theozentrisch begründeter Gottes-Dienst, der feiernden Gemeinde ein Stück weit entzogen. Aufgrund dessen, aufgrund seiner langen Tradition und der, der Norwegischen Kirche inhärenten, Idee der Reglementierung und Verordnung, ist der Gottesdient Teil, Garant und Sicherheit einer als norwegisch verstandenen (christlichen) Kultur.

7.3.2.3 Georg: Kirche als ortseigen-lutherische Kirche Kurze Vorstellung des Gesprächspartners, des Gesprächs und eine erste Fokussierung Georg ist etwa 60 Jahre alt und Pfarrer. Er kennt das Groruddal und die Kirche im Groruddal über einen Zeitraum, der sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt. Seine Gemeinde ist, wie viele Gemeinden im Tal, eine insofern geteilte Gemeinde, dass sie einen älteren Kern, die Bebauung besteht aus älteren Einfamilienhäusern, dann in der Hauptsache aus Reihenhäusern, die Ende der 70er Jahre gebaut worden sind, und Gebiete, in denen die Blockbebauung vorherrscht, kennt. Die soziokulturellen und -ökonomischen Rahmenbedingungen sind keineswegs homogen. Unser Gespräch hat streckenweise den Charakter von Belehrung. Ohne von oben herab zu reden, erklärt Georg dem jungen Kollegen die Zusammenhänge, auf die es heute ankommt. Deutlich wird, dass Georg vorbereitet ist eine Art Programm zu liefern, und ich spreche ihn direkt darauf an. Georg schöpft aus seinem Fundus – und ich bin mir dennoch sicher, dass seine Schlussfolgerung, erarbeitet durch das gemeinsame Gespräch, auch für ihn neu ist. Gerade die Ausgangssituation des Interviews, das Aufeinandertreffen von ,alt und erfahren‘ und ,jung und neugierig‘, weitet den Blick und lässt neue Gedanken zu Wort kommen, das ist anregend.

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Strukturiert wird das Gespräch von Anmerkungen zur Kultur (im Wandel), welche die beiden Gesprächsteile zur Liturgischen Form und (Volks-)Kirche, die mit jeweils etwa zwanzig Minuten den großen Mittelteil des Interviews darstellen, rahmen. Im Anschluss an diese beiden Teile ist es ein wiederholter Verweis auf die eigene Rolle in der Situation des Wandels, mit dem Georg den Schlussteil eröffnet, dies scheint mir eine Schlüsselstelle zu sein. Vor einer aktualisierten Folie einer Kultur (im Wandel) verbindet Georg die behandelten Themenaspekte der Liturgie und der Kirche und formuliert mit dieser Verbindung seinen Zielpunkt: faktisch so glaube ich, in der Situation, in der wir hier sind, nicht zuletzt ist es wichtig, dass es etwas ortseigenes gibt, auch, äh, um, in Anführungszeichen, unser lutherisches Erbe zu bewahren

Damit ist für Georg alles gesagt und er schließt das Gespräch an dieser Stelle selbst ab. Kultur (im Wandel) Nach der Erwähnung weniger Eckdaten aus Georgs Studium und beruflichem Werdegang verweise ich, sozusagen direkt am Anfang, auf den Ort: CS: um es vorsichtig zu sagen, du kennst X […] G: ich wage, das zu behaupten, ich habe gesagt, dass, wenn ich nichts anderes Gutes hier in X tue, kann ich in jedem Fall hier sein und hierbleiben, weil es eine wichtige Sache ist, stabil an einem Ort zu sein, an dem so viel Veränderung, weil, es war viel Veränderung alle diese Jahre hindurch, [ein unverständliches Wort], Veränderung in der Bevölkerung

Georg verbleibt historisch orientiert, erzählt vom Aufbau des Tals – und ergreift die Initiative zu einem Themenwechsel: äh, das war ein Schmelztiegel, aus anderen Ecken des Landes, äh, hier in Oslo, da kamen die Leute aus Grünerløkka, […], und das kann ja etwas soziologisches über die Zusammensetzung der Gemeinde sagen, […], die […] in Gemeinde X, die Mehrheit von denen, die hatten ihre christlichen Traditionen mit sich, und wenn wir auf Liturgie zu sprechen kommen, in diesem Zusammenhang, so ist in diesem Zusammenhang und in dieser Bevölkerungsgruppe ein schwaches liturgisches Bewusstsein, weil deren Hintergrund war das Versammlungshaus einer christlichen (Missions-)Organisation

Im Gesprächsgang verbleiben wir bei Beobachtungen zur Liturgischen Form, diese machen den ersten Mittelteil des Gesprächs aus. Erst zum Abschluss des zweiten Mittelteils, der von der (Volks-)Kirche handelt, kommt Georg, mo-

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tiviert durch Überlegungen zur Zusammenarbeit mit Gemeinden anderer Sprache und Herkunft, auf die Kultur (im Wandel) zurück: ich meine, dass es wichtig ist, die Situation aufspüren/spüren zu können, […], jetzt kommt eine neue Welle von Menschen, die hier her ziehen, die sind ja schon da, also, in den 60er und 70er Jahren kamen die aus Westnorwegen, Nordnorwegen, Ostnorwegen, jetzt kommen sie aus Sri Lanka und dem Kongo, […], und das macht was, mit unserer Gemeinde, jetzt, jetzt taufen wir afrikanische und asiatische Kinder in unseren Gottesdiensten, und gleichzeitig wissen wir, dass die, die hier taufen lassen, die gehen gar nicht hier, sondern die sind in einer Gemeinde anderer Sprache und Herkunft, an einem anderen Ort, und sind aktiv da, aktive Christen/Christinnen da, […], die stehen mit einem Bein in jedem Lager, und diese Zweiteilung, glaube ich, wird noch zwanzig Jahre bestehen, so lange wie diese Generation von Einwanderinnen/Einwanderern lebt, […], das ist nichts, was im Laufe von fünf Jahren vorbeigeht, äh, es wird parallele Gemeinden geben, die ganze Zeit, bis, ja, dreißig, vierzig Jahre, glaube ich

Auffällig bleibt, dass Georg die Kultur (im Wandel) als Forderung an sich, an sein Rollenverständnis und an seine Gemeinde versteht, dass aber gleichzeitig die Kultur (im Wandel) Hintergrundfolie und Anlass verbleibt. Der Ort, wenn er auch an prominenter Stelle auftaucht, wird nicht anders als aus der binnenkirchlichen Perspektive bedacht. Liturgische Form Wie gerade gesehen, nimmt Georg meine Frage nach dem Ort direkt unter dem Aspekt der Liturgischen Form auf. Georg hat sich also auf das Interview vorbereitet, er geht zurück bis in die 80er Jahre, und er charakterisiert die Gottesdienstordnung von 1977 als mehr volkstümlich, aber die war sowohl musikalisch als auch textlich ein wenig platt, […], aber das machte hier nicht so viel, […], weil die Menschen waren nicht so sehr an Liturgie interessiert

Sodann unterstreicht er mehrfach, dass in der Gemeinde die Variationsmöglichkeiten des Gottesdienstbuches von 1977/1992 ausgeschöpft werden. Es scheint zwischen den Zeilen Stolz mitzuschwingen, der mich berührt, es ist durchzuhören, dass dies (s)eine Antwort auf die Herausforderung einer liturgisch nicht sehr interessierten Gemeinde ist. In diesem Sinne deutet Georg dann auch die zentralen methodischen Begriffe der Reform des gottesdienstlichen Lebens: CS: geben diese Begriffe einen Sinn G: ja, die ergeben Sinn, […], sprechen wir von der lokalen Ebene, so ergeben die definitiv Sinn, […], ich für meinen Teil bin nicht darauf aus, etwas Eigentümliches zu

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schaffen, spezielle Dinge, die nur hier passen, aber ich bin aus auf eine liturgische, äh, Vielfalt und, Fülle und Reichtum und eine, eine größere Spannbreite, ja

Gleichwohl kritisiert Georg den Vorschlag von 2008 als zu weitgehend; ich versuche auszumachen, welche Größe Referenzpunkt für Georgs Überlegungen ist. Erst über einen Umweg gelangt Georg zum Stichwort der Involvierung: CS: es gibt also Möglichkeiten, Möglichkeiten mit der Idee eines Gottesdienstausschusses G: ja, ja, selbst wenn es so ist, dass der Pfarrer, in casu ich CS: äh G: das vorantreiben muss, […], aber das ist eine gute Art und Weise zusammenzuarbeiten, mit Leuten, die engagiert sind, […], weil es ist ja nicht so, dass, ja, da sind fünf, die wollen gerne am Sonntag beim Fürbittengebet dabei sein, […], die kommentieren gerne, wie der Gottesdienst war und wie die sich das denken können, aber die zu involvieren, aktiv noch mehr beizutragen, das ist eine stete Herausforderung

Dies ist die einzige Stelle in unserem Gespräch, an der Georg eine Reaktion der Gemeinde auf den gefeierten Gottesdienst erwähnt. Mir scheint dies insofern instruktiv, da deutlich wird, dass bei Georg kaum die gottesdienstfeiernde Gemeinde in den Blick kommt. So bleibt es mir am Ende vage: Was ist das Ziel der breit variierten Liturgischen Form, welche Faktoren prägen die angestrebte Liturgische Form und wer ist – für Georg – das Subjekt oder die Subjekte der Liturgie? (Volks-)Kirche Eine der größten Herausforderungen für die Kirche ist die Zusammenarbeit mit den Gemeinden anderer Sprache und Herkunft. Georg hatte bei anderer Gelegenheit von seinen Erfahrungen berichtet. Ich knüpfe daran an und Georg berichtet eindrücklich und beinahe beschwörend-einschärfend vom Gottesdienst am letzten Heiligen Abend in der Nachbargemeinde: CS: mit allen Gemeinden anderer Sprache und Herkunft, […], und darüber hast du ja etwas gesagt, auf einem der Pfarrkonvente, wo denkst du, liegt die Zukunft der Kirche G: ja CS: mit Blick auf die Gemeinden anderer Sprache und Herkunft G: in der Nachbargemeinde Y waren am Heiligen Abend 110 Menschen zum Gottesdienst, 110 Menschen, von den 110 waren sieben weiße Norwegerinnen/Norweger, die anderen 103 waren Einwanderinnen/Einwanderer, und die waren ja trotzdem Norweger/Norwegerinnen, denke ich, aber es waren sieben weiße und 103 mit einer anderen Hautfarbe, im einzigen Gottesdienst am Heiligen Abend in Kirche Y, das ist

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ein Zeichen dafür, dass wir in einer Welt leben, die sich schneller verändert, als wir uns klarmachen

Zusammenarbeit ist daher eine Notwendigkeit, doch seine eigenen Erfahrungen fasst Georg zunächst so zusammen: aber, äh, das funktioniert ganz ok, äh, auf dem, auf dem Niveau es jetzt ist, aber in dem Augenblick, in dem man mehr ineinander geht, mehr zusammen, gemeinsam hat, dann, dann ist es klar, es wird Herausforderungen geben, [p], aber so wird die Welt ja hier sein

An dieser Stelle reaktiviert Georg die Idee eines ,Bruderrates‘: ein Forum für Pastoren/Pastorinnen und Prediger/Predigerinnen und Gemeindevorsteher/Gemeindevorsteherinnen aller kirchlichen Gemeinschaften, also, alle anderen Konfessionen, die katholische Kirche war wohl nicht so viel dabei, aber sonst, so war das, und das gab es an vielen Orten über das ganze Land, eine solche Sammlung von Leitungspersonen, und ich würde denken, dass das eine wichtige Sache ist, äh, in unserem Teil der Stadt zu haben

In diese Gespräche und Kontakt hinein bleiben für Georg die Grenzen und Begrenzungen der Kirche durch die Liturgie angezeigt: wir kommen an einen Punkt, da wir an die Decke stoßen, äh, und es dabei bleibt, zu der Zeit, dass, dass wir in unserer Kirche unsere Liturgie haben, äh, und so kommen wir an einen Punkt, die, die bei dieser Liturgie mitmachen wollen, die, die sind auf eine Art gezwungen, bei dieser Liturgie mitzumachen, äh, und als Pastoren/Pastorinnen ist es ja das, worauf wir verpflichtet sind

Die Liturgische Form markiert eine Grenzziehung – und hat gerade darin deutliche ekklesiologische Konsequenzen: es kann gut sein, dass, äh, das Ende vom Lied ist, dass drei Kirchen in Regie der Norwegischen Kirche im Groruddal geschlossen werden, dass eine von denen eine rein katholische Kirche mit katholischer Liturgie wird, und eine andere wird, äh, eine Kirche, die von einer Pfingstgemeinde genutzt wird, oder charismatischen Christinnen/Christen, mit, mit der lit[…], mit der Form, die die haben, glaube ich, dass, ich sehe das vor mir, als Lösung, nicht eine Art gemeinsamer Liturgie, […], ich hab’ kein Glauben an irgendein Sammelsurium, […], und wenn wir, wenn wir uns nicht querstellen, so glaube ich, dass das eine positive Sache werden kann, aber wenn wir uns verschanzen, so glaube ich, wir stressen uns zu Tode, […], das muss in jedem Fall von unten her geschehen, das muss von hier kommen, nicht so wie jetzt, von oben herab, […], dass die Kirchenvorstände und Pastoren/Pastorinnen, die Teams in der Gegend einen ganzen Teil zu wissen bekommen, die ökonomischen Rahmenbedingungen sind so und so, und so könnt ihr einen, einen guten Vorschlag, wie wir das machen [sollen], finden, aber, äh, danach miteinander reden

Analysen und empirische Arbeit im engeren Sinn

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Mit einer von mir als resignativ-trotzig empfundenen Haltung gibt Georg ein Kirchenideal zu erkennen, das bei mir direkt auf Widerhall stößt: Kirche wächst von unten, kann nicht ferngesteuert werden, von einem Ort aus, der dem Ort der Gemeinde fremd ist. Und er bindet dies an die Arbeit mit der Liturgie: G: und so, so, so haben, [lacht], so behalten wir das reine Wasser, um es so zu sagen, fangen nicht an zu mischen und zu mixen, und daher ist es wichtig, dass die Arbeit, die jetzt getan wird, daher, ich denke, es ist absolut wichtig, dass es etwas ortseigenes wird CS: mh G: faktisch so glaube ich, in der Situation, in der wir hier sind, nicht zuletzt ist es wichtig, dass es etwas ortseigenes gibt, auch, äh, um, in Anführungszeichen, unser lutherisches Erbe zu bewahren CS: mh G: ja, aber jetzt glaube ich, habe ich nicht viel mehr, jetzt bin ich trocken im Mund, jetzt will ich nicht mehr darüber reden, sonst rede ich mich noch um Kopf und Kragen, [lacht]

Erste Ergebnisse Die (Volks-)Kirche reagiert auf die Anforderungen, die die veränderte und sich stetig verändernde Umgebung stellt – und damit ist wohl meine Interpretation des Kerns von Georgs Aussagen beschrieben: Welt ist Umwelt, Kirche reagiert auf Welt, gestaltet sie aber nicht mit. Es wird nicht ersichtlich, wo sich Kirche zusammen und mit der Welt verändert. Den Gemeinden anderer Sprache und Herkunft gegenüber wird große Offenheit postuliert. Diese sollen, auf der Leitungsebene, angehört werden, ebenfalls auf der Leitungsebene der Gemeinde situiert Georg die Mitwirkung bei bevorstehenden kirchlichen Veränderungen. So verbleibt ,seine‘ Gemeinde erstaunlich blass, es wird einzig deutlich, dass sie, durch die verordnete Liturgie, als lutherisch definiert ist und sich so von einem als Hintergrund dargestellten Ort und einer Kultur (im Wandel) abgrenzt. Vorläufige Fokussierung: Kirche als ortseigen-lutherische Kirche Georgs ekklesiologisches Programm in der Situation des Mangels, der Vielstimmigkeit und der Unsicherheit ist die Ortseigenheit, die, zumindest auf Leitungsebene der Gemeinden, von unten her anzugehen ist. Die Zielsetzung ist die Sicherung des eigenen lutherischen Erbes, um nicht im Sammelsurium des vielfältigen Ortes aufzugehen. Ortseigenheit erscheint so als ein Begriff der Abgrenzung und Profilierung und bedeutet, sich ein Stück des Ortes sowohl anzueignen als auch für sich einzugrenzen.

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Fokussierungen

7.3.2.4 Jesuthasan: Der Kern der Sache und die Tradition der Anderen Kurze Vorstellung des Gesprächspartners, des Gesprächs und eine erste Fokussierung Jesuthasan ist in Nordnorwegen geboren und er kam als etwa zehnjähriger Junge mit seiner Familie nach Oslo; seine Eltern migrierten Anfang der 90er Jahre aus Sri Lanka. Jesuthasan ist in seiner Gemeinde aktiv, gerade in der Jugendarbeit, aber auch im sonntäglichen Gottesdienst, er ist jetzt Student und etwa zwanzig Jahre alt. Für das Interview haben wir uns auf die Kirche seiner Gemeinde als Treffpunkt geeinigt, er hat einen Schlüssel zur Kirche, das verspricht eine einfache Logistik. Wir begrüßen uns vor der Kirche – und er hat seinen Schlüssel nicht dabei. Das Caf im nahe gelegenen Einkaufszentrum lehnt er ab, schlägt das Foyer der benachbarten Schule vor, wo wir eine ruhige Ecke finden. Ich bin mir unsicher, wird nicht das Schulgebäude geschlossen? Jesuthasan wiegelt ab, er sei hier zur Schule gegangen. So beginnen wir unser Gespräch und werden dann nach ziemlich genau 15 Minuten unterbrochen, ein Mann, vielleicht der Hausmeister, erinnert uns daran, dass die Schule schließt. Zwangsläufig folgt eine Pause im Gespräch, wir stehen wieder vor der Kirche, und da Jesuthasan das Caf noch immer ablehnt, sitzen wir am Ende in meinem Auto und blicken während des Gesprächs auf den Schulkomplex und können die Konturen des lokalen Einkaufszentrums erahnen. Meine Motivation war, mit einem jungen Erwachsenen sprechen zu können, dessen Eltern nicht in Norwegen geboren und aufgewachsen sind. Stellen sich Gottesdienst, Kirche, das Groruddal, die Kindheit, Jugend und Schullaufbahn aus einer solchen Perspektive anders dar? Dieser Ausgangspunkt prägte meine Annäherung, ich habe förmlich auf ,das Andere‘ gewartet, es erhofft, gerade als ich wieder und wieder versuche, etwas zur Bedeutung des Ortes zu hören, und er ausweicht, meine Fragen beinahe (an-)leitend werden, wird dies deutlich. Doch Jesuthasan beschreibt ein christlich-kirchliches Leben, das das Innere, die eigene Praxis betont. Dagegen verblassen der Ort und die Verhältnisse vor und am Ort. Der Kern des christlich-kirchlichen Lebens, hier zunächst mal mit dem Stichwort ,Gebet‘ angegeben, ist davon unberührt. Das, was ich erlebe, unterscheidet sich nicht grundsätzlich von Äußerungen und Ansichten, die mir aus norwegischen (Missions-)Organisationen bekannt sind.

Analysen und empirische Arbeit im engeren Sinn

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Liturgische Form Jesuthasans biografischer Eingangsteil ist von der Erfahrung des Willkommenseins und der (gottesdienstfeiernden) Gemeinschaft in seiner Gemeinde geprägt. Ich nehme das nach etwa sechs Minuten auf, frage nach prägenden Gottesdiensterfahrungen. Diese verbindet Jesuthasan augenblicklich mit Involvierung. Erfahrung wird von ihm nicht anders verstanden, als selbst eine Aufgabe im Gottesdienst zu haben und er kommt „am liebsten jede Woche“ zum Gottesdienst: CS: am liebsten jede Woche, aber, […], was beschäftigt dich, wenn du dahin kommst J: das ist ja, [p], um zu, [p], zu Gott zu kommen CS: ja J: Gott nahe zu kommen und, [p], für andere zu beten CS: mh J: für die um einen herum zu beten

Jesuthasan nennt eine Grundpraxis des Glaubens, das Gebet, das aus der Nähe zu Gott heraus auf die Anderen zielt. Das hört sich schön an, er redet überzeugt und überzeugend und doch stillfahrend. Mir ist diese Stelle hängen geblieben, als Kern der Sache, als Kern des Gottesdienstes. Wenn nun dies, wie von mir angenommen, der Kern ist, wie aber sieht dann die Oberfläche aus? CS: wenn du sagst, dass du da hineingewachsen bist, mit der Konfirmation, […], hast du erlebt, dass Kollegen/Kolleginnen sauer reagieren, fragen, oder das merkwürdig finden, dass einer, der zwanzig Jahre alt ist, jeden Sonntag in die Kirche geht J: äh, ja, in Einzelfällen CS: ja J: so, […], das ist passiert, aber, […], es ist am häufigsten, dass, äh, die, mit denen man, […], äh, die Gleichaltrigen, äh, mit denen man konfirmiert wird, die fallen ja oft weg CS: ja J: und sind da, weil es Tradition ist CS: ja J: und wenn die Konfirmationszeit vorbei ist, siehst du, […], siehst du nicht sehr CS: mh

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Fokussierungen

J: mehr viel von denen CS: ist überhaupt irgendjemand aus deinem Konfirmationsjahrgang, der/die immer noch dabei ist J: nein, […], äh, nein, ich bin ja von meiner Mutter erzogen worden, kannst du so sagen CS: mh J: in der Kirche zu sein, als Kind, so das ist ja eine Gewohnheitssache geworden CS: so, das, jeden Sonntag zu gehen, ist eine Gewohnheit J: ja, so, sie hat ganz einfach mich als Kind jeden Sonntag mit in die Kirche genommen, beinahe CS: ja J: und da ist es gekommen, äh, […], ich hab’ mich dran gewöhnt

Die Spannung zwischen negativ aufgefasster Tradition und positiv gefasster Gewohnheit ist mir auffällig geblieben, ich empfinde das beinahe als herablassend – ist Gewöhnung eine Art Steigerung von Tradition, ein Einüben eines religiösen Programmes? Bewegt sich Jesuthasan nicht auf der bekannten Linie einer eher pietistischen Tradition, wie sie durch viele der christlichen Organisationen vertreten wird? (Volks-)Kirche Seine eigene Gemeinde beschreibt Jesuthasan als gute Gemeinschaft, eine feste Gruppe von etwa dreißig bis vierzig Leuten, die vor der Herausforderung steht, jüngere Menschen für sich zu gewinnen, dabei aber Einwirkungen ausgesetzt ist, die nicht zu kontrollieren sind: J: in der Regel ist ja während der Konfirmationszeit, dass die auftauchen, und dann bleiben die weg CS: mh, mh J: das hat wohl was damit zu tun, dass, [p], äh, ja, die Jüngeren wollen, die gehen in verschiedene Richtungen CS: mh J: die ziehen um, und die wollen studieren und andere Sachen, äh, [p], und da glaube ich, ist das natürlich, so gesehen

Es ist also nicht unbedingt eine bewusste Wahl, die Gemeinde nicht mehr aufzusuchen, sondern es ist Teil des Erwachsenwerdens, Konsequenz der Verhältnisse.

Analysen und empirische Arbeit im engeren Sinn

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Kennzeichen und Teil dieser Verhältnisse ist ein letztlich negativ geladener Traditionsbegriff, auf den er von selbst wieder zurückkommt, nachdem er unterstrichen hat, dass seine Familie und er sich in der Gemeinde „wie zu Hause“ fühlen: J: und da, äh, fühlt sie sich zu Hause, so gesehen, [p], aber zurück zu dem, wonach du fragtest, wie man mehr Jugendliche dazu bekommt, hier zu bleiben CS: ja J: so sind ja viele in der Kirche, in der Kir[…], Staatskirche registriert, getauft und konfirmiert, weil die Eltern das so wollen CS: mh J: und weil die dazu gedrängt werden oder Tradition, [p], aber so bleiben die sehr schnell weg

Seine Mitkonfirmandinnen und Mitkonfirmanden werden von den Eltern gedrängt, er selbst wird durch die Mutter an den Kirchgang gewöhnt. Tradition verbleibt auf diese Weise immer die Herausforderung der Anderen, ist immer, so höre ich es, ,leere Tradition‘ oder auch ,unterbestimmte Tradition‘, jedenfalls nicht genug. Liturgische Form Nach der Zwangspause, im Auto sitzend, nehme ich das Thema des Gottesdienstes wieder auf. Ich verweise auf die drei zentralen methodischen Begriffe der Reform des gottesdienstlichen Lebens. Jesuthasan kennt die Begriffe Involvierung und Flexibilität, den Begriff Ortseigenheit/Ver-Ortung hat er noch nicht gehört: J: so, ich bin faktisch im Zweifel CS: du bist unsicher J: was das sein kann CS: was das sein kann, also, jetzt, jetzt, haben wir ja Aussicht über den Schulkomplex, wir erahnen das Einkaufszentrum J: mh CS: spielt es, äh, irgendeine Rolle für Gemeinde A oder die Gottesdienste am Sonntag J: mh CS: dass das direkt nebenan liegt J: nein, das, das glaube ich nicht CS: du glaubst das nicht, so, den Gottesdienst, den du hier in der Kirche A feierst

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Fokussierungen

J: mh CS: den könntest du genauso gut dort feiern, wo du jetzt wohnst J: ja, das, ich denke schon

Damit ist der Ort außen vor, der Ort spielt keine Rolle und er wendet diesen ganzen Komplex in eine innerkirchliche Diskussion, sieht von den strukturellen Verhältnissen ab und betont die Verantwortung der Familie: J: es hat ja was zu sagen, äh, dass wir weniger Junge, äh, in der Gemeinde sind, äh, weil die meisten, die jünger sind und im Stadtteil wohnen sind, haben andere religiöse CS: mh J: Hintergründe, dann hat es auch was zu sagen, dass, äh, in der Taufe wird gesagt, dass die Eltern und die Patinnen/Paten, äh, dem Kind beibringen sollen, in die Kirche zu gehen CS: mh J: und einen christlichen Glauben zu haben, aber, äh, ich glaube doch, dass es weniger Druck gibt, heutzutage, äh, auf Kinder, als es vor zwanzig Jahren der Fall war […] J: […], ich will sagen, dass es jetzt viel weniger Druck und viel weniger Erwartungen an die Kinder CS: mh J: und die Jugendlichen gibt, als das vor einiger Zeit der Fall war, früher war das ja so, dass die Konfirmanden/Konfirmandinnen das Gebet können mussten, […], mehr von Gott wissen mussten CS: ja J: um zur Konfirmation gehen zu dürfen CS: ja J: aber heute ist es ja so, dass CS: mh J: wer auch immer zur Konfirmation gehen darf […] J: aber, so gibt es ja auch viele ethnisch norwegische, die sich humanethisch konfirmieren, und viele Nichtgläubige, heute, viele sind getauft, aber die entscheiden sich, nicht zur Konfirmation zu gehen, weil die fühlen, dass da keine Zugehörigkeit ist, und die ganz einfach an nichts glauben

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CS: mh J: so, es sind mehrere Faktoren, die eine Rolle spielen

Jesuthasan weiß um die demografischen Verhältnisse, kommentiert diese aber gar nicht weiter, sondern zielt direkt auf die aus der Taufe erwachsende Verantwortung der Eltern ab. Jesuthasan weiß, dass viele Faktoren eine Rolle spielen, verhält sich aber diesen gegenüber nicht, er wertet nicht. Erste Ergebnisse Es kann nicht darum gehen, Jesuthasan Ungenauigkeit und Inkonsequenz bei der Verwendung des Traditionsbegriffs nachzuweisen. Entscheidend scheint mir vielmehr, dass er beschreiben kann, dass die Jugendlichen in Verhältnissen leben, die die Anbindung an Gottesdienst, Gemeinde und Kirche erschweren, und er gleichzeitig jeden Versuch einer Anbindung abwertet. Er erwartet deutlich ein Mehr, etwas, das über ,das Normale‘ hinausgeht, ein Engagement, das explizit der subjektiven Verantwortung der Eltern und der Jugendlichen geschuldet sein muss. Für die Kirche, so Jesuthasan, wäre eine Anerkennung einer punktuellen Anbindung zu wenig, denn diese ist Ausdruck einer (allgemeinen?) Tradition. Für ihn steht das Erlernen von Gebeten und Inhalten im Vordergrund, das Erlernen einer bestimmten, normierten religiösen Praxis, die sich von Impulsen von außen nur langsam beeinflussen lassen darf und die nicht mit der Tradition (vor Ort) gleichzusetzen ist. Die offene Frage, die mir bleibt, ist: Wer sind denn dann die Anderen, für die Jesuthasan beten will? Vorläufige Fokussierung: Der Kern der Sache und die Tradition der Anderen Jesuthasans Bezugspunkt ist die Gemeinschaft der Gemeinde. Diese lebt vom persönlichen Engagement ihrer Glieder. An dieses Engagement wird man herangeführt und durch dieses Engagement trägt man selbst zur Gemeinde, einer gottesdienstfeiernden Gemeinschaft, bei, die sich in Gottesdienst, Gebet und Ruhe versammelt – und sich so vom Ort und der Tradition der Anderen unabhängig, aber nicht unberührt, weiß.

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Fokussierungen

7.3.2.5 Harald: Kirche als Gottesdienstgemeinschaft Kurze Vorstellung des Gesprächspartners und des Gesprächs Harald und ich kennen uns etwa seit einem Jahr, wenn wir auch altersmäßig weit auseinanderliegen und kirchlich-theologisch zum Teil sehr unterschiedlich denken, so schätzen wir einander. Harald ist abwartend, reflektiert, ich deute das als den ehrlichen Versuch, verstehen zu wollen, vorschnelle Urteile zu vermeiden, und er kennt die kirchlichen Dokumente zur Reform des gottesdienstlichen Lebens gut. Zu unserem Gespräch haben wir uns in meinem Büro verabredet, ein Büro der 70er Jahre, im Büroflügel der Kirche gelegen, nicht groß. Kommt man herein, ist rechts ein kleines Sofa, ein Tisch davor und links, direkt vor den Regalen mit Büchern und Aktenordner, ist gerade noch Platz für einen Sessel, sodass wir uns einander gegenübersitzen können. Wie erwartet ist Harald auf die Minute pünktlich, er nimmt dankend eine Tasse Kaffee an, er sitzt im Sofa, ich sitze im Sessel und wir beginnen sozusagen direkt mit dem Gespräch, das sich stark am Leitfaden orientiert. Doch Harald verleiht dem Gespräch eine eigene Färbung, er greift immer wieder auf gemeindliche Erfahrungen zurück, verbindet den Gottesdienst als Sammlung mit Ideen zur Gemeinde als Gemeinschaft und ,Ur-Gemeinde‘ (Apg 2,42), und führt den Faden weiter zur aktuellen Reform. Nach einem Exkurs auf drei Gemeinden, die auf ihre innergemeindliche Pluralität angesprochen wurden und in denen der Gottesdienst und die Gottesdienstgestaltung als ein diese Gemeinde sammelndes Projekt dargestellt wurde, sind etwa 20 Minuten verstrichen, also nicht einmal die Hälfte des Gesprächs von insgesamt 56 Minuten. Dennoch ist meines Erachtens das Entscheidende gesagt: Haralds Thema ist die plurale Gemeinde und der sammelnde Gottesdienst. Auffällig aber bleibt, dass die Frage nach der Kultur (im Wandel) nicht angegangen wird, der Ort der drei von ihm erwähnten Gemeinden spielt keine Rolle. Mein Versuch, durch einen Erzählimpuls die Frage nach der Pluralität kulturell und ökumenisch zu weiten, schlägt fehl, es gelingt mir nicht auf den Aspekt der Ortseigenheit/Ver-Ortung zurückzukommen, den Aspekt, den Harald in seinen Erzählungen im Grunde nicht berücksichtigt. (Volks-)Kirche Seine biografisch geprägte Einleitung schließt Harald ab, indem er eine Vielzahl kirchlicher Ehrenämter aufzählt, die er innehatte. Diese Liste umfasst unter anderem die Generalsynode, einen Diözesanrat, zwei Kirchenvorstände,

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den Vorstand des KIFO Institute for Church, Religion, and Worldview Research und den Beirat einer kirchlichen Stadtmission. Seine Auflistung beendet Harald auf diese Weise: und dann waren da natürlich unzählige solche kleinere Sachen, ja, eine Sache, die ich den[…], die ganz wesentlich war, denke ich, und für die niemand etwas, etwas Besonderes für empfindet, aber als Kirche X gebaut wurde, da war ich, da gab es einen Ausschuss, der im Auftrag der Gemeinde die Verantwortung für den Bau der Kirche hatte, also von Seiten der Gemeinde gesehen, unter anderem mussten wir zwei Millionen Spenden verwalten, ich war Vorsitzender in dem Ausschuss und wir hatten eine Reihe von Unterausschüssen, das war in Wirklichkeit vielleicht etwas von dem Schwierigsten, Wichtigstem, ich, so empfinde ich, mitgearbeitet habe, das ist was, das niemand, vielleicht, versteht, aber so war das, [lacht]

Die Schwierigkeiten lagen nach Harald gerade in der Pluralität der Gemeinde begründet, die von ihm konstatiert, aber nicht gewertet wird: es war eine Vielzahl von Menschen involviert und das führte zu Streitigkeiten und Missverständnissen und Reibereien überall, […], und der Pfarrer in der Gemeinde, der hatte, […], eine etwas tollpatschige Art, […], der sagte viele Dinge, die von einigen in diesen Ausschüssen sehr missverstanden wurden, und ich musste die Abende über sitzen und versuchen diese Dinge zu lösen, […], ich habe das, später, in meinem Berufsleben, in Vorstellungsgesprächen, benutzt, um zu sagen, dass ich Leitungserfahrung habe, und da ist niemand, das schlägt nicht an, die verstehen das nicht, [lacht]

Die Mitarbeit am Kirchenbau wird von Harald als das „Wichtigste“ in einer langen Reihe von kirchlichen Ehrenämtern bezeichnet. Seine Mitarbeit in Gremien der obersten Kirchenleitung steht dahinter zurück. Kirche ist somit zuerst und zuvorderst eine lokale, bei Weitem aber keine einheitliche, Größe. Die von Harald geschilderte, plurale Gemeinde ist abhängig von strukturierter Kommunikation, von moderiertem Gespräch. Harald sieht den Pfarrer in der Verantwortung. Er greift selbst ein, sichert offene Kommunikationskanäle, denn er sieht, dass diese internen Gespräche sich nicht von selbst ergeben und der Leitung auf ein Ziel hin bedürfen. Der Erzählduktus macht deutlich, dass es Harald um Rückschau, Erinnerung und vor allem Vergegenwärtigung geht, er nimmt mich mit und führt mir vor Augen, was er immer noch als prägend erlebt. Er beeindruckt mich mit seiner breiten kirchlichen Erfahrung, vieles war neu für mich, nicht überraschend, aber respektabel, ohne, dass es abgehoben auf mich wirkt. Dies verleiht seinen Ausführungen Gewicht, ich höre genau zu.

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Liturgische Form Als ich, dem Leitfaden folgend, nach prägenden Gottesdiensterfahrungen frage, verlässt Harald seine enge Bindung an die Gemeinde als lokale Größe nicht. Er bringt eine weitere Gemeindeerfahrung ein: H: […] also, für mich ist der Gottesdienst das Zentrale, ich bin nicht, um es so zu sagen, aus einem klassischen, also aus einem klassischen, kirchlichen oder christlichen Zusammenhang, so haben zum Beispiel an vielen Orten Organisationen, Laienorganisationen, Missionsorganisationen, einen starken Stand, ich habe keinen solchen Hintergrund aus diesen, für mich ist es der Gottesdienst, der das Zentrale für mich ist, [p], ist meine Begegnung mit der Kirche CS: hast, hast du einige, hast du einige Gottesdienste, von denen du denkst, also, wo du denkst, dies waren prägende Erlebnisse oder Erfahrungen von Gottesdienst H: nein, dass ich einige einzelne Erfahrungen wie diese habe, das weiß ich nicht, […], aber das, was mich doch vielleicht ein wenig geprägt hat, […], das war, dass wir als ganz junge Familie aus A kamen, wo ich B war, wir zogen nach C, und wir kamen in das, was später Gemeinde Y würde, was aber zu der Zeit noch nicht als eigene Gemeinde ausgegliedert war, aber du weißt, Trabantenstadt, äh, da war schon ein Kern von interessierten Personen, die dafür arbeiteten, dass dies als Gemeinde ausgegliedert wurde, die arbeiteten für eine eigene Kirche und alles dies, und wir wurden unwahrscheinlich gut einbezogen CS: mh H: als wir dahin kamen und uns vorstellten und sagten, dass wir Lust haben, ein wenig zu wissen, was so passierte, wir wurden in die Gemeinschaft aufgesogen, und nach und nach kam ein Pastor dahin, […], wir waren in diesem Team, das die Gemeinde baute, die, äh, wir, wir sprachen viel von der Ur-Gemeinde, [lacht], äh, in gewisser Hinsicht, äh, und gleichzeitig zu der Zeit kam die Einführung der Liturgiereform von 1977, die, [lacht], das war das Neue, Befreiende, die Reform, die das in sich Versteifte verhindern sollte, und wir waren dabei das einzuführen, sodass das Totalerleben dieses Pastors, den wir sehr positiv erlebten, aufbauend, […], wir arbeiteten viel damit, gute Gottesdienste hinzubekommen, da wo wir waren, im Bunker und in dem Restaurant, wo wir nachher waren, alles das, das hat doch mein Verhältnis zum Gottesdienst geprägt

Der Gottesdienst ist das Zentrale, und ist auch nicht direkt von Pluralität die Rede, wird doch ein Leitungsstil unterstrichen. Im Folgenden würdigt Harald das Anliegen der Involvierung, in gewisser Weise das der Flexibilität, wiegt jedoch den Begriff der Ortseigenheit/VerOrtung gegen den der Wiedererkennung auf, er will in der Liturgie „ein wenig ruhen können, will nicht als Neuer in einen Gottesdienst kommen“. Er ver-

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knüpft diesen Gedanken mit der Arbeit im Gottesdienstausschuss in seiner jetzigen Gemeinde: wenn es um den Gottesdienstausschuss geht, so denke ich, dass es sehr unterschiedliche Meinungen gibt, das ist ja die Herausforderung, zu sehen, ob wir in der Lage sind, auf zivilisierte Weise, zu etwas zu kommen, das sammelnd wirken kann, […], da denke ich wohl vielleicht an ein etwas anderes Problem, äh, nämlich, wie, so gesagt, bekommen wir die Gemeinde zum Gespräch, welche Form, welche Fora sind da möglich zu benutzen, um diese Dinge präsentiert zu bekommen und eventuell hinzubekommen, […], eine Form von Diskussion, Reflexion, ich denke, dass sehr viele in der Gemeinde, so wie ich das kenne, auf verschiedene Art, relativ klare Meinungen dazu haben, wie die Dinge sein sollen, dass sie keinen speziellen Bedarf kennen, sich in die Dinge hineinzuarbeiten, […], und daher denke ich wohl, dass es eine sehr große Herausforderung ist, zu, [p], eine Art zu finden zu, [p], sollen wir sagen, die Gemeinde in ihrer Bandbreite zum Gespräch zu bewegen

Die Liturgische Form muss sammelnd wirken. Soll das gelingen, muss die ganze Gemeinde ins Gespräch einbezogen werden. Dazu bedarf es der Moderation – und der Einzelnen, wobei Harald durchaus Ansprüche stellt. Ganz zum Ende des Interviews kommt Harald auf die Frage nach der Moderation und Leitung zurück, er erweist sich als kenntnisreicher Leser der kirchlichen Dokumente. Harald sieht deutlich, dass mehr Kooperation erwartet wird, dass die jetzige Reform den Gottesdienst an Aushandlungsprozesse innerhalb der innergemeindlichen Pluralität bindet. Er unterstreicht, dass sich die Gewichte verschieben, denn jetzt dürfen die Laien und Laiinnen bei der Entscheidung über eine lokale Grundordnung mitreden. Es scheint hier offenbar zu werden, dass sein Leitungs- und Pastorenideal, wie er es in Gemeinde Y geschildert hat, intakt ist. Die Liturgische Form ist für Harald das Zentrale, das Sammelnde, das die plurale Gemeinde sammelnde, zeigt und markiert das Eigene, das Unsrige. Die Liturgische Form ist somit auch Ziel gemeindlicher Arbeit, definiert Gemeinde und Gemeinschaft, macht sie erkennbar – und abgrenzbar. Kultur (im Wandel) Mittels eines Erzählimpulses, der den Wunsch eines Paares, das anlässlich seiner silbernen Hochzeit um eine Segnung ihrer Ringe gebeten hat, aufgreift, versuche ich, das Gespräch auf die Gegebenheiten des Ortes zu lenken. Ich mache explizit auf den nigerianischen und anglikanischen Hintergrund der Familie, die schon lange in Oslo lebt, aufmerksam. Harald weicht dem aus und domestiziert diese Herausforderung, indem er auf das „Unsere“ abzielt: CS: das ist ja, oder ich, ich frage in jedem Fall, ob, ob nicht das Setting, also, das mit der Ehe

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Fokussierungen

H: mh CS: mit, mit den Ringen, so, wie viel hat das zu sagen, das Setting, die Gemeinde, [ein Wort unverständlich] H: ja CS: mit so vielen verschiedenen H: ja CS: Hintergründen H: ja, nein, das ist klar, das kann, nein, das war ein neuer Gedanke für mich, da habe ich keine Lust mich hinein zu verwickeln, äh, vielleicht übermorgen, dann weiß ich, ob ich was dazu sagen kann, [lacht] […] H: ja, oder um es so zu sagen, wir müssen, das muss deutlich sein, was wir, [p], was Unseres ist, also, äh, ich fühle, dass da ein Teil Tendenzen sind, und das, was positiv ist, die Leute wollen was mit der Kirche zu tun haben, in einigen Zusammenhängen, und das ist positiv, aber da ist ja auch das hier mit dem während eines Sprungs mit dem Fallschirm getraut zu werden, oder solche Dinge, da ist es sozusagen, wie, dass, dass die Kirche parat steht, wenn man einen spektakulären Einfall gehabt hat, und dass man sich Teil an dem Prestige der Kirche nimmt, für seine, eigenen Einfälle, ich finde, dass das zu weit gehen kann, also

Damit ist die Diskussion in bekanntem Fahrwasser angelangt. Wie schon zuvor wird Gemeinde nicht als Teil eines Ortes gesehen. Eine Kultur (im Wandel) wird nur als schwacher Hintergrund erkennbar, das „Unsere“, allem Elan, aller (inner-)gemeindlichen Pluralität zum Trotz, wird geschlossen und von der Kultur und vom pluralen Ort gelöst. Ich merke, dass ich tatsächlich enttäuscht bin. Ich hätte mehr und anderes, eine offenere Annäherung, erwartet. Erste Ergebnisse Es bleibt mir aus meinem Interesse am Groruddal heraus direkt auffällig, dass die Orte der drei Gemeinden, die Harald einbezieht, unsichtbar bleiben. Die Themen, die die Kirche im Groruddal bestimmen, Mitgliederschwund, Gemeinden anderer Sprache und Herkunft, ökonomische Engpässe, Themen, die durchaus zu erwarten gewesen wären, werden von Harald nicht angesprochen – die Kultur (im Wandel) bleibt außen vor. Harald ist sehr aufmerksam dafür, dass die Menschen in unterschiedlichen Traditionen stehen und verschiedene Idealbilder mit sich tragen, aber wo diese herkommen, wie diese sich nähren und genährt werden, bleibt außerhalb seines Blickfeldes, Harald hat den Blick auf das Vereinende gerichtet.

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Sollte die Sammlung der innergemeindlichen Pluralität ein Aufgehen einer, durchaus kulturell bestimmten, Pluralität im Eigenen, im Unsrigen beinhalten? Geht es Harald um Gleichmacherei und Unsichtbarmachung? Das ist wohl kaum zu beantworten, aber mich irritierend klar scheint zu sein, dass die Liturgische Form von der ,Welt da draußen‘ abschirmt. Vorläufige Fokussierung: Kirche als Gottesdienstgemeinschaft Harald denkt Kirche von einer lokalen und pluralen und letztlich geschlossenen Gemeinde-Gemeinschaft her, die sich im Gottesdienst (ver-)sammelt. Dass diese Sammlung gelingen kann, dazu bedarf es der Leitung und Moderation. Die Reform des gottesdienstlichen Lebens stellt an diese neue Anforderungen, ohne dass damit Überkommenes und Gewachsenes grundsätzlich infrage gestellt wird, vielmehr wird es unterstrichen und hervorgehoben.

7.3.2.6 Jonas: Kirche als Gemeinschaft mit Jesus Kurze Vorstellung des Gesprächspartners und des Gesprächs Jonas ist 19 Jahre alt und in einer Gemeinde im Groruddal aufgewachsen. Seine Familie ist dieser Gemeinde eng verbunden, für Jonas trifft das in Teilen wohl ebenfalls zu, er gehört dem peripheren Umfeld der gemeindlichen Jugendarbeit an. Daher wurde er, im Zuge der Arbeit mit der Reform des gottesdienstlichen Lebens, in den Gottesdienstausschuss der Gemeinde eingeladen. Aktuell steht Jonas kurz vor dem Abitur an einer christlichen Privatschule, die außerhalb des Groruddals liegt. Ich bin gespannt Jonas zu treffen. Wir einigten uns auf mein Büro als Treffpunkt, es liegt auf seinem Schulweg. Er kommt pünktlich, wirkt offen und spontan, er hat etwas zu essen mitgebracht, Joghurt, Banane und ein Brötchen. Während des Gesprächs isst er dann auch, das wirkt entspannt und entspannend. In meiner Einleitung erwähne ich das Stichwort Gottesdienst, Jonas nimmt das in seinen biografischen Ausführungen direkt auf. Das Stichwort prägt das ganze Gespräch. Involvierung und Gemeinschaft sind die ersten Begriffe, die Jonas mit seinen biografisch geprägten Gottesdiensterfahrungen verbindet. Weiter bezieht er den Gemeinschaftsbegriff, durchaus in problematisierender Perspektive, auf die Gemeinde, die (Volks-)Kirche und reflektiert deren Ort in einer Kultur (im Wandel), der sowohl interreligiöse als auch interchristliche Herausforderungen und Möglichkeiten mit sich bringt. Für Jonas scheint das Hauptproblem der Reformarbeit, dass die Frage nach der angedachten Zielgruppe, der Idee, der grundlegenden Vision der Arbeit nicht zur Genüge bearbeitet wird, daran aber entscheidet sich der Gemeinschaftsbegriff, der für

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Jonas zentraler Teil seiner Vision ist: Teil einer Kirche zu sein, die mich zu einem Leben in Gemeinschaft mit Jesus herausfordert. Liturgische Form Jonas präsentiert sich, als nach etwa anderthalb Minuten der formelle Eingangsteil abgeschlossen ist, wie folgt: also, ich bin gerade 19 Jahre alt geworden, am Mittwoch, [lacht], ja, und dann bin ich in einer christlichen Familie, äh, […], sowohl Mama wie Papa kommen selbst aus christlichen Familien, äh, und bin in A aufgewachsen, was ja Einwandererviertel, äh, kann man wohl so nennen, äh, und die ganzen Jahre war ich in der Sonntagsschule, und war mit im Gottesdienst, so lange wie ich mich erinnern kann

Seine Betonung der christlichen Familie deutet auf eine Nähe zu einer der christlichen (Missions-)Organisationen hin. Überraschend und aufweckend ist, dass dies mit dem Begriff des Einwandererviertels kontrastiert wird. Jonas ist sich des Ortes bewusst. Wir steigen dann frisch ins Gespräch ein und Jonas übernimmt ein Stück weit die Regie: CS: und das, das, die Gottesdienstreform hat ja drei solche, [p], Bergriffe, die, auf eine Art, die Reform anleiten und formen sollen, und das ist da ja Flexibilität J: mh CS: Involvierung und Ver-Ortung J: mh CS: hast du, hast du ein paar Gedanken, zu diesen Begriffen J: ich habe da viele Gedanken CS: ja J: können wir nicht einen nach dem anderen nehmen CS: ja, gerne, du entscheidest das J: ja, was war der erste Punkt, den du gelesen hast CS: äh, Flexibilität J: Flexibilität, ja, mh, [p], ja, also, ich denke, […] verschiedene Leute brauchen, auf eine Art, unterschiedliche Ausdrucksformen und unterschiedliche, unterschiedliche, ja, unterschiedliche Gottesdienste, da, äh, und da zu haben, dafür zu sorgen, dass der Gottesdienst flexibel sein kann, und, also, sowohl über einen längeren Zeitraum verändert wird, aber auch zu haben, einen Gottesdienst für, der macht, dass, also,

Analysen und empirische Arbeit im engeren Sinn

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dass der ein wenig flexibel sein kann, dass die Leute nicht denken, dass man an alle Regeln gebunden ist

Diesen Zusammenhang von Gemeinschaft und der den Gottesdienst ordnenden Regeln führt Jonas weiter, er bezieht Involvierung und Flexibilität auf einander: ich glaube, es schafft einen, also, wenn, […], man selbst dabei mitmacht, den Gottesdienst zu gestalten, da fühlt man viel mehr Verbundenheit, […], dann macht das nicht so viel, dass es nicht perfekt vor sich geht, […], wenn man sozusagen kommt und sich in die Kirchenbank setzt und sozusagen sitzt und sich eine Vorstellung ansieht, da ist, auf eine Art, sehr wichtig, dass die Dinge recht vor sich gehen

Involvierung erscheint für Jonas als wichtiger Begriff, beinahe als Werkzeug. Involvierung – das Gegenbild ist die „Vorstellung“ – öffnet die Gemeinschaft, schafft Interesse an Gott, Kirche und Gemeinschaft und eröffnet Möglichkeiten einer flexiblen Gottesdienstgestaltung, die ihrerseits der Pluralität der Gemeinschaft entgegenkommt und so diese stärkt. Es ist diese Gemeinschaft, die Jonas als Kirche zu fassen scheint. (Volks-)Kirche CS: jetzt hast du was zur Involvierung gesagt J: ich habe etwas zur Involvierung gesagt CS: ja J: äh, aber ich glaube, dass ich noch was Spannenderes sagen will CS: ja, bitte J: äh, das geht ein wenig um das, was ich schon sagte, äh, aber ich glaube, dass, [p], glaube, dass Kirche, also, gleichsam, also, Gemeinde zu sein, handelt sehr viel von Gemeinschaft miteinander, auf eine Art, dass es nicht die, die in der Kirche arbeiten, die Kirche sind, oder Gemeinde sind, sondern, dass die, die kommen […] die Kirche sind, […] […] J: […] weil ich glaube, dass man Teil einer großen Gemeinschaft ist, äh, ja, so, ich glaube auch, dass Leute zu involvieren, das macht, dass die Leute eine Verbundenheit, ein Besitzgefühl bekommen, und, dass wenn man Leute involviert, so, ja, dann werden die neugieriger, wer ist die Kirche, wer ist Gott, nicht wahr, […], das ist eine wichtige Sache, dass man, dass man gibt und da fühlt man sich auch zu was verpflichtet

Das, es ist oben angeklungen, schließt ein Gewahrsein für die innergemeindliche Pluralität ein:

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Fokussierungen

äh, ja, so glaube ich auch, also, dass es, also, alle Menschen haben, auf eine Art, einen unterschiedlichen, […], Eindruck und ein unterschiedliches Bild von dem, wer Gott ist und wer Jesus ist, äh, […] also, das persönliche Verhältnis, was Menschen zu Gott haben, hat sehr viel zu sagen, dazu wie man sich einen Gottesdienst denkt

In all dieser Verschiedenheit ist es daher für Jonas wichtig, die Frage nach der Zielgruppe zu stellen: will man einen Gottesdienst machen, der, äh, den die, die heute im Gottesdienst wünschen, oder wollen wir einen Gottesdienst machen, der dazu führt, dass die, die heute nicht zum Gottesdienst kamen, Lust bekommen hierher zu kommen

Es geht Jonas keinesfalls um Veränderung der Veränderung willen, so entwickelt er, aus einer Problematisierung heraus, seine Idee der und Vision von Kirche: ich glaube vielleicht, dass das Hauptproblem ist, dass wir denken, dass wir Lust haben, irgendetwas zu verändern, weil es nicht so gut funktioniert, […], aber wir haben keine eine solche Grundidee, was wir wollen, auf eine Art, äh, ich denke, oft kann das schwierig sein, wie, dass, ich denke, ich hab’ große Lust Teil einer Kirche zu sein, die eine Kirche ist, die herausfordert zu leben, äh, ein Leben, dass ich in Gemeinschaft mit Jesus lebe, wo ich Entscheidungen treffe, die dazu führen, dass die Welt mich komisch anguckt, aber ich das mache, weil ich Lust habe zu zeigen, Jesu Liebe zu den Menschen um mich herum zu zeigen

Jonas bezeichnet das selbst als unzusammenhängend, mir scheint das Gegenteil der Fall. An dieser Stelle endet ein wichtiger, der entscheidende, Gedankengang. Vom Willen zur Veränderung kommt er wieder auf die Notwendigkeit der Zielrichtung und Zielsetzung zurück, formuliert sein eigenes Ziel der Veränderung und Erneuerung, das er gleichzeitig als objektive Größe, die keiner Erklärung bedarf, darstellt. Was ein ,Leben in Gemeinschaft mit Jesus‘ und was „Jesu Liebe zu den Menschen um mich herum“ ist, das scheint keine weitere Vertiefung zu benötigen. Kultur (im Wandel) Ein kleines Missverständnis hat doch erhellende Funktion: CS: jetzt habe ich die Herausforderung, etwas zu sagen, äh, also, kannst du auch was zu dem dritten Begriff sagen, Ver-Ortung J: Ortsgeeignetheit CS: Ver-Ortung J: Ver-Ortung, ja, [p], ja, ich denke, dass, also, du kannst ja nicht eine Schablone haben, die du über alle Gemeinden in ganz Norwegen drüberlegst CS: mh

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Faszinierend, Jonas liefert mit seinem Missverständnis noch einmal Einblick in ein anderes Verständnis dieses Kunstwortes. Geeignet für den Ort. Schade, dass mir das im Eifer des Gesprächs nicht aufgefallen ist. Aber: Taucht etwas von seinem Verständnis im Folgenden auf ? J: äh, weil die Leute verschieden sind und die Kulturen sind an verschiedenen Orten unterschiedlich, äh, und ich denke, [p], also, dass eine Kirche in Kristiansand221, wo alle in einer christlichen Familie aufgewachsen sind und sozusagen, man f[…], ich weiß nicht genau, wie viele von den Schülerinnen/Schülern da sagen, dass sie christlich sind, aber das ist ein großer Anteil CS: mh J: äh, und, also, da kannst du, auf eine Art, den Gottesdienst auf eine andere Weise planen, glaube ich, als zum Beispiel hier in A, wo, wo die Christen/Christinnen mehr eine Minorität, […], [sind]

Die Stoßrichtung scheint klar, nicht alles ist an jedem Ort geeignet. Es braucht andere Annäherungen und andere Planungsschritte, dabei werden zwei Orte deutlich kontrastiert. Gleichzeitig wird eine instrumentelle Schlagseite sichtbar, es kann den Anschein haben, als ob die Verhältnisse vor Ort Jonas unsicher machten, er verlässt den Ort, um in den Gottesdienst zurückzukehren: mh, äh, [p], ja, so glaube ich, dass es sehr abhängig ist von, äh, auf eine Art auch, nicht nur vom Ort, sondern auch davon, wer zum Gottesdienst kommt, auf eine Art, wenn, ich glaube, Alter ist eigentlich wichtiger als der Ort, […], also, die altersmäßige, äh, Gruppierung im Gottesdienst ist wichtiger als wo er stattfindet

Ich will das Thema aber nicht fahren lassen und komme im Gesprächsverlauf darauf zurück: CS: und, und, so hast du ja mehrmals gesagt, dass der Ort nicht so wichtig ist, aber, […], als du sagtest, dass A so ein Einwandererviertel ist, hat das etwas zu sagen, im Verhältnis zu, zur Gottesdienstfeier oder Gottesdiensterneuerung J: ich hoffe das, äh, also, ich denke, dass, äh, Christen/Christinnen haben, waren sehr oft sehr an Mission interessiert, […] CS: mh J: äh, und so sitzen wir in einem Stadtteil, wo, äh, die Mehrheit der Menschen nicht weiß, wer Jesus ist, äh, und so kümmern wir uns eigentlich nicht so sehr darum, […], aber ich denke, auf eine Art, es ist ja genauso natürlich Mission zu betreiben, […], das Evangelium mit deinen Nachbarn/Nachbarinnen zu teilen, die ihn nicht kennen, […], ich glaube, dass, [p], glaube, dass wir, also, als Kirche in Norwegen heute, da, also, dass die Kirche eigentlich nicht dazu gedacht ist, an der Kirche interessiert zu 221 Kristiansand, ca. 50 000 Einwohner, Bischofssitz, ist hier Beispiel für den norwegischen ,Bibelgürtel‘ in Südwestnorwegen.

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sein, sondern an den Menschen interessiert zu sein, äh, hier herum, in der Gesellschaft, auf eine Art, dass wir, also, wenn die Kirche nur ein wird, ein Ort für die Religiösen wird, […], äh, so glaube ich nicht, dass wir so viel Schlagkraft bekommen, da CS: mh J: aber indem man es schafft, den Blick nach außen hin zu wenden, äh, ja, so denke ich, auf eine Art, dass, [p], für uns, die Gottesdienst in einer Gemeinde in A haben, wo wir sehr viel Kontakt mit Musliminnen/Muslimen haben, […], stehen in einer ganz speziellen Situation hier in A, im Verhältnis zu, äh, Stadtteilen mit wenig Einwanderung, weil es ist hier eine viel größere Offenheit Religion gegenüber CS: mh J: äh, also da, ich ging ja hier auf die Grundschule, da war das so, dass alle die, die nicht Musliminnen/Muslime waren, und aus christlichen, also norwegischen Hintergrund, die waren christlich, äh, während, aber jetzt gehe ich auf eine Schule, wo weniger Einwanderung ist, so ist das, also, da ist größere Gleichgültigkeit dem, was man glaubt gegenüber, während hier in A, so ist, also die Menschen haben eine, haben ein Verhältnis zu Religion als was wichtiges

Jonas greift auf ihm bekannte Annäherungen und Kategorisierungen zurück. Das Thema Mission ist ihm, so nehme ich an, durch seine Erziehung, Kindheit und Sozialisation vertraut, es wird als ganz selbstverständlich vorausgesetzt und angegangen. Gleichzeitig bedauert Jonas eine Gleichgültigkeit der Kirche, die sich, als gottesdienstfeiernde Gemeinde, dieses Aspektes der Mission, verstanden als Bewegung auf andere Menschen hin, nicht bewusst ist, sondern sich selbstzufrieden auf sich selbst zurückzieht. Er unterstreicht eine Bewegung nach außen, die durch zwei Faktoren ermöglicht wird: zum einen durch Anknüpfungspunkte, eben durch Kontakt mit Muslimen und Musliminnen, zum anderen durch die Stellung der Religion vor Ort als etwas Wichtiges. Jonas überschreitet das Innen–Außen Schema nicht, nicht durch die Aufnahme in die Verkündigung und nicht durch die Feststellung der Wichtigkeit der Religion am Ort. Die Analyse des Ortes hat eine funktionale Ausrichtung, es geht um die Schlagkraft, es geht darum, so genau zu analysieren, dass gute Anpassungen strategischer Art vorgenommen werden können. Es geht um Ortsgeeignetheit. Erste Ergebnisse Jonas’ Ausgangspunkt ist die Erfahrung einer prägenden Gottesdienstgemeinschaft, dabei ist es gerade die Involvierung, die Jonas als Grund der Prägekraft anführt. Teilhabe, das Teilen des Gemeinsamen, führt zu Offenheit verschiedenen Ausdrücken und zu Toleranz Fehlern und Mängeln in der Durchführung gegenüber, fördert Flexibilität und fortlaufende Veränderung.

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Diese gottesdienstfeiernde Gemeinschaft ist Jonas Gemeinde im spezifischen Sinn. Die Kehrseite der Erfahrung der Involvierung ist, dass diese Gemeinde, so plural und vielschichtig sie sein mag, ein deutliches Innen und Außen kennt. Gleichwohl darf sich diese Gemeinschaft als Gemeinde nicht sich selbst genug sein und muss nach außen Prägekraft erweisen, gerade an einem Ort, an dem Religion eine wichtige Rolle spielt. Hier liegt die Chance der Gemeinde zur Expansion. Jonas beobachtet und analysiert den Ort, für Jonas spielt die Vieldeutigkeit des Gottesdienstes und des Ortes eine Rolle, und er spitzt dies auf die Strategie der ,Ortsgeeignetheit‘ hin zu. In dieser Bewegung nach außen ist der Begriff der Mission analytisches Konzept: Auf die Welt und die Menschen da draußen muss sich zubewegt werden, mit deren Missbilligung muss gerechnet werden, die Welt und die Menschen werden zum Objekt. Der Ort wird zur ,Welt da draußen‘, an deren Verhältnisse es sich anzupassen und zu orientieren gilt. So gesehen kann Jonas’ Gemeinschaft nie (Teil der) Gemeinschaft des Ortes sein, sie wird immer Gemeinschaft am Ort sein (wollen). Vorläufige Fokussierung: Kirche als Gemeinschaft mit Jesus Jonas’ Kirche ist eine vielfältig-plurale Gemeinschaft, die ihr klares Ziel im Leben der Einzelnen mit Jesus hat. Für dieses Ziel, das als abgeklärt und fest angenommen wird, will diese Gemeinschaft weitere Menschen gewinnen. Dazu analysiert sie die Gegebenheiten des Ortes, sucht Anknüpfungspunkte, handelt strategisch und ordnet die Vielfältig- und Vielstimmigkeit des Ortes und der Gemeinschaft inhaltlich dem Ziel des Lebens mit Jesus unter.

7.3.2.7 Ester: Kirche im Groruddal als Kirche der Menschen Kurze Vorstellung der Gesprächspartnerin und der Gesprächssituation Von Ester weiß ich nicht mehr, als dass sie auf die neunzig Jahre zu geht; Ester wurde mir von einem Kollegen genannt. Ich habe mit ihr telefoniert und sie hat mit einem Mal darauf bestanden, dass wir unser Gespräch in ihrer Kirche führen. In dem doch recht großen, hellen, fast weißen Gemeindesaal, richte ich an einem Tisch, der etwas abseits, beinahe in einer Ecke steht, einen Platz für uns her. In diesem Saal stehen mehrere Sofas, Tische und Sessel aufgereiht, der Raum ist für uns zwei im Grunde doch zu groß. Ester ist pünktlich, als ich sie am Eingang höre. Sie stützt sich direkt auf meinen Arm, hat einen Stock dabei, und ich sehe, dass sie mit dem Auto gekommen ist. Und: Sie fängt direkt an zu erzählen, Ester erzählt gern und viel, sie hört nicht besonders gut – das wird das Gespräch prägen. Wir finden unseren Platz am Tisch, wir kennen uns aus. Ich serviere Kaffee und wir beginnen unser Gespräch. Ester steigt sofort ein, hat die letzte Aus-

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gabe des Gemeindebriefes dabei, will mir unbedingt etwas zeigen, ich dagegen versuche meinem gewöhnlichen Gesprächseingang zu folgen, aber es gelingt mir nicht. Denn Ester erzählt, erzählt immer wieder von sich, ihrer Ausbildung, ihrem beruflichen Werdegang und ihrer Familie. Darüber gebe ich meinen Plan, einen Erzählimpuls einzubringen auf, denn Ester liefert, durch ihre Erzählungen, Impulse, die ich für mich produktiv aufnehmen und weiterführen kann, wie die kleine Erzählung von ihrem Gärtner. Und doch ist Ester nicht leicht zu fassen, wie die Sequenzen zu ihrem Wechsel ins Deutsche zeigen. Schnell wurde im Gespräch deutlich, dass Ester ihre Gemeinde aus ihrer Perspektive wahrnimmt, aber kaum das aktuelle Gemeindeengagement im Gefüge des Groruddals kennt und sie fühlt sich auch außen vor. Dennoch, und für mich selbst im Forschungsprozess überraschend, sind Esters Gedanken mir wichtig geworden und führen zu einer vorläufigen Profilierung am Ende der Analyse. Kultur (im Wandel) Die ersten zehn Minuten des Gesprächs werden im Grunde von Ester gestaltet, sie erzählt über sich. Erst dann gelingt mir ein neuer Anlauf, ich frage, wo sie wohnt und wie es ihr ergangen ist, als sie aus dem inneren Zentrum ins Groruddal kam: ja, dass war ja eine Bauernlandschaft, es, warum wir hierherkamen, das war, weil wir sahen, dass ein Zweifamilienhaus frei war, [sie trinkt Kaffee], […], und die, mit denen wir den Vertrag abschlossen, die zogen in unsere Wohnung, unten in der Stadt ein, […], wir wohnten auf, auf einem Acker

Die ersten Wohnblocks entstanden, direkt in Esters Nachbarschaft, die Autobahn kam, der Verkehr wuchs und gerade in diesem Ausbau liegt für Ester die größte Veränderung in ihrer Zeit im Tal: ja, das ist eine große Veränderung, mit all den Straßen und dem Verkehr, der gekommen ist

Im Laufe des Gesprächs, bald zum Ende hin, greife ich diesen Faden noch einmal auf: CS: du sagtest ja, äh, als du kamst, hierher, da war das Bauernland, so kam der Ausbau und da kamen viele Menschen, so, X hat sich sehr verändert E: ja CS: nach dem, äh E: ja, ja, Ausbau, ja, und Straßen, und CS: ja […]

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E: sind ja kaum noch norwegische Menschen da CS: nein E: und gehe ich mal ins Zentrum hier, so sind da nur schwarze Menschen CS: ja E: und da reden die Leute drüber […] CS: ja E: die Leute ziehen weg CS: ja E: ja, und, [lacht], […] das ist wohl falsch, das zu sagen, aber, äh, die, die hier wohnen, schicken ihre Kinder auf die Schule im Westen der Stadt

Ester kann die heutigen Herausforderungen, die sich mittel- und unmittelbar an die multikulturelle Vielfalt knüpfen lassen, beschreiben, ist sich aber gleichzeitig sicher, dass Außen- und Innensicht differieren: E: es die sind, die woanders wohnen, die darüber klagen, wie schrecklich es ist, in Alna oder Grorud zu wohnen, das ist ja Quatsch, wir wohnen hier und uns geht es gut CS: trotz der Einwanderung E: ja

Ester bestätigt ihre Sichtweise, als ich aber nach dem Anteil der muslimischen Bevölkerung frage, ist es Ester, die mich korrigiert: CS: viele der, du nennst sie Ausländer/Ausländerinnen, die, die sind ja Muslime/ Musliminnen oder E: ja, ja, das wissen wir ja nicht, da CS: nein, nein E: die können ja Christinnen/Christen sein […] E: und ich weiß ja auch nicht, was [mein Gärtner], Daniel, so heißt er, aus Tansania, was der ist, das habe ich ihn nicht gefragt […] CS: aber er geht in die Kirche E: ja, ja, der ist hier

Für Ester bleibt der rasante Ausbau die entscheidende Erfahrung und sie nimmt die heutige Bevölkerung differenziert wahr. Sie unterstreicht eine

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positive Sicht auf das Tal, die von innen her gewonnen wird und, so deute ich, von außen, mit Blick auf die Oberfläche, nicht erkannt werden kann. (Volks-)Kirche Es ist das Thema der großen Veränderung des Tals, das das Gespräch auf das Thema der Kirche lenkt. Ester erzählt, von den Kindern, die in der Nachbargemeinde aktiv waren, von Die Kirche baut und Ester fühlt sich in ihrer Gemeinde als „festes Inventar“. An dieser Stelle kommt Ester an den Anfang zurück: E: aber da war ja das, was ich dachte, was ich erwähnen wollte CS: ja E: ich brauch’ meine Brille, ich sehe nicht CS: ja E: meine Brille [sie redet deutsch!] CS: ja, du hast das erkannt E: wo ist meine Brille [sie redet deutsch!] [Ester holt den Gemeindebrief hervor, sucht ihre Brille, alles ist etwas umständlich] CS: du, du hast den Gemeindebrief mitgebracht E: ja, hier steht: ,Nicht mehr Staatskirche. Was nun?‘

Sie redet plötzlich deutsch, geht auf meinen Hinweis nicht ein, dadurch, dass sie erzählt, läuft das Gespräch weiter. Ester zieht eine Verbindungslinie zwischen der Trennung von Staat und Kirche und den Herausforderungen vor Ort, stellt zum wiederholten Mal fest, dass es spannende Zeiten sind, und sagt dann: das mit dem, zu verkaufen oder zu vermieten, die Kirchen hier, die Menschen, die hier wohnen, die in ihre Kirche gehen, das ist deren Kirche, die gehen jeden Sonntag, und haben diese in ihr Herz geschlossen, jetzt können die also an andere Gemeinden verkauft werden, daran denken die ja, oder vermieten

Für Ester ist also die Frage, wem die Kirche gehört, entschieden, die Kirche gehört den Menschen und meinen Hinweis auf die veränderte Demografie, auf die Veränderungen in der Bevölkerung lässt sie nicht gelten: ja, ja, aber ich sehe ja auch, dass es Ausländer/Ausländerinnen sind, die in der Kirche sind

Ohne Frage ein gewichtiger Punkt, den Ester für sich entwickelt hat, es ist keine ausschließlich norwegische Kirche, die sie beschreibt und dies hat

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Auswirkungen auf den Gottesdienst und die Gemeinschaft um den Gottesdienst herum. Liturgische Form Kommt Ester am Sonntag zum Gottesdienst, kennt sie viele der anderen Besucher und Besucherinnen vom Sehen, man grüßt sich, Ester schätzt es, schon an der Tür von zwei Freiwilligen begrüßt zu werden. Ich versuche, auf das Thema der Reform des gottesdienstlichen Lebens zu kommen, die drei zentralen methodischen Begriffe kennt Ester jedoch nicht, das Gespräch verläuft etwas, und doch weiß Ester genau, was sie nicht will: ich bin zufrieden mit dem, wie es ist, und ich, das einzige, was ich nicht haben will, das ist Jazz in der Kirche

Ester hat also durchaus eine Meinung. Für Ester ist Kirche etwas „feierliches und festgestimmtes“, das verbindet sie mit Orgelmusik. Sie fürchtet, dass „wir nicht wissen, was in der Kirche vor sich geht“, wenn denn die Flexibilität beschlossen wird. Dies macht sie daran fest, dass sie in ihrem Leben drei Varianten des Unser Vater gelernt hat. Es wird deutlich, dass Ester sich von der Gemeinschaft um den Gottesdienst herum auch ausgeschlossen, vielleicht sich sogar übersehen fühlt. In ihrer Gemeinde hat man eine kleine Arbeitsgruppe gebildet, die eine Art Grundstamm der Lieder der Gemeinde erstellen sollte. In diese Arbeit wurde sie nicht eingebunden. Auf ähnliche Weise kann sie sich im Gottesdienst außen vor fühlen: ich weiß nicht genau, ob es zu viele [Veränderungen] sind, aber in jedem Fall, äh, wir sind das nicht gewohnt, […], [lacht], man blamiert sich ein wenig, wenn man [im Programm] nicht alles lesen kann

In diese Sequenz hinein fragt Ester beinahe unvermittelt: E: kommst du aus, du, äh CS: Deutschland E: ja, nun gut, ich höre, dass du ein wenig CS: ja E: nicht Dialekt, aber ein wenig, das war ja drollig, dass ich ein wenig Deutsch redete, gerade, da, das war nicht, weil, [lacht] CS: das war es nicht, ich dachte, dass es deswegen war E: nein, [lacht]

Ester lässt sich die Gesprächsführung nicht aus der Hand nehmen, erzählt, beim Thema des Gottesdienstes bleibend, unangefochten weiter. Über eine

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biografische Erfahrung kommt sie zur Bedeutung der Gemeinschaft um den Gottesdienst herum zurück. Sie unterstreicht die Begrüßung an der Kirchentür, sie erwähnt das Kaffeetrinken nach dem Gottesdienst und stellt fest: das ist [bei dem Kaffeetrinken] nicht dumm, besser mit jemanden bekannt zu werden, mit dem/der du nicht gesprochen hast, […], was es bedeutet, einen wildfremden Menschen, der hereinkommt, sich willkommen zu fühlen, […], das sollte man in der Kirche mehr machen

Esters entscheidendes Anliegen ist die Ermöglichung von Teilnahme und Teilhabe. Erste Ergebnisse Das Gespräch mit Ester unterstreicht den situativ-konstruktiven Charakter der Interviews auf eindrückliche Weise; Ester führt Regie, lässt sich das Zepter nicht aus der Hand nehmen – und es ist von mir nicht zu entscheiden, was sie motivierte Deutsch zu sprechen. Dennoch scheint es mir möglich, Ergebnisse festzuhalten, die im weiteren Forschungsprozess von Bedeutung sein werden. Ester hat den rasanten Ausbau des Tals miterlebt und unterscheidet deutlich eine Außen- und eine Innenperspektive. Ester repräsentiert ihre Innenperspektive und sieht sich mit einem Außen konfrontiert, das nicht versteht und kein Interesse daran hat verstehen zu wollen. Der Druck von außen, in Form des schlechten Rufes und der Benachteiligung beim Städtebau, und die Herausforderungen, die sowohl von außen (Trennung von Staat und Kirche) als auch von innen (Rückgang, Schrumpfung) generiert werden, und vor die die Kirche gestellt ist, ergeben zusammen die Gemengelage, die Ester als „spannende Zeiten“ bezeichnen kann, die aber auch, exemplifiziert an möglichen Kirchenschließungen, bedrohlich wirkt. Esters Kirche ist dabei und daher nicht einfach eine norwegische Kirche. Vielmehr muss Esters Kirche den „wildfremden“ (!) inkludieren. Dann, so erlaube ich mir zu folgern, gehört die Kirche allen, die an ihr teilhaben. Gleichzeitig ist Ester das Anderssein der Kirche wichtig. So ist der Gottesdienst vom Alltag abgehoben, unterscheidet sich musikalisch vom Alltag. Und Veränderungen sind keineswegs ausschließlich willkommen, denn diese können Teilnahme und -habe gefährden. Ester war bei der Auswahl des Grundstammes von Gesangbuchliedern nicht mehr gefragt. Vorläufige Fokussierung: Kirche im Groruddal als Kirche der Menschen Für Ester ist Kirche zuerst Kirche der Menschen. Aus der Innenperspektive des Groruddals heraus, die durch Ausbau und Veränderungen in der Bevölkerung geprägt ist, spricht sie sich für eine offene Kirche aus, die inkludierend Teil-

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nahme und -habe ermöglichen muss, die aber gleichzeitig nicht im Alltag aufgehen und die Stabilität und Gedächtnis nicht aufgeben darf. 7.3.2.8 Solveig: Die Kirche vor Ort als Rückzugs- und Ermöglichungsraum Kurze Vorstellung der Gesprächspartnerin, der Gesprächssituation und eine erste Fokussierung Solveig ist über sechzig Jahre alt, Rentnerin, und sie hat als Krankenschwester viele Jahre im öffentlichen Gesundheitswesen, darunter an verschiedenen Schulen im Tal, gearbeitet. Außerdem lebt sie seit Ende der 70er Jahre im Tal und ist alle Jahre ihrer Gemeinde verbunden gewesen – Solveig kennt das Groruddal und seine Bevölkerung gut. Für unser Gespräch hat Solveig die Kirche Haugerud vorgeschlagen, sodass sie dies mit einem Besuch bei früheren Kollegen und Kolleginnen verbinden kann. In der Taufsakristei stelle ich Kaffee und Wasser bereit. Die Sakristei ist ein rechteckiger, einfacher Raum. Charakteristisch sind einfache, rechtwinklige Formen, charakteristisch auch das große Oberlicht, darunter zwei Tische und Stühle herum, hinten in der Ecke eine Sofagruppe. Solveig ist sehr pünktlich, wirkt auf Anhieb sympathisch, der Ton zwischen uns ist direkt herzlich. Sie wählt die Sofaecke, ich serviere Kaffee. Ihre Offenheit wirkt ansteckend, sie ist neugierig und hat was auf dem Herzen, ihr Auftreten harmoniert mit dem Sommer und dem Vogelgezwitscher, das durch das offene Fenster hineindringt. Solveigs Thema ist ganz deutlich die Kirche in einer vielstimmigen Gesellschaft. Auf dieses Thema kommt sie immer wieder zurück. In einem ersten Durchgang (Minuten 13–23) kommen wir über biografisch geprägte Gottesdiensterfahrungen auf dieses Thema, in einem zweiten Durchgang (Minuten 24–34) ist die Reform des gottesdienstlichen Lebens unser Ausgangspunkt. Genau zwischen diesen beiden Durchgängen steht der Satz, den ich als Kernsatz ihres Nachdenkens über (Volks-)Kirche und Kultur (im Wandel) deute: man braucht gleichsam beide Teile, in einem, einem sozialen Setting, so braucht man das Multikulturelle, aber man braucht auch einige von seinem, aus, mit seinem eigenen Hintergrund

Von der Liturgischen Form zur (Volks-)Kirche – 1 Solveig kennt unterschiedliche gottesdienstliche Zusammenhänge. Von Anbeginn aber unterstreicht sie die Bedeutung der Nähe und des Ortes für die Wahl des Gottesdienstes, weiter ist ihr entscheidend, dass im Gottesdienst

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Dinge anschaulich gemacht werden. Das Erlebnis von Gemeinschaft und der soziale Rahmen sind ihr gewichtiger als der Inhalt: CS: äh, hast, hast du einige negative Gottesdiensterfahrungen S: [p], [atmet, räuspert sich], ich, das, nein, da, da, da geht es mehr um, […], dass ich stutzig werde, wegen des Inhalts der Predigt, […], aber ich gehe selten mit einem negativen Erlebnis aus einem Gottesdienst CS: mh S: äh, also, wenn ich nicht, gleichsam, es hinbekomme den Inhalt der Predigt mitzubekommen, oder ein wenig uneinig sein kann, und ein wenig stutze, über dieses und jenes, so finde ich doch immer, da ist was, äh, ich denke, da ist gleichsam was zu holen, im Gesang und in der Liturgie und der Gemeinschaft CS: ja, äh S: ich bin nicht von, und ich bin nicht von denen, die, ich erlebe ja, dass einige, das, was mich sehr verärgert, wenn einige rumlaufen und, äh, die Pastorinnen/Pastoren, wenn die gleichsam nicht, die denken, dass sie doch, ja, nenn sie die Rechtgläubigen, da CS: ja S: sind, sind deutlich genug, wenn es um, ja, das Evangelium oder was die zentrale Botschaft ist, geht, […] CS: mh S: aber, das, das ver[…], das ist verhältnismäßig wenig davon, denke ich, solche Dinge verärgern mich, wen[…], wenn das ist, weil, dass sie, da fühle ich, dass die was kaputtmachen, ich kann haben, ein ganz anderes Erlebnis gehabt haben

Ich verfolge das Thema Gemeinschaft weiter, denn Solveig kann die Stärken ihrer Gemeinde, in einer herausfordernden Situation, ,mit den Augen‘ eines neuen Mitarbeiters scharf stellen: und so waren wir eine Zeit lang vielleicht zu, also, die Zahlen bei uns gehen ja ein wenig nach unten, äh, und so denken wir, ojemine, und so werden wir ein wenig niedergeschlagen, […], und so sieht er unsere Gemeinde mit neuen, anderen Augen, […], hier sind ja viele, die wollen was, […], da sind viele Ressourcen

Diese positive Sicht verdeckt aber nicht, dass es, deutlich in einer ,Außenperspektive‘ begründet, ungelöste Aufgaben anzugehen gilt: CS: gibt es, gibt es einige, einige Seiten, die du denkst, dass die Gemeinde die entwickeln sollte S: [atmet deutlich], [p], äh, das ist ja das, das hinzubekommen, [atmet wieder deutlich], also, wir wohnen ja in, [p], äh, ja, die Gemeinde muss wohl immer, egal

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welche Gemeinde das ist, auf eine Art, das Ganze da haben, das, mit zu, wir, wir haben etwas zur Verkündigung bekommen, etwas, was wir weiter vermitteln sollen, aber zu schaffen, zu sein, gut zu sein, deutlich im Lokalmilieu zu sein, und da hat [meine Gemeinde] X gute Traditionen

Bescheinigt Solveig gerade den Hauptamtlichen ihrer Gemeinde großes Engagement, erwähnt sie eigene, erste Schritte auf dem Feld des Religionsdialoges, ist nicht zu übersehen, dass für die Gemeinde die religiöse Pluralität auf muslimischer Seite eine der größeren Herausforderungen ist, gleichzeitig fordern gerade die interreligiösen Begegnungen heraus: gleichsam den Stolz zu schaffen, darüber, dass wir Christen/Christinnen sind, und dass wir das mit einer Selbstverständlichkeit sagen, genau wie die Muslime/Musliminnen sagen, ich bin Muslim/Muslima

Soll aber all dies gelebt werden, eine gute Gemeinschaft, die offen und deutlich im Lokalmilieu vertreten ist, so ist zu erinnern, dass man, […], gleichsam beide Teile [braucht], in einem, einem sozialen Setting, so braucht man das Multikulturelle, aber man braucht auch einige von seinem, aus, mit seinem eigenen Hintergrund

Von der Liturgischen Form zur (Volks-)Kirche – 2 Das Moment des ,Sowohl-Als-Auch‘ durchzieht das weitere Interview, Solveig expliziert es am sonntäglichen Gottesdienst: wenn da Neue kommen, sind wir, so denke ich, doch ganz gut da drin, können besser werden, die willkommen zu heißen

Denkt sie aber an die Kinder und deren Eltern, die aus afrikanischen Ländern stammen, sagt sie: wir haben wohl nicht, auf eine Art, geschafft, die zu engagieren

Die Reform des gottesdienstlichen Lebens, das wusste ich, war am Tag vor unserem Interview Thema der Jahrestagung von Solveigs Gemeinde gewesen, es ist daher einfach, ihren Rückgriff auf die Situation des Gottesdienstes als Ausgangspunkt für ein Kommentieren der drei zentralen methodischen Begriffe zu nehmen. Solveig kann sich positiv und bestätigend zur Idee der Involvierung äußern, das Stichwort der Flexibilität kommentiert sie nicht, sie geht direkt zum Begriff der Ortseigenheit/Ver-Ortung über: äh, ja, ein ortseigener Gottesdienst, da kann, da kann man wohl gleichsam, etwas, auf eine Art, ein Engagement in Bezug auf das, was sich im näheren Milieu tut, zum Beispiel, oder, was legt man nun eigentlich in das Ortseigene, [lacht]

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Solveig gibt also zunächst eine Form von Definition und ist doch unsicher. Um aber das Thema nicht direkt fahren zu lassen, bringe ich meinen Erzählimpuls ein. Meine Idee war von einer gemeinsamen Feier von Weihnachten und Id alAdha, an der Solveigs Gemeinde beteiligt war, zu erzählen. Ich erwähne aber kaum die gemeinsame Feier, als sie mich direkt unterbricht: CS: […] ein Beispiel […], ist ja die gemeinsame Feier von Weihnachten und Id S: ja CS: die Gemeinde X gehabt hat S: [lacht], ja, da war ich dabei, da muss ich doch lachen, weil ich war bei der letzten Veranstaltung dabei CS: ja S: da, da muss man mehr mit arbeiten, um was hinzubekommen, das, ein, ein gemeinsam, ja, und der Gedanke ist sehr gut, aber das war, war eine Zusammenkunft, jetzt, das letzte Mal, das war ganz falsch für mich, äh, [ein Wort unverständlich]

Mit einer so deutlichen Ablehnung hatte ich nicht gerechnet, auch nicht damit, dass sie im Weiteren das Erzählen des Impulses mir aus der Hand nimmt und sie ihre Deutung so ausführlich und offen darstellt. Sie kann die Veranstaltung als „Kulturkollision“ bezeichnen und erzählt weiter: das war ja so geplant, dass unsere Pastoren/Pastorinnen was sagen sollten, und dann sollte der Imam, unter anderen, etwas sagen, und das fing schön an, oder, es fing damit an, also, der Imam, […], und wir, wir, die wir ein wenig am Thema dran sind, und, und, das war eine gute Gruppe aus unserer Gemeinde, so fing der Imam an und redet, zehn Minuten mal in jedem Fall, auf Arabisch, und wir verstehen nichts, […], und so fragte ich einige von denen aus Pakistan, die ich kenne, […], sind viele hier, die das Arabische verstehen, und was er sagte, nein, und das war ja auch nicht darauf angelegt, dass die Kinder was davon haben, […], und dann sollten unsere Pastorinnen/Pastoren was sagen, aber so ist das, so ist es, so ist man, äh, die Dinge sind ja ein wenig unstrukturiert in diesem Setting, und da kommt da plötzlich ein ganz Teil Menschen, die kommen viel zu spät, so, als unser Pfarrer aufstand und was sagen wollte, da fallen die ein, und da waren die meisten damit beschäftigt, ein paar Stühle und Tische zurechtzurücken, da war gleichsam kein Respekt still zu sein, […], ja, das wurde beinahe ein wenig provozierend, […], aber dann, so, andere Dinge waren positiv, da war ja das, dass der Clown kam und so ein paar Sachen für die Kinder, […], aber, ja, das ist klar, wir hätten auch, äh, das wird ja schnell so, dass man sich zusammensetzt, die Pakistaner/Pakistanerinnen, die, die da waren, auch, aber wir Norwegerinnen/Norweger waren ja nicht besser, insofern, äh, das ist ja nur, gleichsam, dass man kommt, die, weil man hat ja Lust, die haben ja auch Lust mit ihren Leuten zu reden, und so bleibt man sitzen und schwätzt

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Solveig berührt das Verhältnis von Eigenem und Fremden in ihrer Darstellung mehrfach. Auffällig ist, dass sich in einem durchstrukturiertem Rahmen – zuerst sprechen die beiden geistlichen Leitungspersonen, dann ist Kinderprogramm und danach eine gemeinsame Mahlzeit – das herausfordernde Verhältnis von Eigenem und Fremden nicht nur zwischen den beiden skizzierten Gruppen, sondern auch in der ,anderen Kultur‘ ausmachen lässt. Der Imam wird nicht von allen verstanden, auch nicht von ,den Seinen‘. Schließlich zeigt sich das Verhältnis in der Art und Weise der Gruppierung um die Tische herum – es zeigt sich ein beiden Gruppen gleiches Bedürfnis. Es bedarf des Eigenen, gerade im Aufeinandertreffen mit den Anderen. Ich versuche, Momente des Zusammentreffens von Eigenem und Fremden aufzugreifen, wie die gerade erwähnte Feier, die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen muslimischen Gemeinden und die Herausforderung neue Menschen, auch mit anderem kulturellen Hintergrund, im Gottesdienst willkommen zu heißen und versuche, dies auf die Ortseigenheit/Ver-Ortung zu beziehen: CS: prägt, oder, würdest du sagen, dass, äh, der Stadtteil mit al[…], mit diesem Hintergrund, prägt das den Gottesdienst S: äh, nein, d[…], also, d[…], das sollte es mehr in positive Richtung prägen, […], denkst du, dass es uns in negative Richtung prägt, äh, also, es prägt uns ja nicht, äh, dass wir in einem solch multikulturellen Setting sind, das sollte uns prägen, äh, mehr als es tut CS: war, war das gestern [bei der Jahrestagung] Thema S: nein, nein CS: nein

In dieser Gemengelage spielt der Wiedererkennungsbegriff auch für Solveig eine Rolle, so wurde bei der Diskussion der Abendmahlsliturgie darauf geachtet, dass „es wiedererkennbar sein sollte“, „so wie wir es gewohnt sind“, aber gleichzeitig war das völlig in Ordnung das Unser Vater ein wenig zu verändern

In Folge der letzten Textrevision wurde die Zeile „und führe uns nicht in Versuchung“ umformuliert, es heißt jetzt „lass uns nicht in Versuchung geraten“. – Wiederkennung ist sowohl ein Wiedererkennen eines Textes, einer bekannten liturgischen Handlungssequenz als auch ein Wiederkennen des eigenen Gottesbildes, denn Gott führt uns wohl nicht in Versuchung, ich weiß nicht

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Fokussierungen

Kultur (im Wandel) Ein Teil der Motivation zu dem Gespräch mit Solveig war gerade, etwas zum Groruddal zu erfahren, welche Veränderungen hat sie beobachtet? S: [murmelt denkend vor sich hin, unverständlich], in [meiner Stelle in] F, gleichsam, ich denke, an [meine Stelle in] G, als, als ich 197[…], 1978, gekommen bin, aber, mh, [p], nein, das, das sind sicherlich die größten Herausforderungen und, pos[…], in positiver und negativer Richtung, auf eine Art, das ist ja das mit dem Multikulturellen CS: mh S: aber, aber, das ist ja gleichsam nicht nur, das ist nicht nur negativ, das, das ist ja, das war ja auch spannend und da sind Herausforderungen in CS: ja S: in alle Richtungen, äh, das ist es sicherlich, und dann, […], wir hatten doch früher mehr Spielraum in die Tiefe gehen zu können, man, man muss, die ganze Zeit, […], immer zusehen, rationaler zu arbeiten

Dass Solveig das Multikulturelle erwähnt, mag nicht überraschen. Gleichzeitig lohnt es sich festzuhalten, dass ich sie nach Veränderungen frage und Solveig dann Herausforderungen benennt, die zunächst einmal nicht an das Multikulturelle zu knüpfen sind, es geht ihr um eine Ökonomisierung der Gesellschaft. Und sie kann positiv-herausfordernde Seiten der größeren Vielfalt benennen: das Positive ist ja gleichsam, das Spannende, neue Kulturen kennenzulernen, und auf, eine Art, zu sein, und so müssen wir ja, als Norwegerinnen/Norweger, oder Europäerinnen/Europäer, [lacht], nicht glauben, dass wir immer im Besitz der Wahrheit sind, […], und se[…], sehen, auf eine Art, was, welches Wissen kann man da rausholen, äh, aus den verschiedenen, äh, von den verschiedenen Menschen und Kulturen, und dann darauf aufbauen

Die Beziehung zu Menschen anderer Kulturen ist keine Einbahnstraße, die Anderen werden in ihrer Verschiedenheit wahr- und ernstgenommen. Gleichzeitig benennt Solveig deutliche Herausforderungen, sie kritisiert, dass viele der Einwanderinnen und Einwanderer sich nicht im Takt mit Entwicklungen in ihrem Heimatland weiter entwickeln, konservativ werden, dass arrangierte Eheschließungen noch immer ein Problem darstellen. Das Eigene der Anderen beengt auch sie, das kommt zum Vorschein – und doch erfüllt es sie mit Stolz, wenn ihre Gemeinde positiv erwähnt wird, und Solveig weiß, dass ihre Beobachtungen wichtig sind: S: so, so, [räuspert], [p], das war ein wenig um die Kirche herum, aber CS: ja, aber, das ist, das ist wichtig, das

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S: ja, [lacht], aber es ist ja gerade da, wo die Kirche ist

Da, wo die Kirche ist, im Groruddal – das prägt auch Solveigs Einstieg in ihren offenen Abschluss: CS: ist da was, hast du was auf dem Herzen, wo du denkst, ich hätte dich das fragen sollen S: nein, ich weiß nicht, ich habe eher das Gefühl weit abgekommen zu sein, […], aber ob dir das so viel gegeben hat, [lacht] CS: doch, das hast du S: [lacht], wichtig, das hier, ich weiß nicht, aber ich finde, das ist ein Thema, das ist gut, darüber zu reden, [sie trinkt einen Schluck Kaffee], etwas, was ich, also, ich habe eine alte Schulfreundin, die wohnt jetzt im Südwesten, […], sehr viele sind ja von da aus als Missionare ausgezogen, […], und da werde ich eifersüchtig, ja, ich werde bald, na ja, nicht direkt bitter, aber ich werde, warum, warum, denke ich dann, warum erleben so viele eine Berufung, oder was es ist, in jedem Fall als Missionar auszuziehen, warum in aller Welt bekommt keiner die Berufung sich im Groruddal niederzulassen, […], dass einige, […], denken, das könnte spannend sein, im Groruddal zu wohnen, […], aber da müssten die ja auch für das Multikulturelle offen sein

Für Solveig sind das Groruddal und das Multikulturelle nicht zu trennen, sie erwähnt nicht, dass die Kirche sich dem entgegenstellen sollte, das Sich-imGroruddal-Niederlassen höre ich vielmehr als Beitrag zur Aufrechterhaltung und Stärkung des Eigenen – denn Solveig weiß genau um die andere Seite: ich weiß, in welcher Gegend des Tals ich als Rentnerin nicht wohnen will, […], nicht weil ich das Multikulturelle nicht mag, aber da sind zu wenige, die den gleichen Referenzrahmen haben wie ich

Erste Ergebnisse Für Solveig sind geografische Nähe und Treue zu ihrer lokalen Gemeinde wichtige Aspekte, die sie schon im biografisch gefärbten Eingangsteil erwähnt. Die Nähe, die die Gemeinde zwangsläufig an den Ort bindet, und die Treue, die keineswegs verstanden wird als durchgängige regelmäßige Teilnahme, ist Bedingung für die für Solveig so entscheidende Gemeinschaft. In externer Richtung ist die Gemeinschaft als kultureller Referenzpunkt des Eigenen am vielstimmigen Ort wichtig. Eine wichtige Konstruktion Solveigs ist das ,Sowohl-Als-Auch‘, das aber keineswegs rein additiv verstanden wird. Solveig fällt etwas auf, sie beobachtet Verhältnisse, die sich verändern, die sie herausfordern. Abschließend reagiert sie mit der bekannten Figur des ,Missionars‘ – und verändert diese Figur. ,Sowohl-Als-Auch‘ heißt auch, dass das Eine nicht ohne Einfluss auf das Andere gedacht wird, es bedarf der (gegenseitigen) Veränderung.

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Fokussierungen

Vorläufige Fokussierung: Die Kirche vor Ort als Rückzugs- und Ermöglichungsraum Solveig sieht die Kirche an den Ort und an die Bedingungen des Ortes gebunden. Die Kirche ist gehalten, die Bedingungen des Ortes unter dem Vorzeichen des Verhältnisses von Eigenem und Fremden zu reflektieren, ist dabei gleichzeitig notwendiger, doch keineswegs geschlossener, Rückzugsraum und Ermöglichungsraum einer – in Gemeinschaft mit anderen Akteuren – aktiven Mitgestaltung des Ortes. 7.3.2.9 Agneta: Gottesdienst und Kirche: Ruhe, Trost und mit Anderen teilen Kurze Vorstellung der Gesprächspartnerin und der Gesprächssituation Agneta ist nach Norwegen eingewandert, ist in einer Vorstadt einer schwedischen Großstadt aufgewachsen und ausgebildete Lehrerin für Fremdsprachen. Mehrere Jahre hat sie in Marokko gelebt und unterrichtet. In Schweden hat sie als Lehrerin für Flüchtlinge und Asylsuchende gearbeitet. Damit ist die Motivation mit Agneta zu sprechen umrissen, sie ist selbst eingewandert, hat eingehende Erfahrungen mit Menschen mit Migrationserfahrung und Agneta kennt gleichzeitig ihre jetzige Gemeinde recht gut. Für das Interview hatten wir uns in Agnetas Kirche verabredet und ich richte die Sakristei her. Diese ist ein freundlicher Raum, auf der linken Seite eine Fensterwand, eine große Glastür, davor zwei Sessel, rechts davon ein Tisch mit insgesamt sechs Stühlen – mir erschien der Tisch der Sache angemessen, ich stelle Teewasser bereit. Ich begrüße Agneta am Eingang, wir gehen durch die Kirche in die Sakristei und sie wählt von sich aus einen der Sessel vor dem Fenster. Wir trinken Tee und fangen direkt an. Als ich Agneta nach unserem Gespräch zur Tür geleite, merke ich, dass mein linkes Bein eingeschlafen ist. Es war ein ruhiges, leises Gespräch. Doch es gab einige Sätze, die mir sofort hängen geblieben sind, aber es war nicht euphorisch. Agneta bezeichnet sich ziemlich direkt als „etwas alternativ, da, in vielerlei Hinsicht“ und macht dies an innerkirchlichen Diskussionen fest.222 Aus222 Agneta führt den norwegischen Theologen Helge Hognestad, geboren 1940, an. Hognestad gibt seine Dissertation 1978 heraus. Kritiker und Kritikerinnen werfen ihm, bis heute, eine Abkehr von den traditionellen Dogmen der Kirche und eine Nähe zu New Age und ähnlichen Strömungen vor. Gegen den Willen des Osloer Bischofs Andreas Aarflot wird Hognestad 1980 auf eine Stelle in der Gemeinde Høvik berufen. Der Streit aber eskaliert, 1984 verlässt Hognestad seine Stelle, wird Staatsstipendiat. 1989 widerruft er sein Ordinationsversprechen, 1998 er-

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gangspunkte im Folgenden sind aber vielmehr eigene Gottesdiensterfahrungen, die sie immer mehr aufbricht, so bewegt sie sich von eigenen Gottesdiensterfahrungen zur Frage nach der Gestalt und Gestaltung der Gemeinde und schließlich zur Frage nach der Kirche in einer vielstimmigen und multireligiösen Gesellschaft. Sie rekurriert auf eigene Erfahrungen und stellt fest, dass „alle Religionen […] ihre Verantwortung, dass sich die Gesellschaft in der wir leben, weiter entwickeln kann“, haben. Liturgische Form Agnetas Ausgangspunkte sind eigene Gottesdiensterfahrungen, die Richtung des Interviews ergibt sich so schon nach wenigen Minuten. Ganz sicher sind diese Erfahrungen von den Diskussionen, die Agneta dazu motivieren, sich selbst als „alternativ“ zu definieren, geprägt. Sie geht etwa ein, zwei Mal im Monat zum Gottesdienst: CS: […] wenn du zum Gottesdienst kommst, ist es etwas Spezielles, dass du, du erwartest, gerne willst, etwas, dass du erwartest A: [sie atmet deutlich, braucht Zeit], [p], ja, das ist es ja immer, ja, Ruhe und Trost zu finden CS: mh A: denke ich, jaha, und mit anderen zu teilen, hier in B finden sich viele soziale Zusammenhänge, die sehr gut sind

Mir ist eben diese Dreierkombination als Richtungsanzeige hängen geblieben. Agneta kommt aus einem ihr Sicherheit gebenden Kontext, Ruhe und Trost, und kann sich daher öffnen, mit anderen teilen, sie bescheinigt ihrer Gemeinde eben dies alle inkludieren Neue, die kommen, und, tj, es ist sehr, sehr offen

Diese Offenheit zeigt sich für Agneta in bestimmten Gottesdiensten der Gemeinde. Sie erzählt von einer Gottesdienstform, die sie sehr berührt. In dieser berichten Laien und Laiinnen, anstelle der Predigt, von persönlichen Erfahrungen, teilen Persönliches. In diesen Gottesdiensten wird ihr deutlich, dass Kirche, Gemeinde und Gottesdienst sichere und gesicherte Räume sein müssen, dass hier Ruhe und Trost erfahren und das Miteinanderteilen ermöglicht wird. sucht er um Erneuerung seiner Ordination, ist schließlich ab 2000 wieder im Dienst. Es kommt erneut zu Differenzen, er scheidet 2010 aus dem Dienst aus. Vgl. Gulliksen, Øyvind T., Helge Hognestad, Norsk biografisk leksikon, https://nbl.snl.no/Helge_Hognestad (abgerufen am 15. 5. 2018).

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Dabei aber darf es nicht stehen bleiben, Agneta ergänzt dieses Bild um Erfahrungen aus einer schwedischen Kirchengemeinde: die [Menschen] sind Teil einer Gemeinschaft, so, die treffen sich nicht nur sonntags, [ein Wort unverständlich], die ganze Woche, und unterstützen und helfen sich, […], und die sind von der Kirche umschlossen [wortwörtlich etwa: in die Hand genommen], das, das fühlt sich sehr, sehr stark an

Agnetas weitere Ausführungen bestätigen, wenn auch eher indirekt, dass ihr dieser Alltagsbezug, die Gemeinschaft, die nicht ausschließlich an den Sonntag geknüpft ist, wichtig ist und ihr als eine der Stärken ihrer Gemeinde gilt. Sie beschreibt Frustrationen den Gottesdienstbesuch betreffend, eine Verschiebung der Gottesdienstzeiten hat nichts daran geändert, dass nur wenige Menschen den Gottesdienst besuchen. Gleichzeitig erzählt sie davon, dass viele Menschen die Kirche besuchen, wenn denn Erfahrungen des Alltags den Ausschlag zum Besuch geben. Agneta erwähnt die Anschläge vom 22. Juli 2011 und den Tsunami am 26. Dezember 2004. Es ist Agneta, die über die Betrachtungen zur bevorstehenden Gemeindefusion, die sie bald als Beobachterin von außen wahrnimmt, und über eine kürzere Reflexion des veränderten Gottesdienstplanes, der Gottesdienste im 14-tägigen Rhythmus vorsieht, auf die Reform des gottesdienstlichen Lebens zu sprechen kommt. Ich nenne die drei zentralen methodischen Begriffe der Reform, Agneta bleibt direkt beim letzten der Begriffe, bei der Ortseigenheit/ Ver-Ortung hängen, hat den Begriff noch nie gehört, woraufhin wir uns kurz zu den drei Begriffen austauschen, aber Agneta hält das Gespräch bei der Ortseigenheit/Ver-Ortung und ich frage direkt nach: CS: […] sind die Gottesdienste in B davon geprägt, dass sie im Groruddal gefeiert werden A: [atmet], ja, oft sind sie das, sehr oft, denke ich CS: und, und wie kommt das zum Ausdruck A: [atmet], ja, was soll ich dazu sagen, ja, aber, wir beten für die Schule und so weiter, hier, und, und, das wird oft in der Predigt aufgenommen, denke ich, auch, dass CS: ja A: dass wir in einer Gesellschaft leben, oder, ja, in einer Gesellschaft, die verschiedene Religionen hat, und das kommt vor, ab und zu

Der Bezug auf eine Kultur (im Wandel) scheint immer wieder durch, Agneta erinnert an den Adventsbasar, „wo alle dabei sein dürfen“. Der Basar hat in den letzten Jahren seinen Charakter verändert, weg von einem traditionellen Basar und hin zu einem Nachbarschaftsfest. Auf diese Veränderungen und Prägungen, die sie hier an Gebet und Predigt verdeutlicht, legt Agneta Wert –

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wir sind beim Thema Kultur (im Wandel) und den möglichen Implikationen für die (Volks-)Kirche angekommen. Implikationen einer Kultur (im Wandel) für die (Volks-)Kirche Agneta berichtet von ihren Unterrichtserfahrungen mit Asylsuchenden und Flüchtlingen, macht darauf aufmerksam, dass keineswegs geklärt ist, wie lange jemand als Einwanderer oder Einwandererin gilt. Sie unterstreicht die großen Unterschiede in der oftmals unscharf wahrgenommen Gruppe der Eingewanderten, die Bedeutung von Sprache und Ausbildung und die Notwendigkeit, Anforderungen zu stellen, des Selbstrespektes halber. Agneta beschreibt einfühlsam und empathisch Hierarchie- und Machtstrukturen, die sie mitnichten einfach ablehnt, die sie aber reflektiert wissen will und selbst reflektiert hat. CS: wenn du, wenn du das alles zusammendenkst, äh, deine Gemeinde, der Osten Oslos, Migration, zwei Gemeinden, die zu einer werden sollen, ein Pastor/eine Pastorin, der/die einen Gottesdienst leiten soll, alles das, welche, welche Rolle hat der Pastor/die Pastorin da A: ja, wie ich das sehe, so muss, muss der Pastor/die Pastorin sehr offen sein, und, inkludierend und, Verständnis für andere Arten und Weisen zu denken und zu sein haben, und nicht Missionar/Missionarin sein, da sein, also, sein, ja, so offen zu sein, und in mehrer[…], anderen, verschiedenen Zusammenhängen, die für neue Menschen, die kommen wichtig sind, andere Arenen, vielleicht als die Kirche, da, dabei sein

Der Andere, die Andere, darf und soll der Andere und die Andere verbleiben können und dürfen. Agneta wünscht sich zu diesem Zweck und zur Weiterentwicklung dieses Gedankens eine formalisierte Zusammenarbeit: eine ökumenische Gruppe von kirchlichen und religiösen Führungspersonen, die miteinander reden, einige Male im Jahr, […], voraussetzungslos, und verschiedene Situationen diskutieren, […], Fragen, die in der Gesellschaft gestellt werden, […], [p], weil alle haben ja, tj, alle Religionen haben ihre Verantwortung, […], dass sich die Gesellschaft in der wir leben, weiter entwickeln kann, […], und da sollen alle gleich sein, gleichsam, keiner soll oben stehen

Für die Norwegische Kirche bedeutete dies eine Abkehr vom verbreiteten Selbstverständnis der Majoritätskirche, aber auch für die Vertreter und Vertreterinnen anderer Religionen wäre diese Gruppe eine Herausforderung, weil sie Verantwortung für die Gesamtheit der Gesellschaft als Aufgabe annehmen müssten.

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CS: aber, wenn du, wenn du dir da vorstellst, der/die offene und neugierige Pastor/ Pastorin, der/die nicht Missionar/Missionarin ist, der/die den Sonntagsgottesdienst leitet, ist, ist da etwas, sind da andere Arten, die du dir wünschen würdest, äh, wie das im Gottesdienst deutlich würde [p] A: [atmet, räuspert sich], [p], tj, ja, meinst du, dass, äh, [p], dass alle sich willkommen und inkludiert fühlen, sogar die, die sich nicht zum Christentum bekennen, ja, das sollte ich, das fände ich sehr gut, wenn es so offen wäre, [p], aber das wird schwierig, aber ich glaube CS: was macht das so schwierig A: äh, ja, ich denke an, viele Muslime/Musliminnen, die sind ja, die dürfen nicht in, oder, dürfen und dürfen, das ist ja nicht Mohammed, der das gesagt hat, dass man nicht in eine Kirche gehen darf, das sind ja gleichsam alte Traditionen, oder, ja, die haben ja auch ihre, [p], Vorurteile

Die Grenzen der Kirche, die Definition der Grenzen der Kirche, wird von Agneta beim Anderen, bei der Anderen angesetzt. In einer Kultur (im Wandel) wird die Kirche auch von den Anderen begrenzt und eingegrenzt. Erste Ergebnisse Am Ende des Interviews war mir mein Bein eingeschlafen, es weist mir auf Distanz hin. Agneta ist Beobachterin und nicht immer Teil der Gemeinde – und doch kann sie eine Schrittfolge gehen, die aus der Gemeinde herausführt und diese zur Öffnung herausfordert. Aus dem Kontext des Gottesdienstes, der Liturgischen Form heraus nimmt Agneta Impulse für den Alltag mit, Ruhe und Trost, mit den Anderen teilen. Dabei ist es ihre Erfahrung, dass die (Volks-)Kirche gerade von diesem Teilen vor Ort lebt. Die Menschen sind auf dieses Teilen hin ansprechbar, sowohl im Großen, sie nennt den Tsunami und die Anschläge auf das Regierungsviertel und die Insel Utøya, als auch lokal, Agneta erwähnt den veränderten Adventsbasar. Das Teilen am vielfältigen Ort, in einer Kultur (im Wandel) gelingt. Aber dieses Teilen gelingt nicht von selbst, es fordert Arbeit, Selbsteinsicht, Selbstbewusstsein, einen klaren Blick auf Macht, Hierarchie und implizite Zuschreibungen. Es geht Agneta um den Selbstrespekt der Anderen, nicht um Mission und Gleichmachung, alle sind in Verantwortung genommen. So kann Agneta sehen, dass die Kirche, jedenfalls auch, von den Anderen her definiert wird, bis in die gewünschte, und vielleicht gerade von den Anderen unterlaufene, Offenheit der liturgischen Vollzüge hinein.

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Vorläufige Fokussierung: Gottesdienst und Kirche: Ruhe, Trost und mit Anderen teilen Agnetas Gottesdienst zielt auf den Alltag, soll Ruhe und Trost vermitteln und die Erfahrung des Teilens steht für sie an zentraler Stelle. Diese Erfahrung strahlt über den Gottesdienst hinaus auf die Kirche aus und trifft sich mit der Erfahrung vor Ort, dass die Menschen teilen wollen. Agnetas Gottesdienst ruft, am vielfältigen Ort, immer wieder zum Teilen mit den Anderen auf, die so, in der Verantwortung des gemeinsamen Teilens und als Andere, die Grenzen und die Gestalt der Kirche mitbestimmen.

7.3.2.10 Henriette: Kirche als ver-orteter Gottesdienst Kurze Vorstellung der Gesprächspartnerin und des Gesprächs Henriette ist etwa in meinem Alter, Kollegin, uns verbinden weder gemeinsame Studienzeit noch privater Umgang. Im Gegensatz zu mir hat Henriette ihr gesamtes Berufsleben im Groruddal verbracht, sie ist in ihrer Gemeinde verwurzelt, im Lokalmilieu gut vernetzt und im Kollegium ist sie eine deutliche und aktive, doch keineswegs aktivistische Stimme, die ich gerne höre und von der ich lerne. Für unser Gespräch haben wir uns in ihrem Büro verabredet. Als ich mit dem Fahrrad ankomme, ich bin doch etwas angestrengt, werde ich erwartet. Auf mich wirkt das Büro eher unaufgeräumt: Links von der Tür ein kleiner Tisch, ein kleiner Sessel und ein Sofa, geradeaus, unter dem Fenster, der Schreibtisch, der sich in meinen Augen dem Chaotischen nähert, rechts davon, an einer Garderobe, hängt ihre Albe und wieder rechts davon ein kleineres Bücherregal, auf den ersten Blick überwiegen Erbauungs- und Andachtsliteratur. Henriette bietet Kaffee an, wir gehen gemeinsam in die Küche, und beginnen dann zügig. Ich merke noch immer die Anstrengung vom Fahrradfahren, komme aber gut ins Gespräch. Die ersten fünf Minuten des Gesprächs verbinden biografische Momente mit theologischer Positionierung und es kristallisiert sich das mir entscheidende Thema schnell heraus: Es geht Henriette um den Gottesdienst, als Gottesdienst am Ort der Gemeinde, als Gottesdienst der versammelten Menschen. Wir kommen so auf die Reform des gottesdienstlichen Lebens zu sprechen und entdecken den richtungsweisenden Kern des Interviews: Henriettes Erzählung von einer gemeindeeigenen Liturgie, die der Gottesdienstausschuss auf eigene Initiative hin erarbeitete, die aber nicht zum Gebrauch genehmigt wurde.

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In einem weiteren Schritt führt uns dies, über die Betonung der lokalen Entscheidungsstruktur, zu mehr normativen Fragen nach der konfessionellen Grundlage der Kirche. Liturgische Form Henriette verbindet ihre kurze biografische Vorstellung mit theologischer Positionierung, sie erzählt vom Wechsel des Studienortes, von der Ordination in ihrer Heimatgemeinde, den familiären Wurzeln in einer lutherischen Erweckungsbewegung, ihrer „kirchen-christlichen“ Sozialisation und ihrem Berufungserlebnis als 18-Jährige. Auf diese Weise knüpft sie auch meine Frage an biografische Momente: CS: mh, äh, das, der Gedanke war, dass wir, sollen, oder, dass ich Ausgangspunkt im Gottesdienst, nehme, hast, hast, kannst du was über dein eigenes Verhältnis zum Gottesdienst sagen, oder hast du einige, äh, prägende Gottesdiensterfahrungen, wo du denkst, die hast du bei dir H: als ich das Praktisch-theologische Seminar besuchte, […], das erste Mal am Altar stand, da fühlte ich mich, dass ich nach Hause gekommen bin, […], so, der Gottesdienst ist mir liebgewonnen, […], [p], hab’ den Gottesdienst sehr liebgewonnen und ich versuche eine inkludierende, äh, Sprache in der Liturgie […] H: sehr daran interessiert, auf die Gemeinde zu hören, und die, die hier her kommen, und den Ort als ihren erleben, und den Gottesdienst als ihren, dass die dabei sein müssen zu, [p] CS: bestimmen, denke ich H: bestimmen, ja, was wir machen und was wir tun

Der Gottesdienst ist ihr eigenes Nachhausekommen, keineswegs aber geht es ihr um ihre eigene Monopolstellung, vielmehr um Teilhabe: H: äh, es ist ja, im Ganzen, ein Gefühl von Ganzheit, dass man, dass man, es ist der Ort in der Welt, an dem sein soll, äh, ganz einfach CS: ja H: ja, ein solch starkes Erleben, dass man, ja, hier, hier gehörst du dazu, hier kannst du sein und hier kannst du gute Arbeit machen

Unser Gespräch hat nicht sieben Minuten gedauert, meinem Erleben nach sind die entscheidenden Stichworte, der Sache nach, gefallen: Involvierung, Inklusion und die Relevanz des Ortes der Gemeinde. In der beinahe direkt darauffolgenden Sequenz werden diese Aspekte weiter vertieft:

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CS: und da sind ja Ver-Ortung, Flexibilität und Involvierung H: mh CS: geben die Sinn, lösen die etwas aus, […], äh, im Zusammenhang mit dem Gottesdienst H: denke ja, dass der Gottesdienst, ist ja nicht meiner, [lacht], der gehört ja der Gemeinde, und, und ich bin ja sehr daran interessiert, dass, dass die mitmachen sollen, zu besitzen und teilzunehmen, äh, so, so, in jedem Fall der letzte Teil ist wichtig

Im direkt Nachfolgenden verbinde ich dies mit der Frage nach der Ortseigenheit/Ver-Ortung: H: es ist, es ist ja wichtig mit einer solchen, äh, lokalen Zugehörigkeit, und dass, also, ich hab’ das ja zu Hause, an der Küste gesehen, […] CS: mh H: so, dass du, wie heißt das, das ist eine solche, kontextuelle Theologie, dass, dass die ist, dass, dass muss es ja hier in A auch sein, wir sind ja anders als der Westen der Stadt

Für Henriette spielt der Ort eine Rolle, er bestimmt das Aussehen und die Form der Religion und der religiösen Praxis am Ort und sie weiß genau, an welchem Ort sie ist. Wir sind anders – mehr als diesen Satz benötigt es nicht, eine Art Chiffre, die nicht nur ich verstehe, ich würde denken, dass auch Menschen aus Henriettes Gemeinde diesen Satz auf Anhieb verstehen und ihm beipflichten. Das neue Norwegen, das „Anti-Norwegen“, Migration, sozioökonomische Herausforderungen, dies und vieles mehr ist in diesem Satz mitgesagt und angesprochen, der Satz ist Identitätsmarkör. Diese letzten zwei Minuten sind der konzise und informierte Auftakt zu Henriettes eigentlicher Erzählung von der lokalen Liturgie, die der Gottesdienstausschuss ihrer Gemeinde entwickelte. CS: äh, alle diese Details, um, um die Reform herum, hast du, hast du einen eher Gesamteindruck H: nicht anders, als dass ich die verschiedenen Vorschläge gesehen habe, und denke, dass die entfremdend sind, […], viele von denen, äh, ja, wir hatten ja einen Gottes[…], Gottesdienstausschuss hier in der Gemeinde, der hat mit, gearbeitet CS: ja H: und der hat seine eigene Version erarbeitet, und die haben wir eingesendet, und da haben wir eine abschlägige Antwort erhalten und durften die nicht in Gebrauch nehmen, [CS reagiert deutlich, nonverbal], nicht wahr, so das ist nicht so einfach, schlechthin

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Damit hatte ich nicht gerechnet. Das war völlig neu für mich, es überrascht mich, zum einen diese Art von gemeindlichem Engagement, viel mehr aber die abschlägige Antwort. Henriette legt den Prozess dar und beschreibt ihre Rolle in diesem mehrschichtig – sie ist Coach, kompetente Liturgikerin, sie ist diejenige, die bewusst ausgewählt wurde: H: weil ich, ich fragte ja, ich hatte zu der Zeit sehr viel zu tun, daher fragte ich, ob sie nicht lieber [meine Kollegin] D, die viel mit Liturgie gearbeitet hat, fragen wollten CS: mh H: aber da waren die sehr deutlich, dass sie D nicht einladen wollen CS: mh, haben die, haben die etwas gesagt, was, was der Grund, oder was der Grund war, dass die das nicht wollten H: weil D nicht daran interessiert ist, andere zu involvieren

Diesen Gesprächsfaden abschließend frage ich in zusammenfassender Absicht, ob sich Henriettes Verständnis vom Gottesdienst durch diesen Prozess verändert hat und sie antwortet: mh, hat es das, ich bin mir in jedem Fall deutlicher bewusst, dass, äh, ja, ja, die starken Gefühle der Leute und, äh, Zugehörig[…], ihre Bindung an den Gottesdienst, und das Erlebnis [des Gottesdienstes] beinahe als ihren eigenen, dessen bin ich mir viel mehr bewusst, nachdem ich das Engagement gesehen habe und alle die guten Gedanken und Argumente, mit denen die gekommen sind, wenn die, als die das vorgelegt haben, das, was sie erarbeitet haben

(Volks-)Kirche in einer Kultur (im Wandel) Ihre Rolle definiert Henriette vom Gottesdienst her, mehrfach hat sie die Gemeinde deutlich im Blick gehabt, und ich greife die Zusammensetzung der Gemeinde im Gottesdienst und des Gottesdienstausschusses auf, um mehr darüber in Erfahrung zu bringen, wie Henriette Gemeinde – oder sogar: Kirche? – sieht und definiert: der [Gottesdienstausschuss] war repräsentativ, aber ist es nicht mehr, weil Gemeinde A mit der neuen Bevölkerungszusammensetzung in A so verändert wurde, mit so vielen Migranten/Migrantinnen, die sind, äh, bei uns, […], die aktiv sind, als Küster/ Küsterin, Abendmahlshelferin/Abendmahlshelfer, Lektorin/Lektor und so weiter, und im Kirchenvorstand, so jetzt, jetzt denke ich, dass, dass einige von denen sind auch repräsentiert, aber da reden wir von vielen verschieden Volksgruppen, und da hinzubekommen, eine, eine Liturgie, in der sich alle wiedererkennen und diese als gut und wahrhaftig erleben, das ist ja nicht nur, nur einfach, […], so, da muss man ja was finden, wo sich alle drauf einigen können und was, ja, was gut ist, weil, für so viele wie möglich

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Voraussetzung der Einigung ist die Kenntnis des Ortes und der Gegebenheiten vor Ort, ohne diese Verankerung ist Ortseigenheit/Ver-Ortung nicht zu erreichen und diese ist immer Kompromiss, denn das Resultat soll „für so viele wie möglich“ gut sein. Dabei gibt Henriette keineswegs das Ziel der Involvierung auf: H: so, da muss man ja was finden, wo sich alle drauf einigen können und was, ja, was gut ist, weil, für so viele wie möglich CS: da, und da denkst du an, an andere Christinnen/Christen, die, die am Gottesdienst teilnehmen H: ja, mh, mh, aber, also, wir versuchen ja, zu, zu sein, wir sind ja eine lutherische Kirche und das müssen wir selbstverständlich sein, mit, mit dem, was verpflichtet, ja, im Verhältnis zu, ja, Katechismus und Lehre, und, und der Liturgie, die nun trotz allem beschlossen ist, äh, und so muss es wohl wiedererkennbar sein, im Verhältnis zu dem, was sonst so ist CS: so, so der Wunsch danach, danach, die neuen Christinnen/Christen zu inkludieren H: mh CS: hat seine Grenze im Lutherischen H: es fragt, ja, ja, ich glaube das, also, es fragt sich ja, was die wollen, was die haben wollen, […], ein Teil von denen hat konvertiert, […], und die wollen ja nicht, dass wir eine Z-Gemeinde sind, da hätten sie ja nicht konvertiert, […], aber die wünschen sich vielleicht mehr lebendigen Gesang, und wenn ich spen[…], den Segen spende, stehen die mit erhobenen Händen, […], aber das ist ja Ausdruck für eine Spiritualität, die nicht kaputtmacht oder spaltet, sondern die uns vielleicht mehr bereichert, und uns unserer eigenen Spiritualität, die wir haben, bewusst macht

Henriette zieht eine Grenze, es gibt eine konfessionell-normative Grundlage, die sie nicht aufgeben oder infrage stellen will. Diese wird aber nicht ausschließlich ausschließend gedeutet. Henriette beobachtet, dass diese Grenze zwei Seiten hat, und von zwei Seiten als hilfreich und wichtig, inkludierend angesehen werden kann. Die, die konvertiert sind, bedürfen dieser Grenze, um dazugehören zu können. Dabei sind diese Grenzen und Grenzziehungen eben nicht statisch zu verstehen, sondern sie profilieren, bereichern, verändern und verschieben sich durch Begegnung vor Ort: die Menschen in A sind unglaublich offen und inkludierend, wirklich, [lacht], es ist ein fantastischer Ort, ganz einfach, [lacht], hier, hier, weil, dass die, hier hat keiner aufgemuckt oder was gesagt, […], die haben wirklich den genuinen Wunsch, miteinander bekannt zu werden, […], und wenn man anfängt miteinander zu reden, […], dann verschieben sich die Grenzen für das, was man toleriert und nicht

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Erste Ergebnisse Für Henriette ist es gerade die Involvierung, die den Gottesdienst an den Ort, an die Menschen vor Ort und an die Veränderungen vor Ort bindet. Der Ort ist damit mehr als ein ,Außen‘, hier leben die Menschen, die – und Henriette ist sich der Notwendigkeit des Kompromisses bewusst – involviert, eingebunden, befragt und zur Teilnahme eingeladen werden sollen. Dabei versteht Henriette sich als Teil des Ortes, identifiziert sich mit A und der Gemeinde A, ist Teil der Positionierung, Profilierung und Identität des Ortes – wir sind anders. Dabei ist die lutherische Grundierung ihrer Kirche wichtig, denn diese sichert Festigkeit und Wiedererkennbarkeit, verbleibt aber nicht statisch gedacht. Gerade von unten her verschieben sich diese Grenzen, ermöglichen Involvierung und Bereicherung des Eigenen – durch die Anderen. Vorläufige Fokussierung: Kirche als ver-orteter Gottesdienst Der Gottesdienst ist für Henriette an den Ort und die Menschen vor Ort gebunden, ist von der Identität des Ortes (wechselseitig) abhängig. Die lutherischkonfessionelle Grundlage ihrer Kirche sichert Wiedererkennbarkeit, macht das Eigene bewusst, ist nicht grenzenlos. Gleichzeitig sind die Grenzziehungen nie statisch, sondern von den involvierten Menschen her gedacht, sodass es gerade die Grenzziehungen sind, die Inklusion und Involvierung ermöglichen.

7.3.2.11 Roger: Gottesdienst und Kirche: Die Leute müssen ran Kurze Vorstellung des Gesprächspartners, der Gesprächssituation und des Gesprächs Roger ist einer meiner jüngeren Kollegen, er arbeitet aber einige Jahre länger in der Propstei als ich. Seine Gemeinde steht gerade direkt vor einer Fusion. Rogers Gemeinde kennt einen älteren Kern, in der Hauptsache Einfamilienund Mehrfamilienhäuser, daneben aber finden sich viele Wohnblöcke mit vier oder fünf Etagen. Die Bevölkerung ist in vielerlei Hinsicht als traditionsbewusst und aktiv zu beschreiben, es gibt Vereine, die einen guten Stand haben. Nach einem langen Arbeitstag, geprägt vom Pfarrkonvent, in dem die anstehenden Gemeindefusionen und mögliche Stellenstreichungen immer präsent waren, fahren Roger und ich in meinem Auto zu seiner Kirche. Roger holt Wasser und Gläser und ich habe in der ersten Reihe Platz genommen, sodass ich die Kirche im Rücken habe. Roger holt sich einen der Brautstühle, sitzt mir gegenüber. Wir sprechen in einer Kirche über Kirche; in der Kirche, in der er seine Gottesdienste feiert, sprechen wir über Gottesdienst. Und dieses In-der-

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Kirche-Sein prägt das Gespräch, ist Rogers Entscheidung, wenn er sie auch nicht kommentiert hat. Die ersten sieben Minuten unseres Gesprächs sind biografisch angelegt. Seine Motivation zum Pfarrdienst bietet sogleich eine Öffnung, biografische Momente mit den drei Orientierungsmarken Kultur (im Wandel), (Volks-)Kirche und Liturgische Form produktiv-weiterführend zu verknüpfen. Der darauffolgende Teil zur Liturgischen Form (Minuten 7–38) ist zweigeteilt. Der erste Teil, der von Rogers Gottesdiensterfahrungen handelt, und der zweite Teil, der von der gottesdienstfeiernden Gemeinde handelt, werden durch den kleinen Satz „Die Leute müssen ran.“ miteinander verbunden. Dieser eröffnet Neues, das sich im Folgenden als Programm und Maxime einer (Volks-)Kirche in einer Kultur (im Wandel) bestätigt (Minuten 39–55). Ein biografischer Eingang Roger erzählt frei von seiner Familie, seiner Schullaufbahn. Aus der familiären Geschichte kennt er das Changieren zwischen christlichen (Missions-)Organisationen und der Norwegischen Kirche, er hat sich, nach seinem Abitur, in verschiedenen Milieus bewegt und unterschiedliche fachliche Interessen verfolgt. Auf seinem Weg fand Roger schließlich, durch eine christliche Organisation, „ein offeneres Verständnis von Christentum“ und Freunde legten ihm ein Theologiestudium nahe: aber als ich mit [dem Studium von] Theologie und Christentum anfing, da fielen die Dinge ein wenig an ihren Platz, weil ich wollte mit Menschen arbeiten, äh, und, tun, etwas Gutes für die Gesellschaft tun, gleichzeitig, wie es zu, äh, über den Sinn des Lebens nachdenken zu können, und der Sinn dessen, dass wir hier sind, und, ja, ein wenig so, [lacht], existenziell, […], vielleicht hatten die Dinge in mir gearbeitet, gleichsam, so, im Kopf, oder im Herz, oder im Körper, über die Zeit, und eines Tages, da dachte ich, ja, ich werde Pastor, das wird gut, und da war der Gedanke ganz leicht zu denken

Roger ist leiblich dabei, das Theologiestudium ist nicht allein seine Entscheidung, die Dinge haben in ihm gearbeitet, es ist nicht nur intellektuelle Leistung, es ist auch Widerfahrenes. Dabei ist mir im Laufe der Analyse mehr und mehr deutlich geworden, dass Rogers Motivationen sich auf die von mir eingebrachten Orientierungsmarken beziehen lassen, die so ihre Herkunft aus dem Alltag bestätigen und sich – wieder aus dem Alltag heraus – weiter interpretieren lassen: Roger kommt aus Verhältnissen, die sich geändert haben, er selbst hat Verschiedenes kennengelernt, es sind die Menschen, die sein Interesse wecken, und er entdeckt, dass eine Kultur (im Wandel) fordert, mit den Menschen zu arbeiten. Im Rahmen der (Volks-)Kirche entdeckt Roger die Möglichkeit, etwas Gutes für die Gesellschaft zu tun und verfolgt diese Möglichkeiten im Groruddal. Diese Möglichkeiten zeigen sich gerade in der Auf-

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gabe und dem Ausgangspunkt der (Volks-)Kirche, über den Sinn des Lebens nachzudenken, die Kirche, Roger, bedient sich dabei Liturgischer Formen. Diese hier angedachten Beziehungen haben in meiner Analyse immer mitgeschwungen, jedoch ohne, dass sie durchweg explizit gemacht wurden, sie waren vielmehr meine Resonanz auf das im Interview Gehörte und Erfahrene. Liturgische Form Im Nachgehen seiner Erfahrungen wird deutlich, dass Roger Freude und Engagement für Gottesdienst und Liturgie mitbringt: CS: hast du, hast du Gottesdiensterfahrungen, die du schätzt, die du erinn[…], also, gibt es Gottesdienste, die du erinnerst, speziell, die was bedeutet haben R: [p], [atmet], ich erinnere mich ja an viele Gottesdienste, kann wohl generell sagen, dass, äh, ich, Gottesdienste bedeuten mir viel, und die Arbeit mit Liturgie und Gottesdienst ist wichtig, äh, also, die große Liebe zur Arbeit mit Liturgie und solchen Dingen wurde ja in [er nennt eine Organisation] geweckt, also, da arbeitet man immer mit Liturgien CS: mh R: und Sprache und Liturgie, also, Ausdruck CS: mh R: dass es, und es, das habe ich ja mitgenommen, das Engagement, das, gleichzeitig, wenn man in die, in die Norwegische Kirche geht, und, hat ja mehr strikte Liturgien, zu denen man sich verhalten muss, da, […], vor der Liturgiereform, und solche Sachen, jetzt, weil da habe ich mich ein wenig locker zu verhalten, ja, um es so zu sagen, [lacht] CS: ein wenig, locker R: ja, also, zu, ich hab’ nicht, dass ich nehme, früher, wir haben bekommen, bevor, äh, Gottesdienst[…], die Reform, auf eine Art, dass ich nur das bla[…], rote Buch genommen und aufgeschlagen habe CS: ja R: und genau wortwörtlich das, was da stand gemacht habe, ich habe, ich musste finden, ich hab’ mich an der Liturgie orientiert, äh, aber CS: ja, was finden R: nein, finden, manchmal geht es um Sprache, andere, richtigere Formulierungen zu finden, oder

Anhand seiner Predigterfahrung vom letzten Sonntag, es war die erste Predigt, nachdem der Beschluss zur Gemeindefusion vorlag, wird das Ziel der ,rich-

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tigeren Formulierungen‘ noch erweitert und Roger spielt die Idee des Dialogs ein: R: und da ist sowohl Freude und die Geschichte und die Veränderung, das ist mit uns, alles das, [p], äh, und es war ein gutes Erlebnis zu predigen, ganz einfach, das war ein ganz, äh, ein Gefühl von, äh, dass da ein Kontakt war, ein CS: mh R: Kommunikation zwischen mir als Prediger und der Gemeinde, und wenn, die Male, wenn ich diesen Kontakt erlebe, äh, dann ist das sehr schön, da fühlt sich das an, als ob die Predigt ein Dialog wäre, weil das ist sie ja eigentlich, also, ist ein Monolog, aber trotzdem, da kann sich das anfühlen, als ob es trotzdem, es geschieht etwas zwischen uns, da, auf eine Art, die Gemeinde, und ich als Prediger, äh, das, das, kann gar nicht ganz sagen, was das ist, aber da ist etwas, äh CS: hast, hast du einen Schlüssel gefunden, was das auslöst, dass das möglich ist R: nein, das, das ist, einige Male kann, äh, ich das erleben, andere Male, da ist das ein wenig mehr, dass ich mich durch die Predigt schleppe, [lacht], die Kinder laufen herum, es ist nur Krach, und ich muss fertig werden, also, diese Male, das Gefühl ist ja auch

Dieses dialogische Element war Roger auch in der Arbeit mit der Reform des gottesdienstlichen Lebens wichtig. In einem kleinen Satz fasst er das Engagement auf Gemeindeabenden, und auch im Team, zusammen: kommt, ihr, die ihr an diesem Ort wohnt, und sagt etwas darüber, was ihr wollt

Über die Frage nach Veränderungen in seinem Verständnis von Gottesdiensten kommt Roger zu dem Satz, den ich als Schlüsselsatz auffasse: CS: würdest du sagen, dass sich dein eigenes Verständnis von Gottesdienst verändert hat, von der Organisation, zur Reform, durch die Arbeitsweise R: ich denke, wohl mehr als ich früher dachte, dass der Gottesdienst, äh, die Leute müssen ran, also, der Gottesdienst der Gemeinde, äh, und dass ist, dass es, al[…], also, es ist unser Gottesdienst, vielleicht CS: mh R: ich dachte früher mehr, dass, äh, ich sollte l[…], die richtigen Worte und Formulierungen finden, und dann wird alles gut CS: mh R: aber jetzt denke ich wohl mehr, äh, dass ich als Pastor, ich leite, äh, den Gottesdienst, aber wir machen das alle

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Unverkennbar wechselt das Subjekt des Gottesdienstes und soll dies gelingen, so ist Vorhersehbarkeit, weil Involvierung ermöglichend, von entscheidender Bedeutung: hier kann die alt[…], alte Anna von 90 Jahren kommen und sie weiß, was passiert, und sie kann mit Lisa, die 13 ist, zusammen sein, und Anna, die alte, die schon ein paar Mal hier war, sie kann, sie weiß, dass es vorhersehbar ist

(Volks-)Kirche in einer Kultur (im Wandel) Mein Erzählimpuls ist an dieser Stelle nicht mehr als eine offene Frage: CS: weil jetzt, jetzt hast du ja den ganzen Tag in Sitzungen zugebracht, weil jetzt ist ja alles R: ja, das ist ganz […] CS: so, jetzt, jetzt, äh, geht deine Gemeinde in eine größere Gemeinde ein, zusammen mit […] R: ja CS: wo, wo bist du, in diesem Prozess R: [p, 13 Sekunden!], am Sonntag, das letzte was ich sagte, in der Predigt, das war, dass ich Jesaja zitierte, äh, dass Gott sagt: ,Seht, ich schaffe Neues, schon spriesst es, erkennt ihr es nicht?‘ [Jes 43,19] CS: ja, ja R: [p, das Folgende langsam], und das, [p], darum bitte ich ja, und, man muss ja denken, dass Gott größer ist als wir, äh, Gott ist ja hier, und will uns helfen, das ist jetzt gleichsam das Gebet, mit Gedanken an die Gemeinde, in jedem Fall, oder, das ist wichtig, das zu erwähnen, es, tj[…], und dass Veränderung ein Teil der Bedingungen ist, unter denen wir leben, […] […] R: meine Annäherung, […], es wichtig zu, die Gemeinde herauszufordern, dass das, was jetzt passiert, jetzt kommt Veränderung

Es scheint das Gebet Bedingung der Möglichkeit Veränderungen anzugehen, und es ist Rogers Aufgabe, Veränderungswille und Veränderungskompetenz anzumahnen und mitzugestalten: CS: ja, auf was, sollten die denn aufpassen, für was sollten die gerüstet sein, was jetzt kommt

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R: ja, das ist ja ein wenig, zu gegebener Zeit, bald, einzusehen Reali[…], die Realität, das ist ja beschlossen, und wir sind, sind eine Gemeinde CS: mh R: und, äh, sich darauf einzustellen, tj, äh, und gleichzeitig denke ich, gleichsam, das mündige Volk der Laiinnen/Laien, also, äh, nicht den Mut zu verlieren, […], sondern zu denken, dass, hier ist ja unglaublich viel, dies ist ein wichtiger Ort der Sammlung im Lokalmilieu, das X heißt, äh, und das kann ja, das bleibt ja so, auf die eine oder andere Art, und die Leute, die hier wohnen sind ja wichtig, also, ohne die, so passiert in jedem Fall gar nichts

Damit ist aber für Roger nicht alles gesagt, denn die Veränderungen fordern sowohl Kirche als auch Lokalmilieu heraus. Roger definiert seine Kirche als Volkskirche, gibt ihr ein ganzes Aufgabenpaket mit auf den Weg und fragt explizit nach der Bedeutung klassisch-religiöser Begriffe im Leben der Menschen: tj, gleichzeitig, so muss ja, äh, unsere Kirche im Groruddal, also, die Norweg[…], die Volkskirche im Groruddal, muss sich ja auch umstell[…], also, das ist eine andere Zeit, und, weil es ist ja wahr, dass die, […], [in den Vereinen vor Ort], die sind ja nicht gerade, die sind ja schon älter, nicht wahr, […], äh, und, und, gleichsam, das da mit, zu denken, wie kann die Kirche im Leben aller Leute relevant sein, das ist ja eine Herausforderung, relevant zu sein, im, die, im Leben der Jüngeren, der Jugendlichen, im Leben der Familien mit Kindern, und in unseren, also, die nicht ihr ganzes Leben in Norwegen gelebt haben, und, und so, und da, Relevanz, gleichsam, nun, da muss man sicher ein Teil mit arbeiten, wem, wer ist heute mit was beschäftigt, wem, was bedeutet, äh, tj, was bedeutet es, äh, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, für, für all[…], also, für das Leben der jungen Menschen, heute, oder der Heilige Geist, was bedeutet das, was bedeutet Gnade, jetzt, [p], [lässt es ausklingen, ein wenig hängen]

Es ist gefordert zu sehen, was die Menschen beschäftigt und es ist keine Einbahnstraße, die Roger befahren will, er markiert Offenheit für die Antworten der Menschen und ist sich des Groruddals bewusst: R: ich glaube, da ist in jedem Fall, äh, hohes, äh, Bewusstsein, äh, bei den Menschen hier in X, dass sie im Groruddal wohnen und nicht im Westen, und sie sagen: zum Glück, zum Beispiel, [lacht], oder so CS: [unverständlich] […] R: von, äh, also, Grorud[…], unser Lokalmilieu verändert sich, und wir können nicht einfach damit fortfahren, so zu tun, also einfach zueinander, in einen Verein gehen, eine kleine Oase, und nicht mit unserer Umgebung reden, äh, und es ist wichtig, dabei zu sein, Frieden zu schaffen, […], [Roger nennt Gruppierungen und Bewegungen in

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seiner Gemeinde, das wird hier ausgelassen], unsere Arbeit, da, dies, dies ist Friedensarbeit, wir sind Teil einer Dialogbewegung, weil wir wollen CS: mh R: Frieden und Verständnis in unserem, äh, Groruddal, [Roger nennt wieder Akteure der Gemeinde], wir müssen raus, also, wir müssen, äh, ja, nein, man muss raus aus, aus, […], der Gemeinschaft [der eigenen Gruppe], auf eine Art, versuchen, eine Relevanz zu entwickeln, in das Groruddal hinein

Das Groruddal ist identitätsstiftend, verändert sich, fordert sowohl Roger als auch die Kirche zu Veränderung heraus. Nach Roger müssen die in der Kirche Engagierten raus aus dem Eigenen, hinein in die Wirrungen vor Ort und das Ziel ist wieder Relevanz, die, da als Teil des Dialoges gesehen, offen für die Menschen ist. In der Verlängerung frage ich Roger nach seiner Rolle als Pastor, es ist ein dichter und intensiver Moment des Gesprächs und Roger antwortet, diesen Teil abschließend, wieder sich auf das Gebet beziehend: aber ich denke, dass im Gespräch und im Kontakt sein, ist ein wichtiger Teil vom Pastorensein, aber gerade jetzt bin ich sehr dabei, faktisch zu beten, […], zu beten, äh, für unser Tal, und für die Gemeinde, und, alles, was, das ist ja vielleicht, weil ich fühle, dass die Dinge ein wenig unsicher sind

Erste Ergebnisse Für Roger wird im Laufe der Jahre immer deutlicher, dass der Gottesdienst Gottesdienst der Gemeinde ist, an einer Schaltstelle steht der Satz „Die Leute müssen ran.“. Roger arbeitet sich an diesem Ideal ab: ein im Lebenslauf und am Ort vernetzter Gottesdienst, der von Involvierung lebt, und dabei von Vorhersehbarkeit, als Beteiligungsvoraussetzung, abhängig ist. Roger weiß, dass „Veränderung ein Teil der Bedingungen ist, unter denen wir leben“, dass die Kirche, ausdrücklich als Volkskirche bezeichnet, sich prägen lassen und sich auch von nicht-kirchlichen Gruppen unterstützt wissen muss – und ihrerseits prägt und trägt. Diese Kirche ist nicht „Verein“ oder „Oase“, sondern arbeitet, lokal, sowohl mit denen, die in Norwegen geboren und aufgewachsen sind, als auch mit denen, die nicht aus Norwegen stammen, zusammen. Immer wieder verweist Roger auf Subjekte, deren Annäherung, Bedürfnisse und Wünsche und öffnet damit, meines Erachtens zumindest indirekt, für Gelebte Religion als gewichtigen Aspekt – zumal ein Faktor seiner eigenen Sicherheit in der Unsicherheit aus der Glaubenspraxis des Gebets erwächst und ihm seine eigene religiöse Praxis wichtig ist. Gestaltungsfähigkeit erwächst (auch) aus dem Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit.

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Vorläufige Fokussierung: Gottesdienst und Kirche: Die Leute müssen ran Rogers biografisch geprägte Ausgangspunkte treffen auf die Vorstellungen seiner Gemeinde und auf den Alltag im Groruddal. Dadurch verändern sie sich, für Roger rücken die involvierten Menschen in den Vordergrund. So zeigt sich, dass die Menschen, dass die Gemeinde unlöslicher Teil einer ver-orteten Kultur (im Wandel) ist. Diese Situation fordert, dass die (Volks-)Kirche immer wieder zur Öffnung und Prägung herausgefordert werden muss, da sie von eben dieser Veränderung durch Begegnung lebt und letztlich nur auf diese Weise im Leben der Menschen als relevant erfahrbar werden kann.

7.3.2.12 Tomas: Die gemeinsame Identität am vielfältigen Ort als Aufgabe der Kirche Kurze Vorstellung des Gesprächspartners, der Gesprächssituation und des Gesprächsverlaufs Tomas ist ordinierter Theologe und die Motivation zum Gespräch lag in seinen Kenntnissen über das Projekt Gott in der Großstadt. Tomas war eine Zeit in dem Projekt beschäftigt. Meine Idee war, durch ihn Kenntnisse zur Entwicklung kirchlicher Strategie im großstädtischen Raum in die eigene Studie hinein tragen zu können. Tomas erscheint gut vierzig Minuten verspätet und er äußert den Wunsch nach ein wenig „Small Talk“, bevor wir mit dem eigentlichen Interview beginnen. Dieses Vorgespräch war mir Bestätigung meiner Gedanken zum Projekt und gleichzeitig Anleitung in das Interview hinein, so nennt Tomas schon hier zwei gewichtige Punkte. Zum einen wurde im Projekt verhältnismäßig schnell ein Interessenkonflikt zwischen der Projektebene und der Ebene der lokalen Gemeinde sichtbar. Zum anderen wurde das Projekt Gott in der Großstadt vom Oslo-Projekt überlagert, sodass die hohen Erwartungen letztlich nicht mehr erfüllt werden konnten. Wir fangen das Interview an, meine einleitenden Bemerkungen nehmen kaum eine Minute in Anspruch, wir beschäftigen uns direkt mit dem Projekt Gott in der Großstadt. Es geht ein wenig verhalten zur Sache, aber es ist deutlich, dass wir beide mit der Materie vertraut sind. Tomas hat sein Telefon immer in der Nähe, er empfängt SMS, gleichwohl wirkt er sehr bei der Sache. Nach ziemlich genau dreißig Minuten bittet er um eine Pause, diese bildet den Abschluss des ersten Teils. In der Pause fragt Tomas sehr direkt, ob weitere vierzig Minuten ausreichend sind, ich bestätige dies, und wir steigen wieder in das Gespräch ein. Es gelingt mir ein guter Übergang vom Projekt Gott in der Großstadt zur Arbeit

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der Strategiegruppe für die Propstei Østre Aker. Damit verbunden führt Tomas das offene Thema ,Groruddal‘ in zwei Richtungen weiter. Zum einen fragt er nach der lokalen Verankerung, zum anderen nach dem Verständnis des Begriffs ,Großstadt‘ (Minuten 31–47). An dieser Stelle ordne ich den Leitfaden spontan neu, etwa zehn Minuten stehen Tomas’ Kommentare zur Vielstimmigkeit und zur steten Veränderung im Zentrum. Dieses Groruddal ist der Ort der Kirche. Der Ort der Kirche, Tomas’ Stichwort, wird mir zur Gelegenheit, auf die Reform des gottesdienstlichen Lebens zu verweisen, auf den Begriff der Ver-Ortung. Diesen deutet Tomas kritisch und bringt die Propstei als Referenzgröße für die Reform ins Spiel, die Liturgische Form erscheint bei Tomas, mich überraschend, sehr geschlossen. Mit diesem Teil sind die vereinbarten vierzig Minuten sozusagen abgelaufen. (Volks-)Kirche: Gott in der Großstadt Die ersten dreißig Minuten, bis Tomas um eine Pause bittet, sind dem Projekt Gott in der Großstadt gewidmet. Tomas berichtet von großem Enthusiasmus in der Anfangsphase und ohne Frage war es mit Gunnar St lsett, Torunn Laupsa und Otto Hauglin ein profiliertes Trio, das das Projekt entwickelte und vorantrieb.223 Von Anbeginn an wurde Wert darauf gelegt, das Projekt als breites Engagement zu verstehen und bei der Besetzung der Projektsteuerungsgruppe und der Fokusgruppen nicht nur Menschen aus der Kirche zu berücksichtigen. Es wurde schnell deutlich, dass mit dem Projekt durchaus Prestige verbunden war und es gelang, Politiker und Politikerinnen einzubinden, Goodwill für die Kirche zu schaffen. Gleichzeitig kommt es zu einer Überlagerung von zwei Projekten, die Tomas als grundsätzlich verschieden definiert, die aber strukturell eine Schwächung der Lokalgemeinde verbindet: Das Oslo-Projekt verdrängt das Projekt Gott in der Großstadt. Tomas ist deutlich, „nein, Gott in der Großstadt war kein Effektivierungsprojekt“, er stellt den gedachten, aber letztlich nicht geglückten, Zusammenhang zwischen den beiden Projekten nochmals dar, das Oslo-Projekt war als Finanzierungsquelle für die aus dem Projekt Gott in der Großstadt hervorgegangenen Projekte gedacht, dann aber hat das Oslo-Projekt eine Eigendynamik hin zu Sparmaßnahmen entwickelt, die nicht mehr von der Basis mitgetragen wurden.

223 St lsett, geboren 1935, war von 1998 bis 2005 Bischof in Oslo und kann auf eine lange nationale und internationale kirchliche Karriere zurückblicken und war außerdem in der norwegischen Politik aktiv, Laupsa, geboren 1946, war Personalchefin im Bistum Oslo, auch sie hat politische Erfahrung, und der Soziologe Hauglin (1942–2012) war ebenfalls Politiker, er hat sich schon 1970 unter religionssoziologischem Gesichtspunkt mit der Trabantenstadt auseinandergesetzt.

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Der Widerstand der Basis wurde zu groß, aber Tomas gibt das Projekt Gott in der Großstadt nicht auf, macht auf wichtige Errungenschaften, Erkenntnisse und Wirkungen aufmerksam. Ideen aus dem Projekt wurden lokal aufgenommen und weitergeführt, Tomas kommt auf die Strategiearbeit in der Propstei Østre Aker zu sprechen: T: ich denke, da liegt gewiss Lerngewinn im Fahrwasser von, äh, Gott in der Großstadt, äh, [p], zum Beispiel die Umstrukturierung, die in Østre Aker geschieht, äh, die entspringt zum Teil ja Gedanken, […], ist ja eine Erkenntnis, dass es Veränderungen in der Bevölkerung gibt, äh, Gott in der Großstadt war damit beschäftigt, […] […] T: und dann wird man ja auch gründlich überrascht, […], aber ich glaube, dass das vielleicht auch daran liegt, dass im Bistum keiner die Aufgabe hat, die Stadtentwicklung zu verfolgen

In seinem offenen Abschluss, ganz zum Ende des Interviews, kommt Tomas zum Ausgangspunkt, zum Projekt Gott in der Großstadt zurück und er summiert einige wichtige Punkte: T: ich denke, dass das Projekt, äh, […], es hat auf gute Weise zu einem GroßstadtTheologiedenken beigetragen, auch wenn ich vermisse, […] […] T: das war eine Großstadt, es geht nicht um das innere Zentrum […] T: und es war enger Kontakt mit den Gemeinden, durch die Fokusgruppen, durch, äh, die Zusammensetzung der Projektsteuerungsgruppe, aber es waren auch sehr zentrale Akteure in dieser Projektsteuerungsgruppe, das war, das war sehr kopflastig, […], es wurde ein wenig elitär, […] CS: mh T: und es war mit der Ausschlag, die Richtung, die es dann einschlug, zu prägen, und ich denke an den Fokus, auf, äh, auf Migranten/Migrantinnen, Fokus auf Religionsdialog, Fokus auf Gemeinden anderer Sprache und Herkunft, […], vieles hätte sich bestimmt so oder so bemerkbar gemacht, aber Gott in der Großstadt hat es in Angriff genommen

Kultur (im Wandel) Tomas bittet um eine Pause, wir steigen sodann wieder in das Gespräch ein. Ich führe dazu sowohl das Projekt Gott in der Großstadt als auch die Strategiearbeit in der eigenen Propstei an. Tomas macht auf direkte und personelle Zusammenhänge aufmerksam, die mir unbekannt waren; er würdigt diese Zusammenhänge, nicht zuletzt sieht er strategische Vorteile. Die im Projekt

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Gott in der Großstadt vorbereiteten und bedachten Themen, in der Strategiearbeit wieder aufgenommen, lassen sich seiner Meinung nach gut in die kirchlichen Diskussionen einbringen. Gleichzeitig ist Tomas deutlich in seiner Kritik, „das, was das Bistum nicht gelernt hat, oder nicht zur Genüge wahrgenommen hat, ist externe Mittel zu ersuchen“, „das Groruddal-Aktionsprojekt ist für das Bistum nicht aktuell“, nach Tomas eine „große Unterlassungssünde“, aber „auch die Gemeinden haben sich da nur sehr begrenzt eingebracht“. Wir kommen so deutlicher auf das Groruddal zu sprechen, eher grundsätzlich bestätigt er, dass es „schwierig [war], sich für diese Projekte lokal Gehör zu verschaffen, die wollten weiter Pfarrkirche sein“. Die Ideen der Projektsteuerungsgruppe wirkten fern der Gemeinde und des Alltags, erst nach und nach, so Tomas, wuchs die Erkenntnis „der wichtigen Arbeit der Lokalgemeinden“. CS: du sagtest, dass ihr vielleicht nicht deutlich genug auf die Propsteien hin gearbeitet habt, aber die Ahnung, die ich habe, und wenn ich die Platzierung der Angebote sehe, hat man da die Großstadt in diese Richtung verstanden T: das glaube ich schon, ich glaube, man hat sich da blind gesehen, man vergaß, dass Großstadt, äh, das könnte Gott in der Stadt sein, das wurde eher mehr Gott in der Stadt als Gott in der Großstadt, […], der Begriff, der sehr populär war, zu der Zeit, das war ja Flexibilität und Mobilität, und, und diese Dinge […] T: […] wir unterschätzten das Groruddal, […], wir haben nicht, äh, das Groruddal in Angriff genommen, […], das hätten wir vielleicht mehr machen sollen, […], denn es ist ja da, wo die größten Veränderungen in unserer Großstadt geschehen, […]

Die Begriffe, die Tomas nennt, Flexibilität und Mobilität, werden mir wieder Bestätigung für die Entfernung der Projektsteuerungsgruppe vom Alltag der Menschen. Man beschäftigte sich mit soziologischen Modellen, ohne nach deren Passform oder Passgenauigkeit zu fragen, man vernachlässigte den Wohnort, und Tomas kommt so zu dem Schluss der fehlenden Fundierung am Ort. Tomas bringt das Groruddal mit dem Stichwort der Veränderung zusammen, ich ergreife die Möglichkeit und frage ihn nach seinen Erfahrungen in und mit dem Groruddal, wir gehen damit einen Schritt weiter. CS: wenn du, das ist eine große Frage, aber wenn du auf zurückblickst, als du im Groruddal zur Schule gingst, die größten Veränderungen, wenn du zurückblickst, was sind die T: äh, also, das Typische am Groruddal, die letzten sechzig Jahre, waren, waren die Veränderungen, es sind Veränderungen, die das Charakteristische am Groruddal

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sind, äh, so ist ja, äh, ist ja was passiert innerhalb dieser Veränderungen, [lacht], das sind die Veränderungen, die geschehen sind, […] […] T: und so hat man das Religiöse, aber was ist das Religiöse, wenn wir in dem Glauben leben, dass Religion nicht so viel zu sagen hat, das ist Kultur, Kultur, Kulturbegegnung CS: denkst du, dass Religion mehr zu sagen hat T: [p], äh, ja und nein, ich denke vielleicht, im alltäglichen Leben, so denke ich, dass Religion, äh, sich nicht einfach ergibt, ich glaube, es ist mehr Kultur als Religion, die solche, solche Turbulenz schaffen kann CS: mh T: und dann wird Religion der Name, dem man dem gibt, äh, ja, Kultur oder das Unbekannte, ich weiß nicht, welchen Namen man dem geben soll, aber es ist, ich denke schon, dass Veränderungen das Groruddal kennzeichnen, das ist nicht so, dass das Groruddal dem heute mehr, in größerem Umfang, ausgesetzt wird als in den 50er Jahren, aber es werden mehrere, solche, parallele Auffassungen von dem, was das Groruddal ist, […], äh, aber, ja, wem gehört der Ort, an dem man wohnt, [lacht], und das sind ja die, die da wohnen, und dann, ich denke, äh, ja, das ist ein großes Projekt, eine Kultur zu schaffen, eine Zugehörigkeit zu schaffen, eine gemeinsame Geschichte zu schaffen, und wenn dann die gemeinsame Geschichte vielleicht die letzten sechzig Jahre davon handelt, dass die Geschichte Veränderung ist, so wird das einen festen Haltepunkt zu finden, oder so etwas, oder das zu schaffen, was man gemeinsam hat

Veränderungen sind das für das Groruddal Charakteristische, das Groruddal ist stete Veränderung, ist Vielschichtigkeit, zudem gibt es eine Vielzahl von Perspektiven, die es unmöglich machen von einem Groruddal zu reden. „Und so hat man das Religiöse“ – aber was ist das eigentlich in der postchristlichen oder auch postreligiösen Gesellschaft, in der „Religion nicht so viel zu sagen hat“, „sich nicht einfach ergibt“. Die Turbulenzen, die (potenziellen) Konflikte, werden unter ,Religion‘ und/oder ,Kultur‘ subsumiert, werden so benannt, aber es ist im Grunde das Unbekannte, das sich dahinter verbirgt. Vielleicht darf ich so weit gehen zu sagen: Es ist das Fremde. Religion und Kultur als Chiffre für das jeweils Fremde, das mit dem ich umgehen muss, was ich aber nicht unbedingt handhaben kann, definieren und verstehen kann. Und dann kommt Tomas, hoch spannend, auf den Ort zu sprechen. Die Veränderungen, das Unbekannte, die verschiedenen Auffassungen betreffen gerade den Ort – und diesen Ort können nur die Menschen definieren, sich gemeinsam erarbeiten, die dort wohnen. Es ist die Aufgabe der Menschen vor Ort, das Gemeinsame und Verbindende zu schaffen, eine Definition von außen scheint ausgeschlossen. Eine gemeinsame Geschichte der Veränderung for-

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dert, gemeinsam etwas Verbindendes zu schaffen. Dem Ort, so deute ich Tomas, kann sich keiner entziehen. Auch die Norwegische Kirche kann sich dem Ort nicht entziehen und ist gefordert: den Ort in Besitz nehmen, äh, [p], ich denke, das ist eine Aufgabe für alle, und ich denke, dass es wichtig ist, eine gute Identität für alle im Groruddal zu schaffen, die hier wohnen, dass das eine gemeinsame Aufgabe ist, und für die Kirche, so, so, denke ich, dass das eine sehr große Aufgabe ist, äh, wichtige Aufgabe, zu sein, eine Arena zu sein, wo Begegnungen zwischen Menschen stattfinden, wo Menschen, es, es ist, wo Menschen, dass die Kirche eine Arena bereitstellen kann, wo Menschen miteinander bekannt werden, eine Zugehörigkeit kennen, äh, ja, wie in Sportvereinen und in der Schule, äh, wichtige Akteure

Das Groruddal ist nach Tomas durch und durch als vielstimmige und in Teilen immer fremde Kultur (im Wandel) aufzufassen, es geht darum, das kreative Potenzial der Veränderungen zu bergen, zu benennen – und es ist Aufgabe der Kirche sich in Prozesse an diesem Ort einzubringen, an diesem Ort, zusammen mit anderen Akteuren zu Begegnung, zum Kennenlernen, zu gemeinsamer Identitätsbildung und Zugehörigkeit beizutragen. Liturgische Form Es ist durch das Stichwort des Ortes leicht für mich, den Bogen zur Reform des gottesdienstlichen Lebens und zum zentralen methodischen Begriff der VerOrtung zu schlagen. Und ich bin nach dem gerade Vorhergehenden überrascht, als Tomas sich direkt skeptisch dem Begriff gegenüber äußert: CS: für die Propstei jedenfalls liegt ja in der Liturgiereform die Forderung, das ernst zu nehmen, […], du hast die Flexibilität im Zusammenhang mit dem Gefühl der Urbanität genannt, die Flexibilität liegt dort, und auch die Involvierung [ein Wort unverständlich], das ist ein weites Feld T: das ist ein weites Feld, und ich bin doch, äh, ich bin doch, ich weiß nicht, ob, äh, äh, jetzt hört sich das vielleicht ein wenig herablassend an, aber ich weiß nicht, ob die Kirchenvorstände in der Lage sind Eigenmachung zu definieren, zu machen, man kann vielleicht, ja, ja, man riskiert dann, mit der Ver-Ortung, dass man etwas schafft, was für seinen, seinen, sehr kleinen Bereich, die Gemeinde, schafft, und so, äh, geht man weg von einem universellen Gedanken, […], ich bin, skeptisch, was den Teil angeht, das, was ich sehr positiv sehe, die Kirche betreffend, ist die lokale Arbeit, die getan wird, äh, die Angebote, die geschaffen werden, Kleinkinderstunde, äh, Konfirmationsunterricht, ja, was weiß ich, Pfadfinder, Chor, Klubangebote, die Dinge, wo man ein Leben im Lokalmilieu schafft, etwas, woran man anknüpfen kann, ein Ort, den man aus vielerlei Gründen aufsucht, Freunde/Freundinnen findet und Zugehörigkeit erfährt, […], ich denke, dass die Propstei eine mehr natürliche Einheit wäre, innerhalb derer die Gottesdienstreform gedacht werden könnte

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Mir verbleibt eine Spannung in Tomas’ Ausführungen, die mich irritiert. Tomas ist sehr an der lokalen Arbeit der Gemeinden interessiert, es ist diese Arbeit, die „ein Leben im Lokalmilieu“ schafft, warum aber kann Tomas den Gottesdienst, in seiner lokalen Form, nicht zu dieser Arbeit zählen? Erste Ergebnisse Tomas würdigt, dass das Projekt Gott in der Großstadt zu erneutem und erneuertem kirchlichem Bewusstsein beigetragen und es das kirchliche Strategiedenken vorangetrieben hat. Er erinnert daran, dass die Kirche Stadtentwicklung als priorisierte Aufgabe sehen muss und den jeweiligen Ort, historisch wie auch aktuell, als sich stetig verändernden Ort verstehen lernen muss, um sich darauf aufbauend weiterentwickeln zu können. Es gehört dazu, sich in Diskussionen und Gespräche um Stadtentwicklung, wie zum Beispiel das Groruddal-Aktionsprojekt, einzubringen, und dazu muss die kirchliche Kompetenz auf diesem Feld gefördert werden. Dabei ist darauf zu achten, dass der Stadtbegriff nicht zu eng gefasst wird. ,Trends und Tendenzen der Großstadt‘, ein Rapport des Projekts Gott in der Großstadt, nannte zum Beispiel Flexibilität und Mobilität, aber diese Begriffe müssen an den vielen, unterschiedlichen und vielschichtigen Orten der Großstadt geerdet werden. Zu diesen Vielschichtigkeiten gehört auch, dass der Religionsbegriff sich nicht einfach ergibt, denn Religion und Kultur sind (auch) Begriffe, die auf das Fremde und eine mögliche Konfrontation mit dem Fremden hinweisen, die nicht per se abzuweisen oder negativ zu bewerten ist, deren kreatives und schaffendes Potenzial vielmehr zu heben ist. Aufgabe der Kirche ist es, am und vor Ort Räume und Möglichkeiten der Begegnung zu schaffen und für sich zu entdecken, dass die stete Veränderung Kreativität freisetzen kann. Es geht darum, mit dabei zu sein den Ort in Besitz zu nehmen. Vorläufige Fokussierung: Die gemeinsame Identität am vielfältigen Ort als Aufgabe der Kirche Die Kirche muss sich in das Leben, in die Gespräche vor Ort und in die Stadtentwicklung einbringen. Sie muss durch ihre vielfältigen und lokalen Angebote Begegnungsräume schaffen und muss Potenziale, die sich aus den, auch potenziell konfrontativen, Begegnungen mit Anderen und mit dem Fremden ergeben, heben. Auf diese Weise kann die Kirche ihrer grundlegenden Aufgabe, am vielfältigen und fluiden Ort an einer gemeinsamen Identität für alle mitzuarbeiten, nachkommen.

8 Impulse zu erneuerter Ekklesiologie 8.1 Die Uneindeutigkeit des Ortes und die reflektierte Rolle der involvierten Subjekte Ausgangspunkt für die Darstellung, Reihenfolge, Erörterung und Analyse der Leitfadeninterviews war die Frage nach dem Verhältnis zwischen der wahrgenommenen Vielstimmigkeit und der produktiven Uneindeutigkeit des Ortes und der reflektierten Rolle der involvierten Subjekte. Aus dieser Ausgangsfrage wurden Folgefragen abgeleitet, wie etwa die Fragen, welchen Ort meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner annehmen, sich denken, wünschen und konstituieren, wie sie die Rolle der – immer schon – involvierten Subjekte reflektieren und wie sie über Subjekte am Ort, vor Ort und in der Kirche und im Gottesdienst nachdenken. Die nun folgenden Analyseschritte sind als Weiterführung einer Mehrschrittigkeit gedacht.1 Es folgen weitere Durchgänge durch das empirische Material; auch diese verstehen sich als Konkretisierungen des je Besonderen und eben immer als vorläufig abgeschlossen. Ein derart gestalteter Forschungsprozess will einladen zu sehen, dass die Ansatzpunkte im professionellen Alltag, in einem multikulturellen und verschiedenartig-vielfältigen Umfeld und eine (kirchliche und religiöse) Praxis nicht einfach durch von außen eingeführte Normen ausgespielt werden sollten. Dies schließt meine eigenen, ebenfalls als normativ zu verstehende, Interessen, Annäherungen und Vorverständnisse ein. Diese sind ihrerseits nicht ohne meinen Blick über die (eigenen) kirchlichen Grenzen hinweg, ohne das aktive Spielen mit meiner deutschen Herkunft und einer fachlichen Anbindung in der Forschungswerkstatt Empirische Theologie in Frankfurt zu eruieren. Auf diese Weise sind die weiteren Durchgänge auch Einladung, Valenzen, sowohl durch interkulturelle Aus- und Einsichten als auch aufgrund einer Internationalisierung der Forschungsperspektiven, aufzuspüren, ohne dabei zu postulieren, dass die angesprochenen Aspekte singulärer Art sind. Sie lassen sich an allen Orten auffinden und entdecken: „Um es auf den Punkt zu bringen: kulturelle Identität ist immer schon interkulturell.“2 Ich bin also, als Forschersubjekt, immer in Verhandlungen, in Abgrenzungen und in kulturelle Differenzierungen eingebunden. Die Hoffnung ist dann, ebenso Risse, Ab1 Vgl. 7.3.2. 2 Gruber, Judith, Theologie nach dem Cultural Turn. Interkulturalität als theologische Ressource, ReligionsKulturen 12, Stuttgart 2013, 125.

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grenzungen und Abhängigkeiten zwischen (den Orten und Räumen von) Praxis und Wissenschaft sichtbar zu machen und die daraus resultierende Unsicherheit als forschungslogischen Impuls sichern. Ziel der Analyse der Interviews und der aus ihnen gewonnen vorläufigen Fokussierungen ist nicht zu eindeutigen und allgemeingültigen Antworten zu kommen, sondern die inter- und intradisziplinäre und intersubjektive Vermittlungsfähigkeit der Ergebnisse zu sichern und „normativ relevante Wahrnehmungen zu inspirieren“3.

8.1.1 Flexible Annäherungen und Reflexionen – Die reflektierte Rolle der involvierten Subjekte Wenn ich versuche darzustellen, wie sich meiner Wahrnehmung nach meine Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen zum Ort verhalten, wie flexibel sie ihre Annäherung an die Mehr-Perspektivität des Ortes gestalten und diese reflektieren und setze ich dies in ein Verhältnis zu ihrer Reflexion der Rolle der involvierten Subjekte, komme ich zu folgender, schematisch vereinfachender Grafik.

Abbildung 2

Die Grafik sei am Fall Harald kurz erläutert: Für Harald scheint mir, dass er Gemeinde als plurale Gottesdienst-Gemeinschaft versteht. Er rechnet mit den involvierten Subjekten und reflektiert ihre Rolle innerhalb dieser Pluralität. 3 Heimbrock, Hans-Günter/Meyer, Peter, Theologie – ein Modell der Wahrnehmung des Anderen, in: Heimbrock, Hans-Günter/Wyller, Trygve (Hg.), Den anderen wahrnehmen. Fallstudien und Theorien für respektvolles Handeln, unter Mitarbeit von Peter Meyer, Göttingen 2010, 227–238, 238.

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Gleichzeitig nehme ich seine Annäherung an den Ort als eher unterbestimmt wahr, er charakterisiert den Ort einer seiner Gemeinden kurz mit Hinweisen auf den beginnenden Ausbau einer Trabantenstadt, nimmt aber die MehrPerspektivität des Ortes nicht reflektiert, als in Zusammenhang mit der Pluralität seiner letztlich geschlossenen pluralen Gottesdienst-Gemeinschaft, wahr. In meiner Interpretation ordne ich die Interviews entlang der x-Achse an; je weiter rechts, desto deutlicher und intensiver wird die Rolle der involvierten Subjekte reflektiert. Ebenso ordne ich die Interviews entlang der y-Achse an. In meiner Interpretation zeigt sich: Je weiter oben, desto eingehender, offener und flexibler nähern sich meine Gesprächspartner und -partnerinnen dem Ort und seiner Mehr-Perspektivität. Die Grafik unterstützt sodann meine Annahme eines produktiven Wechselspiels: Je flexibler die Mehr-Perspektivität des Ortes wahrgenommen wird, desto mehr wird die Rolle der involvierten Subjekte reflektiert. Und: Je mehr die Rolle der involvierten Subjekte reflektiert wird, desto flexibler wird die Mehr-Perspektivität des Ortes wahrgenommen. In einem weiteren Schritt will ich zeigen, dass die Leitfadeninterviews und deren vorläufige Fokussierungen dahin gehend gelesen werden können, dass das Wechselspiel zwischen einer flexiblen Wahrnehmung des vielstimmigen Ortes und einer reflektierten Rolle der involvierten Subjekte entscheidend für die Bewegung hin zu einer alltagsnahen Wahrnehmung und Gestaltung sowohl der Reform des gottesdienstlichen Lebens (Liturgische Form) als auch der (Volks-)Kirche ist. Dazu entwerfe ich eine zweite Grafik: Ich behalte die x-Achse zur Kennzeichnung der reflektierten Rolle der involvierten Subjekte bei. Auf der yAchse trage ich ein, wie sich, in meinem Erfassen und Empfinden, das Ansetzen und die Reflexion der Offenheit der (Volks-)Kirche und der Liturgischen Form durch meine Interviewpartnerinnen und -partner darstellt. Meine Annahme eines produktiven Wechselspiels will ich an dieser Stelle wiederholen: Je offener (Volks-)Kirche und Liturgische Form gedacht und reflektiert werden, desto mehr wird die Rolle der involvierten Subjekte reflektiert. Und: Je mehr die Rolle der involvierten Subjekte reflektiert wird, desto offener werden (Volks-)Kirche und Liturgische Form gedacht. Nicht ohne Grund ist im Zusammenhang mit der ersten Grafik der Fall Harald genannt, hier lohnt es sich, kurz auf den Fall Tomas und auf den Fall Ester einzugehen, denn diese zeigen die Begrenzungen einer grafischen, und damit modellhaften, Darstellung. In meiner Interpretation macht Tomas sich zum Fürsprecher einer einheitlichen Liturgie, gleichzeitig unterstreicht er die Offenheit der lokalen Angebote der Kirche. Ester ist es wichtig, dass der Gottesdienst nicht im Alltag aufgeht, gleichzeitig ist die Kirche Kirche der Menschen. Lebensweltliche Forschung geht so keineswegs in Modellen auf

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Abbildung 3

und macht dies immer wieder deutlich. Die Stärke dieses Ausgangspunktes ist es, die Unterschiede und die vermeintlichen Unstimmigkeiten anzuerkennen und produktiv nutzen zu wollen. Im Weiteren soll ein Schritt zurück getan werden, denn im Durchgang durch die Analysen der je wahrgenommenen und erklärten, von den Gesprächspartnerinnen und -partnern dargestellten Wirklichkeit entspinnt sich, dass diese ihrerseits immer wieder auf unterschiedliche Normen zurückgreifen. Dies soll expliziert werden, indem aufgezeigt wird, auf welche Weise die Analysen sich als anschlussfähig an die Bearbeitungen der Basis und des Anhaltspunktes der Studie in einer Empirischen Liturgiewissenschaft und der historisch-systematischen Problemhorizonte erweisen. Dabei kann es gerade nicht darum gehen, Modelle in ihrer Vollständigkeit und gesamten Breite abzufragen, die Fälle durch Rückschluss an Modelle und Konzeptionen zuzuordnen und somit im Sinne eines Modells zu definieren. Vielmehr geht es darum, Linien aufzuzeigen und auszuziehen, die historisch-systematischen Problemhorizonte als Orientierungsmarken ernst zu nehmen, um das Verstehen weiter voranzubringen, eingedenk dessen, dass meine Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen sich präsentieren, etwas, sich, und dies ganz gewiss in unterschiedlichem Ausmaß und Umfang, profilieren wollen, und dass sie mit der Art und Weise ihres Antwortens, Nachdenkens und Räsonierens gleichfalls eigene Ziele verfolgen. Es ist also nicht vom Modellhaften deduktiv auszugehen, sondern das Mit- und Ineinander von Induktion, Interviews, Beobachtungen, Wahrnehmungen und Abduktion steht im Vordergrund. In diesem Sinne sind die Rückgriffe als Teil der Verifizierung, Bestätigung und Vergewisserung zu sehen, immer mit dem Ziel des besseren und adäquateren Verstehens vor Augen.

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8.1.2 Rückgriffe, Rückverweise und ein weiterer Analyseschritt Die Studie Michael H. Duceys4 wurde eingangs eingeführt und an dieser Stelle soll seine Unterscheidung zwischen mass ritual und interaction ritual, die er empirisch begründet, aufgegriffen werden, denn sie verspricht einen erhellenden Blick auf die geführten Interviews. Dabei werden keine exakten Zuordnungen behauptet, es geht aufs Ganze gesehen eher um Richtungsanzeigen. Ducey bescheinigt dem mass ritual, dass es konsolidierend und bekräftigend in die Kirche hinein wirken will, es kennt traditionelle Grenzziehungen, ist eher hierarchisch und von oben her gesteuert. In meiner Interpretation gehen diese Faktoren mit den Erträgen zusammen, die ich in einer Gruppe von Interviews, in den Fällen Helga, Georg, Jesuthasan, Harald und Jonas, finde. Helga spricht vom kulturstabilisierenden Gottesdienst, Georg bezieht sich auf „das Lutherische“, um das Eigene am sich wandelnden Ort zu wahren, für Jesuthasan ist das Innen der Gemeinde wichtig, gerade in Abgrenzung vom doch herausfordernden Ort und den schwierigen Verhältnissen, Harald zieht sich mehr oder weniger vom Ort zurück und bei Jonas wird der Ort unter strategischen Gesichtspunkten betrachtet, in der Kirche gilt die Maxime der Mission, sodass das innere Wertegefüge nicht berührt wird oder aufgrund äußerer Verhältnisse in Unruhe kommt. Eine weitere Gruppe von Interviews nimmt, in meiner Interpretation, Merkmale des interaction ritual auf. Dies sind die Fälle Solveig, Agneta, Henriette und Roger. Sie unterstreichen Offenheit dem Ort und den Verhältnissen des Ortes gegenüber, sehen, dass der latent belief eine Rolle aufseiten der involvierten Subjekte spielt/spielen kann und sie sind daran interessiert, den Gottesdienst, die Liturgische Form, zu enthierarchisieren und die Menschen vor Ort zu involvieren.5 Dabei soll nicht übergangen werden, dass alle meine Interviewpartner und Interviewpartnerinnen deutlich sehen, dass sie in Zeiten der Veränderung und des Umbruchs leben. Sie stehen in ihrem Nachdenken einer verstärkten Subjektfokussierung, wie sie sich in der sich weiterentwickelnden empirischen Liturgiewissenschaft mehr und mehr Bahn bricht, keineswegs fremd gegenüber. Es lassen sich in diesen unterschiedlichen Gesprächen Erinne4 Vgl. Ducey, Michael H., Sunday Morning. Aspects of Urban Ritual, New York 1977. 5 Ducey bemerkt, dass das mass ritual oftmals von den Experten, Theologinnen, Pfarrern und Pastorinnen unterstützt wird, dies ist in meinen Interviews nicht deutlich. Folgte man dieser einfachen Zuweisung, so stünden sich Helga und Georg und Henriette und Roger gegenüber. Gleichzeitig: Auf die Norwegische Kirche gesehen hat Ducey recht, einer der Kritikpunkte an der Reform des gottesdienstlichen Lebens war gerade die Sorge, dass fachlichem Wissen, in den Prozessen hin zu einer gemeindlichen Grundordnung, nicht genügend Gewicht beigemessen wird. Vgl. Ducey, Sunday Morning, 144 f. Vgl. 6.3.2.

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rungen an ganz unterschiedliche Konzeptionen und Ansätze, die oben dargestellt und analysiert wurden, vernehmen. Gleichwohl wird dies auffällig unterschiedlich artikuliert und profiliert. Helga und Georg verbleiben beim Eigenen, zielen auf das Eigene, auf die Optimierung des Eigenen, Stichworte wie überkommene Ordnung, Struktur, Tradition und Bekenntnis spielen eine größere Rolle als die Reflexion der involvierten Subjekte und deren (ortsgebundenes) Erleben. Ähnlich verhält es sich beim vom Ort gelösten Gottesdienst und Gewöhnungsbegriff, den Jesuthasan einspielt. Jesuthasan weiß um gesellschaftliche Konventionen, die die Einzelnen in ihrem Verhältnis zur Liturgischen Form und zur (Volks-)Kirche prägen, er scheint sie aber letztlich nicht anzuerkennen. Harald und Jonas machen eine andere Haltung deutlich, beide nehmen offensichtlicher eine vorherrschende Pluralität wahr, wollen diese moderiert wissen, und doch bleibt der Handlungsraum der involvierten Subjekte begrenzt und wird bei Jonas zudem stärker zielgerichtet-strategisch ein- und ausgerichtet.6 Solveig, Agneta, Henriette und Roger scheinen mir Affinität zu Achim Knechts Formulierung und Fokussierung, dass es beim „Erlebnis […] in besonderer Weise um das je eigene Leben“7 geht, aufzuweisen. In meiner Wahrnehmung sind die vier genannten Personen, auf je ihre Weise, diesem Verhältnis zum ,je eigenen Leben‘ auf der Spur, und Erlebnis erweist sich mir, im Sinne Knechts, als ein „nichtexakter Begriff“. Bei Solveig ist Erleben und Erlebnis fragil, kann durch Bemerkungen und Kommentare anderer leicht geschädigt werden, bei Agneta findet es sich im Teilen persönlicher Erfahrungen im Gottesdienst, im Erleben von Gemeinschaft, sie rekurriert auf Erfahrungen aus ihrer schwedischen Gemeinde. Henriette kommt im Gottesdienst nach Hause, und sie will doch auf die Menschen hören, die Arbeit mit Gottesdienst erfordert Einigkeit und Kompromiss, das ergibt sich nicht von allein. Für Roger ist der Gottesdienst „der Gottesdienst der Gemeinde“, aber, exemplifiziert am Predigterlebnis, dieser ist nicht planbar, sondern kann auch überraschen, sein eigenes Erleben trifft auf das Erleben der Anderen. Die Arbeit mit und das Erleben von Gottesdienst und Liturgie ist so für diese Fälle (Solveig, Agneta, Henriette und Roger) deutlicher an eine (diskursive) Gemeinschaft von Menschen gebunden. Rückführbar ist diese Gemeinschaft unter Umständen an Andrea Bielers Konzeption des Gottesdienstes im Zwischenraum8 – sowohl wahrnehmend, dass die Menschen 6 Es soll hier, verkürzend, an Gedanken, Ideen und Entwicklungen erinnert werden, die mit den Namen Manfred Josuttis, Kari Veiteberg, Uta Pohl-Patalong, Gunfrid Ljones Øierud und Elisabeth Tveito Johnsen verbunden werden können. Vgl. 3.2.3; 3.3.1; 3.3.2. 7 Knecht, Achim, Erlebnis Gottesdienst. Zur Rehabilitierung der Kategorie „Erlebnis“ für Theorie und Praxis des Gottesdienstes, Leipzig 2014, 150. 8 Vgl. Bieler, Andrea, Gottesdienst interkulturell. Predigen und Gottesdienst feiern im Zwischenraum, Christentum heute 9, Stuttgart 2008. Grundsätzlich liegen diese vier wohl auch auf einer Linie mit dem Impuls Ute Grümbels, die Gottesdienstteilnehmenden nicht als Objekte, sondern als Subjekte wahrzunehmen und in ein Gespräch einzusteigen. Vgl. Grümbel, Ute, „Für euch

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unterschiedliche Vorstellungen mit in den Gottesdienst hineinbringen, als auch sehend, dass diese durch die Gegebenheiten vor Ort beeinflusst sind, dass es darum geht Unterschiede anzuerkennen, zu benennen, aber auch auszuhalten. Solveig nennt die Figur des Missionars – und verändert sie dahingehend, dass derjenige, der als Missionar ins Groruddal kommt, für das Multikulturelle offen sein muss, es als unhintergehbar anerkennen muss und gerade dieses Setting sollte den Gottesdienst, so Solveig, prägen. Agneta will neue Arenen erschließen und lehnt die Pastorin als Missionarin ab, Henriette arbeitet sich am Ideal der Repräsentativität für ihren Gottesdienstausschuss ab und Roger will den Gottesdienst für die Menschen am Ort zugänglich machen, öffnen, er fragt, was sie sich für den Gottesdienst wünschen. Der Blick auf die Gemeinschaft um den Gottesdienst herum weitete sich im vierten Teil der eigenen Studie. Unter der Überschrift Kultur (im Wandel) wurden verschiedene Konzeptionen untersucht, die sich mit dem Verhältnis der Kirche und der Theologie zur Stadt auseinandersetzen. In aller Kürze sollen einige Rückbezüge versucht werden. Graham Ward9 zeichnet aus, dass er eine Vielzahl von Diskursen in den Blick nimmt, Vielfalt und Vielschichtigkeit der Stadt benennt. Er beobachtet und analysiert – und lehnt am Ende die Stadt ab, die er beobachtet und analysiert. Dagegen macht er eine Kirche stark, die Partizipation am gebrochenen Körper Jesu, der letztlich alle und alles umschließt, ermöglicht. Jesuthasan und Jonas wissen um die vielstimmige Stadt, aber auch sie lehnen sie in gewisser Weise ab. Für Jesuthasan ist die Stadt „Tradition“ – ich höre: Entleertes, Unechtes, das der Fundierung entbehrt. Das, was gedacht, erwünscht und erhofft wird, ist letztlich für Jesuthasan nicht von Interesse. Bei Jonas kann sich Partizipation, im rechten Sinne, erst durch Mission und Teilhabe am Leben in Gemeinschaft mit Jesus einstellen. Die dogmatische Grundierung ist und bleibt intakt, bei aller Offenheit für kulturelle Phänomene, bei aller Gewissheit, dass die Menschen vor Ort auf Religion hin ansprechbar sind. Anders gestaltet sich dies bei Roger und Tomas. Beide sind daran interessiert, dass die Kirche sich einbringt. Rogers Motivation ist, „etwas Gutes für die Gesellschaft zu tun“, Kirche kann keine „Oase“ sein, muss sich verpflichten, „Teil einer Gemeinschaft“ zu sein. Tomas bezeichnet es als die „große Unterlassungssünde“, dass weder Bistum noch Gemeinden sich in das Groruddal-Aktionsprojekt hinein engagiert haben, und er will an einer Identität für alle im Groruddal mitarbeiten. Auf dieser Linie würde ich auch die Fälle Solveig, Agneta und Henriette sehen. Diesen genannten Fällen ist gemein, dass ausgesprochen wird, dass gegeben“? Erfahrungen und Ansichten von Frauen und Männern. Anfragen an Theologie und Kirche, AzTh 85, Stuttgart 1997. 9 Vgl. Ward, Graham, Cities of God, Radical Orthodoxy, London-New York 2000.

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Kirche sich – hier als im Anschluss an Seppo Kjellberg10 gesehen – ebenfalls in nicht-theologische Dialoge einbringen muss, in der Situation des raadollisuus und mittels des Kriteriums der emancipatory koinonia. In diesen Fällen begegnet Kirche als eine wichtige Akteurin neben anderen, die das Ziel einer gerechten (und in jedem Fall in nuce) nachhaltigen Stadt, die das Ziel der Gerechtigkeit und Emanzipation aller vor Augen hat, sich aber immer der Unabgeschlossenheit und Vorläufig- und Brüchigkeit der geführten Dialoge bewusst ist, die den Willen hat, die Subjekte des immanenten Lebens ernst zu nehmen und die dabei riskiert, dass Normen und Normengrundlage sich durch Gespräche mit Anderen verändern. Auf diese Weise mache ich eine Nähe zu Wolfgang Grünbergs Ansatz aus, vor Ort und in praxi nach dem genius loci zu fragen.11 Solveig, Agneta, Henriette, Roger und Tomas zeigen direktes Interesse am Ort, und vielleicht ist Ester ganz nah dran, am genius loci, dadurch, dass sie Gedächtnis des Ortes ist. Ester will die Stabilität der Kirche nicht missen, ist aber doch offen und weiß um Veränderungen. Esters Kirche, vielleicht gerade Solveigs, Agnetas, Henriettes und Rogers Kirchen sind, im grünbergschen Sinne, Lesehilfe den Ort, die Orte, zu verstehen und weiter gestalten zu können. Sie verbinden auf diese Weise, ohne sie zu verquicken (und damit auf der Linie Grünbergs), Gemeindeaufbau und Gemeinwesenarbeit. Grünberg will, mit Johann Baptist Metz, Religion als ,heilsame Unterbrechung‘ und ,gefährliche Erinnerung‘ profilieren. Davon sind, in meiner Interpretation, Georg, Jesuthasan und Jonas, vielleicht auch Harald, ein Stück weit entfernt, denn diese ziehen sich doch letztlich viel mehr vom Ort zurück. Georgs, Jesuthasans und Jonas’ am Ort-Sein trägt Züge von Behauptung am Ort. Ich verstehe dies mehr als Statement am Ort, nicht als Engagement für den Ort. Es braucht, mit Grünberg, Solveig und Agneta wissen das, bei Jonas klingt es zumindest als Hintergrund an, die religiösen Symbole und Ausdrücke der Anderen. Wo Georg vom innerchristlichen ,Bruderrat‘ spricht, weitet Agneta den Blick, sieht eine interreligiöse Arbeitsgruppe vor sich, in der die Norwegische Kirche, auf lokalem Niveau, als gleichberechtigte Partnerin Verantwortung übernimmt. Das alles mündet nicht einfach in ein Kirchenmodell, meine Interviewpartner und Interviewpartnerinnen lassen sich gewiss nicht einfach einem der Modelle oder Ansätze des fünften Teiles ((Volks-)Kirche) zuordnen. Es soll an zwei Traditionslinien der Theorie erinnert werden, die Dag Myhre-Nielsen12 herausarbeitet. Erstere verbleibt bei einer Objektrolle der Subjekte und führt von Johan Hinrich Wichern über Gisle Christian Johnson, 10 Vgl. Kjellberg, Seppo, Urban Ecotheology, Utrecht 2000. 11 Vgl. Grünberg, Wolfgang, Die Sprache der Stadt. Skizzen zur Großstadtkirche, Leipzig 2004. 12 Myhre-Nielsen, Dag, En hellig og ganske alminnelig kirke. Teologiske aspekter ved kirkens identitet i samfunnet, KIFO Perspektiv 4, Trondheim 1998.

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Gustav Jensen und Gabriel Skagestad zu Olav Skjevesland. Die zweite stärkt die Rolle der Subjekte und führt von Friedrich D.E. Schleiermacher über Mikael Hertzberg und Per Juvkam zu Inge Lønning. In aller Vorsichtigkeit scheint es möglich zu sehen, dass diese Traditionslinien sich im Interviewmaterial wiederfinden lassen. Dabei geht es mir um Tendenzen, um den Verweis auf Logiken, ohne behaupten zu wollen, dass eine konkrete Zuordnung möglich oder sinnvoll erscheint. Mir scheint es offensichtlich, dass eine wenig reflektierte Rolle der involvierten Subjekte die (Volks-)Kirche in den Raum des Gottesdienstes und der eher geschlossenen Gemeinschaft zurückdrängt und diese ortsunabhängig entworfen wird. Myhre-Nielsens Anliegen ist ein anderes, er will aus dem Gottesdienst heraus, aus einem Verständnis der Sakramente als sowohl spezifisch christlich (Offenbarung) als auch als allgemein-menschlich (Wasser, Brot, Wein), die Rolle der Subjekte deutlicher reflektieren, will die Subjekte und die Subjekte der Kirche, durch den Rekurs auf die Berufung, als in die Gesellschaft gestellt wissen. Die Fälle Solveig, Agneta, Henriette, Roger und Tomas nehmen diese Bewegung, gleichsam aus der Kirche heraus, auf, erweisen sich als anschlussfähig an die von Myhre-Nielsen favorisierten leiblich vermittelten Formen von Kirche. Agneta spricht sehr deutlich vom Teilen aus dem Gottesdienst in die sozialen Formen vor Ort hinein. Solveig kennt ein ,Sowohl-Als-Auch‘, das von der Möglichkeit des Rückzugs und der Öffnung lebt. Henriette erlebt die Menschen als inkludierend, will sie zum Gottesdienst hören, Roger kommt wieder und wieder auf seine Predigterfahrung zurück, die, angesichts der bevorstehenden Fusion, Tradition, Gemeinde und Ort miteinander verbindet, ohne die Menschen aus dem Blick zu verlieren. Tomas legt der Kirche die Aufgabe nahe, Räume und Möglichkeiten vor Ort zu schaffen, die der vielstimmigen Kreativität des vielfältigen Ortes offenstehen. Auf diese Weise, so meine Analyse, lassen die Fälle Solveig, Agneta, Henriette, Roger und Tomas, durch ihre Bewegung in die (lokale) Gesellschaft hinein, einen Rückgriff auf Sevat Lappegard13 zu. Lappegard stellt seine Volkskirchentheologie als ein Netz von Verbindungslinien in der Gesellschaft, vornehmlich zwischen den Institutionen der Gesellschaft, dar. Religion ist bei Lappegard soziales Phänomen, die Volkskirche lebt vom gemeinsamen Handeln vor Ort, in Relationen, die immer Veränderungen unterworfen sind, ist Teil des Netzes. Bei aller unterschiedlichen Gewichtung der Kirche oder der Gemeinde als Institution, so erscheinen mir die genannten Fälle daraufhin ansprechbar, dass ausdrücklich an dieses Netz vor Ort angeknüpft und es weitergeknüpft wird. Im Fall Georg hingegen entdecke ich ein eher interchristliches, interkonfessionelles Netz, als ein Netz neben anderen Netzen, die Georg sehr wohl wahrnimmt und sieht. Und bei Jonas, so erlebe ich ihn, 13 Vgl. Lappegard, Sevat, Folkekyrkjeteologi, in: Sandvik, Bjørn (Hg.), Folkekirken – Status og strategier, Presteforeningens studiebibliotek 29, Oslo 1988, 107–131.

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werden Kirche und Gemeinde als Teil des Netzes gesehen, aber doch als eigener, vielleicht: abgrenzbarer, Teil des Netzes verstanden. Auffällig und bemerkenswert ist mir, dass keiner meiner Gesprächspartner und keine meiner Gesprächspartnerinnen Harald Hegstad und sein Modell von ,Volkskirche‘ und ,Glaubensgemeinschaft‘ nennt.14 Ohne Frage kennen Helga, Georg, Henriette, Roger, Tomas, vielleicht Harald, dieses Modell, das die Diskussionen in der Norwegischen Kirche stark prägt. Mir unverkennbar gehen Helga, Georg, Jesuthasan, Harald und Jonas von einer Dichotomie aus, die Ähnlichkeiten zu Hegstads Unterscheidung aufweist. Der Gottesdienst und die Kirche werden von den Aktiven, von der koinonia, der engeren Gemeinschaft, verstanden als ,Kerngemeinde‘, getragen, die, in Hegstads Worten, Menschen helfen kann, „aktivere Christen/Christinnen zu werden“15. Diese Kirche muss ihr Zentrum stärken,16 und bedient sich im Inneren einer ,weichen Normativität‘17, dabei bleibt die Zielsetzung die ,Verdichtung‘18. Diese Fälle teilen, meiner Deutung nach, die Herausforderung, dass der Subjektbegriff schnell vernachlässigt wird und eine Bewegung in das ,Innere‘ der Kirche gesucht wird, die blind für den Ort und den genius loci ist. Gleichzeitig interpretiere ich die Ideen und Ansätze, die in den Fällen Henriette und Roger artikuliert werden, auch aus dem Kontext und meinem Vorverständnis heraus, als durchaus bewusste Alternative zu Hegstads Modell. Ohne Frage, in diesem Spiel der Rückverweise und Rückgriffe gibt es keine unmittelbaren Eindeutigkeiten. Wie oben angeführt, so sind Gemeinschaft und Gemeinschaft im und um den Gottesdienst herum ebenfalls für Ester, Solveig, Agneta, Henriette und Roger von Bedeutung. Als entscheidend deute ich aber, dass diese keine geschlossenen, keine abgeschlossenen, endgültigabschließend definierten Gemeinschaften markieren. Die (Gottesdienst-)Gemeinschaft, mit Hans-Richard Reuter, versichert Kirche, begrenzt aber nicht Kirche. Kirche ist ,darstellende Handlungsgemeinschaft‘, aus dem Gottesdienst heraus in der Gesellschaft präsent und aktiv.19 14 Vgl. Hegstad, Harald, Folkekirke og trosfellesskap. Et kirkesosiologisk og ekklesiologisk grunnproblem belyst gjennom en undersøkelse av tre norske lokalmenigheter, KIFO Perspektiv 1, Trondheim 1996. 15 Hegstad, Harald, Kirke i forandring. Fellesskap, tilhørighet og mangfold i Den norske kirke, Oslo 1999, 115. 16 Vgl. Hegstad, Harald, Den virkelige kirke. Bidrag til ekklesiologien, KIFO Perspektiv 19, Trondheim 2009, 102. 17 Vgl. Hegstad, Harald, Menighetsutvikling i folkekirken. Grunnlag og form l, in: Birkedal, Erling/Hegstad, Harald/Lannem, Turid Skorpe (Hg.), Menighetsutvikling i folkekirken. Erfaringer og muligheter, Prismet bok 5, Oslo 2012, 9–23, 18. 18 Vgl. Hegstad, Menighetsutvikling i folkekirken, 21. 19 Vgl. Reuter, Hans-Richard, Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht, in: Reuter, Hans-

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Die Rückverweise und Rückgriffe sollen an dieser Stelle keineswegs überstrapaziert werden, dennoch sollen weitere Blitzlichter kurz erwähnt werden. Es soll an Jan Hermelinks Inszenierungsbegriff erinnert werden, nicht in der Gänze seiner theoretischen Voraussetzungen aus dem Gottesdienst heraus, aber doch als Überschreitung, das christliche Leben wird im Kontext vielfältiger Ordnungsvorgaben inszeniert – jedoch so, dass diese Vorgaben auf je individuelle Weise angeeignet und überschritten werden. Auch diese einmaligen, flüchtigen Inszenierungen des Glaubens sind praktisch-theologisch zur Gestalt der Kirche zu rechnen20.

Solveig schließt den Teil des Interviews, der von ihren Berufserfahrungen handelt, mit dem Satz „aber es ist ja gerade da, wo die Kirche ist“ ab. Es erfüllt sie mit Stolz, wenn Kollegen und Kolleginnen ihre Gemeinde positiv erwähnen – eine flüchtige Inszenierung, gesichert und ermöglicht durch die Gottesdienstgemeinschaft, vom ,Sowohl-als-Auch‘. Agneta berichtet von Engagement nach den Anschlägen auf das Osloer Regierungsviertel und auf die Insel Utøya vom 22. Juli 2011, drängt auf interreligiöse Initiativen vor Ort, Tomas will die Kirche als Arena der Begegnung sehen, Roger drängt in die Gesellschaft hinein, will die Menschen als Teil einer Gemeinschaft in den Lokalmilieus verstehen, will bewusst machen, dass die Stimmen der Menschen in der Kirche zu hören sind – und er erwähnt das Gebet. Zum Teil kleine, womöglich auf den ersten Blick unscheinbare, nicht unbedingt öffentliche, Ausdrücke und Bezeugungen, oder eben: Inszenierungen. Volkskirche ist, so darf aus dem Vorhergehenden und (wiederholt) mit Kristian Fechtner gefolgert werden, nicht eine Feststellung, sondern [stellt] eine bestimmte Wahrnehmungsweise des kirchlichen Christentums in der Lebenswelt der Spätmoderne [dar]21.

Zu dieser Wahrnehmung, so verstehe ich sowohl Solveig, Agneta, Henriette, Roger als auch Tomas, gehört es, dass, mit Christoph Sigrist, weder ,Gemeinde‘ noch ,sozialer Nahraum‘ exakt definierbare Begriffe sind, und es wäre durchaus möglich, hier das Motiv der diakonalen Gemeinde sowie das Leitmotiv der Diversität stark zu machen.22 Richard, Botschaft und Ordnung. Beiträge zur Kirchentheorie, Öffentliche Theologie 22, Leipzig 2009, 13–55, 42 ff. 20 Hermelink, Jan, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens. Eine praktisch-theologische Theorie der evangelischen Kirche, Gütersloh 2011, 122. 21 Fechtner, Kristian, Volkskirche, in: Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.), Handbuch für Kirchenund Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 161–168, 161. 22 Vgl. Sigrist, Christoph, Gemeinde im sozialen Nahraum, in: Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 327–335; Eurich, Johannes, Diakonie als kirchlicher Ort in der Gesellschaft, in: Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 261–268; Schulz, Claudia, Sozialstrukturelle Vielfalt, Lebensstile und Milieus. Wahrnehmung von Di-

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Als kritisch-summierender Zwischenschritt: In der Zwischenbilanz zum historisch-systematischen Problemhorizont Kultur (im Wandel) wurde gesehen, dass die eigene Studie, mit ihrem Fokus auf den Blick von unten, bekräftigt wurde. Die Frage nach den involvierten Subjekten und ihren Wahrnehmungen und Deutungen von Ort, Religion, Ritual und Kirche wurde als entscheidend angesehen, gerade um Geschlossenheit und Abgeschlossenheit von Modellen und Konzeptionen zu verhindern. Dieses Anliegen wurde mit in die Bearbeitung des historisch-systematischen Problemhorizontes (Volks-)Kirche hineingenommen. Die Zwischenbilanz zu diesem Teil konstatiert, dass die Absicht, der Subjektperspektive Gewicht beizumessen, befördert wird, dass jedoch gleichzeitig festzuhalten bleibt, dass diese leicht, einer Modellierung, Handhabbarkeit und vermeintlichen Übertragbarkeit halber, vernachlässigt wird. Die Herausforderung, die die vorliegende Studie angenommen hat, ist, die Uneindeutigkeit der Gemeinde, der (Volks-)Kirche und des Ortes, aus der Sicht der Subjekte, produktiv in Anschlag zu bringen. Im Durchgang durch die Rückgriffe und Rückverweise habe ich mehrfach Fälle in Cluster zusammengefasst. Dies nicht, um die Fälle vorschnell abzuschließen und Unterschiede vorschnell einzuebnen, sondern um Ähnlichkeiten und Verwandtschaften in Denkweisen und Konzeptionierungen herausstellen zu können. Werden diese Cluster, unter der Maßgabe der Bestätigung und Vergewisserung und mit dem Ziel des besseren Verstehens, mit den von mir in Anschluss an die Analysen der Leitfadeninterviews angefertigten Grafiken zusammengehalten, so zeigt sich, dass diese gut zusammengehen. In meiner konstruktiv-produktiven Deutung beziehen sich die Fälle Helga, Georg, Jesuthasan, Harald und Jonas (keineswegs ausschließlich!) auf gemeinsam geteilte Normen und Vorstellungen vom Ort, von einer Kultur (im Wandel) und von der (Volks-)Kirche. Diese Größen erscheinen mir modellhaft und mehr oder weniger abgeschlossen, es gibt ein deutliches Gegenüber und Nebeneinander von (Volks-)Kirche, Liturgischer Form und Kultur (im Wandel). Die Fälle Solveig, Agneta, Henriette und Roger teilen eine offenere Annäherung an die (Volks-)Kirche, an die Liturgische Form und an eine Kultur (im Wandel). Grenzziehungen erscheinen mir in diesen Fällen nicht ausgeprägt, aber durchaus vorhanden, die Rolle der involvierten Subjekte wird deutlicher reflektiert. Es zeigt sich dann gleichzeitig, dass ich die Fälle Kaja, Ester und Tomas für sich stehen lasse, denn sie dürfen in ihrer Einzigartigkeit nicht aufgegeben werden. Darauf wird zurückzukommen sein. versität als Leitkategorie der Kirchen- und Gemeindeentwicklung, in: Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 117–124.

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Die Reform des gottesdienstlichen Lebens wurde im sechsten Teil (Liturgische Form) vorgestellt und analysiert. Die Reform sollte von unten her, in einem offenen Prozess, angegangen werden und die drei zentralen methodischen Begriffe konnten als deutliche Öffnung für die Perspektive der involvierten Subjekte gedeutet werden. Gleichzeitig kommt schon im Reformprozess dieses Bild ins Schwimmen, gerade der Begriff der Ortseigenheit/Ver-Ortung erfährt Kritik, er wird als zu weitreichend und zu entfremdend gefasst. Verhältnismäßig schnell wird er mit dem Begriff der Wiedererkennung kontrastiert, aber nicht mehr in dem Sinn des frühen Reformprozesses, wo auf die Wiedererkennung im eigenen Leben angespielt wurde, sondern er wird im Sinne des Auffindens oder Wiederfindens von etwas Bekanntem interpretiert. Diese Wendung des Verständnisses findet in der Rezeption der Reform Beifall. Auf diesem Hintergrund sollen die Rückgriffe und Rückverweise an dieser Stelle gerade am Verhältnis der Begriffe Ortseigenheit/Ver-Ortung und Wiedererkennung festgemacht werden. Es soll gesehen werden, inwiefern dieses, im einzelnen Fall, Raum für die Fokussierung und Reflexion der involvierten Subjekte und die Wahrnehmung des Ortes schafft. Helga unterstreicht sehr deutlich, dass man vonseiten des zentralen Kirchenamtes die drei Begriffe als methodische Begriffe auffasst. Diese Deutung der Begriffe finde ich bei Helga, Georg, Jesuthasan, Harald und Jonas, wenn auch in unterschiedlichem Zuschnitt und in verschiedener Anwendung, wieder. Harald will gerne in der Liturgie „ein wenig ruhen können, will nicht als Neuer in einen Gottesdienst kommen“ und schließt an dieser Stelle von sich auf andere. Georg ist „nicht darauf aus, etwas Eigentümliches zu schaffen“, aber das Ortseigene sichert das (wiedererkennbare) lutherische Erbe, bei Helga bestimmen norwegische Geschichte und Kultur den Begriff. Jonas ist an neuen Musikstilen und an Rückmeldung interessiert, benennt gleichzeitig ein Verkündigungsideal, das vom Denken, Handeln und Empfinden der Subjekte, die zu aller erst als Empfängerinnen und Empfänger gedacht werden, unberührt wirkt. Die methodischen Begriffe werden zu Werkzeugen, die Begriffe werden zu einem Gerüst eines letztlich verordneten Gottesdienstes. In meinen Augen davon unterschieden stellt sich dies bei Roger und Henriette dar. Roger bindet die Ver-Ortung an die konkreten Erfahrungen der Gemeinde zurück, versucht, Menschen in Prozesse einzubinden, Wiedererkennung macht sich letztlich an „Vorhersehbarkeit“ fest. Henriette verweist auf ihren Gottesdienstausschuss und den Prozess dort, Wiedererkennbarkeit wird bei ihr mit Wahrhaftigkeit in Verbindung gebracht, das erfordert Gespräch und Bereitschaft zum Kompromiss. Involvierung ist mehr als Methode, ist Notwendigkeit, erfordert genaues Hinsehen, und das hier skizzierte Verständnis erinnert meines Erachtens an eine Interpretation der methodischen Begriffe als „regulativ-dialogische Sätze“ (Helmut Schwier), die Begriffe werden viel stärker als liturgiehermeneutische Begriffe, die auf Wandel und Neuerung zielen, wahrgenommen (Katharina Stork-Denker).

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Ziel dieser Versuche, Verbindungslinien aufzuzeigen, Verweise auf theoretische Bearbeitungen, Konzeptionen und Analysen zu wagen, ist mitnichten diese Modelle im Nachhinein zu bestätigen oder die Fälle auf eine vermeintlich richtungsweisende, richtige Theorie hin abzufragen, die Fälle sollen nicht im Sinne der Ansätze und Konzeptionen modelliert werden. Ziel bleibt das bessere Verständnis der Fälle in ihrer je produktiven Uneindeutigkeit und Unabschließbarkeit. Gleichwohl ermöglichen mir die Analysen der Leitfadeninterviews und die Rückgriffe und Rückverweise, werden sie zusammen gelesen und interpretiert, eine versuchsweise Gruppierung einiger Fälle. Für die Fälle Helga, Georg, Jesuthasan, Harald und Jonas nehme ich eine wenig reflektierte Rolle der involvierten Subjekte an und konstatiere, dass sie eine wenig flexible Annäherung an die und Reflexion der Mehr-Perspektivität des Ortes aufweisen. Ferner stehen sie für eine begrenzte Offenheit der (Volks-)Kirche und der Liturgischen Form – diese beiden Größen gelten grundsätzlich als abgeschlossen und modellierbar. In den Fällen Solveig, Agneta, Henriette und Roger ist die Reflexion der Rolle der involvierten Subjekte größer, ihre Annäherung an die und Reflexion der Mehr-Perspektivität des Ortes ist flexibler und sie sprechen sich für eine größere Offenheit der (Volks-)Kirche und der Liturgischen Form aus. Dies ist probeweise in den zwei Grafiken oben dargestellt. Überdies legt sich nahe, dass sich zwischen den, in den beiden Grafiken dargestellten, Wechselspielen eine Entsprechung abzeichnet. Bei einer größer werdenden Reflexion der Rolle der involvierten Subjekte entsprechen sich die Steigerung einer flexiblen und reflektierten Annäherung an die Mehr-Perspektivität des Ortes und die je weiter gesteckte Offenheit der (Volks-)Kirche und der Liturgischen Form. In diese Entsprechung hinein vermag eingetragen zu werden, dass in allen Fällen von der Idee und vom Gedanken eines (notwendigen) Rückzugsraumes in der (Volks-)Kirche und/oder in der Liturgischen Form die Rede ist. Dieser wird aber unterschiedlich offen oder geschlossen profiliert. Auf diese Weise dient der Rückzugsraum als Bedingung der Möglichkeit einer Öffnung oder einer Ab- und Ausgrenzung. Es folgt eine dritte grafische Darstellung. In meiner Lesart und Zuspitzung, eingedenk der Maxime, die Fälle je für sich ernst zu nehmen, ergibt sich: Eine weniger reflektierte Rolle der involvierten Subjekte führt zu einem Verständnis von (Volks-)Kirche und Liturgischer Form, das als Abgrenzung aufgefasst werden kann, dies korreliert mit einer weniger ausgeprägten Reflexion der Mehr-Perspektivität des Ortes. Die Sicherheit und die Prägekraft des Eigenen stehen im Vordergrund, es kann aussehen, als ob Kirche und Gottesdienst als ein Statement den Anderen gegenüber aufgefasst wird. Das Ziel ist, die Anderen vor Ort zu verändern, wobei das Eigene, in den Wirrungen der Zeit, Schutz, vielleicht: Sicherheit, verspricht. Ich nehme das Gefühl wahr, immer in Gefahr zu stehen, von den Gegebenheiten vor Ort überrannt zu werden. Wie erwähnt, auch aufseiten der

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Abbildung 4

Eröffnung wird von Rückzug gesprochen, Gottesdienst und Kirche fungieren als abgrenzbare Größen, sind gleichwohl fluider. Henriettes Erzählung von der Konvertitin zeigt dies besonders schön: Es bedarf der Grenze, um sich öffnen zu können, dies legt besonderes Augenmerk auf die Prozesshaftigkeit und den Anteil der involvierten Subjekte. Die dritte Grafik hebt außerdem erneut die Fälle Kaja, Ester und Tomas hervor. Ich beobachte bei Kaja im Grunde keine Reflexion der Rolle der involvierten Subjekte. Sie spricht vom Ort als Ort ihrer Vergangenheit und die Kirche ist ausschließlich Kirche für diejenigen, die sie besuchen. Die Menschen vor Ort, die Menschen in der Kirche sind ihr fremd, der Ort ist ihr fremd und die Kirche ist ihr fremd, sie steht außerhalb, beobachtet von außen, kokettiert beinahe damit, nennt es selbst Vorurteil, gesteht sich ein, von Kirche nichts zu wissen, will aber auch nicht von Kirche wissen. Kaja verbleibt restaurativ und in die Vergangenheit gewandt. Für mich steht Ester in der Mitte. Sie kennt das Groruddal, weiß um die Veränderung als Charakteristikum des Tales, dies teilt sie mit Tomas. Ester reflektiert die involvierten Subjekte auf die Mehr-Perspektivität des Ortes hin, vermag dies jedoch nicht aufseiten der (Volks-)Kirche und der Liturgischen Form. Esters Gottesdienst darf nicht im Alltag aufgehen, kennt distinktive Grenzziehungen. Tomas ist vielleicht der, der die Rolle der involvierten Subjekte am weitreichendsten reflektiert, für ihn scheint wichtig, dass es die eine Perspektive auf den Ort, auf das Groruddal, nicht gibt, nimmt die Vielfalt als positiv prägend und als Kreativität und Schaffenskraft ermöglichend an – und fasst dann die Liturgische Form (für mich doch überraschend) eng und geschlossen.

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8.1.3 Vorläufige Bilanzierung und eine weitere Zuspitzung Aus der Arbeit mit den Analysen des Ausgangspunktes in einer empirischen Liturgiewissenschaft und der drei historisch-systematischen Problemhorizonte haben sich Herausforderungen und Anforderungen ergeben, die im weiteren Verlauf der vorliegenden Studie an- und aufgenommen wurden. Dies geschah gerade in der Anlage und Analyse der Leitfadeninterviews. Namentlich ging es darum, die Rolle der involvierten Subjekte durchweg stark zu machen und zu reflektieren, die Mosaikhaftigkeit und die MehrPerspektivität des Ortes zu beachten und in ihrer produktiven Uneindeutigkeit immer wieder einzubringen. Auf diesem Hintergrund ist zu bilanzieren, dass einige der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner nach vorne drängen, die genannten Heraus- und Anforderungen für sich sehen und diese annehmen. In meiner Interpretation bleiben mir zunächst die Fälle Solveig, Agneta, Henriette und Roger als die produktivsten stehen. Diese zeigen, dass die involvierten Subjekte die Unsicherheiten und Wandlungen des Ortes nutzen wollen, dass Solveig, Agneta, Henriette und Roger Wandel und Unsicherheit, auch eine gewisse Unverfügbarkeit, als Charakteristika des Ortes ansehen und dessen Multi-Perspektivität als Quelle zu neuem Nachdenken und neuen Formatierungen von (Volks-)Kirche und Liturgischer Form deuten können. Kirche und Gottesdienst werden als Rückzugsmöglichkeit gedacht, dies wird aber, im Wechselspiel zwischen den involvierten Subjekten und dem Ort, tatsächlich als Prozess begriffen, der sowohl den Ort als auch die involvierten Subjekte immer neu reflektieren muss. Flankiert wird dieser Cluster durch die Fälle Ester und Tomas. Entscheidend bleibt mir in diesen Fällen nicht, dass sie den Gottesdienst (Liturgische Form) auf je ihre Weise schließen und damit vom Ort lösen. Mein Augenmerk liegt darauf, dass sie, auch dies auf je ihre Weise und in unterschiedlichem Maße, den Willen zeigen, den Ort und die involvierten Subjekte zusammen zu sehen, zusammen zu denken und zu reflektieren. Dies soll an dieser Stelle nicht über Bord geworfen werden. Es soll ein weiterer Rückgriff folgen, der meines Erachtens deutlich macht, dass die genannten Fälle – Ester, Solveig, Agneta, Henriette, Roger und Tomas – durchaus auf einer Linie mit den Kommentaren Anne Hilde Lalands zu den 2012/2013 geplanten und durchgeführten Strukturveränderungen der Norwegischen Kirche in der Propstei Østre Aker liegen. Laland kritisiert den Rapport und die Vorschläge des Kirchlichen Gemeinschaftsrates in Oslo und des Diözesanrates dahingehend, dass die Frage nach der Zielgruppe – konkret fragt Laland für wen die Kirche lebendig, nahe und zugänglich/offen sein soll – zu unklar bleibt. Sie fragt explizit nach der Nähe der Kirche zur Gesamtgesellschaft, und erinnert an die CA V implizite

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Weite und Offenheit: Glaube entsteht ubi et quando visum est Deo – und dieser Weite muss die Organisation Kirche vor Ort, im Groruddal, entsprechen.23 Die Frage nach dem Ort ist virulent und die Uneindeutigkeit des Ortes und die reflektierte Rolle der Subjekte an diesem Ort erscheinen wieder als anzugehende Aufgabe. Diese Größen bestätigen sich sowohl durch die Analyse der letztgenannten Leitfadeninterviews als auch durch die Kommentare Lalands als die entscheidenden und unhintergehbaren Größen. Jede kirchliche und gottesdienstliche (Er-)Öffnung ist (Er-)Öffnung auf das Uneindeutige und Ungewisse des Ortes hin und wird von den involvierten Subjekten entschieden und getragen. Jede Reflexion muss hier ihren Ausgangspunkt nehmen. Es eröffnet sich hier die Möglichkeit eines produktiven Rückverweises auf die Bearbeitung der Theorien des Ortes und des Raumes. Maßgebend ist mir die Beobachtung, dass sich in den genannten Fällen (Ester, Solveig, Agneta, Henriette, Roger und Tomas) ein Verständnis des Ortes und seiner Subjekte anbahnt, das eine Nähe zu Martina Löws ,relationalem Raumbegriff‘ aufweist. Außerdem ist zu unterstreichen, dass die Konzeption Löws explizit auf die Position des Forschersubjektes abhebt, also meine Konstruktion (hier im Sinne von Konstitution und Intentionalität) mitbedenken kann. Wie gesehen entwickelt Löw ihren Begriff aus ihrer Analyse von ,absolutistischen‘ und ,relativistischen‘ Raumvorstellungen. Sie lehnt die erstgenannte ab, genauer: integriert deren zentrale Aspekte in ihren ,relationalen Raumbegriff‘, und setzt – in Verlängerung der letztgenannten – als Ausgangspunkt die relativistische Annahme […], daß die Räume sich aus den Anordnungen der ,Körper‘ ergeben. Da die ,Körper‘ bewegt sind, rückt das Raumwerden ebenso in den Vordergrund der Betrachtung wie das Anordnen als Handlungsvollzug. Dieser Prozeß wiederum kann in Bezug gesetzt werden zu den Konstruktionen und Wahrnehmungen der ,Betrachter‘.24

Meine Gesprächspartner und -partnerinnen berühren die entscheidende Größe der handelnden, konstruierenden Subjekte, sie fragen nach dem Ort, im Groruddal, sie machen auf kirchliche Räume und auf Gottesdiensträume, die wahrgenommen und reflektiert werden müssen, aufmerksam, erinnern auf diese Weise an Löws Forderung, nämlich einen Raumbegriff zu entwickeln, der so prozessual formuliert ist, daß er die Vielfältigkeit sowohl möglicher Alltagsvorstellungen als auch der Konstitution von pri-

23 Vgl. Prosten i Østre Aker prosti, Høringssvar ad endelig rapport, datert 19. 03. 2012: «Organisering av kirken i Oslo», 25. 6. 2012, 2 f. Vgl. 7.1.2.5. 24 Löw, Martina, Raumsoziologie, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1506, Frankfurt am Main 9 2017, 67.

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mär materiellen oder primär symbolischen Räumen und die Gleichzeitigkeit verschiedener Räume an einem Ort erfaßt.25

Das Anliegen Löws lässt sich gleichsam durch das empirische Material beschreiben: Gerade wenn Raum nicht als Hinter- oder Untergrund des Handelns konzipiert wird, sondern Raum in den Handlungsverlauf eingerückt wird, muß Menschen eine Verknüpfungsfähigkeit zugeschrieben werden, durch die die einzelnen ,Körper‘ zu einer Anordnung verbunden werden. Die unterschiedlichen Raumvorstellungen des Alltags können als Aspekte dieser Konstruktionsleistungen betrachtet werden.26

Im Folgenden soll weiter untersucht werden, ob nicht die Analyse der produktiven Uneindeutigkeit des Ortes und der Räume und der reflektierten Rolle der involvierten Subjekte, wie sie in den Fällen aufscheinen, ihre Zuspitzung und Zielführung gerade im Gespräch mit den Theorien und Konzeptionen Löws erfahren kann. Es muss gesehen werden, ob nicht der Begriff der Ortseigenheit/Ver-Ortung, der Ausgangspunkt für eine alltagsnahe Rezeption und Wahrnehmung der Reform des gottesdienstlichen Lebens war, in ein ganz neues Licht gerückt werden muss.

8.2 Verortete Kirche als Volkskirche Im Zentrum der Erkenntnisbemühungen und des Erkenntnisinteresses der eigenen Studie stand die alltagsnahe Rezeption und Wahrnehmung der Reform des gottesdienstlichen Lebens und der Kirche am Ort. Im Laufe des Forschungsprozesses wurde den drei zentralen methodischen Begriffen der Reform des gottesdienstlichen Lebens ein prominenter Platz zugewiesen, gerade dem Begriff der Ortseigenheit/Ver-Ortung wurde Gewicht beigemessen. Auf dem Hintergrund der Analysen und der empirischen Arbeit im engeren Sinn soll die Entwicklung der drei zentralen methodischen Begriffe kurz rekapituliert und theoretisch weiter bearbeitet werden. Die Formulierung von Thesen, die in einer kirchentheoretischen Neuformatierung des Begriffs der Ortseigenheit/Ver-Ortung mündet, schließt dann den eigenen Forschungsprozess ab.

25 Löw, Raumsoziologie, 103. 26 Löw, Raumsoziologie, 113.

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8.2.1 Aktualisierende Rekapitulation der drei zentralen methodischen Begriffe Die drei zentralen methodischen Begriffe (Flexibilität, Involvierung und Ortseigenheit/Ver-Ortung) kennen eine Genese und Entwicklung, die vor der Reform des gottesdienstlichen Lebens ansetzt. Die Begriffe waren zum Teil, vielleicht: zunächst, direkter Ausdruck der Motivation für die aufkommenden Reformbestrebungen, zum Teil, vielleicht: sodann, waren sie als liturgiehistorische und liturgiewissenschaftliche Absicherung gedacht. Sie wurden positiv auf- und angenommen und waren doch in der Reformarbeit und der beginnenden Evaluation der Reform keineswegs unumstritten. Stelle ich die eigenen Analysen, meine empirische Arbeit und die Beschäftigung mit der Reform in den Irrungen und Wirrungen meines professionellen Alltags in Rechnung, verfestigt sich folgende Annahme: Die weitreichenden Konsequenzen, Bedeutungsüberschüsse und die produktive Ungenauigkeit der Begriffe, und gerade des Begriffs der Ortseigenheit/VerOrtung, wurden von den Akteuren und Akteurinnen weder wahrgenommen noch gesucht. Über eine vielleicht doch affekthafte und im Nachhinein Erschrecken auslösende Übernahme der drei zentralen methodischen Begriffe aus anderen Kontexten (Liturgische Bewegung, Vaticanum II), über alle die folgenden Diskussionen und Kritiken, die sich im Grunde alle an der Idee des Abwägens und Balancierens und dem Ziel der Handhabbarmachung der Begriffe orientieren, konnte nicht gesehen und geschätzt werden, dass es letztlich um viel mehr geht. Im Verlauf der Reform verblieb die Arbeit mit den Begriffen unabgeschlossen, dies konnte aber nicht als Vorteil und Gewinn anerkannt werden, im Hintergrund der Reformarbeit stand immer das Ideal der durchdefinierten Begriffe. So erklärt sich meines Erachtens das Bestreben, den Begriff der Ortseigenheit/Ver-Ortung gegen andere Begriffe, vermeintlich eindeutigere Begriffe, austauschen zu wollen. Im Laufe der Reformarbeit gelang es nicht, die Unschärfe scharf gestellt zu bekommen, die involvierten Akteure und Akteurinnen reiben sich an der Unschärfe, sehen nicht die Produktivität der Unschärfe oder sind an ihr nicht interessiert (d. h. sie strebten implizit nach handtierbaren Modellen zur Umsetzung der Reform). Den Begriffen wurden keine weiterreichenden oder unerwarteten Implikationen zugetraut. Dagegen will ich gerne festhalten, dass die Produktivität des Begriffs der Ortseigenheit/Ver-Ortung in nuce schon in seiner semantischen Unschärfe angelegt ist. Für den Begriff werden im Norwegischen zwei eng miteinander verwandte Wörter verwendet, der Gebrauch erscheint aber keineswegs stringent, sicherlich werden sie, in der Reform und der beginnenden Evaluation, auch als Synonyme aufgefasst. Im Norwegischen wird zum einen der Begriff der Ortseigenheit (Substantiv) verwendet, in meiner Lesart auf den

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Status, das Erreichte und zu Erreichende abzielend. Zum anderen wird der Begriff der Ver-Ortung (substantivierte Verbform) verwendet, in meiner Lesart auf den Prozess und die dahinterliegende Aktivität abzielend. Auf diese Unschärfe ist in der Rekonstruktion der Reform und der Darstellung der Analysen der Leitfadeninterviews immer wieder, angezeigt durch die Wahl der Übersetzung, Wert gelegt worden. Dabei machen die Übersetzungsvarianten deutlich, dass Zugriffe nur durch Versprachlichung möglich sind, diese aber nicht einfach etwas abbilden, nicht einfach aufgehen. Sie sind immer schon vom Forschersubjekt geprägt; das aber ist kein Schwachpunkt, sondern unumgänglich. Meines Erachtens ist das Gewicht auf dem vermeintlich balancierenden Begriff der Wiedererkennung gerade auf dem Hintergrund des Wunsches nach Klarheit und Eindeutigkeit der Begriffe zu verstehen. Die Kehrseite war, dass der Spielraum und die Offenheit der drei zentralen methodischen Begriffe mehr und mehr eingeschränkt wurden. Durch das Bestreben, die Begriffe zu definieren, konnte nicht fokussiert werden, dass die Nuancen zwischen den beiden norwegischen Begriffen (kirchentheoretisch) produktive Nuancen sind. So wurden die Begriffe schließlich als die drei zentralen methodischen Begriffe definiert und domestiziert. Die Folge dieser Domestizierung liegt auf der Hand: Als methodische Begriffe verstanden sind Flexibilität, Involvierung und Ortseigenheit/VerOrtung nicht mehr als ein Resultat sicherndes Werkzeug. Es geht um „Ortsgeeignetheit“ (Jonas). In diesem Sinne, als Anwendungs- und Anleitungsbegriff, als Zielformulierung von Bemühungen an einem mehr oder weniger definierten und objektiv beschreibbaren Ort, hält das Gottesdienstbuch der Norwegischen Kirche von 2011 am Begriff der Ver-Ortung fest. In der beginnenden Evaluation der Reform des gottesdienstlichen Lebens gewinne ich den Eindruck, dass der Tenor weitergehend lautet, dass der Begriff der Ortseigenheit/Ver-Ortung schnellstens in das Giftschränkchen gestellt gehört. Rekapitulierend: Es geht um viel mehr! In diesem Dickicht aus Unklarheiten gelingt es, durch das Material hindurch, durch die Deutungen und die eigenen Setzungen im Material, die vermeintlich synonymen Begriffe zu differenzieren und zu profilieren. Damit wird ein produktiver Überschuss sichtbar, der auf kirchentheoretische Impulse und Konsequenzen hinweist und den es zu bergen gilt. Dabei ist, nach dem Durchgang durch die Analysen und das empirische Material, wiederholt zu notieren, dass dieses Viel-Mehr nicht in der Gesamtschau, in der Methodisierung, im Blick von oben und durch den Rückzug vom konkreten Ort, sichtbar und greifbar wird. Dieses Viel-Mehr wird erlebbar und wahrnehmbar in einer Bewegung von unten her, von der Reflexion der involvierten Subjekte und des Ortes her.

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Es bleibt zu unterstreichen: Der vielfach kritisierte Begriff der Ortseigenheit/ Ver-Ortung erweist sich als anschlussfähig an aktuelle, internationale und den Blick öffnende Theoriediskussionen, die sich durchweg dem Wechselspiel zwischen dem Ort, den Orten und den involvierten Subjekten und der Reflexion einer produktiven Ungenauigkeit des Ortes und der involvierten Subjekte verpflichtet wissen. Es geht um mehr als Ortseigenheit/Ver-Ortung als Methode, Werkzeug oder Zustand und Form (im gottesdienstlichen Kontext), es geht um mehr als ein etwas-zu-erreichendes; es wird im empirischen Material deutlich, dass mit Ver-Ortung gearbeitet werden muss. Eine Annäherung an Ver-Ortung und das Arbeiten mit Ver-Ortung können sich mit Gewinn von Kim Knotts Begriff location inspirieren lassen, denn der Begriff erinnert daran, dass location nicht einfach an den bekannten Orten des Gottesdienstes und der (religiösen) Organisation vorfindlich ist, sondern als diskursive Praxis, im Geflecht der säkularen Räume an säkularen Orten, verstanden als subjektoffener „socio-spatial process of location“27, darüber hinausreicht und eine Offenheit für Phänomene des Alltags fordert. Gerade Martina Löws Raumbegriff bietet gute Möglichkeiten, diesen Prozess zu fassen und zu beschreiben. Sie betont den Handlungsaspekt der involvierten Subjekte, hält dezidiert offen, dass an einem Ort verschiedene Räume, darunter sowohl institutionalisierte als auch gegenkulturelle, konstruiert werden können. Überaus fruchtbar und inspirierend verbleibt mir ihre Idee des Raumes als subjektiv angeleitete (An)Ordnung und ihre analytische Unterscheidung von Spacing und Syntheseleistung.28 Das empirische Material kann durch diese Theoriediskussionen noch einmal weiter aufgebrochen werden. Auf diese Weise ergibt sich, so die Annahme, dass der Begriff der Ver-Ortung keineswegs ausschließlich als gottesdiensttheoretischer, sondern gerade als kirchentheoretischer Begriff zu fassen ist. So sollen im Folgenden Gedankengänge präsentiert werden, die mittels mehrerer Thesen die Erträge der eigenen Arbeit bündeln.

8.2.2 Eine erste, entfaltete These In Folge der gerade formulierten Annahme, dass ein Gespräch zwischen Fallarbeit, Analyse der Fälle und der Theoriearbeit Martina Löws in dem Sinne ertragreich zu werden verspricht, dass eine Neuformatierung des Begriffs der Ver-Ortung gelingen kann, formuliere ich folgende These: 27 Knott, Kim, Spatial Theory and Method for the Study of Religion, in: Temenos 41 (2005), 153–184, 154. Vgl. 3.2.1. 28 Vgl. Löw, Martina, Raumsoziologie, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1506, Frankfurt am Main 92017, 43.113.131.155.158.166.185.271. Vgl. 3.2.3.

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Ver-Ortung ist das stete und stetige Sich-Einschreiben in (An)Ordnungen. Diese These gilt es nun in zwei Richtungen zu entfalten, dies geschieht in drei Schritten. In einem ersten Schritt soll es um Annäherungen an den Gottesdienst gehen. Für mich bleibt im Anschluss an meine Analysen stehen, dass die Fälle Helga, Georg, Jesuthasan, Harald und Jonas die Rolle der involvierten Subjekte und die Mehr-Perspektivität des Ortes nicht in extensiver, deutlicher Weise reflektieren. Dies führt zu einer wenig flexiblen Annäherung und einer begrenzten und begrenzenden Offenheit der Liturgischen Form, die letztlich ausschließlich als von innen her modellier- und formbar angenommen wird. Meine Schlussfolgerung war, dass die Liturgische Form in diesen Fällen als Abgrenzung aufgefasst und definiert wird. Vorherrschend schien mir in diesem Fallcluster die Idee eines sammelnden, traditionellen Gottesdienstes für alle und für den gesamten Raum der Norwegischen Kirche. Dieser Gottesdienst soll keinesfalls als vom Ort unberührt gefeiert werden, gleichzeitig soll es keine Gottesdienstfeier sein, die sich zu deutlich von diesem, implizit: einen, Ort färben lässt. Dabei können zum Beispiel Georg, Jesuthasan und Jonas den von ihnen angenommenen Ort und die Subjekte vor Ort, deren angenommenes Denken, Handeln und deren angenommenen Glauben, detailliert beschreiben. Es ist offensichtlich, dass alle in diesem Fallcluster zusammengefassten Informantinnen und Informanten mit je ihrem Ort vertraut sind. Gleichzeitig verbleibt der Ort Folie und Hintergrund (vielleicht: Behälter, Container). Hier findet etwas statt und dieses etwas ist benennbar, abgrenzbar und stabil, und dort, wo der Ort herausfordert, wird dieses Benennbare, Abgrenzbare und Stabile den involvierten Subjekten ein Stück entzogen. Aushandlungsprozesse werden so nicht ausgeschlossen, aber im Sinne des Ganzen vernachlässigt, überspielt und unsichtbar gemacht. Ungeachtet innergemeindlicher Pluralität, die adressiert wird, herrscht ein Gefühl von Einheitlichkeit vor, im löwschen Sinn: Der Gottesdienst ist ein Raum an einem Ort. Die zentralen methodischen Begriffe Flexibilität und Involvierung dienen hier einer Ortseigenheit, die eben nicht von den involvierten Subjekten her platziert und synthetisiert gedacht wird, sondern vom Ganzen her, von einer norwegischchristlichen Kultur und von der Norwegischen Kirche her am Ort platziert wird. Ich will dieses als Annäherungen an einen ortseigenen Gottesdienst bezeichnen. In den Fällen Solveig, Agneta, Henriette und Roger ist für mich eine weiterreichende Reflexion der Rolle der involvierten Subjekte wahrnehmbar. Ich nehme ihre Annäherungen und ihre Reflexionen der Uneinstimmigkeit und der Mehr-Perspektivität des Ortes flexibler wahr, mir sind diese Fälle durch eine (er-)öffnende Haltung gekennzeichnet.

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Es wurde in der Analyse der Fälle deutlich, dass die Intention ist, Aushandlungsprozesse anzugehen, möglich und sichtbar zu machen, diese deutlich an den Ort und die Bedingungen vor Ort anzubinden. Gleichzeitig wurde dabei erkennbar, dass – so bei Roger – deutlich wahrgenommen wird, dass der Ort sich verschieden darstellen kann. In der Konzeption Löws wäre von verschiedenen Räumen am Ort zu sprechen und die Idee eines Ganzen abzulehnen. Henriettes Erzählung von der Konvertitin zeigt, dass dies auch für den Gottesdienst zutrifft, man schreibt sich in Grenzziehungen und Räume ein, wird in diese eingeschrieben und weiß doch um die gegenseitige Abhängigkeit dieser Räume. Die Konvertitin ist de facto darauf angewiesen, dass es zwei (gottesdienstliche) Räume gibt; diese aber sind fluide, werden geschaffen, sind nicht einfach da. Sichtbar wird das Interesse meiner Gesprächspartner und -partnerinnen, sich in die (An)Ordnungen, also die Raumkonstruktionen, am Ort einzuschreiben, durchaus mittels institutionell geprägter und bekenntnisgebundener liturgischer Formen, denen Offenheit zugetraut wird. Ganz auf der Linie des frühen Reformprozesses und der ebenfalls im Gottesdienstbuch der Norwegischen Kirche festgehaltenen Intention, kann Wiedererkennung an die Wiedererkennung des eigenen Lebens, durch die involvierten Subjekte, geknüpft werden. Wiedererkennung ist, so scheint zum Ausdruck zu gelangen, an das je eigene, intersubjektiv verknüpfte (Er-)Leben rückzubinden. Ferner dominiert in den Wahrnehmungen des Gottesdienstes, in meiner Interpretation der Interviews, nicht die Vorstellung vom Gottesdienst als Kern oder Zentrum, der Gottesdienst wird als Rückzugsraum, als Erkenntnisraum beschrieben, der als Gestaltungs-, Ermöglichungs- und Eröffnungsraum gefasst wird. Damit ist das Wechselspiel zwischen dem Ort und den involvierten Subjekten angesprochen, das den Gottesdienst als in (An)Ordnungen eingeschriebenen Gottesdienst expliziert. Die zentralen methodischen Begriffe Flexibilität und Involvierung sind dann nicht mehr Werkzeuge, die in die Hand genommen werden, um das Große und das Ganze zu bauen, sondern sind Teile einer relationalen Wahrnehmung, die immer die Möglichkeit in sich birgt, das Große und das Ganze zu verändern. Gottesdienst, die Arbeit am Gottesdienst, ist dann der stete und stetige Versuch sich, den Gottesdienst und die Liturgische Formen in laufende Prozesse einzuschreiben und zu sehen, dass man platziert und selbst platziert wird, wobei immer auch auf institutionalisierte, also nicht einfach beliebige, Handlungsoptionen zurückgegriffen wird. Es gilt eben, dass man verändert und die involvierten Personen selbst verändert werden. Letztlich führt dies wohl dazu, dass Begrifflichkeiten gottesdienstlicher Wahrnehmung und Ideale dialogisch-regulativ am Ort – und nicht in der Kirche – etabliert werden. Ich will dieses als Annäherungen an einen ver-orteten Gottesdienst bezeichnen. In einem zweiten Schritt ist die Frage nach dem Ort zu aktualisieren, denn diese Frage bringt Unklarheiten mit sich. Zum einen ist dies, so auch Guro Voss Gabrielsen, mit Blick auf das Groruddal zu konstatieren. Damit ver-

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bunden ist sicherlich die im Verlauf des Forschungsprozesses immer wieder begegnende Differenz von Außen- und Innensicht: Ist das Groruddal nur von außen, von oben betrachtet ein Ort, ein Behälter- oder Containerraum, dessen schlechter Ruf bleibt, ganz gleichgültig, was innen vor sich geht? Oder ist gerade – und nur! – von innen her und von unten her zu erkennen, dass das Groruddal aus vielen Räumen an vielen Orten entsteht? Zum anderen hängen und hingen diese Unklarheiten auch der Reform des gottesdienstlichen Lebens an. Wiederholt wurde gefragt: Was ist denn der Ort, auf den die Reform zielt? Die lokale Gemeinde? Die Propstei? Oder das Bistum oder gar die Norwegische Kirche? Die Frage nach dem Ort ist aber auf diese Weise, meiner Einschätzung nach, nicht mehr nur Frage, sondern eher Ausdruck für den Widerwillen gegen den Begriff der Ortseigenheit/Ver-Ortung als für den Willen, sich an der Frage abzuarbeiten. Wieder ist die Unschärfe als produktive Unschärfe hervorzuheben. Die Frage nach dem Ort ist reell, mein Bedenken ist aber, dass eine eindeutige Antwort an der Wahrnehmung und Konstitutions-, sowie Platzierungs- und Syntheseleistung der involvierten Subjekte vorbei ginge. Erforderlich scheint mir der Wille, sich der Frage immer wieder zu stellen und sich in diese Ver-Ortungs- und (An)Ordnungsprozesse immer wieder hineinzubegeben. Dies ist für mich als professionell Handelnder, für mich als Forschersubjekt, nicht ohne Risiko. Denn es bleibt dann die an mich gestellte Anforderung zu sehen, dass ich nicht alles wissen und können muss, dass mein Wissen und mein Können von den Anderen abhängig ist. Mehr noch, Ratlosigkeit, Unsicherheit und (Un-)Wissen sind, sowohl bei mir als auch bei den Anderen, zuzulassen und auszuhalten, denn diese sind Teil der Konstitutionen von Orten und Räumen. In einem letzten, dritten Schritt soll es um Annäherungen an die Kirche gehen. Für die Fälle Helga, Georg, Jesuthasan, Harald und Jonas ist die wenig flexible Annäherung an die und die kaum ausgeprägte Reflexion der MehrPerspektivität des Ortes wiederholt erwähnt, dies führt, meiner Interpretation nach, zu einer eher abgrenzenden Formatierung der (Volks-)Kirche. Kennzeichen für dieses Cluster ist nach meiner Deutung die Betonung einer überkommenen lutherischen Identität und einer damit verbundenen Sonderstellung in der norwegischen Gesellschaft, die als kulturstiftend und kulturstabilisierend charakterisiert wird. Ohne Frage wird die Kenntnis des Ortes und der Menschen vor Ort strategisch genutzt, aber doch wohl zuvorderst auf den Ort hin und nicht auf die Norwegische Kirche hin, die als lutherische Kirche, aufgrund von Bekenntnis, Tradition, Geschichte und ihres institutionellen Charakters für den Ort wichtig ist, und sich doch vom Alltag des Ortes ein Stück weit abgrenzt. Die strategischen Öffnungen verbleiben in diesem Cluster inter-christlich, sodass die Anderen in bekannte

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Diskurse hinein geholt werden können (zum Beispiel Mission). In meiner Zuspitzung: An dem einen Ort gibt es den einen Raum der einen Kirche. Ich will dieses als Annäherungen an eine ortseigene Kirche bezeichnen. Das zweite Fallcluster, die Fälle Solveig, Agneta, Henriette und Roger, möchte ich an dieser Stelle um die Fälle Ester und Tomas erweitern, dies scheint mir aufgrund der Analysen folgerichtig. Mir wird in diesen Fällen deutlich, dass die Unsicherheiten, die Unverfügbarkeiten, die Symptome des Wandels sowohl wahrgenommen als auch als Qualitäten in Anschlag gebracht werden, als Motivation und Ansporn des eigenen Nachdenkens und Handelns explizit angenommen werden. Wird Kirche als Rückzugsraum angenommen, so doch auf eine Weise, dass dieser Rückzug (Er-)Öffnung ermöglicht. Meine Gesprächspartner und -partnerinnen sehen die Kirche als von der Identität des Ortes abhängig. Sie sehen sich, deutlich auch in ihrer Rolle als Pastor oder Pastorin, in Aushandlungsprozesse einbezogen, und nehmen wahr, dass Kirche und Entscheidungen der Kirchenleitung, wie etwa die bevorstehenden Gemeindefusionen, in die Aushandlungsprozesse vor Ort – ohne ihr Dazutun – einfließen, Kirche so auf vielfältige Weise in die Räume am Ort eingewoben ist. Die lutherische Identität der Kirche ist als institutionell-kollektive mitbedacht, sie initiiert Grenzziehungen, macht Grenzziehungen anschaulich, wobei diese aber nicht statisch und subjektunabhängig gedacht werden, diese reflektieren die Bedingungen zweier Räume am interreligiösen Ort, die verschieden und doch voneinander abhängig sind. Solveig gibt ein beredtes Zeugnis dieser Erfahrung. Die Kirche ver-ortet sich, indem sie sich in (An)Ordnungsprozesse einschreibt, indem sie teilt, bei Agneta sowohl lokal, national als auch global, und eben, so auch bei Roger, Henriette und Solveig, in interreligiösen Beziehungen, ohne dass dort die bekannten Figuren der Mission bemüht werden. Der Andere und die Andere verbleiben die Anderen. In diesen Prozessen des Sich-Eintragens in lokale (An)Ordnungsprozesse verbirgt sich außerdem eine entschiedene Möglichkeit: Kirche als Gegenkultur stark zu machen, als Friedensbewegung vor Ort, als Raum der Begegnung und des Dialogs, der allen offen steht. Diese Gegenkultur wird dabei nicht von oben her initiiert, sondern greift auf eigene Erfahrungen mit dem Fremden, mit institutionalisierten Regeln, im Groruddal oder in kirchlicher Projektarbeit, zurück. Ich will dieses als Annäherungen an eine ver-ortete Kirche bezeichnen. 8.2.3 Eine zweite, kirchentheoretisch-orientierende These: Verortete Kirche als Volkskirche Ist Ver-Ortung das stete und stetige Sich-Einschreiben in (An)Ordnungen, so soll als Folge und Konsequenz der letzten drei Arbeitsschritte eine weitere

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These festgehalten werden: Nur als verortete Kirche ist Kirche Volkskirche. In Verlängerung der Fälle Ester, Solveig, Agneta, Henriette, Roger und Tomas bedeutet dies, dass Kirche nur dann Volkskirche sein kann, wenn sie die in diesen Interviews aufgezeigten Wege verfolgt und mitgeht. Das heißt, Kirche – als Volkskirche – muss sich in die (An)Ordnungen vor Ort einschreiben. Dieses Sich-Einschreiben geschieht dort, wo Menschen sich begegnen, einander wahrnehmen, sich in Netzwerken austauschen, miteinander etwas erreichen wollen, in Institutionen, Vereinen, am Arbeitsplatz, in der unübersichtlichen und herausfordernden Situation des raadollisuus. Dieses Sich-Einschreiben ist dabei immer unsicher, nicht planbar, eben von dem Anderen, von der Anderen, von Anderen abhängig, und es ist doch am Ort, eingedenk des genius loci, der „Eigenlogik“ und der „Differenzlogik“, nicht beliebig, denn es greift auf die je vorhandenen Handlungsoptionen und Ressourcen zurück. Und: Kirche als Volkskirche muss sich nicht nur aktiv in die (An)Ordnungsprozesse einschreiben, sie muss reflektieren, dass sie – wie bei Roger – in positiver Weise in diese Prozesse eingeschrieben wird. Kirche wird platziert und innerhalb von Raumkonstruktionen vor Ort quasi mit-synthetisiert. Deutlicher noch: Kirche als Volkskirche muss reflektieren, dass sie – wie bei Kaja – von außen, von außerhalb qualifiziert, und damit ebenfalls platziert und innerhalb von Raumkonstruktionen synthetisiert wird. Umgekehrt: Hört Kirche auf sich in diese Aushandlungsprozesse einzubringen, hört sie auf Volkskirche zu sein – Tomas macht genau darauf aufmerksam und es geht mit meinen Erfahrungen auf der Abschlusskonferenz zum Groruddal-Aktionsprojekt zusammen. Ohne Teilhabe an diesen Prozessen wird Kirche, in Rogers Worten, zu einer „kleinen Oase“. Diese Volkskirche ist nicht ohne Motivation zu denken, vielleicht nicht einmal ohne die Zielvorstellung eines, so verstehe ich Solveig, Agneta, Henriette, Roger und Tomas, process of emancipatory koinonia, die keineswegs mit der institutionalisierten, organisierten und interagierenden Gemeinschaft der Kirche gleichgesetzt werden darf, sondern darüber hinaus zielt, ist sie auch zunächst einmal nicht mehr als das, was sie zugesprochen bekommen hat. Das wird daran deutlich, dass jedes Sich-Einschreiben unweigerlich, wenn auch nicht unbedingt reflektiert oder sichtbar, auf institutionell gegebene Handlungsoptionen und Formatierungen verweist. Sind Kirche und Gottesdienst als Rückzug und Eröffnung gedacht, so findet diese Kirche ihre fundamentaltheologische Grundlegung gerade im Allgemeinen Priestertum aller Glaubenden, im rechtfertigungstheologischen Zuspruch des pro me. Im Durchgang durch empirische Rekonstruktionen, im Aufdecken und Dickicht aller Unsicherheiten und Unklarheiten, wird die Behauptung gestützt,

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dass Kirche nicht allein im Sicht- und Wahrnehmbaren aufgeht. Der Blick von unten her und von innen macht dies noch einmal deutlich und dies erweist sich als anschlussfähig an Hans-Richard Reuter, der feststellt, dass Kirche immer zwischen congregatio und communio changiert. CA VII sichert die Kirche explizit, aber nicht exklusiv. Hier liegt die Möglichkeit von Kirche sich als Volkskirche, fern jeder Idee von Verdichtung, Zustimmung zu Lehrmeinungen oder einer bestimmten, kirchlich-sanktionierten Lebensdeutung, hin zur flüchtigen Inszenierung (Jan Hermelink) und Wahrnehmung (Albrecht Grözinger, Kristian Fechtner) im immer unsicheren Dazwischen (Christoph Sigrist) zu begreifen: Man muss mit der Kirche rechnen, gerade dort, wo man nicht mit ihr rechnet, denn diese Volkskirche entsteht ubi et quando visum est Deo (CA V), im sozialen Vollzug. Auf diese Weise könnte mitbedacht werden, dass nicht mehr eindeutig zu bestimmen ist, wer – und wieder: wo – an der Kirche partizipiert. Kirchentheoretische Überlegungen, wie sie im Forschungsprozess der vorliegenden Studie gefasst wurden, laden ein, den Begriff der Ver-Ortung als ,sozio-prozessualen‘ (Kim Knott) Begriff zu fassen, als Verortung, die die Ungenauigkeit und Vielstimmigkeit des Ortes und die Unabschließbarkeit und Vielstimmigkeit der, durch Platzierung und Syntheseleistung, konstituierten (lokalen) kirchlichen Räume reflektiert. Abschließend: Volkskirche kommt dort zur Darstellung, wo sich gerechtfertigte Sünder und Sünderinnen an multikulturellen und verschiedenartigvielfältigen Orten stets und stetig in (An)Ordnungsprozesse einschreiben und einschreiben lassen, und auf diese Weise dazu beitragen, dass vielgestaltige, abgrenzbare und immer sich gegenseitig bedingende (kirchliche) Räume geschaffen werden.

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404

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Folgende (kirchliche) Dokumente lagen in Papierform vor: Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Osloer Diözesanrates vom 16. 12. 2002, Aktenzeichen 105/02, dazu die Projektbeschreibung: Gud i storby. Om kirkelig nærvær, uttrykksformer og tjenestetyper i 2010 i Oslo bispedømme. En prosjektbeskrivelse, 16. desember 2002. Instilling til Stortinget fra kirke-, utdannings- og forskningskomiteen, 8. 5. 2003. Wagle, Finn, Høymesse under endring. Innledning til samtale om reform av høymessen. Kirkemøtet, 19. 11. 2003. Rapport fra fokusgruppa „Storbyens trender og tendenser“, 8. 7. 2005. Rapport fra fokusgruppa „Kirkens misjon og nærværsformer. Mangfold er enhet“, 4. 4. 2006. Rapport fra fokusgruppa „Kirkens struktur og organisasjon. Kirke for folk“, 30. 5. 2006. Kirkelig fellesr d i Oslo, rsrapport 2007. Kirkelig fellesr d i Oslo, rsrapport 2009. Presteforeningens høringsuttalelse om Forslag til ordning for hovedgudstjenesten, 15. 9. 2009. Akerø, Hans Arne, N r jord og himmel møtes. Noen helhetsperspektiver p Kirkemøtets liturgisaker, 2010. Kirkelig fellesr d i Oslo, rsrapport 2010. Oslo biskop, Intivasjon til strategigrupe for Østre Aker prosti, Brief, 14. 1. 2010. Rapport fra strategigruppen for Østre Aker prosti, 18. 6. 2010. Oslo bispedømmer d, Organisering av kirken i Oslo. Anbefalinger om endringer i struktur og organisering i Domprostiet og Østre Aker prosti, endelig rapport, 19. 3. 2012. Prosten i Østre Aker prosti, Høringssvar ad endelig rapport, datert 19. 03. 2012: «Organisering av kirken i Oslo», 25. 6. 2012. Protokoll der Sitzung des Osloer Diözesanrates vom 17. 9. 2012. Protokoll der Sitzung des Osloer Diözesanrates vom 17. 12. 2012. Folkekirken i endring – p vei mot fremtidens kirke. Rapport fra Groruddalen, fra Østre Aker prosti: Arbeidet med de strategiske satsningene 2015–2016. „Glaubenserziehung in der Norwegischen Kirche – Status 2017“, Aktenzeichen KR 41/17.

Personenregister

Afdal, Geir 202, 216 Akerø, Hans Arne 16, 58, 189 f., 197, 208 f., 212, 215, 236–241, 243 f., 246, 254 f. Augustin 82, 85, 89–91, 104 Aukrust, Tor 132 f. Balsnes, Anne Haugland 58, 204, 209 f. Bhabha, Homi K. 54, 62, 91 f. Bieler, Andrea 53 f., 62, 366 f. Bieritz, Karl-Heinrich 40–42, 198, 218 f. Bonhoeffer, Dietrich 94, 96 f., 103, 124 Botvar, P l Ketil 195, 198 f., 203 f. Brömssen, Kerstin von 64 f., 78 Browning, Don S. 104, 146, 148 Casey, Edward S. 67 f. Certeau, Michel de 67, 76, 90 Christensen, Solveig 58, 204 Christoffersen, Jan Terje 58, 180, 202 f., 213–216 Cornehl, Peter 41, 49, 61, 111, 268 Cox, Harvey 28, 81, 84, 87, 94–99, 102, 108, 157 f. Dahmberg, Wilhelm 243 Dinter, Astrid 23–25, 263 f. Döring, Jörg 65 f. Ducey, Michael H. 27, 31–39, 50, 60 f., 63, 72, 224 f., 254, 286, 365 Eide, Sindre 188, 190, 194 f., 197, 201, 208, 212 Engstrøm, Bjørn 238–240, 242 Eriksen, Thomas Hylland 17 f., 71, 235 Eurich, Johannes 170, 173

Fechtner, Kristian 167 f., 173, 3371, 387 Fitschen, Klaus 81 f., 97 Flatø, Lars 43 f. Flyvbjerg, Bent 284 f. Foucault, Michel 65, 67, 260 Furre, Berge 14, 116, 120, 236 Fæhn, Helge 43 Gabrielsen, Guro Voss 18, 70–72, 271, 383 Georgi, Dieter 28, 82–85, 112 f. Giddens, Anthony 73, 76, 273 Glad, Margareth 188 f. Glaser, Barney G. 217, 273 f. Gogarten, Friedrich 94 f., 103, 108 Gräb, Wilhelm 25 f., 171–173 Grözinger, Albrecht 165 f., 173, 387 Gruber, Judith 361 Grümbel, Ute 50 f., 62, 366 Grünberg, Wolfgang 28, 84, 107–112, 253, 368 Habermas, Jürgen 37 f., 258 Hauerwas, Stanley 143 Hauge, Hans Nielsen 115, 236, 247 Haugland, Edvard 244 f., 253 Hegstad, Harald 29, 45, 48, 54 f., 119, 123, 133–151, 156–158, 161, 166 f., 171, 174, 189, 199, 250, 254 f., 370 Heimbrock, Hans-Günter 9, 18, 257, 260–262, 283 f., 362 Hem, Hans Einar 213–215 Herbst, Michael 139, 167, 174 Hermelink, Jan 29, 159–164, 169, 173, 175, 214, 248, 371, 387 Hertzberg, Mikael 121 f., 124, 369 Hiebert, Paul G. 143 Hild, Helmut 46 Hognestad, Helge 336 f.

406

Personenregister

Holen, Øyvind 227–233, 252 f. Huber, Wolfgang 124, 153, 160 Husserl, Edmund 258 f., 266 Høeg, Ida Marie 55 f. Haavik, ge 58, 182–184, 206, 211 f., 214 f. Iversen, Hans Raun

120, 125

Jensen, Gustav 120–122, 124, 129, 180, 369 Jensen, Roger 151 Jetter, Werner 47 f., 61 Johnson, Gisle Christian 120, 122, 124, 129, 368 f. Josuttis, Manfred 49–51, 190, 366 Jüngel, Eberhard 142 Kaiser, Manuela 272 f. Kjellberg, Seppo 28, 84, 100–107, 253 f., 368 Knecht, Achim 23, 52 f., 62, 257–259, 8 f., 263, 267–269, 274, 366 Knott, Kim 66–70, 72, 78 f., 381, 387 Kong, Lily 66 Kunz, Ralph 29, 164–169, 172–175 Laland, Anne Hilde 249–251, 255, 376 f. Lange, Ernst 47 f., 61, 111 f., 159 Lappegard, Sevat 29, 118, 125, 128–133, 156, 161, 171 f., 174, 253, 369 f. Lathrop, Gordon W. 29, 180 f., 220 Lefebvre, Henri 65, 67–69, 71, 90 f. L vinas, Emmanuel 259 Löw, Martina 27 f., 72–79, 286, 381–383, 377 f. Lotz, Thomas A. 148 f., 174 Lundby, Knut 55, 122 f., 127, 244 f. Luther, Henning 26 Luther, Martin 91, 103 f. Lægdene, Stig 62 f. Lønning, Inge 57, 123 f., 127, 369 Mädler, Inken 22, 270, 272 f., 277 Mahrenholz, Christhard 217 Merkens, Hans 279, 282 Merleau-Ponty, Maurice 68, 258

Metz, Johann Baptist 109, 368 Meyer, Peter 18, 260–262, 362 Meyer-Blanck, Michael 40, 42, 63, 225 Mod us, Martin 180, 199 Mosdøl, Hallvard Olavson 58, 62, 195, 198 f., 203 f. Myhre-Nielsen, Dag 29, 118–128, 161, 368 f. Nassehi, Armin 160 f., 214 Nelson, Karin 209 Nj , dne 196 Opsahl, Carl Petter

97, 131

Pedersen, Lorentz Ulrik 240, 244 Peirce, Charles S. 274 f., 283 Peukert, Helmut 149 Pezzoli-Olgiati, Daria 65 f. Plüss, David 162 f. Pohl-Patalong, Uta 51 f., 62, 276, 278, 366 Preul, Reiner 152–156, 158, 174 Ramsel, Carsten 172 f. Reichertz, Jo 275 f. Reinartz, Vera 272 f. Rennie, David L. 273–277 Reuter, Hans-Richard 98 f., 141, 157–159, 255, 370, 387 Rössler, Dietrich 168 Rosten, Monika 235 Sandvik, Bjørn 55, 218 Schlag, Thomas 29, 164–166, 168 f., 172–174 Schleiermacher, Friedrich D.E. 25 f., 124, 126, 129, 156, 159 f., 164, 369 Schmidt-Lauber, Hans-Christoph 40 f., 198 Scholtz, Christopher P. 268–270 Schulz, Claudia 171, 173 Schulz, Frieder 217–219 Schwier, Helmut 30, 217–223, 373 Selvaag, Olav 240 f., 244 Sigrist, Christoph 169 f., 173 f., 371, 387 Skagestad, Gabriel 121 f., 124 f., 369 Skjollby, Wenche 238–240, 242

407

Personenregister Söderblom, Kerstin 23–25, 264–267 Soja, Edward W. 65 Solli, Beate 18, 71 f. Stork-Denker, Katharina 30, 223 f., 373 Strauss, Anselm L. 51, 270–274 St lsett, Gunnar 16, 116 f., 214, 247, 354 Süßmann, Johannes 282–284 Thielmann, Tristan 65 f. Thomassen, Merete 56 f., 61 f., 190 f., 207 f., 210 Thorkildsen, Dag 115 f. Tillich, Paul 9, 99–101 Tracy, David 101, 106 Troeltsch, Ernst 159–161 Truschkat, Inga 272 f. Turner, Victor W. 33, 35 Tveito, Olav 44 Tveito Johnsen, Elisabeth 59–61, 63, 275, 366

Veiteberg, Kari 55 f., 58, 183 f., 187, 191, 211 f., 366 Ven, Johannes van der 142 Volf, Miroslav 141 Volp, Rainer 45 f., 61 Wagle, Finn 58, 177–179, 181–184, 187, 191 f., 194, 206 f., 210–215, 225 Waldenfels, Bernhard 92, 165, 258 f., 262, 266 Ward, Graham 28, 84–94, 367 Wichern, Johann Hinrich 81, 124, 368 f. Willoch, Eivind 238 Wirgenes, Paul Erik 201, 211 f. Wyller, Trygve 18, 117, 260 Øierud, Gunnfrid Ljones

57 f., 62, 366

Aarflot, Andreas 117 f., 125, 336

Sachregister

Abduktion 22, 60, 272–274, 279, 282 f., 364 Adaption, phänomenologische 10, 18, 20 f., 53, 70, 257 f., 261, 263, 266, 269, 283, 287 Alltag 10, 20, 27 f., 35, 39, 41, 49 f., 60 f., 65, 75, 91, 93, 131, 158, 160, 164, 215, 246 f., 255, 258, 268, 270, 272 f., 278 f., 281 f., 287–289, 296, 328 f., 338, 340 f., 347, 353, 375 – professioneller 10, 16, 19, 22, 79, 260–262, 268, 270, 278 f., 280–282, 361, 379 Beschreibung, phänomenologische 259, 269 f., 285 Blick von unten, siehe Forschungsprozess, Ausgangspunkt des communio sanctorum 141, 157, 387 Confessio Augustana, CA V 152, 166, 251 f., 376 f., 387 Confessio Augustana, CA VII 96, 124, 141, 152 f., 158, 192, 203, 251, 387 congregatio sanctorum 141, 157, 387 Diskursethik

37 f., 102, 105 f., 254

Einrichtung, empirisch-phänomenologische, siehe Adaption, phänomenologische Epoch 19, 21, 258, 267, 269, 274 Erfahrung 9, 18–21, 50–54, 56, 67, 92 f., 112 f., 141 f., 166, 188, 197, 203, 262, 273–275 Erleben/Erlebnis 20, 25, 51–53, 58, 276, 366 Evangelisches Gottesdienstbuch der Evangelischen Kirche in Deutschland 216–226 – die sieben Kriterien des 221–224

Fall 18 f., 21–23, 30, 66, 69, 256, 261 f., 267 f., 275 f., 282–285 Feld 18, 21–23, 30, 66, 69, 101, 106, 254, 256, 265, 268 f., 273, 281 Feldtagebuch/Feldnotizen 266, 269 Forschersubjekt 9 f., 16, 19, 21–24, 26, 31, 72, 113, 256–259, 262 f., 265–269, 271, 277 f., 281, 361, 377, 380, 384 Forschungsansatz – phänomenologischer 10, 18 f., 86, 106–108 – qualitativer 17 f., 58–61, 135, 172 f., 235, 252, 256, 261 f., 279 – quantitativer 47, 58 f. – sozial- und kulturanthropologischer 18, 118 f., 128, 135, 264 f. Forschungsethik 22–25 Forschungsprozess – Ausgangspunkt des 9 f., 18 f., 24, 28, 30 f., 63, 72, 81 f., 107, 112 f., 173 f., 211, 228, 230, 234, 237, 246, 249, 252 f., 256 f., 265, 287, 368, 372, 387 – spiralförmige/zirkuläre Einrichtung des 19, 22, 256, 259, 263, 270, 273, 277, 279, 287 Fremdheit 54, 90, 99 f., 241, 291, 297, 333 f., 357–359, 385 – die Andere/der Andere/die Anderen 23, 50, 54, 62, 90, 104, 306 f., 309, 311, 333 f., 339–341, 346, 366, 368, 374, 384–386 Gebet 57, 144, 149, 182 f., 191, 306 f., 311, 350, 352, 371 Gelebte Religion 19, 26, 38, 68, 73, 97 f., 148, 150, 163 f., 168, 257, 262, 277, 287, 289, 352 Gemeinde, siehe Kirche

410

Sachregister

Gemeindeentwicklung/Entwicklung 138 f., 164–167, 236, 247 f. – von unten 110–112, 144–147, 170 f., 237 f., 246, 255, 304 f. Gemeinde anderer Sprache und Herkunft 250–252, 281, 302 f., 305, 316, 355 genius loci 28, 107, 109, 253, 368, 370, 386 Glaube 88, 188, 121 f., 141, 149, 156, 163, 167, 171, 246 f., 251 f., 302, 308 f., 321 f. – als latent belief 35, 39, 365 – als Praxis 33, 39 – als Zugehörigkeit 130, 133 Gottesdienst/Liturgie/Liturgische Form – als Begegnung 48, 50, 180, 189 f., 197, 207, 337 – als Gemeinschaft 138, 252, 311 f., 320, 322 f., 327 f., 366 f. – als Gottesdienst der Gemeinde 36, 138, 312–315, 349 – als interaction ritual 33–39, 224, 254, 286, 365 – als Kirche 144, 153, 155, 164 – als mass ritual 33–39, 224, 254, 365 – als Ritual/rituelle Handlung 33–39, 49, 61, 144 – als Rückzug und/oder Eröffnung 90, 336 f., 340 f., 351, 369, 374, 376, 383, 385 – als Tradition 37, 188, 192, 195 f., 205, 296–301, 304, 327, 382 – als Zeichenprozess 42 – Erleben von 25, 41, 51–53, 58, 178, 327, 329, 337, 348 f. – im Groruddal 239 f., 245, 254, 293 f., 303 f., 309 f., 316 f., 341, 343, 349, 367 f., 382 f. – Ordnung des/der 33, 44, 295, 299 f., 304, 348 – reform 43, 177–217, 314 – vor/am Ort 25, 27, 33–38, 42, 50, 61, 64, 84, 202–205, 224–226, 329, 338, 341, 343, 349, 354 Grenze/Grenzgang 9, 18, 31, 361 f. Groruddal 13–18, 30, 39, 70 f., 78, 172, 227–235, 240, 248, 271, 289–291, 294, 301, 324–326, 329, 343, 351 f., 354, 374, 383

Groruddal-Aktionsprojekt 11, 15, 17, 70–72, 233–235, 252, 271, 281, 356 Grounded Theory (Method) 22, 51, 270–277, 283 Heilig und profan 254

35–37, 47, 67–69, 110,

Identität/Identitätsbildung 48, 54, 70–72, 234 f., 358 f., 361, 367 f. in between, siehe Zwischenraum in praxi, siehe Forschungsprozess, Ausgangspunkt des Intentionalität 18 f., 22, 53, 256, 258–260, 271, 283, 287, 377 Interkulturalität, siehe Kulturalität Kirche 10, 46–48, 92 f., 95–99, 109, 251 f. – als Bildungsinstitution 154–156, 171 f. – als eine Kirche 138, 140 f., 157 – als Gegenkultur 75 f., 318, 385 – als Gegenstand der Empirie 127 f., 134, 138, 140, 159 – als Glaubensgemeinschaft 137, 139, 143, 210, 370, 386 – als Glaubensgemeinschaft und Volkskirche 29, 55, 117–119, 122 f., 134–140, 199, 204 f., 209 f., 215, 225 f., 254, 370 – als Institution 48, 139, 159, 213, 215, 293, 369 f. – als Inszenierung 160–163, 175, 371, 387 – als Interaktion 154, 159–161 – als Organisation 159, 164, 213–215, 248, 377 – als Rückzug und/oder Eröffnung 90, 336 f., 340 f., 351, 369, 374, 376, 383, 385 – als sichtbare/unsichtbare Kirche 123, 140, 142, 157, 169 – als Staatskirche 10, 115, 181, 213–215, 326 f. – als Volkskirche 17, 16 f., 29, 115, 118, 124, 128, 153 f., 167 f., 173 f., 198, 203, 208 f., 351 f., 368 f., 371 f., 385–387 – /Gemeinde (als Gemeinschaft) vor/am

Sachregister Ort 25–27, 35, 48, 50, 84, 110–112, 124 f., 131–133, 169–171, 183, 187 f., 197–200, 204 f., 209–211, 215 f., 240–242, 311, 319, 329–331, 335 f., 338, 351, 354, 356, 358 f. – /Kirchenbau im Groruddal 15–17, 239–246, 251 f., 300 – öffentliche 88 f., 108–110, 116, 131, 153 f., 169 f. – praktisch-theologisch 25 f., 128 f. – reformatorische Grundlagen der 152–155, 157, 304 f., 345 f., 373, 384 – und ihre Funktionen 96, 98 f., 158 – und Kultur 38 f., 48, 122 f., 130–133, 142 f., 166 f., 201 f., 297–300, 329, 334, 357, 359, 382 – und Organisationstheorie 145, 160 f., 213–215 – und Stadt 27, 33–35, 48, 81–84, 94, 107–110, 139, 241, 243, 354–356 Kirchenentwicklung, siehe Gemeindeentwicklung/Entwicklung Kirchenleitung 25 f., 117, 152, 159, 256, 304 f., 385 Körper/Leiblichkeit 54, 67–69, 76, 79, 86 f., 89 f., 92, 125–127, 141, 157, 203, 299, 347, 369 Komplementarität, methodische, siehe Methodenpluralismus 21, 61, 264, 266, 268, 281 f. Konflikt/Kontroverse/Kompromiss 62, 142, 159, 169, 243, 345 f., 366, 373 Konstitution 18 f., 22, 65 f., 73 f., 76, 78, 148 f., 174, 235, 258, 267, 269, 271, 282 f., 285, 287, 377, 384 Kulturalität 42, 50, 54, 62, 93 f., 256, 286, 333–336, 361, 367 Kultur im Wandel 9, 14–17, 28, 33–35, 39, 48, 82–84, 87 f., 91, 93, 95 f., 98, 103, 113, 115, 127, 130 f., 151, 160, 162, 167 f., 173 f., 205, 224 f., 230–233, 247, 254 f., 286 f., 291, 298, 303, 325, 334 f., 339, 344–346, 352 f., 355–359, 365 f., 374 f. Lebenswelt 18 f., 21, 26, 120, 168, 256–258, 260, 271, 277

411

Lehre vom Allgemeinen Priestertum 37 f., 152, 162, 198, 222 f., 386 Leitfadeninterview 9, 21, 24, 200, 264–268, 276 f., 282, 287 f. – Sample der 272 f., 277–280, 284 f. Liturgiewissenschaft – Alltag in der 32, 35, 39, 41, 60 f. – als Verhaltenswissenschaft 49, 51 – empirische 9, 27, 31, 38 f., 45 f., 58–61, 177, 204 f., 223–225 – feministische 50 f., 56 – historische 31, 40, 43 f., 179 f., 198, 217 f. – kulturelle Aspekte in der 27, 38 f., 40–42, 45–49, 57 f. – theaterwissenschaftliche 55 f. Methodenpluralismus, siehe Komplementarität, methodische 21 f., 49, 92, 101, 107, 113, 256, 261 Mission 120 f., 143, 145, 167, 321–323, 335, 339 f., 365, 367 Norm/Normativität 29, 38 f., 50, 101 f., 106 f., 113, 118 f., 124, 135, 137, 139 f., 142–144, 156, 165, 171, 260–262, 311, 351, 361, 364, 370 Norwegische Kirche 9–11, 15, 20, 115–151, 339, 358, 368, 382, 384 – als Tradition 196, 205, 301, 307–309, 311 – Arbeitsgruppe Organisation der Kirche in Oslo 250–252 – Die Kirche baut 244–246, 326 – Generalsynode 2003 177–179, 182, 206 f., 225 – im Groruddal 235–255, 289 f., 292, 294 f., 300, 304 – Innere Mission Oslo 238, 244–246 – Jugendgeneralsynode 2003 178 f., 181 f., 191, 205 f., 214 – Kirchliche Kulturwerkstatt 239 f., 242, 245 – Klein-Kirchen-Bewegung 120–123, 128, 139, 245 – Liturgiereform 1886–1926 43 f., 121, 129, 180

412

Sachregister

– Projekt Gott in der Großstadt 16, 247 f., 253, 255, 353–356, 359 – Projekt Kirche im Groruddal/Forum für kontextuelle Theologie im Groruddal 15 f., 246–248 – Projekt Liturgie in Bewegung 62, 192, 198 f., 203 f., 209 f., 212 f., 216, 225 – Strategiegruppe für die Propstei Østre Aker 16, 249–252, 254, 281, 354–356, 359 – Trennung von Staat und 10 f., 16 f., 116–118, 326, 328 Ort (und Raum) 9, 17, 20, 25, 27, 50, 60 f., 64–79, 84, 109–113, 118, 126, 128 f., 131–133, 158, 163, 168–170, 174 f., 177, 200–206, 209, 217, 225–227, 235, 246, 252–255, 286 f., 291, 296–298, 301, 306, 310, 312, 316, 318, 321–323, 329, 331, 335 f., 342–346, 349, 351–354, 356–359, 361–363, 365–378, 380–387 Oslo 13, 39, 120–122 Pluralismus, siehe Kultur im Wandel Praktische Theologie – als Ars 165 f. – als Handlungswissenschaft 49, 62, 108, 137, 150, 152, 156, 254 – als Wahrnehmungswissenschaft 50, 108, 165 f., 257 process of emancipatory koinonia 103 f., 105 f., 368, 386 Profession/Professionsverständnis 125, 132, 137 f., 198 f., 204 f., 292 f., 301 f., 304, 314 f., 339 f., 344, 350, 352, 365, 384 raadollisuus 101 f., 104, 106, 254, 368, 386 Radical Orthodoxy 28, 84–86, 92 Rechtfertigung 23, 57, 83, 95, 113, 141, 153, 155, 386 Reform des gottesdienstlichen Lebens 2011 9, 11, 16, 29 – Evaluierung und Rezeption der 9 f., 25, 28, 58 f., 63, 72, 190 f., 195 f., 198 f., 202–205, 208–216, 223–226, 373 – Flexibilität 9 f., 16, 62, 180 f., 183, 185,

193–196, 200 f., 206, 210, 224, 296, 298, 318 f., 322, 327, 358, 380, 383 – Genese und Entwicklung der 57, 177–191, 200–202, 205–208, 211–213 – Involvierung 9 f., 16, 59, 62, 180, 183, 185 f., 194, 196–201, 215 f., 222–225, 296, 303, 307, 314, 317–319, 322 f., 342–346, 350, 352, 358, 373, 380, 383 – Ortseigenheit/Ver-Ortung 9 f., 16, 30, 62 f., 67, 79, 180, 183, 186, 189 f., 194 f., 197, 199–205, 296, 298, 300, 305, 309, 312, 314, 318, 320 f., 331–332, 338, 343, 345, 358 f., 373, 378–381, 384 – Visionen der 184 f., 200, 206 f. – von unten her angegangen 182 f., 187 f., 211 f., 215 – Wiedererkennung 188, 190, 193–195, 197–199, 201–210, 220, 225, 314, 333, 346, 373, 380, 383 Religion 15, 29, 46–48, 61, 67–70, 77, 97 f., 103–105, 113, 127 f., 131, 133, 137, 149 f., 155 f., 159, 168, 171, 174, 256 f., 287, 343, 357, 359, 372, 381 – in der Stadt/Stadtentwicklung 33 f., 37–39, 82, 97 f., 104 f., 110–112, 246, 248, 253 f., 322 f., 339, 343, 368 Religionsbegegnung/Religionsdialog 109, 168, 172, 248–252, 281, 331–333, 337–339, 355, 368, 371, 385 Ritual – als empirisches/kulturelles/soziales Phänomen 31–39, 47, 49, 53 f., 108 f., 132 f., 256, 287 – als kirchliches Phänomen 31, 34–39, 47, 56, 61, 108 f., 125 f., 132 f., 209, 224, 246, 287, 296 – Veränderungsvorgänge im 33–38, 47 f., 61, 224, 254 f. Rolle/Rollenerwartung/Rollenverständnis 261–263, 269, 280 f. spatial turn 27 f., 64–79, 90 f., 377 f., 381 – location 68, 70, 78, 90, 381, 387 – Verortung 9, 174, 386 f. – Ver-Ortung 67, 77, 79, 381, 384, 387 Sprache/Versprachlichung 53, 266 f., 269 f., 282 f., 380

413

Sachregister Stadt/Stadtentwicklung 32 f., 87, 94 f., 108, 111, 228–235, 244 f., 355 f., 359, 367 – als Text 86, 108, 111 – Dialog in der 100–102, 104 f., 253 f. – ökologische 28, 84, 100, 104 f. – technische 87, 95 f., 99 f. – telos in der 88, 102, 104, 106 Struktur/Strukturierung/Ordo 29, 108 f., 188 f., 191–193, 200, 206, 209, 216–220, 225, 298 – als regulativ-dialogische Größe 220 Subjekt – als Leibsubjekt 19, 67 f., 157, 258, 262, 271 – involviertes 9, 26 f., 36 f., 41, 51 f., 55–58, 62, 64, 73, 78, 92 f., 109, 113, 188, 124, 126–128, 144, 146, 149 f., 152, 155 f., 162, 168, 171 f., 174 f., 177, 185, 196 f., 207 f., 210, 212 f., 215 f., 225, 235, 253 f., 256–260, 262, 267, 286 f., 297 f., 300, 303, 324–326, 328 f., 331–333, 335,

340 f., 343–347, 350–353, 361–363, 365–378, 380–387 Symbol 47, 109, 132 f. – im Ritual 37, 39, 45, 51, 88 f. – Stadt als 81, 92, 99 f., 108 Teilnehmende Beobachtung

22, 268–270

Validierung/Verifizierung 274, 277, 284 f., 364 Vaticanum II 29, 160, 180, 198, 219, 379 Vielfalt, urbane, siehe Kultur im Wandel Wahrnehmung 19, 21 f., 25, 27, 51, 61–64, 70, 113, 165 f., 168, 172, 175, 204, 215, 220, 245, 253, 256–259, 270, 273–275, 277, 283 f., 371 f., 378, 383, 387 Zwischenraum 387

53 f., 62, 108, 170, 366 f.,